© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Band 83

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Winfried Becker

Frederic von Rosenberg (1874–1937)

Diplomat vom späten Kaiserreich bis zum Dritten Reich, Außenminister der Weimarer Republik

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Die Schriftenreihe wird herausgegeben vom Sekretär der Historischen Kommission: Helmut Neuhaus

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ISBN 978-3-525-36076-7 ISBN 978-3-647-36076-8 (E-Book)

Umschlagabbildung: Frederic von Rosenberg nach der Ernennung zum Botschafter in Ankara (Oktober 1933). BArch, Bild 102–15112.

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Inhalt

Vorwort ...... 7

I. Karriere im Kaiserreich ...... 9 Das Elternhaus. Entscheidung für die diplomatische Laufbahn ...... 9 Im Weltkrieg: Südosteuropa. Die Verfolgung der Armenier ...... 20 Die Mitarbeit an den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk und Bukarest ...... 26

II. Verfassungswandel, Kriegsschulddiskussion und Neuanfang im diplomatischen Dienst ...... 41 Umbruch und Demissionsabsicht ...... 41 Der »Schwadronsgaul« bleibt im Geschirr ...... 53 Österreichs schwerer Neubeginn. Enttäuschte Anschluss-Erwartungen ...... 61 Rosenbergs Haltung zum Anschluss ...... 68 Kontakte und Konzeptionen des Gesandten in Wien ...... 78 »Das Idyll, das mir in Kopenhagen beschieden war« ...... 87

III. Rosenberg und Cuno ringen um eine internationale Lösung des Reparationsproblems ...... 95 Die ungelöste Reparationsfrage und eine schwierige Kabinettsbildung ...... 95 Erste außenpolitische Initiativen und Ruhrbesetzung ...... 109 Passiver Widerstand und ein Marathon diskreter Vorverhandlungen 128 Mai-August 1923 – Primat der Außenpolitik ...... 146 Der Rücktritt der Regierung begräbt den ersten Erfolg ...... 159 Der Problemhorizont der Reparationspolitik ...... 166

IV. Dienst am Staat über die Zäsur von 1933 hinweg: Diplomat in Stockholm und Ankara ...... 181 Schwedens innere und äußere Lage 1917–1933 ...... 181 »Der bayerische Wald grüßt die schwedischen Schären« ...... 187

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Völkerbunds- und Wirtschaftsfragen ...... 193 Die schwedische Presse über die Entwicklung in Deutschland 1930–1933 ...... 200 Das Ende einer Laufbahn: der ehemalige Orientreferent im Staate Atatürks ...... 209

Resümee ...... 221

Erinnerungen des Botschafters Frederic von Rosenberg † 30. VII. 1937 . . 237 Stammbäume ...... 310

Abkürzungen ...... 313

Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 317 Archivalische Quellen ...... 317 Gedruckte Quellen, Literatur, Nachschlagewerke ...... 321

Register ...... 341

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Vorwort

Memoiren und Biographien deutscher Diplomaten, die von der Zeit des Kai- serreichs über die Weimarer Republik bis in die Anfänge der nationalsozialis- tischen Diktatur reichen, sind nicht eben zahlreich im Druck erschienen.1 Eine kurze Autobiographie Frederic Hans von Rosenbergs (1874–1937) hat sich bei den Nachkommen der Pächter seines vormaligen Familienbesitzes, des Holz- hamer Hofs in Fürstenzell bei Passau in Niederbayern, im Nachlass Rosenbergs (Privatbesitz, ) sowie im Bundesarchiv Berlin erhalten. Rosenbergs Witwe hatte sie einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zugesandt; dieses fertigte eine Kopie davon an und sandte ihr die Urschrift am 25. Februar 1942 zur Wahrung ihrer Urheberrechte »in An- betracht des wertvollen Inhalts« zurück. Die Fotokopie eines Reinkonzepts liegt im Bundesarchiv Berlin. Ursprünglich existierten fünf Originale, je eines für die Kinder Rosenbergs, und mehrere Kopien. Die Authentizität des Lebensberichts steht fest. Der aus Berlin gebürtige Karrierediplomat des Kaiserreichs hatte den Holzhamer Hof als Heimstätte für seine große Familie während der Inflati- onszeit erworben. Dort schrieb oder diktierte er von 1935 bis 1937 seine »Erin- nerungen«, die für seine Kinder und Nachkommen gedacht waren. Obwohl er seinen Lebensrückblick kurz und eher unpolitisch hielt, wird aus der flüssig ge- schriebenen, unprätentiösen, zuweilen heiteren Schilderung deutlich, dass sein Lebensweg ihn in Entscheidungssituationen der allgemeinen Geschichte gestellt hatte. Als Leiter des Orientreferats des Auswärtigen Amts wurde er Mitarbei- ter der Staatssekretäre Gottlieb von Jagow, und Richard von Kühlmann. Er verhandelte im Krieg die Verträge mit Bulgarien (1915), Ru- mänien und Russland (1918). Als Reichsminister des Auswärtigen im Kabinett Cuno (1922–1923) lenkte er die außerordentlich schwierigen Fühlungnahmen mit den alliierten Mächten vor und während der Ruhrbesetzung. Nach seiner Ministerzeit kehrte er in den diplomatischen Dienst zurück, war von Januar 1920 bis Januar 1922 Gesandter in Österreich, vom 1. Februar bis 22. November 1922 in Dänemark, von Juni 1924 bis Oktober 1933 Gesandter in Schweden und von Dezember 1933 bis Juni 1935 Botschafter in der Türkei. Nach Wilhelm Dilthey und Georg Misch ist die moderne Autobiographie Zeugnis der sich ihrer selbst bewusst werdenden Individualität, dient darum mehr der Selbstmitteilung als der objektiven und speziellen Berichterstattung über einzelne oder allgemeine historische Vorgänge. Diese sind in jedem Diplo- matenleben Legion und waren folglich auch in der persönlich gehaltenen, kur- zen Autobiographie Rosenbergs (75 bzw. 93 S.) nicht annähernd darstellbar. Die

1 Vgl. allerdings die Bibliographie bei Krethlow-Benziger, S. 485–506.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 8 Vorwort

Auswahl der mitgeteilten Erlebnisse entsprang subjektiver Empfindung und Be- wertung. Um wieviel differenzierter die Abläufe waren, zeigt ein vergleichender Blick auf den in Privatbesitz befindlichen umfangreichen Nachlass Rosenbergs und vor allem auf die Dienstkorrespondenz des Gesandten und Ministers. Nach Rücksprache mit dem Legationsrat Dr. Ludwig Biewer vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes und dem Bonner Historiker Klaus Hildebrand wurde der Plan gefasst, Rosenbergs Ego-Dokument zu ergänzen und mittels einer Edi- tion der dienstlichen Akten in einen umfassenden und objektiven Rahmen zu stellen. Es ergab sich eine große Fülle dienstlicher Akten politischen Inhalts. Der Bearbeiter edierte darum eine Auswahl aus der dienstlichen Korrespon- denz separat in der Reihe Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhun- derts (Bd. 66): Frederic von Rosenberg. Korrespondenzen und Akten des deut- schen Diplomaten und Außenministers 1913–1937. Hier werden in einem eigenen Band Rosenbergs Autobiographie und eine Biographie über den Diplomaten vorgelegt, die anhand der Literatur allge- meine Entwicklungen, z. B. die Vorverhandlungen über die 1924 gefundene Reparationsregelung, einbezieht. So mag aus drei Perspektiven ein Zugang zu den bewegten Perioden der internationalen Beziehungen, an denen Rosenberg teilhatte, gebahnt sein: Die »Erinnerungen« spiegeln als Zeugnis der Menta- litätsgeschichte die zeitgebundenen Auffassungen ihres Autors, geben aber doch auch Informationen aus erster Hand. Die Biographie zielt auf die Einordnung des Einzelhandelns in die historischen Zusammenhänge. Die in dem genannten Quellenband gesondert vorgelegten Dokumente – Briefe, Berichte, Telegramme und Aufzeichnungen – beleuchten die ereignisgeschichtlichen Abläufe aus der Nahperspektive der Aktenlage. Der Passauer Student der Kulturwirtschaft Gernot Glogger, der Urenkel von Rosenbergs Pächter auf dem Holzhamer Hof in Fürstenzell, Alfons Fischer, überbrachte mir durch Vermittlung von Frau Prof. Dr. Ingrid von Rosenberg ein im Besitz der Pächterfamilie befindliches Exemplar von Rosenbergs »Erin- nerungen«; er bekräftigte in einer Seminarbeit deren Echtheit. Herr Joachim von Rosenberg machte mir auf Anfrage sofort den umfangreichen Nachlass sei- nes Großvaters zugänglich. Ihnen gilt mein besonderer Dank, Joachim von Ro- senberg auch für die gewährte Gastfreundschaft, für viele wertvolle Informa- tionen und nachdenkliche Gespräche über die Zeitgeschichte. Frau Dorothea Hauser (Berlin) besorgte mir aus dem Stiftung Warburg Archiv () Briefe und Protokolle von Carl Melchior. Herr Manuel Limbach M. A. (Bonn) überließ mir Dokumente aus dem Nachlass von Eduard Hamm (BayHStA), Dr. Andreas Burtscheidt (Bonn) Zeitungsartikel aus der »Germania«. Für wei- tere Danksagungen sei auf den Quellenband verwiesen.

Winfried Becker

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 I. Karriere im Kaiserreich

Das Elternhaus. Entscheidung für die diplomatische Laufbahn

Frederic Hans von Rosenberg wurde am 26. Dezember 1874 in Berlin geboren. Väterlicherseits entstammte er einem freiherrlichen Geschlecht »unbekann- ter Herkunft.«1 Sein urkundlich nicht erwähnter Urgroßvater Ludwig Fried- rich Carl (1761–1843) war Oberst in österreichischen Diensten, sein Großvater Ernst Philipp Ludwig (1799–1864) und sein Vater Johann (1844–1913) brachten es zum preußischen Generalmajor. Der an Dichtung und Philosophie interes- sierte Großvater war zuletzt Kommandeur des Kadettenhauses in Berlin. Der Vater quittierte den Dienst allerdings schon früh mit 52 Jahren: Für den Regi- mentskommandeur war es Ehrenpflicht, die Verantwortung für ein verbotenes Glücksspiel seiner untergebenen Offiziere, eine geringe Verfehlung, zu über- nehmen; das Wohlwollen Kaiser Wilhelms II. blieb ihm danach erhalten. Moch- ten ältere und herkunftsstolzere Geschlechter ein autogenes Selbstbewusstsein entwickeln, die »Soldatenfamilie« Rosenberg stand unverbrüchlich loyal zum preußischen König- und deutschen Kaisertum. Doch statt sich in einem abgeschotteten Milieu zu bewegen, erweiterte sie sich durch die beiden Heiraten Johann von Rosenbergs 1866 und 1874 zu einer bina- tionalen Familie. Johann ehelichte zunächst Helen Sophie Brook (1846–1872), die Tochter des Vertreters der englischen Garnspinnerei Brook in Deutsch- land, des Bankiers Richard Brook, und der Sophie Wagener, Tochter des Ban- kiers und Kunstmäzens Joachim Heinrich Wagener, darauf am 21. März 1874 Helens Kusine Amy Emmeline Brook (1849–1904), eine bürgerliche Englände- rin, geboren in Hudders field als Tochter des Kaufmanns und neuseeländischen Farmers Frederic Smith Brook (1822–1858) und seiner Ehefrau Mary Brook geb. Genn (1826–1885) aus Buttsgrove (Grafschaft York).2 Frederic, nach seinem englischen Großvater benannt, ging als erstes Kind aus dieser zweiten Ehe Jo- hann von Rosenbergs mit Amy Brook hervor. Im Schicksal seiner mütterlichen Vorfahren spiegelte sich das Auf und Ab der ehemals reichen und angesehenen Woll- und Garnfirma Brook, deren Leiter geschäftstüchtig den Wollhandel be- trieben und Wohltätigkeit für ihr Gemeinwesen übten. Frederics Urgroßvater Joseph Brook (1787–1858) aus Meltham war als Wollhändler wohlhabend, in- vestierte dann aber unglücklich in den Eisenbahnbau und hatte Verluste, sodass

