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Blätter 5’17 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Birgit Mahnkopf und Mahnkopf und Birgit Die Globalisierung des einen Prozent einen des West Ost: versus Grenzziehungen Elmar Ulrich Menzel Ulrich Die neuen internationale deutsche und Blätter für Politik Markus Rieger-LadichMarkus Serien als Zeitdiagnostik Tagträume Gesellschaft: der Fraser Nancy Sorgearbeit der Die Ausbeutung Ingrid Kurz-Scherf contra Trump?Marx Ulrich und Brand Wissen Markus imperiale schöne Unsere Lebensweise Wiedemann Charlotte ParadoxienIranische Christoph Fleischmann alle für Güter Gottes 5’17 19.04.17 10:42 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater, geb. 1938 in Kamen, Ismail Küpeli, geb. 1978 in Bursa/Tür- Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Dr. oec. publ., Prof. em. für Politische kei, Politikwissenschaftler, promoviert Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power Ökonomie an der Freien Universität an der Universität Bochum, Buchautor Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl Berlin. und Journalist. Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Inken Behrmann, geb. 1993 in Berlin, Utz-Ingo Küpper, geb. 1942 in Wup- Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor studiert Sozialwissenschaften und ist pertal, Dr. rer. pol., Wirtschaftsgeo- Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan in der Klimagerechtigkeitsbewegung graph, ehem. Leiter des Amtes für Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann aktiv. Stadtentwicklung Köln. Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Ulrich Brand, geb. 1967 auf der Insel Ingrid Kurz-Scherf, geb. 1949 in Trier, Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Mainau im Bodensee, Dr. phil., Pro- Dr. rer. pol., Prof. em. für Politikwis- Walter Kreck Helmut Ridder fessor für internationale Politik an der senschaft und Geschlechterverhält- Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling Universität Wien, Mitherausgeber der nisse an der Universität Marburg. In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose „Blätter“. Adam Krzeminski Rossana Rossandra Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Michael Brzoska, geb. 1953 in Heide, gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Jürgen Kuczynski Irene Runge Dr. phil., Politikwissenschaftler und wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Charles A. Kupchan Bertrand Russell Ökonom, Professor am Institut für Frie- Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto densforschung und Sicherheitspolitik Birgit Mahnkopf, geb. 1950 in Berlin, Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen der Universität Hamburg. Dr. rer. pol., Prof. em. für europäische Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Gesellschaftspolitik an der Hochschu- Matthias Eickhoff, geb. 1966 in le für Wirtschaft und Recht Berlin, Ku- Hermann Scheer Ulrich Beck Gideon Levy Hamm, Politikwissenschaftler, Jour- ratoriumsmitglied des Instituts Solida- Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl nalist und Übersetzer. rische Moderne. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer Achim Engelberg, geb. 1965 in Ber- Ulrich Menzel, geb. 1947 in Düssel- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann lin, Dr. phil., Historiker, Journalist und dorf, Dr. phil., Professor em. am Insti- Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Buchautor. tut für Sozialwissenschaften der TU E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Braunschweig. Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Christoph Fleischmann, geb. 1971 in Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Hilden/Rheinland, ev. Theologe, freier Markus Rieger-Ladich, geb. 1967 in Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Journalist u.a. für den ARD-Rund- Bad Orb, Dr. phil., Direktor des Insti- Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer funk. tuts für Erziehungswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Nancy Fraser, geb. 1947 in Baltimore, Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern PhD, Professorin für Politik- und So- Ulrich Weigel, geb. 1954 in Stuttgart, Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz zialwissenschaften an der New School Dr. rer. soc, Soziologe, Leiter des Ser- Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby for Social Research in New York/USA. vicezentrums Informationsressourcen Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd an der Universität St. Gallen. Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin Dr. phil., Historikerin, freie Journalis- Charlotte Wiedemann, geb. 1954 in György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban tin, stellvertretende Chefredakteurin Mönchengladbach, Journalistin und Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal von klimaretter.info. Buchautorin mit dem Schwerpunkt is- Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein lamische Länder. Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Benjamin-Immanuel Hoff, geb. 1976 in Berlin, Dr. phil., Sozialwissen- Markus Wissen, geb. 1965 in Neu- Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler schaftler und Politiker (Linkspartei), wied/Rhein, Dr. phil., Professor für Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Minister für Kultur, Bundes- und Euro- Gesellschaftswissenschaften an der Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer paangelegenheiten in Thüringen. Hochschule für Wirtschaft und Recht Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Berlin. Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Fabian Kretschmer, geb. 1986 in Ber- Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf lin, Kommunikationswissenschaftler, Laura Wollny, geb. 1987 in Essen, Dr. Erhard Eppler Lamya Kaddor Jean Ziegler Buchautor und Korrespondent in Seoul rer. nat., Chemikerin, aktiv bei der Ini- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann u.a. für „taz“, und „Der Standard“. tiative „ausgeCO2hlt“. Iring Fetscher Valentino Parlato Moshe Zuckermann Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

201705_Umschlag_innen.indd 1 19.04.17 10:43 Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage des VSA Verlags. Wir bitten um freund- liche Beachtung. Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 62. Jahrgang Heft 5/2017

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

201705_Buch.indb 1 19.04.17 10:47 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 5’17 5 Syrien und das Ende des Patts? Michael Brzoska

8 Türkei oder: Das Ende der Demokratie Ismail Küpeli

11 Brexit: Keltische Revolten Matthias Eickhoff

15 Rot-Rot-Grün? Jetzt erst recht! Benjamin-Immanuel Hoff

19 Freihandelsabkommen: Kommunen unter Druck Utz Ingo Küpper

23 Für ein schnelles Aus: Der Kampf gegen die Kohle Laura Wollny und Inken Behrmann

27 Klima und G20: Einer gegen REDAKTION alle, alle gegen einen? Anne Britt Arps Susanne Götze Daniel Leisegang Albrecht von Lucke 31 Südkorea: Hoffnungsträger Annett Mängel Moon Jae-in? Steffen Vogel Fabian Kretschmer

BESTELLSERVICE DEBATTE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] 35 Das Proletariat: Vom revolutionären Popanz WEBSITE zum reaktionären Pöbel? www.blaetter.de Ulrich Weigel

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201705_Inhaltsverzeichnis.indd 2 19.04.17 14:02 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

41 Gottes Güter für alle Die verdrängte Lehre der Reformation Christoph Fleischmann

51 Das Ost-West-Konstrukt Wie alte Grenzen neu gezogen werden Ulrich Menzel

63 Der begrenzte Planet und die Globalisierung des einen Prozent Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater

75 Unsere schöne imperiale Lebensweise Wie das westliche Konsummodell den Planeten ruiniert Markus Wissen und Ulrich Brand AUFGESPIESST 83 Marx contra Trump? Versuch einer feministischen Orientierung 50 Auf die Rechte in gespenstischen Zeiten ist Verlass Ingrid Kurz-Scherf Albrecht von Lucke

91 Who cares? Teil II BUCH DES MONATS Die Ausbeutung der Sorgearbeit im neoliberalen Kapitalismus 121 Keiner oder alle Nancy Fraser Achim Engelberg

101 Iranische Paradoxien EXTRAS Streifzüge durch ein uneindeutiges Land Charlotte Wiedemann 39 Kurzgefasst 124 Dokumente 111 Tagträume der Gesellschaft 125 Chronik des Monats Piper Chapman, Tony Soprano und März 2017 Walter White als Zeitdiagnostiker 128 Zurückgeblättert Markus Rieger-Ladich 128 Impressum und Autoren

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201705_Buch.indb 3 19.04.17 10:47 Anzeige

Das neue He . Bestellen Zwei Nationen Sie jetzt! beschäftigen die Welt Geschichten aus dem Nahen Osten,  Jahre nach dem Sechstagekrieg: von palästinensischen Bauern, die sich gegen die Landnahme durch Israel wehren; vom pulsierenden Leben in der Mittelmeermetropole Tel Aviv, die vom Krieg nichts wissen will; vom komplizierten Alltag in einem geteilten Dorf im Westjordanland und von einem allergischen Hund, der ein jüdisches Pärchen in den Wahnsinn treibt. 8,50 €, broschiert, 112 Seiten, ISBN 978-3-937683-63-8

taz Verlags- und Vertriebs GmbH Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin monde-diplomatique.de

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201705_Buch.indb 4 19.04.17 10:47 KOMMENTARE UND BERICHTE

Michael Brzoska Syrien und das Ende des Patts?

Der Giftgasangriff auf die von den Re- lich gemacht, wie aussichtslos die La- bellen kontrollierten Stadt Chan Schei- ge vor Ort ist – und zwar für alle Seiten. chun hat den Krieg in Syrien wieder ins Damit aber wachsen auch die Chan- Zentrum der internationalen Aufmerk- cen, dass sich die Regierungen in Mos- samkeit gerückt und zugleich gefähr- kau und Washington besinnen und ge- lich angeheizt. Für die US-Regierung meinsam nach politischen Kompro- steht der Schuldige fest: Sie macht den misslösungen suchen. syrischen Präsidenten Baschar al-As- sad für den Angriff verantwortlich. Als Vergeltung griff die US-Armee nur Die USA als direkte Kriegspartei wenige Tage später den Stützpunkt der syrischen Luftwaffe bei Schairat an. Die Erkenntnis, dass es auf absehba- Dieser Luftschlag bedeutet eine Zäsur: re Zeit keinen militärischen Sieger im Es ist der erste direkte US-Angriff auf Syrienkrieg geben wird, ist nicht neu. die syrische Armee. Russlands Präsi- Weder der völkerrechtswidrige Einsatz dent Wladimir Putin verurteilte das von Chemiewaffen noch der ebenfalls Vorgehen der US-Regierung umge- völkerrechtswidrige US-amerikani- hend als Aggression gegen eine souve- sche Luftangriff haben das Gesche- räne Nation und Verstoß gegen inter- hen auf den syrischen Schlachtfeldern nationales Recht. nachhaltig zugunsten einer Seite ver- Der Vorfall hat das ohnehin kompli- ändern können. Im Gegenteil haben zierte Verhältnis zwischen den USA die jüngsten Entwicklungen die mi- und Russland weiter abgekühlt. Beide litärische Pattsituation, mit all ihren Seiten machen sich gegenseitig für die zerstörerischen Auswirkungen für die Verschlechterung der Lage in Syrien zivile Bevölkerung, sogar noch weiter wie des Verhältnisses untereinander zementiert. Und solange die syrische verantwortlich. Gleichzeitig haben der Regierung wie auch die Rebellengrup- Vergeltungsschlag und die Ankündi- pen hinreichend Nachschub an Waf- gung der US-Regierung, bei weiteren fen, Geld und militärischer Unterstüt- Gräueltaten ähnlich zu reagieren, al- zung erhalten, wird eine entscheiden- len Beteiligten die gefährlichen Folgen de Wende im Krieg auch in Zukunft einer weiteren Eskalation in Syrien ausbleiben. bewusst gemacht. Umso drängender In Moskau mag man aufgrund von stellt sich die Frage, welche Aussichten Trumps Äußerungen während des es derzeit auf ein gemeinsames diplo- Wahlkampfs noch die Hoffnung ge- matisches Handeln der USA und Russ- hegt haben, der US-Präsident würde lands gibt – und damit auf ein Ende des einen militärischen Sieg der Regie- Syrienkrieges. rungsseite hinnehmen, wenn zugleich Gewiss, eine tragfähige Antwort auf der sogenannte Islamische Staat in ge- diese Frage erscheint angesichts der meinsamer Anstrengung Russlands Sprunghaftigkeit sowohl von Donald und der USA niedergekämpft würde. Trump als auch von Wladimir Putin ge- Diese Hoffnung, wenn sie denn tat- wagt. Gleichwohl haben die Ereignisse sächlich bestand, sollte nun endgültig der letzten Wochen einmal mehr deut- begraben sein. Auch in Moskau dürfte

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die politische und militärische Füh- Bedingung, dass Assad nicht Teil der rung inzwischen davon ausgehen, dass Zukunft Syriens ist. Trump einen drohenden militärischen Sieg Assads ebenso wenig hinnehmen würde, wie Putin dessen Niederlage Die Suche nach der Wahrheit akzeptierte, als sich die syrischen Re- gierungstruppen im Herbst 2015 be- Mit ebendieser Botschaft reiste US- reits auf dem Rückzug befanden. Die- Außenminister Rex Tillerson kurz vor ser wurde damals mit russischer Luft- Ostern nach Russland. Für die Ver- unterstützung noch aufgehalten. antwortlichen in Moskau war sie aller- Vor diesem Hintergrund hat der US- dings nicht akzeptabel: Die russische amerikanische Angriff auf den Mili- Regierung gibt sich weiterhin felsen- tärstützpunkt bei Schairat gleich meh- fest davon überzeugt, dass nicht die rere politische Dimensionen. Einer- Truppen Assads, sondern die Rebellen seits hat er die Vereinigten Staaten un- für die Giftgaskatastrophe verantwort- mittelbar zur militärischen Partei im lich seien. Ebenso bestimmt behauptet Syrienkrieg gemacht. Andererseits hat nach wie vor die Führung in Washing- US-Präsident Trump durch Art und Be- ton, dass Assad den Giftgaseinsatz gründung des Angriffs nicht nur eine angeordnet habe. Diese ungeklär- aggressivere, sondern auch eine poli- te Schuldfrage ist derzeit (noch) der tisch offenere Politik der USA im Sy- Knackpunkt der amerikanisch-russi- rienkonflikt signalisiert. schen Beziehungen. Zum einen entschied sich Trump für Gleichzeitig fordern beide Seiten einen gezielten Militärschlag auf eine eine unabhängige Untersuchung. In einzelne Luftwaffenbasis, von der die Kriegssituationen haben es interna- Giftgasraketen angeblich abgefeuert tionale Untersuchungskommissionen wurden. Alle anderen Optionen hätten jedoch schwer, die Wahrheit heraus- wahrscheinlich zu deutlich größeren zufinden. Allerdings haben im Fal- Schäden bei der syrischen Luftwaf- le Syriens die UNO und die Organisa- fe und damit zu einer empfindlichen tion für das Verbot chemischer Waffen Schwächung der Militärmacht Assads (OVCW) in der Vergangenheit bereits geführt. Zum anderen wurde der Luft- wichtige Erfahrungen gewonnen, wie schlag ausschließlich mit dem Einsatz sich trotz vielfältiger Behinderungen von Nervengas begründet – ein massi- vor Ort verlässlich ermitteln lässt. ver Völkerrechtsverstoß, den die USA, Die Ergebnisse einer internationalen so Trump, nicht hinnehmen können. Untersuchungskommission könnten Gleichzeitig brandmarkte die US-Re- maßgeblich über das politische Schick- gierung Assad persönlich als Kriegs- sal Baschar al-Assads entscheiden. verbrecher. Sollte die Kommission zu dem Schluss Eine solche Fokussierung auf eine kommen, dass die Regierungsseite in Person entspricht US-amerikanischer der Tat für den Einsatz von Chemie- Tradition. Assad ist nicht der erste waffen verantwortlich ist, wird Putin gegnerische Führer, der als grundbö- kaum weiter an Assad festhalten kön- se und als Ursache allen Übels ange- nen. Ebenso wenig könnte die US-ame- sehen wird. Beispiele aus der Vergan- rikanische Seite ihr Bild vom erzbösen genheit sind etwa Muammar al-Gad- Assad aufrechterhalten, sollte die russi- dafi und Saddam Hussein. Zugleich er- sche Variante gestützt werden. öffnet diese Zuspitzung paradoxerwei- Ob und wie es mit der Person As- se den Spielraum für politische Kom- sad weitergeht, ist indes nicht die ein- promisse: Eine nichtmilitärische Lö- zige Streitfrage, die einer amerika- sung im Syrienkrieg ist aus Sicht der nisch-russischen Annäherung oder USA denkbar – allerdings nur unter der gar einem Ende des Syrienkrieges

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entgegensteht. Selbst wenn über die enden könnte. Die Verbündeten Russ- künftige Rolle des syrischen Diktators lands und der USA – allen voran die EU Einigkeit bestünde, gäbe es weiter- – sollten eine solche Friedensinitiative hin unterschiedliche Ansichten darü- daher als Vermittler nach besten Kräf- ber, wie die politische Zukunft Syriens ten unterstützen. auszusehen hat: Die Konflikte reichen Angesichts der scharfen Töne aus von der Einrichtung einer politischen Moskau und Washington mag die Hoff- Übergangsregierung, die freie Wahlen nung auf eine solche Wende im Syrien- vorbereitet und in der alle politischen krieg utopisch erscheinen. Allerdings Kräfte außer dem IS und Al-Qaida- dürfte eine kühle, strategische Analy- treue Milizen vertreten sind, über die se der jeweiligen Stärken, Schwächen, Dezentralisierung der Macht in Syrien Risiken und Optionen sowohl in Russ- und dem Ende der ausländischen mili- land als auch in den USA zu dem Er- tärischen Einmischung bis hin zu Ga- gebnis kommen, dass vor allem eine rantien für die russische Marinebasis Zusammenarbeit den eigenen Inter- in Tartus. essen dient. Eine Eskalation hingegen liegt weder im russischen noch im US- amerikanischen Interesse – es sei denn, Aus Kalkül zur Kooperation die jeweilige Regierung nutzt das über- aus gefährliche Spiel mit dem Feuer, Allerdings sind all diese Streitfälle lös- um innenpolitisch zu punkten. An die- bar – auch wenn beide Regierungen sem Punkt endet bekanntlich oft jede dazu jeweils liebgewonnene Positio- außenpolitische Rationalität. nen räumen müssten. Gleichzeitig gilt: Zweifellos steht vor allem Donald Eine Annäherung der USA und Russ- Trump aufgrund seiner Misserfolge lands steht nur am Anfang langer und der ersten hundert Tage innenpolitisch mühsamer Friedensverhandlungen. massiv unter Druck. Mehr Aktivität in Denn die beiden Großmächte sind der Außenpolitik könnte ihm oppor- nicht die einzigen Kriegsakteure in tun erscheinen, um sein Image im Lan- Syrien. Ein tragfähiger Friedenspro- de zu verbessern. Noch ist allerdings zess scheitert derzeit vor allem auch an keineswegs ausgemacht, ob Trump den konträren Interessen der regiona- wieder zu den alten Mustern der US- len Verbündeten beider Seiten. Hinzu amerikanischen Außenpolitik zurück- kommen die sozialen, politischen, eth- kehrt, sprich: zum regelmäßigen Inter- nischen und religiösen Konflikte in- venieren mit militärischer Macht in nerhalb Syriens, die sich im Laufe des vielen Konflikten. Es könnte sich auch nunmehr über sechs Jahre währenden nur um temporäre Reaktionen auf kon- Krieges verschärft haben. krete Provokationen handeln, durch Eine gemeinsame diplomatische Ini- Assad, aber auch durch Nordkoreas tiative der USA und Russlands kann Diktator Kim Jong-un. daher nur ein erster Schritt in Rich- Eines allerdings steht fest: Eine tung Frieden sein. Deren Ziel muss da- durchdachte Strategie ist hinter dem rin bestehen, einen dauerhaften Waf- außenpolitischen Agieren Donald fenstillstand im Land zu erreichen, der Trumps bislang nicht zu erkennen. dann in Friedensverhandlungen mün- Aber vielleicht ist ja gerade das sei- det. Dazu müssen beide Staaten größt- ne Strategie: durch die Unvorherseh- möglichen Druck auf die unterschied- barkeit seiner disruptiven Aktionen lichen Akteure in Syrien ausüben. Zu- die Gegner zu verunsichern. In jedem gleich ist die Konfliktkonfiguration, Fall macht Trump, schon ob seiner Un- die den Krieg in Syrien befeuert, zu erfahrenheit in der internationalen komplex, als dass ihn allein eine ame- Politik, die globale Lage noch gefährli- rikanisch-russische Kooperation be- cher, als sie ohnehin schon war.

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Ismail Küpeli Türkei oder: Das Ende der Demokratie

Gerade einmal zweieinhalb Jahre lie- Dabei wurde der autokratische Um- gen zwischen der Wahl Recep Tayyip bau des Landes durch einen Moment Erdog˘ ans zum Staatspräsidenten und der Schwäche Erdog˘ ans ausgelöst: Der dem Umbau der Türkei zu einem auto- Ausbruch der Gezi-Proteste im Som- kratischen Präsidialstaat. Mit dem Ple- mer 2013 führte der AKP vor Augen, biszit vom 16. April 2017 verabschiedet dass es widerständige Akteure in der sich das Land von den Prinzipien jener Gesellschaft gab, die sie nicht kontrol- parlamentarischen Republik, die einst lieren konnte und die ihren Machtan- ihr Staatsgründer Mustafa Kemal, ge- spruch grundsätzlich in Frage stellten. nannt Atatürk, in der Verfassung ver- Während die parlamentarische Oppo- ankert hatte. Um diese historische Zä- sition seinerzeit weitgehend wirkungs- sur herbeizuführen, zog die Staatsfüh- los blieb, entwickelten die außerpar- rung alle Register: Sie betrieb die Spal- lamentarischen Bewegungen eine tung der Gesellschaft, schüchterte die unkalkulierbare Dynamik. Die Regie- kurdische Bevölkerung mittels eines rung unter dem damaligen Premiermi- Krieges ein und schwächte die Oppo- nister Erdog˘ an scheiterte mit all ihren sition durch Repression entscheidend. Versuchen, die Bewegungen ausein- Doch selbst unter diesen Umstän- ander zu dividieren oder wenigstens den konnten Erdog˘ an und die regie- zu kanalisieren. Am Ende konnten die rende konservativ-islamische AKP nur Proteste nur mit massiver staatlicher eine sehr knappe Mehrheit der türki- Gewalt niedergeschlagen werden. schen Wählerinnen und Wähler für die Unterstützung des Präsidialsystems mobilisieren. Nach offiziellen Anga- Das Anziehen der ben stimmten lediglich rund 51 Prozent Daumenschrauben der Bürgerinnen und Bürger für die Verfassungsänderung. Die Opposition Daraus aber zog die AKP einen folgen- bezweifelt selbst diese Zahl, auch weil schweren Schluss: Zum Machterhalt die Wahlbehörde ungültige Stimmzet- setzte sie fortan verstärkt auf Repres- tel zuließ. Die kemalistische CHP und sion. Erdog˘ ans Regierung rüstete den die linke, pro-kurdische HDP erklär- Sicherheitsapparat auf und erweiterte ten daher umgehend, das Ergebnis vor dessen rechtliche Spielräume. So er- Gericht anzufechten. Allerdings ste- hielt die Polizei mehr Befugnisse im hen ihre Chancen schlecht. Erdog˘ an Vorgehen gegen Protestierende, und hat alle Kritik am Referendum katego- eine Neufassung der Telekommuni- risch zurückgewiesen, und die Rich- kationsgesetze erlaubte die verstärkte ter in der Türkei wissen nur zu genau Zensur der sozialen Netzwerke sowie um die Konsequenz unerwünschter die Verfolgung ihrer Nutzer. Entscheidungen. Als Erdog˘ an im August 2014 zum Denn der autoritäre Schwenk kam Präsidenten gewählt wurde, stellte die nicht über Nacht, im Gegenteil: Dem Staatsführung sogar das parlamenta- Volksentscheid ging in den vergange- rische System in Frage: Die Türkei be- nen vier Jahren eine stetige Zunahme finde sich in einer schwierigen histori- von Repressionen voraus. schen Phase und sei von inneren wie

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äußeren Feinden bedroht. Eine sol- mehrheit, wohl aber für die Einberu- che Zeit verlange nach einer starken fung einer Volksabstimmung. und einheitlichen politischen Füh- Im Wahlkampf zum Referendum rung, die im Rahmen des mangelhaf- fuhren der Präsident und die AKP-Re- ten parlamentarischen Systems nicht gierung dann alle Mittel auf. Der nie- zu verwirklichen sei. Dagegen setzte dergeschlagene Putsch im Juli 2016, die AKP-Spitze ein Präsidialsystem, in den Erdog˘ an umgehend – und entwaff- dem sich die politische Macht auf ein nend ehrlich – als „Gottesgeschenk“ Amt konzentriert. bezeichnete, bot ihnen dafür viele Doch weder im Parlament noch in Möglichkeiten. Seither gilt in der Tür- der Bevölkerung gab es dafür ausrei- kei der Ausnahmezustand, der einen chend Unterstützung. Alle Opposi- willkommenen Vorwand bot, die Kam- tionsparteien waren gegen das Präsi- pagnen der verschiedenen Gegner des dialsystem, und die AKP verfügte al- Präsidialsystems mit aller Härte zu be- leine nicht über die für eine Verfas- kämpfen. Hunderte Aktivisten und sungsänderung notwendige Zweidrit- Oppositionspolitiker wurden im Vor- telmehrheit. Die Parlamentswahl im feld des Referendums festgenommen, Juni 2015 verschlechterte die Aussich- darunter die Vorsitzenden der HDP. ten Erdog˘ ans zusätzlich. Unter dem Zahlreiche Journalisten sind seit dem Motto „Wir werden dich nicht zum Prä- Putschversuch inhaftiert oder muss- sidenten machen“ gelang der HDP der ten ins Exil gehen. Gleichzeitig nutzte Sprung über die Zehnprozenthürde, die AKP ohne Scheu den Staatsapparat wodurch die AKP zum ersten Mal seit und die regierungsnahen Medien zur 2002 die absolute Mehrheit verlor. Werbung für das Präsidialsystem. Der parlamentarische Weg zum Prä- Auch der Konflikt mit verschiede- sidialsystem war der AKP somit vorerst nen europäischen Regierungen um die versperrt – es sei denn, die allgemei- Wahlkampfauftritte türkischer Minis- ne politische Lage in der Türkei würde ter spielte Erdog˘ an erkennbar in die sich radikal ändern. Hände. Unter den Türken in den Nie- Diese radikale Änderung brachte derlanden und Deutschland fiel die Zu- der Krieg gegen die kurdische PKK, stimmung zur Verfassungsänderung der im Juli 2015 erneut aufflammte. deutlich größer aus als im Land selbst, Die AKP nutzte die Gelegenheit: Sie wenn auch bei schwacher Beteiligung. marginalisierte die HDP und damit die zivile Stimme der kurdischen Bevölke- rung, setzte Neuwahlen an und errang Die Niederlage vor der Schlacht im November 2015 wieder die Mehr- heit im Parlament. Zudem führte der Der Sieg des Ja-Lagers kam aber nicht Krieg zu einer Annäherung zwischen nur durch den unfairen Wahlkampf der AKP und der ultranationalistischen und mögliche Wahlfälschungen zu- Oppositionspartei MHP, die zuvor den stande. Eine wichtige Rolle spielten vermeintlich moderaten Regierungs- auch zwei weitere, weniger beachte- kurs gegenüber den Kurden kritisiert te Faktoren. Zum einen erwarteten und eine militärische Lösung gefor- die Gegner des Präsidialsystems ein- dert hatte. Die Annäherung zwischen hellig, dass Erdog˘ an und die AKP ein der AKP und den Ultranationalisten Nein keineswegs einfach akzeptieren bescherte der Regierung im Winter würden. Vielmehr rechnete die Oppo- 2016 die Zusicherung der MHP-Füh- sition damit, dass die Regierung in die- rung, sie bei der Einführung des Präsi- sem Fall verstärkt auf eine innenpoli- dialsystems zu unterstützen. Die Stim- tische Eskalation gesetzt hätte, etwa men der MHP reichten zwar nicht für durch ein Verbot der HDP und baldige eine verfassungsändernde Zweidrittel- Neuwahlen. In einem Parlament oh-

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ne HDP, so die Befürchtung, wäre die zustimmen, kann der Präsident einfach AKP möglicherweise stark genug für das letzte Budget an Inflation und ge- eine Verfassungsänderung und hätte stiegene Ausgaben anpassen und vor- das Präsidialsystem trotz des verlore- übergehend einsetzen. Damit verliert nen Plebiszits etablieren können. Zum das Parlament faktisch ein entschei- anderen waren manche Oppositionel- dendes Machtmittel gegenüber der Ex- le davon überzeugt, dass die Referen- ekutive: die Budgethoheit. Selbst eine dumsergebnisse ohnehin manipuliert Dauerregentschaft scheint möglich: und gefälscht werden würden. Der Offiziell darf der Präsident zwar nur Sieg des Ja-Lagers stand aus ihrer Sicht zwei Amtszeiten zu je fünf Jahren ab- bereits fest – unabhängig vom tatsäch- solvieren. Sollte das Parlament aber in lichen Abstimmungsergebnis. seiner zweiten Legislaturperiode Neu- Da viele Oppositionelle also glaub- wahlen beschließen, darf er wieder an- ten, die Regierung werde ihr Vorha- treten. ben so oder so durchsetzen, blieb man- Kritiker fürchten, dieser Schritt las- cher gleich den Urnen fern. In gewisser se sich quasi unendlich wiederholen. Weise gab ein Teil der Bevölkerung die Das türkische Präsidialsystem orien- Abstimmung somit schon vor dem 16. tiert sich damit mehr an den Standards April verloren. in Ägypten oder Aserbaidschan als an Die Folgen aber sind fatal: Für die den klassischen Präsidialdemokratien Türkei bedeutet der Sieg des Ja-La- etwa Frankreichs oder der USA. gers in erster Linie, dass die Regierung Welche Möglichkeiten bleiben bei in ihrem autokratischen und gewalt- alledem jetzt noch der türkischen Op- tätigen Kurs bestätigt wurde. Das Re- position? ferendum legitimiert de facto die seit Sie kann entweder ihrerseits zu Jahren anhaltende Repression gegen nichtdemokratischen Mitteln grei- die Opposition. Es stützt den Krieg in fen und Erdog˘ an mit einem Putsch aus den kurdischen Gebieten, der tausen- dem Amt drängen. Dies wäre nicht das de Todesopfer gefordert hat sowie die erste Mal in der jüngeren türkischen Militärinterventionen in Syrien und im Geschichte. Oder die Opposition ver- Irak. Schließlich verschafft es Erdog˘ an sucht weiterhin, mit demokratischen Rückendeckung für seine konfrontati- und zivilen Methoden den Gang in die ve Linie gegenüber Europa und wird offene Diktatur zumindest abzubrem- damit auch zur weiteren Spaltung der sen. Dabei riskiert sie aber, zum de- deutschtürkischen Community bei- mokratischen Feigenblatt für ein zu- tragen. nehmend autokratisches System zu Zudem sorgt die neue Verfassung werden. für einen beispiellosen Machtzuwachs Dennoch ist der demokratische und des Präsidenten. Künftig übernimmt er zivile Ansatz – gerade aus einer linken vom Premierminister, dessen Amt ab- und emanzipatorischen Perspektive geschafft wird, die Regierungsführung – zweifellos der richtige. Viele setzen und kann auf dieser Basis Dekrete er- ihre Hoffnungen bereits jetzt auf die lassen. Er ernennt seine Vizepräsiden- nächsten Parlaments- und Präsident- ten sowie Minister und hohe Beamte, schaftswahlen im Jahr 2019; erst da- ohne dabei die Zustimmung durch das nach tritt die neue Verfassung in Kraft. Parlament suchen zu müssen. Auch die Man sollte sich jedoch nichts vorma- Gouverneure der Provinzen werden chen: Angesichts der schon jetzt im- fortan direkt von der Zentralregierung mensen Machtfülle des Präsidenten bestimmt. und den beschränkten Möglichkeiten Das Parlament hingegen erfährt der Opposition sind die Aussichten auf eine empfindliche Schwächung. Sollte einen Erfolg gegen Erdog˘ an einstwei- es beispielsweise dem Haushalt nicht len eher gering.

