BRIGITTE GIESBERT | BEATE GOETZ | DR. JOSEFARBEITSKREIS GÖTTEN JÜDISCHES BINGEN JUDEN IN BINGEN Beiträge zu ihrer Geschichte

ARBEITSKREIS JÜDISCHES BINGEN BAND 1

Bär, Mathilde | Bermann, Felix | Bermann, Delphine | Boll, Theodor Deportiert in den Tod | Boll, Johanette | Brück, Lilli | Eis, Leopold | Eis, Hedwig | Epstein, Alice | Feist, Thekla | Feist, Mathilde | Fernbach, Max | Fernbach, Alice | Freundlich, Siegfried | Freundlich, Karola | Friedmann, David | Friedmann, Jenny | Groß, Ernst | Groß, Selma | Heimann, Johanna | Herz, Hermann | Herz, Selma | Kahn, Else | Kahn, Max | Kahn, Rosa | Kahn, Dr. Julius | Levi, Willi | Levi, Emma | Marx, Kahn, Samuel | Kahn, Lina | Kahn, Klara | Keller, Karl | Keller, Eva | Keller, Ruth | KoppeI, Karl | Koppel, Hertha | Koppel, Kurt | Deportiert in den Tod Arthur | Marx, Irma | Marx, Gisela | Marx, Doris | Marx, Josefine | Marx, Arthur | Mayer, Fanny | Mayer, Rudolf | Mayer, Max | Mayer, Ella | Müller, Ludwig | Müller, Klara | Müller, Friedrich | Müller, Ruth | Münzner, Ludwig | Rosenstock, Adolf | Rosenstock, Selma | Ro- senstock, Herbert | Rosenthal, Emanuel | Rosenthal, Alice | Seligmann, Änne | Simon, Ed- mund | Simon, Meta | Sommer, Salli | Sommer, Ida | Deportiert in den Tod Sommer, Erwin | Sommer, Heinz | Steinberg, Paula | Stern, Walter | Weinthal, Wilhelm | Weinthal, Rosa | Weinthal, Martha | Wolf , Ernst | Wolf, Marianne | Wolf, Marion | Wolf, Eugen | Wolf, Gertrude | Wolf, Marie | Wolf, Martin | Baehr, Sybille | Berg, Simon | Bermann, Amalie | Durlacher, Mathilde | Feist, Paul | Feist, Eula | Feist, Siegfried | Feist, Klara | Goldschmidt, David | Goldschmidt, Karoline | Groß, Karl | Groß, Agnes | Hallgarten, Julius | Hirschber- ger, Siegmund | Hirschberger, Berta | Kahn, Moritz | Kahn, Max | Kahn, Mathilde | Kahn, Selma | Kaufmann, Johanette | Lazarus, August | Lazarus, Emma | Levy, Julie | Mandel, Eugen | Mandel, Paula | Marcus, Rosa | Marcus, Hugo | Marcus, Emma | Marcus, Adele | Marx, Amalie | Marx, Antonie | Marx, Franziska | Moos , Moritz | Moos, Rosa | Münzer, Sophie | Nathan, Hugo | Nathan, Eugenie | Nathan, Julius | Nathan, Luise | Nathan, Moritz | Nathan, Rosalie | Nathan, Klara | Deportiert in den Tod Rosam, Juliane | Rosenbaum, Ka- tharina | Rosenbaum, Klara | Rosenthal, Flora | Seligmann, Isidor | Seligmann, Ella | Selig- mann, Ludwig | Simon, Ferdinand | Simon, Berta | Simon, Pauline | Schmalz, Rosa | Stern, August | Stern, Paula | Stern, Julius | Stern, Selma | Strauß, Siegmund | Willstätter, Jakob | Willstätter, Blondine | Wolf, Adolf | Wolf, Klara | Wolf, Fanny | Wolf, Isidor | Wolf, Sofie | Wolf, Leonhard | Wolf, Selma | Wolf, Ida | Kleeblatt, Emilie | Löb, Bernhard | Löb, Helene | Löwenthal, Paula | Marcus, Henny | Seligmann, Rosa | Deportiert in den Tod BRIGITTE GIESBERT | BEATE GOETZ | DR. JOSEF GÖTTEN JUDEN IN BINGEN Beiträge zu ihrer Geschichte

IMPRESSUM

Herausgeber: Arbeitskreis Jüdisches Bingen ARBEITSKREIS JÜDISCHES BINGEN BAND 1 In der Eisel 23 55411 Bingen www.juedisches–bingen.de Erstauflage Bingen 2015

Kontaktadresse: Hermann-Josef Gundlach Vorsitzender des Arbeitskreises In der Eisel 23 55411 Bingen

Autoren: Brigitte Giesbert Beate Goetz Dr. Josef Götten

Gestaltung: Petra Louis

Bildnachweis: Archiv Arbeitskreis Jüdisches Bingen

Drucktechnische Herstellung: Verlag Matthias Ess Der 1998 gegründete „Arbeitskreis Jüdisches Bingen“ gibt entsprechend seiner Zielsetzung der „Aufrechterhaltung der Erinnerung an die Juden in ISBN: Bingen und Umgebung“ in unregelmäßigen Abständen Dokumentationen 978-3-945676-11-0 zu ihrer Geschichte, ihrem Leben und ihren Schicksalen heraus. 2 Inhalt Geleitwort 3

INHALTSVERZEICHNIS GELEITWORT

In der Reihe unserer Publikationen hat dieser Band besondere Bedeutung. Darin kommen drei Personen Geleitwort 3 zu Wort, die ich besonders herausstellen möchte.

Einleitung 4 Sie haben unseren Arbeitskreis gegründet und durch ihr Wirken dazu beigetragen, dass das jüdi- Die Gründungsphase des Arbeitskreises Jüdisches Bingen 8 sche Erbe in Bingen nicht in Vergessenheit gerät.

Jüdisches Bingen 12 ES GEHT UM

Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen 30

Ein Haus des Segens und des Friedens 36

Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 42

Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit 60 Brigitte Giesbert, Beate Goetz, Dr. Josef Götten, die Initiatorin des viele Jahre stellvertretende langjähriger Vorsitzender Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs 68 Arbeitskreises Vorsitzende und jetzt mit Recht Jüdisches Bingen Ehrenvorsitzender des Arbeitskreises Epilog 74 Jüdisches Bingen

Mit ihrer grundlegenden Arbeit haben sie mehr Licht in das Dunkel der Publikationen 80 Geschichte der Binger Juden gebracht. In diesem Band finden sie Beiträge über die Binger Synagoge, über den Binger Judenfriedhof und über das Entstehen des Arbeitskreises.

Der Arbeitskreis Jüdisches Bingen will die Geschichte der Binger Juden durch seine Veröffentlichungen nicht nur bekannt, sondern auch lebendig machen. Dabei achten wir darauf, dass die Geschichte nicht auf die Nazi- zeit reduziert, sondern in Gänze behandelt wird.

Ich hoffe, dass auch dieses Buch seine interessierten Leser finden wird.

Hermann-Josef Gundlach Vorsitzender Arbeitskreis Jüdisches Bingen 4 Einleitung Einleitung 5

Waldstraße, war noch für die Menschen, die mittlerweile den gelben Stern Einleitung tragen mussten, geöffnet. Die Dame erzählte, wie sich ein gebrechliches, altes Ehepaar Tag für Tag die Schlossbergstraße hochquälte, um ein paar spärliche Einkäufe zu erledigen. Eines Tages waren sie nicht mehr da. Die DIE ERINNERUNG IST DAS FUNDAMENT FÜR UNSER Bingerin hatte Tränen in den Augen, als sie sich mehr als drei Jahrzehnte ZUSAMMENLEBEN später daran erinnerte – Tränen des Mitleids, vielleicht auch Tränen der Scham. VON DR. PETER FREY* Erinnerungsarbeit ist notwendig, nicht nur als Zeichen von Versöhnung, Ich bin 1957 geboren, 21 Jahre nachdem sondern um uns selbst willen. Darum danke ich den Frauen und Männern, die prachtvolle Synagoge in der Rochus- die die Erinnerung an das, was auch in unserer Stadt geschehen ist, wach straße in Flammen aufging. In meinen Er- rufen und wach halten, auch wenn die Kräfte der Verdrängung und des innerungen spielt die bis in die 60er Jahre Widerstands in Bingen, wie überall in Deutschland, sehr groß gewesen sichtbare Ruine dieses Gotteshauses keine sind. Bei der Erinnerungsarbeit geht es nicht nur um unsere Vergangen- Rolle. Aber ich erinnere mich an meine heit, es geht um das Fundament, auf das wir unsere Gegenwart bauen. Tante, die mir als Kind erzählt hat, wie sie Gerade jetzt, bei der Integration von Migranten, beim Umgang mit Flücht- als Zehnjährige auf dem Weg zur Hildegar- lingen, bei der Anerkennung anderer Religionen und Lebensstile stehen disschule im November 1938 an den rau- wir wieder vor der Frage, was Toleranz, was Solidarität für unser prakti- chenden Trümmern der Synagoge vorbei- sches Zusammenleben eigentlich bedeuten. ging. Der „Arbeitskreis Jüdisches Bingen“ wurde sicher oft als Stachel im Fleisch Als nach dem Zweiten Weltkrieg geborener Binger ist es nicht einfach, empfunden. Der Verein hat ein Schweigegebot gebrochen, das in Bingen über den Umgang mit der Vergangenheit der Heimatstadt zu reden. Man herrschte – aus Schuldbewusstsein, Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit. kann leicht selbstgerecht werden, versuchte man über die Generation von Eltern und Großeltern zu urteilen, ohne selbst die Zeit des Nationalsozia- Die Frage nach Opfern und Tätern ist auch in Bingen auf engem Raum zu lismus erlebt zu haben, die Zerstörung der Stadt, den Wiederaufbau. Aber beantworten. Je konkreter eine Wahrheit ist, desto schmerzlicher. Dass woran ich mich genau erinnern kann: im Bingen meiner Schulzeit (Abitur viele gesehen haben mussten, was mit den Binger Juden geschehen ist, mit 1976) wurde über Nationalsozialismus und Judentum nicht gesprochen. ihren ehemaligen Nachbarn, machten spätestens drei Fotographien deut- Die Weimarer Republik, Hitler, der Krieg, das wurde behandelt – und ich lich, die Günter Kühn im Februar 2008 aus dem Nachlass seines Vaters, hatte mit Dr. Groß einen besonderen Geschichts- und Deutschlehrer – aber des Binger Fotografen Karl Kühn (1887–1963), dem Arbeitskreis Jüdisches die Frage, wie war das eigentlich bei uns in Bingen, die war tabu. Bingen überließ. Aus Anlass einer Feierstunde zum 70. Jahrestag des No- vemberpogroms von 1938 im Kulturzentrum wurden diese wichtigen Zeit- Als ich anfing, ein Journalist zu werden, habe ich mich einmal als Repor- dokumente der Öffentlichkeit zum ersten Mal zugänglich gemacht. Sie ter versucht und Menschen in Bingen nach ihrer Erinnerung befragt. Eine zeigen eine Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten am Bahnübergang Aussage habe ich nicht vergessen. Eine Zeitzeugin erinnerte sich, dass an der Stadthalle, sie ist auf dem Weg zu den Lastwagen, die die letzten auch in Bingen Juden nicht mehr in allen Geschäften einkaufen durften. Binger Juden zu den Deportationszügen brachten. Auch ein Foto vom Nur eine kleine Bäckerei, wenn ich mich recht erinnere am Anfang der Verladen der Menschen auf diese LKW liegt vor. Es geschah am hellichten Tag. * Peter Frey ist seit 2010 Chefredakteur des ZDF 6 Einleitung Einleitung 7

Aber viele Fragen sind noch offen: was ist aus Kultgegenständen der Sy- nagoge geworden? Was haben die Binger Kirchengemeinden in jener Zeit getan und unterlassen? Binger Sportvereine, Chöre oder die Feuerwehr sollten herausfinden, wie lange Juden bei ihnen Mitglied sein durften und was aus ihren Kameraden geworden ist. Wäre es nicht gut zu wissen, wer versucht hat, den Juden noch beizustehen? Und einen Platz für ehrendes Gedenken solcher Mit-Menschen zu finden?

Die Erinnerung hängt heute an uns. Erinnerung ist keine Last, sondern Befreiung und das Fundament nicht nur für einen Neuanfang, sondern für ein zivilisiertes Zusammenleben.

Die Binger Juden, sie fehlen uns. Nur wer sich dem Schmerz stellt, kann ihn überwinden. Wir können die Menschen, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht zurückholen. Aber wir können Zeugnis ablegen und die Leere füllen, durch bewusste Erinnerungsarbeit, durch Wissen-Wollen. Dazu leistet dieses kleine Büchlein einen wichtigen Beitrag. 8 Die Gründungsphase des Arbeitskreises Jüdisches Bingen Die Gründungsphase des Arbeitskreises Jüdisches Bingen 9

– Verbesserung der Akzeptanz der jährlichen Gedenkfeier an der Synagoge Die Gründungsphase des – Zusammenarbeit mit den Pfarrgemeinden – Einbindung der Kinder und Jugendlichen in die Gedenkarbeit Arbeitskreises Jüdisches Bingen – Stadtrundgänge auf den Spuren der Jüdischen Gemeinde – Veröffentlichung unserer Absichten in der Presse VON BRIGITTE GIESBERT – Sicherung von evtl. vorhandenen Dokumenten und Relikten aus der jüdischen Geschichte Bingens

Eine Aktivgruppe mit Frank Esch, Pater Dr. Josef Krasenbrink, Gabriele „Ein edler Stein sei sein Baldachin …“ Schleicher, Jochen Tullius, Carl Woog und mir, der sich später Dr. Josef Jüdische Friedhöfe in Rheinland-Pfalz Götten und Beate Goetz anschließen, soll den Aufbau der Gemeinschaft entwickeln, zusammen mit allen, denen diese Arbeit am Herzen liegt.

Diese umfangreiche Ausstellung, nach vierjähriger Forschungs- und Do- Fünf Zusammenkünfte und fünf Protokolle später ist klar und eindeutig kumentationsarbeit am 15. April 1996 im Haus am Dom in und am ausdiskutiert und festgelegt, dass sich ein zu gründender Verein vornehm- 25. September 1996 im Stefan-George-Haus in Bingen eröffnet, gab den lich mit der Geschichte der Binger Juden befassen und die Kontakte zu Anstoß zur Gründung des Arbeitskreises Jüdisches Bingen. ehemaligen jüdischen Bürgern weiter pflegen und erweitern soll. Grund- lage dieser Zielsetzung ist der Wille, die Last der Geschichte anzunehmen, Im Begleitband wurden die „besonders zeitaufwendige Aufnahme des Bin- Unrecht zu benennen und nachkommende Generationen einzubinden. ger Friedhofs durch den Hebraisten Dan Bondy und die Judaistin Martina Strehlen“ sowie das Engagement der Stadt Bingen ausdrücklich gewür- Bereits im Juli 1997 beginnt Beate Goetz mit dem bei den Adressaten hoch digt. willkommenen Briefwechsel, der bisher von Oberbürgermeister Erich Nau- jack vorbildlich betreut wurde. Sehr positive Rückmeldungen kommen aus Angeregt durch zahlreiche Begegnungen und Gespräche im Rahmen die- USA, Schweiz, Schweden, Israel, England, Namibia, Chile und Mexiko. ser Aufgabenstellung schien es mir als damaliger Kulturdezernentin an der Zeit, in unserer Stadt zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft aufzurufen, Aus diesen von Beate Goetz stetig auch mit den Nachkommen erweiterten die sich „der Geschichte der Binger jüdischen Gemeinde, Kontakten mit Verbindungen entsteht das „Wiedersehen mit Bingen“, das vom 02. bis 08. Israel und mit ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern widmen Juni 1999 15 ehemalige jüdische Bingerinnen und Binger, begleitet von könnte“ – so der Text einer ausgelegten Liste. 13 Angehörigen, in die Stadt ihrer Kindheit führte.

Bis zum Abschluss der überaus gut besuchten Ausstellung am 20. Oktober Und am 09. November 1997 wird in Bingerbrück eine Gedenktafel einge- 1996 hatten 41 namhafte Binger schriftlich ihr Interesse kund getan und weiht, zur Erinnerung an das in Piaski/Polen ermordete Ehepaar Selma ihre Mitarbeit zugesichert – ein ermutigendes Zeichen. und Hermann Herz sowie an die 1942 mit ungewissem Schicksaal depor- tierten Ruth, Friedrich, Clara und Ludwig Müller – initiiert vom Förder- Zum ersten Treffen am 14. Januar 1997 erschienen 26 Personen, 13 hatten verein zur Heimatpflege und Heimatkunde Bingerbrück, unter Leitung von sich entschuldigt. Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass es nach dem Bei- Carl Woog. spiel vieler deutsch-israelischer Freundeskreise in deutschen Städten zu- nächst mehr um Beziehungen zu Israel ging. Doch nach regem Gedanken- Daran ist die schon in der Gründungsphase zielorientierte Arbeit der ak- austausch fasst die Niederschrift folgende konkrete Aufgaben zusammen: tiven Mitglieder zu erkennen. 10 Die Gründungsphase des Arbeitskreises Jüdisches Bingen Die Gründungsphase des Arbeitskreises Jüdisches Bingen 11

Am 29. April 1998 findet die Gründungsversammlung statt. Dazu hatte Mit 20 eingetragenen Mitgliedern hat der Arbeitskreis Jüdisches Bingen die Aktivgruppe empfohlen, begonnen, im Januar 1999 waren es 32, und als Dr. Götten am 24.11.2010 sein Amt als Vorsitzender niederlegte, zählte der Verein 52 Mitglieder. – unsere Vereinigung „Arbeitskreis Jüdisches Bingen“ zu nennen, – Vereinsstatus anzustreben und Seitdem ist Hermann-Josef Gundlach unser rühriger Vorsitzender; er – einen Vorstand zu wählen. schlug die Brücke zur jüngeren Generation, so dass inzwischen 84 Mit- glieder die Ziele des Vereins mittragen. Das Leitwort „Erinnern – Gedenken Dem wird in allen Punkten entsprochen. – Verbinden“ ist die Klammer zu den schrecklichen Geschehnissen, die Anlass zur Gründung unserer Vereinigung gaben. Dankbar bin ich vor allem unserem Gründungs-Vorsitzenden Dr. Josef Götten für seine Bereitschaft, die entstandene Gemeinschaft zu prägen, zu In den 17 Jahren seines Bestehens ist der Arbeitskreis Jüdisches Bingen lenken, zu leiten. Er hat dies kraft seiner Begeisterung, seiner philosophi- seinen Intentionen treu geblieben. Dafür danke ich allen Mitgliedern, die schen, religionswissenschaftlichen und pädagogischen Kompetenz in her- mir in der so erfreulich gewachsenen Gemeinschaft lieb und wert gewor- vorragender Weise geleistet. den sind.

In den weiteren Gründungsvorstand werden gewählt: Möge uns eine gute Zukunft beschieden sein.

Beate Goetz, Stellvertreterin, Carl Woog, Schriftführer, Frank Esch, Schatzmeister sowie Clemens Hahn, Gabriele Schleicher, Matthias Steidl, Brigitte Giesbert als Beisitzende.