1 Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser, B 30, S. 451 f. 2 Genealogisches Handbuch. Adelige Häuser B 18, S. 352–355; vgl. Rosenbergs Lebenserinne- rungen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 10 Karriere im Kaiserreich seine Söhne Frederic Smith und Charles William nach den schweren Einbußen der väterlichen Firma ihr Glück als Farmer in der neu erworbenen Kolonie Neu- seeland versuchen mussten. Der andere Sohn Richard machte mit Sophie Wage- ner aus dem 1775 gegründeten Berliner Bankhaus Anhalt & Wagener eine gute Partie. Die Brooks fanden damit Aufnahme in das während der frühen Indus- trialisierung aufstrebende Berliner Bürgertum. Dessen gut gestellte Vertreter demonstrierten ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg durch ihr Mäzenatentum und erhoben so auch einen »kulturellen Geltungsanspruch.«3 Der 1782 in Berlin geborene Kaufmann, Bankier und schwedische Konsul Jo- achim Heinrich Wilhelm Wagener legte eine bedeutende private Gemälde- sammlung von Werken deutscher, französischer und niederländischer Meister an. Er vermachte die 1859 auf 260 Gemälde im Wert von 100 000 Talern ge- wachsene Sammlung dem preußischen Prinzregenten. Dieser nahm kurz nach seinem Regierungsantritt im Januar 1861, nunmehr als König Wilhelm I., die Stiftung an und legte mit ihr den Grundstock für die Nationalgalerie auf der Museumsinsel. Die elterlichen Erzählungen erweckten erste Ahnungen von fernen Ländern, vom Handelsleben und von den Mächten der Kunst. Sonst war die Erziehung patriarchalisch und streng, »robust« und spartanisch, aber von der Liebe und Güte starker Eltern getragen. Wie in konservativ-preußischen Kreisen nicht un- gewöhnlich, bekannte sich das Elternhaus zu einer offen bekundeten protes- tantischen Gläubigkeit. Der sonntägliche Kirchgang und die das ganze Haus- wesen einbeziehende Morgenandacht waren ebenso selbstverständlich wie die Übung von Pflichttreue, Sparsamkeit, Ehrlichkeit und Einfachheit. Die im All- tag praktizierte gemeinsame Lebensführung ließ offenbar von den Spannun- gen zwischen dem englischen und dem deutschen »Zivilisationssystem«4 we- nig spüren. Der Vater hat auf einen antiautoritären Lernstreik seines Sohnes mit Nachsicht und Einfühlungsvermögen reagiert. Frederic überwand rasch das pubertäre Aufbegehren, stieg zum Klassenprimus auf und blieb es in den letz- ten drei Klassen des Königsberger Wilhelmsgymnasiums. Den frühen Tod sei- ner Mutter hat er wohl zum Anlass genommen, über die ihr gemäß den unhin- terfragten Anschauungen der Zeit wie selbstverständlich aufgebürdeten vielen gesellschaftlichen und häuslichen Pflichten einer kinderreichen Familie nach- zudenken. Vielleicht war vor diesem Hintergrund seine Vaterfreude über das abgeschlossene Jurastudium seiner jüngsten Tochter Emanuele besonders ver- ständlich. Er gönnte seiner Frau, die ihn mehr als zwanzig Jahre überlebte, Kuren in Marienbad und Glotterbad und entlastete sie durch Hausangestellte. Nach dem Abitur mit dem Gesamtprädikat »sehr gut« (Reifezeugnis vom 10. März 1894) studierte Rosenberg Rechtswissenschaft in Bonn, Genf und

3 Knopp, S. 134, 138–141; Gebhardt, S. 47 f.; Glatzer, S. 188; Biggeleben, S. 215. Der »Stamm- sitz« des Bankhauses Wagener befand sich (1860/70) in der Brüderstr. 5 (Berlin-Mitte). Stulz- Herrnstadt, S. 134, 186 f. 4 Vgl. Brechtken, S. 371–373.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Das Elternhaus 11

Berlin. An der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurde er erster Char- gierter beim Corps Borussia, in dem sich der hohe Adel ein Stelldichein gab und dem auch seine späteren Amtskollegen Wilhelm Cuno und Ago von Malt- zan angehörten. In Bonn hat auch sein Sohn Hans Karl studiert, als Außenmi- nister hat Rosenberg der Bonner Universität in der Inflationszeit eine Zuwen- dung gewährt. Am 31. Mai 1897 legte er die Erste juristische Staatsprüfung am Kammergericht in Berlin mit der Note »ausreichend« ab. Am 2. August 1897 wurde er an der Universität Jena mit der handgeschriebenen Dissertation »Die Haftung für Reallasten Rückstände« (136 S.) im Fach Öffentliches Recht pro- moviert.5 Von Oktober 1897 bis Ende September 1898 diente er als Einjährig Freiwilliger. Nach einer Sommerübung bei seinem Dragonerregiment Nr. 5 in Hofgeismar wurde er am 18. Oktober 1900 zum Leutnant d. R. (später noch zum Oberleutnant d. R.) befördert. Kurz darauf, am 5. November 1900, heiratete er in Kassel die sechs Jahre jüngere Marie Luise Henriette Theremin,6 die Toch- ter des preußischen Generalleutnants Charles Theremin, der 1837 in Vandœu- vres als Sohn des Genfer Pastors Pierre François Theremin (1803–1883) gebo- ren war. Auch Luises Mutter Adèle Binet (1845–1884) entstammte dem Genfer höheren Bürgertum. Ihr Vater war der Notar Jean Louis Binet (1810–1897), ihre Mutter, Ernestine Louise Henriette Binet (1815–1872), kam aus der Familie der Ban kiers Hentsch, einer Gründerfamilie der nach der Französischen Revolution aufsteigenden bedeutenden Genfer Finanzbranche.7 Von 1901 bis 1911 entspros- sen der Ehe ein Sohn und vier Töchter.8 Ihnen hat auch der Vater seine ganze Fürsorge und Liebe zugewandt, sich von der Kleidung bis zur Ausbildung inten- siv um sie gekümmert. Das Verhältnis der Ehegatten blieb über 37 gemeinsame Jahre ungetrübt und tief vertrauensvoll. Obwohl Luise Rosenberg ihrem Na- turell nach zurückhaltend war, pflegte die Familie gemäß den Anforderungen des Diplomatenlebens einen jederzeit geselligen und weltoffenen Umgang. Zu Hause wurde neben Deutsch Englisch und Französisch gesprochen. Die Con- nubien zwischen englischem und (über seine Frau) Schweizer Wirtschaftsbür- gertum und preußischen Militär- und Handelskreisen bildeten sicherlich för- dersame Voraussetzungen für eine diplomatische Laufbahn, begründeten aber auch ein Interesse Frederics am Bank- und Handelswesen. Nach seinem Eintritt in den preußischen Justizdienst 1897 wurde der Re- ferendar vom Oberlandesgericht Kassel zunächst an die Amtsgerichte Nie- deraula (1897/98), Hofgeismar und Grebenstein überwiesen. Der Vorberei- tungsdienst führte ihn 1899–1900 an das Landgericht Kassel, 1901 an das Amtsgericht und 1901/1902 an das Kammergericht in Berlin. Kurz vor

5 Bei Prof. Eduard Rosenthal (1853–1926). Universitäts-Archiv Jena, Bestand K, Nr. 236. Nach Auskunft von Frau Margit Hartleb (16. Februar 2009): »cum laude«; PAAA, Personalia Nr. 205, Bd. 1: »magna cum laude.« 6 Geb. am 26. November 1880 in Hannover, gest. 1958 in Fürstenzell (Niederbayern). 7 Sippenblatt für Frederic Hans von Rosenberg v. 5. Dezember 1935. NlR. 8 Hans Karl (1901–1983), Adele (1904–1982), Mary (1905–1983), Armgard (1906–1980), Ema- nuele (1911–1996).

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 12 Karriere im Kaiserreich dem am 25. März 1903 mit der Note »gut« abgelegten Assessorexamen emp- fahl Theremin seinen Schwiegersohn zur Aufnahme in die »Consular Car- riere« – die zweite der höheren Laufbahnen des Auswärtigen Amts. Er hob die militärischen Berufe der Familie, die Zugehörigkeit zum Corps Borussia und den Status als Reserveoffizier hervor, ebenso die Herkunft der Mutter aus Eng- land, die französischen und englischen Sprachkenntnisse des Kandidaten und seiner Ehefrau, die Leistungen in Schule und Studium, die Ausbildung im Jus- tizdienst sowie innere und äußere Charaktereigenschaften. »Von ernster Le- bensauffassung, außerordentlich fleißig und strebsam verspricht er eine tüch- tige Arbeitsbiene abzugeben. Von Statur ist er nicht sehr groß, hat aber ein sehr angenehmes Gesicht mit schönen Augen.«9 Der kleine und schmächtige Ju- rist aus staats- und monarchietreuer Familie wurde nach einer persönlichen Vorstellung, bei der »einen guten Eindruck« machte, »zur versuchsweisen Be- schäftigung« in den Konsulatsdienst aufgenommen und deshalb wie üblich sechs Monate vom Justizdienst beurlaubt. Der zuständige Referent Rienaecker begründete seine Genehmigung des Gesuchs mit den »durchweg sehr güns- tig« lautenden, »weitaus das Durchschnittsmaß« übersteigenden Zeugnissen »des Preuß. Gerichtsassessors.«10 Französisch- und Englischkenntnisse wa- ren durch das Einreichen von in diesen Sprachen geschriebenen Lebensläu- fen nachzuweisen; weitere Prüfungen über Sprachkenntnisse folgten im Amt (1904/1905). Außer den gesellschaftlichen Prädestinationsfaktoren zählten für die Aufnahme das Studium, die erste Berufserfahrung als Jurist und die eine ge- wisse Weltläufigkeit bezeugenden persönlichen Verhältnisse. Rosenberg gab die von seinem Schwiegervater ebenfalls unterstützte Absicht, möglichst im Direk- tionsbereich des großen staatsnahen Industrieunternehmens Krupp11 eine An- stellung zu finden, vorerst nicht auf. Rosenberg hatte sich für je ein halbes Jahr in der Handels-, in der Perso- nal- und der Rechtsabteilung des Amts zu bewähren. Den ersten dienstlichen Auslandsaufenthalt verbrachte er als Vizekonsul an dem wichtigen General- konsulat in Antwerpen (Ende März bis Anfang August 1905 und November 1905 bis Anfang Juni 1906). Die Hafenstadt war ein bedeutender Umschlag- platz für den Südamerikahandel, eine der Quellen, aus denen der wirtschaft- liche Aufschwung des jungen Kaiserreichs gespeist wurde. Der Kaufmann Ju- lius Rautenstrauch betrieb einen profitablen Häute- und Lederhandel nach Trier und Köln. Die Firma Rieth transportierte mit ihren Tankschiffen den vielfach verwendbaren Rohstoff Petroleum rheinaufwärts, verkaufte das Öl im Auftrag

