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Musikstunde mit Katharina Eickhoff Dienstag, 7. Dezember 2010 Schwabenstreiche – Ausfahrten in romantischer Seelenlandschaft mit Kerner, Uhland, Mörike und den Freunden Teil II: Im Gartenhaus

Indikativ

„Hier kotzte Goethe“. Das schon ziemlich abgeblätterte Schildchen hängt da, als könne es kein Wässerchen trüben, unter einem der Fenster am alten Gebäude gegenüber der Tübinger Stiftskirche. Mit der Tatsache, dass man hier auf jedem zweiten Meter irgendeine geistesgeschichtliche Gedenktafel anbringen könnte, geht man in Tübingen schon lange ironisch um. Dass den Olympier hier vor Ort tatsächlich mal ein Unwohlsein befiel, ist unwahrscheinlich, denn Goethe hat ja seine wilde Studentenzeit nicht in Tübingen verbracht, er war bloß auf der Durchreise mal ein paar Tage hier und fand die Stadt abscheulich. Also hat er womöglich doch...? – Na, egal. jedenfalls hat genau dort gewohnt, wo das fatale Täfelchen heute hängt, im sogenannten „Martinianum“, dem ältesten Studentenwohnheim Tübingens. Im 17. Jahrhundert hat die Stiftung dieses große neue Haus bekommen, das dann noch zu Kerners Zeiten „Der Neue Bau“ genannt wurde, und im Neuen Bau wohnen – und vor allem: feiern – bis heute Studenten.

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„Wer pöbelt, anmacht oder schnorrt, fliegt raus“, steht drinnen auf einer gelben Tür, die eindeutig in eine Art Fetenraum führt, und überhaupt fühlt man sich, sobald man sich durchs quietschende Tor in die Einganshalle zwängt, ganz schnell wieder wie zwanzig: Es riecht atemberaubend nach kaltem Rauch und verschüttetem Bier, dazu Fahrräder, Graffiti und kreischbunt mit Veranstaltungsplakaten gepflasterte Wände, Aufrufe zur Anti-Castor-Demo, Annoncen für freie Zimmer und Yoga-Kurse, Einladungen zum Konzert des Ernst-Bloch-Chors Tübingen, der tapfer gegen die seltsamerweise immer noch vorhandenen schlagenden Studentenverbindungen ansingt – und mittendrin, ein bisschen blass und angenagt, der Grabstein des Stiftungsgründers Martin Plantsch aus dem 16. Jahrhundert.

Hier also, im Neuen Bau in der Münzgasse, hat die Schwäbische Romantik mit Kerner, Uhland, und einigen Studienfreunden ihren Anfang genommen, und von hier ist der frischgebackene Doktor Justinus Kerner dann nach seiner Promotion im Frühjahr 1809 davongezogen, um sich ein bisschen in der Welt umzusehen. Der Weg zu seiner Heimatbasis, der Familie in Ludwigsburg, führt über , und Kerner ist ihn mehr als einmal zu Fuß gegangen. Etwa in der Mitte dieser knapp elfstündigen Fußreise liegt Echterdingen, und dort, im Gasthaus Hirsch, hat Justinus Kerner eins seiner berühmtesten Gedichte geschrieben:

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CD T. 12 3’00

R. Schumann/J. Kerner, Wanderlied Christoph Prégardien, Michael Gees RCA 74321 73235 2, LC 00316

...gedichtet im Jahr 1809 im Gasthaus Hirsch zu Echterdingen. Das gibt’s heute erfreulicherweise immer noch, und auch, wenn die Wirtsstube eventuell schon mal gemütlicher war: Man kann dort nach wie vor einen ordentlichen Rostbraten kriegen, und die Filderbürger, die da vor ihrem Trollinger mit Lemberger sitzen, sind ausgesprochen kontaktfreudig, irgendwie scheint der Zauber des Orts auch zweihundert Jahre später noch zu wirken. Der „Hirsch“ war nämlich schon zu Kerners Zeiten eine Legende, ein Treffpunkt und echter Dichter-Hotspot: Lavater und Schiller, Kerner, Uhland und später auch Mörike, und Lenau und überhaupt tutti quanti haben hier ein Viertele und manchmal auch ein Viertele zuviel geschlotzt, denn in dieser Wirtschaft kehrten alle ein, die von Nord nach Süd oder von Süd nach Nord unterwegs waren. Es gibt diesen Spruch aus dem 19. Jahrhundert, den alle kannten, die den Hirschen kannten, und der da hieß: „Wenn wir uns auf dieser Welt nicht mehr sehen, im Echterdinger „Hirsch“ treffen wir uns wieder.“ Das schöne, große Fachwerkhaus steht an der sogenannten „Schweizer Straße“, dem zentralen Weg, den die Kutschen von Stuttgart nach Süden genommen haben. Die Kutschen, und auch die Fußgänger: Den Postwagen, der zwei mal die Woche zwischen Tübingen und Stuttgart fuhr, konnten sich die Studenten ja nur selten leisten.