Viele Rat und Beistand gebende Persönlichkeiten der Gründungsjahre wei- len nicht mehr unter den Lebenden. Voll Respekt und in herzlichem Ge- denken erinnere ich an

Peter Schönfeld (+ 2004), Hans Natt (+ 2004), Ingrid Herberg (+ 2006), Amelie Kohl (+ 2007), Pater Dr. Josef Krasenbrink (+ 2008), Jochen Tullius, (+2009), Gabriele Schleicher (+ 2010), Luise Natt (+ 2013), Franz Toth (+ 2015) Bernhard Früh (+ 2015).

„Es soll das Andenken an sie gesegnet sein.“ 12 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 13

Es war jene Synagoge in der Rochusstraße, die am 21. September 1905 Jüdisches Bingen unter großer Anteilnahme der Binger Bevölkerung feierlich eingeweiht worden war. Sie stand auf dem Terrain des ehemaligen Feist‘schen Wein- VON BEATE GOETZ 1) gartens, das die jüdische Gemeinde für 40000 Reichsmark erworben hatte. Man hatte sich zu diesem Neubau entschlossen, da das bisherige Gottes- haus in der Rheinstraße 2 „den Anforderungen der Zeit an eine würdige VON DER EINWEIHUNG DER SYNAGOGE IN DER Kultusstätte in keiner Weise mehr entsprach, sich an den Feiertagen als zu ROCHUSSTRASSE BIS ZUR BRUTALEN ZERSTÖRUNG klein erwies, der Jugend überhaupt keinen Raum bot und die Benützung der Orgelempore von bautechnischer Seite als bedenklich bezeichnet wur- Marian Bonem, als Marianne Nathan in Bingen am Rhein geboren, heute de“, so Rabbiner Dr. Richard Grünfeld in der Festschrift zur Einweihung. in den USA lebend, erinnert sich an den 10. November 1938: „Am Tag vor Die Arbeitsaufträge waren zum großen Teil an ortsansässige Unternehmen der Kristallnacht ahnten die Nonnen an der katholischen Schule, die wir und Handwerker vergeben worden, die nach den Plänen des Karlsruher besuchten, dass etwas Schlimmes auf die Juden zukommen würde. Sie Baurates Levy einen stattlichen, an die Romanik anklingenden Synago- nahmen die ganze Klasse mit zu einem Picknick in einem großen Garten genbau mit integrierten Verwaltungsräumen, Beamtenwohnungen und ei- jenseits des Rheins.“ (Anmerkung: Binger Klassenkameradinnen sagen, es nem Schulbereich erstellten. Im giebel- und turmgekrönten Mittelbau, der sei Rümmelsheim, also jenseits der Nahe gewesen.) „Wir erinnern uns, dass von zwei leicht vorspringenden Treppenhäusern flankiert war, lagen die wir, als wir zurückkamen, Flammen und Qualm sahen, die von einem gro- Hauptzugänge, über denen zwei steinerne Löwen die in Stein gehauenen ßen Feuer ausgingen, von unserer Synagoge, wie wir später erfuhren.“ Gesetzestafeln beschützten. Der zweistöckige Hauptraum bot im Erdge- schoß Platz für 218 Männer und auf der Empore für 171 Frauen. Als Ge- schenk zur Einweihung hatte die Verwaltung der Stadt Bingen der jüdi- schen Gemeinde 6000 Reichsmark zur Anschaffung einer Orgel bewilligt. Rabbiner Grünfeld beschließt seine Beschreibung mit dem Wunsch: „Möge die neue Synagoge in der Rochusstraße für die Gemeinde werden: ein Haus des Segens und des Friedens, der Andacht und der Erhebung, eine Quelle der Belehrung und des Trostes, eine Pflanzstätte des lautersten Patriotis- mus und echter, unverfälschter Menschenliebe.“ Vor allem der letzte Teil des Segenswunsches ist ein Hinweis auf den hohen Integrationsgrad vieler deutscher Juden Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere dieser Binger Gemeinde.

Welchen Stellenwert die Synagoge gerade in den bedrückenden Jahren des Nationalsozialismus für die Gemeinde hatte, belegen Auszüge aus dem Briefwechsel des „Arbeitskreises Jüdisches Bingen“ mit ehemaligen jüdi- schen Bingern. Hilda Berger geborene Kahn (1915–2003), die im August 1938 Bingen verließ, erinnert sich: „Um meine Jugend mehr zu beschrei- ben, kann ich nur sagen, dass die Synagoge in den späteren Jahren der

Die Synagoge in der Rochusstraße wurde am 21. September 1905 eingeweiht. Mittelpunkt unseres Lebens war. Alle meine freie Zeit wurde dort ver- Eine Plakette an der zum Teil erhaltenen Frontseite erinnert an die Zerstörung. bracht. Wir hatten Vorträge, außerdem gehörte ich zum Synagogenchor Bild: Aus der Festschrift von 1905 unter der Leitung von Musikdirektor Knettel. Er hatte auch den Cäcilien- 14 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 15

verein unter sich. Da ich eine sehr gute Stimme hatte, bat er mich, in ei- im Hause. Vom Speicher bis zum Keller wurde alles kurz und klein ge- nigen seiner Konzerte in der Stadthalle mitzusingen, was ich gerne tat. Das schlagen, wir mit. So zog man meine Mutter an den Haaren aus dem Bett war natürlich vor 1933.“ und warf sie die Treppe hinunter. Anschließend kam der Mob ins Haus, und es wurde gestohlen, was nur möglich war.“ Marian Bonem berichtet weiter, dass man ihr nach der Rückkehr von be- sagtem Schulausflug zu verstehen gab, sie solle zu ihrer Großmutter ge- Es ist aus heutiger Sicht schwer zu verstehen, dass es angesichts der so hen. Der Vater, dem dringend geraten worden war, Deutschland zu verlas- verlaufenen Ereignisse, die von vielen Bürgern beobachtet werden konn- sen, war am Vortag zu einer Geschäftsreise nach Holland aufgebrochen. ten, am 11. November unwidersprochen auf der Binger Seite der Rhein- „Ich erinnere mich, dass ich solche Angst hatte an jenem Abend; wir spür- Nahe-Zeitung lauten konnte: „Diese Aktionen waren trotz der verständli- ten, dass wir in Gefahr waren. Spät am Abend klopfte es an die Tür. Mei- chen Erregung der Bevölkerung durch äußerste Disziplin gekennzeichnet. ne Großmutter sagte: ‚Kommen Sie herein, meine Herren‘. Sie (die SA) Keinem Juden wurde ein Haar gekrümmt.“ winkten uns hinaus, gingen geradewegs auf den Geschirrschrank meiner Großmutter zu und warfen ihr ganzes Kristall auf den Boden und zerstör- ten alles.“ WIE AUS ANGESEHENEN BÜRGERN VERFOLGTE WURDEN

Gabriele de Steenhuijsen Piters, eine Binger Mitschülerin von Marian Bo- Wie konnte es zu diesen ungeheuerlichen Übergriffen in der „Reichspog- nem, schildert, wie bestürzt sie war, als sie am Nachmittag des 10. Novem- romnacht“ kommen? Hatten doch die deutschen Juden im 19. und begin- ber auf ihrem Heimweg erleben musste, dass man dabei war, das jüdische nenden 20. Jahrhundert bis zur Machtergreifung Hitlers ihren festen Platz Kaufhaus Münzner in der Kapuzinerstraße zu demolieren und zu plündern. in Staat und Gesellschaft. Sie waren auch in Bingen anerkannte Ärzte, Am ärgsten traf die damals Zwölfjährige aber, dass ein angesehener Mit- erfolgreiche Anwälte und wohlhabende Unternehmer und Kaufleute. bürger zu den uniformierten SA-Leuten gehörte, die als Wachtposten vor dem Kaufhaus Stellung bezogen hatten. Sie setzte ihren Weg nach Hause In Briefen ehemaliger Binger Juden kommt immer wieder zum Ausdruck, fort, durch die sich in Aufruhr befindende Stadt, vorbei an der Rochus- dass die Mitglieder der jüdischen Gemeinde bis 1933 regen Anteil am kul- straße, in der sich eine größere Anzahl Menschen um die brennende Syn- turellen Leben der Stadt sowie allen frohen und ernsten Ereignissen nah- agoge drängte. Weiter stadtauswärts in der Mainzer Straße hatte ein An- men. Binger Juden waren gern gesehene Mitglieder in Vereinen, gehörten streicher, der mit Arbeiten in einer jüdischen Villa beschäftigt war, ein den Freimaurern an, waren aktive Feuerwehrleute, fungierten als Kunst- Gebetstuch über die Balkonbrüstung gehängt und kleinere Gegenstände und Kulturmäzene und zeichneten sich durch Stiftungen zu wohltätigen des jüdischen Ehepaares aus dem Fenster geworfen. Zwecken aus. Die bedeutendste Stiftung, von der Stadtgemeinde verwal- tet, machte Samuel Friedberg 1876 zugunsten der Armen aller Bekennt- Andere ältere Binger berichten von ausgeleerten Reissäcken vor jüdischen nisse. Sigismund Fridbörig war lange Jahre Vorsitzender der jüdischen Lebensmittelgeschäften in der Innenstadt und von auf die Straßen gewor- Gemeinde und 1831 Mitglied des Stadtrats. Im Jahr 1898 wurde dem an- fenen Möbelstücken. gesehenen Binger Arzt Dr. Isaac Ebertsheim die Ehrenbürgerwürde verlie- hen. Ida Dehmel-Coblenz, die Gründerin der deutsch-österreichischen Jüdische Mitbürger, die trotz der bitteren Erfahrungen, die sie unter den Künstlerinnenvereinigung Gedok, war ebenfalls eine Binger Jüdin. Zu den Nationalsozialisten machen mussten, heute wieder in Deutschland leben, Opfern des Ersten Weltkrieges zählten auch 19 Mitglieder der Binger jü- leiden immer noch unter den traumatischen Erlebnissen, wie Hans Natt dischen Gemeinde, die als „Deutsche jüdischen Glaubens“ ihre Treue zum (1923–2004), der den 9. und 10. November 1938 in Langenlonsheim er- Vaterland mit dem Leben bezahlten. Im Jahr 1900 lebten 713 Juden in lebte: „So kam die Kristallnacht 1938, im Kontor meines Vaters wurde der Bingen, das waren 7,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, 1933 waren es Fensterladen hochgeschoben, Scheiben eingeschlagen, und die Meute war noch 471 und 1939 nur noch 222 Einwohner jüdischen Glaubens. 16 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 17

Mit Beginn des nationalsozialistischen Regimes und seiner fanatischen Rassenpolitik wurden die Lebensbedingungen für die Juden schwieriger, der Bewegungsspielraum immer mehr eingeschränkt. Es kam zur Aus- schaltung der Juden aus dem kulturellen Leben, was bedeutete, dass jüdi- sche Künstler nicht mehr öffentlich auftreten durften, Werke jüdischer Autoren und Komponisten sowie die jüdische Presse verboten wurden.

Die „Nürnberger Gesetze“ vom 15. September 1935 boten die Grundlage für alle künftigen antijüdischen Gesetze und Verordnungen. Das „Reichs- bürgergesetz“ machte den Juden zum Reichsangehörigen im Gegensatz zum nichtjüdischen Reichsbürger mit der Konsequenz, dass nur der Reichs- bürger die vollen politischen Rechte besaß. In diesem Zusammenhang wurde auch genau definiert, was der Nationalsozialismus unter dem Be- griff „Jude“ verstand. Das zweite Rassengesetz, das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, verbot unter Strafe die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden.

Hatte schon sehr früh die allmähliche Ausschaltung der Juden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens begonnen, so wollte man auf den enor- men Beitrag der jüdischen Geschäftsleute zur deutschen Wirtschaft vorerst noch nicht verzichten, weshalb sich viele Kaufleute noch lange in Sicher- heit wähnten. 1937 setzte die zwangsweise Arisierung jüdischer Unterneh- men verstärkt ein, was bedeutete, dass jüdisches Eigentum oft weit unter dem tatsächlichen Preis den Besitzer wechselte. Im Frühsommer 1938 folgte eine Verordnung, die die Juden zwang, ihr Vermögen, wenn es 5000 Reichsmark überschritt, anzuzeigen; jüdische Gewerbebetriebe mussten angemeldet und als solche gekennzeichnet werden. Im Juli und September wurden den jüdischen Ärzten die Approbation und den jüdischen Anwäl- ten die Zulassung ihrer Kanzleien entzogen. Die Synagoge in der Rochusstraße war der Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Bingen. Das Foto zeigt den Thoraschrein und die dahinter liegende Orgelempore mit Blick in die Kuppel. Mitmenschliche Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden, bislang Nor- Foto: Ing. Karl Berrenberg (1903–1973), Haan. malität, wurden immer schwieriger oder fanden im Geheimen statt. Bei Juden durfte nicht mehr eingekauft werden, auch wurde 1936 die Rassen- Hans Natt teilte man nach erfolgreichem Abschluss der Quarta am Binger trennung in allgemeinen Schulen verordnet, was aber nicht überall kon- Gymnasium mit, dass hier kein Platz mehr für ihn sei; er wechselte zur sequent durchgeführt wurde. Lisa Japha geborene Gross (1921–2013), die Berlitz Schule nach Mainz und lernte Englisch und Spanisch. Auch zuvor das Lyzeum in der Rochusstraße, die staatliche Oberschule für Mäd- Schmarjahu (Siegfried) Marx (1918–2011), ein Gärtnerlehrling, verließ chen, besucht hatte, wechselte Ostern 1937 ins Philanthropin nach Frank- 1935 seine Familie und Bingen und ging nach Palästina, da ihm sein Lehr- furt, „da der Antisemitismus im Lyzeum zu groß wurde“. herr unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass es für seine wei- tere Ausbildung keinerlei Aussichten mehr gebe. 18 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 19

Die Tatsache, dass Marianne Nathan bis November 1938 mit noch zwei anderen jüdischen Mädchen die Quinta des „Institut St. Mariä“ (Vorgän- gerschule der heutigen Hildegardisschule) besuchen konnte, erklärt sich daraus, dass das Institut als private Schule der Maria Ward-Schwestern noch gewisse Privilegien genoss, bevor zu Ostern 1939 die Auflösung al- ler Privatschulen angeordnet wurde. Aber auch hier mussten bestimmte Rituale eingehalten werden, um peinlichen Untersuchungen durch die Na- tionalsozialisten zu entgehen. In der Schulchronik aus dieser Zeit heißt es:

„Flaggenhissung fand regelmäßig zu Beginn und Schluss eines Schulzeit- raumes statt. Reihenfolge: Die Direktorin oder ein Mitglied des Lehrkör- pers sprach kurz und brachte das „Heil“ auf Führer und Vaterland aus. Eine Schülerin sagte einen Spruch auf. Es folgte das Kommando „Heißt Flag- ge!“ oder „Holt Flagge!“. Alle grüßten mit erhobenem Arm. Deutschland- und Horst-Wessel-Lied, je die erste Strophe, mit erhobenem Arm.“ Schü- lerinnen, die wegen der regimekritischen Einstellung ihrer Familien den Hitlergruß nachlässig ausführten, wurden gerügt und auf mögliche Kon- sequenzen hingewiesen; es gab ja schließlich auch Töchter aus sehr lini- entreuen Elternhäusern am Institut, die solche Vorkommnisse unter Um- Das Foto von Günter Kleinz zeigt das Ausmaß der Zerstörung der Synagoge. ständen melden konnten. Es entstand kurz vor dem Abriss der Ruine Anfang der 1970er Jahre.

Die Stimmung in der Bevölkerung war beklemmend, und man war sehr Gedenkfeier zum 9. November 1923, dem Marsch auf die Feldherrnhalle, auf der Hut, was man wem anvertraute; man fürchtete die Denunzianten. am Abend in München hielt und in deren Verlauf die Nachricht vom Tod von Ernst vom Rath eintraf.

DAS ENDE DER BINGER SYNAGOGE/AUGENZEUGEN- UND Auch in Bingen hatte man sich an diesem Abend versammelt, wie die ZEITUNGSBERICHTE „Rhein-Nahe-Zeitung“ vom 10. November 1938 auf ihrer Binger Seite be- richtet: „Und wieder wie jedes Jahr prangte Bingen in flammendem Das war die Ausgangslage, als am 7. November 1938 die Nachricht durch Schmuck der stolzen Fahnen des Dritten Reiches, galt es doch die Männer die Weltpresse ging, dass am Vormittag Herschel Felber Grynszpan, ein zu ehren, die ihre Treue zu Führer und Vaterland mit ihrem Herzblut be- junger deutsch-polnischer Jude, den deutschen Legationsrat Ernst vom siegelten. Auf dem Marktplatz grüßten silbern von schwarzem Grund die Rath in der deutschen Botschaft in Paris angeschossen habe, der Zustand unvergänglichen Namen der Gefallenen vom 9. November 1923. Deutsche des Opfers sei so ernst, dass mit seinem Ableben gerechnet werden müsse. Jungen, wie Standbilder aus Stein, hielten die Totenwacht. Am Abend wa- Über die Hintergründe, die zu diesem Attentat führten, gibt es unterschied- ren alle Formationen, alle Gliederungen der Partei und fast ganz Bingen liche Auslegungen. Das nationalsozialistische Regime jedoch hatte endlich im großen Saal der Festhalle vereint, um derer zu gedenken, die für das einen willkommenen Anlass, die schon lange geplante totale Ausschal- große deutsche Vaterland ihr Leben ließen.“ tung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben radikal durchzufüh- ren. Letzter Anstoß zu den im ganzen Reich nach gleichem Muster ablau- Somit war auch in Bingen der Boden bereitet, dass es im Anschluss an fenden Pogromen war die feurige Hetzrede Göbbels, die dieser bei der diese Veranstaltung zu antijüdischen Demonstrationen in der Stadt kom- 20 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 21

men konnte. Ein Feuer, das noch in derselben Nacht in der Synagoge in chen, wohl um zu sehen, ob noch irgendwas vorhanden war. Ich befand der Rochusstraße gelegt worden war, konnte durch den Synagogendiener mich unter diesen paar Leutchen, die verängstigt die Tür aufmachten. Der gelöscht werden. Am Nachmittag des 10. November jedoch drangen SA- Eindruck war unbeschreiblich und ist mir bis zum heutigen Tag in ewiger Leute und fanatische Nazianhänger erneut in die Synagoge ein, verwüs- Erinnerung geblieben. In den Räumen, die durch die Umstände erzwungen teten die Inneneinrichtung, zerstörten die Orgel und schlugen am Portal zu unserem zweiten Heim geworden waren, waren nur noch verkohlte die Köpfe der steinernen Löwen ab. Dann wurde die Synagoge in Brand Wände, zerhackte Möbel und in Feuchtigkeit schwimmender Unrat und gesteckt, die Feuerwehr zwar alarmiert, aber sie verhinderte nur, dass das verkohlte Reste des einstigen Mobiliars. Wenn man den Blick erhob, sah Feuer auf die benachbarten Häuser übergriff. Die Synagoge brannte völlig man anstatt der früheren Kuppel den blanken Himmel. Wo wir an den Fei- aus. In der Innenstadt wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen ver- ertagen in erhobener Stimmung unsere Gebete gesagt hatten, wo einst wüstet und geplündert. über 60 Thora-Rollen, eine recht beträchtliche Anzahl für so eine kleine Gemeinde, gestanden hatten, war nun eine ganze Epoche und Tradition Am 11. November fassten der „Mittelrheinischer Anzeiger“ und die „Rhein- brutal zerstört worden. Wir wussten darum und empfanden, dass uns der Nahe-Zeitung“, wie überall im Reich, die ungeheuerlichen Ereignisse in Boden von unseren Füßen gezogen war. Es war das Ende.“ nahezu gleichlautende Worte wie „gerechter Zorn des Volkes, starke Erre- gung und Empörung der Bevölkerung, gewaltige Protestdemonstrationen gegen den feigen Mord in Paris“, verbunden mit der Forderung nach Ent- DER POGROM UND DIE FOLGEN/ fernung aller Juden aus Deutschland. EIN WIEDERSEHEN NACH FAST 60 JAHREN

