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1. Spuren der ersten jüdischen Mit- bürger Ein Geheimnis wird es wohl immer blelben, wann sich die ersten jüdischen Menschen in ansiedelten. Si- Aus der cher ist, daß sie schon früher hier leb- iüdischen ten, als die historischen Dokumente belegen. Geschichte uon Für unser Heimatgebiet ist bekannt, daß mit der Eroberung des Rheinlan- des durch die Römer im 1 . Jahrhundert Nievern vor Christus Juden in den verschieden- sten Diensten in den Legionen oder deren Gefolge - als Sklaven, Freie, von Elmar Ries Soldaten, Kaufleute oderArzte - zu uns kamen. Einzelheiten können aber da- rüber nicht belegt werden. Zum ersten Mal begegnet uns der Name,,Jude" in den historischen Doku- Patin war die erlauchte Gräfin Sophia sten Juden im Jahre 1679 erwähnt, menten im Jahre 1629. Hellmuth Gen- M a ri a, di e älteste Tochte r Sei n e r D u rc h - und beide Ofte haben in der Folgezeit, sicke erforschte in ,,das Kirchspiel und laucht des Herrn Grafen Karl Kaspar was ihre diesbezügliche Geschichte die Herrschaft Nievern", daß am 18./ von der Leyen, Herren zu Adendorf, betrifft, vieles gemeinsam. 28.3.1629 Heinrich August von Staffel Nievern und des Gebietes der Trieri-

mit Einwilligung - der Lehnsherren, der sc h e n Lan d H of m e i ste re i. I n Ve rtretu ng 2. Dieiüdischen Einwohnervon Nie- Grafen von , die Herrschaft Nie- der Patin stand dem Täufling bei die vern im 19. Jahrhundert vern mit und und mit tugendsame Frau Anna, Frau des 2.1. Das erschwerte Leben der jüdi- den doftigen Eigentümern für 17.000 Ley'schen Bürgers in Nievern Johan- schen Menschen in dieser Zeit Gulden an Damian von der Leyen ver- nes Berndt. Von Nievern ist erst mit Dokumen- kauft hat, der noch gleichen im Jahr F. Johannes Theodorus Trippler ten belegt, daß es im Jahre 1818 - mit dies in Besitz nehmen ließ. Zu den Aus dem Praemonstratenser-Orden, Fachbach und Miellen gemeinsam - aufgezählten Besitztümern und Rech- Regular-Kanoniker einen jüdischen Religionslehrer ange- ten gehöde auch,,Judenschatzung", von Arnstein, z.Z. Pfarrer da hier. stellt hatte, der 1825 ,,ausgewiesen" was jüdische auf Einwohner schließen eigenhändig." wurde, weil er,,Ausländer" war. läßt. Dieser Begriff ist also der erste Wie wichtig diese Taufe damals Die Notwendigkeit eines Religions- urkundlich jüdi- belegte Hinweis auf genommen wurde, beweist die Tatsa- Iehrers für Nievern im Jahre 1818 läßt sche Menschen in Nievern und seinen che, daß die älteste Tochter des dama- auf mehrere jüdische Schulkinder, die- Nachbaroften. ligen Landesherrn - Gräfin Sophie Ma- se auf mehrere Familien und damit das Ganz merkwürdig ist dann der Um- ria von der Leyen - Patin gewesen ist. Bestehen einer jüdischen Gemeinde stand, wie die erste namentlich be- vor diesem Jahre schließen. kannte jüdische Person Nieverns in die Anme rku n g des C h ron isten : Bei den Familien handelte es sich Geschichte eintritt. Sie heißt ,,Lina", Was sagt uns heute jenes Doku- um sogenannte,,Schutzjuden". lhr Blei- und der 10. Oktobel1716 wird für sie ment des Jahres 1716? berecht am Oft mußten sie mit dem zu einem wichtigen Tag, denn sie gibt Man glaubte damals, mit dieser Erwerb eines teuren,,Schutzbriefes" damals ihrJudentum auf und wird christ- Taufe dem ,,Judenmädchen Lina" Gu- beim Landesherrn erkaufen, dem da- lich geiauft. tes anzutun, - wahrscheinlich sogar - nach eine hohe jährliche Sonderzah- Woherwissen wirdas? Einem glück- es vor der ewigen Verdammnis zu rel- lung (,,Schutzgeld") folgte. Dabei wur- lichen Umstand ist es zu verdanken, ten. Die christliche Kirche sah sich zu de der Schutz meist nur auf wenige daß im Deckeldes ältesten erhaltenen dieser Zeit als die allein heilbringende Jahre zugesicherl und mußte dann Kirchenbuches von Nievern folgende und die jüdische Religion als überhott immer wieder verlängert werden. Eintragung die Zeiten überdauert hat: und damit vergleichsweise als minder- ,,Auch wurde aus jeder einheimF Jahre ,,lm 1716, am 19. Sonntag nach wefiig an. schen Familie meist nur dem ältesten Pfingsten, der am 10. Oktober war, Diese negative Einschätzung zum Sohn der landesherrliche Schutz er- habe ich, Endesunterzeichneter, feier- Judentum, die einer totalen Verken- teilt, während die übrigen Söhne und lich vor allem Volke in der Pfarrkirche nung seiner großen religiösen Tiefe, Töchter zusehen mußten, wo sie spä- zu Nievern vor dem Hochamt ein Ju- Weisheit und Ethik gleichkam, vertrat ter blieben."l) denmädchen getauft. Sie war etwa 18- die christliche Kirche bis in die Mitte Eine stete Unsicherheit bestimmte 19 jüdi- Jahre alt, mit Namen Lina, von des 20. Jahrhunderts offiziell. damals die jüdische Existenz, welche schen Eltern in Grenzhausen, nach- Pfarrer Trippler und seine Gemein- durch die lntoleranz der christlichen dem sie ungefähr 18 Monate im Pfarr- defolgten also 1 Tl6deraktuellen, noch Umwelt noch verstärkt wurde. Sie wa- haus Tag und Nacht geweilt hatte und 250 Jahre gültigen intoleranten Lehr- ren trotz ,,Schutzbrief und -geld" nur durch mich oder einen Beauftragten meinung ihrer Kirche. geduldete Untertanen, keine Mitglie- genügend in den christlichen Glaubens- Von Menschen jüdischen Glaubens der der bürgerlichen Gesellschaft. Sie artikeln und christlichen Sitten genü- ist in diesem Dokument keine Rede. waren im Vergleich zu den christlichen gend unterrichtet worden war. lm Nachbardorf Frücht sind die er- ,,staatsbürgerlichen" n u r,,nichtbü rgerl i- r

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che" Gemeindeangehörige gewesen. hatten zur Folge, daß ein Großteil der an dieArmen geschehen soll, soscheint lhre Einschränkungen im täglichen Juden im 15. und 16. Jahrhundertver- es doch dem beabsichtigten Zweckam Leben beschrieb die ,,Denkschrift des armte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhun- entsprechendsten, wenn solche dem nassauischen Staatsministeriums zur derts währte in unseren Landen diese zutreffenden judenschaftlichen lJ nter- Judenfrage im Jahre 1821" sol: jüdischen ,,Von ,,Ausbeutung" der Personen. stütz u n gsfo n d zu g ewe nd et we rde n. Es bürgerlichen Gewerben waren sie aus- Erst dann fiel das diskriminierende ist daher tunlich dahin zu wirken."z) geschlossen, sie konnten keine Lie- ,,Schutzgeld" weg. genschaften (Grundbesitz) ohne be- Zu alledem standen die jüdischen Als weiteres noch gravierenderes sondere Erlaubnis erwerben, kein Menschen in der 1 . Hälfte des 19. Jahr- Beispiel der staatlichen Einflußnahme Handwerk lernen oder betreiben, Et- hunderts noch unter strenger Aufsicht auf religiöses jüdisches Leben soll der lenwaren- und Spezereihandel, Koto- der,,Herzoglich Nassauischen Landes- Erlaß der,,Hezoglich Nassauischen nialwarenhandel war ihnen an den regierung". lmmer wieder griff diese in Landes-Regierung" dienen, der 183'l meisten Orten versagt, und nur der einer für uns heute unverständlichen in an die Herzoglichen Handel mit Vieh, Felten, Fellwaren, Weise in das religiöse Leben der jüdi- Amtmänner versandt wurde. Dieses Schlachten etc. stand ihnen frei." schen Gläubigen ein. Zwei Beispiele Dokument ist in vieler Hinsicht so inter- Sie waren in die wenig geachteten sollen das beweisen. essant, daß ich seinen vollen Wortlaut Berufe des Kleinhändlers oder des Am 16. September 1829 wurden in wiedergebe: Geldwechslers gedrängt. Vielen Juden, Wiesbaden die Herzöglichen Landes- ,,4d. Num. Reg.3057. vor allem auf dem Lande, blieb somit ämter Naussaus (hier St. Goarshau- Auf MinisterialResolution vom 20. Ja- nur der sogenannte ,,Nothandel", wo- sen) laut ErlaB Num.Reg. 28,884 an- nuar, die Einführung des von Dr. runter man vor allem den Hausier-, gewiesen, streng dahin einzuwirken, Herxheimer, Kreisrabbiner zu Eschwe- Leih- und Trödelhandel verstand. ,,den bei Juden-Hochzeiten stattf inden- ge, herausgegebenen Lehrbuchs der Unter der Territorialgewalt des Frei- den Bettelunfug" abzustellen. jüdischen Glaubens- und Pflichtenleh- herrn von und zum Stein (1757-1801) re im Herzoglichen Nassau betreffend. durften die Juden kein Gewerbe trei- An merku ng des Ch ron isten : Dieses Lesebuch enthält wahrhaft reli- ben ohne Zustimmung des Landes- Seit Jahrlausenden war es in jüdi- giöse Grundsätze und reine Moral, so herrn; Handel mit Vieh durften sie nur schen Kreisen ein traditioneller und daß es allgemein empfohlen werden dann ausüben, wenn sie im Besitz ei- sehr sinnvoller Brauch der Brautleute, kann und zu wünschen ist, daß solches nes zusätzlichen,,Schutzbriefes" wa- an ihrem Hochzeitstage Arme und Not- andere schädliche Bücher, welche jetzt ren, für jährlich den acht Gutden ('180S) leidende mit Almosen zu beschenken hier und da dem mosaischen Retigions- an die gräfliche Kasse in Nassau zu oder sie sogar bei ihrem Festmahl teil- unterricht zum Grunde liegen mögen, zahlen war. nehmen zu lassen. - Erinnern wir uns verdränge. ln einem solchen,,Schutzbrief" des an das Gleichnis Jesu, bei dem Außen- Es r.sf daher dessen Einführung im Jahres 1805 stand z.B. unter Punkt 1 stehende zum Hochzeitsmahl gerufen l-lerzogthum höheren Orts genehmigt fürden jüdischen Bürger Moses Samu- und geladen wurden. - worden, und da der Preis zu 24 Kr. el zu Frücht, daß er,,sich sowohl über- Notdürftige Juden haben also 1829 nicht hoch rsf, so wird auch in dieser haupt als in gegen spezie die Freiherr- diese karitative Geste genutzt, um end- H insicht dem allgemeinen Gebrauche lich vom Steinschen Untertanen alles lich einmal wieder satt werden zu kön- dieses nützlichen Buchs für den Unter- betrüglichen und unehrlichen Handelns nen. Durch die harte Sonderbesteue- richt der lsraeliten kein Anstand entge- gänzlich zu enthalten" habe. rung waren damalsviele jüdische Men- gen stehen. BeiVerstoß gegen die Bestimmun- schen an den Rand des Existenzmini- Sie werden die Vorsteher und Lehrer gen jährlichen oder Ausbleiben des mums gedrängt worden. War es denn der in lhrem Amtsbezirk wohnenden Schutzgeldes jüdischen wurde dem so verwedlich, wenn sie sich dann der lsraeliten von dieser Verfügung in Menschen der,,erteilte Schutz" entzo- traditionellen Wohltätigkeit der Braut- Kenntnis setzen, nötigen Falls durch gen, mit der Verpflichtung, den Ort,,so- leute entsannen? sachgemäße Einwirkung auf diejeni- fort zu räumen". gen lndividuen, welche sich durch ihre Diese,,Schutzbriefe" waren seit dem Dagegen sprach sich die Landes- Bildung und reinere Lebensbegriffe ,,Mainzer Landfrieden" von 1 103 üblich Regierung entschieden aus und führte auszeichnen, etwa dagegen gemacht gewesen. Kaiser Heinrich lV. hatte da- als wohl vorgeschobenen Grund an, werdende Einwendungen entfernen mals die Juden seines Reichs - nach ,,nicht selten wäre dadurch die öffentli- und sich überhaupt zum allgemeinen schweren Verfolgungen und Ermordun- che Ordnung gestört worden." Also Besten möglichst angelegen seyn las- gen durch - Christen unter seinen per- verordnete sie: sen, daß allenthalben dieser Katechis- sönlichen Schutz gestellt. Wer keinen ,,Wir werden daher fernerhin nicht m u s dem j üd ische n Religionsu nte rricht ,,Schutzbrief" besaß, galt als,,vogelf rei" gestatten, daß sich bei Judenhochzei- zum Grund gelegt werde. jedermann und konnte von ohne ge- ten andere Gäste einfinden, also sol- Das Büchelchen ist zu Hannovrisch richtliche Bestrafung verfolgt und so- chen, welche als Gäste dazu beson- Münden 1831 gedruckt und führt den gar verletzt oder getötet werden. ders eingeladen sind, und des Endes Titel:,,lsraelitische '14. Glaubens- und lm und 15. Jahrhundert ging nicht nur die nötigen Bekanntmachun- Pflichtlehre für Schule und Haus von F. das Recht, ,,Schutzbriefe" zu verkau- gen erlassen, sondern auch die Herzog- Herxheimer, Kreis-Rabbiner zu Esch- fen und jährliches ,,Schutzgeld" zu er- lichen Sch u lthei ßen sachgemäß i nstru - wege", zu haben bei dem Verfasser, heben, auf die Landesherren über, die ieren. bei C.F.J. Casper zu Münden und in darin eine willkommene, scheinbar nie Obwohl wir übrigens weit entfernt der Hahnischen Hofbuchhandlung zu versiegende Einnahmequelle erkann- sind, den Brautleuten vorschreiben zu Hannover. ten. Unmäßige Schutzgeldforderungen wollen, wie die Vefieilung derAlmosen Ü b ri g e n s wi rd auch de r Ve rf asser sel bst Heft Nr. 14 - 2197 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-pfalz 7