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Aus dem Stuttgarter Kessel ging’s also zu Fuß die Alte Weinsteige hoch, vorbei an der Degerlocher Poststation, dem Wirtshaus Ritter, wo man früher die Pferde wechselte und wo heute eine Pilsbar die Gäste verscheucht, und dann über die Fildern und durch den Schönbuch. In der Krone in Waldenbuch, heute Ziel für Feinschmecker, war dann traditionell die nächste Raststation: „Schoppen in Waldenbuch. Geldklemme.“, schreibt zum Beispiel Kerners bester Freund in seinem Tagebuch. Hier an der Schweizer Straße nehmen wir jetzt erstmal Abschied von Justinus Kerner und lassen ihn in die Welt hinauswandern, bzw. nach Wien, wo er neben anderen interessanten Leuten auch kennenlernt. Ob die zwei es nett hatten, ist nicht überliefert, sicher ist, dass Kerner sich mit Beethovens Wiener Kompositionslehrer Johann Georg Albrechtsberger viel zu sagen gehabt hätte, der war nämlich auch ein Freund von Justinus Kerners Lieblingsinstrument, der Maultrommel – Albrechtsberger, der kurz vor Kerners Ankunft in Wien gestorben ist, hat sogar ganze Konzerte für sie komponiert. Das klingt dann so:

CD T. 6 3’50

Johann Georg Albrechtsberger, Konzert für Maultrommel, Mandora und Orchester F-Dur, Menuetto Fritz Mayr, Dieter Kirsch, Münchener Kammerorchester, Hans Stadlmair Orfeo C 035 821 A, LC 8175

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„Tübingen ist in der Vakanz wie ein umgestürzter Handschuh: es liegt wie in einem recht leeren und stillen Katzenjammer da, und die gegenwärtige Jahrszeit, die trübe Witterung stimmt vollkommen dazu.“ Das schreibt, herbstlicher Stimmung, Eduard Mörike aus Tübingen an einen Studienfreund. Es ist das Jahr 1828, und Mörike studiert hier gar nicht mehr, hat schon vor zwei Jahren mühselig seinen Abschluss in Theologie am Stift gemacht und versucht gerade erfolglos, den Pfarrberuf lieben zu lernen,- aber gerade ist er mal wieder hier, sitzt vergangenheitsselig im Studenten- und Dichtertreff, dem „Lamm“ am Marktplatz, herum, saugt an der Pfeife und hofft, dass ihn keiner erkennt. „Ich grüßte auch einen jeden, so freundlich ich nur konnte“, schreibt er im Brief, „aber jedes Mal fiel mirs aufs Herz, ob ich dem Kerl nicht noch schuldig sei, und ich ersann mir auf alle Fälle eine Formel, worin unter anderem auch von schlechtem Gedächtnis, einem alten Familienfehler der Mörikes, etwas vorkam...“, so Mörike – der sich ansonsten da in der alten Stammkneipe sehr melancholisch-nostalgisch fühlen will:

„Der Wind“, schreibt er, „tummelt sich auf dem Wörth herum und ruht nicht, bis er die ganze Reihe von Pappeln aufs letzte Blatt wie zu Besen verkehrt hat. Meinethalb! denk ich; den letzten verflossenen Frühling und Sommer hab ich doch nicht in Tübingen verlebt; diese rot und gelben Läuber hab ich nicht grün gesehen, und so kränkts mich weniger. Die Wetterfahnen rufen einander in langgezogenen Tönen zu, einförmig genug, aber es tut auf mich jetzt doch eine Wirkung, wie die Klage der Aeolusharfe.“