9 Charles Theremin an [Schwartzkoppen], Kassel 16. März 1903 (Or., eigenh.). PAAA, Perso- nalia Nr. 205, Bd. 1. Schwartzkoppen war 1897–1903 Ref. für die Konsulats-Personalien in der Abt. II (Handelspolitik), 1903 Dirigent. Bei Cecil, S. 104–146, wird die Bedeutung der Militärkarriere für die Diplomaten-Laufbahn überbetont; vgl. Hampe, S. 59 f. 10 Aufzeichnung des Geh. Legationsrats Rienaecker, Berlin 8. April 1903; Der Justizminister, i. A. Vietsch, an den Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Berlin 21. April 1903 (Or.). PAAA, Personalia Nr. 205, Bd. 1. 11 Vgl. Jaeger, S. 163, 175 f.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Das Elternhaus 13 der schwedischen Firma Nobel12 in Belgien, in den Niederlanden und Deutsch- land. Sie geriet aber gegenüber der Europa erfassenden Handelsexpansion der US-amerikanischen Standard Oil Company bald ins Hintertreffen.13 Rosenberg zog sich im schwülen Klima Antwerpens eine Malaria-Erkrankung zu, die ihn noch am Ende seiner Dienstzeit mit wiederkehrenden Anfällen quälen sollte – nach heutigen Maßstäben wäre damit seine Beamtenlaufbahn beendet gewesen. Er war nun entschlossen, seine Stellung im Amt zu behalten, verzichtete darum darauf, Urlaub für eine längere Kur zu erbitten. Über seine Arbeit in Antwerpen urteilte sein Vorgesetzter, Generalkonsul Pritsch, äußerst günstig: »Herr von Rosenberg ist ein außergewöhnlich tüchtiger und zuverlässiger Beamter. Mit ausgezeichneten Fähigkeiten und Kenntnissen, großer Arbeitskraft, Pflicht- treue und Besonnenheit verbindet er ein ebenso taktvolles und einnehmendes wie sicheres Auftreten.« Er sei auch »für schwierige Stellungen geeignet.«14 Ab Oktober 1907 hatte Rosenberg die feste Stelle eines Ständigen Hilfs- arbeiters in der Rechtsabteilung und leitete praktisch, ohne direkten Vorgesetz- ten, das Referat für Rechtshilfe im Ausland. Kurz vor Weihnachten 1907 erhielt er den Charakter als Legationsrat, dh. den an die Person gebundenen Rang, der noch nicht die Übernahme einer entsprechenden Dienststellung bedeutete und deshalb keine besoldungsrechtlichen Folgen hatte. Der Geheime Legationsrat Johannes Kriege, der die Zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 und die Londoner Seerechtskonferenz von 1908/09 äußerst penibel durch »umfangrei- che Denkschriften« vorbereitete, verlangte pausenlos exakte Zuarbeit. Die karg besetzte Abteilung hatte einen großen Arbeitsanfall zu bewältigen. Der junge Hilfsarbeiter begehrte schon einmal gegen die »hämorrhoidären Insassen« und »verstaubten Amtsgewaltigen« der Wilhelmstraße auf,15 dagegen gefiel ihm die »frische, franke Art« der aus dem Ausland zurückkehrenden Konsularbeam- ten. Von ihnen hörte er aber auch, dass viele junge Landsleute im fernen China ein früher Tod ereilte. Er hatte Freude am Umgang mit Menschen, arbeitete sich aber auch leistungsfreudig in die Probleme des Haager Zivilprozessabkom- mens und des internationalen Rechtsverkehrs ein. Er hatte Anteil an dem von Kriege und Legationsrat Otto Göppert erreichten Erfolg auf der Seerechtskon- ferenz von 1908/09, für den der Kaiser und der Reichskanzler Bernhard von Bü- low Kriege persönlich belobigten.16 Gern packte er auch theoretische Aufgaben

12 Firmengründer war Alfred Nobel (1833–1896). 13 Vgl. Munro, S. 315 ff.; Brack, S. 60–77; Brackel/Leis, S. XIV. 14 Ksl. Deutsches General-Konsulat, Pritsch, an Reichskanzler von Bülow, Antwerpen 14. Juli 1906 (Or.). PAAA, Personalia Nr. 205, Bd. 1. 15 Rosenberg an Köpke, Berlin 26. März 1909 (Or., eigenh.). PAAA, Nl Köpke, Bd. 3; ähnliche Äußerungen bei Nadolny, S. 52, und Edmund Schüler, Erinnerungen (ungedruckt). PAAA, Nl Schüler. 16 Rosenberg an Köpke, Berlin 11. März 1909 (Or., eigenh.). PAAA, Nl Köpke, Bd. 3. Die See- kriegskonferenz in London (4. Dezember 1908 bis 26. Februar 1909) erreichte »eine nahezu vollständige Kodifikation der Regeln über die Rechte und Pflichten der Kriegführenden in Ansehung des neutralen Seehandels und der neutralen Schiffahrt« und »dadurch eine

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 14 Karriere im Kaiserreich an, etwa eine Neufassung der Verfügung über Rechtshilfeersuchen zu entwer- fen. Dass er Karriere machen könne, begann sich abzuzeichnen, als sein bishe- riger Vorgesetzter Kriege und der neue Staatssekretär Kiderlen-Waechter ihn in ihrer Abteilung haben wollten und um ihn konkurrierten. Der Württemberger Kiderlen, dessen Streben nach einer aktiven Außenpolitik17 Rosenbergs Lebens- erinnerungen bestätigen, hielt offenbar nach besonders befähigten Mitarbeitern Ausschau.18 Er setzte sich durch. So wechselte Rosenberg im Januar 1911 auf eine frei gewordene Hilfsarbeiterstelle der Politischen Abteilung I A. Er erhielt und verwaltete bis 1918 »ein kleines politisches Referat« für die Türkei, Bulga- rien und Griechenland. Es wurde von dem sehr ausgedehnten Referat ferner und naher Orient des damaligen Wirklichen Geheimen Legationsrats und spä- teren Staatssekretärs Arthur Zimmermann abgezweigt. Hier kam er erstmals an die »großen politischen Probleme« heran. Der Balkankenner Kiderlen erteilte ihm unter anderm den Auftrag, buchstäblich über Nacht ein ausführ liches Gut- achten über die Dardanellenfrage auszuarbeiten. Am 7. Dezember 1912 rückte der Referent auf die frei gewordene Stelle des Wirklichen Legationsrats und Vor- tragenden Rats Gisbert von Romberg nach, als dieser zum Gesandten in Bern ernannt wurde. Reichskanzler Bethmann Hollweg hob in seiner Beurteilung ne- ben den früher schon genannten Qualifikationen »Takt und Geschick« des zur Beförderung Vorgeschlagenen hervor.19 Rosenberg hatte beides ein paar Mo- nate vorher in eigener Sache bewiesen, als seine vorzeitige Beförderung zum Legationsrat anstand, er diese aber ausgeschlagen hatte, um dem dienstälteren Edmund Schüler den Vortritt zu lassen. So wurde zwar in der Festsetzung sei- nes Besoldungsdienstalters bemerkt: »rangiert hinter W. L. R. Schüler«,20 doch er hatte sich, was wertvoller war, das kollegiale Wohlwollen des späteren Re- formers des Auswärtigen Amts bewahrt. Ab 1. Oktober 1912 erhielt Rosenberg 8 000 Mark Jahresgehalt mit einem Wohngeldzuschuss von 1680 Mark. Der Bekanntenkreis der jungen Familie, zunächst mehr den Beziehungen des Vaters und der nächsten Verwandten folgend, veränderte und erweiterte sich nach der Festanstellung 1907. Die gleichaltrigen Berufskollegen traten verstärkt ins Blickfeld, wurden, zumal wenn sie Familie hatten, in die Freizeitvergnügen

wichtige Bürgschaft für die Rechtssicherheit auf dem Meere in Zeiten des Seekrieges.« Denkschrift für den Reichstag, 20. März 1909. Druck: Das Staatsarchiv, Nr. 14024, S. 90–92; Konferenzprogramm, Schlussprotokoll und Erklärung vom 26. Februar 1909 (71 Artikel), ebd., S. 92–111. Vgl. Kriege, S. 167. 17 Forsbach, Bd. 2, S. 775. 18 Die Adelskarrieren zu sehr betont bei Cecil; anders Sasse, Botschaft in London, S. 31–46 (zu Lichnowsky); Hampe, S. 40–42. 19 Bethmann Hollweg an Wilhelm II., Berlin 5. Dezember 1912 (Abschr.). PAAA, Personalia Nr. 205, Bd. 2. 20 Bethmann Hollweg, i. A. Matthieu, an Rosenberg, Berlin 28. Dezember 1912 (Or.). PAAA, Personalia Nr. 205, Bd. 2. – Theodor Matthieu (1861–1918), 1882 Dr. jur., 1893 Dienstan- tritt, 1903 in der Abt. I B (Personal), 1912 deren Dir., 1906 Geh. Legationsrat. Biographisches Handbuch, Bd. 3, S. 200 f.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Das Elternhaus 15 einbezogen, etwa die Gartenarbeit in frischer Luft und freier Natur während der Frühlings- und Sommerzeit inmitten der weit ausgedehnten Kleingarten- stadt Berlin. Es ergab sich ein ungezwungener, dem Austausch von Informati- onen und privaten Mitteilungen dienender freundschaftlicher Briefverkehr. Er spiegelte das Erwachen von Korpsgeist und Solidarität unter den jungen Diplo- maten, die einen Generationsunterschied zu den älteren spürten. Diese Form der kulturellen Kommunikation eröffnete dem Berufsanfänger den Zugang zu einer ›peer group‹, die kollegialen Zusammenhalt und soziale Kohäsion ver- sprach. Die Briefe waren meist auf einen kameradschaftlich-kollegialen, per- sönlichen, manchmal burschikosen Ton gestimmt, sprachen dienstliche, private oder gesundheitliche Probleme der nächsten Berufskollegen, auch Aversionen und Animositäten an. Die Sachlichkeit, sonst die große Richtlinie beruflicher Tugend, brauchte hier nicht so streng eingehalten zu werden. Rosenberg führte diese privatdienstliche Korrespondenz noch nach seiner Pensionierung fort. Er äußerte sich frisch, unbefangen, offenherzig, direkt, doch nicht indiskret, in po- liticis insgesamt eher vorsichtig. Ausgleich für die Arbeit bot die Freude an ge- selliger Erholung im Familien- und Freundeskreis. Das Netzwerk seiner Kon- takte konnte er über Jahrzehnte erhalten und ausbauen; es war seinem Aufstieg gewiss förderlich. Zu den guten Bekannten der frühen Jahre, die einmal füh- rende Stellungen bekleiden sollten, zählten die späteren Außenminister Kons- tantin von Neurath und , der langjährige Leiter (1923–1935) der Abteilung II (West- und Südosteuropa) Gerhard Köpke (Ständiger Hilfsarbei- ter seit 1908), der Reformer Edmund Schüler, der spätere Völkerbundsexperte Otto Göppert (Ständiger Hilfsarbeiter seit 1905) und der Ministerialdirektor in der Reichskanzlei (1920–1921), dann Leiter der Presse- und der Kulturabteilung Friedrich Heilbron (Ständiger Hilfsarbeiter 1907). Dem für die Türkei, für Bulgarien und Griechenland zuständigen Referat Rosenbergs kam von vornherein wegen der nach Bismarcks Abgang eingeschla- genen expansiven Orientpolitik allgemeinpolitische Bedeutung zu. 1888 erhielt ein Finanzkonsortium unter der Leitung der Deutschen Bank die erste Konzes- sion zum Bau der Eisenbahnlinie vom Hafen Haidarpascha bei Konstantinopel nach Ankara.21 Die Deutsche Bank war maßgeblich an der Gründung der Ana- tolischen Eisenbahn-Gesellschaft beteiligt, die bis 1893 die Linie nach Ankara, bis 1896 die Linie weiter südwärts nach dem inneranatolischen Hauptstapelplatz Konia baute. Ende 1899 erhielt die Deutsche Bank von der Türkischen Regie- rung eine vorläufige, 1903 die im gleichen Jahr gegründete Bagdadbahngesell- schaft die endgültige Konzession zur Weiterführung der Linie Eskischehir- Konia bis Bagdad und Basra. Dahinter stand der politische Wille des Kaisers. Die Führungskräfte der Deutschen Bank, Georg von Siemens, dann Arthur von Gwinner, dachten eher in wirtschaftlichen, die finanziellen Risiken abwä- genden Kategorien. Sie verhielten sich wie das in Finanz- und Wirtschaftsfra- gen mit ihnen zusammenarbeitende Auswärtige Amt zunächst auch reserviert