Der gesteuerte Pogrom, der von langer Hand vorbereitet worden war (etwa Neben Brandschatzung, Verwüstung und Plünderung jüdischen Eigen- Kennzeichnung der jüdischen Geschäfte, im Juni zusammengestellte Ver- tums wurden reichsweit über 26000 männliche Juden verhaftet und in die haftungslisten im Polizeipräsidium Berlin und die im Juli angeordnete Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gebracht. Erweiterung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald), Herbert Brück: „Auch für die Binger Juden war die im Volksmund soge- wurde in der gleichgeschalteten Presse als spontane Reaktion der Bevöl- nannte Reichskristallnacht ein bitteres Erlebnis. Schon bald darauf muss- kerung auf das jüdische Attentat in Paris dargestellt und somit die Verant- ten fast alle männlichen Mitglieder für einige Wochen ins KZ Buchenwald. wortung für das Geschehen dem deutschen Volk zugeschoben. Sie kamen zurück mit glattgeschorenem Kopf und hatten unbeschreibliche Erniedrigungen erlitten. Der Schock war groß. Immerhin wurden vorher Die „Rhein-Nahe-Zeitung“ auf der Binger Seite dazu: „Bei der Durchsu- fast alle in Bingen von einem Arzt untersucht, und dieser versuchte, eini- chung verschiedener Wohnungen und Geschäfte stieß man bezeichnen- gen von diesen den Aufenthalt zu ersparen, indem er ‚feststellte‘, dass ei- derweise auf große Vorräte an Eiern, Butter, Schmalz und so weiter. Im nige Krankheiten hatten, die ihnen den Aufenthalt dort unmöglich ma- Laufe des gestrigen Tages brannte die hiesige Synagoge ab. Damit hat die chen würden. Es waren eben nicht alle vom Nazi-Ungeist befallen. Mein Hochburg des Binger Judentums ihr Ende gefunden.“ Auch die kleine Sy- Vater konnte sich dadurch retten.“ nagoge der orthodoxen Gemeinde in einem Wohnhaus in der Amtsstraße 13 wurde geschändet. Man hatte die jüdischen Gemeinden an ihrer emp- Mit dieser Verhaftungswelle sollte der Auswanderungsdruck erhöht wer- findlichsten Stelle getroffen, ihnen die letzte Zufluchtsstätte genommen. den; wer durch seine Familie beschaffte Auswanderungspapiere vorlegen konnte, wurde schneller entlassen als andere. Den Juden wurde als „Süh- Herbert Brück (1923–2011), der nach der Flucht seiner Familie in Chile neleistung“ die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, die lebte, stellte dar, was er damals empfand: „Es muss wohl Anfang des Jah- durch den Pogrom entstandenen Schäden mussten behoben und die damit res 1939 gewesen sein, als es einer kleinen Gruppe jüdischer Mitbürger verbundenen Kosten selbst bezahlt werden; als letzter Schritt zur Aus- erlaubt wurde, die ausgebrannte Synagoge in der Rochusstraße zu besu- schaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben wurde die 22 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 23

Deutschen an die Scheiben kleben, sondern indem sie als deutsche Kauf- leute ein deutsches Geschäft mit deutschen Methoden führen.“ Es war ein weiterer Schritt, der in der Entrechtung, Entwürdigung und Entmenschli- chung aller Juden in Deutschland gipfelte. Von den 222 Juden, die im Mai 1939 in Bingen lebten, wanderten noch zwölf aus, 148 von den 150 1942 aus Bingen Deportierten wurden in den Konzentrationslagern Piaski- Lublin und Auschwitz (Polen) sowie Theresienstadt (heute Tschechien) er- mordet. Nur Julius Nathan und Mathilde Amelie Durlacher überlebten.

Das Leben derer aber, die Deutschland noch rechtzeitig verlassen konnten, hat sich abrupt und grundlegend verändert. Oft waren es nur einzelne Fa- milienmitglieder, denen die Auswanderung ermöglicht werden konnte, oder andere, die sich in Holland oder Frankreich schon in Sicherheit wähnten, wurden dort interniert und später in Konzentrationslager deportiert.

Marian Bonem geborene Marianne Nathan erreichte im April 1939 zusam- men mit Mutter und Großmutter Holland, wo sie ihren Vater wieder traf. Im November 1939 gelang der Familie die Auswanderung nach Amerika.

„Das sind und waren Binger Kinder“. schreibt Doris Brück-Herzberg zu diesem Foto, das 1938 hinter Doris Herzberg geborene Brück, die zweite der drei Jüdinnen der Mäd- der Binger Synagoge aufgenommen wurde. Zu sehen sind (oben von links): unbekanntes Mädchen; chenklasse am „Institut St. Mariä“, brauchte länger, um wieder mit ihrer Loli Gutheim (Hannelore Simon); Marianne Nathan (Marian Bonem); Ellen Feist (im KZ ermordet) und Familie vereint zu werden. Die Eltern und der Bruder wanderten nach Chi- Margot Fink (Margot Efros). In der unteren Reihe (von links) sind zu sehen Marion Wolf (im KZ ermor- le aus, sie selbst wurde schon einige Monate früher nach Frankreich auf det); Ruth Mayer; Doris Brück-Herzberg. Bild: Privat einen Bauernhof zu Verwandten geschickt, weil man sie dort sicher glaub- te. Sie konnte später das Land nicht verlassen, da sie keine gültigen Pa- Zwangsarisierung aller jüdischen Unternehmen, Geschäfte und Hand- piere vorweisen konnte und die Deutschen das Land schon besetzt hatten. werksbetriebe angeordnet. Nach einem misslungenen Versuch, heimlich auszureisen, wurde sie von deutschen Soldaten aufgegriffen und in das Internierungslager Rivesaltes Dass auch diese Maßnahme streng überwacht wurde, zeigt ein Auszug aus unweit der spanischen Grenze gebracht. „Es war ein schrecklicher Ort. Die einem Zeitungsartikel des „Mittelrheinischer Anzeiger“, Binger Seite vom Schlafstellen waren aus Stroh gemacht, überall gab es Läuse, und das Es- 11. November 1938, wo es unter der Überschrift „Arisierungsmethoden, die sen war furchtbar.“ wir uns verbitten – Nicht der Name allein darf wechseln“ heißt: „Ein deut- scher Kaufmann hat mit deutschem Geschäftsgebaren aufzuwarten und Immer wieder stellte Doris Brück Anträge, um die Ausreisegenehmigung nicht mit jüdischem Schmus, und wenn er das dennoch tut, dann ist er kein zu erhalten. Sie war 1945 die erste deutsche Jüdin, die Paris verlassen deutscher Geschäftsmann, sondern eine Arisierungshyäne; und diese Gat- durfte. Nach einer 30-tägigen Reise auf einem Frachter erreichte sie Chile, tung lehnen wir ab“. Weiter steht geschrieben: „Die Juden müssen alle raus, wo Eltern und Bruder Herbert sie erwarteten. Als sie später eine eigene aus allen Stellungen. Keiner soll mehr am deutschen Volke verdienen. Die- Familie gegründet hatte, ging sie nach Mexiko. Von der dritten Jüdin der jenigen aber, die Geschäft und Geschäftsbücher aus jüdischer Hand erwer- ehemaligen Mädchenklasse, Hannelore (Loli) Gutheim verheiratete Simon ben, arisieren die Firmen nicht, indem sie das Zeichen der schaffenden (1926–2012) wusste man lange nicht, ob sie überlebt hatte, bis sie sich 24 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 25

beim Arbeitskreis Jüdisches Bingen selbst meldete, auf den man sie hin- Stücke, die 1905 vor dem Verkauf der alten Synagoge dort entfernt und gewiesen hatte. Die beiden einstigen Freundinnen Doris Brück-Herzberg in eine Wand der neuen Synagoge eingebaut worden waren, befinden sich und Marian Bonem hatten 59 Jahre lang kein Lebenszeichen voneinander. heute im Bezalel-National-Museum in Jerusalem. Es handelt sich zum ei- Erst 1997 brachte eine Tochter von Doris Brück-Herzberg die Adresse der nen um eine zweiflügelige eiserne, mit hebräischen Schriftzeichen verse- Jugendfreundin ihrer Mutter in Erfahrung. Beim ersten Treffen waren sich hene Eingangstür, die nach dem Synagogenbrand von 1789 von dem Ge- beide Frauen einig, dass sie all die Jahre von einem Wiedersehen geträumt, meindevorsteher Chajim bar Aron Friedburg als Weihegeschenk dem aber nie daran geglaubt hatten, dass sie es erleben würden. Marian Bonem: wiederaufgebauten Gotteshaus gestiftet worden war. Sie war in die Süd- „Dieser Besuch war so wunderbar, aber auch so traurig. Erinnerungen an wand der alten Synagoge eingelassen, da der Zugang zur damaligen Sy- diese schreckliche Zeit überfluteten uns. Aber jetzt hat wenigstens jede nagoge durch ein der Gemeinde gehörendes Wohnhaus in der Judengasse von uns die andere, um diese Erinnerungen miteinander zu teilen.“ (heute Rathausstraße) führte. Auch die 80 mal 70 Zentimeter große Roset- te aus rotem Sandstein aus derselben Zeit war an der Südseite der alten Synagoge eingelassen. Solche Steinrosetten waren, so Rabbiner Grünfeld, WAS AUS DEN SYNAGOGEN UND KULTGEGENSTÄNDEN in fast allen Vorhöfen kleinerer Gotteshäuser in Rheinhessen vorhanden GEWORDEN IST und dienten als Traustein. Bis 1832 fanden in Bingen an dieser Stelle un- ter freiem Himmel die Trauungen statt. Zwischen den acht Strahlen der Immer wieder wurde die Frage nach dem Verbleib von Kultgegenständen Rosette stehen acht hebräische Buchstaben für die Anfangsbuchstaben der als sehr wohlhabend geltenden Binger jüdischen Gemeinde gestellt. eines bei Trauungen zitierten Prophetensatzes. Unterhalb des Sternes be- Einem Zeitungsartikel des „Neuer Mainzer Anzeiger“ vom 16. April 1946 finden sich zwei Füllhörner, die Symbole des Glücks und des Segens dar- zufolge soll das städtische Museum einige Gegenstände sichergestellt ha- stellen; auch auf ihnen stehen die hebräischen Anfangsbuchstaben eines ben, die dann später in den Besitz der Kriminalpolizei übergegangen sein Psalmwortes. sollen. Weder im Stadtarchiv noch bei der Polizei gibt es Aktenvermerke, die Hinweise geben könnten. Hier scheint man, als das Ende des „Tausend- Aus einem Briefwechsel der Stadtverwaltung mit unterschiedlichen Adres- jährigen Reiches“ sich immer mehr abzeichnete, genauso gründlich die saten geht hervor, dass diese beiden Relikte 1964 der Stadt Köln als Leih- Spuren beseitigt zu haben, wie dies in Vereinschroniken und im Berichts- gabe für die im Kölnischen Stadtmuseum ausgerichtete Ausstellung heft der Feuerwehr geschah, wo ganze Seiten fehlen, die über Geschehnis- „Monumenta Judaica“ übergeben wurden. Noch während der Ausstel- se dieses Zeitraums Aussagen machen könnten. lungsdauer bat die Mission d‘Israel die Stadt Bingen um die „geschenk- weise“ Überlassung der wertvollen Ausstellungsstücke. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz Ende der 1990er Jahre, Esther Epstein, deutete zwei weitere Möglichkeiten an: Zum einen sei be- Nachdem die jüdische Gemeinde in Mainz, die treuhänderisch die Ange- kannt, dass die Nationalsozialisten nach 1938 in Prag ein „Museum für legenheiten der ehemaligen Binger Gemeinde verwaltet, zugestimmt hatte, entartete jüdische Kunst“ geplant hatten, wohin viel Material gebracht wurden Tür und Traustein in den Bestand des National-Museums in Jeru- worden sei. Zum anderen tauchten bis heute noch bei Antiquitätenhänd- salem aufgenommen. Ein stark beschädigter abgeschlagener Löwenkopf lern jüdische Kultgegenstände auf, die aus privaten Plünderungen stamm- und eine reich verzierte Säule, vermutlich aus der alten Synagoge, liegen ten und die die jüdischen Gemeinden, wenn sie davon Kenntnis erhalten, im Eingangsbereich des jüdischen Friedhofs, an der Stelle, wo einst die zurückkaufen. Auch sei es kein Geheimnis, dass bei Juwelieren Tafelsilber Trauerhalle stand. Beide Relikte verdienten eine geschützte Unterbrin- aus ehemals jüdischem Besitz umgraviert wurde. Als sicher gilt, dass eine gung, um sie vor weiterer Verwitterung zu bewahren. Mainzer Thora aus Bingen stammt; sie sei seitlich signiert. Die Mainzer jüdische Gemeinde verwendete sie zur Amtszeit von Esther Epstein laut Eine bewegende Geschichte ließ Herbert Brück bis zu seinem Tod nicht los. ihrer Aussage beim wöchentlichen Gottesdienst. Die beiden wertvollsten Anfang 1939 durfte er mit einigen wenigen Gemeindemitgliedern die aus- 26 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 27

gebrannte Synagoge betreten: „Plötzlich beugte sich der Sohn des Schuh- Schutzpatrons der Feuerwehr, auf der Wand am erhaltenen Fassadenteil machers Keller zu Boden und fand unter dem Unrat eine Jad. Das ist ein zum Ausdruck. Die Unkenntnis dessen, was 1938 an dieser Stelle geschah, Gegenstand von etwa 20 cm aus Silber, an dessen Ende sich eine kleine war vermutlich Grundlage für diesen unsensiblen Fassadenschmuck. Hand befindet und mit einem ausgestreckten Zeigefinger, der am Schabbat benützt wird, um dem Text der klein geschriebenen Thora zu folgen. Das war das Letzte, das noch übrig geblieben war. DIE GEGENWART

Das Zeichen war eindeutig. Meinen Eltern gelang es in letzter Stunde, ein Als die aus Bingen stammende Jüdin Doris Brück-Herzberg 1996 mit ih- Visum für Chile zu bekommen, wo ich seitdem lebe und eine Familie habe. rem Mann ihre frühere Heimat besuchte, blieb sie auch an der Stelle ste- Viele andere, die ich persönlich kannte, haben es nicht geschafft.“ hen, an der die Synagoge gestanden hatte. „Wir klingelten an der Tür und ein Jüngling machte sie auf. Auf unsere Fragen wusste er uns keine Ant- Die Frage bleibt offen, ob die kleine Jad zu den wenigen Habseligkeiten wort zu geben. Er hatte anscheinend keine Ahnung, was die angebrachte gehörte, die Familie Keller im März 1942 vor ihrer Deportation in den Kof- Erinnerungsplatte bedeutete: Dort stand einmal ein Zentrum des Gebetes fer packte oder ob sie zusammen mit weiterem jüdischem Eigentum bei und einer Kultur.“ der Räumung des „Judenhauses“ in der Gaustraße 11 nach Abschluss der Deportationen in andere Hände überging. Angesichts eines solchen „Erlebnisberichtes“ wird die Unzulänglichkeit von Gedenktafeln und Mahnmalen deutlich. Aber nicht dem zufällig öff- Die Synagogenreste und das Grundstück waren nach der Zwangsarisierung nenden jungen Mann ist ein Vorwurf zu machen. Es drängt sich vielmehr allen jüdischen Eigentums durch Verkauf an den Binger Winzerverein über- die Frage auf: Wieso gibt es noch so viele Menschen, die über eine so gegangen, der zeitweise in dem rechten erhaltenen Gebäudeteil ein „Wein- schicksalsträchtige Zeit in Deutschland so wenige Kenntnisse besitzen? lokal mit Musik und Tanz“ unterhielt. Im Zuge der Restitution Anfang der 1950er Jahre gelangten die Gebäudereste und das Gelände an die Jüdische In Bingen gibt es seit 1998 den „Arbeitskreis Jüdisches Bingen“, der sich Gemeinde Mainz als Rechtsnachfolgerin der Binger Gemeinde. zur Aufgabe gemacht hat, die Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Gemeinden neu zu beleben und zu bewahren. War Anfang der 80er Jahre 1960 ging das Gelände an die Bezirkswinzergenossenschaft über mit der in heimatkundlichen Beiträgen noch die Rede von den „vergessenen Bin- durch die Stadt und den Landkreis erhobenen Auflage, das Gebäude ab- gern“ und davon, dass sich die Spur der Binger Juden im Lager Theresi- zureisen oder alle Zeichen, die an die ehemalige Synagoge erinnerten, zu enstadt verloren habe, wie auch die vielhundertjährige Geschichte der beseitigen. Da die Bezirkswinzergesellschaft ihren Verpflichtungen nicht jüdischen Gemeinden in Vergessenheit geraten sei, dann gilt dies heute so nachkam, wurde der Verkauf rückgängig gemacht, worauf die Jüdische nicht mehr. Gemeinde Mainz der Stadt Bingen mehrfach das Gelände mit den Gebäu- deresten anbot. Erst 1961 stimmten die städtischen Gremien einem Erwerb Im Juli 1997 suchte der Arbeitskreis Kontakt zu den ehemaligen jüdischen zu. Bereits damals hatte man vor, die Freiwillige Feuerwehr in dem rechten Bürgern, ausgehend von dem Personenkreis, der seit Anfang der 90er Jah- erhaltenen Gebäudeteil unterzubringen, was aber erst 1973 im Zuge der re mit der Stadt in Verbindung stand. War man im Vorfeld skeptisch, wie Abrissarbeiten der Ruine verwirklicht werden konnte. ein solches Schreiben bei den Empfängern aufgenommen würde, so war die Freude groß, als nach kurzer Zeit eine ganze Reihe Antwortbriefe aus Ob diese politische Entscheidung eine glückliche war, sei dahingestellt an- den USA, aus Chile, Mexiko, Namibia, der Schweiz und aus Israel eintra- gesichts der Überlegung, dass die Feuerwehren bei den Synagogenbränden fen; später noch aus Schweden und England. Im Laufe der Jahre wollten eine äußerst umstrittene Rolle gespielt hatten. Auch bringen immer wieder weitere Personen, die von den Rundbriefen gehört hatten und inzwischen ältere Binger ihren Unmut über die Darstellung des heiligen Florian, des viele ihrer Nachkommen in die Korrespondenzliste aufgenommen werden. 28 Jüdisches Bingen Jüdisches Bingen 29