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12-035343 T. 24 2’40

F. Silcher, Der Lindenbaum Die Singphoniker Oehms OC 548, LC 12424

Nein, das ist nicht Mörike, das ist „Der Lindenbaum“ von Wilhelm Müller, zuerst veröffentlicht im Jahr 1823 und dann verkomponiert von und, zweitens, von Friedrich Silcher, und Silchers Version hat es dann, wie fast alles von Silcher, zu einer fast gespenstischen Popularität gebracht. Wer hat nicht schon alles Silcher gesungen – ein Blick ins SWR-Archiv befördert da ein fantastisches Sammelsurium an den Tag: Die Schlümpfe, die Fischer-Chöre, das Karlsruher Männerquartett, der Silcherchor Zollernalb e.V., Heintje und die Regensburger Domspatzen, Hermann Prey, der MGV Liederkranz Oberjettingen, Costa Cordalis, das Unterländer Alphorntrio, Nena, der Bürgermeisterchor Kreis Reutlingen. Sich über Silcher, seine Volkslieder und seine Männergesangsvereine zu belustigen, ist aber ein bisschen wohlfeil, denn aus der Kulturgeschichte ist er gar nicht wegzudenken, und das, was er damals in Tübingen als hochgeachteter Musikdirektor der Universität geleistet und an Liedern gesammelt und komponiert hat, hat die Identität der Deutschen geprägt, ob ihnen das nun passt oder nicht. Silcher hilft mit seinen Gesangsvereinsgründungen dem deutschen Chorwesen, das es bis dahin so gar nicht gab, auf die Sprünge, und er legt mit seinen Vertonungen damals populärer Romantiker-Gedichte und volkstümlicher Texte den Grundstock für das, was man gern so „Des

7 deutschen Volkes Liederschatz“ nennt, und wohlgemerkt, es handelt sich da tatsächlich um einen Schatz.

Gedichte von Eduard Mörike hat Silcher allerdings nur ausgesprochen selten vertont – vermutlich, weil er ihn persönlich gekannt hat: Ein Pfarr- Anwärter am evangelischen Stift in Tübingen musste natürlich auch in Musik Bescheid wissen, und Friedrich Silcher hat in seiner Zeit unter anderen Schwabendichtern auch die Studenten Eduard Mörike und Wilhelm Hauff unterrichtet. Wobei Mörike vermutlich keinen sonderlich günstigen Eindruck bei ihm hinterlassen hat – in seinem Abschlusszeugnis aus dem Stift von 1826 steht, er habe zwar eine hinreichend gute Begabung, sei aber, besonders in Theologie und Philosophie, bloß mittelmäßig und habe außerdem, Zitat, „nicht genügend standhafte Sitten“.

19-68654/2 Disc 2, T. 21 3’15

H. Wolf/Mörike, Zur Warnung Dietrich Fischer-Dieskau, Daniel Barenboim DG 447 517-2, LC 0173

... Wir sind also für heute noch einmal in Tübingen mit unseren schwäbischen Ausfahrten, denn hier hat ja eben nach Kerner und Uhland noch eine weitere Dichtergeneration ihren Ausgangspunkt: Ab 1822 hat als Theologiestudent am Stift Eduard Mörike für ein paar Jahre hier gelebt.

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Und so, wie Justinus Kerner und Ludwig Uhland fünfzehn Jahre vorher, kommt auch Mörike in den Bannkreis jenes Turms unten am Neckar, wo der verrückte Dichter Friedrich Hölderlin lebt, - Hölderlin heißt dort „Das Hölderle“ und wird betreut von der Familie des Schreinermeisters Zimmer, und er wird oft und gern besucht von zwei der schwarzberockten Studenten aus dem direkt oberhalb gelegenen evangelischen Stift. Mörike und Waiblinger heißen die zwei.