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Matthias Eickhoff Brexit: Keltische Revolten

Der Scheidungsbrief ist eingereicht: ferendum auf den Weg. Den Beschluss Seit dem 29. März läuft die offizielle fällte das Parlament in Edinburgh Zweijahresfrist, binnen derer der EU- ausgerechnet am 28. März, just einen Austritt Großbritanniens ausgehan- Tag vor dem Brexit-Antrag aus Dow- delt werden muss. Als wäre dies nicht ning Street. Die Volksabstimmung soll schwierig genug, beschert der geplan- möglichst zwischen Herbst 2018 und te Brexit Premierministerin Theresa Frühjahr 2019 stattfinden, also noch May obendrein massive innenpoliti- vor dem offiziellen EU-Austritt Groß- sche Probleme. Diese werden maßgeb- britanniens. lichen Einfluss darauf haben, wie das Noch 2014 hatten die Unabhängig- Land in zwei Jahren dasteht. keitsbefürworter ein erstes Referen- Der Fokus liegt dabei auf den „kel- dum mit 45 zu 55 Prozent verloren. An- tischen“ Landesteilen: Die schottische gesichts des schon damals drohenden Regionalregierung hat ihre Unabhän- Brexit und eines ungeahnten Höhen- gigkeitswünsche erneut massiv vor- flugs der SNP bei den folgenden Wah- getragen, und in Belfast ist die nordiri- len war jedoch schnell klar, dass die sche Koalitionsregierung aus unionis- schottische Regionalregierung einen tischen und republikanischen Parteien neuen Anlauf nehmen würde. Der Bre- zerbrochen. Auch deswegen hat May xit stelle für Schottland einen „grund- für den 8. Juni Neuwahlen angesetzt. legenden Wandel“ dar, der es erlaube Innenpolitische Lösungen für beide und erfordere, die schottische Bevölke- Konflikte sind derzeit nicht erkennbar. rung erneut zu befragen, argumentiert Die entscheidende Frage ist nun, wie- die SNP. viel Zeit und Aufmerksamkeit die bri- Sie stützt sich dabei auf das Abstim- tische Regierung während der ohnehin mungsverhalten beim Brexit-Referen- äußerst komplizierten Brexit-Verhand- dum im Juni 2016. Anders als in Eng- lungen den aus Londoner Sicht fer- land votierte in Schottland eine Mehr- nen Regionen widmen wird. Denn fest heit von 62 Prozent der Wähler für den steht: Vernachlässigt sie beide Landes- Verbleib in der EU – aus Sicht der sehr teile, kann sie den Erhalt des Vereinig- agilen Regierungschefin Sturgeon ein ten Königreichs nicht mehr garantie- klares Mandat sowohl für direkte Ver- ren. Selbst ein Wiederaufflammen des handlungen mit der EU als auch für Nordirlandkonflikts ist nicht ausge- einen Neuanlauf in Sachen Unabhän- schlossen. gigkeit. So vorhersehbar der Antrag für ein zweites Referendum auch war, so un- Neuanlauf zur Unabhängigkeit vorhersehbar sind dessen Auswirkun- gen und der weitere Ablauf. Edinburgh Die schottische Regionalregierung hat benötigt nämlich die Zustimmung von sich jedenfalls sehr eindeutig positio- Premierministerin May – und die signa- niert. So brachte die Schottische Na- lisierte sofort ein klares „No“ zum Zeit- tionalpartei (SNP) unter First Minister plan der SNP. Zunächst müssten der Nicola Sturgeon gemeinsam mit den Brexit vollzogen werden und dessen Grünen ein neues Unabhängigkeitsre- Auswirkungen für alle klar sein. Folgt

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man dieser Argumentation, könnte ten sie an, ein unabhängiges Schott- ein Referendum nicht vor 2020/21 statt- land solle zunächst einmal nur der finden – nach den nächsten Wahlen Europäischen Freihandelszone EFTA zum britischen Unterhaus und zum beitreten, der auch Norwegen, Island, schottischen Regionalparlament. Liechtenstein und die Schweiz ange- hören. Dadurch würde der Freihandel mit der EU erhalten bleiben. So wollen Europhile Schotten? Sturgeon und Salmond jene Unabhän- gigkeitsbefürworter überzeugen, die Auf den ersten Blick droht also ein neu- Schottland nicht nur aus dem Vereinig- er scharfer Konflikt. Doch die zöger- ten Königreich lösen wollen, sondern liche Haltung Mays kommt der SNP- prinzipiell gegen jede Art von Union Spitze aus mehreren Gründen eigent- sind. Von der Hoffnung, den EU-Aus- lich ganz gelegen. Ihr größtes Problem tritt für Schottland irgendwie noch ver- ist weiterhin, dass es in den Umfragen hindern zu können, hat sich die SNP keine Mehrheit für die schottische Un- jedenfalls verabschiedet. abhängigkeit gibt. Ein früher Abstim- Auch diese unklaren Ziele spre- mungstermin wäre deshalb für die chen gegen ein frühes Referendum. SNP nicht wünschenswert. Tritt aber Die Kommunalwahlen am 4. Mai gel- London auf die Bremse, lässt sich der ten deshalb als wichtiger landesweiter Edinburgher Referendumsbeschluss Stimmungstest für die SNP-Führung. jahrelang problemlos als politische Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Keule gegen die Zentralregierung ver- der größten Stadt Glasgow, die bislang wenden. nicht von der SNP regiert wird, 2014 Überdies weiß Sturgeon, dass sich aber deutlich für die Unabhängigkeit die Haltungen von Schotten und Eng- stimmte. ländern in zentralen Fragen nicht groß Nicht nur das Beispiel Schottland unterscheiden – den unterschiedlichen zeigt jedoch: In Brexit-Zeiten gewin- Ergebnissen beim Brexit-Referendum nen die zahlreichen historischen Son- zum Trotz. So ergab jüngst eine Studie derregelungen für die verschiedenen des renommierten Professors John Cur- Landesteile des Vereinigten König- tice, dass die Schotten mit ihren eng- reichs plötzlich an politischer Bedeu- lischen Nachbarn weitgehend einer tung. Bislang wiederholte die britische Meinung sind, wenn es um Immigra- Regierung gegenüber Edinburgh stets tionsbeschränkung und die Bevorzu- das Mantra, beim EU-Austritt müsse gung des Freihandels gegenüber einer für alle Landesteile dieselbe Regelung politischen Union mit Europa geht.1 In gelten, die keine Ausnahmen dulde. dieser Deutlichkeit war das eine Über- Deshalb könne Schottland beispiels- raschung, fordert doch die SNP bislang weise den Verbleib im EU-Binnen- erheblich mehr Einwanderungsmög- markt oder eine eigene Migrations- lichkeiten nach Schottland. Der Jour- politik vergessen. nalist David Torrance ergänzt deshalb, Ende März jedoch rückte unerwar- dass die schottische Bevölkerung nicht tet das kleine Gibraltar in den Mittel- unbedingt „europhil“, sondern einfach punkt der politischen Diskussion. The- nur „weniger euroskeptisch“ sei.2 resa May hatte nämlich „vergessen“, Demgemäß propagierten Sturgeon die britische Exklave an der Südspitze und ihr Vorgänger Alex Salmond zu- Spaniens im Scheidungsschreiben an letzt nicht mehr die volle und soforti- die EU zu erwähnen. Brüssel wieder- ge EU-Mitgliedschaft. Vielmehr reg- um plant, der spanischen Regierung in dieser Frage eine Art Veto bei den 1 Vgl. „The Herald“, 30.3.2017. Austrittsverhandlungen einzuräumen. 2 Vgl. „The Herald“, 3.4.2017. Sollte der harte Brexit kommen, wür-

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de die Grenze zwischen dem Felsen klare Mehrheit von knapp 56 Pro- am Mittelmeer und Spanien plötzlich zent der Bevölkerung für den Verbleib zu einer EU-Außengrenze und müsste in der EU stimmte. Viele Menschen mit Pass- und Zollschranken versehen fürchten, dass bei einem harten Bre- werden. Kein Wunder, dass 96 Prozent xit die Grenze zur Republik Irland als der Einwohner Gibraltars letztes Jahr EU-Außengrenze wieder real hochge- gegen den Brexit stimmten. zogen wird. Damit würden die alten Sollte es nun jedoch ein separates Trennlinien aus Bürgerkriegszeiten er- Abkommen zwischen London und Ma- neut klar sichtbar. drid sowie der EU in Sachen Gibral- Erstmals spürbar wurden diese al- tar geben, wäre damit indirekt auch ten Frontstellungen im vergangenen die Verhandlungsposition der schot- Juni: Arlene Foster, Chefin der nord- tischen Regierung gestärkt. Diese fa- irischen Koalitionsregierung aus der vorisierte schon immer einen eigenen unionistischen Democratic Unionist schottischen Brexit-Deal. In einem Party (DUP) und der republikanischen Punkt gibt es schon jetzt Bewegung: Sinn Féin (SF), sprach sich gegen den Die spanische Regierung galt wegen Mehrheitswillen der eigenen Bevöl- der Unabhängigkeitsbestrebungen von kerung für den Brexit aus und tat dies Katalanen und Basken bislang als un- auch nach dem Referendum noch. Da- versöhnlicher Gegner einer eigenstän- mit war das Schicksal der Regierung digen schottischen EU-Mitgliedschaft. faktisch besiegelt. Der offizielle Bruch Nun jedoch – vielleicht auch mit Blick erfolgte im Januar 2017, als Fosters auf die Gibraltar-Frage – erklärte der Stellvertreter Martin McGuinness (SF) spanische Außenminister Alfonso Das- die Koalition aufkündigte. Er begrün- tis: „Wir wünschen uns [die schottische dete das damit, dass Foster als Minis- Unabhängigkeit] nicht. Aber wenn sie terin 2012 mit einem Programm zur legal und verfassungsgemäß zustan- Förderung erneuerbarer Energien ihr de kommt, werden wir uns nicht in den Budget weit überschritten hatte. Wei- Weg stellen.“3 Das kann als diplomati- tere Streitpunkte waren Gesetze zur scher Teilerfolg für die schottische Re- gleichgeschlechtlichen Ehe und zur gierung gewertet werden. irischen Sprache, die beide von Sinn Féin befürwortet, von der DUP jedoch abgelehnt werden. Das Wiederaufflammen des Die darauf folgenden Neuwahlen Nordirlandkonflikts vom 2. März brachten eine spürba- re Verschiebung der Kräfteverhältnis- Im Windschatten der dynamischen se in Richtung von Sinn Féin und des schottischen Unabhängigkeitsdebatte republikanischen Lagers. Die DUP lag ist die brisante Entwicklung in Nordir- mit 28,1 Prozent nur noch hauchdünn land selbst im Vereinigten Königreich vor der SF (27,9 Prozent), die von der ein wenig aus dem Blickfeld geraten. BBC konsequenterweise als „großer Das könnte sich schnell rächen, denn Gewinner des Tages“ bezeichnet wur- der Nordirlandkonflikt bleibt weiter de. Erstmals erhielten die beiden repu- virulent und kann bei schlechtem Bre- blikanischen Parteien Sinn Féin und xit-Management der Londoner Regie- Social Democratic and Labour Party rung schnell wieder eskalieren, gerade (SDLP) zusammen mehr Sitze im Re- angesichts der internen Probleme in gionalparlament als die beiden unio- Nordirland. nistischen Parteien DUP und Ulster Alles begann mit dem Brexit-Refe- Unionist Party (UUP).4 Der bisherige rendum, als auch in Nordirland eine Führungsanspruch der unionistischen

3 Vgl. „The Scotsman“, 2.4.2017. 4 Vgl. BBC News, 4.3.2017.

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Parteien steht also auf dem Spiel. Das dem überraschenden Tod von Martin ist deshalb so bedeutend, weil die ge- McGuinness im März ist der wichtigste samte Existenz Nordirlands auf der Garant des bisherigen Koalitionsge- Prämisse einer protestantisch-unio- triebes verlorengegangen. Wird Sinn nistischen Mehrheit beruht. Nach den Féin nun offensiv auf ein Vereini- Regeln des Karfreitags-Abkommens gungsreferendum setzen, um Nordir- von 1998 muss die Regionalregierung land aus dem Vereinigten Königreich in Belfast aus einer Koalition zwischen herauszulösen? Der Ausgang eines sol- den jeweils größten protestantisch- chen Referendums wäre völlig offen: unionistischen und katholisch-repub- Eine Mehrheit für eine irische Wieder- likanischen Parteien bestehen. Diese vereinigung – quasi über Nacht – ist Machtteilung galt als Grundlage für eigentlich nicht vorstellbar und stößt die Befriedung der Provinz, doch nach selbst in Dublin auf wenig Begeiste- den Zugewinnen der Republikaner rung. Zudem ist kaum denkbar, dass steht das System auf der Kippe. die unionistischen Parteien dies ein- Dementsprechend schwierig gestal- fach so akzeptieren würden. tete sich die Regierungsbildung zwi- Damit befindet sich die nordirische schen SF und DUP. Die offizielle Frist Politik in einer gefährlichen Pattsitu- von drei Wochen verstrich, und dem ation. Jenseits eines immer noch mög- britischen Nordirlandminister James lichen Kompromisses zwischen DUP Brokenshire blieb nichts anderes übrig, und SF könnte sie nur durch aber- als den nordirischen Parteien mit einer malige vorgezogene Neuwahlen im Verlängerung ein „kleines Fenster“ für Sommer gelöst werden – oder durch weitere Verhandlungen zu öffnen.5 Die die Suspendierung der nordirischen eigentliche Sensation hatte die Londo- Selbstverwaltung und die erneute Ab- ner Tageszeitung „The Times“ parat, gabe der politischen Verantwortung die eine Stellungnahme des britischen an London. Allerdings könnte Lon- Brexit-Ministers David Davis veröffent- don durch die direkte Verwaltung der lichte. Diese gestattet Nordirland einen Provinz womöglich ein schnelleres automatischen Verbleib in der EU – so- Grenzabkommen mit der Republik Ir- gar als Teil der Republik Irland –, sollte land und der EU erreichen: London wie eine Mehrheit der Bevölkerung dies in Dublin wollen nämlich eine „harte“ einer Abstimmung wünschen.6 Er ver- EU-Grenze auf der Grünen Insel un- glich das Procedere mit dem EU-Beitritt bedingt vermeiden, ohne bislang je- der DDR nach der deutschen Wieder- doch einen konkreten Plan vorgelegt vereinigung von 1990. zu haben. Die schottische Regierung Die Politik in Nordirland steht nun wiederum sieht den britisch-irischen vor ihrer größten Herausforderung seit Wunsch nach einer weiterhin offenen Aushandlung des Karfreitags-Abkom- EU-Grenze in Irland als weiteren Beleg mens. Sollten sich die unionistischen dafür, dass es beim Brexit für alle bri- Parteien einer weiteren Zusammen- tischen Landesteile vertraglich verein- arbeit mit Sinn Féin entziehen, brä- barte Sonderregelungen geben kann che die nordirische Regionalregierung und muss. sofort zusammen. In der Konsequenz Die EU täte daher gut daran, bei den müsste London wieder die alleinige Brexit-Verhandlungen die innenpoli- Verwaltung der Provinz übernehmen – tischen Probleme des Vereinigten Kö- eine Vorstellung, die dort niemandem nigreichs zu berücksichtigen. Letztlich behagt. Unklar ist auch, wie Sinn Féin handelt es sich um europäische Proble- mit der Situation umgeht, denn nach me, die im Rahmen der EU eigentlich überwunden schienen. Und ein Wie- 5 Vgl. The „Scotsman“, 28.3.2017. deraufflammen des Nordirlandkon- 6 Vgl. The „Times“, 28.3.2017. flikts kann sich niemand wünschen.

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Benjamin-Immanuel Hoff Rot-Rot-Grün? Jetzt erst recht!

In diesem Monat wird es ernst: In insbesondere in Rheinland-Pfalz zu Schleswig-Holstein sowie an Ruhr und besichtigen, aber auch in Baden-Würt- Rhein finden die letzten Landtagswah- temberg, Mecklenburg-Vorpommern len vor der Entscheidung im Bund statt. und Hamburg. Bislang galten Wahlen in Nordrhein- Da die Vorwahlumfragen zeitwei- Westfalen, der sogenannten Kleinen se ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Bundesrepublik, als Test für den Bund. CDU und SPD voraussagten, die CDU Doch nach der Saarlandwahl wurde der aber am Wahlabend rund 10 Prozent- Eindruck erweckt, als habe sich dort punkte vor der SPD lag, wurde dies bereits die Bundestagswahl entschie- als Niederlage der Sozialdemokratie den. Bei Lichte und sachlich betrach- und von Martin Schulz interpretiert. tet, lässt sich aus der Wahl im kleins- Es spricht jedoch viel dafür, dass das ten Bundesland jedoch nicht mehr und Gegenteil zutrifft. Die Saar-SPD hat nicht weniger als das Ergebnis eines gegen eine starke Amtsinhaberin das regionalen Urnengangs ablesen. Inso- Ergebnis der vorangegangenen Land- weit kommt sowohl der Abgesang auf tagswahl im Wesentlichen halten und Martin Schulz als auch auf eine rot-rot- aufgrund gestiegener Wahlbeteili- grüne Koalition im Bund zu früh. gung in absoluten Zahlen sogar zule- Es war der SPD-Kanzlerkandidat gen können. Sie verlor auch als Junior- selbst, der am Wahlabend mit dem partner in der Koalition nicht, obwohl Begriff „Kramp-Karrenbauer-Effekt“ dies gemeinhin der Regelfall ist. In Ba- den Nagel auf den Kopf traf: Bei dieser den-Württemberg und in Rheinland- Landtagswahl wurde eine Minister- Pfalz verloren SPD bzw. Grüne drama- präsidentin mit überragenden persön- tisch, während lichen Zustimmungswerten wiederge- und Malu Dreyer Erfolge erzielten. wählt. Mehr als drei Viertel der Wähle- Dies spricht gerade nicht gegen einen rinnen und Wähler im Saarland befan- bundesweiten Schub durch Martin den laut Infratest dimap, Kramp-Kar- Schulz, sondern im Gegenteil dafür. renbauer „sei eine gute Ministerprä- Klar, eine gewonnene Landtagswahl sidentin“. Auch Vergleichswerte der an der Saar hätte der Kampagne von Forschungsgruppe Wahlen legen na- Martin Schulz starken Rückenwind he, dass diese Wahl vor allem deshalb gegeben. Bei einer Koalition mit der von der CDU gewonnen wurde, weil Linkspartei wären in der Woche nach eine überwiegende Zahl der Wähle- der Saarlandwahl in der SPD die Spe- rinnen und Wähler die amtierende Mi- kulationen über eine Ampelkoalition nisterpräsidentin erneut im Amt sehen nach der Bundestagswahl vermutlich wollte. Es gehört zu den zwar regis- nicht ins Kraut geschossen. trierten, aber noch immer vernachläs- So oder so gibt es gute Gründe, die sigten Wahrnehmungen der vergange- gegen den Abgesang auf Schulz spre- nen Landtagswahlen, dass nicht Par- chen oder zumindest dafür, dass es für teien ihre Ministerpräsidenten ziehen, dergleichen allein mit den Ergebnissen sondern umgekehrt der Persönlich- der Saarlandwahl viel zu früh ist: We- keitsfaktor eine erhebliche Wirkung sentlich mehr Wählerinnen und Wäh- auf das Parteiergebnis hat. Dies war ler im Saarland gaben an, dass Mar-

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tin Schulz für die SPD hilfreich sei, als Die Linkspartei ist im Saarland immer dies umgekehrt bei der Kanzlerin für noch weit stärker als in allen anderen die CDU angenommen wurde. Beide westlichen Bundesländern – wobei werden im Wesentlichen für genau- auch sie angesichts der CDU-SPD- so glaubwürdig gehalten, aber Mar- Polarisierung prozentual schrumpf- tin Schulz gilt mit Abstand als bürger- te. Diese Stärke ist fast ausschließlich näher und wird mit positiver Verände- mit Oskar Lafontaine verbunden. Sei- rung assoziiert, wie auch damit, dass ne Rolle in der saarländischen Politik, durch ihn die Unterschiede zwischen und vor allem seine Rolle in und außer- SPD und Unionsparteien wieder er- halb der SPD, ist hinlänglich bekannt kennbar seien. Der Kanzlerin wird im und beschrieben worden. Wenn es ihm Gegenzug von zwei Dritteln der Saar- im Saarland gelungen wäre, mit der Wähler attestiert, dass sie „ihre bes- sozialdemokratischen Spitzenkandi- ten Zeiten hinter sich habe“. Verglei- datin Anke Rehlinger und gegebenen- che zur Abwahl Helmut Kohls bei der falls der grünen Parteivorsitzenden Bundestagswahl 1998 liegen auf der die erste rot-rote oder rot- Hand. rot-grüne Landesregierung im Westen zu bilden, wäre dies tatsächlich ein bundespolitisches Signal gewesen und Schwächelnde Grüne zugleich eine Art Versöhnung Lafon- taines mit „seiner“ SPD. Dafür waren Unter die Räder kamen – aufgrund der die saarland-spezifischen Rahmen- Polarisierung zwischen Union und bedingungen freilich eher ungünstig. SPD sowie der großen Beachtung für 58 Prozent der Befragten befürwor- die Linkspartei durch Oskar Lafon- teten im Vorfeld der Wahl eine Fort- taine – die Grünen. Dabei wäre – so setzung des Bündnisses aus CDU und die Ironie der Geschichte – nur mit de- SPD, 33 Prozent ein rot-rotes Bündnis ren Verbleib im Landtag die Ablösung und 24 Prozent Rot-Rot-Grün. Solche von Kramp-Karrenbauer gelungen. Zustimmungswerte für eine Koali- Doch für die Grünen ist das Saarland tion unter Einschluss der Linkspar- seit jeher ein schwieriges Pflaster: Nur tei sind mindestens bemerkenswert, bei vier Wahlen, und jedes Mal hauch- wenn aber auch nicht ausreichend. dünn, gelang ihnen hier der Einzug Denn ganze 79 Prozent der SPD-Wäh- in den Landtag (1994, 2004, 2009 und ler und Wählerinnen präferierten eine 2012). Dramatischer ist für die Öko- Große Koalition, wenn auch unter partei, dass die Verluste an der Saar Führung der SPD, aber noch immer Teil einer Kette von Wahlverlusten in 34 Prozent bei einer Führung durch inzwischen elf der sechzehn Länder die CDU. sind. Momentan resultiert die poli- tische Stärke der Grünen vornehm- lich aus ihren Regierungsbeteiligun- Rot-Rot-Grün als Chance – gen statt aus ihren Wahlergebnissen. und Schreckgespenst Gleichwohl ist das Ausscheiden der Grünen aus dem Landtag ein regio- Bei den kommenden Landtagswahlen nales Spezifikum im bundesweiten am 7. und am 14. Mai werden nun die Trend.1 Jeder rot-rote Schlagabtausch Karten neu gemischt – und aller Vor- darüber, an welcher der drei Parteien aussicht nach geht in Kiel und Düssel- der Politikwechsel an der Saar nun ge- dorf der Wahlerfolg mit der SPD nach scheitert ist, führt daher zu nichts. Hause. Während die Grünen hier wie dort zittern, ist völlig offen, ob es der 1 Vgl. Albrecht von Lucke, Vom Winde ver- weht: Die Grünen ohne Gewicht, in: „Blätter“, Linkspartei gelingen wird, wieder in 4/2017, S. 5-8. die Landtage in Kiel und Düsseldorf

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einzuziehen. Denn seit der Bundes- für Martin Schulz belegt, dass dabei tagswahl 2009 erzielte auch sie insge- durchaus zwischen Mitte-Links und samt schlechtere Wahlergebnisse als Mitte-Rechts unterschieden wird. Das bei den jeweiligen Vorwahlen. aber stellt auch gravierende Gewiss- Dagegen dürften die Liberalen mit heiten der drei Mitte-Links-Parteien in ihren prominenten Spitzenkandidaten Frage. Wolfgang Kubicki und Christian Lind- Erstens: Die SPD kann wieder ler- ner klare Achtungserfolge erzielen. nen, dass jenseits der Mitte Wahlen Wie die AfD bei sinkendem Bundes- gewonnen werden. Die Grünen soll- trend abschneidet, ist derzeit unklar. ten feststellen, dass die Betonung Kurzum: Das Rennen bis zum Wahl- der Äquidistanz zu allen im Bundes- herbst ist eröffnet – und weiter offen. tag vertretenen Parteien trotz Win- Aufgrund dieser Tatsache ist der fried Kretschmanns Wahlerfolgen Gegenwind seitens der Konservati- in Baden-Württemberg nichts dar- ven immens. Schon bei der Nominie- an ändert, dass ein relevanter, wenn rung von Martin Schulz zum desig- nicht gar deutlich überwiegender Teil nierten Kanzlerkandidaten und dem der Mitglieder und Wählerinnen der unerwarteten Aufbruch in der SPD, Grünen eindeutig Mitte-Links statt infolgedessen die Partei nach Jahren Schwarz-Grün orientiert ist. Dies be- der Agonie und Stagnation erstmals in wies die Saarlandwahl. Und für die der Lage zu sein scheint, ernsthaft den Linkspartei zeigt sich die Brüchig- Anspruch zu erheben, den nächsten keit der Annahme, alle Parteien außer Kanzler tatsächlich zu stellen, wurde sie selbst seien Teil eines neoliberalen von CDU/CSU und AfD in bezeichnen- Kartells. der Eintracht der rot-rot-grüne Teufel Zweitens: Diese Mitte-Links-Ach- an die Wand gemalt. Immer im Geiste se wieder stärker zu betonen und die der „guten alten Zeit“ gegen die Kom- soziale Frage zum Gegenstand der munisten und Sozialisten – von Ade- Unterscheidung zu machen, ist darü- nauers Wahlkämpfen 1953 („Alle We- ber hinaus ein wirksames Mittel zur ge des Marxismus führen nach Mos- Auseinandersetzung mit der AfD. Da- kau“) und 1957 („Keine Experimente“) gegen führt die Vorstellung von Sah- bis zu den Schlachten von Helmut Kohl ra Wagenknecht und Oskar Lafon- 1976 („Freiheit statt Sozialismus“) und taine in die Irre, die Linkspartei könn- Franz-Josef Strauß 1980 („Den Sozia- te durch Anbiederei an die AfD punk- lismus stoppen – Strauß wählen“). ten. Hier trifft zu, was Bernd Riexinger schon vor Jahren feststellte: „Die AfD ist rechts – wir sind links.“ Das gilt es Keine Scheu vor der inhaltlichen zu betonen, wie die jüngsten Umfrage- Kontroverse erfolge der SPD zeigen. Denn drittens: Seit die SPD wie- Sollte die Union den Lagerwahlkampf der aus dem 23-Prozent-Keller aufge- gegen links tatsächlich führen, soll- stiegen ist, verliert die AfD klar in den ten SPD, Grüne und Linkspartei die- Umfragen. Die Ursache dafür liegt kei- se Auseinandersetzung nicht scheu- neswegs allein darin, dass die SPD en, sondern als Chance begreifen. wie alle anderen Parteien zuvor Wäh- Schließlich zeigen die Zustimmungs- lerinnen und Wähler an die AfD ver- werte für die SPD in Verbindung mit loren hat, sondern auch in der klare- den Werten von Grünen und Linken, ren sozialen Profilierung unter Martin dass es in der Bevölkerung – allen an- Schulz. Sollte in diesem Wahlkampf derslautenden Behauptungen zum also tatsächlich der Umstand thema- Trotz – weiterhin eine klare Lager- tisiert werden, dass trotz anhaltender orientierung gibt. Die Begeisterung ökonomischer Prosperität die Schere

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201705_Buch.indb 17 19.04.17 10:47 18 Kommentare und Berichte

zwischen Arm und Reich zunehmend konflikte der Bonner Republik been- auseinanderklafft, könnte die partei- det wurden. Der Atomausstieg ist ab- politische Rechtsentwicklung im Lan- solviert, die Wehrpflicht abgeschafft, de konterkariert und ein erheblicher die Energiewende eingeleitet. Andere Teil der AfD- wie auch der Nichtwäh- Themen wie die Schaffung eines Ein- ler für das Mitte-Links-Lager zurück- wanderungsgesetzes, eine abschlie- gewonnen werden. Das Mitte-Links- ßende verlässliche Klärung der dop- Lager darf sich daher nicht scheuen, pelten Staatsbürgerschaft sind je- echte Alternativen zum rückwärtsge- doch ebenso ungelöst wie die Gleich- wandten AfD-Modell paternalistischer stellung aller Lebensgemeinschaften Sozialstaatlichkeit bei gleichzeitiger mit der Ehe oder die Abschaffung des neoliberaler Deregulierung deutlich Ehegattensplittings. Alle diese The- zu machen. Auch wenn von den drei men würden von Rot-Rot-Grün in kur- Parteien viel zu oft die Unterschiede zer Zeit im Konsens bearbeitet werden. betont werden, bestehen dafür ausrei- Eines steht allerdings auch fest: Der chend Gemeinsamkeiten. Dafür wie- gesellschaftliche und mediale Wider- derum nur drei Beispiele, die auf wich- stand dagegen wäre enorm und Was- tige Handlungsfelder verweisen. ser auf die Mühlen des Bündnisses aus Stichpunkt Bürgerversicherung: Seit AfD und Pegida. Jahren sind sich SPD, Grüne und Links- Diese drei Beispiele zeigen, dass die partei einig, dass die Versicherten von Entscheidung zwischen Mitte-Links gesetzlicher und privater Krankenver- und Mitte-Rechts einen gravierenden sicherung nicht mehr gegeneinander Unterschied macht. Bei weiteren ge- ausgespielt werden dürfen. Eine Bür- sellschaftlichen Herausforderungen gerversicherung für alle ist das Ziel. wie der Ausgestaltung einer armutsfes- Dafür soll das System der staatlichen ten Rente, der Arbeit 4.0 und der öko- Beihilfe, mit dem der Krankenversi- logischen Modernisierung ließe sich cherung Geld vorenthalten wird, er- die Themenliste problemlos fortset- setzt werden. Die Beihilfe würde so in zen. Der diesjährige Bundestagswahl- die Gesetzliche Krankenversicherung kampf unterscheidet sich daher von überführt, in die dann auch die Beam- denen der Jahre 2009 und 2013: Es gibt tinnen und Beamten einzahlen. eine Alternative zur Kanzlerin, inhalt- Stichpunkt Austeritätspolitik: In lich und personell, weil Angela Merkel Griechenland haben in deren Folge erstmals nicht mehr als alternativlos Armut und Kindersterblichkeit rapi- gilt. de zugenommen. Dagegen versuchte Darin liegt insbesondere die Stärke die von Alexis Tsipras geführte Regie- von Martin Schulz, der als Person ein rung zumindest die härtesten Folgen „window of opportunity“ ausfüllt. Wä- der Austeritätspolitik für die unteren re eine Martin Schulz-SPD zu einer Schichten der Bevölkerung abzublo- Mitte-Links-Alternative bereit, ent- cken. Bei alledem vergisst die von den stünde daraus eine Alternative zu den Unionsparteien in den vergangenen bislang vermeintlich alternativlosen Jahren klischeehaft geäußerte Kritik Gewissheiten neoliberaler Globalisie- an der Syriza-Regierung konsequent, rung. Dabei protektionistischen Popu- dass es neben der sozialdemokrati- lismus zu vermeiden und stattdessen schen PASOK vor allem die Konserva- auf eine europäische Sozialunion zu tiven waren, die über Jahrzehnte das orientieren: Ein solcher Wahlkampf Land in nepotistischer Manier in den wäre – jenseits der Personalie Martin Abgrund regiert haben. Schulz – im besten Sinne aufklärerisch Stichpunkt gesellschaftliche Mo- und vernünftig. Und er könnte erfolg- dernisierung: Es trifft zu, dass unter reich sein. Soll niemand sagen, er hätte Angela Merkel jahrzehntealte Groß- es nicht besser wissen können.