wahrscheinlich die Einrichtung treffen, Einwohnerzahl von Nievern im Jahre dann Preußen die bürgerliche Gleich- daßdasselbeimHerzogthumbezogen 1843 erhalten geblieben. Damals leb- berechtigung der Juden in unserem werden kann. ten im Ort: Gebiet ganz venrui rklicht. Wiesbaden, den 27. Januar lBSl 485 Katholiken - 21 Evangelische - Vom 1. August 1851 fand ich im gez. Möller"s\ 1 9 Juden. Hessischen Hauptstaatsarchiv Wies- Es ist möglich, daß sich diese 19 baden (220 / 3594) eine ,,Vottmacht" Fragen und Anmerkungen des chroni- seelen auf die beiden Familien Main- aus Nievern, die,,lsaak Mainzer früher sten: zer und Strauß verteilten. Joel in Nievern" für seinen ,,Schwieger- 1. Welches Recht und vor allem lm Vergleich dazu hatten 1842 sohn lsaak Strauß von Frücht" ausge- welche Kompetenz besaß die Landes- Fachbach 26 und Frücht 31 Juden, stellt hatte, damit dieser sein Testa- Regierung, einen jüdischen Katechis- Miellen keinen mehr. ment,,bei dem herzoglichen Justizamt mus nach,,religiösen Grundsätzen und lm Jahre 1844 bestand ein Synago- in " abholen könne. Aus reiner Moral" beurteilen? genbezirk aus Frücht, Nievern, Fach- Krankheitsgründen sei er am persönli- 2. War es nicht eine Anmaßung, bach und Braubach; in diesem Jahre chen Erscheinen verhinderl. jüdische f rühere Lehrwerke als ,,schäd- wurde dann Braubach mit Oberlahn- Die Namensunterschrift von lsrael Iich" zu bezeichnen und zu verbieten? stein vereinigt. Frücht war damals der Mainzer bestätigte Bü rgermeister Sau- 3. Wie tief verletzte dieses unbe- religiöse Hauptort; dort befand sich auch er in Nievern ebenfalls am 1. August rechtigte Eingreifen des Staates in in- die Hauptsynagoge für diesen Syn- 1851. nerste Weisheiten der jüdischen Reli- agogenbezirk, was nichtbedeuten muß, Damit haben wir den ersten voll- gion, die sich seit Jahrtausenden be- daß sich auch schon in Nievern ein ständigen Namen eines jüdischen Nie- währt hat und moralisches Vorbild für Gebetssaal oder eine Synagoge be- verner Bürgers: ,,lsaak Mainzer früher fast alle Kulturvölker geworden ist, de- fand. Joel" nach der neuen Namensbenen- ren Gläubige? Die politische Revolution von 1848 nung und seinen alten dazu. Die jüdischen Menschen lebten schien die Frage der Emanzipation ei- Es besteht sogar noch die Möglich- damals nicht nur in einer Epoche der ner endgültigen positiven Lösung zu- keit, daß sein Schwiegersohn lsaak wirtschaftlichen Ausbeutung, sondern zuführen. Zu Grundrechten, wie ihn die Strauß von Frücht nach Nievern gezo- auch in religiöser Unfreiheit und Miß- von der Paulskirchenversammlung am gen ist - womöglich f iel das neue Testa- achtung. 28. März 1 849 verabschiedete Reichs- ment zu seinen Gunsten aus -, denn In verfassung vorsah, gehör1e auch der in den Jahren 1858 - 1860 begegnen wir 2.2. Der lange Weg bis zur Gleichbe- § 13 ausgesprochene Grundsatz, daB einem,,lsaak Strauß aus Nievern", der rechtigung derJuden im Herzogtum ,,durch das religiöse Bekenntnis der Religionslehrer in St. Goarshausen Nassau Genuß der bürgerlichen und staatsbür- wurde. Von ihm wird später noch aus- lm Jahre 1842 änderte sich die Lage gerlichen Rechte weder bedingt noch führlich die Rede sein. der Juden im Herzogtum Nassau um beschränkt wird". einiges. Eine wesentliche Neuerung Die meisten deutschen Länder hat- 2.3. Nievern seit 1852 als religiöser trat ein: ten bereits vor der Verabschiedung der Hauptort Gemäß Verfügung vom 16. März Reichsverfassung die Gleichberechti- PaulAnsberg weist in seinem Buch jüdischen 1842 mußten die Familien gung aller Glaubensbekenntnisse auf ,,Die Jüdischen Gemeinden in Hessen" 4) einen bürgerlichen Namen annehmen, dem Gesetzesweg verkündet. Nur Nas- nach: ,,1844 bestand der Synagogen- den sie sich auswählen konnten. Dabei sau zögerte noch mit einer entspre- bezirk aus Frücht, Nievern, Fachbach bekam 1 842 jede selbständige Famitie chenden gesetzlichen Regelung. und Braubach; Braubach wurde mit einen eigenen Namen. Zwar verlieh dort das Wahlgesetz Niederlahnstein vereinigt. Frücht war Von Frücht wissen wir, daß dort ein vom 5. April 1848 erstmals auch den der Hauptort, sollte an Oberlahnstein selbständiger Sohn einen anderen Juden das Wahlrecht zur Ständever- angeschlossen werden, Nievern und Namen annehmen wollte als sein Va- sammlung, allerdings nur solchen, die Fachbach dagegen an Ems". ter. So nannte sich der Vater ,,Josef einen ,,Schutzbrief" besaßen. Auch die lm Jahre 1852 wurde eine neue Samuel" in,,Roos" um, sein Sohn aber neue Gemeindeverfassung vom 12. Kulturverfassung für die Juden in Nas- in ,,Blum". Damit war dem ,,Durcheinan- Dezember 1848 ließ ohne besonderes sau erlassen. Danach wurde eine Ver- der der Judennamen", die vorher zu- Verfahren nur die Aufnahme derjeni- einigung der jüdischen Gemeinden von meist nur aus biblischen Namen - und gen Juden als Gemeindebürgerzu, die Frücht, Fachbach und Nievern zu einer wenn notwendig - mit ergänzenden bereits früher einen Schutzbrief erhal- gemeinsamen Kultusgemeinde be- römischen Zahlen bestanden hatten, ten hatten. Das widersprach eindeutig schlossen. Da in Frücht in diesem Jah- ein Ende bereitet. den freiheitlichen Grundsätzen der re kein Minjan mehr vorhanden war, So tauchten wohl auch im Jahre Revolution. d.h., in der dorligen Synagoge beim 1842 die Namen Mainzer und Strauß Erst das Verfassungsedikt vom 28. Gottesdienst keine 10 jüdischen Män- zum ersten Male in Nievern auf. Da in Dezember 1849 übernahm auch für ner mehr zusammenkamen, war von den kommenden Jahrzehnten des 19. Nassau die Grundrechte der Paulskir- nun an Nievern religiöser Hauptort. Jahrhunderts nur diese beiden jüdi- chenversammlung, womit auch den Die Gläubigen der drei Orte sollten schen Familiennamen dort vorkamen, nassauischen Juden die politische sich also am Schabbatvorabend (Frei- liegt der Schluß nahe, daß 1842 dorl Gleichberechtigung und religiöse Frei- tagabend), am Sihabbatmorgen nur zwei jüdische Familien bestanden, heit garantiert war. (Samstagvormittag) und an den hohen oder die Familien von Vater und Sohn 1 8§1 wurde dieses Grundrecht wie- Feiertagen in der Synagoge von Nie- erhielten hier den gleichen Namen. der annulliert, 1861 wenigstens juri- vern versammeln, weil nur dort noch Glücklichenrveise ist uns die genaue stisch wieder hergestellt. Erst 1869 hat die notwendigen zehn männlichen I

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Gläubigen zusammentrafen, die das Metzgerberuf so überproportional ver- lm Jahre 1900 fand eine Volkszäh- Recht hatten, beim feierlichen Gottes- treten waren, muß zweifach beantwor- lung statt. Sie ergab für den Kreis St. dienst die Thora (das heilige Buch der tet werden. Die Juden hatten zunächst Goarshausen 42.282 Einwohner, da- Juden, die fünf Bücher Moses, welche im Laufe der Jahrhunderte viele Be- von waren 441 jüdische Bürger, was zugleich die ersten 5 Bücher unseres rufsverbote zu überstehen; Viehhänd- einen Bevölkerungsanteil von 1 ,042o/o ,,Alten Testamentes" sind) aus dem Ier und Metzger konnten sie fast immer darstellte. ln diesem Jahre 1900 lebten Thoraschrein zu heben, auszurollen werden. Dann war ihnen aus religiösen in Nievern 17, in Fachbach 3 und in und daraus den ,,Wochenabschnitt" zu Gründen eine ganz bestimmte Fleisch- Frücht 9 jüdische Menschen. lm Jahre lesen. Trotzdem fand auch weiterhin in behandlung beim Schlachten (das 1901 hatte die Schule Nievern nur noch Frücht ein Sabbath-Gottesdienst im ,,Schächten") vorgeschrieben; und be- 2 Klassen mit 138 Kindern: 130 katho- Roos'schen Haus, das auch als ,,Ju- stimmte Tiere waren ihnen zum lische, 2 evangelische und 3 jüdische denschule" bezeichnet war, statt, der Schlachten verboten. So sind z.B. Kinder. Das Jahr 1895 eignet sich zu allerdings verkürzt sein mußte. Schweine nicht ,,koschef'für sie, d.h. einer genaueren Bestandsaufnahme Die Aufgabe des Kultusvorstehers nicht rein. Umgekehrt haben Christen der jüdischen Einwohner von Nievern war es, zugleich Vorbeter und Schäch- ln normalen Zeilen gern beijüdischen und ihrer Kultusgemeinde. Die Gesamt- ter zu sein und die eingesammelten Metzgern eingekauft. zahl von 19 jüdischen Personen ist uns Abgaben nach zu bringen. bekannt. Kein Kind besuchte zu dieser Man war von 1852 an dem Bezirksrab- Zurück zur jüdischen Religionsge- Zeit die Schule. biner in Bad Ems unterstellt. ln dieser meinschaft Nievern: Am 18. April 1895 sandte die Jüdi- Zeit hatte der Kultusvorsteher Strauß Wie sparsam die Kultusgemeinde sche Kultusgemeinde Nievern einen von Nievern das Amt des Vorbeters Nievern-Fachbach-Frücht im Jahre Bericht an das Königliche Landratsamt inne. Die jüdische Kultusgemeinde Nie- 1889i90 haushaltete, beweist die zu St. Goarshausen, ,,die Kultussteuer vern zählte damals keinesfalls zu den ,,Rechnungslegung" des,,Gemeinde- der Gemeinde Nievern" und die ,,Ju- reichen Religionsgemeinschaften, rechners Julius Mainzer in Nievern". denangelegenheiten 1895 - 1901" be- denn am 15. Januar 1872 erließ die Einnahmen treffend. Diese Aufstellung verrät, wel- Königliche Regierung in Wiesbaden Geldstrafen 2,00 Mark che Steuern die männlichen Mitglieder den Erlaß, daß sie damit einverstan- Steuererhebung zum der Religionsgemeinschalt zu zahlen den war, ,,daß die Beiträge der israeli- laufenden Bedürfnis 104,93 Mark hatten, und zwaran Staats-, Gebäude- tischen Gemeinden Fachbach und Nie- laufende Einnahmen zur Schule und Grundsteuer. ve rn zu r is rae I itisch e n Le h rerbesol d u n g 11,33 Mark lch schließe bei der,,Staatssteuer" vom laufenden Jahr ab von 20 auf 14 u nvo rh e rg e se h ene E i n n ah m e n auf beruflichen Verdienst der Bürger, Thalern jährlich bis auf weiteres herab- 12,90 Mark aus der,,Gebäudesteuer" Hausbesitz gesetzt und die Differenz von der Kul- 131,16 Mark und aus der,,Grundsteuer" Landbesitz. tusgemeinde Ems übernommen wer- Alle 3 Steuern mußten zahlen:Juli- de."sl Ausgaben us Mainzer, Loeb Strauß, Loeb Main- Auch diese ErmäBigung reichte den Besoldung der Angestellten zer. Kultusgemeinden Nievern, Fachbach 82,21 Mark Nur ,,Grundsteuer" hatten zu lei- und Fürcht noch nicht. Denn am 16. Tagebücher, Auslagen 8,34 Mark sten: Falk Mainzer, Faust Strauß. 7) Februar 1874 wurde ein Gesuch um U nte rhaltu ng de r Gebäude, Sie dürften die Söhne obiger Fami- Bewilligung eines Staatszuschusses Todhöfe (= Friedhöfe) 3,44 Mark lienvorstände gewesen sein. zur Besoldung des israelitischen Leh- G rundste ue r von G ebäu den Am 18. November 1895 meldeten dem rers etc. bei der Königlichen Regierung 1,80 Mark Königlichen Landratsamt zu St. Goars- in Wiesbaden eingereicht mit der Of- laufende Ausgaben für die Schule hausen die jüdischen Fleligionsgemein- fenbarung: ,,Die Kultussteuer für Nie- 33,70 Mark den Nievern, Fachbach und Frücht an: vern, Fachbach Frücht beträgt für Löb Nievern, und P a s s i o r e c h n u, n t, t t Strauß, als,,Kultusvorste- 187372%, und für die Kommunalsteu- " " " Z rliior*l#, her", Calmann Coblenzer, Fachbach, er werden in Fachbach 60% und in als,,Vorstehergehülfen". 8) Nievern 7 5o/" erhoben." Was die Ausgaben für die Schule Julius Mainzer, Nievern, warzu die- Wie verdienten die jüdischen Bür- betrifft, dürfte es sich nur um solche für ser Zeit,,Cultus-Rechnel'. ger von Nievern ihr tägliches Brot? jüdischen Religionsunterricht gehan- ln der Steuerlisten von Nievern vom Wovon konnten sie ihre diversen Steu- delt haben. Denn die jüdischen Kinder 4. Mai 1897 und 1 1 . April 1888 finden ern bezahlen? von Nievern besuchten die normale wir nur noch die vier Personen vor: Von einem Herrn,,Löb Strauß von Volksschule. Das belegt die ,,Chronik Leopold Mainzer, Julius Mainzer, Falk Nievern" wissen wir durch den erhalte- f ür die Schule zu Nievern - Angefangen Mainzer, Löb Strauß. nen,,Vieh-Gesundheits-Schein", daß im Juni 1874". Diese wies für das Jahr er am25. Februar 1874in Wetzlar eine 1878 4 Klassen mit 16'l Kindern aus, 2.4. Der jüdische Religionslehrer ,,gelbe Kuh mit Kalb" und durch den wovon,,3 Mädchen evangelisch, 1 Kna- lsaak Strauß aus Nievern ,,Kauf-Schein" am 7. September 1 874 be israelitisch und alle übrigen Kinder Die Kultusgemeinde Nievern muß in Vallendar eine,,braune Kuh" erwor- katholisch waren." fromme Gläubige gehabt haben, denn ',l9. ben hat. Demnach war er Viehhändler lm Jahre 1882 wurde weiterhin ,,1 sie brachte in der Mitte des Jahr- und vielleicht zugleich auch Metzger in jüdisches Kind" notierl, im Jahre 1884 hunderts einen jungen Religionslehrer seinem Ort gewesen. ,,1 Jude". hervor. Es war lsaak Strauß, der vom Die Frage, warum bei den Juden lm Jahre 1895 hatte Nievern insge- Bezirks-Rabbiner Dr. Hochstädter für auf dem Lande der Viehhändler- und samt 19 jüdische Einwohner. Oktober 1858 als Religionslehrer für Heft Nr. 14 - 2/97 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz

die Gemeinde im Amt St. Goarshausen Zeit seines Wirkens recht gute Leistun- Strauß aus Nievern, derwohl nach der vorgeschlagen wurde, wobei er in St. gen erzielt hat."e\ nächsten Prüfung am 1-6.1860 diese Goarshausen bei Salomon Grünewald Sehr aufschlußreich ist diese Prü- Stelle in St. Goarshausen verlassen wohnen sollte. fung vom 12.5.1859 deshalb, weilda- hat. Am 1.1.1859 trat Religionslehrer von eine zusätzliche genaue Beschrei- ,,lsaak Strauß von Nievern" seine Stelle bung erhalten geblieben ist. Schulin- 3. Die jüdischen Menschen von Nie- an; er hatte 15 Schüler aus , spektor Stückrath schrieb am 30. Mai vern vom Jahre 1900 bis 1932: , Weyer, Wellmich und St. 1859 in Weyer folgenden Bericht: 3.1. Aus dem Leben der Kultusge- Goarshausen zu unterrichten. ,,Es wurde eine einstufende Prüfung meinde Nievern Dabei hatte Amtmann von Gagern am Nachmittag des 12. Mai in St. Goars- Am 19. März 1900 bat Julius Main- am 21.11.1858 nach der Vorstellung hausen in dortiger Schule vorgenom- zer um Entlassung als ,,Cultus-Rech- von lsaac Strauß folgende negative, men. Außer Schulinspektor Mander- ner": sogar beleidigende, Beurleilung an die bach, Herr Dr. Hochstädter, dem Vor- ,,lch, Julius Mainzer, ersuche Kö- Landesregierung in Wiesbaden ge- stehe r Coh n (Bornich) ware n auch ei ne niglichen Landrat, auch mich von dem sandt: Anzahl von jüdischen Familienvätern Dienst als Cultus-Rechner zu entla- ,,... lm übrigen besteht beiden hie- aus dem hiesigen Bezirke anwesend. sten. Denn mein Geschäft läßt mir nicht sigen lsraeliten auch kein direkter Wi- Vorsteher Kaufmann von mehr so viel Zeit und leidet auch zuviel derspruch oder Hartnäckigkeit oder war nicht erschienen, und der dritte Schaden. Vorurteil gegen einen Religionslehrer, hatte sich entschuldigen lassen. Unterzeichner: gez. Julius Mainzer" tt) speziell auch nicht gegen den vorge- Der isaraelitische Lehrer lsaac Strauß Postwendend dachte der zuständi- schlagenen Strau ß, de nnoch abe r habe eröffnete die Prüfung mit einem pas- ge Landrat am 21. März 1900 über ich bemerkt, daß seine Persönlichkeit senden deutschen Gebete. Darauf ka- einen Nachfolgernach, denn erschrieb nicht gerade gefallen hat, und wahr ist, techisierte derselbe mit seinen Schü- unter den vorigen Antrag die Notiz: und ein eigentümliches Schicksal, daß lern über die biblische Geschichte: Ja- ,,Gegebenenfalls kann als Rechner die beiden jungen Leute, welche Herr cob und Esau. Der junge Mann war auch ein Christ fungieren. Der Vorge- Bezirksrabbiner bis jetzt hierher emp- etwas zaghaft, allein im Fortgang der schlagene muß aber zur Übernahme fohlen hat, teilweise verkrüppelt, unan- Unterredung verlor sich sein schüch- des Amtes geeignet und bereit sein." sehlich, schwächlich, noch halb wie ternes Wesen. Die Schüler waren mit Wir können daraus auf ein gutes Buben, eher wie einer Menagerie oder der Geschichte bekannt, und die vom Verhältnis zwischen dem Königlichen N atu rali e n kabi nett al s ei n e n Leh re rse- Leh re r daran gekn üpften Leh ren, M ah- Landratsamt St. Goarshausen und der minar entsprungen, aussehen, und nungen und Warnungen waren sach- Jüdischen Kultusgemeinde schließen. deshalb von den Eltern bezweifelt wird, gemäß, im Texte begründet und nicht Es fand sich aber doch ein jüdi- daß sie den Kindern den nötigen Re- von der Sache abweichend. scher Kultusrechner: Am 17. Juni 1 900 spekt als Lehrer einflößen, und über- Esfolgte nun eineWort- und Satzweise trat Lehrer Emmel aus Ems diesen haupt die Beschwerden des Dienstes Bibelübersetzung dieser Stelle in der Posten an. Von diesem erfahren wir am hiesigen Amtwerden ertragen kön- Grundsprache, welche bei den mei- zusätzlich eine weitere wichtige Aufga- nen." sten Schülern recht fertig von Statten be, die er in Nievern innehatte: Trotz dieservernichtenden Kritik des ging. Die daran geknüpften grammati- Am 12. April 1900 hatten nach ministe- wohl nichtjüdischen Amtmannes von schen Erklärungen von Seiten des Leh- rieller Verfügung aus Berlin vom 13. Gagern erhielt lsaak Strauß diese An- rers, sowie des Herrn Dr. Hochstädter, FebruarI 900 die,,Synagogen gemein- stellung, und es blieb jenem von Ga- lieferten den Beweis, daß erster recht den Nievern, Fachbach und Frücht" gern nichts anderes übrig, als am gründlich unterrichtet, und die Antwor- folgende ,,Übersicht über die Erieilung 15.1 .1859 zu bestätigen, daß Religions- ten welche durchweg richtig ausfielen, des j üdi schen Re ligions u nte rrichts" er - lehrer lsaak Strauß von Nievern hier daß sie diesen Unterricht mit Nutzen stellt: eingetroffen und auch bereits in Funk- erhalten hatten. Darauf sagten einige ,,Nievern - Fachbach - Frücht tion war. Schüler der oberen Abteilung einige 5 Stunden in Nievern Am 12. Mai 1859, also rund 5 Mona- Gebete fast ohne Schwierigkeiten auf. Religionslehrer Emmel aus Ems, 63 te nach Unterrichtsbeginn, wurde die- ... Die vo.rliegenden Probeschriften, Jahre, seit 45 Jahren tätig, 30 Jahre ser Religionslehrer aufs Gründlichste sowie die U bu ngen, welche an der Tafel dort lebenslänglich angestellt." 12) geprüft. An diesem Tage fand die,,Prü- vorgenommen wurden, legten dar, daß Wenn wir annehmen, daß es sich fung der lsraelitischen Religionsschule die Schüler der ersten Abteilung so- um fünf Wochenstunden bei Religions- hiesigen Bezirks" statt. Hochinterres- wohl in der hebräischen als in der jü- lehrer Emmel handelte, können wirdar- sant sind die zeitgenössischen Berich- disch-deutschen Schrift ziemlich geübt aus schließen, daß die wenigen Kinder te über die Prüfung dieses ,,armen" worden sind. Die jüdisch-deutschen der drei Orte eine umfassende religiö- Kandidaten. Am 13.5.1859 bemerkte Leseübungen waren ebenfalls in Be- se Ausbildung und Erziehung erhielten Oberschulinspektor Pfarrer Mander- tracht der noch kurzen Unterrichtszeit und ihre Eltern großen Wert darauf bach (also ein christlicher Geistlicher - recht befriedigend. Die übrigen Ge- legten. Vergleichsweise erhielten die Anmerkung des Chronisten) in seinem genstände konnten wegen Mangel an jüdischen Kinder der Synagogenge- abschließenden U rleil, daB er,die Ü ber- Zeit, da Herr Dr. Hochstädter mit dem meinden Weyer, Lierschied und No- zeugung gewonnen habe, daß der is- letzten Schiffe nach Oberlahnstein rei- chern von dem 38jährigen Religions- raelitische Lehrer lsaak Strauß befrie- sen wollte, nicht mehr vorgenommen lehrer Lormitz aus Oberlahnstein nur digend qualifizierl ist, beidieser ersten werden-" 10) zwei Stunden Unterricht in St. Goars- P rüfu n g e i n e I iebe nswe rte Ve rfah ren s- Dann verlieren sich leider die Spu- hausen. art an den Tag legte und für die kurze ren dieses Religionslehrers lsaak Am 20. April 1901 standen in der 10 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Heft Nr. 14 - 2197

in der Mitte im Hintergrund jenes Haus, Wohnzimmer stammten. Bilder gab es in dem f romme Gläubige ihrer jahrtau- jedoch keine. sendalten Religion nachgingen. Vor Ostern, bevor die jüdischen Freun- Frau Maria Sauer geb. Höhn, die de ihr Pessachfest feierten, hatten sie Tochter des Bäckermeisters Christian nach der jüdischenTradition ihren Früh- Höhn aus der Bahnhofstraße, besuch- jahrsputz, so gründlich wie nirgendwo te als Kind oft das Haus der befreunde- im Oft. lch durfte damals immer dabei ten Familie Julius Mainzer. Für sie war helfen. lch erinnere mich noch ganz Herr Mainzer eine sehr eindrucksvolle genau daran, daß mein Vater zu dieser Person gewesen, die sie von klein auf Zeit immer die Aufgabe hatte, die sie- liebte und mit ,,Onkel Jul" ansprach, benarm igen Leuchte r abzubren nen. Er während er sie nie ,,Maria", sondern mußte kleine Kohlestückchen in die immer nur liebevoll,,Maiasche" nannte. Ke rze nf ass u n g e n I e g e n, dam it wi rkl ich Als ich Frau Maria Sauer am 11. die letzten Teilchen alter Kerzen ver- April 1995 dieses aus einem Gruppen- brannten. bild herausgezogene Foto zeigte, lief Wenn nicht der Rabbineraus Ems zum eine sichtbare Freude über ihr Gesicht, G otte sdie n st kam, war i mme r d e r N ach - und es brach aus ihr heraus: bar, der andere jüdische Metzger, Ru- ,,Ja, das ist Onkel Jul in seiner dolf Strauß, der Vorbeter. Am Freitag- schwarzen Jacke, auf die er so stolz abend und Samstagmorgen zogen die war. Seine Frau Mina hatte sie ihm Gläubigen zum Gotteshaus. gestrickt. Als Kind zählte ich häufig die Synagoge im Haus der Familie p ge pfe. " R. Strauß (1926). rächti n P e rl m utte rkn ö Während des zweistündigen Ge- Steuerliste Nievern nur noch die Na- sprächs stellte Frau Sauer immer wie- men: Löb Strauß, Leopold Mainzer und der dieses Bild vor sich hin und nahm Julius Mainzer. es auch öfters in die Hand. Mit lebendi- Am 10. Oktober 1910 meldeten der ger Erinnerung beschrieb Maria Sauer neue Kultusvorsteher Rudolf Strauß auch das Synagogenhaus von Nievern : und sein Vorsteher-Gehilfe Leopold ,,ln Parterre befand sich links der kleine Mainzer: ,,Anstelle des Herrn Wilhelm Metzgerei laden von J u I ius Mai nze r und Emmel von Ems (aus Altersgründen rechts die Küche, von der aus eine Tür zurückgetreten) übernimmt Herr lsaias zum Schlachthaus führte. Ein Schau- genannt Karl Marxvon Ems den Rech- fenster hatte die Verkaufsstube nicht. nerdienst der israelitischen Kultusge- An einem einfachen Fenster mit einem meinde Nievern."ts) Vorhang war eine Stange befestigt, auf Vom Regierungspräsidenten in .die er seine vorzüglichen Fleischstük- Wiesbaden liegtvom 11. April 191 'l die ke hing. An der linken Wand im Laden folgende Eintragung vor: war die Treppe zum Synagogenraum. ,,Der Bezirksrabbiner in Ems zeigt Daneben befand sich ein Wohnzim- in seinem Berichte über die diesjähri- mer. gen Frühjahrsprüfungen der israeliti- Sehr gut erinnere ich mich an den Syn- schen Religionsschulen folgendes an: agogenraum im ersten Stock, in dem Die Religionsschule in Nievern zählt 2 ich mich oft aufhalten durfte. Es war ein Schüler, und zwar 1 aus Nievern und 1 kleines, meist du nkl es Zim me rchen von aus Frücht. Der aus Frücht fehlte bis- etwa 4 mal 6 Metern Größe. An der her stets im Unterricht und auch in der Ostseite stand ein langer Tisch, auf Julius Mainzer, ungefähr im Jahre Prüfung. Er ist ohne Beaufsichtigung dem sich erhöht der Thoraschrein be- 1920. bei seiner alten Großmutter und müß- fand, mit lila Tüchern feierlich umhüllL Niemals werde ich meine jüdischen te, wenn er nicht verwahrlosen soll, Überhaupt war lila die vorherrschende Freunde vergessen; aber auch nicht dieser genommen werden..." 14) Farbe im Raum. Auch die Gebetskäpp- den furchtbaren Tag des 10. Novem- Auch hier ist die Sorge der Behörde chen der Männer in der Synagoge wa- ber 1938, als blindwütig die Synagoge für das Wohlergehen seiner jüdischen ren so gefärbt. geschändet und zerstört wurde und ein Bürger zu spüren. Es war immer sehr eng im jüdischen Nieverner Junge drei siebenarmige Gotteshaus, vor allem, wenn 18 - 20 Leuchter und einen Stoß Zinnteller 3.2. Die Synagoge von Nievern und Stühle am Freitagabend und Samstag- raubte." die Religion ihrer Gläubigen morgen darin standen, die wohl aus Nievern besaß über Jahrhunderle dem darüberliegenden Wohnzimmer Wie können wir Christen uns den hin ein zweites Gotteshaus, in dem oder vom Nachbarn Rudolf Strauß ge- Gottesdienst in Hause des Julius Main- Menschen Gebete an unseren gemein- holt werden mußten. lmmer wieder zervorstellen? Bei den jüdischen Gläu- samen Gott richteten. lm 20. Jahrhun- bewunderte ich die drei bis vier blank- bigen übernimmt ein Laie als,,Kantor" dert war es das Haus des Julius Main- g e p utzte n, g I ä n ze nd e n si e be n a rm i g en (Vorsänger und Vorbeter) die ,,Prie- zer in der Bahnhofstraße - heute Nr. Leuchter. An den Wänden sah ich schö- sterrolle". Er hat das Recht, jeden Got- 25. Das Foto aus dem Jahre'1926 zeigt ne Zinnteller, die wohl auch aus dem tesdienst und fast jede kirchliche Feier Heft Nr. 14 - 2197 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz 11

den,,Schalet", wie sie gemeinsamen Bibel, unsere liebgewor- das ,,Schabbesbrot" denen Psalmen und Geschichten aus nannten, zum Über- dem Alten Testament. Selbst das für backen. Das waren uns christlichste aller Gebete, das Je- zwei oder drei kleine sus uns selbst gelehrt hat, das,,Vater- runde gußeiserne unser", hätten wir in diesem Nieverner Bräter mit geflochte- Gotteshaus mit den Juden gemeinsam nemTeig. MeinVater sprechen können, denn der Jude Je- sagte dann immer: sus hat es aus drei der bekanntesten ,,Der Teig ist arm, da jüdischen Gebete zusammengesetzt. ist nicht viel drin. Da Wie konnte das Christentum seine müssen wir vorsich- Wurzel, das Judentum, fast zwei Jahr- tig mit der Hitze sein; tausende verkennen und auch verfol- er darf nicht stramm gen? gebacken werden." Es mag einige Nievernerbefremdet Am späteren Nach- haben, daB die Juden nicht bereit wa- mittag holten dann ren, ihren Sabbat auf den Sonntag zu Frau Mina Mainzer legen, um Arbeitstage und Ruhetag oder ihre Tochter gemeinsam zu haben. lhr jahrtausend- Hanna die fertigen, alter Glaube schrieb ihnen den genau- noch ziemlich hellen en Zeitpunkt vor. Sie sind nur deshalb Brote ab, gaben mei- Juden geblieben - in den Zeiten der nem Vater ein paar vielen Verfolgungen während fast 2000 Groschen, die ich zu Jahren -, weilsie ihrer religiösen Tradi- meiner Freude behal- tion treu geblieben sind. ten durfte." Und in Nievern beteten fromme Der Sabbat war Gläubige in ihrem Gotteshaus in der dann wirklich ein,,Ru- Bahnhofstraße. Herr Merz ergänzte am Thorarollen im Aron Ha'Kodesch. hetag" nach jahftau- 4. Juni 1993: ,,Sie waren streng gläu- sendalter Tradition. big; das weiß ich besonders von der durchzuführen. Voraussetzung aller- Nach Sonnenuntergang am ,,Sonn- Fam i I i e R udolf Strauß." dings ist, daß er der hebräischen Spra- abend" verabschiedeten sie den,,Sab- Diese hatte als ,,Sabbatdiener" ih- che, dervorherrschenden Sprache des bat" mitWehmut, indem sie die,,Schab- ren befreundeten Nachbarn Joseph Gottesdienstes, mächtig ist. Über eine batkerzen" mit Rotwein auslöschten. Reusch. gute Singstimme muß erver{ügen, denn DerWochenalltag hatte sie wieder, aber Zur Erklärung: Strenggläubige Ju- in der Synagoge werden die meiste es blieb ihnen die Vorfreude auf den den halten die verschiedenen Sabbat- Zeit jahrhundertealte Melodien und nächsten Sabbat. regeln ihrer Religion ein. Dazu gehört Texte gesungen. Frau Sauer erinnert Alle Gebete, die sie sprachen, wa- u.a., daß sie an diesem Tage kein sich noch an den für sie merkwürdigen ren an unseren gemeinsamen GottVa- Feuer entzünden und kein Licht anma- Singsang der Männerstimmen, denn ter gerichtet; und wir Christen hätten chen dürfen. Wollten sie also am Sams- oft hat sie als Kind gelauscht. sie ausnahmslos mitbeten können, tag eine warme Mahlzeit einnehmen, Vor allem die männlichen Juden denn sie venruenden die Texte unserer bat die Familie ihren christlichen Nach- versammelten sich wöchentlich am Freitagabend bei Sonnenuntergang dort, um feierlich ,,wie eine Königin" den ,,Sabbat" zu begrüßen (in Nievern hieß er ,,Schabbes", anderswo auch ,,Schabbat"; das bedeutet im Hebräi- schen: ,,Ruhetag") Nach dem Gottesdienst am Frei- tagabend wünschten sie sich ,,Gut Schabbes!" und zogen freudig nach Hause, wo das Sabbatmahl, das beste der Woche, im Kreise der Familie ab- gehalten wurde. Die Mutter, die Prie- sterin des Hauses, entzündete dann die Sabbatkerzen, sprach das Gebet, brach das Brot (meist einen Mohn- kranz) und reichte es ihren Familien- mitgliedern. Frau Sauer entsinnt sich noch ganz genau daran: ,,Am f rü h e n F re itag n ac h m ittag b rachte immer Frau Mina Mainzer meinem Va- ter, dem Bäckermeister Christian Höhn, Thorarolle mit Zeiger. 12 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Heft Nr. 14 - 2197