Man erfuhr aus den Briefen, dass in all den Jahren nach dem Krieg ehe- „Auf einmal war man etwas anderes. Die Freundinnen kamen nicht mehr malige jüdische Mitbürger Bingen besucht haben, um ihren Kindern zu ins Haus, und wir wurden nicht mehr eingeladen.“ zeigen, „wo ihre Ahnen wohnten“. Man ging vorbei an alten Familienhäu- sern, an den Überresten der Synagoge in der Rochusstraße und besuchte Mit dieser Erfahrung hatte auch der Ehemann, Hanns Herzberg, ein gebür- die Familiengräber auf dem jüdischen Friedhof. Vor allem dieser Friedhof tiger Oberschlesier, in seiner eigenen Heimat fertig werden müssen. Sein ist für die meisten der wichtigste Angelpunkt in Bingen und die Sorge um bester Freund, mit dem er dieselbe Klasse im Gymnasium besuchte, sagte dessen Pflege und Erhalt daher nur allzu verständlich. Bei vielen ehema- eines Tages: „Ab morgen sehen wir uns nicht mehr.“ Er müsse das verste- ligen Binger Juden war trotz des oft hohen Alters der Wunsch wach ge- hen, er wolle schließlich studieren und Karriere machen. blieben, noch einmal den Ort besuchen zu können, der für sie einmal Hei- mat war. (Hinweis: Im Juni 1999 fand das „Wiedersehen mit Bingen“ statt, Und plötzlich stand auf Burg Klopp die Frage im Raum: „Was wäre ge- das in der Homepage des Arbeitskreises thematisiert wird.) schehen, wenn die Bevölkerung damals mehr Widerstand geleistet hätte?“

Diesen Wunsch konnte sich Doris Brück-Herzberg schon im Juli 1998 er- Wäre es nach dem Vater gegangen, hätte Familie Brück Bingen nie ver- füllen, als sie zusammen mit Ehemann und jüngster Tochter die Stadt be- lassen, die Mutter aber, die sein Vertrauen in die vermeintliche Sicherheit suchte, in der sie 1927 geboren wurde. Sie hat heute ihren Wohnsitz in nicht teilen konnte, sagte schon bald: „Wir müssen hier raus!“ Sie sei es Mexiko, eine Aufenthaltsgenehmigung für Chile und besitzt einen deut- auch gewesen, die die Familie später in Chile mit einem kleinen Geschäft schen Reisepass. ernährte, der Vater habe sich dort nie so recht einleben können. Besonders bedrückend sei in den ersten Jahren nach der Emigration für alle Juden, In dem offenen, engagierten Gespräch auf Burg Klopp, wo die Gäste von die vorher in guten Verhältnissen gelebt hatten, die unsichere finanzielle Bürgermeisterin Brigitte Giesbert empfangen wurden, war der ehemaligen Situation gewesen. So habe ein 60-tägiger Krankenhausaufenthalt des Bingerin eine Frage besonders wichtig: „Wie ist das in Schulen, wird das, Bruders, der wegen Typhus behandelt werden musste, die Familie in arge was man mit den Juden gemacht hat, übergangen oder erfahren die Schü- Bedrängnis gebracht. ler im Unterricht davon?“ Auf die Frage, ob sie bei ihren vier Besuchen in Deutschland nach dem Auf das Verhältnis von christlichen und jüdischen Schülerinnen während Krieg eine Entwicklung bei sich verspürt habe, meinte die ehemalige Bin- ihrer eigenen Schulzeit angesprochen, meinte Doris Brück-Herzberg, dass gerin: „Dieses Mal war es anders, es fand ja auch ein Treffen mit alten es vor 1938 überhaupt kein Problem gewesen sei, dass sie und zwei wei- Klassenkameradinnen statt.“ Vor dem offiziellen Empfang auf Burg Klopp tere Klassenkameradinnen Jüdinnen waren. Vor allem in der katholischen war es nach 60 Jahren zu einem Wiedersehen mit fünf Mitschülerinnen Mädchenschule habe man keine Ressentiments gespürt. Wenn die christ- gekommen, die damals noch in Bingen lebten. Eine Teilnehmerin be- lichen Mädchen Religionsunterricht hatten, sei man eben in die nahe Sy- schrieb später die Stimmung als offen und herzlich. Man habe natürlich nagoge gegangen. Auch das nachbarschaftliche Miteinander sei gut ge- viele Fragen aneinander gehabt, und die Freude, die alle über dieses Tref- wesen. Wenn an Weihnachten im Hinterhaus der Weihnachtsbaum fen empfanden, habe einen schnell wieder zueinander finden lassen. angezündet wurde, brannte im Vorderhaus der Chanukka-Leuchter. Eine leise Bitterkeit kam dann doch noch auf, als sich die Erfüllung des Erst als der Mord in Paris bekannt wurde, habe man gespürt, dass etwas Wunsches, einmal mit Mann und Tochter durch das ehemalige Wohnhaus „in der Luft lag, man ahnte etwas.“ Als elfjährige Kinder sei man jedoch der Familie zu gehen, äußerst schwierig gestaltete. – Dabei kann ein ver- noch nicht über die Hintergründe aufgeklärt worden. Die ehemalige Bin- trauter Blick aus der einst elterlichen Wohnung das kostbarste Souvenir gerin erinnert sich aber noch ganz genau an den Bruch, der dann folgte: aus der alten Heimat sein für Menschen, die schon lange in weiter Ferne ihren neuen Lebensmittelpunkt gefunden haben. 30 Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen 31

Und wenn in der Silvesternacht desselben oder des darauffolgenden Jah- Überblick über die Geschichte der res auch das Judenviertel in Bingen von marodierenden Kreuzzugsbanden überfallen und geplündert wurde und auch der Flüchtling aus Bonn seine Juden in Bingen ganze Habe, darunter eine wertvolle Büchersammlung, verlor (s.ebd.), dann offenbart das die dauernd unsichere Lage der als Fremdkörper emp- VON DR. JOSEF GÖTTEN2) fundenen, ja als Gottesmörder gebrandmarkten jüdischen Mitbürger im mittelalterlich-christlichen Milieu.

Urkundlich wird eine jüdische Gemeinde in Bingen erst 1321 erwähnt. Seit dem 12. Jh. bis zur Auswanderung und Deportation 1942 lebten Juden Damals gehörte das Binger Land zum Territorium des Erzbischofs von in Bingen.“ So heißt es lapidar auf der Erinnerungstafel an dem erhalten Mainz, dem unter Willigis das einst fränkische Königsgut auf dem Reichs- gebliebenen Wohntrakt des ehemaligen Synagogenkomplexes in der Bin- tag zu Verona 983 von Kaiser Otto II. geschenkt worden war. Damit war ger Rochusstraße. der Erzbischof Schutzherr der in seinem Herrschaftsbereich lebenden Ju- den, deren Leben, Eigentum und Religionsausübung gegen eine Gebühr „Erbaut 1905, zerstört in der Pogromnacht 9./10. November 1938.“ durch einen Schutzbrief auf Zeit garantiert wurde.

Die zur Einweihung dieser prächtigen Synagoge der „Israelitischen Reli- Als die Stadt Bingen 1438 dem Mainzer Domkapitel unterstellt wurde, gionsgemeinde“ herausgegebene Festschrift von Rabbiner Dr. Richard ging mit der Zeit der Judenschutz auf dieses über. Grünfeld beginnt mit den Worten: Unter dem Schutz der geistlichen Obrigkeit wurden das ganze Mittelalter „Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Bingen sind in tiefes Dunkel hindurch 6 bis 7 jüdische Familien – etwa 30 bis 35 Personen – aus wirt- gehüllt. Kein Gedenkbuch berichtet etwas über der Gemeinde Ursprung, schaftlichen Interessen in Bingen geduldet. Juden waren keine voll- und kein Stein und keine Inschrift bieten dem Suchenden eine Handhabe, den gleichberechtigten Bürger. Sie waren im Alltag einschränkenden Gesetzen Zeitpunkt ihrer Entstehung auch nur ungefähr zu bestimmen. Selbst die und mannigfachen Sonderabgaben unterworfen, jedoch als Kapitalgeber vieldeutige Sage, die den Ursprung anderer, allerdings bedeutenderer, willkommen. rheinischer Gemeinden poetisch zu verklären versteht, hier bleibt sie stumm und weiß vom Anfang unserer Geschichte nichts zu erzählen.“ Man weiß von Ausschreitungen auch gegen die Binger Juden in den Zei- ten der Kreuzzüge und der Pest. Man weiß von Ausweisungsanordnungen, Mögen somit die Anfänge jüdischen Lebens am Rhein-Nahe-Eck im Dun- die jedoch nicht durchgeführt worden sind. kel der Römer- und Frankenzeit liegen, die erste schriftliche Erwähnung von Juden in Bingen steht in einem Reisebericht des Benjamin ben Jona Im 15. Jh., als die Finanzgeschäfte sich mehr in christliche Hände verla- aus Tudela um 1160. gerten – man denke an die Fugger in Augsburg – wurden die jüdischen Geldverleiher nicht mehr so gebraucht, und man versuchte, sich ihrer zu Wenn etwa 40 Jahre später – im Jahre 1198 – ein damals berühmter Rab- entledigen. So verfügte der Mainzer Erzbischof Adolf II. von Nassau 1470 biner namens Elieser ben Joel ha-Levi vor Nachstellungen aus seiner Va- die Vertreibung der Juden aus seinem Territorium, was zur Folge hatte, terstadt Bonn nach Bingen geflohen ist, dann lässt das auf eine „bereits dass Mainz 100 Jahre lang ohne Juden war. Diesem Vorgehen schloss sich blühende jüdische Gemeinde in der Stadt an Rhein und Nahe schließen“, das Domkapitel zunächst an und ließ am 26. Mai desselben Jahres (1470) wie man in der Forschung annimmt.3) durch seinen Amtmann in Bingen den dortigen Juden mitteilen, dass sie bis zum 13. Juli die Stadt zu verlassen hätten. 32 Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen 33

Das Kapitel übte jedoch – gegen den wiederholt geäußerten Willen des Wer die Zeichen der Zeit richtig zu deuten wusste und die Propaganda der Erzbischofs – keinen Druck aus und duldete weiterhin ihr Verbleiben, si- Nationalsozialisten ernst nahm, suchte sein Heil im Ausland. Als dann cher nicht ohne Eigennutz. 1933 die Nazis die Macht ergriffen, hatte schon ein Drittel der Binger Ju- den Stadt und Land verlassen. Von den damals noch 471 Personen wohn- Wie die Geschichtsforscher betonen, nahm Bingen im Spätmittelalter un- ten nach den das jüdische Leben immer mehr einschränkenden Rassege- ter den jüdischen Gemeinden am Mittelrhein mit weithin angesehenen setzen und dem November-Pogrom 1938 nur noch 222 im Jahr 1939 in Rabbinern, Gelehrten und Richtern einen besonderen Rang ein. Bingen.

In den allgemein für die deutschen Juden relativ ruhigen Zeiten des 16. Nachdem 1941 den Juden die Ausreise untersagt und auf der berüchtigten und 17. Jahrhunderts wuchs die jüdische Bevölkerung allenthalben. Viele Wannsee-Konferenz im Januar 1942 die Vernichtung des europäischen wurden ohne Schutzbrief geduldet. So zählte man 1765 in Bingen bereits Judentums beschlossen worden war, wurden die verbliebenen 152 Binger 51 jüdische Haushalte mit 343 Personen. Zehnmal mehr, als bisher Schutz- Jüdinnen und Juden jedweden Alters gnadenlos diesem Schicksal zuge- juden zugelassen worden waren. Das waren 12 % der 2812 Einwohner der führt: Stadt (In Mainz betrug der Judenanteil damals nur 2,3 %!). Unter den am 20. März 1942 mit dem ersten Massentransport aus Hessen Seit der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert schwelte die Frage der nach Piaski-Lublin deportierten 1000 Juden waren 76 aus Bingen. bürgerlichen Gleichstellung der Juden, deren positive Antwort jedoch erst die französischen Revolutionstruppen im Gepäck hatten und 1792 an den Am 27. September wurden weitere 68 nach Theresienstadt verschleppt, am Rhein brachten, die dort ihre Wirkung entfaltete. 30. September 6 in das sogenannte Generalgouvernement und am 10. Fe- bruar 1943 nochmals 2 nach Theresienstadt. Von diesen Deportationen So betrieb das Großherzogtum Hessen, dem Bingen 1816 einverleibt wor- geben die heute hier vorgestellten Fotos, die im vorigen Jahr aus dem den war, eine den Juden gegenüber emanzipationsfreundliche Politik, was Nachlass des Binger Fotografen Karl Kühn unserem Arbeitskreis überge- zur Folge hatte, dass die jüdische Bevölkerung auch in Bingen weiter an- ben worden waren, ein erschütterndes Zeugnis. wuchs, sich überall in der Stadt ansiedelte und bald zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor wurde. Bis auf einen, der zurückkam, wurden alle aus Bingen Deportierten in den Vernichtungslagern nachweislich ermordet oder sind seitdem verschollen, Juden gründeten die ersten Banken in Bingen und waren vor allem im was wohl auf dasselbe hinausläuft (Anmerkung: Auch Amalie Durlacher Weinhandel tätig. Groß war Ende des 19./Anfang des 20. Jhdts. das Enga- überlebte den Holocaust, wie erst kürzlich bekannt wurde). 56 Stolperstei- gement der jüdischen Bürgerschaft nicht nur im wirtschaftlichen, sondern ne erinnern inzwischen im Binger Straßenpflaster vor ihrem letzten Wohn- auch im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt. sitz an einzelne dieser Opfer. So war denn 1943, im 10. Jahr der national- sozialistischen Gewalt- und Schreckensherrschaft, die seit dem Mittelalter Im Jahr 1900 registrierten die beiden jüdischen Gemeinden – die starke in ihrer Kontinuität nie unterbrochene jüdische Gemeinde in Bingen voll- reformorientierte „Israelitische Religionsgemeinde“ und die kleinere or- ends ausgelöscht, ihre Synagoge geschändet und verbrannt. thodoxe „Israelitische Kultusgesellschaft“ – zusammen 713 Angehörige ihres Glaubens, das waren 8 % der Binger Einwohnerschaft. Dieser höchs- Was dies für Bingen nachhaltig bedeutet, hat der Historiker Werner Grand- te jüdische Bevölkerungsanteil begann jedoch mit dem seit dem 19. Jh. jean am Schluss seiner Darstellung der Bedeutung des jüdischen Bürger- zunehmend sich ausbreitenden modernen Antisemitismus im Laufe des tums für die Entwicklung der Stadt Bingen vor dem 1. Weltkrieg so aus- 20. Jahrhunderts rapide zu schwinden. gedrückt: 34 Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen Überblick über die Geschichte der Juden in Bingen 35

Diese 3 Deportationsfotos des Binger Fotografen Karl Kühn (1887-1963) wurden 2008 von Günter Kühn im Nachlass seines Vaters aufgefunden und dem Arbeitskreis Jüdisches Bingen überlassen. Die Bilder wurden 2009 auf einer eigenen Gedenktafel der Dauerausstellung „Verfolgung und Widerstand in Rheinland-Pfalz“ der Gedenkstätte KZ-Osthofen eingeglie- dert und als Zeitdokumente sind in die Datenbank des Jüdischen Museums in Berlin und des Museums for Jewish Heritage in New York aufgenommen.

„Der Untergang des jüdischen Bürgertums der Stadt Bingen durch Vertrei- bung und in der Hölle der Vernichtungslager bedeutet eine verheerende historische Zäsur. Diese ist gekennzeichnet durch ein alle Vorstellungen übersteigendes und nicht in Worte zu fassendes Leid, das jüdischen Mit- bürgerinnen und Mitbürgern zugefügt wurde, gekennzeichnet aber auch durch eine unumkehrbare Verarmung der bürgerlichen Kultur der Stadt und durch unermesslichen Schaden für die vitale Entwicklung Bingens.“

Ein stummer und doch beredter Zeuge für diese einst blühende und reg- same Binger Judenschaft ist der 439 Jahre alte jüdische Friedhof am Hang des Rochusberges – mit seinen rund 1000 erhaltenen Grabsteinen einer der größten in Rheinland-Pfalz. 36 Ein Haus des Segens und des Friedens Ein Haus des Segens und des Friedens 37

Für diese stattliche Gemeinde war die im Jahre 1700 eingeweihte Synago- Ein Haus des Segens ge in der Rheinstraße zu klein geworden, obwohl es 1872 „zur Bildung einer trennungsorthodoxen israelitischen Kultusgesellschaft“ gekommen und des Friedens war, die ihren Gottesdienst in ihrer Synagoge an der Amtsgasse abhielt.6) Die vom liberalen Reformjudentum geprägte Mehrheit entschloss sich VON DR. JOSEF GÖTTEN4) nach langem Abwägen für einen Synagogenneubau auf dem Terrain des ehemaligen „Feist’schen Weingartens“ in der Rochusstraße. Das Gebäude in der Rheinstraße wurde verkauft und diente in der Folge in veränderter Form unterschiedlichen Zwecken: als Gasthaus, als Diskothek und heute „Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in als Jugendhaus. Bingen sind in tiefes Dunkel gehüllt. Kein Gedenkbuch berichtet etwas über der Ge- Die Vorgängersynagogen in Bingen hatten bis Anfang des 19 Jahrhun- meinde Ursprung, kein Stein und keine derts im Gewirr der Häuser und Hinterhöfe im Judenviertel zwischen Ju- Inschrift bieten dem Suchenden eine dengasse (Rathausstraße) und Amtsstraße ein unauffälliges Dasein ge- Handhabe, den Zeitpunkt ihrer Entste- führt. Mit den im 19. Jahrhundert erworbenen Freiheiten hatte sich jedoch hung auch nur ungefähr zu bestimmen. in den jüdischen Gemeinden ein neues Selbstbewusstsein entwickelt: Sie Selbst die vieldeutige Sage, die den Ur- wollten aus der Verborgenheit heraustreten und durch auffällige Gottes- sprung anderer, allerdings bedeutenderer, häuser „das Bekenntnis zum deutschen Vaterland, ihrem neuen Jerusalem, rheinischer Gemeinden poetisch zu ver- auch öffentlich zeigen“.7) So Salomon Korn. Und er fährt erläuternd fort: klären versteht, hier bleibt sie stumm und „Über allem stand der Wille, Teil der deutschen Nation zu sein. Und so weiß vom Anfang unserer Geschichte strebten die Juden in Deutschland an, ihre gesellschaftlich stigmatisierte Rabbiner Dr. Richard Grünfeld nichts zu erzählen.“ Bezeichnung abzulegen und sich fortan ,Israeliten‘ zu nennen. Ihre Syn- agogen aber wandelten sie in ‚Tempel‘ um. Dies war mehr als eine bloße So beginnt der Großherzogliche Rabbiner Dr. Richard Grünfeld seine Umbenennung, es war programmatisch: Nicht mehr das ferne Palästina, „Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Bingen“ am 21. Sep- sondern Deutschland betrachteten sie von nun an als ihr gelobtes Land. tember 1905.5) Nicht mehr in Zion, sondern in Deutschland sahen sie den Ort, an dem der messianisch verheißene Tempel zu bauen sei. Und so entstanden in vielen Mögen die Anfänge auch im Dunkel der Römer- und Frankenzeit liegen, deutschen Ortschaften neue große jüdische Tempel, die weithin sichtbares schriftliche Hinweise auf Juden in Bingen gibt es seit Mitte des 12. Jahr- Bekenntnis der deutschen Juden – der israelitischen Deutschen – zu ihrem hunderts. Wenn auch das ganze Mittelalter hindurch, in dem Bingen dem neuen gelobten Land waren. Liberale Strömungen innerhalb des Juden- Erzbischof und später dem Domkapitel in Mainz unterstand, lediglich vier tums gewannen die Oberhand und glichen ihre Synagogen in Stil und bis sieben jüdische Familien als Schutzjuden hier Wohnrecht hatten, so Architektur zunehmend stärker dem Kirchenbau an. … Synagogen-Kir- erreichte die jüdische Gemeinde im Jahre 1765 mit 343 Angehörigen doch chen: die neuen Tempel der deutschen Israeliten.“8) schon 12 % der Stadtbevölkerung. Diese Gedanken beseelten sicher sowohl die Binger jüdische Gemeinde als Im Zuge der Emanzipation infolge der rechtlichen Gleichstellung der auch den mit dem Neubau beauftragten berühmten Karlsruher Architekten Juden im 19. Jahrhundert wuchs die Gemeinde stetig an und erreichte im Jahr Prof. Ludwig Levy. Hatte dieser noch 1886 in eine pracht- 1900 mit 713 Mitgliedern ihren Höchststand (8 % der Stadtbevölkerung). volle Synagoge im „neoislamischen“ Stil errichtet,9) womit „die Erinne- rung und Verbundenheit mit der aus dem Orient stammenden ,alten‘ jüdi- 38 Ein Haus des Segens und des Friedens Ein Haus des Segens und des Friedens 39

schen Religion“ herausgestrichen werden sollte, so wählte man für Bingen einen an romanische Kirchen erinnernden „romanisierenden“ Stil, der „die neue Zugehörigkeit zur deutschen Nation“ zum Ausdruck bringen sollte.10)