Der eigentlich aktive, brennende Hölderlin-Verehrer ist dabei gar nicht Mörike, sondern sein Freund Wilhelm Waiblinger. Waiblinger ist damals ein nassforscher Jungdichter, wie er im Buche steht, er ist begabt und will, dass alle das wissen, sein Studium interessiert ihn wenig, stattdessen durchschwärmt er die sonnigen Sommertage und –nächte in diversen Gartenhäuschen, damals der bevorzugte Tübinger Studentenaufenthalt, er dichtet, trinkt, musiziert und notiert seine Exaltationen im Tagebuch. Ein 19-jähriger, der so richtig mit Schmackes den Romantiker spielt, das ging damals auch nicht anders als heute: „16. Aug. Tragischer Tag des Rausches. Ungeheurer Wechsel der Stimmungen. Morgens mit Mörike im Wielandschen Garten. Heiter, hell, rein, lieb. Unruhe darauf – Druck, Dumpfheit, Zuckungen – Zauberflöte...Einen Krug Bier ins Gartenhaus hinaufgeschleppt – Exaltiertheit, Gemüts-wetterleuchten – Spannung, Wildheit...- nach dem Respondieren auf dem Schuhwichsbänkchen eine Bouteille Rheinwein hinabgestürzt – der Rausch – Nacht, Bewusstlosigkeit...Den Morgen über entsetzlichen Jammer.“

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12-002474 Disc 6, T. 8 auf Zeit

L.v.Beethoven, Variationen über „Bei Männern, welche Liebe fühlen...“ Jacqueline Du Pré, Daniel Barenboim EMI 5 68132 2, LC 6646

...Musik, die Mörike und seine Kumpanen damals in den Tübinger Gartenlauben bezaubert hat... Das Pressel’sche Gartenhaus auf dem Tübinger Österberg ist heute nur noch eine verwehte Legende – wer aus der Stadt den steilen Weg hinaufkrabbelt, landet in der bevorzugten Wohnlage Tübingens und steht vor den wehrhaften Jugendstil-Getümen, die sich die verschiedenen Burschenschaften hier an den schönsten Aussichtsplätzen bauen ließen. Im Winde klirren die Fahnen der Arminia, Rhenania und Frankonia. Beliebt sind sie nicht beim Tübinger Akademikertum, die Burschen, deshalb sind viele der Zäune besonders hoch und die „Betreten verboten“-Schilder besonders groß. Irgendwo hier, vielleicht auf dem Gelände der Stuttgardia, in der sich heute gutaussehendes, karrierebewusstes Jungvolk beider Geschlechter sammelt, vielleicht also auf dem Stuttgardia-Areal stand es, das Häuschen, das Wilhelm Waiblinger damals saisonweise gemietet hat. Und zumindest der Name wird bleiben davon, denn „Im Pressel’schen Gartenhaus“, so heißt eine schöne kleine Erzählung von Hermann Hesse, in der Hesse sich vorstellt, wie das war damals, als Mörike und Waiblinger den verrückten Hölderlin spazieren führten.

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„An Hölderlin“ dichtet Waiblinger im Jahr 1823, und das Gedicht gehört zum Schönsten, was über Hölderlin geschrieben worden ist:

„Komm herauf, Jammerheiliger! Blick auf Mit deinem irren Auge, Deiner Jugendschöne, Deines Kinderherzens Offnem Nebelgrab. Komm herauf, Schwanke hinan den Fußpfad, Über Herbstgesträuch-Abhang, Mein Gartenhäuschen, Jammerheiliger, Komm, es wartet dein!“

Wilhelm Waiblinger, der genialische Jungdichter, hat bei aller Ich- Fixiertheit die große Begabung gehabt, andere klug und mitfühlend zu beschreiben, und er hat den Zustand Hölderlins ganz klarsichtig und einfühlsam auf den Punkt gebracht: „Die unzähligen närrischen Kuriositäten sind größtenteils eine leicht erklärbare Ausgeburt seines Einsiedlerlebens. Kommen ja sogenannt vernünftige Menschen, die viele Jahre lang sich zurückziehen, besonders wenn sie nichts arbeiten, auf Dinge, die kaum einem ausgemachten Narren anstehen würden, um wie viel mehr ein Unglücklicher, der nach einer Jugend voll Hoffnungen und Freuden, voll Schönheit und Reichtum, durch eine unglückselige Kombination der

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Umstände und ein allzu reizbares geistiges Wesen, einen allzu straff gespannten Geist, ganze Jahrzehnte ferne von jeder Berührung mit der Welt lebt, und nichts mehr besitzt, um sich seine Zeit zu vertreiben, als das zerstörte Uhrwerk seines Denkvermögens.“