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Utz Ingo Küpper Freihandelsabkommen: Kommunen unter Druck

Lange Zeit bestimmten erfahrene und Gesamtvolumen inzwischen mehr als erfolgreiche Kommunalpolitiker ganz 30 Prozent unter dem Niveau von 1992 wesentlich die deutsche Politik. Be- liegen. Zu diesen Finanzengpässen sonders die linken Kräfte waren durch kommt ein Rekrutierungsengpass: Der lokalpolitische Arbeit geprägt und langjährige Stellen- und damit auch regenerierten sich über Jahrzehnte Kompetenzabbau hat die Arbeitsplät- hinweg personell aus dieser starken ze insbesondere in den technischen Quelle. Dazu trug entscheidend bei, Verwaltungen unattraktiver werden dass es in der Wiederaufbauzeit nach lassen. Überdies ist das gesellschaftli- dem Zweiten Weltkrieg und in der an- che Ansehen kommunaler Funktions- schließenden Wachstumsphase viel zu träger geschwunden. Allein in Nord- gestalten gab. Zudem garantiert das rhein-Westfalen sank die Zahl kommu- Grundgesetz in Art. 28, Abs. 2 den Ge- naler Angestellter zwischen 1992 und meinden, „alle Angelegenheiten der 2010 von 2,1 auf 1,2 Millionen, wäh- örtlichen Gemeinschaft“ in „Selbstver- rend die strukturelle Verschuldung der waltung“ und „finanzieller Eigenver- Großstädte stark zunahm. Das ist kein antwortung“ zu regeln. Dies verschaff- günstiges Umfeld für den Aufbau poli- te den deutschen Kommunen über lan- tischer Karrieren. ge Zeit eine auch im europäischen Ver- In Deutschland hat die Dominanz gleich kraftvolle Rechtsposition. neoliberaler Dogmen zu Einbrüchen Seit geraumer Zeit aber wird diese bei den kommunalen Wirtschaftsunter- von der sogenannten Freihandelspoli- nehmen, zu mangelnden Investitionen tik massiv untergraben. Abkommen in die öffentliche Infrastruktur und zu wie CETA und TTIP sorgen für neuen Kleinmut bei den verbliebenen, kas- Privatisierungsdruck auf den gemein- senschwachen Kommunalpolitikern wohlorientierten Sektor, der auch bis- geführt. Erst die katastrophalen Ergeb- her wenig betroffene Bereiche wie Ge- nisse mancher Privatisierungen – Was- sundheit, Bildung und Erziehung, das ser, Eisenbahnen, Dienstleistungen – Rettungswesen und Sicherheit trifft. sowie der drohende weitere Abbau des Die Erbringer vieler nicht primär ge- öffentlichen Sektors als Folge von Frei- winnorientierter Produkte und Diens- handelsabkommen führen nun über- te sollen einem internationalen Wettbe- all zu Umdenken: Politiker reden nicht werb ausgesetzt werden, dem Kommu- mehr so oft über ihre „Stadt als Unter- nen, gemeinnützige Träger und regio- nehmen“. Die Geschäftsführer öffent- nale NGOs nicht standhalten können. licher Unternehmen treten nicht mehr Schon länger ist die einstige Stärke so oft als gerissene Marktwirtschafts- der Kommunen verblasst. Ihre Spiel- experten auf, sondern dienen sich der räume wurden durch staatliche Vor- Lokalpolitik wieder als Partner an. Und gaben, finanzielle Belastungen und Gemeinderäte erklären ihr Gebiet zu Sparzwänge zunehmend geringer. TTIP-kritischen Zonen – in Deutsch- Dies zeigt sich vor allem bei den kom- land gibt es derzeit rund 385, europa- munalen Investitionen, die in ihrem weit 2300. Dieses zaghafte Umdenken

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kommt nicht zu spät. Denn noch ha- sen Bereichen bündeln die kommu- ben die Gemeinden etwas zu verteidi- nalen Unternehmen Fachwissen mit gen. Noch verfügen sie über beträcht- Ortsnähe und Finanzierungspotential. liche Gestaltungsmacht: Sie können im Sie spielen in vielen Gemeinden eine Planungs- und Baurecht Regeln setzen wesentliche Rolle in der Wirtschafts- oder Standards für ihre sozialen und und Innovationsförderung für die Re- umweltbezogenen Leistungen festle- gion. Dazu gehören zunehmend auch gen. Sie unterhalten die Infrastruktur Arbeitsmarktinterventionen zuguns- über kommunal geführte Unternehmen ten von benachteiligten Jugendlichen und erbringen Leistungen für alle Bür- und Arbeitnehmern mit Integrations- ger gleichermaßen, etwa bei Bildung, hemmnissen. Den Freihandelsbefür- Kultur, Sicherheit und Versorgung. wortern jedoch gelten solche wichtigen Die Freihandelsabkommen wollen Aufgaben bloß als „Handelshemmnis- all dies jedoch wettbewerbsrechtlichen se“, die künftig nach dem Motto „pri- Regeln und der gewerblichen Gewinn- vat vor Staat“ so weit wie möglich her- orientierung unterwerfen, die Mehr- untergefahren – oder besser gleich un- kosten und hohe Prozessrisiken für die umkehrbar privatisiert werden sollen. Gemeinden nach sich ziehen. Künf- tig müssten sie demnach ihre Planun- gen, Ausschreibungen und Vergaben Wachsender Privatisierungsdruck sowie die öffentliche Förderung dis- kriminierungsfrei international allen Unter Druck geraten die Kommunen Marktteilnehmern anbieten. Das zielt dabei auch deshalb, weil die Freihan- auf eine Gleichstellung von gemein- delsabkommen asymmetrische Part- wohlorientierten kommunalen Be- nerschaften behandeln, als wären sie trieben und profitorientierten Unter- Verträge unter gleich starken Part- nehmen. Doch lassen sich viele sozial- nern. Die Kräfteverhältnisse sind je- staatliche, umwelt- und bürgerrechtli- doch oft so unterschiedlich, dass von che Regulierungen, auf die insbeson- Verhandlungen auf Augenhöhe nicht dere einkommensschwache Bürger an- die Rede sein kann. Bei Auseinander- gewiesen sind, nur kommunal oder re- setzungen über entgangene Gewinne gional durchsetzen und garantieren. oder Gewinnaussichten stehen Ge- Wer dies mit Investorenschutzklauseln meinden häufig internationalen Groß- und daraus abgeleiteten Klagerechten konzernen gegenüber, die über deut- bedroht, attackiert damit auch die So- lich größere Finanz- und Rechtsbera- zialstaatlichkeit sowie Verträge zum tungspotentiale verfügen. Zudem geht Verbraucher- und Klimaschutz. es bei solchen Schadenersatzklagen Denn die kommunale Daseinsvor- internationaler Konzerne oft um riesi- sorge ist kein Relikt aus nostalgischen ge Streitsummen, die sich aus kurzfris- Sozialstaatszeiten, sondern eine Ver- tigen Investitionsrisiken und „ewigen“ pflichtung zur verlässlichen und so- Gewinnausfällen ergeben. Die Urteile zialverträglichen Versorgung aller in diesen Investor-State-Dispute-Sett- Bürger:1 mit Energie und Wasser, mit lements (ISDS) sollen künftig – auch in öffentlichem Nahverkehr und Bil- der „nachgebesserten“ CETA-Version dungsmöglichkeiten, mit kulturellen vom November 2016 – Sondergerichts- Angeboten und Gesundheitsleistun- höfe außerhalb der staatlichen Justiz gen. Diese kommunalen Kompeten- fällen. Allein die Gerichtskosten die- zen bilden eine unverzichtbare Grund- ser ISDS-Tribunale betrugen bisher im lage aktiver Strukturpolitik: In all die- Durchschnitt 5 Mio. US-Dollar.2

1 Hartmut Bauer, Christiane Büchner und Lydia 2 Jared Bernstein und Lori Wallach, Globalisie- Hajasch, Rekommunalisierung öffentlicher rung jenseits von TTIP und TPP, in: „Blätter“, Daseinsvorsorge, Potsdam 2012. 1/2017, S. 83-92, hier: S. 89.

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Dementsprechend beklagen viele Ge- vertreter – in den Räten wie in den Be- meindevertreter aus Großstädten wie trieben –, die „Angelegenheiten der aus ländlichen Regionen die Aushöh- örtlichen Gemeinschaft“ öffentlich zu lung ihrer kommunalen Kräfte und beraten. Dagegen wird jedoch regel- Kompetenzen durch den Privatisie- mäßig bei Vereinbarungen mit Inves- rungsdruck. Denn die finanziellen Fol- toren, auch in Public-Private-Partner- gen möglicher Schadenersatzprozesse ships (PPP) verstoßen. Zu einer solchen vor Sonderschiedsgerichten sind so Öffnung gehört, in die Entscheidungs- unkalkulierbar, dass allein die Dro- gremien der kommunalen Betriebe hung eines Konzerns viele Kommu- auch Vertreter der Nutzer und der Zi- nalpolitiker wie auch Landespolitiker vilgesellschaft aufzunehmen.4 Leider zum Rückzug bzw. zum Abschluss von schienen „neoliberalisierte“ Kommu- „Kompromissen“ veranlasst, also zur nalvertreter zuletzt Zukunftsperspek- Vereinbarung von Öffentlich-Privaten tiven mehr in Absprachen mit „Inves- Partnerschaften. toren“ zu sehen als in der Bürgerbetei- Immer mehr Gemeinden, Landkrei- ligung. Die lokale Demokratie wird bei se bzw. Regionen engagieren sich da- uns vom Grundgesetz garantiert, ge- her gegen die Freihandelsabkommen. lebt werden muss sie aber vor Ort. Bereits im Jahr 2015 haben Wien, Bar- celona und Grenoble dafür geworben, ein Netzwerk TTIP-kritischer Gemein- Bürgerinteressen vor Profit den in ganz Europa zu bilden und ge- meinsam für eine andere Freihandels- Die freihandelskritischen Gemein- politik zu kämpfen. Gegründet wurde den wollen zu mehr Verteilungs- und es im April 2016 in Barcelona, Folge- Chancengerechtigkeit für alle Bürger konferenzen gab es 2017 in Grenoble beitragen. Dazu setzen sie auf faire und Nürnberg. Den deutschen Kom- Planung, solidarische Sozial- und Bil- munen eröffnet die jüngere Recht- dungspolitik und viele örtliche Maß- sprechung auch mehr Möglichkeiten nahmen zur Verbesserung der Lebens- zur politischen Intervention. So stell- chancen ihrer Bewohner. Darunter fal- te das Bundesverwaltungsgericht 2014 len auch Förderungen und Vergünsti- klar, dass es Kommunen gestattet ist, gungen, die Neoliberale als Subventio- Maßnahmen zum Schutz der Men- nen bezeichnen und verringern oder schenrechte zu treffen. Auslöser war streichen wollen. ein Streit aus dem Jahr 2007 über eine Ausschreibungen oder die Abgabe Nürnberger Friedhofssatzung, in der einer öffentlichen Aufgabe an private die Verwendung von mit Kinderarbeit Träger führen aber meist keineswegs hergestellten Grabsteinen verboten zu günstigeren Preisen für die Bür- wird. Nach dem Gerichtsurteil machte ger oder gar zu einer besseren Quali- 2016 der Bayerische Landtag den Weg tät. Vielmehr werden mit den entspre- für entsprechende Friedhofssatzungen chenden Aufgaben auch das Fachwis- der Gemeinden frei. Dies aufgreifend sen, die Budgets und nicht zuletzt poli- wird nunmehr diskutiert, ob Kommu- tische Entscheidungsspielräume von nen nicht nur die Erlaubnis, sondern gemeinwohl- zu profitorientierten Ak- sogar die Pflicht zu Maßnahmen zum teuren verlagert. Folglich haben die Schutz der Menschenrechte haben.3 Gemeinden (und Länder) aufgrund der Mehr Transparenz und basisdemo- 4 Thomas Eberhard-Köster, Warum TTIP, CETA kratische Mitwirkung erfordern jedoch und TISA die Privatisierung von kommunalen auch eine Bereitschaft der Kommunal- Dienstleistungen forcieren und ihre (Re-)Kom- munalisierung behindern, in: Rainer Kuhn, 3 Vgl. Markus Krajewski, Kommunaler Men- Ernst Mönnich und Malte Moewes, Zurück zur schenrechtsschutz, in: „Die Öffentliche Ver- Kommune?! Studien zur Öffentlichen Verwal- waltung“, 17/2014, S. 721. tung, Bd. 5, Münster 2016.

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Sparpolitik und des Privatisierungs- lich fehlenden Finanzierungsmöglich- drucks der letzten 25 Jahre viel Subs- keiten der öffentlichen Hand und/oder tanz verloren: Komplexe Vorhaben ihre angebliche Ineffizienz bei Kosten können sie mittlerweile kaum noch an- und Leistungen. gemessen ausschreiben, steuern und Daher sollten die Gemeingüter wie- kontrollieren. Eigentlich sollten sie die der bzw. auch künftig unter demokra- Interessen der Bürgerschaft in diese tischer Kontrolle stehen und sozial- Vorhaben einbringen und ihr Fachwis- und umweltpolitisch reguliert wer- sen für Innovation und Entwicklung den. Die Leistungen der kommunalen ihrer Standorte nutzen. Doch privati- Daseinsvorsorge sollten also aus den sierte Stadtwerke sowie abgemager- internationalen Handelsvereinbarun- te Bau- und Planungsämter sind dazu gen ausgenommen werden, wie es die nicht mehr in der Lage. deutschen Spitzenverbände gefordert Vielmehr begünstigt der sparpolitik- haben.5 Bislang wurde dies trotz der bedingte Abbau von Verwaltungskom- Brüsseler Nachbesserungen bzw. „Er- petenzen die privaten Anbieter von Er- läuterungstexten“ zu CETA nicht er- satzleistungen. Aus diesem Grund füh- reicht. ren auch die EU-Vergabeverfahren oft Trotz des Debakels ihrer Geheimver- zu sehr fragmentierten Vergaben und handlungsstrategie, trotz der Massen- zur kommunalpolitischen Desorientie- proteste und trotz der 3,4 Mio. Unter- rung: Die nötigen Steuerungskompe- schriften für ein EU-Bürgerbegehren tenzen sind „verschlankt“ oder fehlen verfolgen Kommission und Regierun- gleich ganz. So findet aktiv gestalten- gen die bekannte Freihandelsstra- de Stadtentwicklungspolitik vielfach tegie unbeirrt weiter, wie zuletzt die nicht mehr statt, sie ist zum PPP-finan- Leaks aus den aktuellen Verhand- zierten Standortmarketing verkom- lungen der EU mit Japan über JEFTA men. Die Schrumpfung der Fachämter zeigen: Wieder wird geheim ausver- macht eine aufgabenbezogene Koordi- handelt, wieder wird die Negativlis- nation unmöglich, sie wird nicht mehr ten-Strategie eingeschlagen, und die geübt und auch nicht durchgesetzt. Schiedsgerichte sollen nicht einmal Der Ersatz durch (teure) Unterstützun- die CETA-Verbesserungen berück- gen seitens einschlägiger Unterneh- sichtigen – sondern sie sollen nach dem mensberatungen führt die Kommunen alten, von Konzernjuristen bestimmten nicht auf den Gemeinwohlweg zurück Konzept arbeiten, also ohne Einbin- und auf ihre Bürger zu. dung in die öffentlichen Rechtssysteme Kommunale Gestaltungskompetenz von Japan und EU. kann daher nur bestätigt und gestärkt Deswegen reicht der bisherige Wi- werden, wenn ihre nicht-gewerbli- derstand allein nicht aus: Die Kommu- chen Aktivitäten in der Daseinsvor- nalpolitik braucht eine Aufwertung sorge rechtlich abgesichert sind. Über- und neue Legitimation durch die Bür- dies muss die strukturelle Unterfinan- ger, die mehrheitlich auf ihre Leistun- zierung der Kommunen, besonders der gen angewiesen sind. Dazu muss sie Großstadtregionen, beendet werden. wieder stärker die gewachsenen Un- Die gemeinwohlorientierte Steuerung gleichheiten und Ausgrenzungen in der kommunalen Aufgaben wird auch unseren Städten in den Blick nehmen nur gelingen, wenn der geradezu reli- – und diese bekämpfen. Das aber wird giös propagierte Privatisierungstrend nur mit einer stärkeren Unterstützung gebrochen wird und Rekommunalisie- durch Bund und Länder gelingen. rungen nicht erschwert werden. Denn weder Privatisierungen noch PPP lös- 5 Detlef Raphael, Daseinsvorsorge absichern. TTIP und CETA: Kommunen müssen wach- ten die Probleme, wegen denen die Pri- sam bleiben, in: „Demo“, Deutscher Städtetag, vatfirmen geholt wurden: die angeb- Sonderheft April 2016, S. 13.

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Laura Wollny und Inken Behrmann Für ein schnelles Aus: Der Kampf gegen die Kohle

Während noch im November 2016 doch ungleich verteilt. Während der die UN-Staaten auf der Weltklima- Klimawandel vor allem durch den CO2- konferenz in Marrakesch das Ziel be- Ausstoß des globalen Nordens wäh- kräftigten, die Erderwärmung auf 1,5 rend der Industrialisierung bis heu- Grad Celsius zu begrenzen, hatte sich te verursacht wird, müssen die Men- der blaue Planet bereits um 1,2 Grad schen im globalen Süden mehrheitlich erwärmt.1 Der Grund dafür: Die Um- die Folgen erleiden. Als Anfang des setzung der ambitionierten UN-Kli- 19. Jahrhunderts die industrielle Revo- maziele kommt auf nationaler Ebene lution in Europa durch die Entwicklung seit Jahren nicht voran. In den Indus- der Dampfmaschine begann, ging sie triestaaten kann oder will die Politik einher mit einer explosionsartig stei- meist keine wirksamen Schritte gegen genden Kohleförderung. Die wachsen- den Klimawandel unternehmen – al- de industrielle Wirtschaft hatte einen len voran der Ausstieg aus fossilen immensen, stetig steigenden Energie- Energieträgern. Dabei müssen gerade bedarf, der zuerst mit Kohle und dann Industrienationen wie Deutschland, zunehmend mit Öl und Gas gedeckt die historisch, aber auch aktuell am wurde. Damit verbunden nahmen auch meisten zum Klimawandel beitra- die CO2-Emissionen rasant zu. gen, ihre CO2-Emissionen drastisch Im globalen Norden ermöglichte die reduzieren. Statt weiter allein auf die Industrialisierung eine wirtschaftli- Politik zu hoffen, ist deshalb in den che Revolution und gesellschaftliche letzten Jahren hierzulande eine kraft- Entwicklung, die vor allem seit der volle Klimabewegung entstanden. zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sie verbindet so unterschiedliche Ak- auch der breiten Bevölkerung zugute- teurinnen wie Bergbaugeschädigte, kommt. Global betrachtet führten das Nichtregierungsorganisationen und wirtschaftliche Wachstum und der sich Waldbesetzerinnen in ihrer Forderung gleichzeitig ausbreitende Kolonialis- nach Klimagerechtigkeit und dem da- mus zu extremen Machtgefällen zwi- mit verbundenen Ausstieg aus fossi- schen den profitierenden Staaten im len Energieträgern. Im Jahr 2017 steht globalen Norden und den zunehmend der Braunkohleausstieg im Fokus ver- unterprivilegierten Staaten im globa- schiedener Teile der Klimabewegung. len Süden – mit dramatischen Folgen Aus Sicht der Aktivistinnen und bis heute. Während die Staaten des glo- Aktivisten ist der Klimawandel men- balen Nordens die Grundlagen für ihre schengemacht und Menschen müssen wirtschaftliche und damit auch poli- seine Konsequenzen tragen – Verursa- tische Vormachtstellung auf der Welt cher und Leidtragende sind global je- schufen, lösten sie den Klimawandel aus. Dieser führt dazu, dass genau die 1 Nicole Sagener, Klimaerwärmung: Im Staaten und Menschen auf pazifischen Schwitzkasten, www.euractiv.de, 23.12.2016. Inselstaaten, in afrikanischen oder Dies ist der Wert des letzten Jahres im Ver- gleich zum vorindustriellen Zeitalter und südamerikanischen Ländern, die nicht kann noch geringfügig sinken. von der wirtschaftlichen Entwicklung

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profitierten und unter Kolonialregimen grundlegende Veränderung ökonomi- litten, heute von Extremwettern, Dür- scher wachstumsbasierter Strukturen. ren und einem steigenden Meeresspie- Eine Brücke zwischen dem aktivis- gel bedroht sind. Ihre politische Schwä- tischen Spektrum und etablierten Or- che auf globaler Ebene erschwert die ganisationen schlägt das Bündnis „En- Durchsetzung ausreichender Klima- de Gelände“ mit Massenaktionen zi- schutzmaßnahmen oder wenigstens vilen Ungehorsams in den deutschen schadensausgleichender Politiken. Tagebauen.2 Unterstützung bekommt die deutsche Klimabewegung dabei verstärkt aus dem Ausland, besonders Die Klimabewegung formiert sich aus den europäischen Nachbarlän- dern. Gleichzeitig wird die weltwei- Dieser ungerechten Weltordnung stellt te Vernetzung ausgebaut: So forderten sich die Klimagerechtigkeitsbewe- Menschen auf sechs Kontinenten mit gung in Deutschland entgegen. Ge- der gemeinsamen Kampagne „Break meinsam mit Bürgerinitiativen, Um- free from fossil fuels!“ im Mai 2016 mit weltverbänden und Aktionszusam- Gruben- und Hafenblockaden sowie menhängen hat sie sich einen schnel- Demonstrationen den globalen Aus- len Kohleausstieg zum Ziel gesetzt. stieg aus fossilen Energieträgern. Sie arbeiten daran, den Bau neuer Kraftwerke zu verhindern, bestehende Kraftwerke und Tagebaue zu schlie- Industrieinteressen ßen und alternative Energieerzeugung vor Klimapolitik schneller durchzusetzen. Die Motiva- tionen, Strategien und Protestformen Trotz dieser eindeutigen Forderungen der Akteure sind vielfältig und machen aus der Zivilgesellschaft kommt der die Stärke der Bewegung aus. Kohleausstieg in Deutschland nur zäh Umweltverbände, die sich wie der voran: Noch immer werden 42 Prozent BUND schon lange gegen die Kohle- des Stroms durch Kohleverbrennung verstromung einsetzen, und Nichtre- erzeugt. Die Bundesrepublik besitzt gierungsorganisationen wie Campact! mit dem Rheinischen, dem Mittel- wollen gegen den Klimawandel an- deutschen und dem Lausitzer Braun- kämpfen. Viele Bürgerinitiativen füh- kohlerevier gleich drei Abbaugebiete ren schon seit Jahren einen zermür- des schmutzigsten aller Energieträger. benden Kampf gegen Energieriesen, Und obwohl massive Investitionen in um ihre Regionen zu erhalten. Tradi- erneuerbare Energien notwendig wä- tionell versuchen diese Gruppen, Ge- ren, um die vereinbarten UN-Klima- setzgebungsverfahren und politische ziele noch zu erreichen, ist ein beherz- Entscheidungen zu beeinflussen – tes Umschwenken der Politik nicht in im Dialog mit der Politik, mittels Ge- Sicht. Mit der Novelle des Erneuerba- richtsverfahren, Demonstrationen oder re-Energien-Gesetzes 2016 wurde der durch Onlinepetitionen. Ausbau sogar gedeckelt. Während mit Hinzu kommt ein aktivistisches Belgien das siebte europäische Land Spektrum aus Einzelpersonen, Gras- schon vollständig aus der Kohle aus- wurzelbewegungen sowie linken gestiegen ist und Portugal, Großbritan- Gruppen. Es setzt vor allem auf Ak- nien und Österreich den Kohleausstieg tionen zivilen Ungehorsams und tritt bis spätestens 2025 beschlossen haben, unter dem Motto „Kohleausstieg ist steht im deutschen „Klimaschutzplan Handarbeit“ an. Diese Gruppen beto- 2050“ nicht einmal ein Datum für den nen den Zusammenhang von Klima- wandel und der bestehenden kapitalis- 2 Vgl. Inken Behrmann, Vattenfall: Kohle vs. tischen Weltordnung und fordern eine Klima, in: „Blätter“, 5/2016, S. 29-32.

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Kohleausstieg.3 Stattdessen entschärf- gierung von NRW den Tagebau Garz- te der damalige Bundeswirtschafts- weiler II verkleinert, mit ihrer Leitent- minister Sigmar Gabriel (SPD) die im scheidung aus dem Jahr 2016 bekräf- Entwurf enthaltenen Auflagen für die tigte sie jedoch, den Abbau und die Kohleindustrie. Verstromung von Braunkohle bis 2045 Erst kürzlich warnte auch Ange- fortzusetzen. la Merkel vor einem „hastigen“ Koh- Bisher ist von keiner möglichen Ko- leausstieg. Im anstehenden Bundes- alition, die sich nach den Landtags- tagswahlkampf wird die Klima- und wahlen in NRW im Mai bilden könn- Energiepolitik keine prominente Stel- te, eine grundlegende Kehrtwende le einnehmen, wenngleich nur wenige der Kohlepolitik zu erwarten. SPD wie Monate später der UN-Klimagipfel in CDU sehen in ihren Wahlprogrammen Deutschland zu Gast ist. keinen Änderungsbedarf, während Auch die gut vernetzten Energierie- die Grünen den Braunkohleabbau erst sen RWE, E.ON, EnBW und EPH wol- 2037 stoppen wollen. Einzig die Links- len nicht auf die Gewinne aus dem Be- partei NRW fordert den sofortigen Aus- trieb der Kohlekraftwerke und deren stieg. Neben der Schließung der Tage- Subventionen verzichten. Der tsche- baue und Kraftwerke geht es auch da- chische Energiekonzern EPH, dem rum, dass sich RWE, der Betreiber und schon das Mitteldeutsche Revier ge- langjährige Profiteur der Tagebaue hört, kaufte erst im letzten Jahr auch und Kraftwerke, nicht der Kosten für noch die Lausitzer Braunkohlesparte. Rekultivierung und Sozialprogramme Momentan plant er in der Lausitz den entledigt. Die erhöhte Aufmerksam- Neuaufschluss des Tagebaus Nochten keit während des Wahlkampfes und II und siedelt im mitteldeutschen Re- der Koalitionsverhandlungen können vier das Dorf Pödelwitz ohne gesetz- Bürgerinitiativen und NGOs für ihren liche Grundlage um. Protest nutzen. Im August planen al- le Akteurinnen und Akteure der Anti- kohlebewegung gemeinsam im Rhei- Umkämpftes Nordrhein-Westfalen nischen Revier zu protestieren. In der Tradition der Anti-Castor-Blockaden Angesichts der politischen Untätigkeit wollen regionale Bürgerinitiativen, setzt die Klimabewegung den Kohle- bundesweite NGOs, Naturverbän- ausstieg in diesem Jahr mehrfach auf de und Aktivistinnen mit ihren jewei- die Agenda. Schaubühne des Konflikts ligen Aktionsformen den Widerstand ist das Rheinische Braunkohlerevier. gegen die Kohle deutlich machen. Sie Denn es ist mit seinen drei Tagebauen zeigen gemeinsam: Die Bandbreite ge- und fünf Kraftwerken Europas größ- sellschaftlicher Akteurinnen will den te CO2-Quelle. Nach einer Studie des Ausstieg. BUND müsste das Revier bis spätes- Schließlich wird die internationa- tens 2020 geschlossen werden, will le Klimabewegung gemeinsam beim Deutschland sein Ziel erreichen, bis UN-Klimagipfel im November protes- 2050 95 Prozent der CO2-Emissionen tieren. Der Gipfel wird von der pazifi- gegenüber 1990 einzusparen.4 Zwar schen Republik Fidschi ausgerichtet, hat die derzeitige rot-grüne Landesre- aber in Bonn stattfinden – gerade ein- mal 50 Kilometer entfernt vom Rheini- 3 Vgl. Benjamin von Brackel und Susanne Göt- schen Braunkohlerevier. Im Umfeld des ze, Von Paris nach Marrakesch: Der Wett- lauf gegen die Erderwärmung, in: „Blätter“, Gipfels wird die Antikohlebewegung 11/2016, S. 21-24. auf den Zusammenhang zwischen der 4 Leitentscheidung der Landesregierung von Treibhausgasproduktion im globa- Nordrhein-Westfalen zur Zukunft des Rheini- schen Braunkohlereviers/Garzweiler II – Stel- len Norden und den Folgen des Klima- lungnahme des BUND NRW, 3.12.2015. wandels zu Lasten des globalen Südens

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hinweisen. Aktivistinnen und Aktivis- sellschaftliche Gruppen getragen wer- ten wollen unter anderem mit zivilem den, wie beispielsweise Kirchen oder Ungehorsam die Braunkohletagebaue Gewerkschaften. „abschalten“ – und so demonstrieren, Gerade Letztere können beim so- welche Maßnahmen für nachhaltigen zialökologischen Umbau eine positive Klimaschutz notwendig ist. Eine Her- Rolle einnehmen. Zurzeit fokussieren ausforderung der Bewegung ist dabei sie sich allerdings auf besitzstands- die zunehmende Repression seitens wahrende Interessen der Stammbeleg- des Staates und der Konzerne. Nach- schaften in der Kohleindustrie und ver- dem RWE bisher hunderte Aktivistin- säumen es, zukunftsfähige Alternati- nen unter anderem von Ende Gelän- ven mitzuentwickeln. Eine Herausfor- de mit Unterlassungserklärungen ein- derung der nächsten Jahre ist deshalb zuschüchtern versuchte, eröffnete der der Aufbau eines konstruktiven Dia- Konzern nun zahlreiche Zivilklagen logs zwischen Gewerkschaften und gegen Kohleaktivisten. Des weiteren Bewegung. Der Postwachstumsansatz gibt und gab es Prozesse wegen Haus- macht dabei deutlich, dass die Forde- und Landfriedensbruchs und auch die rung nach Klimagerechtigkeit die so- Besetzerinnen im Hambacher Forst zialen Fragen nicht ausklammert – im sind ständiger Repressionen vonseiten Gegenteil: Es geht im Kern darum, RWEs und des Staates ausgesetzt. ein gutes Leben für alle Menschen zu ermöglichen. Dabei internationalisiert sich auch Klimacamps als Basis der Bewegung die Idee der Klimacamps. Insbesonde- re während der letztjährigen Camps Doch die Klimabewegung will auch und Massenaktionen gegen Kohle- langfristige Perspektiven entwickeln. infrastruktur erlebten tausende euro- Dazu treffen sich seit 2011 die deut- päische Aktivistinnen und Aktivisten schen und europäischen Aktivistinnen die Kraft alternativen Zusammenle- auf dem Klimacamp im Rheinland. bens und gemeinsamer Aktionen. Sie Klimacamps sind das Herz der Bewe- wenden das aus England stammen- gung: Sie verbinden nachhaltiges Zu- de Konzept nun in ihren Ländern und sammenleben, alternative Bildungs- Regionen an: in Österreich mit Flug- angebote und direkte Aktionen gegen hafenblockaden, in Amsterdam gegen Klimawandelverursacher. Die junge den Kohlehafen und in Tschechien Postwachstumsbewegung prägte in gegen Braunkohletagebaue. Inspi- den letzten Jahren mit ihrer Sommer- riert durch die gemeinsame Ermäch- schule das Bildungsprogramm. Die tigungserfahrung bildet sich so eine Postwachstums- und Antikohlebe- europäische Klimagerechtigkeitsbe- wegung können so ihre unterschied- wegung. Sie tritt als Zivilgesellschaft lichen Ansätze für ein anderes, nach- in den Industrienationen für globa- haltiges Wirtschaften und Leben dis- le Gerechtigkeit und Klimaschutz ein. kutieren und zusammen neue Ideen Denn nur mit einem schnellen Aus für entwickeln.5 fossile Energieträger gibt es noch Hoff- Politische Vernetzung wird auf diese nung, den Klimawandel aufzuhalten Weise lebendig. Denn für die Antikoh- und die Lebensgrundlagen der gesam- lebewegung ist es enorm wichtig, die ten Menschheit zu erhalten. eigene Basis zu verbreitern: Das Koh- lethema und Alternativen für ein gutes Leben für alle müssen in weitere ge-

5 Vgl. Dorothee Häußermann und Laura Woll- ny, Gegen Klimawandel, Kapitalismus und Wachstum!, www.degrowth.de.

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Susanne Götze Klima und G20: Einer gegen alle, alle gegen einen?