Dieses Bewusstsein der gleichberechtigten Zugehörigkeit zur Gesellschaft durchzieht auch die Berichterstattung über die Einweihung der Synagoge in der Rochusstraße in der „Binger Zeitung für Stadt und Umgegend“ vom 23. September 1905, die hier in Auszügen wörtlich wiedergegeben werden soll:

„Es war ein herrliches, glanz- und stimmungsvolles Fest, das nun hinter uns liegt, stimmungsvoll eingeleitet und umkleidet von einer wohltuenden allgemeinen Anteilnahme der Gesamtbevölkerung an dem Freudenfeste der israelitischen Mitbürger. Fast an jedem Hause der Hauptstraßen weh- ten die Fahnen, man war dabei dem löblichen Beispiele der Stadtverwal- tung gefolgt, welche die Rochusstraße zu einer via triumphalis gestaltet hatte. Eine recht zahlreiche geladene Gesellschaft von hier und auswärts, Vertreter der staatlichen und städtischen Verwaltung, Geistliche der beiden christlichen Konfessionen, Schulbehörden etc., versammelte sich von 10 Uhr ab in dem neuen Gotteshaus, das auch in seinem, vorerst gewisser- maßen noch schlicht ausgestatteten, Innern durch die ganz geniale Anla- ge auf jeden erhebend wirkt. Ja, wir möchten sagen, gerade das Fehlen jeden Pompes in der Ausstattung stimmt den Besucher besonders weihe- voll. Um 11 Uhr erfolgte die Schlüsselabgabe durch das Töchterchen des Herrn Julius an den Baumeister der Synagoge, Herrn Baurat Prof.. Levi-; Dieser empfahl das neue Gotteshaus dem Vertreter des Kreises Bingen dem Schutze des Letzteren, worauf Herr Geheimrat Spani- er diesen Schutz der Stadt überantwortete; Herr Bürgermeister Neff über- gab nach kurzer Ansprache den Schlüssel Herrn Rabbiner Dr. Grünfeld und auf dessen Aufforderung hin öffneten sich die Tore, durch welche der feierliche Einzug unter Orgelklang und Festgesang erfolgte. Herr Rabbiner Dr. Grünfeld erflehte dann in innigem Gebete, nachdem er allen, die zum Gelingen des herrlichen Werkes beigetragen, herzlichsten Dank abgestat- tet, den Segen des Allerhöchsten für das neue Gotteshaus und entzündete dann die ,ewige Lampe’, deren Bedeutung in eindrucksvollen Worten schildernd. Feierlich gestaltete sich der Umzug mit den Thora-Rollen durch das Gotteshaus; die Rollen wurden durch Herrn Rabbiner Dr. Grünfeld und drei auswärtige Amtsbrüder getragen, und dann unter 1905 fertiggestellte Synagoge, ggf. bei der Bauabnahme feierlichem Gesang ins Allerheiligste eingesetzt. Ein Meisterwerk der 40 Ein Haus des Segens und des Friedens Ein Haus des Segens und des Friedens 41

Rhetorik, ein Zeugnis der machtvollen Wirkung des jüdischen Glaubens der Stadt und Ausdruck bürgerlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und auf seine berufenen Vertreter, eine glänzende Verherrlichung des Gottes- konfessioneller Toleranz, in Flammen. Und niemand, auch nicht „die glaubens, eine scharfe Verurteilung der sog. modernen Weltanschauung Stadt“, deren Schutz er bei seiner Einweihung feierlich anvertraut worden und schließlich eine gründliche Darlegung der Ziele und Bestrebungen des war, hinderte die braunen Brandstifter bei ihrem zerstörerischen Wüten. echten und rechten Judentums, war die Festpredigt des Herrn Dr. Grünfeld. Judentum ist Menschentum im edelsten Sinne des Wortes‘, das war der In jener sogenannten Reichskristallnacht, in der überall in Deutschland die rote Faden, der sich durch die ganze Predigt hindurch zog; letztere hätte Synagogen brannten, „verbrannten“, wie Salomon Korn es formuliert, verdient, von Tausenden gehört zu werden, so manches ungerechte Vor- „mit den Synagogen-Tempeln das innige Bekenntnis und die unerwiderte urteil würde sofort zerstört sein. Nach dem erhebenden Weihegebet für Liebe der deutschen Juden – der jüdischen Deutschen – zu ihrem Vater- Kaiser und Großherzog vor dem geöffneten Allerheiligsten hatte die Feier land“. Damit endete „für jedermann sichtbar die fruchtbarste Epoche ihr Ende erreicht.... deutsch-jüdischer Geschichte: 150 Jahre mühsam erkämpfte bürgerlich- rechtliche Gleichstellung verflüchtigte sich im Rauch jener Schreckens- An die Einweihungsfeier schloss sich ein von der Gemeinde gegebenes nacht“.12) Frühstück an; hierzu waren etwa 150 Geladene, Vertreter der Staats- und Stadtbehörde, der Binger christlichen Gemeinden, auswärtige Synagogen- An dem heute noch stehenden nördlichen Wohntrakt des ehemaligen Sy- mitglieder, die sämtlichen am Bau beschäftigten Handwerksmeister, Pres- nagogenkomplexes hält eine Gedenktafel die Erinnerung fest: se u.s.w. erschienen.“ Nach den vielen Gratulanten ergriff nochmals Rab- biner Grünfeld das Wort und „sprach in längeren Ausführungen, die „Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Bingen. allenthalben Anklang fanden und allseits Beherzigung finden sollten,... über die wahre unverfälschte Humanität, die sich in dem bekannten latei- Erbaut 1905, zerstört in der Pogromnacht 9./10. November nischen Spruche charakterisiere: ,In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus autem caritas’ (In notwendigen Dingen Einheit, in zweifelhaf- 1938. Seit dem 12. Jh. bis zur Auswanderung und Deportation 1942 lebten ten Freiheit, in allen aber liebendes Dulden). Stürmische Begeisterung rie- Juden in Bingen.“ fen die Worte des geschätzten Redners hervor“. Unter den vielen Dankes- worten wurde auch „dem Synagogenchor und Herrn Musikdirektor Gedenktafel Knettel das wohlverdiente Lob“ gezollt. „Auch dieser Teil der Feier“, so heißt es abschließend, „verlief in der harmonischsten Weise; ihr folgte abends ein Festessen mit anschließender theatralischer etc. Unterhaltung (speziell für die Mitglieder der israelitischen Gemeinde bestimmt) und auf- hörend mit Ball. ... So schloss an den herrlichen stimmungsvollen Anfang der Feier ein stimmungsvoll-herrliches Ende sich an.“ Hohe Erwartungen knüpfte Rabbiner Grünfeld in seiner Festschrift an dieses neue Zentrum der israelitischen Religionsgemeinde: „Möge die neue Synagoge auf der Rochusstraße für die Gemeinde werden: ein Haus des Segens und des Frie- dens, der Andacht und der Erhebung, eine Quelle der Belehrung und des Trostes, eine Pflanzstätte des lautersten Patriotismus und echter, unver- fälschter Menschenliebe!11)

Dreiunddreißig Jahre später stand dieser herrliche „Tempel“, eine Zierde 42 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 43

Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen

VON DR. JOSEF GÖTTEN13)

DAS BAUWERK UND SEINE GESCHICHTE

Im Zuge der Judenemanzipation im 19. Jhdt. im Rheinland zunächst durch die französische und später auch durch die großherzoglich-hessische Re- gierung hatten sich – wie auch andernorts – in Bingen zwei jüdische Ge- meinden formiert. Von links: Alte Synagoge in der heutigen Rheinstraße 4, Thoraschrein in der alten Synagoge

Die Mehrheit der Juden in Deutsch- Seit 1872 feierte diese ihre Gottesdienste in einer eigenen Synagoge in land war damals liberal eingestellt einem kleinen Haus in der Amtsstraße 13, in dem früher die Judenschule und reformorientiert: Was den Kultus war. „Synagoge der armen Juden“ hieß sie bei den Bingern. betraf, glich sie nicht nur die äußere und innere Raumstruktur der Syna- Die liberale größere Gemeinde blieb weiterhin in der Synagoge in der gogen christlichen Kirchen an, son- Rheinstraße, die im Jahre 1700 eingeweiht worden war und an der Stelle dern ließ auch die deutsche Sprache der vermutlich ersten Binger Synagoge aus dem 14. Jhdt. stand. Trotz ver- im Gottesdienst zu sowie Orgel- und schiedener Umbauten und Erweiterungen im Laufe des 19. Jahrhunderts Chormusik. Dieser Geist hatte auch und trotz des Auszugs der orthodoxen Gemeindemitglieder war das Ge- die meisten Mitglieder der großen Jü- bäude für die stattlich angewachsene Israelitische Religionsgemeinde zu dischen Gemeinde in Bingen erfasst. klein geworden und in einem bautechnisch schlechten Zustand. Während diese sich fortan „Israeliti- sche Religionsgemeinde“ nannten, Jahrelang erwogene Umbaupläne wichen schließlich der berechnenden hielt eine orthodoxe Minderheit wei- Erkenntnis, dass ein Neubau nicht teurer sein würde als ein Umbau. So terhin streng an den jüdischen Geset- beschloss der Gemeindevorstand, die Synagoge samt den dazugehörenden zen und den tradierten Kultformen Gebäuden zu verkaufen. fest und firmierte unter dem Namen „Israelitische Kultusgesellschaft“. Ihr erster Besitzer war Friedrich Wilhelm Klumb, der Großvater des hier anwesenden Wilhelm Klumb, der darüber Interessantes zu erzählen weiß. Nachdem dort zuerst ein Gasthaus mit Tanzboden und Fremdenzimmern Orthodoxe Synagoge in der Amtsstraße 13 neben dem Gasthaus „Felsenkeller“. eingerichtet worden war, diente der Bau in veränderter Form später als Bild: Arbeitskreis Jüdisches Bingen Diskothek und seit längerem nun als geschätztes Haus der Jugend. 44 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 45

Für 40.000 Mark erwarb sodann die Jüdische Gemeinde den Wingert des DIE NEUE SYNAGOGE IN DER ROCHUSSTRASSE Juden Feist zwischen hochragenden Wohnhäusern in der Rochusstraße als Baugrundstück. Den Architektenwettbewerb für den Neubau gewann der Solche Gedanken scheinen auch Ludwig Levy bei seinem Synagogenkon- renommierte jüdische Professor Ludwig Levy aus Karlsruhe, der auch am zept für Bingen beseelt zu haben. Entwurf des Reichstagsgebäudes beteiligt gewesen war, mit seinem am romanischen Kirchenbaustil orientierten Projekt. Der gesamte Synagogenkomplex bestand aus dem synagogalen Mittelbau, der weit nach Westen zwischen die Wohnhäuser hineinragte, und zwei Das war damals der Trend. Vom orientalisch-neomaurischen Prachtstil, Nebengebäuden an der Straßenfront. wie ihn auch Levy noch in den achtziger Jahren in der Pforzheimer und der Kaiserslauterner Synagoge realisiert hatte, um die Eigenständigkeit des Der rechte, heute noch stehende Bau mit drei schön verzierten Rundbo- Judentums und seine Herkunft aus dem Vorderen Orient zur Schau zu stel- genfenstern im mittleren Stockwerk, diente als Gemeindehaus mit Verwal- len, war man inzwischen abgekommen. Um die Jahrhundertwende wand- tungs- und Versammlungsräumen. Im linken, schmäleren Gebäude befan- te man sich „deutschen Baustilen“ zu, um die Zugehörigkeit der Juden zum den sich Räume für den Rabbiner und den Kantor, während im deutschen Volk öffentlich zu demonstrieren. Sahen doch damals die deut- Untergeschoss die Wohnung des Synagogendieners war. schen Juden nach Meinung von Salomon Korn im deutschen Vaterland das „neue Jerusalem“.14) Wenn man das Modell ins Auge fasst, dann fallen zunächst die 5 Türme auf. Von vier Ecktürmen ist der eigentliche Synagogenbau eingerahmt. Zwei Diesen Gedanken entfaltet unvergleichlich treffend Salomon Korn, Archi- schlichte, rechteckige Treppenhaustürme flankieren auf der eindrucksvollen tekt in und dort im Vorstand der Jüdischen Gemeinde, in dem Schauseite eine mächtige Freitreppe, die zu einem Doppelportal führt. im Jahre 2005 bei Philipp von Zabern erschienenen wunderbaren, reich illustrierten und sehr informativen, in jeder Hinsicht gewichtigen Band „Synagogen, Rheinland-Pfalz/Saarland“.15) „Über allem stand der Wille, Teil der deutschen Nation zu sein“, schreibt er dort in seiner „Einführung über Wesen und Architektur der Synagoge“, und fährt fort: „Und so streb- ten die Juden in Deutschland an, ihre gesellschaftlich stigmatisierte Be- zeichnung abzulegen und sich fortan ‚Israeliten‘ zu nennen. Ihre Synago- gen aber wandelten sie in Tempel um. Dies war mehr als eine bloße Umbenennung, es war programmatisch: Nicht mehr das ferne Palästina, sondern Deutschland betrachteten sie von nun an als ihr gelobtes Land. Nicht mehr in Zion, sondern in Deutschland sahen sie den Ort, an dem der messianisch verheißene Tempel zu bauen sei. Und so entstanden in vielen deutschen Ortschaften neue große jüdische Tempel, die weithin sichtbares Bekenntnis der deutschen Juden – der israelitischen Deutschen – zu ihrem neuen gelobten Land waren. Liberale Strömungen innerhalb des Juden- tums gewannen die Oberhand und glichen ihre Synagogen in Stil und Architektur zunehmend stärker dem Kirchenbau an. … Synagogen-Kir- chen: die neuen Tempel der deutschen Israeliten.“16)

Bauplan der Ostfassade 46 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 47

Der Synagogeninnenraum

Den Synagogeninnenraum beschreibt Rabbiner Dr. Richard Grünfeld in der von ihm herausgegebenen Festschrift zur Einweihung dieses Gottes- hauses am 21. September 1905 wie folgt:

„Der Hauptraum zeigt eine doppelstöckige Anlage, deren Erdgeschoß für die Männer und deren Emporengeschoß für die Frauen bestimmt ist. Über- deckt ist dieser Raum in der Hauptsache mit einem offenen Holzgewölbe, Holzmodell der Synagoge in der Rochusstraße, das ebenso, wie die Wand- und Gewölbeflächen, noch des malerischen gebaut von Studenten der TU Braunschweig Schmuckes entbehrt. Die Fenster sind mit Glasmalereien versehen. Sie wurden sämtlich von Gemeindemitgliedern oder auswärts wohnenden Ge- Das Rundbogenfries in dem Giebelfeld darüber beherrschen die mosai- meindekindern zum Andenken an ihre heimgegangenen Lieben gestiftet. schen Gesetzestafeln, die von zwei Löwen bewacht oder beschützt werden. Im Osten führen mehrere Stufen zu einer Estrade mit dem Vorbetertisch, Überragt wird der ganze Komplex von dem mächtigen Vierungsturm, auf dem 8-armigen Leuchter und dem Rabbinersitz. dessen Spitze ein Davidsstern prangt. Im Hintergrund erhebt sich, durch seinen ganzen architektonischen Auf- Von der Rochusstraße aus gelangte man durch das Doppelportal in einen bau auf seine Bedeutung hinweisend, das Allerheiligste, der zur Aufbe- Vorraum. Von diesem führten Treppen in die Seitengebäude und zur Frau- wahrung der Thorarollen bestimmte Schrein. Ein gestickter Vorhang und enempore sowie ein Umgang zu den eigentlichen Synagogeneingängen an eine dahinter befindliche, feste Türe verschließen den Zugang. Die Kanzel der Nord- und Südseite, da an der Ostseite, zur Straße zu, der Thoraschrein steht mit dem Zugang zum Allerheiligsten in Verbindung und kann von in Richtung Jerusalem angebracht sein musste. allen Plätzen der Synagoge gesehen werden. 48 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 49

Das Allerheiligste, der zur Aufbewahrung der Thorarollen bestimmte Schrein

Hinter dem Allerheiligsten liegt in Emporenhöhe die Bühne für Sänger und Orgel. Über diesem Raume wölbt sich eine Kuppel mit Oberlicht, die in der Fassade durch den hohen, turmartigen Aufbau ihren architektonischen Ausdruck gefunden hat. ... Es sind 218 Männer- und 171 Frauensitze vor- gesehen.“ (Soweit Rabbiner Grünfeld!).

Die uns vor einigen Monaten unerwartet zugeschickten 6 Fotoplatten aus dem Nachlass von Karl Berrenberg aus dem Rheinland, der in den zwan- ziger Jahren bisher nicht gesehene Innenaufnahmen der Synagoge ge- macht hat, ergänzen anschaulich diese Beschreibung, obwohl noch De- tailfragen offen bleiben.