21 Überblick bei Gall, S. 71–82; vgl. Williamson, S. 80 ff.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 16 Karriere im Kaiserreich gegenüber den phantasievollen entwicklungspolitischen Plänen, die der leiden- schaftliche Orientforscher Max von Oppenheim entwarf, wenn er sich für die Idee begeisterte, aus Mesopotamien ein blühendes Land nach antiken Vorbil- dern zu machen.22 Näher lagen die Probleme, die der im Vorderen Orient und in den Ländern des östlichen Mittelmeerraums ausbrechende Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Wirtschaftsmächten hervorrief. Rosenberg suchte den Bankier Paul von Schwabach für Investitionen in Griechenland zu gewin- nen, um dort ein Gegengewicht zur französischen Kapitalinvestition zu etablie- ren.23 Schwabach (1867–1938) war seit 1898 Direktor des bekannten Bankhauses Samuel Bleichröder und hatte Eleanor Schröder aus dem Hamburger Patri- ziat geheiratet; seine Gattin fand Mittel, Zeit und Gelegenheit, in der Stadt und auf ihrem Landgut Kerzendorf einen Salon für künstlerisch und politisch inte- ressierte Besucher zu eröffnen. Eine der neuen Aufgaben der auswärtigen Politik, an der Rosenberg mit- arbeitete, bestand darin, die Orientpolitik den bündnispolitischen Erfordernis- sen anzupassen und Rivalitäten zu vermeiden. Die Probleme ergaben sich aus der nunmehr etablierten Kolonialpolitik des Reiches, dessen Kolonialgebiete nach 1900 viel ausgedehnter waren als das Mutterland. Das Auswärtige Amt musste sich Mühe geben, nach dem Italienisch-Türkischen Krieg von 1911/12 in Kleinasien einen modus vivendi zu finden, der die deutschen mit den italie- nischen, österreichischen, englischen, französischen und türkischen Interessen zum Ausgleich brachte. Italien verfolgte in Cilikien, an der südanatolischen und nordsyrischen Küste eine »pénétration pacifique«, plante den Bau von Schulen in Adana, die Einrichtung zweier Postdampferlinien von Venedig und Piräus nach Beirut sowie neuer »konsularischer Beobachtungsdienste.« Es forderte da- mit die konkurrierenden deutschen, englischen und österreichischen Ansprü- che in Kleinasien heraus.24 Sofern letztere sich auf die deutsche Einflusszone erstreckten, gedachte der stellvertretende Staatssekretär Zimmermann Öster- reich-Ungarn zunächst einige eher nominelle Zugeständnisse (Adana) zu ma- chen, um eine Interessenkollision zwischen den beiden Dreibundpartnern zu verhüten, der Hofburg entgegenzukommen und so die Stellung des Dreibunds gegenüber der zwischen England, Russland und Frankreich bestehenden Triple- entente für den Fall eines Auseinanderbrechens des Osmanischen Reiches zu

22 Vgl. G. Teichmann, Das Leben, in: Teichmann/Völger, S. 10–105, 43 f.; anders im Krieg: Krö- ger, S. 368–375. – Max von Oppenheim (1860–1946), 1883 Dr. jur., Unternehmer, 1896–1909 am Generalkonsulat in Kairo, 1915–1918 an der Botschaft in Konstantinopel, 1900 Legati- onsrat, Orientalist, Forschungsreisender. 23 Vgl. Loulos, S. 273, 275; Afflerbach, S. 329; zum Gesellschaftsleben Schwabachs: Wilhelmy, S. 831–833; Gestalten rings um Hindenburg, S. 173–175. 24 Konsul Eugen Büge an das AA, Adana 20. Oktober 1913. Anlage zu Nr. 213, Bericht der Bot- schaft in Konstantinopel an das AA vom 28. Oktober 1913. PAAA, R 13513, S. 2. Büges Be- richt ging sogleich an die Deutsche Botschaft in Rom. Vgl. R. J. B. Bosworth, Italy and the End of the Ottoman Empire, in: Kent, S. 52–75, 59–68 (imperialistische Motive Italiens); Skřivan, S. 259–265.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Das Elternhaus 17 kräftigen. Der Erhaltung des Dreibunds sowie der Glaubwürdigkeit der deut- schen Bündnisfähigkeit hatte schon die Richtlinie »strikter Neutralität« gedient, die der Vortragende Rat Rosenberg beim Ausbruch des Tripoliskrieges ausgege- ben hatte.25 Staatssekretär Jagow schwächte auf italienischen Wunsch hin eine für London bestimmte Erklärung des »Desinteressements« Deutschlands am Vordringen Italiens auf englisches Einflussgebiet durch einen Zusatz ab, der die Solidarität mit Italien beteuerte. Er setzte sich damit über die Empfehlung des Botschaftsrats in London, von Kühlmann, hinweg, der die Bekundung eines sol- ches Desinteresses nahegelegt hatte, um »die Durchführung unserer Verhand- lungen mit England« zu erleichtern.26 Indes blieb die Rücksichtnahme auf England und die englische Expan- sion von großer Bedeutung für die Endphase der Orientpolitik des Reiches in der Vorkriegszeit. Beide Mächte hatten ein gemeinsames Interesse an der Er- haltung des status quo im Nahen Osten. Doch war für den Botschafter Hans von Wangenheim in Konstantinopel »eine englisch-deutsche Zusammenar- beit auf türkischem Boden, die der Anfangspunkt einer definitiven Versöh- nung werden könnte […], zunächst nicht mehr als eine Hoffnung und ein er- strebenswertes Ziel.«27 Der Osmanische Staat bot England immer noch eine nicht verachtende Stütze angesichts des alten, 1907 wesentlich abgeschwächten russisch-englischen Gegensatzes. Die Osmanen hatten auch dem Reich wich- tige wirtschaftliche Konzessionen gegeben. Karl Helfferich wies Rosenberg auf das Wasser, den bedeutendsten Natur- und Wirtschaftsfaktor Mesopota- miens, und auf die Kontrolle über die Wasserwege hin, aus der sich das Reich aus Rücksicht auf die anderen Mächte nicht heraushalten dürfe. Eine Abschwä- chung der Wirtschaftskonkurrenz hätte der von Botschafter Karl Max Fürst Lichnowsky und Außenminister Sir Edward Grey paraphierte Vertrag vom 15. Juni 1914 bei Inkrafttreten mit sich gebracht. Deutschland konzedierte hier England die Einflussnahme auf die Verkehrsstrecke von Basra zum Persischen Golf und auf die Golfregion; einige Monate vorher, am 23. Februar 1914, hatte die Bagdadbahngesellschaft dem britischen Unternehmer Earl Inchcape weitge- hende Transportrechte auf dem Tigris zwischen Bagdad und Basra eingeräumt. Das Reich erhielt dafür unter anderem das Zugeständnis, die Britische Regie- rung werde keine unmittelbar mit der Bagdadbahn konkurrierenden Bahnbau- ten unterstützen.28 Im März 1914 erklärte sich Deutschland bereit, zusammen mit England einen 50-prozentigen Anteil an einer neu zu gründenden Petro- leumgesellschaft zu übernehmen, die Konzessionen für die Ausbeutung der mesopotamischen Ölfelder beschaffen sollte. Die deutsche Seite gab sich dann

25 Aufzeichnung v. 9. Oktober 1911. Druck: Große Politik, Bd. 30, Nr. 10880, S. 99–102. Vgl. Schöllgen, S. 278. 26 Jagow an Lichnowsky, Berlin 6. Dezember 1913, vgl. Kühlmann an das AA, London 29. No- vember 1913. PAAA, R 13513, 181. 27 An Bethmann Hollweg, Pera 21. Mai 1913. Große Politik, Bd. 38, Nr. 15312, S. 46. 28 Bagdadbahnvertrag, aus London übersandt am 22. Juni 1914. Druck: Große Politik, Bd. 37,1, Nr. 14907, S. 453–465. Vgl. Schöllgen, S. 402–409.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 18 Karriere im Kaiserreich auch mit einem Anteil von 25 Prozent für die Deutsche Bank in der von engli- schem Kapital dominierten Turkish Petroleum Company zufrieden.29 Berichte aus London über wirtschaftliche Fragen wurden an die Deutsche Bank zur Stel- lungnahme weitergegeben. Der Hamburger Reeder Ballin folgte Rosenbergs Einladung ins Auswärtige Amt, um »Schiffahrtsfragen« zu besprechen, die bei der Weiterführung des Bagdadbahn-Handelsweges auftauchten.30 Gegenüber Frankreich herrschte eine etwas andere Tonlage. Jagow war zu einem sofortigen Protest gegen solche französisch-türkischen Vereinbarungen bereit, die über deutsche Konzessionen verfügen würden, ohne dass vorher os- manische Rückfragen beim Reich erfolgt waren.31 Dennoch konnten Rosenberg und Helfferich namens der deutschen Seite am 15. Februar 1914 den Entwurf eines 14 Artikel umfassenden deutsch-französischen Abkommens »über vor- derasiatische Bahn- und Finanzfragen« unterzeichnen. Dies geschah in Form eines Vertrages zwischen der Banque Impériale Ottomane und der Deutschen Bank, von dem die Regierungen nach Prüfung »Akt nehmen« sollten, um ihn nach abschließenden Verhandlungen mit der Hohen Pforte in Kraft zu setzen.32 Über den Vertrag war seit 1911 in Paris und Berlin verhandelt worden. An der beiderseits gefundenen Einigung war der Ministerpräsident Raymond Poincaré beteiligt – in seinen Memoiren sollte er später zu Angriffen auf die angeblich bei diesen Verhandlungen gezeigte unversöhnliche Haltung des Kaisers und des Bankiers Gwinner ausholen.33 Das Abkommen überließ Frankreich den Auf- bau eines eigenen Eisenbahnnetzes in Nord- und Ostanatolien und in Syrien. Deutschland wurde dafür Einfluss auf die an die Bagdadbahn angrenzenden Gebietsstreifen in Zentral-, Südostanatolien und Mesopotamien eingeräumt. Der Erste Weltkrieg brach aus, nachdem diese kolonialpolitischen Rivalitäten mit Frankreich und England im Vorderen Orient durch unterschriftsreife Ver- tragsentwürfe beigelegt waren – eine »tragische Ironie«, wie Kühlmann rück- blickend schrieb. Die Kolonialexpansion führte in diesem speziellen Fall jeden- falls nicht zur Destabilisierung des europäischen Konzerts. Die in die Türkei entsandte deutsche Militärmission unter Otto Liman von Sanders wurde von