Donald Trump macht derzeit wahr, für den G 20-Gipfel in Hamburg. Ent- was viele Klimaschützer schon länger scheidend sind dabei nicht nur die drei befürchtet haben: Per Dekret revidiert Konferenztage im Juli, sondern auch der US-Präsident zentrale Elemente die vielen Vorverhandlungen auf Mi- der Umwelt- und Energiepolitik sei- nisterebene. Wenn Deutschland seinen nes Vorgängers Barack Obama. Da- Kurs hält und den Klimawandel wirk- mit droht in der Klimadiplomatie der lich zu einem zentralen Thema macht, Ausfall des langjährigen Führungs- könnte es auf dem diplomatischen Par- gespanns, bestehend aus den beiden kett gewaltig krachen. Supermächten USA und China. Diese Sorge prägte schon den UN- Klimagipfel in Marrakesch, der im ver- Deutscher Zweckoptimismus gangenen November zeitgleich mit der US-Wahl stattfand. Noch in Marok- Die Bundesrepublik hatte schon lan- ko appellierte Bundesumweltministe- ge vor der Wahl Donald Trumps den rin Barbara Hendricks daher: „Sollte Klimaschutz auf den G 20-Fahrplan auf internationaler Ebene eine Lücke gesetzt – eine logische Konsequenz in- entstehen, sehe ich China und die EU tensiver Verhandlungen auf UN-Ebe- in einer besonderen Verantwortung.“ ne, die 2015 mit dem Weltklimavertrag Und Chinas Vizeaußenminister Liu von Paris gekrönt wurden. Doch viel Zhenmin warnte den neuen US-Präsi- Zeit zur Freude blieb der deutschen denten schon kurz nach dessen Wahl: Delegation in Paris seinerzeit nicht. „Die USA dürfen nicht denselben Feh- Schließlich galt es im Anschluss, die ler machen wie mit dem Kyoto-Proto- Architektur des Vertrages zu zim- koll.“ Er spielte damit auf das Schick- mern und einen globalen Klimaschutz- salsjahr 2001 an: Damals verlor der De- mechanismus in Gang zu setzen. Wo mokrat und heutige Umweltschützer Al könnte dies besser verhandelt wer- Gore gegen den Republikaner George den als auf einem G 20-Gipfel, zumal W. Bush die Präsidentschaftswahl. Da- Deutschland zusammen mit Fidschi im raufhin ratifizierten die USA das Kyo- November dieses Jahres die 23. Ver- to-Protokoll nicht, obwohl sie den Ver- tragsstaatenkonferenz in Bonn aus- trag mit ausgehandelt hatten. richtet (COP 23)? Allerdings wird sich die Geschichte „Wir sind in der Umsetzungsphase“, nicht einfach wiederholen. Denn dieses erklärt Karsten Sach, Verhandlungs- Mal ist die Weltgemeinschaft ein paar leiter der deutschen Delegation im UN- Schritte weiter als damals: Der Klima- Klimaprozess. Den Pariser Klimaver- schutz ist in der internationalen Diplo- trag und die Millenniumsziele zur Be- matie heute fest verankert. Dessen un- kämpfung der weltweiten Armut auf geachtet steht wahrscheinlich Streit ins die Agenda der G 20-Gespräche zu set- Haus. Ein wichtiger Test für den Um- zen, sei „Teil der kohärenten Politik“ gang mit dem erklärten Klimaleugner der Bundesregierung, so Sach weiter. Trump sind derzeit die Vorbereitungen Ohnehin ist die Einigung auf ein Welt-

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201705_Buch.indb 27 19.04.17 10:47 28 Kommentare und Berichte

klimaabkommen aus Sicht der Bundes- Präsidenten keine fortschrittliche Kli- regierung eine Erfolgsstory. Der Paris- mapolitik zu machen ist. Nachdem Prozess bietet Kanzlerin Angela Mer- Trump jüngst sein Wahlkampfver- kel die Chance, sich weiter als erfolg- sprechen an die Kohleindustrie ein- reiche Verhandlerin zu profilieren. Im- löste, besteht nun Klarheit darüber, wo merhin findet der G 20-Gipfel keine die Reise für die Vereinigten Staaten drei Monate vor der Bundestagswahl hingeht: Der Präsident unterzeichne- statt. Zudem stehen die großen Treffen te eine Executive Order zugunsten der seit dem G 7-Gipfel im bayerischen El- US-Kohle-, Öl- und Gasindustrie. Zu- mau 2015 im Zeichen des Klimaschut- vor hatte er scharfe Einschnitte in der zes. Damals einigten sich die sieben In- Klimaforschung und den Abbau der dustriestaaten das erste Mal auf eine US-Umweltbehörde EPA beschlossen. Dekarbonisierung ihrer Volkswirt- schaften, also auf den Ausstieg aus der Kohleenergie. Dieser enorme diploma- Europäisch-chinesische Allianz tische Fortschritt ebnete den Weg für das im selben Jahr verhandelte Welt- Vier Monate nach dem letzten UN- klimaabkommen. Klimagipfel zeigt sich aber auch, dass Klimaverhandler Sach zeigte sich niemand bang auf ein Einlenken des daher noch Anfang März mit Blick auf US-Präsidenten beim Klimaschutz den Trump-Effekt vorsichtig optimis- wartet. So ist auch die Prognose von tisch: Bislang habe die US-Regierung Umweltministerin Hendricks zu einer der G 20-Agenda und damit den Kli- europäisch-chinesischen Klimaallianz mathemen keine Absage erteilt, mein- mittlerweile schon fast ein Selbst- te Sach auf einer Anhörung im Bundes- läufer geworden. Nur einen Tag nach tag. Ein Szenario 19 versus 1 sei „nur Trumps Kohle-Dekret reagierten denn schwer vorstellbar“, man strebe nach auch China und die EU und erklärten, Einigkeit. gemeinsam eine Führungsrolle beim Nicht wenige hätten es allerdings Kampf gegen den Klimawandel ein- noch ein Jahr zuvor für unvorstell- nehmen zu wollen. „Wir gehen nicht bar gehalten, dass Donald Trump zum zurück, auch wenn die Vereinigten mächtigsten Mann der Welt gewählt Staaten derzeit von ihren bisherigen werden würde. Außenpolitisch ist es Verpflichtungen zurücktreten“, beton- für Deutschland besonders delikat, te der EU-Kommissar für Klimaschutz mit einem solchen Präsidenten weni- und Energie, Miguel Arias Cañete, ge Monate nach seinem Amtsantritt während eines Treffens in Peking. Von gleich um eine Abschlusserklärung den USA könne unter Trumps Präsi- zu ringen, die sich auch noch um den dentschaft nicht viel erwartet werden. Klimaschutz drehen soll. Doch dessen Zuvor bekannte sich China abermals ungeachtet gibt das Bundesentwick- dazu, an seinen Zusagen in der Klima- lungsministerium Erklärungen ab, als politik festzuhalten – trotz der Kehrt- existiere das Problem Trump nicht: Ziel wende Washingtons. Und laut einem der deutschen G 20-Präsidentschaft sei Sprecher des Pekinger Außenministe- die „Vereinbarung eines Klima- und riums sei China entschlossen, den Kli- Energieaktionsplans“, wodurch „die mawandel zu bewältigen. Pariser Klimaziele befördert werden“ So lautet in Berlin derzeit offenbar sollen. das Motto: Washington ignorieren und Das lässt allerdings außer Acht, dass neue Partner suchen. Von dieser diplo- die USA schon längst einen Richtungs- matischen Neuausrichtung Deutsch- wechsel vollzogen haben. Und na- lands hängt im Entscheidungsjahr türlich wissen die Diplomaten in den 2017 vieles ab: Die G 20-Präsident- Ministerien genau, dass mit diesem schaft wie auch der COP 23-Gipfel im

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November bringen die globale Polit- So versucht eine ungewöhnliche Koali- prominenz ins Land. Und nicht zuletzt tion aus NGOs wie Germanwatch, dem kommen im Juli zum G 20-Gipfel jene Bundesverband der Deutschen Indus- Länder zusammen, die für drei Viertel trie und dem Mercator Research Insti- der globalen Treibhausgasemissionen tute on Global Commons and Climate verantwortlich sind. Angesichts der Change (MCC), eine Bepreisung von knappen Zeit bis zum Inkrafttreten des CO2-Emissionen auf die G 20-Agenda Klimavertrages im Jahr 2020 liegt da- zu setzen. Eine treibende Kraft hinter rin eine unwiederbringliche Chance, diesem Vorstoß ist der Ökonom und der Pariser Übereinkunft endlich Le- Direktor des MCC Ottmar Edenhofer. ben einzuhauchen. Er überreichte der Bundesregierung kürzlich zusammen mit Forschern des Potsdamer Instituts für Klimafol- Ein wirksamer CO2-Preis? genforschung eine Liste mit Hand- lungsempfehlungen, in der neben Tatsächlich zeigte der Klimagipfel in einer CO2-Steuer auch nachhaltige Marrakesch, dass die meisten Länder Infrastrukturmaßnahmen angemahnt zum Handeln bereit sind. Der Versuch, wurden. China als neuen Vorreiter in Sachen Auch das Umweltministerium hält Klimaschutz zu gewinnen, sei erfolg- einen „effektiven CO2-Preis“ für erfor- reich, heißt es auch aus dem Umwelt- derlich. Dem Ministerium liegt vor al- ministerium. Dort ist man voll des Lo- lem „die Stärkung und Weiterentwick- bes: Nachdem im Januar eine bilatera- lung von CO2-Preis- und Marktinstru- le Klimaarbeitsgruppe in Peking tagte, menten“ am Herzen, wie es auf Anfra- habe China „konstruktives Engage- ge kundtut – also der Ausbau und die ment“ gezeigt. Auch stehen die bei- globale Vernetzung von Emissionshan- den Länder bereits seit Jahren eng im delssystemen. Kontakt, da Deutschland China bei der Die Erwähnung eines CO2-Preises in Einführung des landesweiten Emis- der Abschlusserklärung des G 20-Gip- sionshandels berät. fels erachtet SWP-Expertin Dröge al- Auch andere G 20-Länder wie Mexi- lerdings als unwahrscheinlich. Selbst ko sind im Klimaschutz aktiv und dem in Teilen der Bundesregierung gebe es Abbau von Subventionen für fossile noch immer Widerstand gegen einen Energieträger nicht abgeneigt. Schon solchen internationalen Vorstoß. Tat- im vergangenen Jahr bekräftigten die sächlich aber besteht vielerorts de fac- G 20 in China, „ineffiziente Subventio- to schon ein CO2-Preis, beispielswei- nen für fossile Brennstoffe, die zu ver- se in der EU. Nur liegt dieser derzeit schwenderischem Verbrauch verlei- lediglich bei rund fünf Euro – und da- ten, mittelfristig zu rationalisieren und mit viel zu niedrig, um wirksame In- stufenweise abzubauen“. „Für einige vestitionsentscheidungen in Unterneh- G 20-Länder ist der Abbau der Förde- men zu bewirken. Zu Recht fordern da- rung fossiler Energieträger auch eine her Klimaexperten wie Christoph Bals finanzielle Erleichterung“, erklärt Su- von Germanwatch, nicht nur den Emis- sanne Dröge von der Stiftung Wissen- sionshandel zu reformieren, sondern schaft und Politik (SWP). Selbst Wirt- auch andere längst vergessene Instru- schaftsvertreter drängen die Politik mente wie die Ökosteuer wiederzube- mittlerweile zum Klimaschutz. Die leben, die den Verbrauch von Energie Frage ist heute nicht mehr, ob etwas belasten. für den Klimaschutz getan wird, son- Doch eine starke Ökosteuer hat dern ob es für das im Weltklimavertrag auch in Deutschland seit Jahren kei- festgeschriebene 2-Grad- oder gar das ne Chance. Überhaupt muss sich die 1,5-Grad-Ziel ausreichen wird. Bundesrepublik fragen lassen, warum

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sie sich auf internationaler Ebene als minister Steven Mnuchin, ein Ex-In- Klimaretter ausgibt, gleichzeitig aber vestmentbanker, blockierte das. ihre Klimaziele bis 2020 nicht einhal- Außerdem wollten die Finanzminis- ten wird. Ein ausgebremster Kohleaus- ter ein Zieldatum für den versproche- stieg, 140 laufende Kohlekraftwerke, nen Abbau der Subventionen für fos- eine lahmende Verkehrs- und Wärme- sile Brennstoffe festgelegen, nämlich wende sowie verfehlte Klimaziele bil- das Jahr 2025. Auch dieses Ziel schaff- den nicht gerade eine Vorzeigebilanz te es nicht in den Abschlusstext. Da- der einstigen „Klimakanzlerin“ Mer- mit bleibt es bei der Vereinbarung von kel. „Deutschland kann nicht glaub- 2009, die staatlichen Subventionen für würdig sein, wenn wir unsere Klima- Kohle, Sprit oder Öl „mittelfristig“ aus- ziele bis 2020 nicht schaffen, keinen laufen zu lassen. „Das ist so vage, dass Plan für unseren Kohleausstieg ha- es kaum als Signal an irgendwen – etwa ben und unsere Städte versmogt sind“, die fossile Energieindustrie – tauglich unterstreicht Martin Kaiser von Green- ist“, kritisiert Jan Kowalzig von der Ent- peace: „Die anderen Länder werden wicklungsorganisation Oxfam. „Die Fi- uns zu Recht fragen, warum im Klima- nanzminister versäumen es, ihrer Rol- schutzplan kein konkreter Kohleaus- le bei der Umsetzung des Paris-Abkom- stieg festgelegt ist.“ mens nachzukommen“, so Kowalzig. „Sie haben sich hier unrühmlich vor der neuen Blockadehaltung der USA 19 zu 1 für den Klimaschutz? verneigt.“ Auch wenn die Abschlusserklärung Offen ist daher auch, für wie glaubwür- beim Hamburger Treffen – auf die die dig Deutschland auf internationaler Minister derzeit hinarbeiten – nur eine Ebene noch gehalten wird. Dennoch Formsache bleibt, hat sie doch eine könnte ein Zusammenrücken gegen politische Signalwirkung: „Diese Gip- den reaktionären Wind aus den USA fel der G 7 oder G 20 sind ein Schwung- den Klimaschutz noch in die G 20-Ab- rad für andere Prozesse und leiten Ver- schlusserklärung hieven. Normaler- änderungen ein“, meint SWP-Expertin weise muss diese von allen zwanzig Dröge und erinnert an den G 7-Gipfel Staats- und Regierungschefs unter- vor zwei Jahren, als Merkel und Oba- schrieben werden. Daher kommt es ma den Klimawandel zum zentralen jetzt darauf an, dass gut verhandelt Thema machten und damit den Weg wird und die übrigen Länder starke Al- zum Weltklimavertrag ebneten. lianzen bilden. Ein solcher Durchbruch ist derzeit Ein erster Testlauf verlief in dieser unwahrscheinlich. Ohnehin wird die Hinsicht unerfreulich: Das Treffen der Umsetzung des Weltklimavertrages G 20-Finanzminister und Notenbank- weit schwieriger als sein formeller Be- chefs im März in Baden-Baden ergab schluss. Dennoch könnte der G 20-Gip- nur einen Minimalkonsens. Gastgeber fel den Beweis erbringen, dass sich die Deutschland gelang es nicht, den USA Welt in Sachen Klimaschutz auch mit ein klares Bekenntnis gegen Protek- den USA ohne Obama weiterdreht. Es tionismus abzuringen. Auch in Sachen ist zumindest nicht ausgeschlossen, Klimapolitik fiel die Bilanz dürftig aus. dass sich die Regierungen doch für den In der fünfseitigen Abschlusserklä- Klimaschutz entscheiden – und dafür rung ist vom Pariser Klimaabkommen selbst ein 19 versus 1 in Kauf nehmen. keine Rede. Dabei war geplant, ers- te Schritte zur Erfüllung des Paris-Ab- kommens zu vereinbaren, etwa die kli- mafreundliche Umschichtung der glo- balen Finanzflüsse. Doch US-Finanz-

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Fabian Kretschmer Südkorea: Hoffnungsträger Moon Jae-in?

Wenn die Südkoreaner am 9. Mai einen der Samsung-Konzern soll umgerech- neuen Präsidenten wählen, sind die net weit über 30 Mio. Euro überwiesen Hoffnungen auf einen politischen Neu- haben. Große Teile der Spenden sind beginn groß. Denn die vorgezogene nicht mehr auffindbar. Tatsächlich ver- Neuwahl besiegelt nicht nur das Ende läuft sich deren Spur in Deutschland, der Präsidentschaft Park Geun-hyes, wo Choi mehrere Immobilien kaufte die Anfang März vom Verfassungsge- und ihre Tochter, eine Dressurreiterin, richt ihres Amtes enthoben wurde. Sie in ein Trainingscamp schickte. steht auch für den Erfolg einer wach- Dass die Stiftungsmittel der Beste- senden politischen Bewegung, die mo- chung dienten, gilt als äußerst wahr- natelang gegen die Politik der Exprä- scheinlich. So erhielt Samsung als sidentin protestiert hatte. Allwöchent- Gegenleistung für seine Zahlung eine lich zogen Ende vergangenen Jahres umstrittene Regierungsgenehmigung bis zu zwei Millionen Südkoreaner auf über die Fusion zweier Tochtergesell- den Gwanghwamun-Platz im Seouler schaften. Der Zusammenschluss half Stadtzentrum, um lautstark den Rück- der Gründerfamilie des Unternehmens tritt Park Geun-hyes zu fordern. dabei, ihre Kontrolle über die Konzern- An der Spitze der Demonstrationen gruppe zu stärken. Samsung-Thron- standen einerseits einstige Studenten- folger Lee Jae-yong sitzt inzwischen in aktivisten, die Ende der 1980er Jah- Untersuchungshaft, ebenso wie Exprä- re die Militärdiktatur zu Fall gebracht sidentin Park und ihre Vertraute Choi. hatten und nun erneut für eine demo- Letztere bezeichnen die heimischen kratische Erneuerung eintreten. Da- Medien wegen ihres manipulativen rüber hinaus politisierten die Proteste Charakters auch als „Rasputin-Figur“. gerade jene junge Generation Südko- Choi Soon-sil war offenkundig die ein- reas, die bislang vor allem als materia- zige Vertrauensperson der ehemali- listisch, hedonistisch und selbstbezo- gen Präsidentin und übte großen Ein- gen galt. Viele Schüler und Studenten, fluss auf sie aus: Sie wählte Park Geun- die weder die Armut ihrer Großeltern hyes Garderobe aus, schrieb und re- noch die politische Unterdrückung digierte die meisten ihrer Reden, ver- ihrer Elterngeneration persönlich mit- änderte eigenmächtig Protokolle bei erlebt hatten, gingen über Monate Staatsbesuchen und wurde allabend- friedlich für gesellschaftlichen Wandel lich von Präsidentenberatern gebrieft. auf die Straße. Die vorgezogene Präsi- Ohne ein offizielles politisches Amt dentschaftswahl betrachten sie vor al- innezuhaben, erhielt Choi auf diese lem als ihren Erfolg. Weise auch Zugang zu geheimen Re- Grund für die Proteste war einer der gierungsinformationen, mit deren Hil- größten Korruptionsskandale der jün- fe sie ein beträchtliches Vermögen er- geren Geschichte Südkoreas: Gemein- wirtschaftete. Rückblickend lässt sich sam mit ihrer Jugendfreundin Choi nicht mit Sicherheit sagen, wer die Soon-sil soll Park Geun-hye heimische Regierungsgeschäfte Südkoreas in Unternehmen gedrängt haben, Millio- den vergangenen Jahren tatsächlich nenbeträge an zwei von Choi geführ- geführt hat – Choi Soon-sil oder Park te Sportstiftungen zu spenden. Allein Geun-hye.

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201705_Buch.indb 31 19.04.17 10:47 32 Kommentare und Berichte

Die verlorenen Jahre Den kommenden Gerichtsprozessen der Präsidentschaft Park Geun-hyes gegen die Expräsidentin und ihre Ver- traute Choi Soon-sil blickt die südko- Doch unabhängig davon steht schon reanische Öffentlichkeit mit gemisch- jetzt fest: Die Regierungsjahre Park ten Gefühlen entgegen: Aus Sicht der Geun-hyes von 2013 bis 2017 werden Linken entscheiden die Verfahren als verlorene Jahre in die Geschichts- darüber, wie ernst es der Rechtsstaat bücher eingehen. mit sozialer Gerechtigkeit tatsächlich Dabei waren die Hoffnungen bei nimmt. Die Konservativen hingegen ihrem Amtsantritt noch immens. Die fürchten Instabilität und eine Hexen- 65jährige ist die Tochter des einstigen jagd auf die Elite des Landes. Militärdiktators Park Chung-hee, der sich 1961 ins Präsidentenamt geputscht hatte.1 Unter seiner Führung erlebten Hoffnung auf einen Neubeginn die Koreaner in den folgenden zwei Jahrzehnten ein steiles Wirtschafts- Doch obwohl die Bevölkerung klar in wachstum. Bis heute gilt der Diktator Befürworter und Gegner Parks gespal- als nationaler Übervater, der das Land ten ist, scheint der künftige Präsident – auf den Ruinen des Koreakriegs (1950- ganz anders als bei früheren Wahlen – 1953) zu einer mächtigen Volkswirt- dieses Mal schon vor der Wahl festzu- schaft aufbaute. Gleichzeitig verfolg- stehen. Denn die konservative Regie- te Park Chung-hee jedoch unerbitt- rungspartei spaltete sich unlängst und lich Dissidenten, Gewerkschafter und spielt in Umfragen nur noch eine mar- linke Studentengruppen: Sie wurden ginale Rolle – erst recht, nachdem sich als „Nordkorea-Sympathisanten“ ge- ihr Hoffnungsträger, der ehemalige brandmarkt, gefoltert und in Umerzie- UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, un- hungslager gesteckt. erwartet gegen eine Kandidatur ent- Dass Park Geun-hye 2013 zur Präsi- schied. dentin gewählt wurde, obwohl sie bis Der in Umfragen seit Monaten be- dahin kaum über politische Qualifika- liebteste Kandidat, Moon Jae-in, ge- tionen verfügte, lag vor allem daran, hört ebenso wie die beiden weiteren dass sie versprach, an jene – vermeint- führenden Kandidaten der politischen lich – glorreiche Zeit anzuknüpfen. Opposition an. Nachdem er 2013 als Vor allem für die große Generation der Spitzenkandidat der sozialliberalen südkoreanischen Seniorinnen und Se- Minjoo-Partei Park Geun-hye unterlag, nioren genügte die Tatsache, dass sich wird er das Rennen dieses Mal vermut- die Tochter Park Chung-hees zur Wahl lich für sich entscheiden können: „Wer stellte, um ihr die Stimme zu geben. kann Moon Jae-in noch stoppen?“, ti- Allerdings zeigte sich schnell, dass telte jüngst auch die Tageszeitung „Ko- sich Park Geun-hye durch ebenje- rea Herald“. ne politische Inkompetenz und fast Moon tritt klar für politischen Wan- schon pathologische Introvertiertheit del ein – und zwar sowohl innen- wie auszeichnete, die auch ihrem Vater zu außenpolitisch. Sein politisches Rüst- eigen waren. Während ihrer Amtszeit zeug hat der 64jährige nicht nur bei scheute Park, die niemals heiratete und einer Spezialeinheit des Militärs er- sich im Laufe der Zeit mit all ihren Ge- worben, sondern auch während seiner schwistern überwarf, die Öffentlich- Tätigkeit als Menschenrechtsanwalt. keit; selbst für ihre engsten Berater war In den Nullerjahren bekleidete er zu- sie mitunter tagelang nicht auffindbar. dem das Amt des Stabschefs unter Roh Muh-hyun, jenem südkoreanischen 1 1979 verlor er bei einem politischen Anschlag Präsidenten, der die demokratischen sein Leben. Strukturen Südkoreas ausbaute und

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Grundrechte wie die Pressefreiheit ge- Der Präsidentschaftskandidat Moon zielt stärkte. Jae-in hält offenbar wenig von einer Ob die politischen Erfahrungen solchen Eskalationsstrategie. Unge- Moons indes ausreichen, die vor ihm achtet des bestehenden Sanktionskli- liegenden Herkulesaufgaben zu be- mas spricht er sich für Gespräche mit wältigen, ist derzeit noch völlig of- Kim Jong-un und eine wirtschaftliche fen. Denn bereits innenpolitisch sind Annäherung an das Nachbarland aus. die Herausforderungen immens: Die Damit knüpft Moon an die sogenannte Jugendarbeitslosigkeit befindet sich Sonnenschein-Politik des verstorbe- gegenwärtig auf einem Rekordhoch, nen Präsidenten Kim Dae-jung an, der die Exporte stagnieren seit Jahren und Südkorea von 1998 bis 2003 regierte. die Verschuldung der Privathaushal- Kim Dae-jung hatte einst ein Gipfel- te übertrifft die jedes anderen OECD- treffen mit dem damaligen nordkorea- Staates. nischen Diktator Kim Jong-il organi- Und auch außenpolitisch haben die siert und eine Sonderwirtschaftszone Spannungen in der Region – insbeson- in einer Grenzstadt errichtet, in der dere mit Blick auf Nordkorea, China nordkoreanische Fabrikarbeiter für und Japan – in der jüngsten Vergan- südkoreanische Firmen arbeiteten. genheit massiv zugenommen. Auch das Verhältnis zu China möchte Moon Jae-in verbessern. Seit- dem Seoul Anfang März der USA die Trumps rhetorische Achterbahnfahrt Genehmigung erteilte, ein Raketenab- wehrsystem in Seongju County zu sta- So steuert gerade der Nordkoreakon- tionieren, leiden die Handelsbeziehun- flikt derzeit auf einen neuen Höhe- gen zum Reich der Mitte. Das THAAD- punkt zu. Die Geschwindigkeit, mit System soll offiziell zwar nur Kurz- und der das Atomprogramm des Kim-Re- Mittelstreckenraketen aus Nordko- gimes voranschreitet, nimmt merklich rea abfangen. Sein Radar ist allerdings zu. Gleichzeitig denkt die US-Regie- stark genug, um auch chinesische Ge- rung zunehmend lauter über einen biete zu erfassen. Peking wertet die Angriffskrieg gegen Nordkorea nach. Stationierung daher als Angriff auf die Anfang April verlegten die USA eine eigene nationale Sicherheit und straft Flugzeugträgergruppe in die Region. Südkorea derzeit mit indirekten Wirt- Donald Trump droht zudem, im Al- schaftssanktionen. So verhängte die leingang und damit ohne Zustimmung chinesische Regierung unter anderem Chinas gegen Nordkorea vorzugehen. ein Verbot für Gruppenreisen nach Ko- Was der US-Präsident letztendlich ge- rea. Da die Hälfte aller Touristen Süd- nau vorhat, bleibt freilich vage. Trumps koreas aus China kommen, bringt das außenpolitische Strategie kann – auch chinesische Verbot die südkoreani- mit Blick auf den asiatisch-pazifischen sche Tourismusbranche derzeit in arge Raum – derzeit wohl am treffendsten Bedrängnis. als rhetorische Achterbahnfahrt be- Anders als Expräsidentin Park plä- schrieben werden: So hatte Trump im diert Moon Jae-in dafür, die Stationie- Wahlkampf angekündigt, sich mit Dik- rung des Raketenabwehrsystems zu tator Kim Jong-un zu Gesprächen „auf überdenken – auch um ein Wettrüs- einen Burger“ treffen zu wollen, um ten in der Region zu verhindern. Da- ihn kurz darauf als „durchgeknallten mit stellt er jedoch zugleich die enge Irren“ zu diffamieren. Ebenso drohte Allianz mit der US-Regierung auf die er dem verbündeten Südkorea, die dor- Probe. tigen US-Militärbasen zu schließen, Auch die Beziehungen zu Japan ste- sollte Seoul sich künftig nicht stärker hen nicht zum Besten. Von 1910 bis an deren Kosten beteiligen. 1945 stand Korea unter japanischer

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201705_Buch.indb 33 19.04.17 10:47 34 Kommentare und Berichte

Kolonialherrschaft. Seoul fordert zum grundlegenden Reform des Chaebol- einen eine offizielle Entschuldigung Systems. Und hier liegt die eigentliche für die koreanischen Zwangsprostitu- Herausforderung der künftigen südko- ierten der kaiserlichen Armee im Zwei- reanischen Regierung. ten Weltkrieg. Zum anderen liefern Chaebols werden in Korea die fa- sich Politiker aus beiden Ländern im- miliengeführten Konglomerate ge- mer wieder hitzige Wortgefechte we- nannt, die sich unter dem Diktator gen der Felseninsel Dokdo im Japani- Park Chung-hee etablierten und in- schen Meer, die beide Seiten jeweils zwischen in dritter Generation be- für sich beanspruchen. Die Feindse- stehen. In der Zeit des Aufstiegs Süd- ligkeiten behindern einen Ausbau der koreas vom bitterarmen Agrarstaat zur politischen wie auch der wirtschaftli- mittlerweile elftgrößten Volkswirt- chen Beziehungen, was Moon eben- schaft der Welt bildeten die Familien- falls ändern möchte. betriebe den zentralen Motor des öko- nomischen Wachstums. Im Gegenzug für absolute Regimetreue erhielten sie Der Kampf gegen die lukrative Aufträge und günstige Kre- Konglomerate dite. Unter der schützenden Hand des Staates konnten die Chaebols ohne Trotz ihrer aktuellen Brisanz interes- großes Risiko in aufkeimende Bran- sieren die meisten Südkoreaner die chen einsteigen, um sich dort frühzei- geopolitischen Herausforderungen tig ihre Marktführerschaft zu sichern. allerdings nur am Rande. Sie verlan- Das Fundament von Konzernen wie gen in erster Linie nach innenpoliti- Samsung, LG und Hyundai wurde hier schen Reformen – vor allem nach einer gelegt. Sie dominierten schon bald die wichtigsten Industrien des Landes – von Autos über Computerchips bis hin zu Immobilien. Allerdings sind die Chaebols der Anzeige 89 südkoreanischen Volkswirtschaft in- zwischen zur Last geworden, da sie dem Entstehen eines breiten Mittel- standes im Wege stehen. Zudem geben sie der Gesellschaft weniger zurück, als sie durch Steuererleichterungen und Gefälligkeiten von der Regierung erhalten: Immer häufiger verlagern sie ihre Produktion ins Ausland. Vor allem STADT aber stehen sie für ein System aus In- ENTWICKLUNG transparenz und Korruption. Wege zur Neuerfindung der Stadt im Nahenund Fast alle derzeitigen Kandidaten Mittleren Osten > Dubai: Herrschaftsstabilisierung durch versprechen, das Chaebol-System ent- Stadtent wicklung > Tanger: Globalisierung und Fragmen- flechten zu wollen. Und auch viele der tierung > Istanbul: Spiritualität und Kulturtourismus > ... vorangegangenen Präsidenten Süd- koreas – Park Geun-hye inbegriffen Essay: ISLAMISCHER – sagten einst zu, die Chaebols zu re- formieren. Bislang sind sie allesamt MESSIANISMUS an diesem Mammutprojekt geschei- Fünf Fehler der syrischen Opposition tert. Sollte Moon Jae-in diese Herku- F inamo e. V. Postfach 310727 10637 Berlin lesaufgabe bewältigen, wäre Südkorea C 0049 30 86421845 die langersehnte politische Wende tat- H [email protected] sächlich gelungen.

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201705_Buch.indb 34 19.04.17 10:47 DEBATTE

Das Proletariat: Vom revolutionären Popanz zum reaktionären Pöbel?

In der Januar-Ausgabe skizzierte »Blätter«-Mitherausgeber Micha Brum- lik das neue »reaktionäre Subjekt«, nämlich das einstige Proletariat, auf seinem Weg zum Pöbel. Dagegen wendet sich scharf der Soziologe Ulrich Weigel.

m November 1847 gab der Bund der Doch schauen wir uns die Begründung I Kommunisten bei Karl Marx und der umstürzlerischen Mission im Ma- Friedrich Engels eine Arbeit in Auf- nifest noch einmal genauer an. Marx trag, die als Parteiprogramm in theo- und Engels waren überzeugt davon, retischer und praktischer Hinsicht dass die Arbeiterklasse sich zum revo- fungieren sollte. Gesucht war ein Pam- lutionären Subjekt aufschwingen wür- phlet, das die theoretischen Erkennt- de, weil die damalige materielle und nisse auf den Punkt bringt und der re- politische Notlage zu evident war und volutionären Bewegung im politischen der vorgestellte „Lauf der Geschichte“ Kampf den Weg weist. Mit dem im Fe- keine andere Entwicklung erwarten bruar 1848 erschienenen „Kommunis- ließ. Für beide war es ausgemachte tischen Manifest“ ist Marx und Engels Sache, dass die Bourgeoisie mit dem dies durchaus geglückt: Das Manifest, Proletariat ihren eigenen Totengräber in Dutzenden Auflagen gedruckt, wur- erzeugen würde. de zu einem der wichtigsten Parteipro- gramme der Weltgeschichte. Auch heute, rund 170 Jahre nach » Das revolutionäre Subjekt müsste Erscheinen des Manifests, ist seine nach Marx und Engels die eigene Zugkraft noch immer beachtlich. Und Existenz radikal in Frage stellen.« doch ist es nunmehr ein Leichtes, das Versagen der Arbeiterklasse als revo- lutionäres Subjekt zu konstatieren. Dabei wusste schon Marx, dass die Ganz offensichtlich blieb der Umsturz Hürden für eine Verwandlung der der bürgerlichen Verhältnisse durch Arbeiter zum revolutionären Subjekt das Proletariat aus. Auch Micha Brum- beachtlich sind. Auf Basis seiner spä- lik stellt fest, dass es seine als unver- teren ökonomischen Studien kam er meidlich apostrophierte geschicht- zu einer differenzierteren Betrachtung liche Mission nicht erfüllt hat. Mehr als im Manifest: Wenn er am Ende sei- noch, Brumlik will zeigen, „dass die nes Vortrags „Lohn, Preis und Profit“ vermeintlich zur Revolution beru- (1865) die Aufhebung des Lohnarbeits- fene Klasse“ heute „selbst zum Kern verhältnisses fordert,1 dann wird deut- jener politischen Kräfte geworden ist, die Marx und Engels im Manifest als 1 Marx-Engels Werke (MEW) Berlin 1972, Band ‚Reaktionäre’ bezeichnet hatten“. 16, S. 152.