CD T. 17 0’50

Hölderlin, Hälfte des Lebens Bruno Ganz ECM 1285, LC 2516

Hölderlins „Hälfte des Lebens“ war das, gelesen von Bruno Ganz. Vierunddreißig war er, als er das geschrieben hat, kurz vor seinem endgültigen psychischen Zusammenbruch. hat sich in seiner Siebten Sinfonie intensiv mit dem kranken Hölderlin beschäftigt, mit seinen Ängsten und Verletzungen, und den letzten Satz dieser Sinfonie hat er als musikalische Umsetzung dieses einen, so schwer wiegenden Gedichts angelegt: „Hälfte des Lebens“, musikalisch betrachtet:

12-012737 T. 4 ausbl. ab 3’56

HW Henze, Sinfonie Nr.7, 4. Satz SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Sylvain Cambreling Hänssler 93.047, LC 10622

Bei den Ausflügen mit dem kranken Hölderlin ins Gartenhaus auf den Österberg ist Wilhelm Waiblinger der aktivere, der immer wieder

12 versucht, Hölderlin zum Kommunizieren zu bewegen. Sein Freund Eduard Mörike ist da deutlich distanzierter. Den „Hyperion“, Hölderlins hymnischen Briefroman, hat er mit gemischten Gefühlen gelesen, und überhaupt bewundert er zwar Hölderlins Gedichte, aber sie sind ihm in ihrer Abstraktheit und Weltferne eigentlich nicht besonders nahe, denn er selber dichtet ja ganz anders, sinnlicher, diesseitiger, in ewiger Sehnsucht nach einer echten Berührung...

19-031286 T. 19 2’10

H. Wolf, Nimmersatte Liebe Brigitte Fassbaender, Jean-Yves Thibaudet Decca 440 208-2, LC 0171

Mörike also ist bei den Hölderlin-Ausflügen eher der stille Beobachter – was allerdings beileibe nicht heißt, dass er ein Langweiler war. „Mörike bleibt mir immer nah und immer neu“, schreibt Waiblinger ins Tagebuch, er sei „wie ein Traumgesicht, wie der Glaube an eine schöne Fabelwelt“. Waiblinger versucht da, und es scheint gar nicht leicht zu sein, die Faszination zu beschreiben, die dieser spezielle Theologiestudent auf ihn, auf alle, ausgeübt hat. Tatsächlich muss Eduard Mörike schon als Schüler in Bad Urach enorm auf seine Freunde gewirkt haben, der Trupp der Bewunderer war immer groß, und solche regelrechten Mörike-Jünger gibt es dann auch während des Studiums in Tübingen unter den Kommilitonen im Stift. Er, der so unaufgeregt, fast beiläufig, die poetischsten Bilder finden kann, der seine Dichtersprache so elegant beherrscht, der feurig wirkt und doch immer fern bleibt, Mörike wird tatsächlich richtiggehend geliebt von seinen

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Freunden, obwohl er keinen näher als bis auf Armeslänge an sich heranlässt. Noch nicht mal Ludwig Bauer, den Stiftskommilitonen, der ihm ein hingebungsvoller Freund war und mit dem zusammen Mörike sich während der Streifzüge durch die Tübinger Umgebung ein Fantasieland ausgedacht hat: Orplid. Die zwei jungen Männer haben da in den Büschen des Ammertals selbstvergessen Rollenspiele gespielt, wie sie sonst Kinder spielen, dachten sich Figuren aus, w a r e n diese Figuren und erlebten Abenteuer auf der erfundenen Insel Orplid, die ein so schönes Sinnbild für Mörikes später immer deutlicher werdende Vereinzelung war. Damals, in Tübingen, hat er immerhin noch manchmal einen auf seiner Insel landen lassen, und die Briefe, die Ludwig Bauer Mörike dann von seiner ersten Pfarrstelle geschrieben hat, wunderschöne Briefe, schwelgen in Erinnerungen an diese Zeit. „Besinne Dich doch“, schreibt Bauer, „an welchem Tag Orplid geboren wurde? Es war, soviel ich weiß, ein herrlicher Morgen. Könnten wir den wahren Tag herausbringen, dann feierten wir jedes Jahr das Fest „Orplids Geburt“, und wenn auch entfernt voneinander, wären wir uns doch nahe in demselben Heiligtum, es wölbte sich über uns das Dach eines großen Tempels, in welchem wir uns nicht sehen könnten, aber doch von denselben himmlischen Wesen beschützt wüssten. Weißt Du, wenn man in das Tübinger Schlosstor kommt, und der Eine spricht leise ein Wort an die Mauer, so hören’s die Nahestehenden nicht, aber der, welcher gerade gegenüber sein Ohr an die Mauer hält, versteht es: - so würden wir uns auch aus der Ferne verstehen...“.