barn um Hilfe. Und Jo- ,,JLtls", Hauptstraße; Rudolf Strauß, seph Reusch war zu Hauptstraße; der Vetter Leopold Main- diesem Nachbar- zer, Neustraße, und der katholische schaftsdienst gern be- Wilhelm Heck, Hauptstraße neben Ju- reit. lius Mainzer. Meine Mutter sagte im- mer zu mir: ,,Julius Mainzer und Rudolf 3.3. Das Zusammen- Strauß haben das beste Fleisch im leben von jüdischen Otl." Wenn ich zu,,OnkelJul" in seinen und christlichen Men- Laden zum Einkaufen kam, fragte er schen in Nievern mich immer seh r freundlich :,,M aiasche, Mehrere Zeilzeu- was darf ich Dir denn geben?" -,,Koch- gen habe ich in den letz- fIeisch, OnkelJu1," antwortete ich meist." ten dreiJahren bef ragt, welche Kontakte sie zu ,,Sehrwohltätig im Orte istdie Metz- jüdischen Nachbarn ge rfam i I i e Ru d olf Strau ß gewese n" be- haiten. Fast alle bestä- stätigte mir Frau Agnes Britschgi am tigten mir, daß sich Ju- 22.11.1993, ,,Arme und Kranke zogen den und Christen in den mit Töpfen zur Familie Strauß und er- ersten 30 Jahren die- hielten von ihr Suppe und Essen. lch ses Jahrhunderts gut weiß auch noch genau, daß das Wai- verstanden hätten. Man senkind Renate Werner von ihr einen habe damals keine Un- Sch u I ranzen geschen kt bekam." terschiede gemacht, Rudolf Strauß hatte in seinem Haus und die Kinder hätten (Ecke Hauptstraße / jelzige Brücken- erst recht keine ge- straße) sein Geschäft mit einem Schau- kannt. Als Beweis zeig- fenster. Leopold Mainzer hatte in ei- ten sie mir die Famili- nem Backsteinhaus seine Metzgerei enfotos, auf denen sie mit einem Schlachthaus. mit ihren jüdischen Die vier Metzger schlachteten jeder Freunden von einst zu in einem eigenen Schlachthaus. Sie Zum Sabbatempfang: Schabbatlichter, Brot und Wein für sehenwaren: Etwaaus hatten ein gutes Verhältnis zueinan- Kiddusch. dem Jahre 1 920 der. Die Juden hatten eine besondere stammt das eindrucks- Artzu schlachten. Nach ihrer religiösen volle Gruppenbild mit Tradition ,,schächteten" sie die Tiere, Julius Mainzer (Foto d.h. die schnitten ihnen die Halsschlag- Mitte, 2. von rechts). ader auf und ließen sie verbluten. Für Frau Maria Sauer diesen Zweck hatten sie ein besonde- erläutede es so: res ,,Schächtmesser", das an einem ,,Dieses Foto wur- bestimmten Ort aufbewahrt wurde. de vor der Schmiede Zur Erklärung: ln der NS-Zeit und Anton Merz aufgenom- auch in den Jahrhundefien vorher wur- men. lm Vordergrund de diese besondere Art des Schlach- erkenne ich den Wirt tens immer wieder verteufelt und als des Gasthauses ,,Zur besonders grausam hingestellt. Das Traube" Georg Höhn. entspricht keinesfalls der Wahrheit. lm Hintergrund steht Nach dem Schnitt in die Halsschlaga- der Postbote Demare, der tritt beim Tier Sauerstoffmangel im und rechts neben Gehirn ein, womit es sofort betäubt ist Vor der Schmiede (ca. 1920). Juli- us Mainzer der Schu- und damit keine Schmerzen mehr emp- ster Marti n C rezel i us." finden kann. Das ,,Schächten" ist also Auch zum Fast- f ü r das Tier nicht schmerzhafter als das nachtsbild des Jahres für uns gewohnte Schlachten. 1 922, als der Paragraph Das Zusammenleben von Juden 1 1 regierte, gehörte und Christen war bis 1933 relativ pro- Willi Strauß (rechts mit blemlos. Man lebte zusammen, arbei- seiner Metzgerschür- tete gemeinsam, feierle und trauerte ze) dazu, wenn auch in auch vereint. Anlaß zum Neid gab es Arbeitskleidung. nicht, denn die jüdischen Mitbürger Frau Maria Sauer waren nicht wohlhabender. Den einen wußte weiter lebhaft zu konnte man besser, den anderen weni- erzählen: gergut leiden, wie das unter Menschen ,,Es gab damals vier allgemein so üblich ist. Fastnacht 1922: Willi Strauß, 1. von rechts mit weißer Metzgereien in N ievern : Frau Maria Sauer erinnert sich noch Schürze. J ul i us Mai nzer, genannt lebhaft an die,,Goldene Hochzeit" von Heft Nr. 14 - 2197 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz 13

Julius und Mina Mainzer im Jahre 1931 gen deren,,Verblendung" gebetet. genden, auch für unsere Zeit noch sehr oder 1932. Der Gesangverein brachte Erinnern wir uns daran, daß die aufschlußreichen ihnen ein Ständchen dar. Christliche feierlich vorgetragene,,Leidensge- Nachbarn richteten das Fest in ihrem schichte" in der Fastenzeit in uns anti- ,,Aufruf schönen Wohnzimmer aus. jüdische Gefühle erweckt hat, was bei Die Regierung richtet an das deutsche Mehrere Nieverner bestätigten mir spontanen Kindern gar nicht auszu- Volk folgenden Aufruf und Mahnung: folgende Episode: schließen war. der Mord an dem Reichsminister Dr. Etwa im Jahre 1932 kam Bischof Auch das ist Geschichte von Nie- Rathefiau hat die schweren Gefahran Antonius Hilfried von Limburg mit dem vern, ein Teil ihrer Kirchengeschichte. enthüllt, denen Deutschland durch in- Zug zur Firmung nach Nievern. Als er Bis 1933 scheinen die Nieverner von ne npol itische Gä.ru ngen au sgesetzt ist. durch den Oftzog, hatte Julius Mainzer dieser kirchlichen Beeinflussung we- Die Mahnungen, den Zwist der Partei- ein großes Transparent mit folgenden nig Schaden genommen zu haben. en und den Streit um Vergangenes lnhalt an seinem Hause angebracht: ruhen zu lassen, und alle kräfie der ,,Bin ich auch ein lsraelit, ehr ich 3.4. Die jüdischen Schülerinnen und Nation dem Aufbau und der Rettung doch den Bischof mit." Schüler und ein erster Blick in die des Vaterlandes zu weihen, sind unge- Auch an den jüdischen Beerdigun- Schulchronik hört verhaltt. Eine ruchlose und nichts- gen beteiligten sich die Nieverner. So Ganz selbstverständlich besuchten würdige Verhetzung, welche sich ge- weiß Frau Sauer von der Beerdigung die jüdischen Schülerinnen und Schü- gen die Staatsform richtet und ihre Mit- des Sohnes der Familie Rudolf Strauß ler auch die normale Volksschule des gtieder für vogelfrei erklärt, reizen im- in Fachbach zu berichten, der mit jun- Ortes. Sie hatten in dieser an einem mer wieder unklare, politisch irregelei- gen Jahren an Blinddarmdurchbruch Nachmittag auch ihren jüdischen Reli- tete und verwirrte Köpfe zu Mordversu- gestorben war,zut Trauer des ganzen gionsunterricht. Am katholischen nah- chen oder zu Mord. Ein Netz der Ver- Ortes: men sie nicht teil, wie die protestanti- schwörung droht den inneren Frieden, ,,Alle waren dabei und klagten mit. schen Kinder; daran war man gewöhnt. die G ru nd I age n de r deutschen E rneu e- WirMädchen sangen, wiewirdas auch Der,,Schulchronik" entnehme ich die rung zu zerstören. bei christlichen Beerdigungen taten : Zahl der Kinderderverschiedenen Jah re: Der Mord an Rathenau ist nur ein Glied "Da unten ist Frieden im dunklen Haus. Da schlummert der Müde, nun ruht er aus. Bis Christus, Dein Herr, rufet'auf- Schuljahr: '135 erstehn!' Schlaf wohl, wir werden uns 23. Oktober 1904 Kinder 1 Kind jüdisch wiedersehn." Verwundeft waren wir 1913114 159 Kinder 1 jüdisches Mädchen über den für uns unverständlichen 1914115 159 Kinder 1 jüd. Junge u. 1 jüd. Mädchen Singsang der Juden." 1915/16 150 Kindelt jüd. Junge u. 1 jüd. Mädchen Die religiösen Unterschiede der 1917118 153 Kinder 1 jüd. Junge u. 1 jüd. Mädchen beiden Konfessionen waren den Nie- 1918/19 137 Kinder 1jüd. Junge jüd. verern wohl wenig bewußt. Daß die 1919120 131 Kinder 1 Knabe Juden nicht an Jesus glaubten, war bei 1920121 120 Kinder alle katholisch den jüdischen Beerdigungen ihnen 1922123 118 Kinder (1. Klasse 57 Schülerlnnen nicht so wichtig. Man wollte den jüdi- ll. Klasse 61 Schülerlnnen alle kath.) jüdisches schen Trauernden Trost spenden - 1923 - 1927 kein Kind genauso wie den christlichen. 1928129 85 Kinder 1 jüdisches Mädchen 1929 - 32 kein jüdisches Kind Höchstens in der Fastenzeil - ganz '1933 besonders am Karfreitag - wurden die Mai 106 Kinder kein israelitisches Kind Christen in ihrer Kirche allerdings auf die religiösen Unterschiede hingewie- ln vieler Hinsicht ist diese ,,Schul- in einer Kette wohlvorbereiteter An- sen. Denn dann wurden nach alter chronik" der Gemeinde Nievern auf- schläge auf die Republik. christlicher Tradition antijüdische Tex- sehlußreich, in einer ganz besoders. Es sollen die Führerder Republik, dann te zelebriert. lm Jahre 1922 schrieb der damali- die Republik selbst fallen. ln Verteidi- Von 1570 bis 1956 war fester Be- ge Schulleiter auf Seite 132: gung gegen den verbrecherischen An- standteil der ,,Großen Fürbitten" am ,,Nachdem vor einem Jahr Reichs- schlag muß Durchgreifendes gesche- Karf reitag folgender Gebetstext:,,Las- minister a. D. Erzberger ermordet wor- hen. Dem wachsenden Terror, dem set uns auch beten für die treulosen den war, ereilte den Reichsminister Dr. Nihilismus, der sich vielfach unter dem Juden, daß Gott unser Herrwegnehme Rathenau am 24. Juni 1922 dasselbe Deckm ante I n atio n al e r G esi n n u n g ve r- den Schleiervon ihren Herzen, auf daß Schicksal. lnfolge der Ferien fand die birgt, darf nicht mehr mit Nachsicht auch sie erkennen unsern Herrn Jesus Trauerteierfür Dr. Rathenau in hiesiger begegnet werden. Der Ruf ..Die Repu- Christus". Und um noch diese Aussage Schule am 4. Juli statt. Aus nachste- blik ist in Gefahl' muß alle für Freiheit zu vertiefen, d. h. zu verschärfen, war henden Zeitungsausschnitten ergibt und für den Aufbau des demokrati- nach diesen Worten eine Kniebeuge sich am besten die Bedeutung Dr. Ra- schen Staatswesens arbeitenden verboten, ,,um nicht das Andenken an thenaus für das Reich." Sch ichte n d e r Bevö I ke ru n g zusammen die Schmach zu erneuern, mit welcher Dann klebte der damalige Chronist schließen und einigen. die Juden durch Kniebeugen um diese auf Seite 133 mehrere Zeitungsartikel Das Reichskabinett, eines seiner fä- Stunde den Heiland verhöhnten"15) ein, welche den Mord an dem jüdi- higsten und besten Mitarbeiter durch Übrigens wurde dann von 1958 bis schen Reichsminister entschieden ver- Meuchelmord beraubt, erkennt in der 1959 für die ,,ungläubigen Juden" we- urteilten. Auf Seite 134 brachte er fol- Stunde tiefster Trauer die politische r