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201705_Buch.indb 35 19.04.17 10:47 36 Ulrich Weigel

lich, dass die Arbeiterbewegung die sächlich so aus, als könnte „Der kurze Bedingung der eigenen Existenz hätte Traum immerwährender Prosperität“3 aufheben müssen: Um die Gesellschaft tatsächlich Wirklichkeit werden – es zu verändern, wäre es notwendig ge- blieb allerdings beim Traum. (Dieser wesen, nicht länger Lohnarbeiter oder blendete übrigens schon in seiner rosi- Lohnarbeiterin sein zu wollen. Das gen Phase den täglichen Kampf in den vermeintliche revolutionäre Subjekt „Ländern des Südens“ gegen Hunger müsste die eigene Existenz radikal in und Elend aus.)4 Frage stellen und in neuen sozialen Das macht deutlich, welcher „exis- Verhältnissen aufheben wollen – und tenzieller Häutungen“ es heute be- damit auch die erfahrene Sozialisa- dürfte, um Systemüberwindung auf die tion, die auf das Überleben in bürger- Tagesordnung zu setzen. Einer Zwie- lichen Verhältnissen abstellt und das bel gleich, müsste nicht nur die Lohn- eigene Wohl als Lebensziel verfolgt.2 arbeiter-, sondern auch die Staatsbür- Um die Negation der eigenen Exis- gerschicht abgelegt werden. Um im tenz in die Tat umzusetzen, müsste Bild des „Kommunistischen Manifests“ jedoch die im Kapitalismus vollzo- zu sprechen: Der Totengräber müsste gene indirekte Vergesellschaftung der nicht vorrangig die Bourgeoisie, son- Arbeit zuerst einmal bewusst durch- dern sich selbst zu Grabe tragen; das schaut werden. Obwohl Marx sein Ende der Bourgeoisie wäre dann impli- Hauptwerk „Das Kapital“ betitelt, hält zit mit dabei. er daran fest, dass die Bewegung des Systems von der lebendigen Arbeit ausgeht, durch Aneignung des Mehr- » An die Stelle der Selbstemanzipa- werts. Leicht zu durchschauen ist tion tritt bei Brumlik ein proletari- dieser wesentliche Zusammenhang scher Popanz.« jedoch nicht. Er realisiert sich, möchte man hinzufügen, „hinter dem Rücken der Menschen“ als Resultante der öko- Die von Marx intendierte gänzliche nomischen Tätigkeiten der Vielen. Umgestaltung der gesellschaftlichen An einer politischen Bildungsarbeit, Zustände wie auch der Menschen5 ist die diese subtilen Zusammenhänge anspruchsvoller, als es die Rede vom offenlegt, haben sich in den letzten revolutionären Subjekt bei Brumlik Jahrzehnten nicht mehr viele Organisa- suggeriert. Die Selbstemanzipation tionen und Akteure beteiligt. Vielmehr der Arbeiterklasse zu befördern, nicht haben nach dem Zweiten Weltkrieg zuletzt durch die systematische Ana- gewerkschaftliche und sozialdemokra- lyse des Kapitalismus, war ein zen- tische Bewegungen die schrittweise trales Anliegen von Marx. Zu einem Verbesserung der Lebensbedingun- umstürzlerischen Selbstläufer gerät gen ihrer Klientel ins Zentrum ihrer diese Analyse allerdings nicht. Anders Bemühungen gerückt – und sind so bei Brumlik: Nachdem er zunächst selbst ein stabiler Pfeiler des kapitalisti- den „proletarischen Popanz“ höchst- schen Systems geworden. Vermeintlich selbst aufgebaut hat, wird dieser unter alternativlos und nicht ohne beschei- Berufung auf Adorno, Marcuse und dene Erfolge etablierte sich ein Sozial- Gorz anschließend wieder demontiert staat, der die Hoffnung auf ein besse- – endend mit der Feststellung, dass die res Leben und bescheidenen Aufstieg 3 So der treffende Buchtitel von Burkart Lutz, nährte. Einige Jahrzehnte sah es tat- Frankfurt a. M. 1984. 4 Die wichtigen Studien zum „Peripheren Kapi- 2 Euphorisch formulierte noch der junge Marx: talismus“ (Dieter Senghaas (Hg.), Frankfurt „Eine radikale Revolution kann nur die Revo- a. M. 1974) kamen über das universitäre bzw. lution radikaler Bedürfnisse sein“, Marx-En- religiös-karitative Milieu kaum hinaus. gels Werke (MEW), Band 1, Berlin 1978, S. 387. 5 Vgl. MEW, Band 17, Berlin 1962, S. 343.

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201705_Buch.indb 36 19.04.17 10:47 Das Proletariat: Vom revolutionären Popanz zum reaktionären Pöbel? 37

Arbeiterschaft in unseren Tagen „ihr sinn.“6 Zum Pöbel zählten bis zur Heil zum Teil wieder in faschistischen Industrialisierung jene Menschen, die Strukturen sucht“. Zwar thematisiert aus der ständischen Ordnung und dem der Autor die Globalisierung als einen regulären Arbeitsverhältnis herausfie- Prozess, der innerhalb der Arbeiter- len, das heißt jene „zahlreiche Schicht schaft zu einer reaktionären Regres- unterhalb der Vollbauern und zünf- sion bzw. zu einem semifaschistischen tigen Handwerksmeister, gleichsam Bonapartismus führen muss, was aber die Unterständischen, die aber doch diesen Zwang begründet, bleibt im ständisch gebändigt waren. […] Diese Dunkeln. Schicht unterhalb der ständischen Mit dem Verweis auf die „Abstiegs- Ehre war stets in der Gefahr bitterer gesellschaft“ (Oliver Nachtwey), in Armut, da die Zahl ihrer Erwerbsstel- der einige apathisch nach unten füh- len beschränkt blieb und sie in ihrer ren, „während andere rücksichtslos Grenzexistenz gegenüber Krisen und in Panik nach oben zu rennen ver- Katastrophen besonders anfällig war.“7 suchen, um dennoch unwiderruflich nach unten gefahren zu werden“, wird zwar ein eingängiges Bild präsentiert; » Was dem Pöbel laut Hegel fehlt, ist eine hinreichende Erklärung für das die ›Ehrbarkeit der Arbeit‹.« behauptete (semi-)faschistische Ver- halten ist es jedoch nicht. Man könnte ja auch renitent, revoltierend reagie- Mit dem Aufkommen der bürgerlichen ren. Stattdessen, so Brumlik, koaliert Gesellschaft, die Hegel analysier- die reaktionär gesinnte Arbeiterschaft te, änderte sich die Grundlage dieser mit anderen konservativen Milieus Grenzexistenz. Waren ständische Her- und Schichten (Mittelstand, Kleinin- kunft und Tragfähigkeit des Bodens in dustrielle, kleine Kaufleute, Handwer- früheren Zeiten maßgeblich, so bringt ker und Bauern), die schon von Marx/ für Hegel die bürgerliche Gesellschaft Engels im „Manifest“ beschrieben „zum Vorschein, dass bei dem Über- wurden. Diese „mächtige Koalition“ maße des Reichtums die bürgerliche bildet den neuen Rechtspopulismus Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. und Rechtsextremismus. Damit regre- an dem ihr eigentümlichen Vermögen diere die Arbeiterklasse jedoch wie- nicht genug besitzt, dem Übermaße der zu dem, was sie schon bei Hegel der Armut und der Erzeugung des Pö- war: „zu Pöbel“. „Hier der Pöbel, dort bels zu steuern.“8 Was dem Pöbel, ge- exzessiver, dekadenter Reichtum: Das mäß Hegel, fehlt, ist die „Ehrbarkeit genau ist die Lage“, so Brumlik, „in der der Arbeit“ und damit die Möglich- sich westliche, postindustrielle Gesell- keit, mit eigener Arbeit die Subsistenz schaften derzeit befinden – und zwar zu bestreiten, „womit die Unfähigkeit in derart zugespitzter Form, dass eine der Empfindung und des Genusses neue Form des Faschismus nicht mehr der weiteren Freiheiten und besonders ausgeschlossen erscheint“. der geistigen Vorteile der bürgerli- Wir nehmen an, dass Brumlik hier chen Gesellschaft zusammenhängt.“ nicht billige Publikumsbeschimpfung praktiziert, sondern mit „Pöbel“ eine 6 Werner Conze, Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. analytische Kategorie ins Feld füh- Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den ren möchte. Doch welche? Was genau Sozialismus in Deutschland, in: „Vierteljahr- schrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, ist der Pöbel eigentlich? Verglichen 41/1954, S. 333-364, hier S. 336. mit „Proletariat“ ist „Pöbel“ der ältere 7 Ebd. Begriff und „bezeichnet weit mehr 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht als unsere Vorstellung vom gemeinen und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stutt- Haufen mit verächtlichem Neben- gart 1970, § 245.

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201705_Buch.indb 37 19.04.17 10:47 38 Ulrich Weigel

Bei den derart sittlich Deklassierten artigkeit und anderen Lastern“ im und Ausgeschlossenen resultiere eine Hegelschen Verständnis des Pöbels „Gesinnung der Arbeitsscheu, Bös- kann also keine Rede sein. Bei alledem artigkeit und der weiteren Laster, die zeigt sich, dass die sozialstrukturelle aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Zuschreibung politischer Potentiale – Unrechts entspringen.“9 erst revolutionäres Subjekt, dann reak- Möchte Brumlik diese Beschrei- tionärer Pöbel – den Kern nicht trifft. bung auch auf die erwähnten Gewerk- Zwischen sozialstruktureller Lage schaftsmitglieder und Arbeiter über- und politischem Bewusstsein gibt es tragen, denen eine Nähe zur AfD keine direkte Verbindung – Sein und bescheinigt wird? Teilt er die Hegel- Bewusstsein sind nicht so einfach mit- sche Grundannahme, dass der Kapi- einander verknüpft, wie Brumlik sug- talismus nicht reich genug sei, um die geriert. Revolutionär oder reaktionär Armut auszurotten? Ist das „eigentüm- ist keine Frage der Klasse oder Schicht, liche Vermögen“ der modernen Güter- sondern des politischen Willens und und Dienste-Erzeugung wirklich zu der politischen Tat. schwach ausgebildet, um Not und Dies weiß vermutlich auch Brumlik, Grenzexistenzen zu verhindern? er will aber letztlich auf etwas ganz anderes hinaus: „So aber scheint die Einsicht unabweisbar, dass der auf » Revolutionär oder reaktionär ist einer kapitalistischen Wirtschaft beru- keine Frage der Klasse oder Schicht, hende (europäische) demokratische sondern des politischen Willens Sozialstaat das Beste ist, was die von und der politischen Tat.« Marx über Lenin bis Lukács zum revo- lutionären Subjekt erkorene Arbeiter- schaft welthistorisch erreichen konnte Wohl kaum. Ein Wirtschaftssystem und vielleicht überhaupt erreichen indes, das ökonomische Aktivitäten kann.“ nicht an der Befriedigung menschli- Brumlik befindet sich mit dieser cher Bedürfnisse und der Beseitigung Einschätzung zweifelsohne in illus- von existenzieller Sorge ausrichtet, trer Gesellschaft, von Axel Honneth sondern an der Warenförmigkeit der über Sahra Wagenknecht10 bis zur Güter und der Plusmacherei, erzeugt Bundeskanzlerin, mit ihrer Rede vom systematisch den Eindruck knapper „alternativlosen Kapitalismus“ rheini- Ressourcen und fehlender Mittel: In scher Prägung. Wenn aber am (besten- einer Verkehrung der eigentlichen falls sozialstaatlich gehegten) Kapita- Prioritäten erscheinen Wohlfahrt und lismus ohnehin kein Weg vorbeiführt Fürsorge als die vom Wirtschaftsver- und postkapitalistische Verhältnisse lauf abhängigen Variablen, scheint der unerreichbar, ja undenkbar sind, Reichtum nie groß genug für alle zu dann braucht es in der Tat auch kein sein. revolutionäres Subjekt. Insofern hat Oder meint Brumlik gar, es fehle den Brumlik durchaus recht: Angesichts modernen Absteigern an Arbeitsmo- dieser geschichtsteleologischen Posi- ral und Gesinnungsethik? Auch dies tion kann getrost auch auf die theore- trifft in der Mehrzahl sicher nicht zu, tischen Klassiker verzichtet werden pochen die bedrohten Schichten doch – denn im Ergebnis laufen Brumliks auf ihre kulturelle Verwurzelung, Gedanken ohnehin darauf hinaus, ihr Arbeitsethos und ihre Staatstreue dass unsere gesellschaftspolitische (nicht mit Politik- oder Parteitreue zu Zukunft schon lange hinter uns liegt. verwechseln). Von „Arbeitsscheu, Bös- 10 Vgl. Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus, Berlin 2015; Sahra Wagenknecht, Reichtum 9 Ebd., §§ 243, 241. ohne Gier, Frankfurt a. M. 2016.

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201705_Buch.indb 38 19.04.17 10:47 KURZGEFASST

Christoph Fleischmann: Gottes Güter für alle. Die verdrängte Lehre der Reformation, S. 41-49

Zur 500. Wiederkehr der Reformation werden die Jubilare nicht müde, den emanzipatorischen Gehalt der lutherischen Gnadenlehre zu betonen. Eines fällt dabei jedoch zumeist unter den Tisch, so der Theologe Christoph Fleischmann: ihr revolutionärer ökonomischer Gehalt. Oft dominiere die pessimistische Anthropologie Martin Luthers, die in einer Linie mit dem Glauben an den gemeinwohlfördernden Eigennutz bei Adam Smith steht.

Ulrich Menzel: Das Ost-West-Konstrukt. Wie alte Grenzen neu gezogen werden, S. 51-62

Gut 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewinnen die alten Ost-West- und Nord-Süd-Gegensätze wieder an Gewicht. Diese Grenzziehungen dienen der Definition des Eigenen und des Fremden sowie der Bildung geopolitischer Identitäten, schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel. Sie sind somit immer Konstrukte, ihr Verlauf und ihre Reich- weite entsprechen den Interessen des jeweiligen Auftraggebers.

Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater: Der begrenzte Planet und die Glo- balisierung des einen Prozent, S. 63-74

Nicht erst seit seiner Wahl postuliert Donald Trump eine protektionistisch- restriktive Grenzpolitik. Gleichzeitig wirkt das neoliberale Mantra unein- geschränkter Marktfreiheit ungebrochen fort. Das postulierte unbegrenzte Wachstum trifft jedoch auf die begrenzte Kapazität eines gebeutelten Pla- neten, so die Politikwissenschaftler Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf. Was am Ende bleibt, ist die wachsende Wut der Vielen, die den Wohlstand der Wenigen tragen.

Markus Wissen und Ulrich Brand: Unsere schöne imperiale Lebensweise. Wie das westliche Konsummodell den Planeten ruiniert, S. 75-82

Steigende Temperaturen und zunehmende Ressourcenkonflikte veranlas- sen immer mehr Menschen, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Dort stoßen sie vielerorts auf eine Politik der Abschottung und Zurückweisung. Dabei ist es vor allem die imperiale Lebensweise des globalen Nordens, so die Politikwissenschaftler Markus Wissen und Ulrich Brand, die sich ver- schärfend auf den Klimawandel auswirkt, Ökosysteme vernichtet sowie zu sozialer Polarisierung und Verarmung führt.

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201705_Buch.indb 39 19.04.17 10:47 40 Kurzgefasst

Ingrid Kurz-Scherf: Marx contra Trump? Versuch einer feministischen Orientierung in gespenstischen Zeiten, S. 83-90

Mit dem Erfolg rechtspopulistischer Parteien erlebt auch die Arbeiterklasse ein Revival. Wenn aber die neue Rechte immer erfolgreicher um den Arbei- ter wirbt, muss eine zukunftsfähige neue Linke dann wieder vom Kultur- zum Klassenkampf finden? Nein, antwortet die Politikwissenschaftlerin Ingrid Kurz-Scherf. Denn die soziale Frage dürfe keineswegs unabhängig von feministischer, anti-rassistischer und ökologischer Gesellschaftskritik gedacht werden.

Nancy Fraser: Who cares? Teil II. Die Ausbeutung der Sorgearbeit im neoliberalen Kapitalismus, S. 91-100

Das Alleinverdienermodell der Nachkriegszeit stützte sich auf den männ- lichen Ernährer und rassistische Hierarchien. Dagegen erscheint das neo- liberale Modell des Doppelverdienerhaushalts zuweilen als progressiv, so die Sozialwissenschaftlerin Nancy Fraser. Dies beruht jedoch auf einem fundamentalen Irrtum, denn das heute herrschende Modell der Sorgearbeit untergräbt jeden emanzipatorischen Ansatz.

Charlotte Wiedemann: Iranische Paradoxien. Streifzüge durch ein unein- deutiges Land, S. 101-110

Wenn Mitte Mai im Iran gewählt wird, werden dem amtierenden Staats- präsidenten Hassan Rohani gute Chancen auf eine Wiederwahl einge- räumt. Gleichzeitig nehmen die Spannungen insbesondere gegenüber den USA merklich zu. Darüber gerät jedoch die iranische Gesellschaft aus dem Blick, so die Journalistin Charlotte Wiedemann. Dabei ist das Land weit vielschichtiger als der Westen wahrnimmt. Faktisch habe sich Iran längst zu einem theokratisch-demokratischen Hybridsystem eigener Art entwi- ckelt, in dem subversiver Regelbruch alltägliche Praxis ist.

Markus Rieger-Ladich: Tagträume der Gesellschaft. Piper Chapman, Tony Soprano und Walter White als Zeitdiagnostiker, S. 111-120

Autorenserien wie „Orange is the New Black“ oder „Breaking Bad“ erfreuen sich derzeit größter Beliebtheit. Anders als im traditionellen Spiel- film begegnet der Zuschauer hier einem komplexen Tableau ambivalenter Figurentypen. Für den Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich ist das neue Format jedoch weit mehr, nämlich Medium der Aufklärung. Die Ohnmacht der Akteure wie die Kontingenz der sozialen Verhältnisse entpuppen sich als Spiegel der Gesellschaft.

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201705_Buch.indb 40 19.04.17 10:47 Gottes Güter für alle Die verdrängte Lehre der Reformation

Von Christoph Fleischmann

um 500. Reformationsjubiläum wird an vieles erinnert und der Reforma- Z tor für vieles gelobt. Dass es bei seinem Protest zentral ums Geld ging, wird jedoch meist nicht in den Vordergrund gestellt. Dabei begann die Refor- mation mit der Kritik an einer ökonomischen Praxis der Kirche, nämlich dem Verkauf von Ablassbriefen. Luthers Protest hat sicher nur deswegen ein solch beispielloses Echo hervorgerufen, weil er sich nicht nur gegen theologische Positionen richtete, sondern auch gegen eine Praxis, die der Hierarchie der Kirche wichtig und zugleich immer mehr Christen suspekt war. Luthers berühmte 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 waren nämlich nicht der Anfang seines Aufbegehrens, sondern sie hatten einen Vorläufer: Luthers Thesen gegen die scholastische Theologie. Diese wurden bereits im Spätsommer 1517 geschrieben, gingen gleich in den Druck und waren theo- logisch ähnlich brisant wie die 95 Thesen – aber sie lösten eben bei weitem nicht dasselbe Echo aus, dass kurz darauf der Ablasskritik beschieden war. Dass wir 500 Jahre später der eminent ökonomischen Seite der Luther- schen Kritik viel zu wenig Aufmerksamkeit schenken, hängt wohl damit zusammen, dass die Ablasspraxis der spätmittelalterlichen Kirche weithin als ein Relikt des vermeintlich finsteren und längst überwundenen Mittel- alters angesehen wird. Mit ihrer Abschaffung hätte sich dann der ökonomi- sche Teil von Luthers Kritik quasi erledigt. Völlig übersehen wird dabei, dass der Ablass Teil einer Kommerzialisierung der mittelalterlichen Gesellschaft war, die wiederum frühkapitalistische Wirtschaftsformen hervorbrachte, deren Erbe uns noch immer prägt. Tatsächlich waren die Päpste, jedenfalls was das Geld angeht, ausgesprochen innovativ und modern. Sie schufen neue Finanzierungsinstrumente und gehören – auch mit dem Ablass – in die Frühgeschichte des Kapitalismus in Europa.

Geldsorgen zu Beginn der Reformation

Was also ging Luthers Thesen voraus? Der Adelsspross Albrecht von Bran- denburg wollte auf den wichtigen Posten des Mainzer Erzbischofs, mit dem die Kurwürde verbunden war; er besaß aber schon die Bistümer Magdeburg und Halberstadt. So eine geistliche Ämterhäufung war nach dem kirchli-

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chen Recht verboten – aber der Papst konnte von solchen Verboten dispen- sieren. Das aber kostete Geld. Außerdem waren bei der Neubesetzung eines Bischofsstuhles Servitien, sprich: einmalige Taxen, nach Rom zu zahlen. Das Päpste hatten seit ihrer Zeit in Avignon im 14. Jahrhundert ein weit ver- zweigtes System von Steuern und Gebühren aufgebaut, das immer wieder Gegenstand von geistlicher Kritik und politischen Verhandlungen war. Die Kritik sah viele Geldzahlungen als simonistisch an. Simonie bezeichnete den Tausch geistlicher Ämter oder Dienstleistungen gegen Geld. Das war eigent- lich verboten, aber der Papst ließ sich dennoch für die Übertragung bestimm- ter Ämter bezahlen. Im Falle Albrechts von Brandenburg belief sich die Summe aus Dispens und Servitien auf rund 24 000 Dukaten, was auch für einen Fürstensohn viel Geld war. Damit er es aufbringen konnte, wurde ihm gewährt, in sei- nen Ländern einen Plenar-Ablass zu vertreiben, der auf rund 50 000 Dukaten geschätzt wurde. Die Hälfte des Geldes sollten nach Rom fließen und beim Bau des Petersdomes Verwendung finden, und die andere Hälfte sollte Alb- recht behalten, um damit seine Schulden bei den Fuggern zu bezahlen, die ihm das Geld für den Papst erst einmal vorgestreckt hatten.

Monopolist einer geistlichen Ressource

Lange Zeit war der Ablass eine weithin akzeptierte Form des Sponsorings, für das der Spender eine besondere Gratifikation bekam: Dem Gläubigen wurde eine besondere Gnade angeboten, nämlich der Erlass von Fegefeu- er-Strafen. Das heißt, der Käufer eines Ablassbriefes musste durchaus noch zur Beichte gehen und seine Sünden bereuen, der Priester sprach ihn darauf- hin jedoch von den Sünden los. Damit war der Beichtende in der damaligen Vorstellung der Hölle entronnen. Mit der Absolution konnten aber besondere Genugtuungsleistungen verbunden sein – eine Wallfahrt zu machen oder andere fromme Übungen. Was aber, wenn solche Genugtuungsleistungen zu Lebzeiten nicht abge- leistet wurden, sei es, weil der Beichtende die Auflagen des Priesters nicht erfüllte, sei es, dass der sich im göttlichen Tarif geirrt und zu wenig Genug- tuung verschrieben hatte? Dann musste der offene Rest im Fegefeuer nach- gebüßt werden, einem Ort, den man sich als brutale Folterkammer vorstellte. Davon nun konnte der Ablassbrief befreien, den man bei der Beichte dem Priester vorlegte. Ablässe gab es für verschiedene Fristen, die im Fegefeuer dann straffrei blieben sollten. Da man sich aber der (gerade gültigen) gött- lichen Sünden- und Genugtuungsökonomie nie ganz sicher sein konnte, waren sogenannte Plenar-Ablässe besonders begehrt, die von allen Sünden- strafen freisprachen. Solche Ablässe aber hatten die Päpste erfolgreich monopolisiert: Nur sie konnten Plenar-Ablässe vergeben. Dahinter stand die Vorstellung von einem geistlichen Schatz, den Christus und die Heiligen mit ihren Verdiensten erworben und auf diese Weise akkumuliert hätten und aus dem der Papst

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nun Gnade verteilen bzw. gewinnbringend verkaufen konnte: eine immate- rielle und darum nie endende Ressource, die sich – solange die Nachfrage hielt – in materielles Kapital wandeln ließ. Wenn das beim Ablass eingenommene Geld einem akzeptierten Zweck zugutekam (etwa dem Bau einer nahe gelegenen Kirche oder dem Türken- feldzug), dann sah man den Kauf des Ablasses weithin als großzügig ermä- ßigte Form der Genugtuungsleistung an, als ein Näherrücken der Gnade Gottes an das einfache Volk, das nun vor der eigenen Haustür für relativ klei- nes Geld – und nicht wie früher nur in Rom oder an wichtigen Wallfahrtsorten – Ablass und damit eben Freiheit von den Sündenstrafen erwerben konnte. Die starke Verbreitung des Ablasses im späten Mittelalter könnte ein Indiz dafür sein, dass die Menschen den Widerspruch zwischen dem christlichen Ideal und den Anforderungen der Wirklichkeit immer lebhafter empfanden: Jeder lädt zwangsläufig so viele Sünden auf sich, dass er der Gnade bedarf, um gerettet zu werden. Doch durch die immer neuen Ablasskampagnen zugunsten römischer Pro- jekte geriet der Ablass zu Beginn des 16. Jahrhunderts zunehmend in Miss- kredit – und die Nachfrage schwächelte: Wer einmal einen kompletten Erlass der Sündenstrafen gekauft hatte, brauchte keinen zweiten Ablassbrief mehr. Deswegen gingen die Päpste dazu über, die früher erworbenen Ablässe wäh- rend einer neuen Ablasskampagne außer Kraft zu setzen. Sie nahmen damit eine zentrale Technik unserer Konsumgesellschaft vorweg: Man kann die Nachfrage hoch halten, wenn man die alten Produkte ständig durch neue ersetzt. Für die Zeitgenossen war das aber noch nicht – wie für uns – die selbst- verständliche Abfolge der Moden, sondern schlicht Betrug am Kunden und nach Luther der Hauptgrund, „warum der Ablass immer wertloser wird“.1 Hier wurde offensichtlich, dass es dem Papst ums Geld ging, und Luther fragt daher in der 89. These spitz: „Weil es doch dem Papst beim Ablass mehr um der Seelen Seligkeit als um das Geld zu tun ist, warum hat er denn die frü- her bewilligten Briefe über Ablässe aufgehoben, da sie doch ebenso wirksam sind?“2

Barmherzigkeit und Heilskauf

Berndt Hamm hat in seiner spannenden Studie über „Ablass und Reforma- tion“ herausgearbeitet, dass im Ablass zwei Tendenzen zusammenkamen, die im späten Mittelalter die Frömmigkeit prägten:3 Zum einen ein gesteiger- tes Bewusstsein der Barmherzigkeit und Gnade Gottes, die letztlich über das Heil des Menschen entscheide. Ein Gedanke, der – so die Pointe von Hamm und anderen – eben kein Alleinstellungsmerkmal Luthers war, sondern

1 WA I, S. 627/Mü I, S. 336 (Luthertexte werden nach der Weimarer Ausgabe [WA] nachgewiesen und nach den Übersetzungen der Münchener Lutherausgabe, 21938 ff. [Mü] zitiert). 2 WA I, S. 233-238 / Mü I, S. 17-26. 3 Berndt Hamm, Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016.

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etwas, das er in monastisch-mystischen Traditionen bereits vorfand und das vielleicht zum Zeitgeist des späten Mittelalters gehörte. Zum anderen aber passten sich Kirche und Frömmigkeit auch den neuen Wirtschaftsformen an, indem die Sprache der Religion merkantiler wurde: Bilder vom glücklichen Tausch in Bezug auf Gott verbreiteten eine Vorstel- lung, dass man sich sein Heil erwerben, ja sogar kaufen könne.4 Beide Ten- denzen verbinden sich zum Beispiel in der Ablasspredigt des Johannes von Paltz, der um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert wirkte: „Es lohnt sich nicht, über eine so geringe Gebühr zu sprechen, die man ausgeben muss. Mit ihr ‚kauft‘ man die Ablässe nicht, müssen doch bei einem Kauf das Geld und die Sache, die man erwirbt, von gleichem Gewicht oder Wert sein, die Ablässe aber sind unvergleichlich wertvoller als irgendwelche Gelder.“ Paltz wirbt für sein unschlagbar günstiges Angebot ganz im Stile eines Marke- ting-Mannes des 21. Jahrhunderts: „Welcher Mensch ist nämlich so arm, dass er nicht bei einer Kirchweih oder Fastnacht ebensoviel oder noch mehr für das Wohlbehagen seines Körpers ausgibt? In Rom muss man zwei Gulden für einen Beichtbrief geben, obwohl dieser nicht das großzügige Gnadenan- gebot enthält wie die Beichtbriefe, die hier für den vierten Teil eines Gulden zu erwerben sind.“5 Luthers Kritik am Ablass hatte also wenigstens zwei Stoßrichtungen: Zum einen war er empört über den konsumierenden Umgang mit dem Ablass. Er wollte nicht, dass die Menschen den Ablassbrief kauften wie einen Laib Brot, statt sich ernsthaft um ihre Sünden zu bekümmern und sich um ein Gott wohlgefälliges Leben zu bemühen. Er radikalisierte die geforderte Buße zu einer das ganze Leben bestimmenden Haltung; so in der berühmten ersten seiner 95 Thesen: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ usw., so will er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sein soll.“ Zum anderen aber trieb er die Traditionslinie, die die Barmherzigkeit Got- tes betonte, derart auf die Spitze, dass für eine wie auch immer vorgestellte Eigenleistung des Menschen kein Platz mehr blieb. Berndt Hamm spricht von einem „Quantensprung vom Minimum zum Nichts“: Es ist nicht mal ein bisschen Eigenleistung vom Menschen einzubringen, Gottes Gnade und Vergebung gibt es umsonst. Gnade ist damit kein ungleiches Tauschgeschäft zugunsten des Menschen mehr, wie es Johannes Paltz beschrieb, sondern reines Geschenk. Dieser Gedanke gehört seither zur DNA des Protestantismus, aber er war in der historischen Situation auch eine Provokation für den Ablass-Mono- polisten in Rom: Denn das Geschäft mit der Gnade war perdu, wenn sich durchsetzte, dass diese Gnade für jeden umsonst zu haben war. Dem Papst wurde von Luther die alleinige Verfügungsgewalt über die immaterielle Res- source „Erlass der Sündenstrafen“ bestritten. Das nach Maßgabe des Paps- tes knappe Heilsgut war auf einmal radikal entknappt: „Ein jeder Christ,

4 Dazu Berndt Hamm, Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhun- derts, in: „Jahrbuch für biblische Theologie“, 21 (2006), S. 239-275. 5 Zit. nach: Berndt Hamm, Ablass und Reformation, a.a.O., S. 133.

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der wahre Reue empfindet über seine Sünden, hat völlige Vergebung von Strafe und Schuld, die ihm auch ohne Ablassbriefe gehört. Ein jeder wahr- haftige Christ, er sei lebend oder tot, ist teilhaftig aller geistlichen Güter Christi und der Kirche durch Gottes Geschenk, auch ohne Ablassbriefe.“ (Thesen 36+37). Von hier aus wäre es nun eigentlich auch für Luther nicht weit gewesen, ebenso die Verfügungsgewalt über die materiellen Ressourcen der Christen- heit in Frage zu stellen. Denn auch die Güter der Erde gehörten nach damals geltender christlicher Lehre zuerst Gott und damit allen Menschen gemein- sam: Das Privateigentum war in der Theologie des Mittelalters (im Gegen- satz zur mittelalterlichen Jurisprudenz) noch schwach begründet als letztlich sinnvollste Verwaltung der eigentlich allen zustehenden Ressourcen. Der ursprüngliche Gemeinbesitz schimmert noch durch in der Pflicht der Rei- chen zum Almosengeben bzw. im Recht der Armen auf die Überschüsse der Reichen. Die Bauern, die ab 1525 den Aufstand probten, zogen denn auch die nahe- liegende Folgerung aus der Botschaft der Reformation, dass auch die mate- riellen Ressourcen allen zur Verfügung stehen sollten: So forderten sie, dass von geistlichen oder weltlichen Herren angeeignete Wälder wieder in den Besitz der „ganzen Gemeinde“ kommen sollen. Und es wird beklagt, dass „kein armer Mann Gewalt hat, das Wildbret, Geflügel oder Fisch in flie- ßendem Wasser zu fangen, welches uns ganz unziemlich und unbrüderlich erscheint, eigennützig und dem Wort Gottes nicht gemäß“, wo Gott doch dies alles „dem Menschen zu Nutz“ hat wachsen lassen.6 Die Bauern woll- ten einen gerechteren Anteil an den Gütern der Erde. Luther bestritt ihnen bekanntlich, dass sie sich dafür auf „sein Evangelium“ berufen könnten. Luther sah in der Bauernrevolte einen Aufstand gegen die Obrigkeit und damit gegen eine sinnvolle Ordnung Gottes. Warum aber?

Der radikalen Gnade entspricht der radikal sündige Mensch

Luther war durchaus kritisch gegenüber einigen wirtschaftlichen Erschei- nungsformen seiner Zeit. In seiner Schrift „Von Kaufhandlung und Wucher“ benennt er viele seiner Zeit gängige Wirtschaftspraktiken, die er kritisiert am Maßstab der Nächstenliebe.7 Wie vielen Theologen vor ihm waren ihm die Kaufleute eine der Sünde verdächtige Gruppe: „Erstlich haben die Kauf- leut unter sich eine gemeine Regel, das ist ihr Hauptspruch und Grund aller Finanzen, dass sie sagen: ‚Ich mag meine War so teuer geben, als ich kann.‘ Das halten sie für ein Recht, da ist dem Geiz der Raum gemacht und der Hölle Tür und Fenster alle aufgetan. Was ist das anders gesagt denn so viel: Ich frage nicht nach meinem Nächsten? Hätte ich nur meinen Gewinn und Geiz

6 Die 12 Artikel der Schwäbischen Bauern von 1525, http://stadtarchiv.memmingen.de/918.html, Artikel 4+5. 7 Vgl. dazu Odd Langholm, Martin Luther’s Doctrine on Trade and Price in Its Literary Context, in: „History of Political Economy“, 1/2009, S. 89-107.