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19-021290 T. 9 1’40

H. Wolf, Gesang Weylas Anne Sofie von Otter, Ralf Gothoni DG 423 666-2, LC 0173

Während Mörike und Ludwig Bauer ihr Fantasieland Orplid bereisen, driftet der dritte im Freundschaftsbund, Wilhelm Waiblinger, der feurige Hölderlin-Verehrer, seiner Tübinger Katastrophe entgegen. Er hat sich in Julie, die Tochter eines Universitätsprofessors, verliebt und hat, leidenschaftlich und hormonbeseligt, wie er nun halt ist, mehr Gehör bei ihr gefunden, als es ihrer Familie lieb sein kann. Während der wilde Waiblinger noch mit Julies Vater und Bruder darum streitet, ob er nun weiter im Hause Michaelis verkehren darf oder nicht, überstürzen sich die Ereignisse: Das Haus der Familie geht in Flammen auf, die Michaelis’ flüchten sich in ein Uni-Gebäude, dann bricht auch dort Feuer aus. Man überführt einen ehemaligen Hausangestellten, der sich für irgendetwas rächen wollte, eigentlich ist alles geklärt, aber irgendwie muss der Professor plötzlich trotzdem um seinen guten Ruf kämpfen – wen wundert’s: er ist Jude, und der Antisemitismus war gerade im aufgeklärten Bürgertum erstaunlich verbreitet. Im Zuge der Ermittlungen wird auch Waiblingers unkeusches Verhältnis zu Julie ruchbar, er steht plötzlich als wilder Lüstling da und beeilt sich, dem Ruf so richtig gerecht zu werden: Er säuft, hurt und krakeelt betrunken in Tübingens Gassen, bis man ihn schließlich von der Uni schmeißt. Waiblinger hat Tübingen bald verlassen, ist nach Italien gegangen und dort erwachsen geworden. Er hat in ziemlicher Not und Armut einige 15 sehr schöne Gedichte und Reiseberichte über den italienischen Süden geschrieben und ist dann mit 26 Jahren in Rom gestorben. Sein Freund Eduard Mörike hat sich in den Monaten, als Waiblingers Angelegenheiten in Tübingen eskalierten, ziemlich rar gemacht und die Sache, wie das seine Art war, handlungsunfähig aus der Ferne betrachtet. Mit Abscheu von Waiblinger abgewandt, wie das alle anderen machten, hat Mörike sich nicht, aber zur Seite gestanden hat er ihm auch nicht. Erst, als der Freund von einst gestorben war und in Württemberg immer noch über ihn hergezogen wurde, hat er Stellung bezogen und über Waiblinger geschrieben: „Er war ein ungewöhnlicher Mensch und ein außerordentliches Talent. Alle, die aus der Ferne so cavalièrement über ihn reden, sollen sich nur nicht einbilden, ihm die Schuhriemen aufzulösen.“ – Zu Eduard Mörikes frühesten Gedichten, geschrieben in den Tübinger Studentenjahren, in der seligen Zeit der Spaziergänge mit Bauer und Waiblinger und dem kranken Hölderlin, gehört auch der „Feuerreiter“, diese irgendwie gruselige Figur, die man, in Vorausahnung eines Brands, immer unruhig im Zimmer herumgehen sieht und die dann, mit roter Mütze, wenig später auf dem Pferd davonjagt, dem Brand entgegen.

Man weiß nicht so recht, wie Mörike auf diese Geschichte gekommen ist, aber bekannt ist, woher er das Bild vom unruhig hinterm Fensterlein auf und nieder gehenden Schatten hatte: Das war Hölderlin, den man vom Neckarufer aus in seinem Turmzimmer hinter den Fenstern auf- und abgehen sah, eine Mütze auf dem Kopf, angetrieben von der Unruhe in seiner verstörten Seele.

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12-053103 T. 3 6’00 H. Wolf, Der Feuerreiter Württembergischer Kammerchor, Chor der Stuttgarter Musikhochschule, Dieter Kurz Claves CD 50-9622, LC 3369

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