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Forderung dieser Stunde., Da Gefahr und getrauerl und sich zuweilen wenig ,,Schulchronik": der bereits zitiefte Leh- im Verzug ist, muß schnell gehandelt um die hohe Politik oder Kirche geküm- rer L.. Von ihm haben mir mehrere werden. Die Reichsregierung :hat da. mert. glaubhaft versicheft, daß er trotz sei- her dem Reichspräsidenfen empfott- nes Fanatismus für den Nationalsozia- len, von seiner vertassungsmäßigen 4. Die nationalsozialistische Zeit ab lismus doch auch viel Gutes für das Befugnis Gebrauch zu machen und 1933: Dorf bewirkt habe. Das soll nicht ver- durch Verardnung de n Sch utz d es Staa- Das Ende der Jüdischen Kultusge- gessen werden. tes; der Republik und, des Lebens sei- meinde Nievern Nach dem 30. Januar 1933, dem ner durch poliysahe Mordo rganisatio- 4.1. Vorüberlegungen des Chroni- Machtantritt Hitlers, hat sich die Lage nen bedrohten Vertreter zu sichern. sten zur NS-Zeit für die jüdischen Menschen nach und Sie wird für strengste Durchführung Es kann nicht meine Aufgabe sein, nach sehr verschlechtert. Von außen dieser Forderang Sorge tragen und die nationalsozialistische Zeit N ieverns drangen negative Einflüsse in den Ort, sofo rt di e Vo rbe reitungen t reffen, d u rch in aller Ausf ührlichkeit darzustellen. lch die auch in Nievern angenommen wur- gese,tzliche Vorschri{ten der morali- muß mich darauf beschränken, wie sie den. schen und politischan Zersetzung ent. die jüdischen Einwohner betroffen hat. ln der,,Schulchronik" auf Seite 175 gegenzuwirken, die den Staat und sei- Wichtig ist mir, daß der Leservon vorn- steht: ne Grundla:gen auf das schwerste be- herein weiß, wie ich zu dieser Zeit ,,Der 5. März (1933) war ein Wahl' droht. stehe. tag für unser nationales Deutschland. Die,Reichsregie rang versteht die tiefe ln meinem 1988 herausgegebenen, 52% stimmten f ür die Rechte. Die Hitler Erregung des Valkes. Sie bedauert die vorwiegend an Jugendliche gerichte- Partei wurde die stärkste Partei und wirtschaftlichen Rückscltläge eines ten Buch, ,,woztJ menschen fähig sein hatte in unserer Gemeinde 140 Stim' solchen Wahnsinns, welche die arbei- können - die reichspogromnacht 1938 m e n. De r M a rxi sm us h at abgewi rtschaf- tende Klasse am meisten treffen. Die in ", habe ich im Einleitungs- tet. Deutschland steht vor dem Ab- Reichsregierung hafft, daß das deut: brief den jungen Menschen geraten, grund mit 8 Millionen Erwerbslosen. sche Volk in seiner ver.ständlichen Er- sich immer die Frage zu stellen: ,,Wie Aus diesem Anlaß war am 8. März regunE aich nicht zu Schritten verleiten hätte ich mich damals verhalten?" schulfrei. Am 21. März war aus Anlaß :welche läßt, die wirtschaftlichen und Fortgesetzt habe ich so: ,,lch will Dir der Reichstagseröffnung in Potsdam palitischen Schäden und Wirren noch aufzeigen, wie raffinierl und intensiv ein Nationalfeiertag. Die Reden unse- mehr vermehren würden. Sie erwartet Du damals beeinflußt worden wärest; re r we rten V o I ksf ü h re r H i nde n b u rg - H it- vielmefsr, daß das deutsche Volk sich was Du alles hättest mitmachen müs- ler wurden bei der Schulfeier übertra- hinter die Hegierung stellen wird, und sen. Die Antworl wird Dir nicht leichtfal- gen. Auch bei dem interessanten Fak- richtet dah e r an d ie Beamten schaft u nd len. - Auch ich muß mir Deine Frage kelzug des Abends hatte ich die Ehre, Arbeiter aller Par:teien und an das frei- stellen, weilich 1942 geboren bin. Nach die Ansprache an die Masse zu Über- heitliche Bürgertum die ernste und 15 Jahren intensiver Beschäftigung mit nehmen. L., Lehrer." dringliche Mahnung, zum Schutz des dieser Zeit ist folgende Bitte,,und führe ,,Schulchronik" Seite 1 76: Sfaafas in Not und Gefahr zusammen- uns nicht in Versuchung !" meine Ant- ,,Am 27. April (1933) war die feierli- stehen. wort. Ob ich damals widerstanden hät- che Einweihung der neuen Krche durch te, weiß ich nicht. lch fürchte NEIN - den hochwürdigen Herrn Bischof Anto- Es lebe die Republik ! hoffe aber JA. Du sollst wissen, wo du nius Hilfried von Limburg. Die Reichsregierung Dr. Wirth mit mir dran bist." (Seite 13/14) Am 1 . Mai war der Nationalfeiertag, ein DerReichsminister Giesberts" ln diesem Geiste gehe ich als Chro- wahres Volksfest, an dem sich KoPf- nist an die f ür die jüdischen Einwohner und Handarbeiter, unter Ausmerzung Daß dieser bewegende Aufruf und Nieverns so negative und auch kata- aller Gegensätze und des Klassen- seine Mahnungen in den Folgejahren strophale Zeit von '1933 bis 1945 her- kampfes, die Hand reichten zum Woh- nichtvon den maßgebenden Personen an. lch habe kein Recht, die Untäter le der Arbeit und zum Segen des neu- beherzigt wurden - auch nicht in Nie- von damals, deren Namen ich fast bis g e b o re n e n V ate rl and es. vern - beweist interessanterweise die- zur Unkenntlichkeit abkürze, zu verur- Nach dem Festtagsgottesdienst, an se Seite 134 der Schulchronik. Mit ei- teilen, aber die moralische Pflicht, dar- dem alle Gläubigen der Pfarreiteilnah- nem dickem Rotstift hat einige Jahre zustellen und nachzuempfinden, was men, ging es zum Hitlerplatz, wo sich später Lehrer L. unter obigen Aufruf den jüdischen Menschen angetan wur- die Jugend eingefunden hatte, um den daruntergeschrieben: de. Die Taten sollen für die Täter spre- Ansprachen unseres ehrenvollen chen, damit sich niemals mehr wieder- Heich spräsidente n vo n H i nde n b u rg u n d Aufruf ist interessant !!! Ju- ,,Dieser hole, was sich in unseliger Zeit in Nie- unseres verehrten Reichskanzlers Hit- denverherr{ichung! Er behandelt so vern und fast dem ganzen Deutschen ler vom Radio zuzuhören. Nachdem damalige Zeit. lch /asse des- reehtdie Reich ereignete. Für mich ist auch die ich auf die Bedeutung des Tages hin- halb den Aufruf in der Chronik. uralte jüdische Weisheit von ausschlag- wies, bewegte sich der Fackelzug nach gez.'L. (mit Namen)" vollem gebender Bedeutung, die lautet: Fachbach, wo Lehrer F. von dort aber- Das ist der Vorbote einer neuen ,,Das Geheimnis der Versöhnung mals eine Ansprache hielt. Die Häuser Zeit, die mit 1933 begann. heißt Erinnerung". h atten Fah n e nschm uck an get egt. Ü be r- ln den Jahrzehnten davor waren all wehten die neuen Nationalfarben die jüdischen Mitbürger Nieverns in die 4.2. Die Anfangsjahre der NS-Zeit: schwarz, weiß, rot, sowie die Hiilertah- Dorfgemeinschaft aufgenommen wor- 1933 und 1934 in Nievern nen mit dem Hakenkreuz. den und damit integriertgewesen. Man Einer meiner wichtigsten Zeilzeu- W.L., Lehrer." hatte zusammen gearbeitet, gefeiert gen für Nievern ist der Chronist der In der,,Emser Zeitung" vom Sams- Heft Nr. 14 - 2/97 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz 15

tag, dem 15. Juli 1933,lesen wir u.a: Dann hilfst Du am Aufbau im Dritten befragung ein bestimmtes Bild: ,,M än n e r-Gesang -Ve rei n Cäci I ia Reich. Es stimmen mit 1862 Nievern, Wähle Hitler, der uns befrei', Ja Nein ungültige ... Lehrer L. konnte kurz nach 12 Uhr Aus Schmach u nd Elend von Ve rsai lles. Stimmen die denkwü rdige Ve rsamm I u ng sch lie- Der echte Deutsche, der an der Wahl- Nievern 441 71 10 ßen und richtete in einem Schlußwort urne war, Fachbach 476 61 12 noch emste, treffende Worte an die Gibt zwei Stimmen ab mit,,Ja"! Miellen 548- Versammlung, neben dem Dank an Schreibst Du zwei Male auf die List, Ob dieses Ergebnisses zeigte sich im unsere großen deutschen Führer, die Hitler es Dir nie vergißt." ganzen Orte eine tiefe Empörung. uns wieder zu einer Einladung gebracht Unter Führung der beiden Lehrer zo- hätten. - Mit dreifachem,,Sieg-Heil" und Daneben setzte Lehrer L. folgen- gen die Kinder der Oberstufe dreimal dem Singen des Deutschlandliedes den Kommentar: durch den Ort (8 Uhr, 11 Uhr, 3 Uh) wurde die Versammlung beendet." ,,Bei der Reichstagswahl vom 12. und sagten Sprechchöre her, die zur Am 22. September 1933 stand in Nov. 1 933 gab es nur die Hitlerpartei zu ,,J a"-Sti m me auffo rde rte n. Die H itle rj u- der,,Emser Zeitung": wählen. Von 552 Wahlberechtigten g e n d zog vo rn auf ; g e m ei n sam e Kam pf - ,,Nievern. Feier des 1. Deutschen stimmten 506 für die Hitlerpartei, 512 I iede r wu rde n gesungen. Tages billigten die Ausländerpolitik unseres Dem Führer in Liebe und Treue: Heil Die NSDAP Ortsgruppe Nievern ver- Führers und Reichskanzlers Adolf Hit- Hitler! L. , Lehrer" anstaltet am Samstag, den 24. Sep- ler und stimmten mit ,,Ja". 17 Vater- tember, ihren 1. Deutschen Tag, unter landsverräter stimmten mit ,,Nein" in Am 30. Juni '1930 stand in der,,- der Mitwirkung des gesamten Koblen- Nievern- zeitung", so hieß die,,Emser Zeilung" ze r N ati on al sozial i sti schen Arbe itsd ie n- 13 ungültige Stimmen wurden in Nie- seit 1 .1 .1934: stes. Die Hauptfeier ist 15 Uhr am Krie- vern abgegeben, so daß 30 für die ,,Nievern. gerdenkmal. Auslandspolitik verloren waren. So Kundgebung. ln einer öffentlichen SA-Führer und Führer vom Arbeits- handeln Verräter am eigenen Volke!!!" Kundgebung sprach gestern abend am dienst werden anwesend sein. Es wer- Gasthof ,,Lahneck" Kreisleiter Ohl, Bin den Volkstänze, Frei- und Sportübun- Von erhellender Klarheit, wie sehr lenbach, über Nörgler und Miesma- gen vorgeführt. Den Schluß feiert man sich Lehrer L. für die nationalsozialisti- cher. Die Versammlung war von über abends d u rch de utsch e n Tanz i m,,Gast- sche ldee in Nievern einsetzte, ist sein 500 Menschen besucht, und die treffli- hof zum Lahneck" (Bes.Pg.: H., NS- Bericht auf Seite 185: chen Ausführungen des Redners wur- Verkehrslokal). Die NSDAP-Ortgrup- ,,YplßsabslrnrnuDg den mit g roßem Beifal I aufgenom me n. " pe Nievern ist stolz darauf, eine solche Der Volkskanzler A. Hitler wurde Feier veranstalten zu können, die ihr von der Reichsregierung zum Reichs- Auch äußerlich änderte sich in Nie- vorher, durch die Zentrumeinstellung präsidenten gewählt, wie es schon der vern etwas. der überwiegenden Mehrheit der Be- große Feldmarschall in seinem letzten Ein Schaukasten mit der aktuellen völkerung, nicht gelungen wäre." Testamente niedergeschrieben hatte. NS-Wochen-Zeitung,,Der Stürmer" lnnenpolitisch hat sich bis zur Dieses Amt ließ sich der uneigennützi- wurde angebracht. Ein Nieverner be- ,,Reichstagswahl" und gleichzeitiger ge FührerA. Hitlerdurch eine Volksbe- stätigte mir die Existenz eines solchen ,,Volksabstimmung"vom I 2. Nov. 1 933 fragung am 1 9. August 1 934 durch das Kastens im Ort - und zwar ausgerech- viel ereignet. Volk bestätigen. ln Deutschland stimm- net am Hause von Julius Mainzer, der 23. März'33:,,Ermächtigungsgesetz": ten 89,9% der Wähler mit ,,Ja". Für Synagoge! die,,Gleichschaltung" der Parteien; unsere Gemeinde ergab diese Volks- Der,,Stürmer" war das widerlichste 01. April '33: Öffentlicher Boykott der jüdischen Geschäfte; 22. Juni'33: Verbot der SPD. ln die ,,Schulchronik" (Seite 176) hat Lehrer L. für diesen Wahltag fol- genden Zeitungsausschnitt geklebt: ,,Welch große Bedeutung die ent- sch e ide n d e Reich stagswah I u n d Vol ks- abstimmung des 12. November für die deutsche Zukunft in sich trägt und mit welch spannendem lnteresse sogar die Kle i n ste n u n se res Vo I kes d i e G esche h - nisse der letzten Tage erkannt und verfolgt haben, beweisen nachstehen- de Verse über die Wahl, die uns von der Klasse 1. der Volksschule Nievern zugehen. Wähle Hitler mit Bedacht, Dann hast'Dein Sach'recht gut ge- macht. Wähle Hitler, Deinen Führer, und sei nicht feig! Stürmer-Werbekasten im Gau Worms. Quelle: Bundesarchiv. I

16 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Heft Nr. 14 - 2197

Hetz- und Lügenblatt gegen die Juden, che vor der Kirche und zogen mit ihrer den gekauft: das man sich vorstellen kann. Sein PX-Fahne demonstrativ Richtung lhr Man? ist: Herausgeber, Julius Streicher, war der Frücht. Vor dem Bahnübergang wur- Frau Günther C. Vorarbeiter bei brutalste Propagandist des Antisemi- den sie von einer SA-Sperre aufgehal- dem Wasserbauamt Dietz tismus im 3. Reich. Abstoßende Fotos ten. Es kam zu einem,,Handgemenge" Frau Günther R. Arbeiter bei dem und Karikaturen von jüdischen Men- mit der SA, das aber friedlich endete. Wasserbauamt Dietz schen, wie sie sich dieser kriminelle Frau Jachtenfuchs. Jos. Arbeiter Fantast vorslellte, ,,zierlen" jede Titel- Protest gegen die überhandneh- bei der Deutschen Reichsbahn seite. Die Lügengeschichten stellten mende Werbung für die Hitler-Jugend Ferner: die jüdische Religion als eine für die erhob offiziell Josef Jachtenfuchs. Als Die Schwesterdes Hochw. Herrn Pfar- Welt todbringende Lehre dar. Antwort erhielt er am 24. Mai 1 934 vom rer Kraus. Nievern. Auf dem oberen Rand des breiten ll. Ortsgruppenleiter R. der NSDAP Diese Personen schließen sich aus der Schaukastens stand meist,,Die Juden Ortsgruppe Nievern schriftlich folgen- Volksgemeinschaft aus. Es geht nicht sind unser Unglück", oder z.T. an, daß Staatsgelder zur Stär- noch ganz groß darüber ,,Mit kung der Feinde unseres Staa- dem Stürmergegen Juda". Also tes Verwendung finden. auch Nievern war mit diesem Wer als Deutscher im Kriege Haßblatt,,verschandelt" wor- den einen unterstützte, wurde den. al s Vate rlan d sve rräte r e rsc h os- ln hatte am sen. 23.08.1935 der Gemeinderat Wer dem Juden Geld bringt, ist beschlossen, ,,an den Eingän- ebenfalls ein Vaterlandsverrä- gen des Dorfes Schilder anzu- ter!" bringen mit der Aufschrift ,,Ju- den sind unerwünscht". Gab es War da noch Platz für die diese oder ähnliche auch in Nie- jüdischen Mitbürger? vern? Hatten sie da noch irgendei- Bei der gleichen Sitzung in ne Zukunft in diesem Ort oder in Miehlen wurde auch beschlos- diesem Lande? sen, durch ,,Ortsschelle" be- Wir können nachempfinden, kanntzugeben: wie bitter ihre Enttäuschung ,,Gemeindebeamte und Ar- über ihr eigenes Deutschland beiter, die jegliche Geschäfte gewesen sein mußte, über ihr mit Juden tätigen, werden ihres eigenes Nievern. Jahrhunder- Amtes enthoben. Handwerker telang hatten sie hier - in ihrer und Arbeiter, die n icht im D.A. P. eigenen Heimat - ehrenvoll ge- sind und bei Juden kaufen, kön- lebt, geliebt, gearbeitet. Als nen keine Arbeitsaufträge in- Männer waren sie in den Krieg nerhalb der Gemeinde erhal- gezogen, hatten für ihr Deutsch- ten. Denjenigen Unterstüt- land gekämpft, gelitten, waren zungsempfängern, welche verwundet worden oder sind durch die Gemeinde unterstützt sogar für ihr Vaterland gefallen. werden, und noch bei Juden Ladenschild in dieser Zeit. Quelle: Bundesarchiv. Siewaren einfach nur Deut- kaufen, wird jegliche Unterstüt- sche jüdischen Glaubens ge- zung entzogen." den wörtlichen Text: wesen, wie es katholische und evan- Sollte Nievern einen solchen oder ,,Von lhrer lächerlich blödsinnigen gelische Deutsche gab. Die Wahnsinns- ähnlichen Beschluß nicht gefaßt ha- Antwort auf die Werbung für die H.J. hirnen entsprungene Degradierung zu ben? habe ich Kenntnis genommen. Deutschen 2. Klasse - fast ohne Rech- Die Schmiede im Ort hatte auf ein- lch teile lhnen hierdurch mit, daß ich te - konnten sie gar nicht verstehen. mal das Schild ,,Deutsches Geschäft" mich bemühen werde, auch für Sie Wie und wo sollten sie nun ihr täg- mit Hakenkreuz als,,Verzierung". War eine Stelle in Holland zu bekommen, liches Brot verdienen, wo ihn_en fast es das einzige Schild dieserAfi im Ort? dann können Sie jamitihrem Sprößling jede normale Tätigkeit verbolen war? auswandern. Fur Menschen lhrer Sor- Wie sollten sie begreifen, daß in Nie- Aber auch ein anderes Denken gab te ist im neuen Deutschland kein Platz vern nun Männer das Sagen übernom- es damals in Nievern: mehr." men hatten, die sie zu ,,Feinden des Nachdem im Sommer 1934 die Staates" erklärt hatten. Katholische Jugendarbeit offiziell ver- Leider undatiertund anonym ist das Außerst verzweifelt war ihre Lage! boten worden war, ereignete sich die folgende für Nievern bestimmte Flug- Trotz allem hingen sie doch an ihrer ,,Schlachtauf der Eich". Obwohl Pfarrer blatt: Heimat, wo sie bis jetzt zu Hause ge- Krause, der vor 1933 für die Zentrums- ..Achtung ! Deutsche Volksgenos- wesen waren. Wo sollten sie in der partei im Reichstag kandidiert hatte, sen - herhören! Fremde hin, wo sie niemanden kann- flehentlich darum gebeten hatte, den Trotz aller Aufklärungsarbeiten, trotz ten und wo man eine fremde Sprache Protestgang nicht zu unternehmen, andauernder Warnung, haben nach- hatte? versammelten sich 25 bis 30 Jugendli- folgende Personen weiterhin bei Ju- Sie trösteten sich wohl zunächst Heft Nr. 14 - 2/97 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz 17