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voll, was gehet michs an, dass er zehn Schaden meinem Nächsten tät auf ein- mal? […] Denn wo das Schalksauge und der Geizwanst hie gewahr wird, dass man seine War haben muss, oder der Käufer arm ist und seiner bedarf, da macht ers ihm nutz und teuer.“8 Luther empfand, das wird hier ganz deut- lich, noch einen Widerspruch zwischen dem christlichen Ideal der Nächsten- liebe und einer Preisfestsetzung nach Maßgabe dessen, was auf dem Markt zu erzielen ist.9 In derselben Schrift legt er nun dar, wie Christen eigentlich miteinander wirtschaften müssten: Sie sollten sich, wie Christus in der Bergpredigt gefor- dert habe, von anderen berauben lasse; sie sollten bereit sein, jedermann umsonst zu geben und etwas zu verleihen, ohne die Erwartung, es wieder zurückzuerhalten. Aber dann fällt Luther sich quasi selber ins Wort: „Ja, mit der Weise würde kein Handel auf Erden bleiben, würde einem jeglichen das Seine genommen oder abgeborget werden und den Bösen Faulfräßigen die Tür aufgetan, alles zu nehmen, zu betrügen und zu lügen, derer die Welt voll ist. Antwort: Hab ichs doch gesagt, dass Christen seltene Leute sind auf Erden. Darum ist in der Welt not ein streng, hart, weltlich Regiment, das die Bösen zwinge und dringe, nicht zu nehmen noch zu rauben und wiederzugeben, was sie borgen, auf dass die Welt nicht wüste werde, Friede untergehe und der Leute Handel und Gemeinschaft gar zunichte werde, welchs alles würde geschehen, wo man die Welt nach dem Evangelio regieren und die Bösen nicht mit Geset- zen und Gewalt treiben und zwingen sollte, zu tun und zu leiden, was recht ist.“10 Und danach folgen einige Ermahnungen, beim Kaufen und Verkaufen bestimmte Praktiken wie Monopol, Vorkauf und Kreditgeschäfte zu meiden. Diese Verbote enthalten zwar aus heutiger Perspektive noch eine gewisse Provokation, bewegen sich aber im Rahmen dessen, was unter scholasti- schen Theologen üblich war. Interessant aber ist der Gedankengang, wonach es eigentlich unter wahren Christen anders zugehen sollte als im normalen wirtschaftlichen Betrieb, dies aber nicht möglich sei, weil die Mehrheit der Menschen nun einmal – auch wenn sie nominell Christen sind – hoffnungslos böse sei. Aus dieser pessimistischen Anthropologie leitet sich dann Luthers Obrigkeitsauffassung ab: Die Obrigkeit muss – im Auftrag Gottes und damit die Ordnung in der Welt erhalten bleibt – mit Zwangsmitteln regieren; denn mit dem Evangelium kann man die Herzen leiten, aber nicht die äußere Welt regieren. Zu fragen wäre, ob diese pessimistische Anthropologie eine Nebenwir- kung der reformatorischen Botschaft ist: Der Rettung des Menschen allein aus Gottes Gnade entspricht logisch der radikal sündige Mensch. Gott erlöst den Menschen allein aus Gnade, weil der Mensch nichts zu seiner Erlösung dazu tun kann. Oder ist die Vorstellung, wonach der Mensch – jenseits von Gottes Gnade – unrettbar böse ist, ein Teil der spezifischen Zeitqualität der Lutherjahre, nämlich des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit?

8 WA XV, S. 294 f./Mü V, S. 116. 9 Vgl. dazu Christoph Fleischmann, Eine kleine Geschichte der Gier, in: „Blätter“, 12/2010, S. 95-104. 10 WA XV, 302/Mü V, S. 123.

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Luthers Obrigkeit und Machiavellis Fürst

Für Zweites spricht, dass es eine instruktive Parallele zu Luther gibt, die jedoch selten gezogen wird, weil die beiden Zeitgenossen tatsächlich nichts miteinander zu tun hatten. Wenn aber zwei Menschen zur selben Zeit unab- hängig voneinander – und unter unterschiedlichsten ideologischen Voraus- setzungen – zu ähnlichen Ideen kommen, könnte es sein, dass hier eine Idee „in der Luft lag“: Die Rede ist von Niccolò Machiavelli und seinem im Jahr 1513 verfassten Ratgeber für den Fürsten „Il principe“. Anders als die Fürs- tenratgeber vor ihm will dieser nicht beschreiben, wie man leben sollte, son- dern „die Wahrheit nachprüfen, wie sie wirklich ist“. Keine Illusionen also mehr über die Moral der Herrschenden: Wer sich nach dem Sollen richte, statt danach, wie die Welt wirklich funktioniere, der stürze sich ins Verderben, statt für seine Erhaltung zu sorgen. „Denn ein Mensch, der in allen Dingen nur das Gute tun will, muss unter so vielen, die das Schlechte tun, notwendig zugrunde gehen. Daher muss ein Fürst, der sich behaupten will, imstande sein schlecht zu handeln, wenn die Notwendigkeit es erfordert.“11 Nun würde man Luther unrecht tun, wenn man seine Lehre von den zwei Regimentern so verstehen würde, als sei der weltliche Herrscher vom Gebot Gottes befreit; an diesem Punkt geht Machiavelli weiter. Aber auch Luther sieht eben zwei unterschiedliche Weisen, wie Gott in der Welt regiert: ein- mal durch das Evangelium mit den Mitteln des Wortes, also der Überzeu- gung, und der Liebe; und andererseits, in weltlichen Belangen, durch die weltliche Obrigkeit mit dem Schwert und dem gesetzlichen Zwang. Und auch der davorliegende Gedanke verbindet Machiavelli mit Luther: Weil die Menschen in Machiavellis Worten „undankbar, wankelmütig, falsch, feige in Gefahren und gewinnsüchtig sind“,12 brauchen sie eine starke Obrigkeit, damit die Ordnung der Welt nicht in Gefahr gerät. Würde man in weltlichen Belangen nach dem christlichen Ideal leben, würde man zur Beute der Bösen. Man hat Luther dafür gelobt und tut dies wieder aus Anlass des Refor- mationsjubiläums, dass er mit seiner Lehre von den zwei Regimentern die Trennung von Kirche und Staat vorbereitet habe, indem er den weltlichen Bereich von religiösen Ansprüchen befreit und dem Bereich der Religion eine gewisse Eigenständigkeit gesichert habe. Doch damit tut man ihm zu viel der Ehre: Luther ging es keineswegs um eine Trennung von Kirche und Staat – das waren eigentlich erst die Ergebnisse der blutigen Religionskriege. Hinter Luthers Lehre stand entweder eine Versöhnung mit den Verhält- nissen, mit denen er sich dann doch nicht anlegen wollte (das erklärt wenigs- tens zum Teil seine Stellungnahmen zum Bauernkrieg), oder aber eine durchaus glaubwürdige Enttäuschung über die Möglichkeiten des Men- schen. Und auch hier spielte der Ausgangspunkt seiner Auflehnung, näm- lich der Zustand der katholischen Kirche, eine entscheidende Rolle: Luther wie Machiavelli hatten Päpste vor Augen, also die Anführer der Christen-

11 Niccoló Machiavelli, Der Fürst. Mit einem Nachwort von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1990, Kap. XV, S. 78. 12 Machiavelli, a.a.O., Kap. XVII, S. 83.

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heit, die das Ideal der damaligen Gesellschaft repräsentieren sollten, die aber – uneingedenk dieser Funktion – die Menschen nassforsch zum eigenen Vorteil betrogen und eine ungenierte Machtpolitik im Interesse der eigenen Familie verfolgten. Zudem erlebten beide Autoren in den Städten ihrer Zeit eine Wirtschaft, die ebenfalls am christlichen Ideal scheiterte: Das Zinsver- bot wurde zur Makulatur, weil die Wirtschaft, aber auch die Kirche und das politische Gemeinwesen letztlich nur noch mit Kredit funktionierten. Dieser Widerspruch konnte jedoch je länger desto weniger als Fehlverhalten Einzel- ner abgetan werden; er wurde vielmehr für die Zeitgenossen je nach ideo- logischem Temperament zum Signum der sündigen, habgierigen, auf den eigenen Vorteil bedachten Welt – oder eben der Welt, „wie sie wirklich ist“. Machiavelli spricht denn auch von „Selbsterhaltung“, ein Gedanke, der in der frühen Neuzeit Karriere machen wird: dass das Verhalten der Menschen letztlich (nur) von Eigeninteresse geleitet sei.13 Der Philosoph und Histori- ker Franz Borkenau schrieb Anfang der 1930er Jahre, dass die Antinomie zwischen Trieb und Norm im Menschenleben das Kernstück der philoso- phischen Problematik in der frühen Moderne gewesen sei.14 Das heißt: Der Menschen will nicht, was er soll. Seine ihm eingeschriebenen Triebe führen nicht zum sozial erwünschten Ergebnis. Das Mittelalter sei demgegenüber noch von dem Optimismus getragen gewesen, dass der Mensch auf ein Ziel, eine göttliche Bestimmung hin, angelegt sei und deswegen dieses Ziel in einer göttlichen (Sozial-)Ordnung auch erreichen könne.

Was zum Menschsein nötig ist

Wenn es stimmt, das hier eine entscheidende Bruchlinie zwischen dem Mit- telalter und der Neuzeit verläuft, dann hieße das in Bezug auf Luther, dass seine Modernität gerade darin bestand, dass er die pessimistische Anthro- polgie der Neuzeit religiös bekräftigte. Nach Franz Borkenau leisteten die Reformatoren „die Übertragung des bei Machiavelli bloß als praktische Maxime vorhandenen moralischen Pessimismus auf das religiöse Gebiet, machen ihn dadurch prinzipiell, vernichten jede theoretische Möglichkeit eines mittelalterlichen Staatsideals, das auf den Zusammenfall von individu- ellem Trieb und objektiver Moral beruht, und schaffen dadurch Raum für ein modernes regimentales Staatsideal.“15 Das heißt, der Staat muss den nur zur Sünde fähigen Menschen beherrschen oder wenigstens disziplinieren; und für diesen Zweck wird der Staat vom christlichen Ideal mehr oder weniger befreit. Diese pessimistische Anthropologie hat später eine zusätzliche Rechtferti- gung im Glauben an den gemeinwohlfördernden Eigennutz in der liberalen Wirtschaftstheorie seit Adam Smith bekommen.16 Damit stand der regimen-

13 Vgl. dazu Pierre Force, Self-Interest before Adam Smith. A Genealogy of Economic Science, Cam- bridge 2003. 14 Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1980, S. XI. 15 Borkenau, a.a.O., S. 104. 16 Vgl. dazu Christoph Fleischmann, Der grüne Papst, in: „Blätter“, 1/2016, S. 108-110.

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talen noch eine zweite Lösung zur Seite, mit dem radikal bösen Menschen umzugehen. Die dritte Möglichkeit aber, mit Hilfe einer vernünftig und gemeinsam gestalteten Ordnung die negativen Eigenschaften des Menschen zu begren- zen und die positiven zu entfalten, wurde tendenziell als Utopie ausgegrenzt aus dem Diskurs über die jeweils aktuelle Politik. Die naheliegende ökono- mische Konsequenz aus Luthers Ablasskritik wäre – und ist bis heute – ja die Frage, wer mit welchen Gründen auf die materiellen Ressourcen ein Preis- schild kleben darf? Wenn Gottes Güte allen Menschen umsonst zugänglich ist, warum dann nicht auch Gottes Güter – zumindest soweit sie lebensnot- wendige Bedürfnisse betreffen? Für Berndt Hamm würde die Überführung der Gnadenlehre Luthers in eine Gesellschaftstheorie bedeuten, „dass es eine Teilhabe an allen Gütern der Gemeinschaft gibt unabhängig von meiner Leistung.“17 So gesehen liefe die lutherische Gnadenlehre auf die Förderung von Gemeineigentum oder freien Zugang zu Grundgütern hinaus – all das, was man heute unter dem Stichwort Commons verhandelt. Und wenn Silke Helfrich, Publizistin und Commons-Aktivistin, die Idee der Commons erklärt, dann klingt das tat- sächlich wie eine ökonomische Analogie zur lutherischen Rechtfertigungs- lehre: „Wenn wir uns zu dieser Haltung durchringen können, dass Mensch- sein an sich bedeutet, dass wir teilhaben an den Ressourcen dieser Erde, die uns geschenkt worden sind, und wenn wir dann versuchen, die Ressourcen dieser Erde so gemeinschaftlich zu verwalten, dass wir es nicht abhängig machen von der Leistung des Einzelnen und dem Geldeinkommen des Ein- zelnen, das wäre tatsächlich ein Paradigmenwechsel. Denn da geht es um die Frage, wie wir uns zu dem Anderen verhalten und wie wir dafür sorgen können, dass alle mitkommen und niemand ausgeschlossen wird.“18 Das entspräche auch Luthers Forderung an die Kaufleute, beim Wirtschaften den anderen als Nächsten, also als bedürftigen Menschen, mitzubedenken – und gerade nicht nur als Konkurrenten oder Kunden. Aber die Idee der Commons ist leider ein hervorragendes Beispiel für eine heute so übliche Ausgrenzung als weltfremde Utopie, die am vermeintlich unveränderbaren Eigennutz der Menschen scheitert. Die These, dass Com- mons zwangsläufig durch den menschlichen Egoismus ruiniert werden, wird freilich durch die Arbeiten der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom deutlich in Frage gestellt. Leider ist jedoch nicht zu sehen, dass das Reformations- jubiläum diesem so wichtigen Thema Auftrieb geben wird, genauso wenig wie einem bedingungslosen Grundeinkommen, was eine andere Form sein kann, die Befriedigung von Grundbedürfnissen von der jeweiligen Leis- tungsfähigkeit abzukoppeln. Es scheint, als habe die pessimistische Anthro- pologie Luthers im Protestantismus stärker gewirkt als seine zentrale Bot- schaft, dass Gottes Güte und Güter ein Geschenk an alle Menschen sind.

17 Berndt Hamm in der Radiosendung „Religionen“, Deutschlandradio Kultur, www.deutschland- radio.de, 16.4.2017. 18 Silke Helfrich ebenfalls in der Radiosendung „Religionen“, Deutschlandradio Kultur, www. deutschlandradio.de, 16.4.2017.

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201705_Buch.indb 49 19.04.17 10:47 AUFGESPIESST

Eines ist sicher in diesen unsicheren Dabei liegt Petrys übergeordnetes Ziel Zeiten: Auf die deutsche Rechte kann auf der Hand: Ohne die rechten Grenz- man sich verlassen, jedenfalls seit 1945. gänger verprellen zu wollen, sucht Immer wenn die Macht in Reichwei- sie den karrieristischen Weg in die te kommt, wütet der Freund-Feind- Mitte – als „bürgerliche Volkspartei“. Gegensatz in den eigenen Reihen. So „Die AfD sollte daher perspektivisch auch in der AfD. Dabei immer im Mit- Bereitschaft zur Koalitionsfähigkeit telpunkt: der unvermeidliche Björn besitzen“, so der von ihr formulierte Höcke und seine Hauptrivalin Frauke Leitantrag. Dabei wandelt sie mit ihrer Petry. „realpolitischen Strategie“ (O-Ton Pe- try) ganz bewusst auf den Spuren von Joschka Fischer und Daniel Cohn- Auf die Rechte Bendit – gegen die „fundamentaloppo- sitionelle Strategie“ (dito) ihres Stell- ist Verlass vertreters Alexander Gauland. Petrys Plan: Ohne die Störenfriede von der Fundi-Front gelte es, „ab der zweiten Ginge es noch nach der Parteivor- Legislaturperiode relative Mehrheiten sitzenden, würde das Grundsatzpro- in den Parlamenten zu realisieren“. gramm um eine neue Passage, böse Eines könnte die ehrgeizige Partei- Zungen sagen: um eine „Lex Höcke“, führerin dabei allerdings übersehen ergänzt. Demnach wäre in der AfD für haben: Die Grünen leisteten sich ihren „rassistische, antisemitische, völkische Flügelstreit erst nach dem ersten Ein- und nationalistische Ideologien kein zug in den Bundestag im März 1983. Platz“. Dumm nur, dass das, was gegen Erst dann wanderten die als Fundis Höcke und Co. gerichtet sein soll, auch Diffamierten alsbald wieder frustriert die Parteivorsitzende selbst meinen zurück in die außerparlamentarische könnte. Schließlich wollte sie noch im Opposition – von Thomas Ebermann vergangenen Jahr den von den Natio- und Rainer Trampert über Jutta Dit- nalsozialisten gern und oft gebrauch- furth bis zu Petra Kelly, die schon vor ten Begriff „völkisch“ positiv besetzen. ihrer Ermordung durch Heute will sie davon offensichtlich von den Realos faktisch ausgemustert nichts mehr wissen, scheint der von ihr worden war. Am Ende waren dann die geforderte Passus rassistisch und völ- Strategen der Macht weitgehend unter kisch gleichzusetzen. Vielleicht sieht sich, lediglich notdürftig flankiert von Petry ja deshalb seither in der AfD den der sogenannten Regierungslinken „Garanten jüdischen Lebens“, ja sogar um Ludger Volmer und Jürgen Trittin. die „Schutzmacht des Judentums“, al- Dabei musste selbst Hyper-Realo len Protesten zum Trotz. Winfried Kretschmann 30 Jahre später Man wollte ja zu gerne an eine ech- eingestehen, dass der Moralismus Petra te Läuterung glauben, wenn nicht Kellys für den Wahlsieg entscheidend schon das von Petry betriebene Aus- war: „Ohne Kelly hätte es die Grünen schlussverfahren gegen Höcke wieder kaum gegeben.“ Kurzum: Hätten sich so wunderbar eindeutig zweideutig die Grünen den Spaltungskrieg bereits wäre. Denn wie lautet der eigentliche vor der Wahl geliefert, wer weiß, ob sie Ausschlussgrund: Höcke diskreditiere heute überhaupt existierten. Es besteht durch seine „übergroße Nähe zum Na- also durchaus noch Hoffnung, dass tionalsozialismus“ die gesamte AfD. die AfD sich selbst den Garaus macht. Anders ausgedrückt: Für die ganz nor- Frauke Petrys Frühjahrsoffensive sei mal große Nähe zum Nationalsozialis- Dank. mus muss in der AfD allemal Platz sein. Albrecht von Lucke

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201705_Buch.indb 50 19.04.17 10:47 Das Ost-West-Konstrukt Wie alte Grenzen neu gezogen werden

Von Ulrich Menzel

renzziehungen zur Definition des Eigenen und des Fremden, zur Bil- G dung lokaler, regionaler, nationaler oder auch Nationalstaaten über- greifender geopolitischer Identitäten1 sind immer Konstrukte. Ihr jeweiliger Verlauf und ihre Reichweite sind dem gegebenen Anlass entsprechend varia- bel – und bedeuten zugleich immer Ausgrenzungen gegenüber jenen, die nicht dazugehören sollen: Protestanten gegen Katholiken, Lutheraner gegen Calvinisten, Islam gegen Christentum, Sunniten gegen Schiiten, Osteuropa gegen Westeuropa, Deutschland gegen Frankreich, Bayern gegen Preußen, Hannover 96 gegen Eintracht Braunschweig. Die älteste dieser Grenzziehungen mit der größten Reichweite, soweit die damals bekannte Welt als Ganze ins Blickfeld genommen wurde, war die zwischen Osten und Westen – oder genauer: zwischen Asien und Europa, zwischen Morgenland und Abendland, zwischen Orient und Okzident. Sie geht zurück bis auf die Antike, als bereits Aristoteles den Gegensatz zwi- schen der Demokratie der griechischen Polis und der Despotie des persi- schen Königs herausstellte. Die Kriege zwischen den Griechen und Persern sowie später den Römern und Parthern waren der militärische Ausdruck dieser Grenzziehung. Seit der europäischen Aufklärung wurde dieser Gegensatz festgeschrieben, etwa bei Montesquieu in den „Persischen Briefen“ (Lettres Persanes), die zwei fiktive Perser anlässlich ihres Parisaufenthaltes in die Heimat senden und darin in einer Mischung aus Staunen und Verständnislosigkeit, Spott und Missbilligung die kulturellen und politischen Verhältnisse des zeitgenössi- schen Frankreichs schildern,2 oder auch bei Hegel, in dessen Philosophie der Geschichte die stagnierende orientalische Welt der fortschreitenden griechi- schen, römischen und germanischen Welt gegenübergestellt wird. In diese Tradition gehört auch die von Karl Marx popularisierte „Asiatische Produk- tionsweise“, die sich gerade nicht in den fortschrittsfördernden Kapitalismus transformiert wie der europäische Feudalismus. Friedrich Engels sprach in diesem Zusammenhang sogar von den „geschichtslosen Völkern“.

1 Das kann geschehen durch die Bildung von politischen Unionen, Werte- und Wirtschaftsgemein- schaften oder Sicherheitspartnerschaften. 2 Dieses zentrale Werk der Aufklärung wurde gleichsam über Bande gespielt. Obwohl es den Kultur- relativismus propagierte, wurde es in Frankreich verboten und konnte nur anonym in Amsterdam erscheinen.

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201705_Buch.indb 51 19.04.17 10:47 52 Ulrich Menzel

Einflussreicher als Marx‘ entwicklungstheoretische Schriften über die nicht- europäische Welt (Indien, China und Russland) waren Max Webers religions- soziologische Studien über die Ethik der Hochreligionen. In ihnen stellte er die den Geist des Kapitalismus fördernde „Protestantische Ethik“ der die Entwicklung blockierenden mystischen Weltflucht von Hinduismus und Buddhismus gegenüber, wie auch dem die fatalistische Schickung in die Welt fordernden Islam. In den 1950er/60er Jahren schließlich wurden die ameri- kanische Modernisierungstheorie und ihre Zwillingsschwester, die „Com- parative Politics“, zur theoretischen Folie eines ganz neuen Politikfeldes – der Entwicklungshilfe – die wiederum dezidiert nichtwestlichen Gesellschaften helfen sollte, zu modernen zu werden, nach amerikanischem Vorbild. In all diesen Schriften wurde ein idealtypischer Gegensatz konstruiert: auf der einen Seite der sich aufklärende, das finstere Mittelalter (The Dark Ages) verlassende, die Welt entzaubernde Okzident, in dem es gelingt, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik, Bildung und Ausbildung alle Lebensberei- che dem Rationalitätsprinzip zu unterwerfen. René Descartes, Isaac Newton oder David Ricardo sind nur einige der Leuchttürme auf dem Weg zur ratio- nalen Durchdringung der Welt und der Beherrschung der Natur durch die Erkennung ihrer Gesetze. Auf der anderen Seite der Orient, wo in allen Dimensionen angeblich das glatte Gegenteil herrschte, also Zentralismus, Bürokratismus, Klientelismus, Despotie, Einheit von Kirche und Staat, Unaufgeklärtheit, Fanatismus, Hedo- nismus, Traditionalismus, Renten- statt Profitorientierung und Stagnation. Das Material für dieses Bild des Orients lieferten neben den Schriften der abendländischen Großtheoretiker die Reisebeschreibungen und Tagebü- cher, aber auch nicht zuletzt die fiktive Literatur von Abenteuerschriftstel- lern, Seefahrern und Entdeckern, Kaufleuten und Missionaren, Forschungs- und Gesandtschaftsreisenden – im 19. Jahrhundert insbesondere auch die zahlreichen Beschreibungen privater Reisender. Am prominentesten von allen: Karl May, der selbst nie im Orient war, aber von allen gelesen wurde. Der in den USA lebende Palästinenser Edward Said hat dieses Konstrukt des Ostens in seinem einflussreichen Buch „Orientalismus“ genannt.3 Umgekehrt diente seit Ende des 19. Jahrhunderts ein kaum weniger ideal- typisches Konstrukt des „Westens“ den intellektuellen Oppositionsbewegun- gen in orientalischen Ländern zur programmatischen Folie ihrer Moderni- sierungsbestrebungen. Diese gab es nicht nur in Russland unter dem Begriff „Westler“, sondern gleichermaßen auch in der Türkei, in Ägypten, in China und in Japan, in Siam und anderen asiatischen Ländern. Selbst die Eliten der afrikanischen Befreiungsbewegungen der 1950er/60er Jahre bezogen sich noch auf ein Gedankengut, das sie in Paris oder London erfahren hatten. Geographisch wurde der Orient im Zuge der Entdeckungsfahrten und der europäischen Welteroberung immer weiter ausgedehnt. Er erstreckte sich

3 Die „Persischen Briefe“ waren das Gegenstück zu den „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“. Absicht der genannten Autoren war es entweder, einen dauerhaften Kulturrelativismus und damit den Bestand der Grenzen und Gegensätze zu propagieren oder einen Universalismus, der diese Grenzen perspektivisch aufheben sollte.

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schließlich vom Osmanischen Reich über Persien und Indien bis nach China und Japan, wobei teilweise auch das „halbasiatische“ Russland dem Orient zugeschlagen wurde. Während die Portugiesen noch pauschal von „Indien“ bzw. der Welt des „Indischen Ozeans“ gesprochen hatten, nachdem sie auf- gebrochen waren, den Seeweg nach Indien zu finden, wurde die Begriff- lichkeit mit dem Aufkreuzen der Holländer und Engländer differenzierter, unterschied man seitdem Britisch-Indien von Niederländisch-Indien und Indochina, Ostindien von Westindien. Der „Ferne Osten“ begann nun bereits jenseits von Aden. Die heute immer noch gebräuchliche Unterscheidung zwischen dem Nahen, dem Mittleren und dem Fernen Osten, die selbst in Amerika verwendet wird, obwohl von dort aus diese Regionen im Westen lie- gen, unterstreicht die eurozentrische, mehr als nur geographisch gemeinte Grenzziehung. Der Nullmeridian verlief zu Zeiten der Portugiesen durch die westlichste Kanareninsel Hierro und seitdem immer noch durch die Stern- warte von Greenwich bei London. Sogar die Unterteilung der zusammenhängenden Landmasse der östli- chen Hemisphäre in die drei Erdteile Europa, Asien und Afrika ist eine sol- che Konstruktion, da jene nicht mit kongruenten Kulturräumen identisch sind. So erstreckt sich der Kulturraum des Islam von Marokko ganz im Wes- ten Nordafrikas bis in den fernen Westen von China sowie die indonesische Inselwelt und hat als Erbe des Osmanischen Reiches Spuren auf dem Balkan und im Kaukasus hinterlassen.

Europa, Asien und Afrika als geographische Konstruktionen

Auch die Grenze zwischen Europa und Asien ist ein Konstrukt, ist Europa im geographischen Sinne doch kein eigener Kontinent, sondern nur der west- liche Appendix der eurasischen Landmasse. Zwischen 1570 (durch Abraham Ortelius) und 1963 (durch Wilhelm Müller-Wille) lassen sich 13 von Geo- graphen gezeichnete Grenzen zwischen Europa und Asien identifizieren. Am prominentesten ist die von Philipp Johan von Strahlenberg (1730), die jener auf der Suche nach einer vermeintlich natürlichen Grenze den Ural bestimmte – obwohl die Birkenwälder hinter dem Ural genauso aussehen wie vor dem Ural. Ein delikates Problem liegt wiederum im Südosten, wo Strah- lenberg ersatzweise den Kaukasus als Grenze bestimmte. Demnach liegt das christliche Georgien in Asien, das muslimische Tschetschenien in Europa. Die am weitesten im Westen liegende Grenze zog Ewald Banse (1912). Sie verläuft von St. Petersburg bis zur Mündung der Donau ins Schwarze Meer, schließt gerade noch die baltischen Staaten ein, definiert aber bereits Weiß- russland und die Ukraine aus Europa heraus. Hier zeigt sich besonders deut- lich: Die eigentliche Logik der Grenzen Europas entspricht den Interessen des jeweiligen Auftraggebers. Der russische Zar wollte eine Grenze weit im Osten, um möglichst viel von Russland nach Europa zu verlagern, ein west- europäischer Machthaber eine Grenze möglichst weit im Westen, um Russ- land herauszudefinieren.

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201705_Buch.indb 53 19.04.17 10:47 54 Ulrich Menzel

Auch innerhalb Europas führen alte Grenzen ein zähes Leben – etwa die Grenze zwischen West- und Ostrom bzw. der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche, die Grenze zwischen dem Habsburger Reich und dem Osmanischen Reich auf dem Balkan oder die Grenzen des Reichs Karls des Großen, die in etwa identisch sind mit dem, was man heute unter „Kerneuropa“ versteht.

Nach 1945: Westen und Osten, Norden und Süden als politisch-militärische Begriffe

Seit dem Zweiten Weltkrieg lieferte die Geographie erneut die Begrifflich- keit für großräumige Grenzziehungen, wenn auch die Verwendung der Begriffe Westen und Osten nicht mehr der alten von Okzident und Orient ent- sprach. Gemeint waren im engeren Sinne die Verteidigungsgemeinschaften des Westens und des Ostens mit ihrem organisatorischen Ausdruck von Nato und Warschauer Pakt. Der Ost-West-Konflikt war demzufolge in erster Linie sicherheitspolitisch bestimmt. Erst in zweiter Linie war er auch ein Gegen- satz von Marktwirtschaft und Planwirtschaft, von Liberalismus und Sozialis- mus oder von Demokratie und sogenannter Diktatur des Proletariats. In der angeblichen „Stunde null“ im Mai 1945 wusste jeder Deutsche sofort, ob er zu den Verlierern oder Gewinnern des Krieges gehörte. Das im Westen gebräuchliche Begriffspaar „Freier Westen“ und „Ostblock“ korrespondierte im Osten mit den Begriffen „Lager des Imperialismus“ und „Weltfriedensla- ger“. Auf diese Weise war es möglich, auch solche Länder als dem westlichen oder östlichen „Lager“ zugehörig zu definieren, die über Militärbündnisse und/oder eine verwandte ordnungspolitische oder ideologische Grundorien- tierung der einen oder anderen Seite verpflichtet waren. Der „Osten“ begann an der Elbe und endete am 38. Breitengrad, der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea, mit isolierten Ablegern in Südostasien, der Karibik und Afrika, während umgekehrt Länder des „Fernen Ostens“ wie Japan oder Taiwan, manchmal auch muslimische Länder – wie der Iran zu Zeiten des Schahs oder Saudi-Arabien –, zum Westen gezählt wurden. Auch die Begriffe „Norden“ und „Süden“ dienten einer solchen Grenzzie- hung. Der „Norden“, das waren die modernen Industriegesellschaften der OECD, am einfachsten mess- und damit abgrenzbar über ein Mindest-Pro- Kopf-Einkommen oder andere quantifizierbare Entwicklungsindikatoren wie Alphabetisierungsrate oder durchschnittliche Lebenserwartung. Der „Süden“, das waren die vormodernen oder nur teilmodernisierten Agrar- gesellschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika, die bestimmte Ausprä- gungen dieser Indikatoren nicht erreichten. Die jährlichen Ranglisten des seit 1978 erscheinenden Weltentwicklungsberichts der Weltbank mit ihren zusammenfassenden Gruppierungen sind ein schönes Beispiel für eine sta- tistische Art der Grenzziehung, wobei die Weltbank immer neue Akronyme kreierte, den Süden begrifflich zu differenzieren. Zum Norden konnten so ohne weiteres Australien, Neuseeland und selbst das Südafrika zur Zeit der

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Apartheid, obwohl alle auf der südlichen Halbkugel gelegen, gehören, nicht aber die europäischen Siedlerkolonien Argentinien, Chile und Uruguay, während Mexiko oder das Nato-Land Türkei zum Süden gezählt wurden, auch wenn beide geographisch auf der nördlichen Halbkugel liegen. Der französische Demograph Alfred Sauvy hat 1952 den Begriff „Tiers Monde“ (Dritte Welt) und den Begriff „Tiers Mondisme“ im Sinne von Drit- te-Welt-Bewegung geprägt. Der Begriff war emanzipatorisch gemeint, da an den „Dritten Stand“ der Französischen Revolution erinnernd. Er war ein strukturalistisches Konstrukt der Nachkriegsordnung, indem er unter- stellte, dass die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen und insofern, wie einst der Dritte Stand, auch zu gemeinsamen Aktivitäten im Sinne des Tiers Mondisme fähig seien, ihre Interessen gegen die Erste und Zweite Welt durchzusetzen. Die 1955 im indo- nesischen Bandung gegründete Blockfreienbewegung war der politische Ausdruck dieses Denkens. Später hat der Begriff eine Umdeutung im Sinne von arm, rückständig, unterentwickelt, ja sogar eine abwertende Konnota- tion im Sinne von „drittklassig“ erhalten. Auch wenn er heute keinen Sinn mehr macht, führt er ein zähes Eigenleben. Seit einiger Zeit wird er durch den Begriff „globaler Süden“ ersetzt, um die abwertende Konnotation der Reihung zu vermeiden. Was bei Sauvy positiv besetzt war, hatte sich in sein Gegenteil verwandelt. Seit Anfang der 1950er Jahre bestand dagegen der harte Kern des Westens in der Schnittmenge aus der Sicherheitsgemeinschaft der Nato, der Industrie- gemeinschaft der OECD, der Wertegemeinschaft der durch die Aufklärung geprägten Länder und gegebenenfalls sogar der Glaubensgemeinschaft des Christentums, bestehend aus den Ländern beiderseits des Nordatlantiks. „Atlantizismus“ lautete der korrespondierende, aber unkorrekte politische Begriff, lagen doch Brasilien und Angola auch beiderseits des Atlantiks, nur dass diese keine britischen, sondern portugiesische Kolonien gewesen waren. Also spielte auch die Identität der früheren Kolonialmacht eine Rolle bei der Semantik des Begriffs. Je nach Problemlage konnten dennoch neu- trale Staaten wie die Schweiz, Schweden, Österreich und Finnland, ferner Israel, Japan, Südkorea, Südvietnam, Taiwan, Hongkong, Australien, Süd- afrika oder die Türkei, selbst arabische Feudalstaaten wie Saudi-Arabien durchaus dem Westen zugeschlagen werden. Dieser ging dann in der weiter gefassten begrifflichen Entität der „freien Welt“ auf. Dass gerade die Ölstaa- ten am Persischen Golf weit entfernt waren von dem, was man im Westen unter Freiheit verstand, wurde dabei geflissentlich ausgeblendet.