Diese einmaligen historischen Fotos vom Innern der Synagoge sandte 2007 der Sohn des Für die hervorragende Reproduktion dieser alten Fotografien, die heute im Ingenieurs Karl Berrenberg (Haan, 1903–1973) aus dem Nachlass seines Vaters dem Arbeits- Treppenhaus das Modell umrahmen, sei an dieser Stelle dem Fotokünstler kreis Jüdisches Bingen zu. Karl Berrenberg hatte Anfang der 1920er Jahre am Rheinischen und Fotohistoriker Franz Toth herzlich gedankt. Technikum in Bingen studiert und war ein begeisterter Fotopionier. 50 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 51

Die schon erwähnte feierliche Einweihung der neuen Synagoge vor fast 102 Jahren war ein großes gesellschaftliches Ereignis. Die „Binger Zeitung für Stadt und Umgebung“ berichtete:

„Es war ein herrliches, glanz- und stimmungsvolles Fest, das nun hinter uns liegt, stimmungsvoll eingeleitet und umkleidet von einer wohltuenden allgemeinen Anteilnahme der Gesamtbevölkerung an dem Freudenfeste der israelitischen Mitbürger. Fast an jedem Hause der Hauptstraßen weh- ten die Fahnen, – man war dabei dem löblichen Beispiel der Stadtverwal- tung gefolgt, welche die Rochusstraße zu einer via triumphalis gestaltet hatte.

Eine recht zahlreiche geladene Gesellschaft von hier und auswärts, Vertre- ter der staatlichen und städtischen Verwaltung, Geistliche der beiden christlichen Konfessionen, Schulbehörden etc, versammelten sich von 10 Uhr ab in dem neuen Gotteshaus, das auch in seinem, vorerst gewis- sermaßen noch schlicht ausgestatteten, Innern durch die ganz geniale An- lage auf jeden erhebend wirkt.“

Die Verwaltung der Stadt Bingen hatte „in großherziger Weise“, wie Grünfeld anmerkt, „der israelitischen Religionsgemeinde, anlässlich der Synagogeneinweihung, ein Festgeschenk in Höhe von 6000 Mark bewil- ligt mit der Bestimmung, daß dafür die Kosten der Orgel bestritten werden sollen“.

Rabbiner Dr. Grünfeld schließt seine Festschrift mit dem Segenswunsch: „Möge die neue Synagoge auf der Rochusstraße für die Gemeinde werden: ein Haus des Segens und des Friedens, der Andacht und der Erhebung, eine Quelle der Belehrung und des Trostes, eine Pflanzstätte des lautersten Patriotismus und echter, unverfälschter Menschenliebe!“17)

33 Jahre diente die Synagoge ihrem Zweck als jüdisches Gotteshaus, als Lehrhaus und Gemeindehaus.

Anmerkung: Im Jahr 1910 verließ der Rabbiner Dr. Grünfeld Bingen und übernahm das Rabbinat in Augsburg. Sein Nachfolger war der Rabbiner Dr. Ernst Appel, der bis 1926 in Bingen blieb. Die beiden Fotos, die uns die Geschwister Berta und Mauricio Schustermann bei ihrem Besuch Ende Januar 2015 in Bingen überließen, zeigen den Rabbiner Dr. Ernst Appel mit jüdischen Konfirmandinnen im Jahr 1924 vor und in der Binger Synagoge. 52 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 53

DIE ZERSTÖRTE SYNAGOGE 1938

Doch nachdem die Nationalsozialisten seit 1933 in Deutschland mit ihrer antisemitischen Propaganda und Unterdrückungspolitik das Sagen hatten, war der Boden für das bereitet, was sich in den Tagen des 9. und 10. No- vember 1938 und in der dazwischenliegenden Nacht, die als Reichspog- romnacht in die Geschichte eingegangen ist, allenthalben in Deutschland ereignete:

Überall brannten die Synagogen, angezündet von braunen Brandstiftern, die sie verwüsteten und schändeten.

Auch in Bingen war am 9. November ein Trupp zerstörungswütiger SA- Männer und Nazianhänger in das jüdische Bethaus eingedrungen, hatte die Bänke mit Benzin übergossen und angezündet. Nach ihrem Verschwin- den gelang es dem Synagogen-Diener jedoch, die Flammen zu ersticken.

Doch am Nachmittag des folgenden Tages kamen die Nazis wieder, demo- lierten die Synagogeneinrichtung, zerstörten die Orgel, übergossen die Trümmer mit Teer und legten gegen 17 Uhr nochmals Feuer an.

Der Thoraschrein nach der Zerstörung

Entsetzt und ohnmächtig sahen die Menschen zu, wie die Gesetzestafeln und die sie flankierenden Löwen über den Eingangsportalen zerschlagen wurden und bald die Flammen aus dem Dach schlugen. (Einige Augen- Das Portal der Synagoge mit den von Nazis abgeschlagenen Löwenköpfen zeugen sind hier im Saal zugegen). 54 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 55

„In jener sogenannten ‚Reichskristallnacht‘ verbrannten“, wie Salomon Korn es treffend formuliert, „mit den Synagogen-Tempeln das innige Be- kenntnis und die unerwiderte Liebe der deutschen Juden – der jüdischen Deutschen – zu ihrem Vaterland. … Damit endete für jedermann sichtbar die fruchtbarste Epoche deutsch-jüdischer Geschichte: 150 Jahre mühsam erkämpfte bürgerlich-rechtliche Gleichstellung verflüchtigte sich im Rauch jener Schreckensnacht.“18)

Bis auf die Außenmauern war die Synagoge, die 33 Jahre lang eine Zierde der Rochusstraße gewesen war, damals abgebrannt.

Und 32 Jahre lang – bis 1970 – stand sie dann dort als Ruine, durch Flie- gerbomben 1944 noch weiter zerstört. Für manche war dieser Zustand ein Ärgernis und ein Stein des Anstoßes.

Die noch mit erkennbaren jüdischen Symbolen und hebräischen Inschrif- Übernahme der zerstörten Synagoge durch den Binger Winzerverein ten versehenen Fassadenmauern waren sehr bald dem Landrat im nahen Kreisamt (heutiges Ämterhaus) ein Dorn im nationalsozialistischen Auge. Anstalten zur Niederlegung der Mauern erkennen ließ, drängten Landrat und Bürgermeister zu wiederholten Malen „mit Rücksicht auf den Frem- Schon am 17. Dezember 1938 stellte das Kreisamt fest, dass „der jetzige denverkehr“ auf Abriss oder auf so vollständige Umgestaltung der Fassa- Zustand des Gebäudes auf die Dauer nicht geduldet werden kann“. Notfalls de, „dass das Gesicht einer Synagoge verschwindet“. (So am 21. Sept. 39). müsse „von der Eigentümerin (der jüdischen Gemeinde) die Niederlegung des Gebäudes verlangt werden“. Acht Tage später begründete der Winzerverein seine Untätigkeit mit der Schwierigkeit der Materialbeschaffung „infolge der Kriegsereignisse“ und Auch der Binger Bürgermeister Nachtigall plädierte für Abriss. Da melde- hielt es für angebracht, „die weitere Verwendung des Synagogengrund- te der Binger Winzerverein Interesse an der Übernahme des Grundstücks stücks einstweilen zurückzustellen“ (29.9.1939). an. Ihm ging es vor allem um den der Feuersbrunst entgangenen Gemein- detrakt. Schrieb er doch am 6. Februar 1939 in seinem Gesuch an den Doch der Landrat ließ nicht locker und verlangte am 8. Januar 1940 in Bürgermeister: „Dieses in sich selbständige Gebäude ist sehr gediegen ge- sehr entschiedenem Ton vom Bürgermeister, „polizeilich darauf hinzuwir- baut, noch gut erhalten und würde sich leicht für unsere Zwecke umge- ken“, dass die Ruine sofort nach der Frostperiode umgebaut oder abgetra- stalten lassen.“ gen werde. Auf jeden Fall müssten die „Kultusabzeichen“ beseitigt werden.

Schon am 3. März teilte die Israelitische Religionsgemeinde Bingen dem Doch weder ein Binger Bauunternehmen (3.6.1940) noch die Gemeinde Bürgermeister mit: „Der Winzerverein hat das Grundstück mit der Ver- Welgesheim (17.12.1940), die beide „gegen Überlassung des anfallenden pflichtung, den Abbruch an unserer Stelle vorzunehmen, gekauft.“ Von Abbruchmaterials“ die Ruinen beseitigen wollten, rührten je einen Stein dem Kaufpreis in Höhe von 12.000 RM stellte der Winzerverein 10.000 RM an. Im Juli 1942, mitten im Krieg, als auch in Bingen schon die ersten Ju- der jüdischen Gemeinde als Abrisskosten in Rechnung und erwarb somit den deportiert worden waren, hätte der Winzerverein das Ruinengrund- für 2.000 RM den noch heute erhaltenen Gebäudetrakt samt dem ganzen stück gern der Stadt verkauft, doch diese wollte sich die Abrisskosten nicht Areal mit der ausgebrannten Synagoge. Da der Winzerverein jedoch keine „aufhalsen“. 56 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 57

So änderte sich nichts an dem Erscheinungsbild, und die durch Bomben Die Ruine verkam immer mehr, während in dem vom Winzerverein 1939 weiter zerstörten Ruinen, wobei die Fassadenfront erstaunlich gut erhalten erworbenen intakten Gebäude der Winzerhausbetrieb florierte. Das gefiel geblieben war, standen über das Kriegsende hinaus im ausgebrannten Zu- jedoch nicht allen, vor allem Besucher der Stadt nahmen daran Anstoß, was stand der Katastrophe von1938. aus Beschwerdebriefen oder aus folgender Leserzuschrift aus Münster vom 12. Oktober 1958 in der „Allgemeinen Sonntagszeitung“ ersichtlich ist: Doch was geschah mit ihnen nach dem Krieg, nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus, der der Synagoge und ihrer Gemeinde zum Schicksal „Wer auf seiner Ferienreise in dem weinfröhlichen Städtchen Bingen aus- geworden war? steigt, kann dort eine ausgebrannte Synagoge erblicken, nicht etwa von Bomben zerstört, sondern in jener berüchtigten Nacht von der SA ange- Durch die Restitutionsverfahren Anfang der 50-er Jahre wurden die wi- zündet. Das gibt es auch anderswo. .. Was es aber wohl kaum zum zweiten derrechtlich enteigneten jüdischen Vermögen den Eigentümern oder ihren Mal gibt, ist dies: in einem noch brauchbaren Teil des Hauses hat man seit Erben zurückgegeben. So kam das Binger Synagogengrundstück in den Jahren ein Weinlokal mit Musik und Tanz eingerichtet, und das Schild Besitz der Jüdischen Gemeinde Mainz, der Rechtsnachfolgerin der nicht ‚Winzerverein‘ prangt neben der großen, noch lesbaren Inschrift in der mehr existierenden Israelitischen Religionsgemeinde Bingen. heiligen Sprache der Bibel, dem Hebräischen. ... Ich habe mit Einheimi- schen gesprochen, die ebenso empört waren wie ich. Was die vielen frem- den Touristen, vor allem Amerikaner, denken, weiß ich nicht.“ (M.G., Münster) Es gab noch einige andere entrüstete Hinweise von Bingenbesu- chern in jenen Jahren auf noch deutlich lesbare Aufschriften aus der Na- zizeit wie „Juda verrecke“ und „Ausgespielt ihr Juden“ oder neuere Ha- kenkreuz-Schmierereien auf dem Bretterverschlag. In einem solchen Fall wies Bürgermeister Gebauer darauf hin, dass die Synagoge Eigentum der Jüdischen Gemeinde Mainz sei, und die Stadt Bingen kein Recht habe, „auf diesem Privatbesitz irgendwelche Veränderungen zu treffen“. Die Mainzer Gemeinde müsste „die Wiederherstellung durchführen oder aber das Ge- samtbild verschönern“ (1.8.1958).

Man könnte meinen, diese Worte wären der Jüdischen Gemeinde in Mainz zu Ohren gekommen. Denn fast zeitgleich hatte sie der Stadt Bingen die Synagoge zum Kauf angeboten (31.7.1958), woran diese jedoch auch dies- mal nicht interessiert war.

Doch 3 Jahre später war die Stadt so weit, und der Stadtrat beschloss am 8. Juni 1961 – auf Antrag der SPD-Fraktion – einstimmig, „von der Jüdi- schen Gemeinde Mainz das Grundstück der Gemarkung Bingen Flur 1, Nr. 311/3, 746 Quadratmeter, ehemalige jüdische Synagoge, zum Preis von 2000 DM zu erwerben“. (Ratsprotokoll 8.6.1961). Was hat nun die Stadt Bingen damit gemacht? Anscheinend 9 Jahre lang nichts, bis zum Jahr Abbruch der ehemaligen Synagoge in der Rochusstraße. Aufnahme 1970 Heinz Zeil 1970. Slg. Stadtarchiv Bingen 58 Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen Die Synagoge in der Rochusstraße – mit eingehender Darstellung der Synagogen in Bingen 59

Tropfen Wasser zu ihrer Rettung verspritzt hatte. Dennoch irritiert die jet- zige Situation und die Florian-Darstellung an der Synagogenmauer nicht nur jüdische Besucher, die bisweilen ihre ehemalige Geburts- und Heimat- stadt aufsuchen.

Wie sinnvoll wäre hier ein Archiv oder gar ein Museum für die Geschich- te der Juden in Bingen untergebracht! Dort könnte dann auch das Modell der Synagoge – an authentischem Ort – seinen endgültigen Platz finden. Ich meine: Man darf darüber nachdenken! (Anmerkung: Seit dem 8. No- vember 2010 befindet sich im rechten Teil des noch erhaltenen Gebäude- teils der ehemaligen Synagoge im ersten Stock ein Erinnerungs- und Be- gegnungszentrum).

Der rechte noch erhaltene Teil der ehemaligen Synagoge im Jahr 2009. Stein des Anstoßes für viele Besucher waren die Embleme der Feuerwehr am ehemaligen Sakralbau.

In jenem Jahr aber ergriff sie radikale Maßnahmen: Bagger rückten an und legten das ruinöse Mauerwerk und die bis dahin traurig-majestätisch der totalen Zerstörung getrotzt habende Fassade nieder. Nun war das erreicht, was die nationalsozialistischen Beamten seit 1938 immer wieder gefordert hatten: „Abriss der Synagoge“ und: „Das Gesicht einer Synagoge“ muss verschwinden!

Heute füllt die Lücke eine schmuck- und geschmacklose Wohnhausfront aus. Seit Jahrzehnten zeigt an der Nordwand des ehemaligen jüdischen Gemeindetraktes die geharnischte Gestalt des hl. Florian, der mit einem Wasserguss aus einem Kübel eine brennende Stadt löscht, wer hier zu Hau- se ist. Ironie der Geschichte: Die Städtische Feuerwehr!

Es ist zwar nicht mehr dieselbe Feuerwehr, die beim Brand der Synagoge 1938 untätig zugeschaut und – gewiss „auf Befehl von oben“ – keinen 60 Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit 61

meisterin der Stadt empfangen werden. Das war auch schon zur Amtszeit Über das Erinnern – Vom Umgang ihres Vorgängers Herrn Erich Naujack so, der mit großem Interesse das Schicksal dieser in der Nazizeit ausgewanderten oder geflohenen Binger mit der Vergangenheit verfolgte, bei Besuchen ihnen mit aufmerksamer Zuwendung zuhörte und mit der Zeit eine umfangreiche Adressen-Kartei von ihnen anlegen konn- VON DR. JOSEF GÖTTEN19) te. Diese bildete den Grundstock für die von ihm begonnene und dann von unserem Arbeitskreis weitergeführte Korrespondenz mit den so lange ver- gessenen Bingern. BEGRÜSSUNGSANSPRACHE: Es ist mir eine große Freude, Sie, verehrter Herr Naujack, der Sie inzwi- Wir freuen uns, dass das anspruchsvolle Thema „Über das Erinnern – vom schen auch Mitglied in unserem Arbeitskreis sind, mit Frau Gemahlin hier Umgang mit der Vergangenheit“ auf so viel Interesse gestoßen ist. begrüßen und Ihnen für diese Pionierarbeit danken zu können. Ich begrü- ße die Vertreter der Kirchen, Parteien, Schulen und anderer Einrichtungen, Gewiss war es aber auch der Name des prominenten Redners des heutigen besonders aber die Schülerinnen und Schüler mit Lehrerinnen und Leh- Abends, der eine so starke Anziehungskraft ausübt. Deshalb gilt ihm, dem rern, die sich der schwierigen und wichtigen Thematik des heutigen Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin, Herrn Dr. Peter Frey, mit Frau Abends auch im Unterricht stellen. Gemahlin mein besonderer Willkommensgruß.