noch mit dem Gedanken: Doch es gelang auch Nieverner Ju- Gruppellos-Str. 8;von dort nach Minsk/ ,,Soschlimm wird es nicht kommen. den, rechtzeitig zu entkommen. Belorußland deportiert, wo er ,,für tot Lange kann diese Bande nicht regie- Heinrich Mainzer, genannt,,Heine", erklärt" wurde. ren. Wir müssen auch diese Zeit über- der Sohn Leopold Mainzers (Jahrgang Emil Mainzer, geb. 1 6.9.1 882 in Nie- stehen, wie unser Volk schon manche etwa 1 891 ), war bereits vor der NS-Zeit vern, Metzger; von Düsseldorf nach Verlolgungen in ihrer Geschichte über- in die USA ausgewandert. Sein Vater Minsk deportiert und dorl ,,verschol- standen hat. Deutschland ist doch ein Leopold Mainzer (geb. 7.9.1847 - gest. len". Kulturland; da können die angekündig- 18.5.1933) wurde in Fachbach begra- ten Grausamkeiten nicht wirklich wer- ben. An seine Beerdigung erinnert man Mehrere in Nievern geborene jüdi- den. Es sind doch Menschen wie Du sich noch gut. sche Menschen - und vor allem deren und ich. Sie können doch nicht alle zu Weiterhin gelang Wilhelm Strauß, Familienangehörige -, die ermordet Unmenschen werden. Gott wird uns genannt,,Willi", Sohn von Rudolf Strauß, wurden, sind uns bis jetzt noch nicht auch in dieser großen Not beistehen." am 18.7.'1938 mit seiner Frau Lili und bekannt. Sie starben als Märtyrer für seinem Sohn Hans (geb. 1933) die ihren Glauben. Nur an den Beispielsjahren 1933 Ausreise nach Alabama in den USA. Der Holocaust, die planmäßige Er- und 1934 habe ich exemplarisch nach- Seine Eltern, Rudolf Strauß (geb. mordung von 6 Millionen Juden Euro- gewiesen, wie schwierig - fast ausweg- 26.5.1874) und Johannette Strauß geb. pas in deutschem Namen, wird ein los - die Situation der jüdischen Men- Rosenthal (geb. 13.3.1874), hatten ewiges Rätsel der Menschheitsge- schen in Nievern und fast überall im gehofft, in der Großstadt Un- schichte bleiben. ln Berlin-Wannsee Deutschen Reich geworden war. terschlupf finden zu können. Sie zogen rechneten die federf üh renden Schreib-

Ein anderer Historiker möge die Zeit am 22.9.1939 in den Rödelbergerweg tischmörder am 30.1 . 1 942 sogar mit 1 1 bis 1945 erforschen. lch konzentriere 8. Von dort aus wurden sie am Millionen, die sie liquidieren wollten. mich ganz auf die jüdischen Menschen 1 5.9.1 942 ins KonzentrationslagerThe- Das wird sich nie begreifen lassen. und ihr weiteres Schicksal. resienstadt depoftiert. Er hatte die Num- ,,Auschwitz", der sinnbildliche deutsche mer 1249. 1378 jüdische Opler waren Menschenvernichtungsort, wird für un- 4.3. Der Exodus der jüdischen Nie- in diesem Zug. ln Theresienstadtverlo- ser Volk und die ganze Welt eine ,,ewi- verner: Wegzug, Auswanderung, ren sie - Johannette Strauß am ge Mahnung" darstellen müssen. Holocaust 2.11.1942 und Rudolf Strauß am Zu abstrakt sind die 6 Millionen jüdi- Es war nicht einfach für die Juden, 29.1.1943 - ihr Leben. Sie mußten vor- schen Opfer, um sie auch nur annä- Deutschland zu verlassen und noch her noch die schreckliche ,,Reichspo- hernd erfassen zu können. Ein weiser schwieriger, nach Übersee auszuwan- gromnacht" in Nievern erleiden. Mensch schlug vor: ,,Sagen Sie doch: dern. Vor allem bedurfte es einer be- ln der Erinnerung mehrerer Niever- ,,Sechs Millionen malwurde ein Mensch trächtlichen Summe Geldes, das viele ner werden sie als sehr liebe und oft- ermordet". Sechs Millionen mal wurde nicht hatten. Dann mußte man sich in mals wohltätige Menschen weiterleben. also ein Rudolf Strauß, den viele als den frühen Jahren der NS-Zeit ent- frommen, lieben und wohltätigen Nie- scheiden, als die Nazis die jüdischen Julius Strauß und seine Frau Wil- verner in bester Erinnerung haben, Menschen noch,,loswerden" wollten. helmine (genannt,,Mina") wollten auch vorsätzlich getötet. Mehr als eine Milli- Später, nach der berüchtigten,,Wann- ihre Rettung in Frankfurt/M. finden on mal wurden kleine Kinder ermordet, seekonferenz" vom 30. Januar 1942, (Rechneigraben). Sie meldeten sich das für mich Unfaßlichste. als bereits eine nahezu vollständige am 1 . Oktober 1939 in Nievern ab, was Erinnern wir uns der mahnenden Vernichtung der europäischen Juden das letzte Datum der jüdischen Kultus- Wofte von Bundestagspräsidentin Rita durch organisierte Massenmorde be- gemeinde Nievern bedeutet. Von ih- Süssmuth am27. Januar 1995 beider schlossen wurde, war es zu spät. Gott- rem weiteren Schicksal ist nichts be- Gedenkstunde im Deutschen Bundes- lob konnten über|00.000 der rund kannt. Mögen diese lieben Menschen tag: 500.000 deutsche Juden vorher ins mit einem friedlichen Tod gesegnet ,,Wer die Spuren von Auschwitz Ausland entkommen. worden sein! auslöschen will, wer Auschwitz und die Viele, die z.B. nach Frankreich, Opfer leugnet, macht sich schuldig, Holland, Belgien und Luxemburg um- Am 7.4.1938 sind von Nievern in 1ösefit die, ä*s. f,qqg, :; ia n, Mitl h :, E zogen, wurden, nachdem Deutschland die Habsburgerallee 20 in FrankfurVM. ia4'G i mordeten, tilgt ihre Biographien, ihre diese Länder besetzt hatte, dort von gezogen: Leiden und nimmt über den Tod hinaus Deutschen gefangen genommen und Thekla Levis geb. Mainzer (geb. ihre Würde." in Konzentrationslager verschleppt. 26.7.1885), ihr Ehemann Markus Levis Sicher waren sie nur in Übersee. Aber und Markus Levis. Nur von Thekla Le- viele Länder verwehften den jüdischen vis wissen wir weiteres; sie wurde von Opfern die Einwanderung. Selbst die Frankfurt aus deporliert und gilt als 4.4. Die,,Reichspogromnacht" vom USA ließ sie nur noch sehr beschränkt ,,u nbekannt verschollen". 10. - 1 2. November 1 938 in Nievern in ins Land. Derausreisewillige Deutsche der Erinnerung heutiger Zeitzeugen mußte einen Bürgen in den USA auf- lm Holocaust-Archiv Yad Vashem ,,Der Holocaust, die vorsätzliche weisen, derseine Unterkunft und seine in Jerusalem fand ich in den Deportati- Ermordung der Juden, fand doch in Ernährung mindestens für die erste onslisten von Düsseldorf zwei weitere Polen und Rußland statt. Das ist weit Zeit garantiefte. Viele jüdische Deut- in Nievern geborene Opfer: weg von Nievern. Was haben wirdamit sche hatten wederdas notwendige Geld Albert Mainzer, geb. 2. oder 3. zu tun?" mögen einige Leser denken. zur Ausreise noch Freunde in Über- 9.1882 in Nievern, verheiratet, Arbei- Es gab eine Vorstufe des Holo- see. leri zulelzl wohnhaft in Düsseldorf, caust, einen Testfall im Jahre 1938, 18 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Heft Nr. 14 - 297

und der fand auch in Nievern statt: Die Nachbarn, um das Haus zu schützen. de m Sch I afzi m m e r f I og en d as B ettze ug sogenannte,,Reichskristallnacht", wie Die resolute Frau Heck ging runter ins und andere Gegenstände. lch war des- sie die Nazis verniedlichend und die Lokal, stellte sich breitbeinig hin und halb so entsetzt, weil ich mit Hans Opfer verhöhnend nannten. ,,Nur das sagte; ,,lhr könnt kommen, wir sind be- Strauß befreundet gewesen war, der Kristall der reichen Juden habe man reit!" Dieser Vorfall hatte natürlich ein mit seinen Eltern vorher nach den USA zerstört", sagten sie, und so war dieser Nachspiel vor dem Parteigericht. Man ausgewandert war. Wieder wurde un- propagandistische Lügenbegriff ent- wollte wissen, wer der Verräter war. Es serer Familie (Joseph Jachtenfuchs) standen. kam aber nie heraus." gedroht: ,,Wenn wir hier ferlig sind, Wir wissen heute ganz klar, daß an machen wir bei euch weiter!" Siewaren den beiden Tagen des 9. und 10. No- Günther Merz, geb. 30.01.1928, deshalb so wütend über uns, weil wir vember 1938 viel mehr zerstört wurde berichtete mir am 4. Juni 1993 in seiner weiterh i n bei J ul i us Mai nze r ei n gekauft als nur die Sachwerte der - im Ver- Wohnung: hatten. MitÄxten bewaffneten sich mein gleich zur Gesamtzahl der Betroffen- ,,Es war am Martinstag des Jahres Vater und mein Bruder Hans und war- den -wenigen Reichen: Mindestens 91 1 938, das Dorffeuer brannte im,,Clunk". teten auf die Eindringlinge. Diese ka' Morde geschahen, fast jede Synagoge Da riefen mir andere Kinder aufgeregt men aber nicht. Auch das Haus und wurde zerstör1 oder gar abgebrannt, zu: ,,Die schlagen den Juden ihr Sach' Geschäft von Rudolf Strauß wurde an und fast jede Wohnung der noch so kaputt!" So geschah es beim Hause diesem Abend demolierl. Sein Sohn armen Juden wurde zerstört. des Julius Mainzer und seiner Frau Willi hatte die Eltern bei seiner Ausrei- Weil auch die überlebenden Juden Wilhelmine. Möbel und lnventar wur- se am 18. Juli1938 eigentlich mitneh- unter diesem ins Geschichtsbuch ein- den aus ihrem Haus herausgeschmis- men wollen,. Aber der Vater hatte ent- gegangenen Begriff leiden, habe ich sen. lch sah ein altes Sofa und andere schieden abgelehnt mit den Worten: als Titel für mein erschienenes Buch Möbelstücke. lm 1. Stock des Hauses ,,Warum soll ich wegziehen? lch habe das Wort ,,Reichspogromnacht" ge- war in einem großen Zimmer die Syn- in Nievern nur Gutes getan. Wer soll wählt, was,,Reichsverfolgungsnacht" agoge gewesen, die auch zerstörtwur' mir was tun?" bedeutet. lhn werde ich weiterhin ver- de. Was da geschah, war eine Sensa- wenden. tion. Viele Menschen aus dem Ort stan- Frau Maria Sauer geb. Höhn, die an Auch diese Nievern betreffende den herum, starrten das Geschehen jenem für sie so entsetzlichen Tage Nacht wird letzten Endes ein Rätsel an, schwiegen - wohl aus Angst. ln das bereits 28 Jahre alt war, erzählte be- bleiben. Oder begreifen Sie, daß nor- Haus von Julius Mainzer wurden wegt: male Bürger plötzlich in Wohnungen zwangsweise der als Trinker bekannte ,,ln unserem Hause wohnte ein Un- von gut bekannten Menschen gewalt- N. und seine 2 Töchter einquartiert. Als termieter namens W. Er sollte bei den tätig einbrechen, dort alles blindwütig nächstes wurde das Haus der Metzge- Ze rstö runge n des Tages mitwi rken. E r kurz und klein schlagen und dann auf rei Rudolf Strauß (Ecke Hauptstraße/ vertraute uns das an und auch, daß er Kosten der Opfer ,,einen Saufen ge- Brückenstraße) gestürmt. lch sah, wie eigentlich nicht mitmachen wolle. Wir hen." Genau das geschah in Nievern! Federbetten aufgeschlitzt wurden und rieten ihm dringend, sich krank zu mel- Glauben Sie das den Bürgerinnen die Federn flogen. Als letztes haben den und ins Bett zu legen. Diesen Vor- und Bürgern von Nievern, welche die- die Täter das Firmenschild von Rudolf schlag nahm er schließlich - nach vie- sen 10. November 1938 noch in leben- Strauß zerstört. Die Täter waren etwa ten Überredungsversuchen - an und diger Erinnerung haben: 10 SA-Mitglider von Nievern; Einige meldete sich der Aktion als ,,magen- Lehrervan Ackern befragte im Juni Nieverner hatten Schulden bei den krank" ab. So wurde er kein Täter. 1993 Frau Elisabeth Giel, geb. Heck, Juden. Fremde habe ich keine gese- Die anderen aber, ich schätze so sle- die Schwester des letzten lnhabers der hen. Einer von der SA hatte sich 300 ben bis acht Männer dieses Ortes, wa- Metzgerei Heck, Karl Heck, der 1991 Mark bei Strauß angeeignet. lm ,,Brau- ren in das Haus Julius Mainzer einge' verstorben war. Frau Elisabeth Giel ist nen Haus", dem,,Hotel Lahneck", ha- brochen und hatten die lnneneinrich- in Nievern noch als ,,Hecke Lies" gut ben sie gesoffen. Der Orstgruppenlei- tung vollkommen zerstört. Eine große bekannt. Sie sagte aus: ter P. war auch dabei. Er wurde danach Menschenmenge Dorfleute stand her- ,,Als in der'Kristallnacht' 1938 die abgesetzt, hat seine Arbeitsstelle ver- um, beobachtete die schrecklichen jüdischen Häuser gestürmt wurden, loren und wardafür im Gefängnis. Näch' Taten, hätte wohl gerne den Juden kam Frau Mainzer zu Hecke gelaufen, ster Ortsgruppenleiter wurde darauf V. geholfen, wenn sie gekonnt hätten. Die damit dieser den Sohn (,,Heine" Main- Der 10. November l938warein unver- Angst war stärker vor den bekannten zer, ,,Hotel Hirsch. in Bad Ems in der geßlicher Tag für mich." Tätern des Ortes. Grabenstraße - der Verfasser) in Bad lch hörte nur Schläge und nochmals Ems perTelefon rufen sollte. Herr Heck Frau Emilie Sebastiani geb. Jach- Schläge in kurzer Folge. Wie ein wildes ging ans Telefon und wählte die Num- tenfuchs erzählte mir am 8.1.1994 in Tier wurde da auf alles wahllos einge- mer. Da kam der Ortsgruppenleiter rein Anwesenheit der Herren Helmut Bir- schlagen. Es war ein schnelles und und drückte die Gabel runter. Dies ge- kelbach und Gerhard van Ackern: schlimmes Durcheinander. lch hörte schah noch einmal. Da ging Herr Heck ,,Vor dem Hause Julius Strauß, als die zahllosen Schläge deutlich und in den Laden, holte ein Beil und be- die Zerstörung darin schon im Gange schrak zusammen. Die Täter kamen drohte den Ortsgruppenleiter. Die Fol- war, kündigte meiner Familie Herr B. heraus und forderten sich gegenseitig ge davon war, daß die Meute bei ihrem an: ,,Wir kommen auch noch bei Euch auf, doch alles kaputt zu schlagen. Sie Gelage im Vereinslokal beschloß, auch vorbei und schlagen das Klavier ka- gingen den Stockzum Synagogenraum das Haus Heck zu plündern. Dieses putt." lch war fix und fertig als, ich das hoch, schlugen alles entzwei und stah- Vorhaben wurde der Familie Heckver- Entsetzliche sah. lch schätzte, es war len was nicht niet- und nagelfest war: raten. Schnell sammelten sich einige so zwischen 18 und 18.30 Uhr. Aus die siebenarmigen Leuchter und die Heft Nr. 14 2/97 SACHOR - - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-pfalz 19