Nach 1989, der Westen als Exempel: Jede Identität unterliegt der Anpassung

Geopolitische Identitäten stehen aber nicht für alle Zeiten fest, sondern bedürfen der dauernden Rekonstruktion bzw. Anpassung an neue Gegeben- heiten. Sie müssen immer wieder durch intellektuelle Anstrengungen, durch politische Praxis und die darum geführte Auseinandersetzung im Bewusst-

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201705_Buch.indb 55 19.04.17 10:47 56 Ulrich Menzel

sein der Menschen verankert werden. Genau diese Situation schien nach 1990 wie nach 1945 erneut gegeben, weil die vertraute Identität des Westens brüchig geworden war. Dafür gab es fünf Ursachen. Erstens: Der Zusammenbruch des Sozialismus, der Untergang des sowje- tischen Imperiums und die Auflösung von Warschauer Pakt und Comecon hatten nicht nur das alte sicherheitspolitische Verständnis von Westen und Osten erschüttert, sondern auch neue bzw. ganz alte Grundsatzfragen aufge- worfen, weil auch das ordnungspolitische und das ideologische Gegenstück des Westens weggebrochen war. Bedeutete die doppelte Transformation der ehemaligen Länder des „Ost- blocks“ in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie, dass damit auch die anderen Facetten des Ost-West-Gegensatzes aufgehoben waren, dass diese Länder seitdem gar in toto zum Westen gehörten? Reichte damit der Westen bis zum Ural oder gar bis Wladiwostok im Osten und bis zum Kaukasus im Süden? Wenn man nur berücksichtigt, wer mittlerweile alles beim Eurovi- sion Song Contest oder bei der Fußballeuropameisterschaft der UEFA mitsin- gen oder mitspielen darf, dann scheint einiges für diese These zu sprechen. Sollten bzw. durften demnach alle jene Länder zum Westen gehören, die wollten, oder nur diejenigen, die in diesem Transformationsprozess erfolg- reich waren? Oder trat nach 1990 an die Stelle sicherheits- und ordnungspoli- tischer Kriterien wieder die alte Vorstellung einer christlich-weströmischen Kultur- und Wertegemeinschaft, die die orthodoxen Nachfolgestaaten Ost- roms, also die Glaubensgemeinschaft der russisch-orthodoxen, der serbisch- orthodoxen, der bulgarisch-orthodoxen Kirche ausschließt? Zweitens: Der damals nicht mehr zu leugnende Industrialisierungsprozess in Ost- und Südostasien hatte aus den früheren „Ländern der Dritten Welt“ Schwellenländer gemacht, die wiederum in solche der ersten, zweiten und dritten Generation unterteilt wurden. Nach den vier Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur wurden die meisten ASEAN-Länder dazu gezählt und zu potentiellen OECD-Kandidaten. Solange sich die asiatische OECD-Mitgliedschaft auf Japan beschränkt hatte, war das Land, zumal es in enger Sicherheitspartnerschaft mit den USA verbunden war, ohne Umschweife als eine Art Ehrenmitglied dem Westen zugeschlagen worden. Es hatte sich durch seine bereitwillige Imitation westlicher Institutionen und Adaption westlicher Technik seit der Meiji-Restauration als gelehriger Schü- ler erwiesen. Die „Verwestlichung“ der kemalistischen Türkei oder Russlands seit Peter dem Großen, der Zar und Zimmermann sein wollte, ist demgegenüber nie so richtig als solche akzeptiert worden. Gehörten jetzt auch Südkorea und Tai- wan, Singapur und Hongkong, demnächst Malaysia, Thailand und Indone- sien zum Westen? Und vor allem: Welchen Einfluss auf diese Frage hatte die sich beschleunigende Industrialisierung Chinas nach der Öffnung des Lan- des im Jahre 1978? Dass es in China nach dem Pekinger Frühling nicht zur Abdankung der Kommunistischen Partei gekommen ist, sondern zur militä- risch erzwungenen Restauration ihrer Herrschaft, war so gesehen sogar hilf- reich, weil man die Frage unbeantwortet lassen konnte. Es blieb angesichts

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des anhaltenden wirtschaftlichen Reformprozesses allerdings der Zweifel, ob Industrialisierung nicht doch mit einem autoritären System vereinbar ist, das zwar westliche Konsummuster übernimmt, aber westliche Werte explizit nicht akzeptiert. Zumindest die Kriterien „moderne Industriegesellschaft“ und „marktwirtschaftliche Grundorientierung“ (in den meisten) und „Demo- kratisierung“ (in manchen) der genannten Fälle waren somit gegeben.4

»Versüdlichung« des Nordens und »Dekonstruktion« des Westens

Drittens: Die demographische Entwicklung in vielen Ländern, die zum eigentlichen Kern des alten Westens gehörten, hatte Anlass zur These gege- ben von der sich abzeichnenden „Versüdlichung“ des Nordens und damit der „Dekonstruktion“ des Westens im Faktischen. Aufgrund von Migration und unterschiedlichem generativen Verhalten der zugewanderten nichtweißen Ethnien wurde beispielsweise für die USA prognostiziert, dass dort etwa im Jahre 2050 die Latinos, Asiaten und Afroamerikaner zusammen einen größe- ren Anteil an der Bevölkerung als die Abkömmlinge europäischer Einwan- derer stellen. Würden dann die USA, insbesondere deren südliche und west- liche Bundesstaaten, noch zum Westen gehören? Ähnliche Überlegungen gab es in Australien hinsichtlich der dortigen beträchtlichen asiatischen Ein- wanderung. In Europa wurde diese Debatte insbesondere in Frankreich mit seiner nordafrikanischen Einwanderung geführt, die manche Autoren von Frankreich als der „Banlieue des Islam“ sprechen ließ. In Deutschland riefen die türkischen, in Großbritannien die indischen und pakistanischen, in den Niederlanden die Einwanderer aus Surinam und den Molukken, in Italien die albanischen und rumänischen Einwanderer ähnliche Reaktionen her- vor. Der Migrationsdiskurs trug jedenfalls zu neuen Grenzziehungen inner- halb des Westens bei, die manchmal quer durch die großen Städte verliefen und sich auch im Straßenbild wiederfinden ließen, sobald die angestammten Bewohner die von Migranten bevölkerten Viertel verließen. Viertens: Die Fundamentalisierung in etlichen islamischen Ländern, die auch vormals explizit laizistische Staaten wie die Türkei, Ägypten oder Alge- rien erfasst hatte, ließ auch die Südgrenze des Westens in Europa plastischer werden. Das Mittelmeer, das nicht nur während des Römischen Reiches, son- dern auch noch zu Zeiten der italienischen Fernhandelsstädte Genua, Pisa und Venedig ein integrierter Raum war, in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ sogar literarisch verarbeitet, wurde zur Grenze. Die Türkei, als Nato- und OECD-Mitglied eigentlich dazu prädestiniert, zum alten Westen

4 Umgekehrt nahmen in Asien mit wachsendem wirtschaftlichen Erfolg auch das kulturelle Selbst- bewusstsein und die Bereitschaft zu, diesen Erfolg unter Rückgriff auf traditionelle Werte wie den Konfuzianismus und gerade nicht durch „Verwestlichung“ zu erklären. Das stellte nicht nur die Weber-These auf den Kopf, sondern brachte auch die „Westler“ in den Schwellenländern in die Defensive. Stattdessen wurde versucht, eine asiatische Identität im Sinne eines „Asianismus“ zu konstruieren, die positiv besetzt ist und nicht das kontrafaktische Abbild einer westlichen Identi- tät. Ob es diese übergreifende Identität angesichts hinduistischer, buddhistischer, muslimischer, konfuzianischer und sogar christlicher Traditionen in Asien tatsächlich gibt oder nur das kontra- faktische Gegenkonstrukt zur Identität des Westens ist, bleibt eine offene Frage.

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201705_Buch.indb 57 19.04.17 10:47 58 Ulrich Menzel

zu gehören, stieß auf anschwellende Ablehnung ihres Beitrittsgesuchs zur EU bis tief in bürgerliche Kreise. Würde umgekehrt die Türkei künftig sel- ber noch zum Westen gehören wollen, wenn sie alte kulturelle Bindungen in Richtung Kaukasus und zu den Turkvölkern Zentralasiens, die aus dem sow- jetischen Imperium ausgeschieden waren und sich auf ihre vorsowjetischen Wurzeln besannen, wiederbelebte? Fünftens: Schließlich schien damals auch eine Auflösung des atlantischen Kerns des Westens denkbar. Die immer weiter fortschreitende europäische Integration, die schon lange über eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft hin- ausging, wurde in dem Maße, wie sie politische und militärische Formen annahm, auch von einem neuen Diskurs über europäische Identität begleitet, der zur Verabschiedung der vorgesehenen Verfassung der Vereinigten Staa- ten von Europa unweigerlich dazugehörte.

Der gescheiterte »Sieg des Westens« – und die Rückkehr des Ostens

All diese Fragen machen deutlich, dass in den 1990er Jahren eine Debatte über eine Definition dessen auf der Tagesordnung stand, was heute unter dem „Westen“ zu verstehen ist. In der Rückschau 20 Jahre später hat sich die Lage fundamental verändert – ist das alles nur noch Ideengeschichte. Ganz andere Konstruktionen des Eigenen und des Fremden sind heute angesagt. Donald Trump und seine Wähler, Theresa May und die Brexit-Befürworter, Marine Le Pen und der Front National, die Lega Nord, die Wahren Finnen, der Vlaams Belang, die Freiheitlichen oder die AfD haben ein reduziertes Verständnis von Identität, in dem der Westen, der Okzident, der Universalis- mus, der Atlantizismus, die EU, der Freihandel, die Freizügigkeit, das Schen- gener Abkommen, die Deklaration der Menschenrechte, die Flüchtlingskon- vention schlicht nicht mehr vorkommen. Identität wird bei Populisten und ihren Anhängern wie im 19. Jahrhundert als eine rein nationale definiert, in der Einwanderungsnation USA sogar noch enger im Sinne der ersten Ein- wanderungsgeneration. Die „City upon a Hill“ in „God‘s own Country“5 soll nur von denen bewohnt sein, die mit dem Akronym WASP (weiß, angelsäch- sisch, protestantisch) gemeint sind. Rekapituliert man daher heute, gut 20 Jahre später, jene fünf Punkte, die Anfang der 1990er Jahre der Anlass waren, geopolitische Identitäten neu zu justieren, ergeben sich die folgenden Befunde. Erstens: Obwohl es keine Restauration des Sozialismus nach sowjetischem Muster gibt, hat der alte Ost-West-Gegensatz in Europa wieder an Kontur gewonnen. An die Stelle von Stalinismus oder Bolschewismus ist der Puti- nismus getreten. Gestützt auf den Rohstoffreichtum des Landes hat es Wla- dimir Putin vermocht, Russland nach den chaotischen Jahren der Jelzin-Ära neue Stabilität zu verleihen und einen erheblichen Teil der Bevölkerung an den Erträgen aus den Rohstoffexporten teilhaben zu lassen. Diese Politik hat

5 Die klassische Wendung „Stadt auf einem Hügel“ in „Gottes eigenem Land“ steht für die heilsge- schichtlich gedachte Mission Amerikas als Leuchtturm von Freiheit und Christentum.

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nicht nur Parteibonzen zu Oligarchen gemacht, sondern auch eine Mittel- schicht entstehen lassen, die es zuvor in Russland nie gegeben hatte. Hieraus ziehen die sogenannten Putin-Versteher hierzulande ihre Argumente. Hinzu kommt ein sorgfältig inszenierter und medial verbreiteter Personenkult, der an Stalin erinnert: Putin reitet mit nacktem Oberkörper durch die Taiga und fängt immer den dicksten Fisch. Trotz der fundamentalen Unterschiede gegenüber den Zeiten der Sowjet- union hat sich in der westlichen Wahrnehmung die Überzeugung verbrei- tet, dass der doppelte Transformationsprozess in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie nur unzulänglich vollzogen wurde. Seit Russland dabei ist, den alten sowjetischen Herrschafts- und Einflussbereich in der Ukraine, in Weißrussland, im Kaukasus, in Syrien und anderswo zu restaurieren, kehrt im Westen das Gefühl der russischen Bedrohung zurück, auch wenn die Rus- sen bislang nur als Touristen kommen. In dem Maße, wie sich Russland als neue Ordnungsmacht präsentiert, die sich mit der „schiitischen Achse“ vom Iran bis in den Libanon arrangiert, wird es auch wieder attraktiv für solche Länder, die ehemals zum Ostblock gehörten und heute Mitglied der EU sind bzw. mit der Mitgliedschaft geliebäugelt haben. Man denke nur an Ungarn oder Serbien. Damit erweist sich, dass die Grenze zwischen West- und Osteuropa zwar variabel, aber immer noch da ist – und sehr viel älter ist als die des Ost-West- Konflikts. Längst überwunden geglaubte Faktoren erscheinen wieder rele- vant, wie die Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche, die Nichtteilnahme an Renaissance und Aufklärung, die ausgebliebene Verbürgerlichung der Gesellschaft und vor allem die nicht erfolgte Emanzipation der Bauern, die nur von der Leibeigenschaft in die Kolchose gewechselt sind. Würde heute noch einmal über die Osterweiterung der EU verhandelt, würden die Kopen- hagener Beitrittskriterien sehr viel restriktiver ausgelegt werden. Ob Rumä- nien und Bulgarien heute noch aufgenommen würden, darf bezweifelt wer- den. Dass es auf absehbare Zeit weitere Mitglieder auf dem Westbalkan (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien), in Osteuropa (Ukraine, Moldawien, Weißrussland) oder im Kaukasus (Geor- gien, Armenien) gibt, ist nicht mehr vorstellbar.

Die neue Furcht vor der »gelben Gefahr«

Zweitens: Wenn in den 1990er Jahren der Industrialisierungsprozess in Ost- und Südostasien noch begrüßt wurde, weil ein Teil der Entwicklungslän- der dabei war, es zu schaffen, weil sich neue Absatzmärkte eröffneten, weil von dort preiswerte und zugleich qualitativ hochwertige Produkte bezogen wurden – man denke nur an die Unterhaltungselektronik oder den Beklei- dungssektor –, hat sich das Bild radikal gewandelt. Heute ist an die Stelle des Mythos von China als dem neuen Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie der Faszination für die alte Kulturnation die neuerliche Furcht vor der „gelben Gefahr“ getreten, auch wenn damit nicht mehr der Furor der mord-

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brennenden mongolischen Reiterheere, sondern das Niederkonkurrieren der westlichen Industrie mit Hilfe von Produktpiraterie und unfairen Handels- praktiken sowie die Arbeitsplatzverluste als Folge der Deindustrialisierung gemeint sind. Daran ändert nichts, dass sich die ähnlich gelagerte „japanische Heraus- forderung“ der 1970er/80er Jahre längst als Schimäre erwiesen hat – und Japan jetzt selbst unter dem Druck des asiatischen Nachbarn steht. Heute bestimmt das Argument der großen Zahl die Wahrnehmung. China und Indien zusammen werden demnächst die Hälfte der Weltbevölkerung stel- len und sind mit ihren Exportindustrien in der Lage, einen globalen Struk- turwandel der Weltwirtschaft zu erzwingen, an dessen Ende womöglich die Industrie und die arbeitsintensiven Dienstleistungen komplett in Asien ver- sammelt sind. Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus erscheinen auf einmal nicht mehr als modernisierungshemmende Faktoren. Ganz im Gegenteil, gerade der Konfuzianismus dient als Erklärung für hohe Bildungsorientie- rung, Autoritätshörigkeit gegenüber staatlichen Vorgaben und hohe Arbeits- motivation, kurzum also dafür, warum das Modell des bürokratischen Ent- wicklungsstaates funktioniert und in den kulturell von China beeinflussten Ländern kopiert wird. An die Stelle des neoliberalen Washington Consensus tritt der bürokratisch-autoritäre Beijing Consensus. Infrage gestellt wird damit auch das Dogma der Modernisierungstheo- rie, dass Industrialisierung, sozialer Wandel und Demokratisierung Hand in Hand gehen, dass am Ende die ganze Welt zwangsläufig verwestlicht wird. China demonstriert, dass sich ein autoritäres politisches System und eine leistungsfähige Industriegesellschaft durchaus vereinbaren lassen. Indien demonstriert, dass sich die Weltflucht des Hinduismus mit technischen Höchstleistungen, gerade im EDV-Sektor, vereinbaren lässt. Die Vorstellung, dass in absehbarer Zeit nicht mehr die USA, sondern China die globale Führungsmacht sein wird, stößt selbst bei radikalen Kri- tikern der Vereinigten Staaten auf Entsetzen. Und tatsächlich ist es schon eine paradoxe Welt, wenn der chinesische Staatspräsident Xi Jinping 2017 in Davos die liberale Weltwirtschaft beschwört, während Donald Trump sich an die Spitze der TTIP-Kritik und des Protektionismus stellt.

Globale Migration – die Versüdlichung des Nordens

Drittens: Die Wahrnehmung, dass der Norden bzw. der Westen „versüd- licht“, hat mit dem Aufbruch zur neuen Völkerwanderung des Jahres 2015 eine völlig andere, brisante Qualität bekommen. Früher ging es, zumindest in Europa, nur um den Umgang mit dem kolonialen Erbe, weil die europäi- schen Kolonialmächte der Anziehungspunkt für Migranten aus ihren frü- heren Kolonien waren. Deutschland als nur kurzzeitige Kolonialmacht war dabei fein raus und dazu noch von Schengenstaaten umgeben. Das jüngste exponentielle Wachstum der Migration, das viele Ursachen hat, aber vor

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allem das Resultat des exponentiellen Bevölkerungswachstums der letzten 30 Jahre ist, hat dagegen zu sozialen Verwerfungen und zu einer ganz neuen, radikalen Grenzziehung in den Köpfen geführt, die sich in grassierender Fremdenfeindlichkeit weltweit, nicht nur in Europa und den USA, äußert. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Migranten tatsächlich ins Land gekommen und wie viele vor Ort sichtbar sind. In Osteuropa, wo der Anteil der Migranten sehr viel geringer und kaum wahrnehmbar ist, ist die Frem- denfeindlichkeit höher als in Westeuropa. Selbst in Deutschland gibt es in dieser Hinsicht ein neues West-Ost-Gefälle. Das Phänomen ist ein schöner Beleg für die These, dass wir im postfaktischen Zeitalter leben: Nicht das, was ist, sondern wie das, was ist oder gerade nicht ist, wahrgenommen wird, bestimmt das Denken und Handeln der Menschen. Die Umverteilung der Flüchtlinge in Europa funktioniert genauso wenig wie innerhalb Deutsch- lands, weil auch die Migranten andere Wahrnehmungen von ihren Flucht- punkten haben als die, die deren Verteilung organisieren wollen. Viertens: War in den 1990er Jahren die Debatte zwischen Francis Fukuyama – Ende der Geschichte in Frieden, Demokratie und Menschen- rechten – und Samuel Huntington – Kampf der Kulturen – eher unentschie- den ausgegangen, so dürfte heute Huntington bei einer Neuauflage ganz eindeutig als Sieger hervorgehen. Seinen damals so heftig kritisierten Satz, dass der Islam „blutige Grenzen“ habe, würden heute viele unterstreichen. Auch wenn es „den Islam“ gar nicht gibt und der Islam wie das Christen- tum viele Richtungen und Auslegungen kennt, wird er derzeit im Westen als ein Gebräu aus Islamismus, Terrorismus und Fanatismus wahrgenom- men, gepaart mit allen Zutaten einer unaufgeklärten und traditionalisti- schen Gesellschaft, die in makabrem Kontrast zum ölfinanzierten westlichen Luxus einer kleinen Elite steht.

Der Islam als Feind des Westens

Das fatale Orientalismusbild des 19. Jahrhunderts ist damit wieder präsent. Die neue Abgrenzung gegenüber Putins Osten oder den Chinesen, die uns angeblich unsere Arbeitsplätze wegnehmen, ist harmlos, gemessen an der neuen Abgrenzung gegenüber den islamischen Ländern. Das Mittelmeer wird nicht mehr als ein gemeinsamer Raum wahrgenommen, an dessen Küs- ten und auf dessen Inseln sich die europäischen Touristen treffen und das von Kreuzfahrtschiffen durchpflügt wird, sondern als eine Grenze, die es – wieder – zu verteidigen gilt. Malta bzw. die Malteser waren, nachdem die Johanniter Rhodos räu- men mussten, schon zu Zeiten Karls V. der westliche Vorposten gegen die Galeerenflotten Suleymans des Prächtigen, unterstützt von den Galeeren des genuesischen Condottiere Andrea Doria. Heute trägt der militärische Vorposten des „Westens“ den Namen Frontex. Selbst viele Botschafter der Willkommenskultur des Jahres 2015 haben sich mittlerweile stillschwei- gend in die Abwehrfront eingereiht, auch SPD-Innenminister gehören zu

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den Seehofer-Verstehern, obwohl doch die tieferen Ursachen der neuen Völ- kerwanderung und das wahre Ausmaß der weltweiten Flüchtlingsströme sich innerhalb von zwei Jahren in keiner Weise verändert haben. Doch die Responsibility to Protect und der Schutz der Schutzlosen als neue Norm des Völkerrechts haben offenbar ausgedient. Libyen mutiert über Nacht vom Failed State zum sicheren Herkunftsland. Kurzum: Was sich verändert hat, ist allein die hiesige Wahrnehmung. Wieder gilt das Argument der großen Zahl. Fünftens: Der radikalste Wandel, den selbst Samuel Huntington nicht für denkbar hielt, betrifft den atlantischen Kern der westlichen Identität. Vor zwanzig Jahren hatte er noch argumentiert, dass die fortschreitende euro- päische Integration zum Sprengsatz für die Einheit des Westens werde. Jetzt wird zu unserem Entsetzen die Einheit des Westens von der anderen Seite des Atlantiks aus in Frage gestellt, wenn nämlich der US-amerikanische Prä- sident den Atlantizismus, die Sinnhaftigkeit der Nato, das liberale Welthan- delsregime oder den kooperativen Ansatz der EU in Frage stellt. Exakt mit diesem Programm ist Donald Trump angetreten – und gewählt worden. Doch Europa reagiert darauf keineswegs mit mehr Geschlossenheit, sondern driftet selber auseinander. Auf den harten Brexit können weitere Exits folgen. Die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen droht bereits mit einem Frexit. Nicht die gemeinsamen europäischen Werte, sondern die Furcht vor der Restauration des russischen Imperiums hält die osteuropäischen Exit-Kandidaten noch bei der Stange. Europa à la carte lau- tet die Devise, sprich: drastisches Rosinenpicken, je nachdem, um was es geht – um den Euro, das Schengener Abkommen, den Agrarfonds oder die europäische Sicherheitspartnerschaft. Der Brexit wurde nicht zuletzt mit den polnischen und rumänischen Arbeitsmigranten begründet, die den Engländern ihre Arbeitsplätze weg- nehmen würden – so wie die Mexikaner den weißen Amerikanern. Offen- sichtlich tun sich auch in Europa neue Grenzen auf zwischen Ost und West, Nord und Süd, die in Wirklichkeit die ganz alten sind. Nicht die Neukonstruktion westlicher Identität, sondern deren Auflösung steht gegenwärtig auf der Agenda. Die alten westlichen Eliten in Brüssel wie an der amerikanischen Ostküste sind in die Defensive gedrängt und werden von den Populisten vor sich hergetrieben. An die Stelle der Idee, dass durch Kooperation alle gewinnen können, tritt das von Trump favorisierte Null- summendenken, das auf bloße Selbsthilfe setzt. „Make America great again“ geht in Trumps Logik nur auf Kosten der Anderen. Was das Eigene gewinnt, muss das Fremde verlieren. Diese Rückkehr des Eigenen und des Fremden bedeutet, dass wir gerade das Ende der idealistischen Nachkriegsordnung erleben, die auf Entgren- zung und Kooperation gesetzt hatte. Diese Epoche ist offensichtlich vorbei. Das Eigene wird nun nicht nur enger gefasst, es ist dabei, sich neu und mili- tant zu definieren, unter Rückgriff auf ganz alte, hoch gefährliche Erzählun- gen – von den USA und Großbritannien über Russland und die Türkei bis nach Nordkorea.

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201705_Buch.indb 62 19.04.17 10:47 Der begrenzte Planet und die Globalisierung des einen Prozent Von Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater

ake America Great Again“ lautet die Parole Donald Trumps. Und sie M geht notwendigerweise zu Lasten des globalen Rests. Denn auch der US-Präsident wird die Erde nicht größer machen können. Trump kann die Grenzen der Globalisierung verändern, nicht aber aufheben.1 Damit wird eine Ironie der angeblich grenzenlosen, die Menschheit beglü- ckenden neoliberalen Globalisierung sichtbar. Sie öffnet nicht wie behaup- tet die Tore zur „großen, weiten Welt“, sondern endet als Welt von Parzellen nationaler Borniertheit. Trump macht Politik, indem er einerseits möglichst undurchlässige Gren- zen zieht: zwischen Nationalstaaten und Religionen, um die „eigenen Leute“ und das eigene Kapital im „Homeland“ zu schützen. Andererseits schleift er Grenzen, um die kapitalistische Expansion zu unterstützen und Sphären zu eröffnen, wo noch ordentliche Spekulationsgewinne gemacht werden kön- nen, vor allem auf den globalisierten Finanzmärkten. Die natürlichen Gren- zen des Planeten Erde ignoriert er dabei. So werden auch unter Trump die neoliberalen Tendenzen des vergange- nen Jahrhunderts fortgesetzt, wie es alle US-Präsidenten seit Richard Nixons Dollar-Debakel von 1971 vorgemacht haben: Die Regeln von Weltökonomie und -politik werden zugunsten der USA und ihrer Verbündeten korrigiert. Die Folge davon ist die Globalisierung der sozioökonomischen Ungleichheit wie der politischen Unsicherheit.2 Wenn inzwischen die acht Superreichs- ten dieser Welt (sechs von ihnen stammen aus den USA) über ein Vermögen verfügen, das größer ist als das von 3,6 Milliarden Armen, der Hälfte aller Erdenbürger auf den fünf Kontinenten,3 so haben wir es offensichtlich mit einer „Globalisierung des einen Prozent“4 zu tun. Trump sagt mit sprachlos machender Schamlosigkeit nur, was Sache ist: Globalisierung ist heute ein „oligarchisches Gut“. Die Globalisierung des

1 Vgl. die vor etwas über 20 Jahren erschienene erste Auflage von Elmar Altvater und Birgit Mahn- kopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Politik und Ökologie in der Weltgesellschaft, Müns- ter 1996, 72007. 2 Vgl. Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, Globalisierung der Unsicherheit. Arbeit im Schatten, schmutziges Geld und informelle Politik, Münster 2002. 3 Oxfam Briefing Paper, An economy for the 99 Prozent; Oxfam issue briefing, Wealth: Having it all and wanting more, Januar 2017. 4 Vgl. John Feffer, Donald Trump Against the World. The Birth of a New National World Order, www.tomdispatch.com, 24.1.2017.

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einen Prozent wird gegen alles, was den „westlichen Lebensstil“ gefährden könnte, in Stellung gebracht – auch in einer „nationalistischen Internatio- nale“, die quasi aus dem Unrat der Globalisierung des einen Prozent ihre Kraft gewinnt, gewissermaßen als ihr politisches Abfallprodukt. Die Ent- wicklungsbahn der Globalisierung führt also keineswegs schnurstracks in eine „flat world“, eine flache Welt,5 wie es sich Freihändler gedacht hatten, sondern in das zerklüftete Gelände eines wilden Kapitalismus, von dem im globalen Süden schon die Rede war, als in den alten Industrieländern noch das Hosianna der Wohlstand bringenden Globalisierung gesungen wurde. In vielerlei Hinsicht hat der „globale Süden“ die Gegenwart (und vielleicht die Zukunft) des „euroamerikanischen“ Westens bereits vorweggenommen.6 Denn hier wurden im Rahmen von sogenannten Strukturanpassungspro- grammen seit den frühen 1980er Jahren die Methoden des Neoliberalismus erprobt, bevor sie im postsowjetischen Osten und im entwickelten kapitalis- tischen Westen zur Anwendung kamen.

Outsourcing mit Hilfe des Staates: Der globale Süden als Vorreiter

Das gilt zuvorderst für die fundamentale Veränderung des Verhältnisses von Nationalstaat und globaler Ökonomie. Hier liefert der Süden die Modelle dafür, was aus dem Westen noch werden könnte bzw. zunehmend wird: Regierungsfunktionen unterliegen dem Outsourcing an private, gewinn- orientierte Akteure und an alle Arten von zivilgesellschaftlichen Organisa- tionen. Im Zeichen von „Sicherheit“ und vorgeblichen nationalen Interessen wird dabei auf demokratische Transparenz weitgehend verzichtet – nicht jedoch auf die Grenzen des Staates, im Gegenteil: Das Territorium des Staa- tes wird zum massiv geschützten „Homeland“. Globalisierung bedeutet somit keineswegs den Verzicht auf Grenzen; diese sind vielmehr fließend. Zollschranken, Einreisezentren und – wie wir es zunehmend erleben – sogar Auffanglager werden auf das Territorium anderer Staaten verschoben, auf Inseln der Ägäis, in die Türkei oder nach Tunesien und Libyen. Grenzen mar- kieren den Machtbereich nationaler Staaten. Sie sind nicht deckungsgleich mit den im Atlas abgebildeten territorialen Grenzen. Und dennoch gibt es keine Sicherheit vor unerwünschten „Ausländern“, vor Migranten und Flüchtlingen, vor Terroristen und Kriminellen, die die Grenzen der Einen-Prozent-Globalisierung durchbrechen können – und sich dabei auf das erblühende neue Geschäftsfeld der in Europa, aber auch in den USA oder in Australien höchst profitablen border-nomics begeben. Da treiben sich nicht nur die formell geschaffenen und informell, manchmal kriminell jenseits formeller Regularien operierenden Labour migration intermediaries herum. Dazu gehören Schlepper und Menschenhändler, ihre formellen und informellen, manchmal auch kriminellen Financiers, aber auch große Unter- nehmen, die die Soft- und Hardware für die Grenzsicherung bereitstellen,

5 Thomas Friedman, The World is Flat: A Brief History of the Twenty-First Century, New York 2005. 6 Jean Comaroff und John Comaroff, Der Süden als Vorreiter der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2012.

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sowie eine wachsende staatliche Bürokratie.7 Aber auch alteingesessene Unternehmen findet man in dieser Sparte, die mit elektronischer Grenzsi- cherung, Spürgeräten und anderer militärischer Ausrüstung gute Geschäfte machen. In dieser neuen kapitalistischen Wildbahn oligarchischer Globalisierung im 21. Jahrhundert können jedoch nur wirtschaftlich starke Nationen und das reiche eine Prozent gewinnen – genau wie in Zeiten neoliberaler Globali- sierung des 20. Jahrhunderts. Sie müssen sich nicht stur an die ökonomischen Gesetze halten, sondern können politisch, militärisch und mit Medienmacht das Geschick „korrigieren“, das ihnen die kapitalistische Weltökonomie ein- brockt. Allerdings kann es passieren, dass der Brei der Globalisierung mit nationalistischen und fundamentalistischen Ingredienzien überwürzt ist, beigesteuert von Marine Le Pen, Nigel Farage, Frauke Petry, Donald Trump und anderen Köchen. Damit steht fest: Die angeblich schönen, verheißungs- vollen Tage der Globalisierung sind wohl endgültig vorüber.