29 Jagow (eigenh. Entw. Rosenbergs) an Botschafter Wangenheim, Berlin 14. März 1914. PAAA, R 13518, S. 185. Druck: Große Politik, Bd. 37,1, Nr. 14838, S. 379. Vgl. Schöllgen, S. 401; Hoffmann, Warburg, S. 62–89. 30 Im Januar 1914. – Albert Ballin (1857–1918), dänischer Herkunft, bedeutende jüdische Per- sönlichkeit des Kaiserreichs, 1879 Teilhaber der väterlichen Auswanderer-Agentur in Ham- burg, 1888 im Vorstand, 1899 General-Dir. der Hamburg-Amerika-Linie HAPAG. 31 Jagow (eigenh. Entw. Rosenbergs) an Botschafter Wangenheim, Berlin 28. Dezember 1913, aufgrund des Briefs Helfferichs an Zimmermann, Neustadt a. d. Haardt 25. Dezember 1913 (Or., eigenh.). PAAA, R 13515, S. 128, 125. 32 Tel. Jagow an den Botschafter in Pera, Berlin 15. Februar 1914 (eigenh. Entw. Rosenbergs). PAAA, R 13517, 116. Druck: Große Politik, Bd. 37, 2, Nr. 14996, S. 583–588; vgl. Schöllgen, S. 389–391; Williamson, S. 92 (Karte). 33 Vgl. Rosenberg an Gwinner, Stockholm 20. Januar 1928. NlR.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Das Elternhaus 19 dem am Osmanischen Staat ebenfalls hoch interessierten Zarenreich allerdings als Provokation empfunden. Der Referatsleiter Rosenberg, Konzipient der Staatssekretäre Jagow und Zim- mermann, war an den geschilderten Regelungen maßgeblich beteiligt und in das wirtschaftsimperialistische Handeln der Wilhelmstraße einbezogen. Er überging in seinen Erinnerungen diese Orient-Verhandlungen, behielt dage- gen den Eindruck einer ablehnenden Einstellung der Nachbarstaaten gegen- über dem zunehmend isolierten Reich, den er schon in Belgien gewonnen hatte, im Gedächtnis. Frankreich betrachtete das deutsche Engagement in Kleinasien nicht mehr als bloße Verfolgung wirtschaftlicher Interessen, sondern als poli- tische Herausforderung. Der junge Sachbearbeiter Rosenberg nahm diese allzu forsch an, wenn er über die primär wirtschaftlichen Motive der Kolonialpolitik Bismarcks hinausgehend riet, dann müsse auch Deutschland das politische Ter- rain betreten.34 Seine Reaktion signalisierte das nationale Konkurrenzdenken und eine die eigene Stärke hervorkehrende Aufbruchstimmung, die, mit einem gewaltigen Fortschrittsbewusstsein einhergehend, um die Jahrhundertwende alle europäischen Mächte und besonders die junge Generation ergriff. Zimmermann, der dem Bürgertum entstammte, und Rosenberg empfanden die gebotene Rücksichtnahme auf den Reichstag, der über sein Haushaltsrecht die Personalpolitik und die »Staatsmittel« der Reichsbehörden kontrollierte, als hemmend gegenüber dem von solcher Kontrolle freieren Expansionsdrang Ita- liens.35 Das Amt richtete immerhin 1913 die Vertragsverhandlungen mit Frank- reich nach den Tagungsperioden des Reichstags.36 Es imponierte dem jungen Diplomaten, wenn der Staatssekretär Wilhelm Eduard von Schoen im Parla- ment eine gute Figur machte, beredt und geschmeidig auftrat.37 Schoen gab Auskunft über außenpolitische Krisen, versprach, bei den Einstellung in den Auswärtigen Dienst keinen Unterschied mehr zwischen Adel und Bürgertum zu machen und die jungen Persönlichkeiten mit Charakter, Begabung und Bildung den »Monokel- und Salonhelden« vorzuziehen. Der spätere Reformer Edmund Schüler mokierte sich über die Standesunterschiede in der Wilhelmstraße,

34 So Rosenbergs Randnotiz zu: W. E. von Schoen an Bethmann Hollweg, Paris 21. Januar 1914 (Or.). PAAA, R 13516, S. 113; die Notiz nicht gedruckt bei: Große Politik, Bd. 37,2, Nr. 14986, S. 576 f. Vgl. Gall, S. 75 f. 35 Zimmermann an den Staatssekretär des Reichsschatzamts [Hermann Kühn], Berlin 5. No- vember 1913 (eigenh. Entw. Rosenbergs). PAAA, R 13513, S. 27. 36 Zimmermann (Entw. Rosenbergs) an Botschafter Schoen, Berlin 6. November 1913. PAAA, R 13513, S. 30: Anreise der Unterhändler Ponsot und Sergent. Vgl. zu Jagow und Zimmer- mann Hürter, Staatssekretäre, S. 231. 37 Rosenberg an Köpke, Berlin 16. Februar 1909 (Or., eigenh.). PAAA, Nl Köpke, Bd. 3; Sitzung vom 31. März 1909. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 236, S. 7914 f. – Wilhelm Eduard Frhr. von Schoen (1851–1933), bis 1877 hessischer Offizier, danach Attaché in Madrid, ab 1882 Legationssekretär in Athen, Bern, Den Haag, 1888 Botschaftsrat in Paris, 1896 Ober- hofmarschall in Sachsen-Coburg-Gotha, 1900 Gesandter in Kopenhagen, 1907 Staatssekre- tär des AA, 1910–1914 Botschafter in Paris.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 20 Karriere im Kaiserreich durch die Hausnummern (Nr. 75 und 76) getrennt: hier die »bürgerlichen Geis- ter« des Amts, dort die »Prinzen, Grafen und Barone«, einige sogar »ohne von, diese meistens dann aus Bonn«38 – ein Hinweis darauf, dass die 1818 neu gegründete Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität vom Nachwuchs der preußischen Führungsschichten und sogar von Hohenzollernprinzen gern be- sucht wurde. Während des Weltkrieges intensivierte das Auswärtige Amt die Zusammen arbeit besonders mit dem Hauptausschuss des Reichstages.

Im Weltkrieg: Südosteuropa. Die Verfolgung der Armenier

Rosenberg, obwohl für den militärischen Einsatz vorbereitet, wurde im August 1914 mit fünf oder sechs seiner engeren Kollegen, »einer Handvoll Vortragen- der Räte« aus der Politischen Abteilung (I A),39 vom Kriegsdienst freigestellt. I A war die wichtigste Sektion des Auswärtigen Amts. Mit ihr, der Personal- und Konsulatsabteilung (I B, C), der Handelspolitischen Abteilung (II) und der Rechtsabteilung (III) bestritt die direkt dem Reichskanzler unterstellte Behörde, die 50–60 Beamte des höheren Dienstes vom Staatssekretär bis zum Ständigen Hilfsarbeiter umfasste, von 1914 bis 1918 die Geschäfte der Diplomatie. Diese kleine, im Weltkrieg weder wesentlich aufgestockte noch veränderte Führungs- gruppe eines weisungsgebundenen Staatsorgans konnte nach den pessimistisch- lapidaren Worten des ihr angehörenden Legationsrates Nadolny an dem großen Gang der Politik, die in den Weltkrieg führte und den letztlich alle europä- ischen Großmächte beschritten, nichts ändern. »Das Reich war sozusagen iso- liert, denn Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei, sie zählten nicht viel. Ringsum aber war alles feindlich, und der Kaiser wurde immer unbeliebter. Dreibund und Entente standen sich gegenüber, bis es endlich zum Zusammen- stoß kam.«40 Solche gleichgewichts- und machtpolitischen Erwägungen lote- ten indes die Problematik der Kriegsursachen nicht aus, waren diese doch nach den verantwortungsethischen Kriterien, auf die in den 1870er Jahren die Zen- trumsabgeordneten Joseph Edmund Jörg und Felix von Loë hingewiesen hat- ten, schon in dem damals sichtbaren, über das Völkerrecht hinwegschreitenden Wandel des europäischen Staatensystems angelegt. Der Orientreferent Rosen- berg buchte als Erfolg, dass es ein Jahr nach Kriegsausbruch gelang, den südöst- lichen Landweg zu den Dardanellen, zum Osmanischen Reich zu öffnen und so

38 Schüler, Lebenserinnerungen, S. 83 (Masch. Manuskr.). PAAA, Nl Schüler. 39 Lebenserinnerungen Rosenbergs; vgl. zum Personal des AA Hürter, Staatssekretäre, S. 220; ders., Hintze, S. 89; Hampe, S. 1 f.; vergleichend: Mösslang/Riotte, S. 3. 40 Nadolny, S. 378 f.; vgl. zur Bewertung des Osmanischen Staats Afflerbach, S. 105; weitere Reaktionen auf den Kriegsausbruch bei Diplomaten: H. H. Dieckhoff 1914 und nach 1945 (Taschka, S. 36 f.), Kühlmann (Kühlmann, S. 417 f., 471), Ernst von Weizsäcker, damals noch Marineoffizier (Hill, S. 146–150).

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Im Weltkrieg: Südosteuropa 21 die strategische Lage der Mittelmächte zu verbessern. Denn die von der k.u.k. »Militärdiplomatie« erhofften Anfangserfolge im Südosten waren ausgeblieben. Die Verbesserung der Lage auf dem Balkan wurde auf diplomatischem Wege durch den Abschluss des Friedens- und Freundschaftsvertrages des Reiches mit Bulgarien am 6. September 1915 erreicht. Auf den Vertrag folgte noch am glei- chen Tag eine Militärkonvention.41 Der Gesandte in Sofia, Gustav Michahelles (1913–1916) hatte dem Abschluss vorgearbeitet. Rosenberg führte die stocken- den Gespräche in Sofia zielsicher zum Abschluss und bewies erstmals sein Ver- handlungsgeschick auf internationalem Parkett. Der gleichzeitig abgeschlossene Geheimvertrag trug dem Revisionsbegeh- ren Bulgariens Rechnung, indem er dem Königreich im Falle eines Krieges ge- gen Serbien und gegen ein angreifendes Rumänien wieder den Erwerb Serbisch- Mazedoniens und der Süddobrudscha zusicherte, also derjenigen Gebiete, die es nach dem Zweiten Balkankrieg im Frieden von Bukarest (10. August 1913) verloren hatte. Der Erfolg war gegen beträchtliche Hemmnisse errungen: gegen die russlandfreundliche Orientierung der bulgarischen Öffentlichkeit, die Un- beliebtheit des aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha stammenden »Import- königs« Ferdinand und die umtriebige Aktivität der Emissäre der Entente, die mit territorialen Offerten an Bulgarien und Voraussagen ihres Kriegsglücks nicht geizten. Ministerpräsident Radoslavov wollte schließlich den Neutralitäts- status aufgeben, weil er befürchtete, am Ende würden die Sieger, wie sie auch heißen mochten, seinem verhältnismäßig kleinen Staatswesen eine standhaft verteidigte Neutralität übel auslegen. Im Augenblick versprach das Eingehen eines Bündnisses auch erhebliche »Kompensationen.« Die Entscheidung für die Mittelmächte erbrachte Zusagen für Gebietsgewinne und deutsche Finanzhil- fen. Die Alliierten handelten nicht edler: Zuvor hatte Russland versucht, durch die Sperrung französischen Kapitals Druck auf Bulgarien auszuüben.42 Die von den Alliierten angebotene Wiedergewinnung der Linie Enos (Enez an der Ägäis)-Midia (Midye am Schwarzen Meer), nordöstlich der dem Lauf des Ma- ritza-Flusses folgenden Linie gelegen, auf die der Friede von Konstantinopel Bulgarien zurückgedrängt hatte, lockte Radoslavov, obwohl er auch an dieser Grenzrevision interessiert war, offenbar nicht sonderlich.43 Die mit den Zent-