schönen Zinnteller. Der etwa 1}-jähri- wurde. Die Gerichte wurden ja nach Juden befahlen, erging auch an die ge Sohn eines Täters kam damit her- 1945 nicht entscheidend ausgewech- Ortsgruppe der NSDAP in Nievern eine aus. Sie zerstöften die Fenster, die selt; die Rechtssprechung ging meist entsprechende We isu ng. Türen, den Tisch. mit den gleichen Richtern weiter, dle D i ese r Bef eh I wu rde i m Laufe des N ach- lnzwischen waren zahlreiche Männer nun versuchten, ein anderes Recht zu mittags des 10. November lgSB von aus Frücht eingetroffen, die bei den sprechen. der Kreisleitung in St. Goarshausen Zerstörungen mithalfen. Die Zuschau- Der Nieverner Prozeßfand 1 2 Jah- übermittelt. Da der Ortsgruppenleiter er waren stumm und sprachlos; nur re nach dem unmenschlichen Gesche- keinen Telefonsanschluß hatte, erfolg- das Brüllen Täter der war wahrzu- hen statt. Gerade bei diesen,,Pogrom- te der Anruf an den Angeklagten K., nehmen. nacht-Prozessen" wurde vielfach ein den Propagandaleiter, der sich darauf- Ats ihr Wüten in Nievern zu Ende war, fast umfassendes Vergessen festge- hin zu dem Ortsgruppenleiter, dem An- zogen die nach Bad Ems zum Sohn stellt - ganz besonders bei Angeklag- geklagten P., begab. Hier kam auch Heinrich Mainzer zum,,Hotel Hirsch" in ten. noch der Zeuge H., der örtlich zustän- der Grabenstraße, um dort ihr Zerstö- Sarkastisch schrieb die in Koblenz dige Gendarmeriemeister, hinzu. Der ru ngswe rk fo rtzusetzen. verbreitete Zeitung ,,Die Freiheit', am Anlaß zu diesem Besuch des Zeugen Nach dem schrecklichen Geschehen 1 1.7.1951: war ein fernmündlicher Anruf des Kreis- in Nievern ging ich zum Hause von ,,Halten Sie uns für ldioten? oberinspektors gewesen, der sich we- Julius Mainzer, der mit seinem Spa- Die Koblenzer Judenpogrome vor Ge- gen der im Gange befindlichen Ju- zierstock vor dem Fliederstrauß er- richt denaktionen mit ihm in Verbindung schüttert seine noch erhaltenen Sa- Wie nicht anders zu erwarten: Keiner gesetzt h atte. D e r G e n darm e rie m ei ste r chen zusammensuchte. hat etwas getan - hatte die Anweisung erhalten, beimög- lch brachte ihm von zu Hause ein paar Allgemeiner Gedächtnisschwund bei licherweise stattf indenden Ju- Stücke Brot, Käse und Wurst und gab den Angeklagten denaktionen Tätlichkeiten gegen Ju- sie ihm zum Abendbrot. ... Mit der Miene zu Unrecht belästigter den und Brandstiftung zu verhüten, sich Als er mich erkannte, sah er mich lieb Ehrenbürger..." im übrigen aber aus dieser,,Parteian- an und sagte besorgt zu mir: ,,Ei, Vor allem konnten die Geschädig- gelegen heit" herauszuhalte n. Maiasche, geh heim, die bringen Dich ten und Gepeinigten jüdischen Men- Als derZeuge den anwesenden Partei- auch noch um!" schen nicht als Kläger auftreten. Die f u n kti o näre n von se i n em A uft rag Ke n nt- meisten waren ermordet worden oder nis gegeben hatte, waren die beiden 4.5. Die ,,Reichspogromnacht Nie- lebten unerreichbar in der Fremde. Angeklagten der Auffassung, daß in vern" im Spiegeldes Prozesses 19S0 Wer weiß denn, was sich in den ihrer Ortsgruppe eigentlich keine Ver- Am 15. Juni 1950 hat die 1. große Häusern der Überfallenen wirklich ab- anlassung bestände, etwas gegen die Strafkammer des Landgerichts in Ko- gespielt hat? Wer weiß denn, welche dort ansässigen jüdischen Familien blenz eine Sitzung über die,,Reichspo- Grausamkeiten den jüdischen Men- Mainzer und Strauß zu unternehmen. gromnacht Nievern 1 938" abgehalten schen dort zugefügt wurden? Die Angeklagten fühlten sich eigenttich und dabei 9 Angeklagte ,,wegen Ver- Nur die Täter waren dabei und die nicht ganz wohl bei dem ihnen erteilten brechens gegen die Menschlichkeit" Opfer, und den Tätern fiel in den Fotge- Auftrag, da man nämlich bisher mit den angeklagt. Beim Landeshauptarchiv jahren das Vergessen sehrviel leichter beiden jüdischen Famitien einträchtig Koblenz sind die entsprechenden Pro- als den Opfern. ,,Die Zeit heilt aile Wun- zusammengelebt hatte und vor allem zeßkarten unter,,9 KLs 1 1/50"archiviert. den" gilt scheinbar nur für die Täter. Strauß in der Gemeinde allgemein be- lch hatte die Gelegenheit, sie gründlich Wie ungerecht! lch weiß genau, wie liebt war. zu bearbeiten, was ich in mehreren sehr die Opfer von damals heute noch Trotzdem rief der Angeklagte p. im Tagen tat. unter den zugefügten Wunden leiden. Einvernehmen mit K. nunmehr bei der Was den Datenschutz betrifft, bin Bedenken wir das alles, wenn wir Kreisleitung an und bat um Weisung ich verpflichtet, dle Täternamen un- jetzt Ausschnitte des ,,Urteils" der 1. darüber, was unter ,,Judenaktion" zu kenntlich zu machen. Allgemein üblich großen Straf kammer des Landgerichts verstehen sei. Als er hierauf dahinge- ist, von Vor- und Nachnamen nur je- in Koblenz vom 15. Juni 1950 verneh- hend unterwiesen worden war, Tätlich- weils die Anfangsbuchstaben zu über- men. Mehrere Aussagen ergänzen die keiten sollten zwar unterbleiben, den nehmen. lch begnüge mich - wie bisher Berichte der aussagewilligen Niever- Juden sei jedoch Angst einzujagen, - nur mit Anfangsbuchstaben des Fa- ner; einige müssen aber zusammen wozu insbesondere die Möbel in ihren miliennamens. Denn auf die Täter betrachtet werden. Denn da kommen Wohnungen etwas zu ,,verrücken" sei- kommt es mirweniger an, viel wichtiger die Zeugenberichte der letzten Jahre en, ließ er die Parteifunktionäre seiner sind mir ihre Taten, die zur Folge hat- der Wahrheit viel näher. Ortsgruppe auf etwa 18 LJhr zum Par- jahrhunderteatte ten, daß die jüdische teibüro bestellen. Mit der Übermittlung Geschichte Nieverns ein Ende fand. 4.5.1. Die Reichspogromnacht in dieses Befehls beauftragte er den An- pro- lch habe schon mehrere dieser Nievern am 10. November 1938 im geklagten H. undeinen inzwischen nach zesse studiert; bei fast allen Verhand- Prozeß-Urteil Österreich verzogenen anderen par- lungen fielen die Urteile sehr milde aus. ,,Der Angeklage liegt folgender Sach- teigenossen, die den Auftrag ausführ- Meist konnten die Verurteilten sofort verhalt zu Grunde: ten. als freie Bürger nach Hause gehen, Als aus Anlaß der Ermordung des deut- Zu dem vereinbarten Zeitpunkt fanden geringe weil ihre Strafe mit der Dauer schen Botschaftsrates vom Rath du rch sich etwa 10 Personen auf dem Partei- ihrer lnternierungshaft verrechnet oder e i n e n J u d e n d i e n atio n al sozi al i sti sche n büro ein, zu denen auch die Angeklag- sogar - ab dem 1.1.1950 - durch eine M achthabe r Ve rgeltu ngsmaßnah me n ten H. und J. gehöften. Der Ortsgrup- "Bundesamnestie" ganz aufgehoben gegen die in Deutschland lebenden penleiter, Angeklagter P., teilte ihnen 20 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Heft Nr. 14 - 2197

mit, daß der Zweck ihres Zusammen- Strauß herausgeworfenen Möbel, ins- Auftrag, mit einigen SA-Leuten nach treffens die Durchführung der von der be so n d e re zwe i vo I I stä n d i ge Bette n u nd zu fahren. ln dem Wagen Kre i s I e itu n g bef oh I e n e n,,J u d e n akti o n" eine Chaiselongue zu bedürttigen Ge- befanden sich außer ihm der bereits in sei. me i ndeang eh ö ri gen geb racht. Au ße r- Nievern eingestiegene Angeklagte V. Hierauf begab sich ein Trupp unter dem ordnete er an, daß der Jude Main- und der in Bad Ems zugestiegene da- Führung der Angeklagten K. und P. in zer in seinem Haus eine Wohnung für malige SA-Truppenführer Zeuge W. das Haus des Juden Strauß, der eine den Zeugen N. zur Verfügung zu stel- Auf der Fahrt eröffnete der Zeuge W. eigene Metzgerei hatte und als wohl- len habe. Der Zeuge lebte in einer den Wageninsassen, daß sie den Auf- habend galt. Die Eindringlinge stifteten völlig unzulänglichen Wohnung, war trag hätten, bei dem Juden Stein in Unruhe im Haus, warfen die Möbel jedoch nicht gut beleumdet und konnte Dausenau eine Haussuchung nach durcheinander, öffneten Fenster ge- daher keine andere Wohnung finden. staatsfeindlicher Korrespondenz und waltsam, so daß Fensterscheiben zer- Der Zeuge, der außer einem Bett auch Waffen vorzunehmen. Die Durchsu- brachen und warten außerdem einige den Rest der vorher erwähnten Möbel chung ist später im wesentlichen von Möbelstücke aus dem ersten Stock- erhielt, war kein Parteimitglied und ge- W. vorgenommen worden, der Ange- werk auf die Straße. hörte auch keiner Parteigliederung an. klagte V. hat sich insofern beteiligt, daß Als sie das Haus bereits wiederverlas- Da er an diesem Abend zu Hause war, er einen aufgefundenen Brief durchge- sen h atten, kam i h ne n ei n an de re r Tru pp veranlaßte der Angeklagte P. weiter, lesen hat., den er von W. zur Überprü- entgegen, der inzwischen in dem Haus daß die anwesenden Parteimitglieder fung seines lnhalts erhalten hatte. lr- des Juden Mainzer gewesen war und den Umzug ausführten. gendwelche Ausschreitungen sind bei dort einen Trommelrevolver gefunden Als dies alles erledigt war, begaben dieser Haussuchung nicht vorgekom- hatte. Dieser Fund einerWaffe gab den sich, wie bereits erwähnt, alle Parteian- men. Angekl agten P. Ve ranlassun g, mit dem gehörige in das Parteilokal. Hier ver- Der Angeklagte R. fu h r mit sei nem Auto im Krieg gefallenen R. nochmals zum wendete der Angeklagte P. die von darauf noch ein zweites Mal nach Dau- Haus des Strauß zu gehen, um angeb- Strau ß e rhaltene n 50 Re ichsmark dazu, senau, wobei diesmal in demselben lich dort auch nach Waffen zu suchen. die Anwesenden mit Bier und belegten Haus nach einem Wehrpaß gesucht Hierbei fiel ihm eine Geldkassette in Brötchen frei zu halten; die Zeche be- wurde. W. und V. haben an dieser die Hände. Unter Ausnutzung der lief sich insgesamt auf 78 RM. Fahrt nicht teilgenommen. Die lnsas- Zwangslage, in der sich der Jude be- Ein Teil der Parteiangehörigen begab sen des Wagens, die die Durchführung fand, ließ er sich von diesem minde- sich mit Personenkraftwagen auch noch vorgenommen haben, konnten in der stens 50,- RM aushändigen. Später nach dem benachbarten Bad Ems, wo Hauptverhandlung nicht mehr ermittelt wurde aus dem Haus von zwei Män- ebenfalls J udenaktionen stattfanden. werden." nern noch ein Steintopf mit lnhalt aus Der Nachweis, daß sich einige der Hier unterbreche ich die Wiederga- dem Keller herausgeholt und wegge- Angeklagten auch an diesen Aktionen be eines Teils des Ufteils über die tragen. Ferner hat der Angeklagte J. selbst beteiligt haben, konnte jedoch ,,Reichspogromnacht 1 938" in Nievern ebenfalls miteinem Begleiterden Rund- nicht erbracht werden. für folgende wichtige lnformation: Mit funkempfänger des Strauß weggeholt Lediglich die Angeklagten R. und V. dem 10. November 1938 hatten in fast und zum Parteilokal gebracht, wo sich hatten an einer weiteren Aktion teilge- allen betroffenden Orten Deutschlands die Pafteiangehörigen inzwischen ein- nommen. Nachdem R. sich auf Anwei- die,,Zerstörungen" und,,Heimsuchun- gefunden hatten. sung des Angeklagten P. mit seinen gen" ein Ende gefunden. Auf Veranlassung des Angeklagten P. Person enwagen bei m Pafieilokal i n Bad Reichsminister Dr. Goebbels hatte wurden die aus der Wohnung des Ems gemeldet hatte, erhielt er den bekannt gegeben: ,,Die berechtigte und

Auiruf Dr. Goehhel§' rn die Bevölkerung dnh. Eerti§, I0. ltou. Seigsminifter Oc Goebbcb gi6i belannt: §tx §*r*d;ilgfr Nnä sftftfttblidlü §mp§fli§g §ss ä*u{N*tsn }olfeE ü&ec }en frig*l iti}if*** llleudrelrnor} on einem &utidten Oiptomclen in pori* üat fi6 in üet eerg{rnsrn€n ltc4t in umiangrei$em §Ia$e Cufl uerldrslit. f,n 1c$lreigeu Stölm unb Orie* bes [eiSc* mur- äen lergeltung*oftionsn ssgffi iübildle tsebäule unb {Seldlfifle rorgerorrmfiL €s etgeft nunmebr os bie gclümls 8crötferun$ öie flrerge llufforöerung, oon sllen trsi- leren Oemonftrationcn uflb E{ftionen Srgen üog Subentum, Stridrgüttig $etd}er Url, loiort cb3ufc$cn. Oie enbgültige Untmorl anf bes iübildre tttlcnlat in pcris rrirb oui *em }trI*ils §s§ {§rt*>&uNg *yu. ber Serotününg &cn §§}e*tssr st{t{l{ trerlcn