Dass Sie, Herr Dr. Frey, trotz enormer beruflicher Anspannung heute MEINE DAMEN UND HERREN, Abend Ihre Zeit unserem Arbeitskreis und Ihrer Heimatstadt widmen, um LIEBE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER! tiefer in das Phänomen des Verdrängens und Erinnerns hineinzuführen, freut uns sehr und wissen wir dankbar zu schätzen. An Heiligabend vor 10 Jahren trug der Gastkommentar in der Allgemeinen Zeitung/Ausgabe Bingen die Überschrift: „Brücke der Begegnung“. Er Im Jahre 1900 wurden 713 jüdische Einwohner gezählt. Das waren 7,4 stammt aus der Feder des im Frühjahr dieses Jahres verstorbenen Rektors Prozent der Stadtbevölkerung und damit verhältnismäßig wesentlich mehr der Rochuskapelle, P. Josef Krasenbrink. Ausgehend von dem Wort im Jo- als in Mainz. hannesprolog über die Menschwerdung des Gottessohnes: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf“, stellte er einleitend 43 Jahre später gab es keinen jüdischen Menschen mehr in Bingen! Die fest: „Die Umstände der Geburt Jesu gelten von jeher als Symbole der Ver- Nazis hatten hier ganze Arbeit geleistet: 1943 war Bingen judenrein! Und weigerung von Geborgenheit, von Gastfreundschaft, von Heimat.“ Jahr- niemand schien die verschwundenen Mitbürger zu vermissen. Niemand zehnte zurückblickend auf die Zeit des Nationalsozialismus, schreibt er: und nichts – außer den hohlen Mauern der ausgebrannten Synagoge in „Auch in den Jahren 1933 bis 1945 wurde in den christlichen Kirchen das der Rochusstraße – erinnerte an sie – jahrzehntelang, generationenlang. Weihnachtsevangelium verkündet, und gleichzeitig wurde die Verweige- rung von Heimat, die Vertreibung aus Haus und Beruf millionenfach an Diesem nicht nur für Bingen festzustellenden Phänomen wollen Sie, Herr Bürgern jüdischen Glaubens praktiziert. Bürgerinnen und Bürger seit Ge- Dr. Frey, heute Abend mit uns nachsinnen. Das lässt uns mit Spannung nerationen wurden rechtlos, wurden gedemütigt, wurden deportiert und Ihren Ausführungen entgegen harren. ermordet ohne sichtbaren Protest der christlichen Umwelt.“ Dann beleuch- tet der Historiker die damalige Situation hier in Bingen: „Angst und Aus Bingen stammende Jüdinnen und Juden freuen sich und fühlen sich Gleichgültigkeit waren auch in Bingen von 1933 bis 1945 die Handlanger geehrt, wenn sie bei einem Besuch in Bingen auch von der Oberbürger- des Unrechts. Dabei gab es in der Binger Geschichte an keinem Punkt ei- 62 Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit 63

nen ausgeprägten Antijudaismus, obwohl die jüdische Gemeinde in dem Arbeitskreis. P. Krasenbrink weist sodann auf einen weiteren Schritt im vom Mainzer Domkapitel regierten Bingen seit dem 12. Jahrhundert von Umgang mit der Vergangenheit hin: „Über Jahre hin wurde versucht, Kon- beachtlicher Größe war.“ takte mit den jüdischen Bürgern Bingens in aller Welt zu knüpfen. Der neu ins Leben gerufene Arbeitskreis Jüdisches Bingen beabsichtigt, die noch Vielleicht können noch lebende Augenzeugen jener Zeit die Behauptung lebenden jüdischen Mitbürger in ihre alte Heimat einzuladen.“ Und er P. Krasenbrinks bestätigen, dass es „nach 1933 keinen organisierten mili- meinte dazu mit kritischem Unterton: „Es ist gut, dass auch in Bingen an tanten Antisemitismus in Bingen“ gab. dieser Brücke der Begegnung gebaut wird, die anderswo längst die Herzen der Fremdgewordenen zueinander führt.“ Soweit die beachtenswerten Ge- „Aber“, fährt er fort, „man akzeptierte die immer rigoroser werdende Iso- danken P. Krasenbrinks zu Weihnachten 1998 in der AZ. lierung der jüdischen Mitbürger“. Der Archivforscher Krasenbrink hebt hervor, dass „auch im ‚Katholischen Kirchenkalender‘, einer Binger Zeit- schrift von beachtlicher Qualität, sich keine kritischen Äußerungen fin- MEINE DAMEN UND HERREN! den“. Und so geschah auch in Bingen, was im ganzen Reich geschah: „Als dann die Judenverfolgung offen ausbrach, brannten auch in Bingen die Wir sind heute hier zusammengekommen, um zu erinnern: Zu erinnern an Synagogen, wurden Geschäfte verwüstet, jüdische Mitbürger drangsaliert die furchtbaren Ereignisse vor 70 Jahren, die der Auftakt zu der von den und später deportiert.“ Nationalsozialisten beabsichtigten totalen Auslöschung des Judentums im Deutschen Reich und in allen Ländern Europas, denen sie ihre Herrschaft Die abschließenden Gedanken dieses Kommentars führen zum Thema des aufdrücken konnten. Zu erinnern aber auch an die von P. Krasenbrink heutigen Abends hin: „Die öffentliche Auseinandersetzung mit diesem schon erwähnte Gründung des Arbeitskreises Jüdisches Bingen vor 10 dunklen Kapitel der Geschichte begann in Bingen mit der Erinnerung an Jahren. 23 Binger Bürgerinnen und Bürger hatten am 29. April 1998 nach die 50. Wiederkehr der Machtübernahme der Nazis 1933. Seitdem ist der monatelangen Vorüberlegungen im Stefan-George-Museum die Grün- Strom der kritischen Erinnerung nicht mehr versiegt.“ Die hier von P. Kra- dungsurkunde zu diesem Verein unterzeichnet. senbrink erwähnte Erinnerungsinitiative ging von einem Freundeskreis um Jochen Tullius aus, zu dem auch P. Krasenbrink selbst gehörte. Mit Oft werde ich gefragt, wie es zu diesem Arbeitskreis gekommen ist. Initi- sieben Personen hatten diese am 9. November 1983 die erste Gedenkver- atorin war die damalige Bürgermeisterin Brigitte Giesbert, die ich auch als anstaltung an der ehemaligen Synagoge durchgeführt. Damals wurde Vorstandsmitglied in unserem Arbeitskreis heute hier sehr herzlich begrü- auch die Gedenktafel an dem Restbau der Synagoge angebracht, die im ße. Erste Anstöße von ihr in den 70er Jahren zum Aufgreifen der Erinne- Jahr zuvor – im 40. Jahr der Erinnerung an die zwei großen Deportationen rung an die Binger Judenschaft stießen anfänglich auf Vorbehalte, wie sie von Binger Juden im März und September 1942 – einstimmig im Stadtrat mir erzählte. Eine große Leistung war dann aber in den Jahren 1992 bis beschlossen worden war. Dies war auf Initiative von Jochen Tullius hin 1996 das von ihr geförderte und unterstützte Projekt des Landesamtes für erfolgt, der in der Folgezeit wiederholt durch Zeitungsartikel die Aufmerk- Denkmalpflege Rheinland-Pfalz: Die bildliche und ausführliche textliche samkeit der Öffentlichkeit auf die Endphase des jüdischen Lebens in Bin- Dokumentation des Jüdischen Friedhofs in Bingen. Ein gen gelenkt hat und damit der Erinnerungsarbeit in Bingen einen großen Anschub gegeben hat. Pilotprojekt! Bei einer Ausstellung „Jüdische Friedhöfe in Rheinland- pfalz“, die sie 1997 von Mainz nach Bingen geholt hatte, legte sie eine Die Gedenkveranstaltung am 9. November wird seitdem alljährlich mit Liste auf, in die sich Leute eintragen sollten, die sich für die Aufarbeitung wachsender Anteilnahme an der ehemaligen Synagoge in der Rochusstra- der Geschichte der Juden in Bingen interessierten. Es waren erstaunlich ße durchgeführt. Seit 1988 wird sie vom Oekumeneausschuss der Binger viele. Diese wurden dann von Frau Giesbert zu einem Gespräch eingela- Kirchen gestaltet; seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit unserem den, dem mehrere diskussionsreiche Treffen folgten. Aus den Überlegun- 64 Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit 65

gen kristallisierte sich schließlich die Absicht heraus, einen Verein zu Mal hier. Es war ein Alptraum. Ich konnte nur über Nacht bleiben, muss- gründen, für den man dann den Namen „Arbeitskreis Jüdisches Bingen“ te sofort wieder weg. Ich kannte noch alles, die Häuser und die Straßen. fand. Seine per Satzung festgesetzten Ziele finden Sie in dem Informati- onsblatt, das wir ausgelegt haben. Soviel in Kürze über die Genesis des Aber ich traf die Menschen nicht mehr, die ich einst gekannt hatte. Sie Arbeitskreises Jüdisches Bingen in den Jahren 1997/98 und über die maß- waren vertrieben oder ermordet. ... Auch in den 70er Jahren konnte ich gebliche Rolle, die Frau Giesbert dabei gespielt hat. Ihr gebührt von uns Bingen nur stundenweise ertragen. 1991 dann hatte ich eine Einladung allen dafür ein ganz großes „Danke!“ und „Vergelt‘s Gott!“ vom damaligen Oberbürgermeister Naujack. Wir führten lange Gespräche. Aber meinen Alptraum und dieses Gefühl des Fremdseins konnte ich noch Welche Bedeutung unser Arbeitskreis für die Binger Jüdinnen und Juden immer nicht abschütteln. Jetzt ist alles anders.“ Auf die Frage, was sich im Ausland und für die Erinnerungsarbeit hier in unserer Stadt hatte und denn geändert habe, sagte Frau Formanek: „Ich kenne mehr Menschen, hat, soll im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden. Als dringendste die Interesse an uns ehemaligen jüdischen Mitbürgern haben. Ich spreche Aufgabe erkannte der neue Arbeitskreis die sofort in Angriff genommene vom Arbeitskreis Jüdisches Bingen. Mit ihm kommuniziere ich schon eine Aktion „Wiedersehen mit Bingen“, die erste offizielle Einladung der vor Weile über das Internet. Jetzt während meines Aufenthaltes in Bingen 70/80 Jahren dem tödlichen Zugriff der Nazis entkommenen Binger Jü- kümmert er sich rührend um mich.“ Und gefragt: „Verspüren Sie Lust, ein dinnen und Juden, die hauptsächlich in Nord- und Südamerika und in fünftes Mal nach Bingen zu kommen?“ antwortete sie: „Bislang war die Israel leben. Dem enormen Einsatz der Mitglieder des Arbeitskreises wur- Vergangenheit noch so lebendig, die Angst saß so tief. 2001 ist das Jahr de mit Hilfe der Stadt und der Spendenbereitschaft vieler ein großer Erfolg der Wende für mich. Beim nächsten Besuch in Bingen werde ich viel ge- beschert. Von den angeschriebenen Jüdinnen und Juden folgten im Som- löster sein. Aber die Empfindsamkeit, die wird immer bleiben.“ mer des nächsten Jahres 16 unserer Einladung, so dass mit Ehegatten oder anderen Angehörigen schließlich 28 Personen eine Woche lang unsere Drei Jahre später, im August 2004, war Frau Formanek ein fünftes Mal Gäste in ihrer fremdgewordenen Geburts- und Heimatstadt waren. Frau hier und brachte ihre Tochter mit Familie mit. Sie war in der Tat sehr ge- Herta Raviv geb. Bermann aus Israel sprach wohl allen aus dem Herzen, löst. Als leidenschaftliche Fotografin durchstrich sie den Wildwuchs des wenn sie nach der für alle unvergesslichen und von ihnen als glücklich jüdischen Friedhofs auf der Suche nach schönen Motiven, um sie in einer empfundenen Woche der Begegnung und des Wiedersehens mit der un- Galerie in New York auszustellen. (Einen Teil davon können Sie hier im vergesslichen Heimatstadt voll Anerkennung und Dankbarkeit dem Ar- Foyer bewundern). Und es drängte sie, auch noch ein 6. Mal zu kommen! beitskreis schrieb: „Im Traum hätte ich mir nicht vorgestellt, dass man sich Mit Angehörigen hatte sie 5 Gedenksteine für Vorfahren gestiftet, die bei an uns einstige jüdische Mitbürger noch erinnert und an uns denkt, die der großen Stolpersteinaktion im vergangenen Jahr in Bingen und Bin- wir ja in alle Winde zerstreut sind.“ „Mit Freude und ein wenig Angst“ gerbrück verlegt worden sind. Bei diesem für sie so wichtigen Ereignis waren sie gekommen, wie wir oft vernehmen konnten. Bei jüdischen Men- wollte sie mit ihrer Familie dabei sein. Ähnliche Erfahrungen wie Frau schen, die zum wiederholten Mal in Bingen sind, verdrängen jedoch po- Formanek hat auch die 87-jährige Ly Japha geb. Lisa Gross aus Denver/ sitive Empfindungen immer mehr die Gefühle der Unsicherheit und Angst. USA gemacht, die im April dieses Jahres wieder einmal für 3 Tage mit ih- rer Tochter Lynn, ihrem Schwiegersohn Bill Geller und zwei Enkelinnen Frau Dr. Ruth Formanek geb. Löwenstein, die in New York lebt, war als in Bingen weilte. Sie konnte ihren Angehörigen ihr Elternhaus in der Gau- junges Mädchen am 10. November 1938, als die Synagoge in der Rochus- straße zeigen, das der angesehenen Weinhändlerfamilie Moses Gross/Söh- straße, in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung Martinstraße 5, in Flammen ne gehört hatte. stand, aus Bingen geflohen. Bei ihrem vierten Besuch hier im Jahr 2001 gab sie einer AZ-Journalistin ein Interview, in dem dieser langsame Wan- Nach dem Besuch schilderte Bill Geller seine Eindrücke in einem Brief an del der Empfindungen zum Ausdruck kommt. Auf die Frage, ob das ihr Verwandte und Freunde, der auch an uns gelangt ist. erster Besuch in Bingen sei, antwortete sie: „Nein. 1961 war ich das erste 66 Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit Über das Erinnern – Vom Umgang mit der Vergangenheit 67

Frau Beate Goetz, die 2. Vorsitzende unseres Arbeitskreises, hat ihn aus gemacht haben, die Beziehung zu den Überlebenden der Stadt zu verbes- dem Englischen übersetzt. Lassen Sie mich, bevor wir uns dem Brief zu- sern und den guten Namen der Stadt wieder herzustellen. wenden, an dieser Stelle Frau Goetz dafür und überhaupt für ihren enor- men Einsatz beim Führen der umfangreichen Korrespondenz mit den in Ein wunderbares Unterfangen!. Wir können alle nur hoffen, dass unsere aller Welt lebenden Binger Jüdinnen und Juden sehr herzlich danken. Heimkehr, wenn wir einmal zurückkommen – vor allem nach 70 Jahren Diesen Kontakt zu halten ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit. Darüber hi- – ebenso positiv sein wird.“ naus erreichen Frau Goetz immer wieder Anfragen übers Internet zu jüdi- schen Vorfahren, die sie durch eine aufwendige Recherchenarbeit zu be- Solche anerkennenden, dankbaren Worte, die für viele ähnliche Äußerun- antworten sucht. Eine beachtliche Leistung! Sie hat inzwischen ganze gen stehen, sind uns Genugtuung und zugleich Ansporn für unsere Bemü- Stammbäume jüdischer Binger Familien im Kopf. Vielen Dank, Beate! hungen um Versöhnung mit Menschen, die in jungen Jahren in dieser Stadt großes Leid, Verletzungen, Hass und Unrecht erfahren mussten, aber Nun zu dem Brief von Bill Geller. „Heimzukehren ist niemals einfach“, doch ihr Leben, wenn auch in der Fremde, retten konnten. Mehr als ein- schreibt er, „ob als junger Mensch oder Erwachsener. Man weiß nicht, was hundertfünfzig jüdischen Einwohnern in Bingen war das nicht mehr ver- einen erwartet – durch die Menschen, die Häuser oder die Stadt. Wir gönnt; sie gerieten in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. An verschie- machten letzte Woche eine Erfahrung, die uns sehr berührte und uns zeig- denen Stellen erinnern inzwischen im Straßenpflaster der Stadt 32 te, dass das Gute, das Ly einmal kannte, immer noch existiert und dass Messingplatten auf sogenannten Stolpersteinen vor ehemaligen jüdischen das Böse, das nun der Erinnerung angehört, der Zukunft nichts mehr an- Häusern oder Wohnungen an die Menschen, die dort gewohnt hatten und haben kann. Ly wurde 1921 ... in Bingen geboren und lebte in demselben die entscheidend mit dazu beigetragen hatten, dass Bingen eine blühende Haus bis März 1939, als es ihr gelang, aus Deutschland herauszukommen Stadt war. 20 Gedenksteine werden im Februar des nächsten Jahres hin- und nach England zu fliehen. ... Sie war schon in früheren Jahren zurück- zukommen. gekehrt: 1978, 1984 und 1999; jedes Mal machte sie bessere Erfahrungen, und dieses Mal konnte sie sogar ihre Enkelinnen in dem Haus herumfüh- ren, in dem sie aufgewachsen war, den Friedhof zeigen, auf dem ihr Vater und seine Eltern begraben sind, und ihre ehemalige Schule.“ (die jetzige Hildegardisschule) „Bingen ist eine hübsche Stadt“, stellte er fest, „und da dort in diesem Sommer eine Gartenschau stattfindet, war die ganze Stadt herausgeputzt.

Lys Haus wurde im 2. Weltkrieg nicht zerbombt und ist noch so, wie sie es in Erinnerung hat. Als wir das Haus zu einem angemeldeten Besuch betraten, drehten wir einen kleinen Film, so dass Ly ihre Erfahrungen mit anderen Familienmitgliedern teilen kann. Wie ihr euch vorstellen könnt, war es ein sehr bewegender Augenblick für sie, und es war manchmal schwierig, sie dazu zu bringen, wieder Englisch zu sprechen, wenn sie mit den Leuten, die uns herumführten, Deutsch sprach. Am Ende des Tages gab es Ly zu Ehren ein Abendessen, bei dem ungefähr 20 Personen anwe- send waren und in dessen Verlauf Ly in einer Rede für alles, was der Ar- beitskreis Jüdisches Bingen geleistet hat, Dank sagte. Diese Menschen – keiner von ihnen ist jüdisch – sind wahre Helden, die es sich zur Aufgabe 68 Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs 69

Jüngsten Tag; andererseits ist er ein etwas unheimlicher Ort, der möglichst Zur Geschichte des jüdischen selten aufgesucht werden soll und am Sabbat und an Feiertagen nicht be- treten werden darf. Das drückt sich auch in den verschiedenen hebräischen Binger Friedhofs Bezeichnungen für Friedhof aus. Man nennt ihn „Haus des Lebens“, „Woh- nung der Lebenden“ und im Jiddischen euphemistisch „Getort“ (Gut-Ort), NACH EINER DARSTELLUNG VON DR. JOSEF GÖTTEN aber auch „Haus der Gräber“, „Haus des Todes“.

Beim Betreten eines jüdischen Friedhofs hat der Mann — auch der Nicht- Friedhöfe und das ganze Bestattungswesen mit seinen vielen Riten und jude — sein Haupt mit einer Kippa (Käppchen) oder einer anderen Kopfbe- Bräuchen spielen im Judentum eine wichtige Rolle. Darum ermöglicht der deckung zu bedecken wie beim Besuch einer Synagoge. Beim Verlassen Besuch eines jüdischen Friedhofs Einblicke in die Kultur und religiösen des Friedhofs vollziehen die Juden eine rituelle Handwaschung, um sich Auffassungen der Juden. von der kultischen Unreinheit zu befreien, die durch den Aufenthalt auf dem Friedhof erfolgt ist. Die mittelalterliche jüdische Gemeinde in Bingen hatte noch keinen eige- nen Friedhof. Wie auch die Rheingauer Juden brachten die Binger ihre Diese Handlungsweisen verraten die Ambivalenz eines Friedhofs in der Verstorbenen auf den Friedhof in Mainz, den Mainzer „Judensand“. jüdischen Auffassung: Er ist zugleich ehrfurchtgebietend als auch furcht- erregend. Einerseits ist er ein in gewisser Hinsicht heiliger Ort, denn hier Im Jahr 1570 bat die offenbar zahlenmäßig angewachsene Gemeinde um harren die Verstorbenen in ungestörter Ruhe auf die Auferstehung am Überlassung eines Gebietes für einen eigenen Friedhof, da der Weg nach Mainz bei Hochwasser und im Winter äußerst beschwerlich war. Sie schlu- gen selbst ein brachliegendes Gebiet am Viehtrieb oberhalb der Stadt in den damaligen „Hisseln“ vor. Dieses Gelände wurde ihnen zu einem jähr- lich an das für die Stadt zuständige Mainzer Domkapitel zu zahlenden Zins von fünf Gulden sowie einem Gulden pro Begräbnis zugewiesen.

Nach dem 1789 angelegten Memorbuch der Gemeinde wurde bereits 1562 eine erste Beisetzung vorgenommen. Der älteste heute noch lesbare Grab- stein stammt aus dem Jahre 1602 und wurde für den verdienstvollen Gemeindevorsteher Hirz Bing gesetzt.