41 Druck: Radoslawoff, S. 188–193. Erzberger hatte seit November 1914 der OHL einen soforti- gen militärischen »Durchmarsch über Bulgarien« empfohlen. Erzberger, Erlebnisse, S. 58 f.; vgl. Kronenbitter, S. 6 f., 518. 42 Vgl. Radoslawoff, S. 186 ff.; Boeckh, S. 174–193. Reichskanzler Bethmann Hollweg bewilligte sogleich die dann im Geheimabkommen mit Bulgarien zugesagte, von General Falkenhayn übermittelte Forderung der Bulgarischen Regierung nach einer Kriegsanleihe von 200 Mil- lionen Franken. Tel. Nr. 260 Treutler an Bethmann Hollweg, Pless 3. August 1915. PAAA, R 22163. 43 Radoslawoff, S. 153–156. Entwürfe des Grenzregulierungsvertrages von Konstantinopel vom 29. September 1913 zwischen der Ksl. Osmanischen und der Kgl. Bulgarischen Regie- rung mit Notizen Neuraths und »Notes explicatives« Rosenbergs: BA Koblenz, Nl Neurath, Nr. 201; vgl. auch Große Politik, Bd. 36,1, Nr. 13825, S. 61.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 22 Karriere im Kaiserreich ralmächten verbündete Türkei trat dann in der Konvention vom 14. September 1915 Bulgarien Gebiete westlich, nördlich und südlich der Linie Adrianopel-Di- motika ab. In die Zuständigkeit des Orientreferats fiel auch die Lage der Armenier im Osmanischen Reich; sie zu verbessern, war ein Anliegen der Großmächte, das 1913 erneut diskutiert wurde: Rosenberg empfahl hier einen Kompromiss zwi- schen dem türkischen und einem den Armeniern mehr entgegenkommenden russischen Reformprojekt. Er wollte das Ernennungsrecht für die Generalgou- verneure in den neu zu schaffenden armenischen Verwaltungszonen, die sich »zur christlichen Religion bekennen« sollten, der Türkei zur Schonung ihrer Souveränität formell vorbehalten wissen.44 Der Botschafter Wangenheim hatte zuvor nachdrücklich auf die den Zusammenhalt des Osmanenreiches gefähr- dende Zurücksetzung der Armenier hingewiesen und »wirksame Garantien für die Sicherheit von Leben, Eigentum und Religion« dieses wirtschaftlich bedeut- samen Bevölkerungsteils sowie die Beteiligung von Armeniern an der lokalen Verwaltung gefordert.45 Der Ausbruch des Weltkrieges ließ diese Pläne zur Makulatur werden, die aber doch mit erklären, warum Zimmermann und Rosenberg im Juli-August 1915 den Armenierfreund Johannes Lepsius auf die Eingaben der Deutschen Orientmission und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft hin gegen »den Wi- derstand der Pforte« in die Türkei reisen ließen und zunächst das Gespräch mit den türkischen Regierungsstellen suchten, als die schweren Verfolgungen be- gannen.46 Der Völkermord an den Armeniern vollzog sich, die Massaker von 1894 und 1909 wieder aufnehmend, in zwei Etappen unter dem Vorwand der Umsiedlung. Nach den höchsten Schätzungen wurden etwa 800 000 Armenier im Frühjahr-Sommer 1915 hauptsächlich im östlichen Kleinasien umgebracht oder zwangskonvertiert in türkische Harems und Familien gesteckt (Frauen und Kinder); um die 630 000 fanden von Herbst 1915 bis Sommer 1916 in Sy- rien und Mesopotamien den Tod.47 Vor allem bei den unmenschlichen Depor- tationen ins Landesinnere, die als Maßnahmen gegen Kollaboration mit dem

44 Aufzeichnung Rosenbergs, Berlin 10. September 1913; dessen eigenh. Entw. für ein der Russischen Botschaft in Berlin übersandtes Promemoria. Große Politik, Bd. 38, Nr. 15385, 15384, S. 140–143; vgl. Wangenheim an Bethmann Hollweg, Therapia 4. August 1913. Ebd. Nr. 15375, S. 124–127; Saupp, S. 202–216. 45 Wangenheim an Bethmann Hollweg, Pera 24. Februar 1913. Große Politik, Bd. 38, Nr. 15287, S. 13. 46 Nr. 461 Zimmermann an Wangenheim, Berlin 13. Juni 1915 (eigenh. Entw. Rosenbergs). Der Erlass ging durch Feldjäger am 14. Juni ab, Lepsius wurde am gleichen Tag telefonisch in- formiert. PAAA, R 14086. Druck (unkommentiert): Gust, S. 166 f. 47 Zahlen nach Kévorkian, Ahmed Djémal, S. 197, 207; ders., Axes de déportation, S. 14, 60 f. bei Ausgangszahlen von 1,96 Millionen armenischer Einwohner des Osmanischen Reiches nach Schätzungen des Armenischen Patriarchats, die wesentlich höher liegen als die tür- kischen Zahlen. Bryce/Toynbee, S. 646 f. gehen von 1–1,2 Millionen Deportierten, davon 500–600 000 Getöteten, aus, Lepsius, Bericht, S. 303 von 1,3965 Millionen Deportierten oder Getöteten. Vgl. Akçam, S. 76; Kreiser, S. 50: 600 000–1 Million Opfer; nicht überzeu-

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Im Weltkrieg: Südosteuropa 23

Feind nie zu rechtfertigen waren, starben Männer, Frauen und Kinder an Hun- ger, Durst, Seuchen, Erschöpfung, Vergewaltigung, Massakrierung durch Ban- den oder wurden ertränkt. Eine schwere Verantwortung für den Völkermord und dessen geistige Vorbereitung trifft die jungtürkische Bewegung und das Komitee für Einheit und Fortschritt, die den Ideologien eines säkularistischen Nationalismus und zugleich unduldsamen Islamismus in einem die Trennung von Religion und Politik verweigernden Staat anhingen; Bereicherungsabsicht, Habgier und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Ausgegrenzten ta- ten ein Übriges. Mit der Organisation der unmenschlichen Behandlung waren das Innenministerium und die Unter-Direktion für Deportierte befasst. Wi- derstrebende Gouverneure wurden mit Entlassung oder Tod bedroht. Die un- teren Behörden und die Polizei leisteten sich schwere Übergriffe. Die sofortige Einziehung der Vermögen ließ erkennen, dass den Deportierten die Liquidie- rung drohte. Die Akten des Unterstaatssekretärs Zimmermann und seines Gehilfen spie- geln das Dilemma der deutschen Politik, die den Konflikt mit dem Bündnis- partner scheute, aber die Augen auch nicht vor der schweren Verletzung der Menschenrechte verschließen konnte. Sie bezeugen eine gewisse Tendenz zur Selbstrechtfertigung wegen der schon zeitgenössischen Anklagen gegen die Un- tätigkeit deutscher Stellen, verwiesen auf die von den bewaffneten Armeniern in Wan ausgehende Rebellion und auf deren Unterstützung durch den russi- schen Kriegsgegner.48 Sie dürften aber doch wie viele bereits publizierte Akten des Amts beachtliche Argumente gegen die weit verbreitete Behauptung bie- ten, Deutschland treffe eine völkerrechtlich relevante Mitschuld oder »Mitver- antwortung« an diesem Völkermord, weil es ihn »billigend in Kauf genommen, gelegentlich dabei sogar kooperiert habe.«49 1. Die deutschen Konsulate berich- teten, soweit möglich, ausführlich und wahrheitsgemäß nach Konstantinopel, und die dortigen Botschafter nach Berlin. Sie brachten dadurch die anlaufenden Deportationen und Aktionen der Massenvernichtung sogleich ihrer Behörde zur Kenntnis, die an dieser Aufklärung auch interessiert war. Wie im Falle ähnlicher Verbrechen, die die Geschichte verzeichnet, wurde also, ab gesehen von der Kriegszensur, keine Flucht ins Verschweigen oder in die Anonymi- tät angetreten. Wegen der Unzulänglichkeit und der Fehlinformationen türki- scher Quellen bieten diese Berichte einen unverzichtbaren Informationsfundus neben den Mitteilungen von Missionaren, Militärs, Konsuln und Gesandten anderer Staaten. Nach der glaubhaften Versicherung des ehemaligen Peraer

gend die Zahlen bei Özgönul, S. 177–213 (aber Brief Paul Rohrbachs u. a. an Hertling v. 6. Ja- nuar 1918). 48 Aufzeichnungen Rosenbergs vom 27. September 1916. PAAA, R 14093. Vgl. McCarthy, S. 193 f.; Lewy, S. 156 f.; den Bericht eines französischen Agenten vom Januar 1917. Beylerian, Nr. 318, S. 316; anders Beylerian, S. XXXII–XXXVI (Einleitung). Özgönul, S. 121–156, 188 bestreitet polemisch, dass ein Genozid stattfand. 49 Goltz/Meissner, T. 3, S. 601 f., 598: »tief involviert«; Gust, S. 82; Saupp, S. 229: »deutsche Billigung.«

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Botschaftsangehörigen Otto Göppert sind in der vom Auswärtigen Amt unter- stützten Aktenedition von Lepsius keine für die »Frage der deutschen Schuld« aussagekräftigen Konsulatsberichte ausgespart worden.50 In Lepsius’ angeb- lich zugunsten Deutschlands manipulierte Edition wurden drei zur Entlastung des Amts angelegte Berichte über deutsche Reaktionen nicht einmal aufgenom- men. Die erste, umfangreichste Ausarbeitung stammt von dem in Konstantino- pel kommissarisch tätigen Legationssekretär Leopold von Hoesch,51 der nach einem späteren Zeugnis Hans Heinrich Dieckhoffs auf der Seite des die Ver- folgungen anklagenden Botschafters Wolff-Metternich stand. 2. Mehrere deut- sche Konsuln und Offiziere verurteilten eindeutig die Ausschreitungen und lasteten sie dem türkischen Bundesgenossen an.52 3. Einzelne Konsuln und Bot- schafter brachten Remonstrationen in Konstantinopel und in Berlin vor. Am 1. Oktober 1915 wurden dem türkischen Botschaftsrat und Geschäftsträger in Berlin, Edhem Bey, Menemenli Zade, von Rosenberg »eindringlich die Argu- mente vor Augen geführt, die für schonende Behandlung der armenischen Be- völkerung in der Türkei sprechen.«53 Diese einzelnen Beschwerden fielen wegen des Risikos eines Bündnisbruchs zu matt aus. Es trifft aber nicht zu, dass Wolff- Metternich »sich als einziger deutscher Botschafter wirklich für die Belange der Armenier eingesetzt« (Gust) habe. Wangenheim hatte die armenische Reform- frage schon Anfang 1913 aufgegriffen und war über die 1915 beginnende Ver- nichtungsstrategie sehr erschrocken. Nach ihm residierten bis Oktober 1916, zur Zeit der Armenierverfolgung, überhaupt nur zwei deutsche Botschafter in Pera, kommissarisch von August bis Oktober 1915 Ernst Fürst zu Hohenlohe- Langenburg, danach Wolff-Metternich. Hohenlohe machte eine Eingabe bei der Osmanischen Regierung. Der nach Wangenheims Tod übergangsweise amtie- rende Geschäftsträger Neurath plante, ein »armenisches Weißbuch« anzulegen, um das er sich aber dann nicht mehr »persönlich kümmern« konnte oder woll- te.54 Unter dem Blickwinkel der Moral und der Menschenrechte kann man es als höchst unzureichend ansehen, dass der Reichskanzler und der Kaiser nicht protestierten oder tatkräftig Einhalt geboten. Sie machten Gegenrechnungen