Aufruf von Dr. Goebbels an die Bevölkerung. Quelle: Bundesarchiv. Heft Nr. 14 - 2/97 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz 21

verständliche Empörung des Deut- Dieser entsprach seinem Ansuchen Wie war Nievern an einen solchen schen Volkes über den feigen jüdi- jedoch nicht und schlug ihm vor, am Ortsgruppenleiter geraten? schen Meuchelmord an einem Deut- nächsten Tag zu ihm zu kommen, um Hat Nievern nicht Glück gehabt, schen Diplomaten in Paris hat sich in gegen R. eine Strafanzeige in die Wege daß es diesen Orlsgruppenleiter schon der vergangenen Nacht in umfangrei- zu leiten. so früh losgeworden ist? chem Maße Luft verschafft. ln zahlrei- Einige Zeit darauf wurde R. von einer Die 1 . große S.traf kammer des Land- chen Städten und Orten wurden Ver- vor seinem Haus stehenden Menschen- gerichts in Koblenz führte in seinem geltungsaktionen gegen jüdische Ge- gruppe aufgefordert, herauszukom- Urteil vom 15. Juni 1950 weiter aus: bäude und Geschäfte vorgenommen. men, und als er erschien, ließ man ihn ,,Der vorstehende Sachverhalt ist Es ergeht nunmehr an die gesamte mitkommen. Unter ständigen Be- festgestellt auf Grund der Einlassun- B evö I ke ru n g d i e st re n g e A uff o rd e ru n g, schimpfungen, wobei das Wort ,,Ju- gen der Angeklagten, der ausweislich von allen weiteren Demonstrationen denknecht" fiel, brachte man ihn zu- des Sitzungsprotokolls teils eidlich und und Aktionen gegen das Judentum, nächst zu dem Gendarmeriemeister H. teils uneidlich vernommenen Zeugen gleichgültig welcher Art, sofort abzuse- und verlangte seine Verhaftung. Der sowie der nachstehend aufgeführten hen. Die endgültige Antwort auf das Gendarmeriebeamte, bei dem sich in- Urkunden: der polizeilichen Säu- jüdische Attentat in Paris wird auf dem zwischen der Angeklagte P. eingefun- beru ngsakten de r Sp ruch kam me r N ie- Wege der Gesetzgebung bzw. der Ver- den hatte, führte daraufhin zusammen derlahnstein S J I 41 4/49 (betr. P), und ordnung dem Judentum erteilt wer- mit diesem den Zeugen R., gefolgt von S J 390/48 (betr. B.) und der Spruch- den".17) der johlenden Menschenmenge, zu kammer Dietz-Ost S J ll 59/48 (betr. dem Bürgermeister. Als dieser eine K.), der Strafakten 5a KMs 1/39 des 4.5.2. Die Reichspogromnacht in Nie- Entscheidung ablehnte, rief H. den Landgerichts Wiesbaden (Strafsache vern am 11. November 1938 im Pro- Landrat an und teilte ihm den Sachver- P.) und der Handakten des Zeugen zeß-Urteil halt mit. Nachdem dieser auch noch Gendarmeriemeister H. mit Verneh- ln Nievern allerdings, und das ist mit dem Ortsgruppenleiter P. gespro- m u n g sn i e d e rsch rifte n. das Außergewöhnliche, gingen die chen hatte, erklärte er sich mit der Die rechtliche Würdigung des vorste- Verfolgungsmaßnahmen noch zwei I n sch utzhaftmaßnahme des Zeugen R. hend geschilderten Sachverhalts führt Tage weiter (11. und 12.11.38). lm einverstanden, der noch am selben zu dem Ergebnis, daß sowohldie Vor- Urteil lesen wir: Abend in das Gefängnis in Niederlahn- fälle in Nievern am 10. November 1938, ,,Am nächsten Tag, dem 11. No- stein eingeliefert wurde. Nach fünf Ta- als auch die lnschutzhaftnahme des vember, ereignete sich ein weiterer gen wurde er wieder entlassen." Zeugen R. am darauffolgenden Tag Vortail. Der Angeklagte H. hatte gese- den Tatbestand des Verbrechens ge- hen, daß der Jude Strauß in die Woh- 4.5.3. Die Reichspogromnacht in gen die Menschlichkeit (Art. ll, I c des nung des Zeugen R. gegangen war, Nievern am 12. November 1938 im Kontroll ratsgesetzes Nr. 1 0) erfüllen. den er um die Besorgung einer Zeitung Prozeß-Urteil und das Strafmaß Nach dem Kontrollratsgesetz ist der gepeten hatte. Hieruon macht er sofort ,,Einen Tag nach der Festnahme Be g riff d e r Täte rsch aft e rh e b I i ch e rwe i - den Angeklagten K., dem damaligen des R. (also am 12.1 1 .1938 - der Ver- tert und sind in der gleichen Weise wie Propagandaleiter, Mitteilung, der sich fasse) begab sich der Angeklagte P. die eigentlichen Täter auch diejenigen gemeinsam mit ihm zu R. begab. Als erneut zu dem Juden Strauß und for- schuldig, die als Gehilfen an der Aus- beide sich überzeugthatten, daß Strauß derte nochmals von ihm Geld, das er führung des Verbrechens teilgenom- tatsächlich anwesend war, forderte K. angeblich zur Bezahlung der durch die men oder es befohlen oder es begün- den R. auf, binnen 10 Minuten zum I n sch utzh aftn ah m e entstandenen Ko- stigt haben. Ferner genügt sogar schon Parteibüro zu kommen. sten brauche. Bei dieser Gelegenheit die bloßeZustimmung hierzu, die eben-

R., der zunächst nicht hingehen wollte, hat er mindestens 1 50 RM erhalten, die falls eine Verurteilung als Täter recht- begab sich auf Drängen seiner Ehefrau erteilweise für sich verwendete. Dieser fertigt.4 (4rt. ll,2). schließlich, wenn auch widerwillig, nach Vortail, sowohl die frühere Handlung, Die Aktion gegen die Juden Strauß und dort. Als ervor dem Büro des Ortsgrup- als er sich die 50 RM geben ließ, sind Mainzer hat sich im wesentlichen in der penleiter eintraf , fragte er in barschem Anlaß zu der gerichtlichen Bestrafung gleichen Art vollzogen, wie auch in Ton:,,Was wollen Sie mit mir? Meinen wegen Erpressung durch die Strafkam- anderen Orten an diesen Tagen ver- Sie vielleicht, ich hätte Angst vor lh- mer Wiesbaden am 4.4.39 mit einem fahren worden ist. Die an dem Unter- nen?" Jahr Gefängnis und zu einem Aus- nehmen Beteiligten sind unter Mißach- De r O rtsg ru ppe nl eite r, de r An geklagte schluß aus der NSPAD gewesen." tung des häuslichen Friedens in die P., wußte in diesem Augenblick noch Hier unterbreche ich erneut den Text Wohnungen der Juden eingedrungen, gar nicht, weshalb R. zur Ortsgruppe des Urteils mit dem Hinweis, daß vor- haben dort Unruhe gestiftet, sich au- bestellt worden war, und es kam zwi- stehender Prozeß in Wiesbaden ge- ßerdem durch Sachbeschädigung an schen beiden zu einer heftigen Ausein- gen den Ortsgruppenleitervon Nievern deren Eigentum vergangen und haben andersetzung. K. kam hinzu, klärieden P. zum Komplex der,,Reichspogrom- darüberhinaus den Juden, die diesem Ortsgruppenleiter über das Vorherge- nacht" unbedingt dazugehört. Sogar plötzlich über sie hereingebrochenen gangene auf und teilte gleichzertig R. das damalige Gericht von 1939 werle- Unheil tatenlos zusehen mußten, mit, er möge nach Hause gehen, das te die beiden Erpressungen des P. als schweres seelisches Leid zugefügt, um Weitere werde sich finden. so gravierend, daß dieser nicht nur ein ihnen den Aufenthalt in Deutschland Der Angeklagte P. begab sich darauf- Jahr Gefängnis erhielt, sondern dazu und ihrem angestammten Heimatorl hin zu dem Gendarmeriemeister H. und noch aus der NSDAP ausgeschlossen zu verleiden. Eine solche Verfolgung verlangte im Hinblick auf das Vorgefal- wurde. der Juden, die eine Folge der national- lene die lnschutzhaftnahme des R.. Da stellen sich mir folgende Fragen: sozialistischen Rassenlehre war, aber 22 SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz Heft Nr. 14 - 2197

ist unmenschlich und erfüllt den Tatbe- bis zu 6 Monaten allein oder in Verbin- Mit diesem Beitrag möge die erste stand eines Verbrechens gegen die dung mit einer Geldstrafe zu erwarten Seite der jüdischen Geschichte von Menschlichkeit, selbst dann, wenn es ist, bei der die Einheitsfreiheitsstrafe Nievern aufgeschlagen sein! Andere sich im Wesentlichen nur Ltm die Be- nicht mehr als 6 Monate beträgt."tat können die weiteren Blätter schreiben, schädigung von Sachen, nicht um die Das bedeutete, daß wirklich nur die denn es gibt noch viel lnteressantes Mißhandlung von Menschen handelt. gravierendsten Täter und Rädelsfüh- darüber zu erforschen und zu entdek- Dieser Sachverhalt wird auch nicht da- rer bestraft wurden und die allermei- ken. Manch wichtige Quellen haben durch in Frage gestellt, daß die Aus- sten Mittäterfrei ausgingen, zumal auch sich leider noch nicht geöffnet, z. B. das schreitungen in Nievern nicht das Aus- noch ihre politische lnternierungszeit Hausarchiv des Fürsten von der Leyen maß erreicht haben, wie es anderswo mitangerechnet wurde. Wenn wir dazu im Schloß Waal im Allgäu und das vielfach zu verzeichnen ist. Denn auch noch bedenken, daß sich die schlimm- Standesamt der Verbandsgemeinde das, was sich in Nievern abgespielt sten Untaten innerhalb der jüdischen Bad Ems. Womöglich kann man auch hat, ist schon schwerwiegend genug Häuser abspielten, für die es vor Ge- noch im Hessischen Hauptstaatsarchiv und fordert eine Sühne." richt keinerlei Zeugen gab - kein jüdi- in Wiesbaden in frühere Jahrhunderte - Hiermit beende ich die wörtliche sches Opfer konnte befragt werden vordringen. Wiedergabe des Urteiltextes. Das Ge- und die meisten Täter hielten dicht - Gedenken könnte die Gemeinde schehen vom 10. bis 12. November müssen wir uns ernsthaft fragen: Nievern ihrer jüdischen Bürger, indem 1938 in Nievern hat das Gericht aus- ,,Sind diese Gerichtsverhandlungen sie am Haus der damaligen Synagoge führlich dargestellt und juristisch be- nach dieser,,Bundesamnestie" über die oder in der Nähe eine Gedenktafel an- handelt. ,,Reichspogromnächte" nicht zu einer bringt, die auf die jüdische Gechichte Was die ,,Sühne" betrifft, wurden Farce geworden?" hinweist. die Hauptangeklagten P. und K. wegen ,,Sind die folgeschweren Untaten Man könnte auch eine neue Straße Verbrechens gegen die Menschlich- des 10.-12.1 1 .1938 in Nievern über- nach einem verdienstvollen jüdischen keit zu je 1 Jahr Gefängnis verufieilt. haupt in gerechter Weise gesühnt wor- Menschen Nieverns benennen. Allerdings wurde bei ihnen die ,,politi- den?" Sehr sinnvoll wäre es auch, Kontakt sche lnternierungshaft" angerechnet, zu Nachkommen der Nieverner Juden sodaß P. nur ein halbes Jahr Gefäng- 5. Nachgedanken und Schlußfolge- aufzunehmen. Eine Annonce in der nis erhiehlt und K. sogar nach dem rungen deutschsprachigen jüdischen Zeitung ProzeB frei ausgehen konnte. Der An- Mit dem Wegzug von Julius und ,,Aufbau" (Erscheinungsort New York) geklagte G.R., zu 7 Monaten Gefäng- Wilhelmine Mainzeram'1 . Oktober 1939 könnte erste Stafthilfe sein. nisverurteilt, wurde aus gleichem Grund nach FrankfurVMain endete die jahr- lm letzten erhaltenen jüdischen sofort entlassen. Die Angeklagten J.R. hundertlange Geschichte der jüdischen Dokument, dem Brief des Kantors von und B. wurden mangels hinreichenden Kultusgemeinde Nievern. Die letzten Nievern, schrieb Rudolf Strauß am Tatverdachts f reigesprochen. Das Ver- beiden Familien, welche die Reichspo- 30.4.1940 an das ,,geehrte Frl. Rü- fahren gegen die die Angeklagen V. gromnacht noch hatten erleiden müs- benach und Nichte Katerina": und J. wurden auf Grund des § 3 Abs. sen, hatten keine Lebenschance und ,,... Was gibt es sonst Neues, ist der 1 des Bundesgesetzes über die Ge- keine Zukunft mehr in ihrem Heimatort Krieg bis jetzt in Nievern gut vorüber währung von Straffreiheit eingestellt, gesehen. gegangen, gab es Verwundete oder, das Verfahren gegen die Angklagten Die nur 12jährige Zeit des angeb- was wir nicht hoffen wollen, vielleicht H. und B. unter Freisprechung im übri- lich,,Tausendjährigen Reiches" hatte auch Gefallene? Denn von der Heimat gen ebenfalls. sie durch deutsche Menschen vertrei- wird mir nichts geschrieben ..." ben oder ermorden lassen. Dabei wa- 4.5.4. Heutige Gedanken zum Pro- ren gerade die letzten beiden jüdischen zeß-Urteilvom 15. Juni 1950 Familien Mainzer und Strauß beson- Anmerkungen: Wir müssen uns heute fragen, ob ders beliebt gewesen, was sogar das 1)Wolff-Arno Kropat. dieses Urteil vom 15. Juni 1950 dem Prozeßurteil vom 15. Juni 1950 belegt. 2) H e ss i sch es H au ptstaatsa rch iv W ies- Ausmaß der Verbrechen vom 10.- Nievern hat durch die Vertreibung baden. 12.1 1 .1938 wirklich gerecht geworden und Ermordung seiner jüdischen Ein- s)HHSLA. ist. Beide gequälten jüdischen Famili- wohner einen großen menschlichen 4) Paul Ansberg: Die Jüdischen Ge- en verließen als letzte im darauffolgen- und zugleich kulturellen Verlust erlit- meinden in Hessen, Seite 146. den Jahr ihren Heimatort Nievern, wo- ten, der wohl nie mehr wieder gutzu- 5) HHSIA. mit dieser Ort sich als,,judenrein" mel- machen ist. 6) HHSIA. den konnte. Was uns nach alter (ursprünglich 7) HHSTA 416 / 42. Wir müssen uns ernsthaft fragen, jüdischer) Tradition bleibt, ist die Erin- 8) HHSTA 416 /462. ob die ,,Bundesamnestie", das ange- nerung an diese rechtschaffenden und 9) HHSTA 211/11485. wendete,,Gesetz über die Gewährung frommen Menschen und das Wissen 10) HHSTA 211/11458. von Straffreiheit vom 31 . Dezember um ihr tragisches Schicksal. 11) HHSTA 416 / 22. 1949", nicht viel zu früh erlassen wur- Diese deutsche Geschichte hal uns 12) HHSTA 416/42. de. die moralische Verpflichtung überge- 1s) HHSTA 416/101. Obiger § 3 Absatz 1 lautet: ben, ihr Andenken lebendig zu halten. 14) HHSTA 416/101. ,,Verfahren, die bei einem Gericht Sie haben uns ihre Toten au{ dem 15) Schott Gebetbuch 1913. g g ode r e i n e m Staatsanwalt an h än i si n d jüdischen Friedhof in Fachbach hinter- 1 6) Bundesgesetzblattvom 31. 1 2. 1 949 oder künftig anhängigwerden, sind dort lassen: Dort ruhen die ältesten Ein- - Seite 37. einzustellen, wenn eine Freiheitsstrafe wohner von Nievern. 17) Plakat im Bundesarchiv Koblenz.