Jüdische Friedhöfe waren zu allen Zeiten das Ziel sinnloser Zerstörungs- wut. In Bingen wird zum Beispiel 1731 berichtet, dass das Vieh auf dem nach Norden offenen Gelände weidete und „der Friedhof von rohen Hän- den verwüstet und viele Leichensteine zertrümmert worden seien.“ Die Stadt wollte jedoch eine Umzäunung des Gebietes nicht zulassen, „weil die benachbarten Weinberge und die Weydt darunter angeblich leiden“ wür- den. Das Domkapitel beendete 1750 den daraus entstehenden Rechtsstreit zwischen Juden und Stadt mit der Erlaubnis, eine niedrige Mauer („nicht Oberhalb des Neubaus des Stefan-George Gymnasiums und unterhalb des Waldes liegt der jüdische Friedhof. Zu erkennen ist dort die Eingangshalle zum Friedhof. höher als 8 Schuh“) zu errichten. Einen beträchtlichen Anteil am Erfolg Foto: Stefan-George-Gymnasium der Verhandlungen gebührte offenbar dem damaligen Gemeindevorsteher 70 Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs 71

Mosche Koppel Kohen, der die jüdische Seite vertrat und dafür im Binger Memorbuch und auf seinem Grabstein entsprechend gewürdigt wurde.

Der Eingang zu diesem Friedhof befand sich in der Süd-Ost-Ecke; das zu- gemauerte Tor ist noch erkennbar. Der älteste Teil des Friedhofs liegt im Osten des 265 m langen, aber unterschiedlich breiten Grundstückes. Da er auch von den umliegenden Gemeinden zur Bestattung benutzt wurde und die Zahl der jüdischen Einwohner in Bingen in der Neuzeit stetig wuchs, waren im Laufe der Zeit Veränderungen und Erweiterungen erforderlich. So wird vermutet, dass der alte Teil, der 610 Grabsteine aufweist, wenigs- tens einmal aufgeschüttet und aufs Neue benutzt worden ist. Die Unregel- 9327 qm ist er einer der bedeutendsten jüdischen Friedhöfe in Rheinland- mäßigkeit der Umfassungslinie deutet auf verschiedene Erweiterungen Pfalz. Der älteste Grabstein ist von 1602. durch Ankäufe von Nachbargelände hin. Die Grabsteine des alten Teiles, die ohne erkennbare Ordnung unter hohen Bäumen und Gestrüpp stehen Friedhöfe erzählen die Geschichte der Gemeinde und gerade auf dem jü- oder liegen, sind durchweg aus Sandstein gehauen und ziemlich gleich im dischen Friedhof in Bingen gab es viele umfangreiche, meistens in Sand- Aussehen. Die oft den ganzen Stein einnehmenden Inschriften sind in he- stein eingemeißelte Inschriften, die bis zur Unkenntlichkeit zu verwittern bräischer Schrift eingemeißelt. Die Gräber sind und waren nicht einge- drohten. fasst, sondern eingeebnet. Der heutige Eingang liegt auf der Schnittlinie zwischen dem östlichen älteren Teil und dem westlichen neueren Teil, der Das Wissen um die Gefährdung dieser wichtigen Urkunden führte zu ei- 1856 angelegt worden ist. Man betritt zunächst durch ein Tor eine Platt- nem Projekt, das von 1992 bis 1995 vom Landesamt für Denkmalpflege form mit einer niedrigen Umfassungsmauer, den Resten der 1878 errich- Rheinland-Pfalz durchgeführt und von der Stiftung Rheinland-Pfalz für teten und 1970 abgetragenen Trauerhalle.20) Damals betrat man durch dieses Tor ein kleines Gebäude. Dieses Häuschen bestand aus einer kleinen Halle, der Trauerhalle, die nach links eine Tür zum Friedhof hatte. Der Trauerraum war an Fußboden und Wänden mit gemusterten Kachelfliesen gedeckt. Nach rechts gab es zwei Räume, einen viereckigen mit Holzfuß- boden und einem Ofen, sowie einen kleineren Raum, der eine Tür ins Freie besaß.21) Heute befindet sich an der Wand hinter der Eingangstür das Waschbecken mit Wasserhahn zur rituellen Reinigung nach dem Besuch des Friedhofs. Der neuere Teil hat einen ganz anderen Charakter; er gleicht in vielem einem christlichen Friedhof: Gerade Grabreihen mit Einfassun- gen und den unterschiedlichsten Grabmonumenten. In der Süd-West-Ecke des Friedhofsareals befindet sich – etwas höher gelegen – seit 1872 der Friedhof der jüdisch-orthodoxen Gemeinde. Bis 1925 war dieser Bereich durch eine Mauer abgetrennt.

Trotz wiederholter Schändungen ist der jüdische Friedhof im Laufe der Jahrhunderte einschließlich der Zeit des Nationalsozialismus einer Zerstö- rung entgangen. Mit seinen über 1000 Grabsteinen auf einer Fläche von Der Weg zum jüdischen Friedhof oberhalb des städtischen Friedhofs 72 Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs 73

Kultur finanziert wurde. Ziel waren neben der Erstellung einer Gesamt- übersicht über die jüdischen Friedhöfe des Bundeslandes vor allem die bildliche und ausführliche textliche Dokumentation der rund 1000 erhal- tenen Epitaphien des jüdischen Friedhofs in Bingen. Diese Arbeiten wur- den von Martina Strehlen und Dan Bondy durchgeführt.22) Das Ergebnis kann sich sehen lassen. In der Epigraphik-Datenbank des Steinheim-Ins- tituts sind alle Informationen zu den 880 ausgewerteten Grabsteinen und Inschriften enthalten.

Eingangsbereich des Binger Jüdischen Friedhofs heute

Grabstein des weithin bekannten Arztes Dr. Isak Ebertsheim, Grossvater des Literaten und Blick in das Gräberfeld im ältesten Friedhofsteil Theatermanns Rudolf Frank (1886–1979) 74 Epilog Epilog 75

EPILOG Am 9. November 2001 lud der Arbeitskreis zu einem Vortrag mit Dr. Vincent Frank-Steiner, einem Urenkel von Dr. Isaak Ebertsheim, ein. VON BEATE GOETZ 23) Der Redner beschäftigte sich in seinem Referat mit der Frage: „Das Pariser Attentat als Auslöser der Reichspogromnacht?“ Die gut besuchte Veran- staltung fand im Kleinen Saal des Kulturzentrums statt. CHRONOLOGIE DER ERSTEN 12 JAHRE ARBEITSKREIS JÜDISCHES BINGEN Am Vorabend hatte der Arbeitskreis in das Gasthaus „Zur Sonne“ zu einem Literarischen Abend eingeladen, in dessen Verlauf Dr. Frank-Steiner sei- Im Juli 1997, also noch im Vorfeld der Gründung des Arbeitskreises Jüdi- nen Vater, den Schriftsteller und Theatermann Rudolf Frank, 1886 in sches Bingen, nahm Beate Goetz die Korrespondenz mit den ehemaligen Mainz geboren, 1936 nach Wien emigriert und 1979 in Basel gestorben, Binger Juden auf, die in Form von zwei umfangreichen Informations- vorstellte. schreiben jährlich bis heute besteht. Vom 4.–16. November 2002 holte der Arbeitskreis die Wanderausstellung Im Frühjahr 1998 erschien im Hinblick auf den 60. Jahrestag der Novem- des Landeshauptarchivs Koblenz zum Thema „Verfolgung und Verwal- berpogrome von 1938, auf Anregung des damaligen Redaktionsleiters, die tung. Enteignung und Rückerstattung jüdischen Vermögens im Gebiet des Arbeit von Beate Goetz „Jüdisches Bingen“ als mehrteilige Serie der All- heutigen Rheinland-Pfalz 1938–1953“ nach Bingen. Die Ausstellung fand gemeinen Zeitung (AZ). in der Stadtbibliothek statt und zog zahlreiche Besucher aus nah und fern an. Ende des Jahres übernahm „Sachor – Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz“ diese Arbeit in Ausgabe Dr. Walter Rummel vom Landeshauptarchiv Koblenz führte in einem Re- 2/1998. ferat in die Ausstellung ein.

Vom 2. bis 8. Juni 1999 fand schon das „Wiedersehen mit Bingen“ statt, Im Frühjahr 2003 brachte die AZ in einer 7-teiligen Serie Auszüge aus auf Initiative und Drängen des Arbeitskreises Jüdisches Bingen hin recht- Mathilde Mayers (1869 in Bingen geboren, 1969 in New Rochelle, NY ge- zeitig genug, um einigen unter den Besuchern, die drei Jahre später ver- storben) „Die Alte und die Neue Welt. Erinnerungen meines Lebens“. Kurz storben oder nicht mehr reisefähig waren, ein Wiedersehen mit der alten darauf konnte der Arbeitskreis Mathilde Mayers Erinnerungen als kleines Heimat zu ermöglichen. eigenständiges Buch zum Verkauf anbieten (Anmerkung: Dieses Büchlein war bald vergriffen, so dass es 2015 in der Dokumentationsserie des Ar- Am 30. Oktober 2000 hatte der Arbeitskreis Anita Lasker-Wallfisch, „das beitskreises neu aufgelegt wurde). Cello“ im Mädchenorchester von Auschwitz, zu einer Lesung in Bingen eingeladen, bei der sie ihr Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ vorstellte Vom 6.–30. November 2003 lud der Arbeitskreis ins Museum am Strom und bereitwillig Fragen aus dem Publikum beantwortete. Die sehr gut be- zur Ausstellung des von Studenten der TU Braunschweig gebauten Holz- suchte Veranstaltung fand im Kleinen Saal des Kulturzentrums statt. modells der Binger Synagoge in der Rochusstraße ein. Zusammen mit 14 Ausstellungstafeln, die die Binger Synagoge in einen baugeschichtlichen 2001 verfasste Dr. Josef Götten seine Schrift zum Binger Jüdischen Fried- Rahmen rückten und den im Stadtarchiv vorhandenen Originalbauplänen hof. zog diese Ausstellung erfreulich viele Besucher aus Bingen und der Um- gebung an. Seit Juni 2001 findet man den Arbeitskreis Jüdisches Bingen online mit einer eigenen Homepage. 76 Epilog Epilog 77

Zur Ausstellungseröffnung sprach der begleitende Diplomingenieur der diesem Abend wurde auch das 10-jährige Bestehen des Arbeitskreises Jü- TU Braunschweig, Ulrich Knufinke, über „Synagogen des frühen 20 Jahr- disches Bingen gewürdigt. hunderts“. Am 10. November 2009 wurden die erst 2008 wiederentdeckten Fotos des Diese Ausstellung und die gute Resonanz waren der Ausgangspunkt für Binger Fotografen Karl Kühn (1887–1963) von der Binger Deportation Überlegungen des Arbeitskreises zum Erwerb eines eigenen Modells für vom 20. März 1942 auf einer eigenen Tafel in die Dauerausstellung „Ver- Bingen. folgung und Widerstand in Rheinland-Pfalz“ im Dokumentationszentrum KZ Osthofen eingegliedert. Im Februar 2005 wurden die ersten beiden „Stolpersteine“ in Bingen ver- legt, 88 weitere folgten 2006, 2007, 2009, 2011 und 2013. Mit der Verle- Dr. Josef Götten gab in einem Kurzreferat einen „Überblick über die Ge- gung der nächsten Erinnerungssteine im Juli 2015 wird die Zahl dann auf schichte der Juden in Bingen“. 105 angestiegen sein. Am 8. November 2010 übergab Oberbürgermeisterin Collin-Langen die In der September-Ausgabe 2005 von „Heimat am Mittelrhein – Monats- renovierten Räumlichkeiten im noch erhaltenen Wohntrakt des ehemali- blätter für Kultur- und Heimatpflege“ wies Dr. Josef Götten in einem ei- gen Synagogengebäudes in der Rochusstraße. Sie sollen als Erinnerungs- genen Beitrag auf die Einweihung der Synagoge in der Rochusstraße vor und Begegnungszentrum gemeinsam vom Arbeitskreis Jüdisches Bingen 100 Jahren hin. und TifTuf, dem Förderverein für jüdisches Leben in Bingen heute, genutzt werden. Am 28. Februar 2007 fand im Kulturzentrum die Präsentation des Syna- gogenmodells mit Festvortrag von Dr. Josef Götten zum Thema „Die Sy- 24. November 2010: Wechsel an der Spitze des Arbeitskreises von Dr. nagoge in der Rochusstraße – Das Bauwerk und seine Geschichte“ statt. Josef Götten zu Hermann-Josef Gundlach. Oberbürgermeisterin Collin-Langen sprach ein Grußwort, Cellistin Rahel Kramer, Stipendiatin der „Villa Musica“, sorgte für die musikalische Um- rahmung.

In diesen Tagen sandte der Sohn von Ing. Karl Berrenberg, (Haan, 1903– 1973), aus dem Nachlass seines Vaters dem Arbeitskreis einmalige histo- rische Fotos aus dem Inneren der Synagoge. Karl Berrenberg hatte Anfang der 1920er Jahre am Rheinischen Technikum in Bingen studiert und war ein begeisterter Fotopionier.

Am 14. November 2008 lud der Arbeitskreis aus Anlass des 70. Jahrestages der Novemberpogrome von 1938 in den Großen Saal des Kulturzentrums zu einer festlichen Veranstaltung zum Thema „Über das Erinnern. Vom Umgang mit der Vergangenheit“ ein. Hauptredner war Dr. Peter Frey, Dr. Josef Götten führte in seiner Begrüßungsansprache in das Thema ein. Oberbürgermeisterin Birgit Collin-Langen sprach ein beachtliches Gruß- wort. Die Veranstaltung wurde musikalisch umrahmt durch Philipp Schweikhard, Solocellist im Philharmonischen Staatsorchester Mainz. An 78 Literatur Literatur 79

Literatur 10) Vgl.ebd. S. 17

1) Dieser Beitrag von Beate Goetz ist erschienen in SACHOR, Beiträge zur Jüdischen 11) Dr. Grünfeld, Festschrift. a.a.O. S. 48 Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz, 8. Jahrgang, Ausgabe 2/98, Heft Nr. 16, ISSN 0940-8568. Die hier vorliegende Version wurde 2014 von der 12) Salomon Korn, a.a.O. S. 18 Autorin überarbeitet und aktualisiert, da sich im Laufe der Jahre neue Erkenntnisse ergeben hatten. 13) Beitrag von Dr. Josef Götten, Vortrag gehalten anlässlich der Präsentation des Synago- Anmerkung: Der Beitrag erschien im Frühjahr 1998 in ähnlicher Form als Serie in der genmodells in der Volkshochschule Bingen am 28. Januar 2007 Allgemeinen Zeitung. Die Autorin Beate Goetz ist Vorstandsmitglied des „Arbeitskreis Jüdisches Bingen“ und pflegt für diesen den Briefwechsel mit ehemaligen Binger 14) (Synagogen, S.16) Juden in aller Welt und deren Nachkommen. In ihrer Hand liegen auch die inhaltliche und logistische Vorbereitung der Stolperstein-Verlegungen und die Beantwortung von 15) Herausgegeben vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz mit dem Anfragen zu Binger jüdischen Familien. Staatlichen Konservatorenamt des Saarlandes und dem Memorial Jerusalem. 2) Beitrag von Dr. Josef Götten, gehalten als Kurzreferat auf der Veranstaltung „Bilder des Unrechts“ am 10. November 2009 in der Gedenkstätte KZ Osthofen. 16) (S.17 f.)

3) Friedrich Schütz in: Bingen, Geschichte einer Stadt am Mittelrhein, S. 279). 17) Dr. Grünfeld, Festschrift S.48

4) Beitrag von Dr. Josef Götten, Kurzreferat gehalten im Jahr 2005, zur Einweihung der 18) Synagogen, 18 Synagoge in Bingen vor 100 Jahren (Er war zu dieser Zeit Vorsitzender des Arbeits- kreises Jüdisches Bingen) 19) Dr. Josef Götten, Begrüßungsansprache des Vorsitzenden des Arbeitskreises Jüdisches Bingen auf der Veranstaltung am 14. November 2008 im Kulturzentrum Bingen 5) Zur Geschichte der Juden in Bingen. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge anlässlich des 70. Jahrestages der Novemberpogrome von 1938. in Bingen – 21. September 1905 –. Herausgegeben von Dr. Richard Grünfeld, Herzoglicher Rabbiner. S. 5 20) Dr. Josef Götten, Zur Geschichte des Friedhofes

6) Friedrich Schütz, Die jüdische Gemeinde in Bingen, in „ Bingen, Geschichte einer Stadt 21) Friedrich Rudolf Engelhardt, Geschichte der Binger Juden, Seite 52 am Mittelrhein“, Mainzer Verlagsanstalt 1989. S. 298 22) Martina Strehlen: Zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Bingen und ihres 7) Salomon Korn, Wesen und Architektur der Synagoge – Eine Einführung, in „Synago- Friedhofes. In: „Ein edler Stein sei sein Baldachin …“, Jüdische Friedhöfe in Rhein- gen, Rheinland-Pfalz – Saarland“, Herausgegeben vom Landesamt für Denkmalpflege land-Pfalz, hrsg. v. Landesamt für Denkmalpflege, (Katalog zur Ausstellung) Mainz Rheinland-Pfalz mit dem Staatlichen Konservatoramt des Saarlandes und dem 1996, S. 109–149 Synagogue Memorial Jerusalem. Verlag Philipp von Zabern, Mainz, 2005. S. 16 f 23) Beate Goetz: Epilog – Chronologie der ersten 12 Jahre Arbeitskreis Jüdisches Bingen 8) Ebd. S. 17

9) Ebd. S. 198 80 Publikationen Publikationen 81

Bisher erschienene Publikationen des Arbeitskreises Jüdisches Bingen Band 4 – Lebensbilder Binger Juden aus dem Mittelalter Flyer von Dr. Matthias Schmandt „Arbeitskreis Jüdisches Bingen – Erinnern > Gedenken > Verbinden“ Band 5 – „Tief unter den christlichen Staatsbürgern“? Zur Geschichte der Juden in Bingen am Rhein – Zur Geschichte der Binger Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Festschrift – Einweihung der neuen Synagoge in Bingen – von Dr. Matthias Rohde 21. September 1905 – Herausgegeben von Dr. Richard Grünfeld, In Vorbereitung Großherzogl. Rabbiner (Nachdruck) Band 6 – Faltblatt 1 – DIE ALTE UND DIE NEUE WELT Satzung Arbeitskreis Jüdisches Bingen Erinnerungen meines Lebens von Mathilde Mayer | 1869–1969 Faltblatt 2 – Der jüdische Friedhof von Bingen

Faltblatt 3 – Das „Judenhospital“ in Bingen

Faltblatt 4 – Der Traustein und die geschmiedete Eisentür der Binger ehemaligen Synagoge

Band 1 – JUDEN IN BINGEN Beiträge zu ihrer Geschichte von Brigitte Giesbert | Beate Goetz | Dr. Josef Götten

Band 2 – „Bingen – ein Name, der Geschichte(n) verbindet“ von Prof. Dr. Dieter Bingen

Band 3 – Geschichte der Juden in Bingen von den Anfängen bis 1905 von Dr. Hans-Josef von Eyss