50 Göppert an Lepsius, Berlin 26. Juli 1919. Vgl. Mikaeljan, S. 607 f., 7 (mit zu genereller Inter- pretation). Von einer Manipulation der Aktenedition Lepsius’ gehen dagegen Lewy, S. 134 f., Trumpener, S. 205 f., 67, 370, Gust, Özgönul (Auslassungen zugunsten der Armenier) aus. 51 72 S. Auf ihr beruhten offenbar zwei von Rosenberg für die Budgetkommission des Reichs- tags angefertigte Resümees, davon ein tabellarisches, über die deutsche Haltung zur Arme- nierverfolgung, 27. September 1916. PAAA, R 14093. Vgl. Taschka, S. 44 f. 52 Vgl. Scheubner-Richter an die Botschaft in Konstantinopel, Erzerum 15. und 16. Mai 1915, 2. Juni 1915. Lepsius, Deutschland, S. 68–71, 80; Bryce/Toynbee, S. 648 f., geben die Schuld der Osmanischen Regierung; deutsche Mitschuld: Kreß von Kressenstein, S. 138 f. 53 Aufzeichnung Rosenbergs, Berlin 1. Oktober 1915 (Entw., eigenh., Paraphe Zimmermanns). PAAA, R 14088. Druck: Lepsius, Deutschland, S. 162; Gust, S. 319 (unkommentiert); zum Folgenden (anders) Gust, S. 93. 54 Rosenberg an Neurath, Berlin 5. Dezember 1915 (Or., eigenh.). BA Koblenz, Nl Neurath, Nr. 99. Vgl. zum französischen Gelbbuch und britischen Blaubuch Goltz/Meissner, T. 3, S. 179 f., 504.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Im Weltkrieg: Südosteuropa 25 auf und wollten um jeden Preis das Bündnis im Krieg erhalten.55 Die schwere menschenrechtliche Herausforderung, vor der die Reichsleitung nun stand, war die unbeabsichtigte Folge der früheren Fehlentscheidungen für die Expansion in den Vorderen Orient, deren Risiken offenbar zu wenig bedacht worden wa- ren, und des später abgeschlossenen Kriegsbündnisses. Man wird die Haltung der dem Staatswohl Verantwortlichen dennoch anders gewichten müssen als die freischwebende Position von Publizisten und Intellektuellen, unter denen einige besonders turkophil auftraten.56 Auch bei den Entente-Mächten rangierten politische Erwägungen, etwa den Russen nicht Konstantinopel zu überlassen, vor dem humanitären Einsatz vor allem für die in der zweiten Phase verfolgten Armenier. Im Oktober 1915 war beabsichtigt, Armenier an französischen Mili- täroperationen bei Alexandrette zu beteiligen.57 Der Weltkrieg machte konzer- tierte humanitäre Interventionen der europäischen Mächte gegenüber dem Os- manischen Staat, wie sie seit den 1870er Jahren in Balkanfragen stattgefunden hatten, unmöglich, sodass der Völkermord letztlich auf das Versagen der sich im Weltkrieg bekämpfenden »großen christlichen Mächte« zurückfiel (Lepsius): »eines der schwärzesten Blätter im Schuldkonto Europas« (Erzberger). Was Deutschland betraf, so herrschte dort zwar die Kriegszensur; auch unterdrückte das Reichstagspräsidium die Plenardiskussion über die Frage des Abgeordneten Karl Liebknecht nach der »Ausrottung der türkischen Armenier.«58 Trotz Zensur und türkischen Protests wurden M. Niepages und J. Lepsius’ Berichte 1916/18 im In- und Ausland gedruckt und verbreitet. Auch konnte der Reichstag als Verfassungsorgan nicht gänzlich umgangen werden. Um sich vor der Budget- kommission zu verantworten, entstanden im Auswärtigen Amt umfängliche Ausarbeitungen über deutsche Gegenreaktionen auf die Verfolgungen, deren Sachbehauptungen erst einmal widerlegt werden müssten.59 4. Wie häufig in un- demokratischen Systemen, erwiesen sich auch im Osmanischen Reich Proteste und Hilfsaktionen vor Ort als unwirksam. Wenn nach den »Beschwerden deut- scher oder österreichischer Konsulate« Schonungsbefehle ergingen, so konnten sie durch »geheime Weisungen oder Anordnungen« zurückgenommen werden.60

55 Vgl. zu Bethmann Hollweg Hilmar Kaiser, Die deutsche Diplomatie und der armenische Völkermord, in: Adanir/Bonwetsch, S. 203–235, 213; Afflerbach, S. 106; Bloxham, S. 233 f. Wilhelm II. nannte die Massakerwelle 1909 in Adana »skandalös.« Saupp, S. 181 f. Das Bündnis beruhte auf dem Allianzvertrag vom 2. August 1914. Vgl. Hill, S. 297. 56 Vgl. Anderson, S. 80–111, 87 ff.; Diplomaten zwischen »Humanität oder Nationalinteresse«: Taschka, S. 45 f. 57 Beylerian, Nr. 135, S. 138; vgl. Kévorkian, Ahmed Djémal, S. 205; Hosfeld, S. 249 ff.: nur »deutsche Realpolitik.« Vgl. aber Bloxham, S. 213; Erzberger, Erlebnisse, S. 74. 58 Am 11. Januar 1916. Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, Bd. 306, S. 512 f. Vgl. Goltz/Meissner, T. 3, S. 207, 72 f., 381. 59 Vgl. vor allem die tabellarische (zweite) Aufzeichnung vom 27. September 1916 zur 86. Sit- zung des Reichshaushalts-Ausschusses. Siehe Anm. 51. 60 Akçam, S. 67 f., 74. Mehr noch: Konsul Scheubner-Richter berichtete am 4. Dezember 1916 von Versuchen, das deutsche Militär durch Einbeziehung in die Verfolgung zu kompro- mittieren. Mikaeljan, S. 422.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 26 Karriere im Kaiserreich

Die türkischen Behörden wachten peinlich darüber, dass den Verfolgten keine ausländische staatliche Hilfe zuteil wurde; somit konnten gesetzlich nur Tür- ken, »armenische Hilfskräfte« und im kirchlichen oder karitativen Dienst ste- hende Personen oder Privatleute tätig werden.61 Rosenberg hatte ein offenes Ohr für Hilfsmaßnahmen. So gab er die Anweisung, für Monatsspenden von ca. 10 000 bzw. 5 000 Mark für die »Notleidenden in Mesopotamien« den güns- tigsten Kurs zu wählen.62 Noch nach Jahren dankte ihm der Direktor des Hilfs- bundes für christliches Liebeswerk im Orient, Friedrich Schuchardt, für die Un- terstützung seiner Arbeit.63 Als der Abgeordnete Reinhard Mumm Ende 1917 forderte, den in die Kaukasus-Region einrückenden Türken »deutsche Offiziere und Konsularbeamte« beizugeben, um »neue Armeniergreuel« zu verhindern, bezog er sich »auf frühere Unterredungen« mit Rosenberg.64 Dieser fasste im September 1918 noch den Plan, im Kaukasus einen Ausgleich zwischen Armeni- ern und Türken durch den Anschluss des großenteils von Armeniern besetzten Baku an ein verselbständigtes Aserbeidschan zu schaffen. In seinen Lebenser- innerungen erwähnte Rosenberg die Verfolgung der Armenier allerdings nicht.

Die Mitarbeit an den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk und Bukarest

Das Kriegsjahr 1917 überspannte weit die Kräfte des Reiches im Westen und Osten. Die von Rosenberg redigierte oder entworfene Note Zimmermanns an den Berliner US-Botschafter James Watson Gerard vom 31. Januar 1917,

61 Vgl. Auskünfte der Konsulate in Aleppo, Beirut, Damaskus und Mossul 1917. Lepsius, Deutschland, Nr. 330–340, S. 331–344; Niepage, S. 14; entsprechend die Meinung Erzber- gers; anders urteilt Saupp, S. 228 f. 62 Mit seinem Randvermerk auf dem Brief Lepsius’ an das AA, Potsdam 13. Oktober 1916 (Or.), PAAA, R 14093. Etwa gleichzeitig lief der Bericht Nr. 626 Wilhelm von Radowitz an Bethmann Hollweg, Konstantinopel, 9. Oktober 1916, ein, dem ein türkischer Leitarti- kel (»Toswiri Efkiar« vom 7. Oktober) als Beleg für die Entscheidung zur »›Säuberung‹ des Reiches von allen nicht-mohammedanischen – dh. von den christlichen – Elementen« bei- gegeben war; z. K. des UStS am 13. 10., Rosenbergs am 14.10. Ebd. 63 Rosenberg an Schuchardt, 21. Dezember 1922. PAAA, R 27940, S. 58 f. (zu Schuchardt: Feigel, S. 225, 306). Rosenberg wandte sich auch gegen die »Ekartierung« (Übergehung) des in der Türkei unbeliebten Botschafters Wolff-Metternich bei der Vorbereitung eines Besuchs türkischer Regierungsvertreter in Berlin. Rosenberg an Neurath, Berlin 27. Juli 1916 (Or.). BA Koblenz, Nl Neurath, Nr. 13. Gust, S. 96, wirft Rosenberg ohne Beleg »Zynis- mus« vor. Die »German Protestant non-governmental penetration of the Middle East« im 19. Jahrhundert (Hänsel, S. 25, 21 ff.; Bittel, S. 458) dürfte die protestantische Hilfstätigkeit erleichtert haben; vgl. auch Erzberger, Erlebnisse, S. 74–82. 64 Mumm an das AA, 3. Dezember 1917. Mikaeljan, S. 462 f.; zum Folgenden Bihl, S. 190 f. Rein- hard Mumm (1873–1932), Dr. theol., Pfarrer, 1912–1918, 1919–1932 Mitglied des Reichstags (Christlich-Soziale Volkspartei, DNVP, ab 1928 Christlich-Sozialer Volksdienst).

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Zeugnis abnehmender Hoffnung auf das weitere Fernbleiben der USA vom Kriegsgeschehen, bekundete das deutsche Desinteresse an der »Einverleibung« Belgiens, um den »warmherzigen Sympathien« der USA zu diesem Staat Rech- nung zu tragen, eigentlich aber, um ein Zugeständnis für die weitläufig be- gründete Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges zu bieten.65 Die respektabel formulierte Note, die Antwort auf die von Botschafter Bern- storff »progerman« genannte Adresse des Präsidenten Wilson an den Senat und die kriegführenden Nationen, wurde ein vollständiger Misserfolg. Gerard kommentierte sie geradezu verächtlich, nachdem Zimmermann ihm münd- lich anvertraut hatte, die jetzige Entscheidung für den U-Boot-Krieg sei dem Auswärtigen Amt vom Großen Hauptquartier aufgenötigt worden, und da- mit die inneren Differenzen nach außen getragen hatte. Rosenbergs Erinne- rung wirft aber ein neues Licht auf die sog. Zimmermann-Depesche, mit de- ren berechnender Veröffentlichung die US-Regierung die Kriegsbereitschaft der amerikanischen Bevölkerung zu wecken verstand. Das berühmte Telegramm mit dem Bündnisangebot an Mexiko war im Amt nicht abgesprochen wor- den und bereits der stillschweigenden Ablehnung verfallen,66 als es Arthur von Kemnitz, Ständiger Hilfsarbeiter und Referent für Ostasien, Süd- und Mittel- amerika, dennoch auf kaum erklärliche Weise zur äußerst unglücklichen Ex- pedition brachte. Die Abordnung zu den Waffenstillstandsverhandlungen in Brest-Litowsk verdankte Rosenberg dem Staatssekretär Kühlmann, der, wohl wegen persön- licher Reibungen, Nadolny überging, der immerhin der zuständige Referats- leiter war. Rosenberg zog den Kollegen, als dieser später noch zur passiven Teil- nahme an den Friedensverhandlungen eingeladen wurde, trotzdem zu Rate. Kühlmann machte Rosenberg als speziellen »Kenner des gesamten Orientre- ferates« zu seinem »Vertrauensmann im Auswärtigen Amt.« Er brauchte einen sach- und detailkundigen Zuarbeiter, weil er – anders als ein Johannes Kriege – keine besondere Vorliebe für ausgedehnte Aktenstudien entwickelte.67 Das zwischen den beiden entstandene Vertrauensverhältnis wird durch ein lan- ges Leumundszeugnis dokumentiert, das Rosenberg dem wegen seines an- geblich liederlichen Lebenswandels im April 1918 von nationalistischen Blät- tern angegriffenen Vorgesetzten zur Entlastung ausstellte. Die Kampagne war inszeniert worden, um dem Staatssekretär süddeutscher Herkunft mit politisch

65 Die Note (von Rosenberg redigierter Entw. im NlR), gedruckt bei Schulthess, NF 33 (1917/I), S. 78–80; FRUS 87, Supplement 1, S. 97–100 (englisch); Druck der Address v. 22. bzw. 15. Ja- nuar 1917: Ebd., S. 24–29; vgl. Oppelland, S. 237; Bernstorffs Bericht an das AA v. 17. Januar 1917. Schulthess, 32 (1916/II), S. 623 f. 66 Rosenberg an Rhomberg, Wien 10. Juni 1920. NlR. Katz, S. 358, 354–369 behauptet ohne je- den Beleg, Kemnitz’ Vorschlag sei von Zimmermann begeistert aufgegriffen und vom Kai- ser erwartet worden. 67 Zu seinen engeren Beratern zählte Kühlmann, S. 521 f., 580, außerdem Diego von Bergen, Leopold von Hoesch, Paul von Koerner und den »gewissenhaften und trefflichen Baron von dem Bussche.« Siehe auch unten Rosenberg, Erinnerungen, S. 276 f.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 28 Karriere im Kaiserreich liberaler Tendenz, dem Befürworter eines Verständigungsfriedens, politisch zu schaden.68 Rosenberg sandte sofort nach seinem Eintreffen bei Oberost ab 22. November 1917 im Tagestakt, meist auch öfter, eine Serie von Telegrammen über die dra- matisch sich verändernden Zustände an der Ostfront nach Berlin, von wo ihm meist der Unterstaatssekretär Bussche antwortete.69 Auf der Linie Dünaburg- Baranowitschi-Pinsk schritten russische Einheiten, von der Divisionsebene bis zum Armeekorps, eigenmächtig zur Vereinbarung örtlicher Waffenruhen, nachdem Vladimir Il'ič Lenin den ihm widerstrebenden Oberbefehlshaber Nikolaj Nikolaevič Duchonin durch den General Nikolaj Vasil'evič Krylenko ersetzt hatte;70 weitere Amtsenthebungen folgten. Die Lage wurde sehr unüber- sichtlich. Die Befehlsstruktur der russischen Armeen befand sich in Auflösung, während sich überall Soldatenräte bildeten. Kerenski-Anhänger und sonstige innere Gegner der Bolschewiki übten passiven Widerstand gegen eine Waffen- ruhe. Würden sich die »Maximalisten« um Lenin halten und überhaupt im- stande sein, Verträge zur Beendigung des Krieges abzuschließen? Auch musste Lev Davidovič Trockij sich mit den Protesten auseinandersetzen, die die Ver- bündeten im russischen Hauptquartier gegen einen »Sonderwaffenstillstand« Russlands vorbrachten. Eine Ausnahme bildete der der US-Militärattaché, Ge- neral William Judson: Beeindruckt von Trockijs Absicht der »öffentlichen Be- handlung aller bevorstehenden Verhandlungen«, wollte er an seinem Botschaf- ter David Francis vorbei »die Macht des Rates« anerkennen.71 Schließlich erhob der sofort nach Brest angereiste diplomatische Vertreter Österreich-Ungarns, Kajetan Mérey, energisch Anspruch auf Teilnahme an den Verhandlungen, was umso plausibler schien, als die Sowjets, aus Propagandazwecken zur Beeinflus- sung ihrer Soldaten, ihrer Bevölkerung sowie der außerrussischen Welt, sogleich einen allgemeinen, demokratischen, von allen kriegführenden Völkern abzu- schließenden Frieden vorschlugen. Um den schwer berechenbaren k.u.k. Ver- bündeten vorläufig aus dem Geschäft zu halten und zunächst das Teilziel eines Waffenstillstands mit Russland zu erreichen, verfielen der Vertreter des Großen Hauptquartiers, Generalmajor Max Hoffmann, und Rosenberg auf den Aus- weg, die Waffenstillstandsverhandlungen als rein militärisch zu deklarieren und

68 Vgl. Kühlmann, S. 563–565; hier unkritisch Nadolny, S. 108; Bußmann, Kühlmann, S. 123– 125, 136–141, 152. 69 Entziffert verwahrt in den Handakten v. Rosenberg. PAAA, R 22842/1–2. Rosenberg wur- den auf Antrag sogleich ein neuer Chiffreur und als Hilfe der Legationssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow zugeteilt. 70 Tel. Nr. 1 Rosenberg an das AA, Brest-Litowsk 22. November 1917 11.20 Nm. PAAA, R 22842/1, S. 1. Vgl. den Funkspruch Lenins vom 28. November 1917 an alle kriegführen- den Mächte. Baumgart, Ostpolitik, S. 15. 71 Tel. Nr. 28 Rosenberg an das AA, Brest-Litowsk 3. Dezember 1917. PAAA, R 22842/1, S. 48; vgl. Rosenberg an das AA, Brest-Litowsk 24. November 1917; Francis an US-Außenminis- ter Lansing, Petrograd 2. Dezember 1917; ders. an Francis, Washington 6. Dezember 1918. FRUS 1918, Russia I, S. 282 f., 289 f.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360767 — ISBN E-Book: 9783647360768 Mitarbeit an den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk und Bukarest 29

Rosenberg offiziell aufgrund seines unteren Offiziersranges – Rittmeister der Reserve – beizuziehen.72 Die OHL konnte damit nur einverstanden sein. Auch der Staatssekretär in Berlin stimmte zu und erreichte durch seine Intervention in Wien, dass der Botschafter und Sektionschef Mérey, ein sehr bewährter Dip- lomat, angewiesen wurde, sich bis zum Beginn der Friedensverhandlungen zu- rückzuhalten, weil der Geheime Legationsrat von Rosenberg in der Hofburg nicht als ein »diplomatischer Beamter von hohem Rang« galt, der die Entsen- dung eines k.u.k. Äquivalents erfordert hätte.73 Dabei war Rosenberg Berufs- diplomat wie Mérey und wie der diesem beigeordnete Sektionsrat Egon Berger Edler von Waldenegg, der auch nur Reserveoffizier (Major im Generalstab) war. Die Konzentration auf das Machbare führte zum Erfolg. Die russische De- legation überschritt am 2. Dezember um 4.30 nachmittags die deutschen Li- nien. Sie trat »ruhig zurückhaltend, nicht unfreundlich« auf und wurde am Morgen des nächsten Tages sogleich zum gemeinsamen Frühstück mit dem Stab Oberost eingeladen. Sie bestand aus 28 Mitgliedern einschließlich des »Unterpersonals.«74 In der Delegation herrschte Spannung zwischen den Bau- ern- und Soldatenräten und den nun zurückgesetzten, aus der Armee kom- menden »militärischen Sachverständigen« bzw. »Bevollmächtigten.« Der zu der zweiten Gruppe gehörende General Vladimir Evstaf'evič Skalon, »ein ele- ganter Offizier mit guten Formen Anfang der Vierziger«, erschoss sich mit dem Revolver in seinem Schlafzimmer, »ein menschlich ergreifender Vorfall.«75 Er wurde mit allen militärischen Ehren zum Bahnhof übergeführt. Rosenberg er- reichte zuerst sehr rasch eine Vorverständigung mit den k.u.k. und den bul- garischen Vertretern (Pëtr Gančev) über den deutschen Waffenstillstandsent- wurf. Die von der OHL erhobene Forderung nach der Einbeziehung Rumäniens hätte den schnellen Abschluss des Waffenstillstandsvertrages unmöglich ge- macht; Kühlmann ging darauf nicht ein.76 Rosenberg und Hoffmann stimmten der von den Russen geforderten unüblichen und zeitraubenden, auf Außen- wirkung berechneten Verlesung der Sitzungsprotokolle zu und erkannten darin

72 Rosenberg an das AA, Brest-Litowsk 30. November 1917. PAAA, R 22842/1, S. 24. So nahm er an den Verhandlungen in Offiziersuniform teil (Foto im NlR). Die militärische Priorität legte dann die Denkschrift der Reichskanzlei (vom 4. Dezember 1917) fest. Hahlweg, Nr. 25, S. 53. 73 Tel. Nr. 2 Grünau an Rosenberg, Großes Hauptquartier 5. Dezember 1917. PAAA, R 22842/1, S. 81. Rosenberg hatte am 22. Dezember 1916 den Charakter als Geh. Legationsrat erhalten. Vgl. zu Berger-Waldenegg (1880–1960) Agstner/Enderle-Burcel/Follner, S. 125–127. 74 Tel. Nr. 24 Rosenberg an das AA, Brest-Litowsk 2. Dezember 1917. PAAA, R 22842/1, S. 40; vgl. Hahlweg, Nr. 19, S. 37. Die fünf Verhandlungsdelegationen sind namentlich aufgelistet im Protokoll der 1. Sitzung vom 3. Dezember 1917 4.00 Nm. PAAA, R 22841; allein 18 russi- sche Delegierte nahmen an dieser Sitzung teil. 75 Tel. Nr. 66 Rosenberg an das AA, Brest-Litowsk 12. Dezember 1917. PAAA, R 22842/2, S. 45. Vgl. Hahlweg, Nr. 54, S. 95 f. 76 Vgl. Tel. Nr. 26 Rosenberg an das AA, Aus dem Felde 2. Dezember 1917. PAAA, R 22842/1, S. 45–46 und Tel. Nr. 1760 Lersner an das AA, Großes Hauptquartier 28. November 1917. PAAA, R 22842/1, S. 28; der Entwurf General Ludendorffs für einen Waffenstillstand vom 11. November 1917 bei Hahlweg, Nr. 3, S. 19–21.

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