1970 ff.: Globalisierung und die Verletzlichkeit der Erde

Der Begriff der Globalisierung kam in den 1970er Jahren auf.8 Nach der ers- ten Mondlandung machten die Satellitenbilder des „blauen Planeten“ die Runde unter den damals etwas mehr als vier Milliarden Menschen auf den fünf Kontinenten. Niemals zuvor hatten Erdenbürger den Planeten von außen betrachten können, nun war es so weit. Doch kam damit auch dessen Verletz- lichkeit zu staunendem Bewusstsein und dass die globalisierende Expansion auf der „begrenzten Kugelfläche des Planeten Erde“ (Immanuel Kant) nicht unendlich fortgesetzt werden kann.9 Heute, bald 50 Jahre später, gibt es auf den Weltkarten keine weißen Flecken mehr und auch keine größere Weltregion, die nicht dem geoöko- nomischen Wettbewerb ausgesetzt wäre. Historische und geographische Unterschiede werden in der globalisierten Welt eingeebnet. Die neoliberale Globalisierung ist eine Einbahnstraße, auf ihr haben transnationale Bull- dozer freie Fahrt. Dies ist auch eine Folge der Etablierung globaler Stan- dards – weniger bei Umweltschutz oder Arbeitnehmerrechten als vielmehr im Bereich der technischen, organisatorischen oder intellektuellen Produk- tionsmethoden. Zweitrangig geworden sind nationalspezifische Regulie- rungen auch beim Schutz geistigen Eigentums, bei den Regeln der Buch- führung und der Bewertung von Kreditausfallrisiken oder wenn es um die Streitschlichtung unter Geschäftspartnern geht. Dafür hat nicht nur das Regelwerk der WTO gesorgt: Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet,

7 Vgl. Ruben Anderson, Illegality, Inc. Clandestine Migration and the Business of Bordering Europe, Berkeley 2014. 8 Einen gerafften Überblick über die Geschichte des Begriffs der Globalisierung findet man in dem Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Globalisierung der Weltwirtschaft, Opladen 2002. 9 Diese Erkenntnis fand Eingang in die Studien des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Vgl. Dennis Meadows, Donella Meadows, Erich Zahn und Peter Millinger, Die Grenzen des Wachs- tums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek bei Hamburg 1973.

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ist die „regulatorische Vereinheitlichung“ der Welt auch dem Wirken einer Handvoll US-amerikanischer law firms zu verdanken. Die USA profitieren nicht nur davon, dass Englisch die globalisierte Lingua Franca ist und der Dollar als globale Leitwährung zum „Problem des Rests der Welt“ gemacht wurde (so Larry Summers, zeitweise Bill Clintons Finanzminister und Chef- ökonom der Weltbank). Auch ihre „juristische Außenpolitik“ war sehr erfolg- reich: Über ihr Justizministerium, die Börsenaufsicht, die Notenbank, das Finanzministerium und dessen Exportkontrollbehörde zwingen die USA anderen Ländern, respektive den Unternehmen aus anderen Ländern, ihr angelsächsisches Rechtsmodell des common law auf10 – und sichern damit den Mammut-Rechtskanzleien mit Sitz in den USA fette Beute rund um den Globus (VW kann heute, nicht unverschuldet, ein Lied davon singen).

1989-2008: Das Ende der neoliberalen Siegessicherheit

Auch aufgrund dieser Umstände haftete der Globalisierung daher immer der hautgout des Kapitalismus an. In seinem imperialistischen Stadium, so hatte es Lenin einst geschrieben,11 befindet er sich bereits im Stadium der Fäul- nis. In der Euphorie über den „Sieg im Kalten Krieg“ hatte das aber niemand gerochen und daher auch zu keinem Thema in wissenschaftlichen Debatten gemacht. Erst nach und nach kam zu Bewusstsein, dass „peak everything“12 zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine Panikmache ist. Die mineralischen und energetischen Rohstofflager sind heute in hohem Maße ausgebeutet, auch wenn die meisten Länder des Südens weiterhin als Quellen der „rohen Werte“ gelten – also von mineralischen, agrarischen und energetischen Roh- stoffen, aber auch von billigen Arbeitskräften. Die Aufnahmefähigkeit der Schadstoffsenken des Planeten Erde ist am Ende, auch wenn dies von Trump und anderen Leugnern des Klimawandels abgestritten wird, und es stehen keine Kolonien mehr als „Deponien“ für die wegen der technischen Ent- wicklung „überflüssigen Menschen“ zur Verfügung. Stattdessen entstanden im Zuge der Globalisierung seit den 1970er Jahren quasi-koloniale Verhält- nisse im Zentrum euroamerikanischer Gesellschaften, nämlich ganze Ein- wanderer-Communities. Abschiebelager, besetzte Gebiete und brennende Vorstädte sind Teil dieses Panoramas. Umgekehrt haben Staaten im Süden und Osten viele Merkmale des Westens angenommen. Vor allem in den informellen Siedlungen und den Megastädten des globalen Südens hat die kapitalistische Zerstörung von Natur- und Sozialzusammenhängen zu einer Entwurzelung der Menschen aus ihren sozialen und kulturellen Bezugssys- temen geführt. Die physischen und mentalen Infrastrukturen mussten sich

10 Jean-Michel Quatrepoint, Fahnder im Dienst des Imperiums, in: „Le Monde diplomatique“, 1/2017. 11 Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Werke Bd. 22, Berlin/DDR 1960 (1917). 12 Vgl. Richard Heinberg, Peak Everything. Waking Up in the Century of declines, Gabriola Island 2010; Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Münster 2005; Birgit Mahn- kopf, Peak Everthing – Peak Capitalism? Folgen der sozial-ökologischen Krise für die Dynamik des historischen Kapitalismus, Working Paper 02/2013 des DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften, Universität Jena.

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anpassen, überall in der Welt. Auch im globalen Süden ist heute ein Leben radikalisierter Individualität nicht mehr außergewöhnlich; im Verhältnis von Individuum und Warenfülle entspricht dies immer weniger menschli- chen Maßstäben und macht eine wachsende Zahl von „entwurzelten Men- schen“13 zu Verlierern. Der Schock, den die globale Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 2008 auslöste, hat dann die Grenzen der Globalisierung überall ins Rampenlicht gerückt. Unvorstellbare Summen an Kapital mussten abgeschrieben wer- den, Hunderttausende verloren den Arbeitsplatz und unzählige Familien ihre Häuser und Wohnungen. Darüber hinaus gingen Gewissheiten der neoliberalen Globalisierung über Bord, vor allem diejenige, dass eine glo- balisierte Weltwirtschaft Gratifikationen für alle Welt bereithält. Die Rede von der „Globalisierung des einen Prozent“ wird verstanden. Die Welt ist zerrissener und ungleicher als je zuvor. Akzeptanzverlust der herrschen- den globalen Verhältnisse ist die Folge, neue Deutungsmuster sind gefragt. Das ist die Stunde für politische Konzepte eines Populismus und eines – wie man paradoxerweise sagen kann – globalisierten Neonationalismus. Offene Märkte zur Hebung eigener Exporte – ja, aber Flüchtlinge, Asylsuchende und unerwünschte Arbeitsuchende bleiben draußen vor der Tür, jenseits des mit Mauer und Nato-Draht bewehrten „Homeland“ EU südlich von Melilla und Ceuta, oder des Homeland USA südlich von San Diego und El Paso. Auch hier zeigt die neoliberale Globalisierung ihre brutalen Grenzen.

Migration – die älteste Strategie der Reduzierung von Armut und Risiko

Doch damit wird den globalen Fluchtbewegungen nicht Einhalt zu gebieten sein. In der gesamten Menschheitsgeschichte sind Menschen gewandert, um anderswo ihr Glück zu versuchen. Migration ist die älteste Strategie der Reduzierung von Armut und Risiko. Schon die Bibel, auf die die konservati- ven Hardliner unter den westlichen Politikern allesamt geschworen haben, erzählt nicht nur eine, sondern sehr viele Migrations-, Flucht- und Asylge- schichten, die nicht nur einem Christenmenschen das Herz brechen können. Speziell die Bewohner des kleinen Kontinents Europa müsste dieses Elend anrühren. Die koloniale und imperialistische Ausdehnung Europas, die ras- sistischen Verfolgungen, der Holocaust oder die zwei von Deutschland aus- gegangenen Weltkriege haben Millionen von Europäern in ferne Länder getrieben. Dennoch ist der Migrant, zumal wenn er männlich ist, in Europa eine Schreckgestalt, die über ihre Hautfarbe, ihre Kultur und neuerdings immer häufiger über ihre Religion identifiziert wird. Wenn ihr dann noch ein Sicherheit vermittelnder Rechtsstatus verweigert wird, tritt sie als eine „ille- gale“ Gestalt auf, die Ängste bei den „Einheimischen“ auslöst. Dagegen gilt die temporäre oder dauerhafte Migration immer dann als erwünscht, wenn sie den „brain drain“ qualifizierter, besonders anpassungs-

13 Simone Weil, Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegen- über, Zürich 2011 (1949).

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fähiger und duldsamer junger Menschen aus den Ländern des Südens in die alternden Gesellschaften des Westens erleichtert.14 Immer mehr Menschen sind aber mangels ausreichender legaler Wanderungswege bei ihrer Suche nach Arbeit, Sicherheit und Zukunft auf die lebensgefährliche, als „illegal“ diffamierte irreguläre Migration angewiesen. Für viele Migrantinnen und Migranten ist dies die einzige Möglichkeit der individuellen Realisierung jener „menschlichen Entwicklung“, die die UNO als eines ihrer hochrangi- gen Ziele für alle Menschen ausgibt. Als „mixed migration“ überlappen sich heute Arbeitsmigration, Flucht- migration und Familienzusammenführung. Zugleich fällt dieser zukünftig wohl zur Regel werdende Migrationstypus mit der Transformation der hei- mischen Wirtschaft zugunsten deregulierter und flexibilisierter Arbeits- verhältnisse zusammen. Migration ist somit meistens erzwungen durch „Push-Faktoren“. Dazu zählt der Verlust einer Einkommensquelle, als Folge des mit der Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen verknüpften Exports von Arbeitslosigkeit aus den wettbewerbsfähigeren Ländern des Nordens in den globalen Süden. Darunter fällt aber auch der vom reichsten Fünftel der Weltbevölkerung verursachte Kollaps von Ökosystemen in den Ländern des Südens (insbesondere in Südostasien und in Subsahara-Afrika). Nicht zuletzt tragen die wachsende Zahl von „scheiternden Staaten“ und die damit ein- hergehenden Konflikte zur Auswanderung bei, weil vielen Menschen jede Art von Sicherheit bei der Lebensgestaltung genommen wird. Die Emigration aus benachteiligten Regionen wird durch „Pull-Fakto- ren“ in den Immigrationsgebieten verstärkt. Denn in den schrumpfenden und alternden Industriegesellschaften ist der Zustrom von rechtlich unge- schützten Migrantinnen und Migranten auch ein Instrument geoökonomi- schen Wettbewerbs. Dem nichtmobilen Kapital vieler Industriestaaten (in der Landwirtschaft, dem Bausektor und in einer Reihe von Dienstleistungsbran- chen) ist es auf diese Weise möglich, die durch nationalstaatliche Grenzre- gime geschaffene Illegalität der Migranten zu instrumentalisieren – als Filter für ein flexibles Angebot von Arbeitskräften für einen je nach Konjunktur schwankenden Bedarf. In der kapitalistisch organisierten Weltwirtschaft sind die Migrations- ströme also nicht vorübergehender Natur. Sie werden bleiben, um „pull“- Nachfrage und „push“-Angebot auf den globalisierten Arbeitsmärkten auszu- gleichen. Dafür sorgen auch die teils offiziellen, teils kriminellen Netzwerke der „labor market intermediaries“, der Institutionen, Agenten und Geschäfte- macher eines im globalen Raum mit regionaler Spezialisierung operierenden transnationalen, florierenden Migrationsmarktes, der dafür sorgt, dass der Globalisierung des einen Prozent die Entwurzelten nicht ausgehen. Einerseits werden gegen den Zustrom unerwünschter Migranten neue Grenzzäune und unüberwindbare Mauern hochgezogen. Andererseits erscheint den Mauerbauern der „Wohlstand ihrer Nation“ bedroht durch die

14 Jedenfalls bis vor Kurzem, als Donald Trump mit seinem Einreiseverbot für Menschen aus mehr- heitlich muslimischen Ländern das Beschäftigungskonzept von Apple, Facebook, Google oder auch der Wall Street aus dem Auge verlor.

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Abwanderung von vielen und vielem, die oder das eigentlich im Lande blei- ben sollten. Das Gemeinwohl eines Landes verlangt in globalisierter Wirt- schaft einerseits die Öffnung für die transnationale Geld- und Kapitalzirku- lation, vor allem für die Sintflut der Waren und für die Finanztransaktionen der globalisierten Finanzinstitute. Andererseits bedarf es der Abschließung zum Schutz der Wirtschaftssubjekte vor unliebsamer Konkurrenz, die sich über ihre Staatsangehörigkeit definieren. Also entstehen nicht nur Mauern und Zäune, sondern auch Mega-Gefängnisse (in den USA wie in Brasilien und auf den Philippinen) oder „Auffanglager“ für Flüchtlinge und Migran- ten, die die EU an ihren Außengrenzen, lieber aber noch fern von diesen in Afrika betreiben möchte.

Rationale Grenzen zu externen Welten

Das ist die von Jean-Christophe Rufin in seinem dystopischen Roman „Glo- balia“ beschriebene Chaos-Welt15 der exkludierten Non-Zones und der hei- len inkludierten Zone der „Globalier“, sprich: der ins System einbezogenen und unter einer beruhigenden Glaskuppel lebenden westlich zivilisierten Erdenbürger. Die Dystopie allerdings ist in Euroamerika bereits Realität. Die neoliberale Globalisierung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in ein brutales Regime von Inklusion und Exklusion verwandelt. In „Globalia“ wird die halbe Welt als „Non-Zone“ von Flüchtlingen, Asylsuchenden, Heimatlo- sen, bedürftigen Armen definiert. Sie sind das Objekt militärischer Abwehr. In der Sicht der Globalier sind diese Exkludierten allesamt an ihrem Schick- sal selbst schuld – oder sie sind Simulanten, die sich vor der Rationalität der Regeln zur „Befriedung“ dieser Welt drücken. Damit die Ökonomie Globalias funktioniert, wird die externe Welt als Quelle aller benötigten Stoffe und Energien etabliert, wie auch als Deponie für sämtliche Abfälle, sprich: für Abwasser, Abluft und „überflüssige Men- schen“ („wasted lives“).16 Grenzen zu bauen ist daher höchst rational. Sie erlauben es, alles über den Zaun zu werfen, was ein Hindernis bei der ratio- nalen Verfolgung der Ziele des Handelns sein könnte, sprich: beim Versuch, möglichst hohe Profite zu machen.17 Die Globalier, nicht die Exkludierten, sind es also, die die „Grenzen der Globalisierung“ markieren; Grenzen, die nicht durch Freihandel und Dere- gulierung überwunden werden sollen, sondern zur Exklusion der Nicht-Da- zugehörigen und Nicht-Gewollten mit Macht befestigt werden. Nur in den selbst gezogenen Grenzen meinen die Globalier, ihre Freiheiten austoben zu können. Daher sind Grenzzäune und feindliche Stimmungsmache gegen Migranten einerseits und deregulierte Freiräume für die Spekulation auf

15 Jean-Christophe Rufin, Globalia, Köln 2005. 16 Zygmunt Bauman, Wasted Lives. Modernity and Its Outcasts, Hoboken 2013. 17 Zur Externalisierung gibt es eine unüberschaubare Literatur. Vgl. die frühe Studie aus den 1940er Jahren) von K. William Kapp, Volkswirtschaftliche Kosten der Privatwirtschaft, Tübingen 1959; auch: Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016.

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Finanz- und Warenmärkten andererseits rationale Maßnahmen und kein Widerspruch. Neoliberale Marktfreiheiten und harte Grenzregime vertra- gen sich bestens. Neoliberale Globalisierung schafft eine Welt eingezäunter Parzellen: Dies ist die unvermeidliche Folge der Externalisierung, ohne die ökonomisches Handeln unter globalisierten kapitalistischen Verhältnissen irrational würde. Gleichzeitig werden aber durch ebendiese Globalisierung einst externe Räume18 internalisiert. Aus der Natur kann man nicht mehr wie aus einem Füllhorn schöpfen, wenn dieses aus internen Ressourcen aufgefüllt werden müsste. Die „europäische Rationalität der Weltbeherrschung“ (Max Weber) verliert daher ihre Geschäftsgrundlage, wenn sie nicht mehr die externe Welt zum besseren Funktionieren des eigenen Systems plündern und gleich- zeitig all jene Elemente externalisieren könnte, die die rationale Funktions- weise des Systems stören.

Geld verbindet nicht, Geld spaltet

In Frage gestellt wird aber nicht zuletzt die angeblich höchste Form der Rationalität in einer kapitalistischen Marktwirtschaft, das Geld. Denn Geld verbindet nicht, wie behauptet, Geld spaltet und grenzt aus – in jedem einzel- nen Land und weltweit. Zunächst ist Geld das Kaufmittel, mit dem Güter und Dienste auf dem Markt erworben werden können. Ohne Geld funktioniert das nicht, und daher ist eine Marktwirtschaft immer eine Geldwirtschaft. Geld verschafft auch ökonomische Macht, politisches Gewicht, Einfluss und gesellschaftli- che Geltung. Je mehr Geld, desto höher die babylonischen Türme, die gebaut werden, desto gieriger das Gehabe der schon Reichen, desto protzig-absto- ßender das Outfit, desto mondäner die Frauen. Und desto leichter auch der Erwerb eines Visums. Geld spaltet somit in Arm und Reich. Was Aristoteles wusste, ist für Trump und seine Follower ein verdrängtes Faktum, ein Fake. Geld ist etwas Dop- peltes, daher die doppelte Buchführung, die Spitzenleistung europäischer Rationalität: eine Forderung an die Zentralbank, den Schatz eines Herr- schers oder das produzierte Vermögen der Nation ist zugleich eine Verpflich- tung, eine Schuld, die zu bedienen ist. Für die beklagenswerten 99 Prozent, die Hillary Clinton im US-Wahlkampf 2016 ostentativ, wenn auch erfolglos, bedauerte, gibt es hingegen nur Kleingeld. Das große Geld existiert für sie nur in Gestalt von Schulden, auch von Staatsschulden, für die die 99 Prozent den Schuldendienst zu löhnen haben, mit dem die Geldvermögen des einen Prozent wachsen. Die buchhalterische Doppelseitigkeit des Geldes stellt sich nun als Klassenspaltung heraus; auf der Soll-Seite diejenigen, die Schulden- dienst zahlen, und auf der Haben-Seite die Geldvermögensbesitzer, die die- sen in der Kasse klimpern hören.

18 Externe Räume im Sinne von Funktionsräumen. Vgl. dazu Altvater und Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 139 ff.

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Doch Halt!, werden einige einwenden. Bei Null- oder gar Negativzinsen wie seit einigen Jahren in den USA und Europa wird die Schuldenlast real immer geringer und der Zuwachs der Vermögen sogar negativ. Hier tönen die Kla- gen über eine Enteignung der kleinen Sparer in den Ohren. Gleichzeitig aber liegt Leihkapital brach, weil es trotz Null-Zinsen nur unzureichend nachge- fragt wird. Warum? Offenbar, weil es trotz Niedrigzinsen zu wenige profi- table Investitionsgelegenheiten gibt. Es wird zu viel gespart, sagt nicht nur Ben Bernanke, FED-Chef in der Zeit von Bush und Obama.19 Die Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen auf dem Weltmarkt zeigen es. Überschüsse wie in Deutschland deuten auf zu hohes Sparen und zu geringe Investitionen hin, die Defizite in den USA und anderswo auf das Gegenteil. Kann man den Trumpschen Protektionismus also als eine Antwort auf die- sen Affront interpretieren – und als berechtigte Aufforderung an die Deut- schen, endlich mehr zu investieren? Doch zielt diese einfache Frage an den real-ökonomischen Ursachen mangelnder Rentabilität oder Profitabilität vorbei.20 Die Rentabilität neuer Kapitalanlagen ist auch eine Folge der ver- änderten Altersstruktur der Erwerbsbevölkerung in den alten Industrielän- dern: Je höher der Altersdurchschnitt, desto geringer die Profitabilität des investierten Kapitals. Hinzu kommt der in der Tendenz rückläufige Anstieg der Arbeitsproduktivität. Auch das drückt die Rendite realer Investitionen.

Die fatale Rückkehr des Verdrängten

Außerdem erleben wir die aus der Psychoanalyse bekannte Wiederkehr des Verdrängten – nämlich in der globalisierten Ökonomie die Wiederkehr des Externalisierten. Die europäische Zweck-Mittel-Rationalität verlangt, einen Zweck mit geringstmöglichen Mitteln zu erreichen. Daher ist es rational, sich jener Mittel, die die Natur bereitstellt, möglichst ausgiebig zu bedienen – was in der Geschichte des Kapitalismus auch immer geschehen ist. Marx hat dies als die Nutzung eines „Gratisgeschenks der Natur“ bezeichnet,21 und Immanuel Kant hat darauf verwiesen, dass die Kugelfläche des Planeten eine begrenzte sei. Daher rächt sich auch die Missachtung der ökologischen Grenzen des Wachstums. Einerseits wird die externe Natur also radikal geplündert, anderer- seits wird man das zu Externalisierende nicht einfach los. Es kehrt auf dem begrenzten Planeten (zumeist an anderer Stelle und zu anderen Zeiten zurück); das aber drückt auf die Profitabilität. Weil alle Welt in aller Welt verdrängt, sprich externalisiert hat, fällt die allgemeine Durchschnittspro- fitrate. Dann aber hat die reale Ökonomie nicht mehr genug Saft, um Pro- fit- und Wachstumsrate auf ein Niveau zu heben, das den Anforderungen der Finanzmärkte, die Renditen nach oben zu treiben, genügen könnte. Das

19 Ben Bernanke 2015, Why are interest rates so low?, www.brookings.edu, 1.4.2015. 20 Wir verwenden beide Begriffe synonym. 21 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, 22. Kapitel, MEW 23, S. 630.

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externe Füllhorn wird geleert, die „Gratisproduktivkraft“ kann nicht mehr genutzt werden, zumindest wird ihre Nutzung teuer. Großer Nutznießer dieser Lage sind die Akteure auf den globalen Finanz- märkten: Infolge der Finanzinnovationen seit der Deregulierung der Finanz- märkte liegen hier die Renditen trotz der Zinssenkungsmanöver der Zentral- banken höher als reale Profitraten, Realzinsen und reale Wachstumsraten. Das aber unterläuft die Keynessche Lösung für ökonomische Krisen. Sie bestand, vereinfacht ausgedrückt, darin, die Rentabilität des in der realen Ökonomie angelegten Kapitals komparativ zu verbessern, indem auf der anderen Seite die Rendite der Finanzanlagen abgesenkt wurde. Keynes nahm so den „sanften Tod des Rentiers“ zur Ankurbelung der Wirtschaft in Kauf. Heute, in Zeiten deregulierter und globalisierter Finanzmärkte, geschieht exakt das Gegenteil. Der „sanfte Tod“ des Rentiers muss unbedingt verhin- dert und diesem profitables Leben eingehaucht werden – und zwar durch Senkung aller Kosten, durch Wegfall hinderlicher Regeln, Verbote und Gebote, vor allem durch „den Investoren freundliche Gestaltung der Steu- ern“, durch niedrige Löhne und Lohnnebenkosten. Die Keynessche Weiche lenkte einst Leihkapital wegen höherer Rentabili- tät in die Realwirtschaft, in Industrie, Handel oder Dienstleistungen, wo auch Arbeitsplätze geschaffen wurden. Nun wurde diese Weiche von den neoli- beralen Weichenstellern in Wissenschaft und Politik umgelegt. Leihkapital fließt auf die globalisierten Finanzmärkte, um mit spekulativen Anlagen eine schnelle Rendite zu machen.22 Es wird viel spekuliert, aber zu wenig produziert. Die Geldvermögensbesitzer gewinnen, alle anderen verlieren. Kurzum, in den wenigen Jahrzehnten der neoliberalen Globalisierung ist die Erde in einen „Apartheidsplaneten“23 verwandelt worden. Doch Wider- stand regt sich heute weniger als sozialer und politischer Protest denn im Namen nationaler, ethnischer und religiöser Anliegen – und oft bedient er sich der Sprache des Rechts. Vielleicht werden die empörenden Verhältnisse auf Erden aber auch deswegen ertragen, weil das erwähnte Globalisierungs- versprechen nachwirkt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde dieses zu einem nicht hinterfragten doppelten Dogma verdichtet, das in allen Spra- chen und Kulturkreisen verstanden wird: Wachstum und Wohlstand. Wenn allen etwas zuwächst, so die Idee dahinter, ist es nicht so schlimm, wenn der Zuwachs bei den einen größer ist als bei anderen. Doch über Wachstum und Wohlstand muss sehr wohl geredet werden. Erstens erschöpfen sich die Quellen des Wachstums. In den entwickelten Ländern ist der Bevölkerungszuwachs rückläufig, und auch die Produkti- vitätssteigerung wird flacher. Wachstum kommt in den entwickelten Län- dern daher mehr und mehr durch Plünderung zustande, durch Übernutzung natürlicher Ressourcen, durch ungleichen Tausch mit Hilfe der von transna-

22 Wir haben in „Grenzen der Globalisierung“ (160 ff., insbesondere S. 168) das Umsteuern ökonomi- scher Prozesse mit der Keynesschen und der monetaristischen Weiche und deren Folgen ausführlich beschrieben, ebenso die von Thomas Piketty in den Vordergrund gerückte Konstellation von Real- zinsen (i), die höher als die reale Wachstumsrate (r) sind: i > r; vgl. FN 1 und FN 25. 23 Naomi Klein, How War Was Turned into a Brand, in: „The Guardian“, 16.6.2007.

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tionalen Konzernen beherrschten Preisbildung auf globalen Märkten und vor allem mit Hilfe des globalen Finanzsystems. Darauf setzt offensichtlich auch US-Präsident Trump, befinden sich in seiner Regierungsmannschaft doch gleich mehrere Repräsentanten der Wall Street, dem Äquator des wilden Plünderungskapitalismus.

Ein Planet der Ungleichheit

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn nach einer jahrzehntelangen Wachs- tumsperiode die Ungleichheit aus dem Ruder läuft. Klassen und ihre Orga- nisationen kämpfen zwar noch immer an vielen Orten der Welt bei der funk- tionellen Verteilung um ihren Anteil, aber das ist nach dem „Abschied vom Proletariat“ und der Entdeckung der Nicht-Klasse des „Prekariats“24 nicht von brennendem Interesse. Es sind Individuen, die ihren Wohlstand in der personellen Verteilung mehren wollen. Dabei verlieren sie schon einmal aus den Augen, dass die Voraussetzungen für den Erfolg im Verteilungskampf ebenfalls ungleich in der 99-Prozent-Menschheit verteilt sind, weil dieser dann doch von der Stellung in der Klassengesellschaft abhängig ist. Doch immer mehr verlieren – trotz der empörenden sozioökonomischen Ungleichheit – die vertikalen Klassenunterschiede ihre Kraft der Anrufung; ethnische, nationalistische, rassistische, religiöse und andere Unterschiede werden stattdessen zu besonderen Eigenschaften gegenüber den „Fremden“ überhöht. Ernest Gellner interpretierte schon vor Jahrzehnten die Abwehr des Fremden als pathologische Ausbildung von Entropieresistenz, gerich- tet gegen den Zerfall von Ordnung.25 Diese kann sich auch als Massenphä- nomen zeigen, wenn Menschen, die entfremdet, entmachtet und enteignet sind, im Namen von nationalen, ethnischen und religiösen Anliegen „Bom- ben der Anomie“26 zünden und so der Logik der Doppelmasse nachgeben, deren destruktive Kraft bereits Elias Canetti thematisierte.27 Die von Canetti beschriebenen Hetzmassen und -meuten bedienen sich der binären Logik nationalistischer, rassischer und sonstiger Gegensätze und kümmern sich um die multiple Logik des Marktes einen Dreck. Die ökonomische Globalisierung wird daher heute – anders als noch in den 1990er Jahren – keineswegs primär mit Wohlstand und Wachstum der Welt- wirtschaft assoziiert, sondern mit einer extrem zunehmenden Ungleichheit, ja Spaltung in der Welt – und zwar in jedem einzelnen Land, zwischen den Klassen, den Geschlechtern, den Ethnien, den Weltregionen. Welche Statis- tik man auch anschaut, welche Schablone man auch anlegt, die wachsende Ungleichheit in der Welt ist nicht zu übersehen, und sie wird populistisch instrumentalisiert. Das ist vor allem so wegen der stupenden Zunahme der Ungleichheit während der angeblichen Wunderjahre der Globalisierung.

24 André Gorz, Abschied vom Proletariat – jenseits des Sozialismus, Frankfurt a. M. 1980. 25 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991. 26 Jean und John Comaroff, a.a.O., S. 155. 27 Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980.

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Alle Versprechen, es handele sich doch nur um eine vorübergehende Anoma- lität, haben sich als leer herausgestellt. Wenn sich die Ungleichheit nicht ver- ringert, sondern stetig zunimmt, werden alle Aussichten auf gleiche Beteili- gung am gesellschaftlichen Leben und an den politischen Entscheidungen eines demokratischen Gemeinwesens zunichte gemacht. Resignierte Men- schen werden eine demokratische Gesellschaft nicht errichten, erkämpfen oder aufrechterhalten wollen. Es kommt die Konzentration von Macht hinzu, die mit der Ungleichheit zunimmt. Dies folgt nicht nur aus der Konzentration von Vermögen und Ein- kommen, die sich in ökonomische und politische Macht übersetzen lässt. Der Zugang zu allen Ressourcen, auch zu denen der Natur des Planeten, steht vor allem denen offen, die über monetäre Kaufkraft verfügen, allen anderen weniger oder gar nicht. Geld spaltet, wie wir ausführten. Hinzu kommt, dass die Verteilung der knappen Ressourcen des Planeten immer prononcierter auch mit militärischer Macht geregelt wird. Militär aber kostet, und das kön- nen sich nur die reichen Staaten oder Individuen leisten. Die Ungleichheit wird aber zum öffentlichen Skandal, weil zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sämtliche Erdenbürger voneinander wissen, im Norden und Süden, im Osten und Westen. Und sie haben gelernt, ihre Lebensstandards und Lebensweisen zu vergleichen. Bei dieser Erkenntnis sind ihnen nicht nur die Medien, sondern auch internationale Institutionen und die Bildungseinrichtungen behilflich. Die Menschen lernen: Der Wohlstand der einen hat den Missstand der anderen zur Folge, das eine Prozent der Reichen in der Welt und die 99 Pro- zent der Armen und Elenden sind die Kehrseiten der gleichen Globalisie- rungsmedaille. Damit bestätigt sich wieder einmal die Dialektik von Ent- wicklung und Unterentwicklung, von Reichtum und Armut, von Einfluss und Einflusslosigkeit, oder – um moderne Terminologie zu gebrauchen – von Inklusion und Exklusion auf einem (zu) kleinen Planeten. Dessen Natur reicht nicht für die Befolgung des Gebots der europäischen Rationalität, die Welt zu beherrschen und gleichzeitig wie in Beethovens Ode, nämlich friedlich und freundlich, „Millionen zu umschlingen“. Gleich- zeitig für alle Menschen das Gebot der Demokratisierung umzusetzen und alle fast acht Milliarden Menschen an der Lebensweise des einen Prozent Privilegierten teilhaben zu lassen, stellt sich theoretisch als Unmöglichkeit und historisch als ausgeschlossen heraus. Wir müssen also auch weiter- hin über die physischen, ökonomischen, politischen und mentalen Gren- zen der Globalisierung reden. Denn die schreiende Ungleichheit bleibt das größte Skandalon auf Erden. Unseren begrenzten Planeten können wir nicht ändern, also müssen wir endlich die Produktions- und Lebensweise mit den natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in Einklang bringen.

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201705_Buch.indb 74 19.04.17 10:47 Unsere schöne imperiale Lebensweise Wie das westliche Konsummodell den Planeten ruiniert

Von Markus Wissen und Ulrich Brand

m Februar 1994 erschien in der Zeitschrift „The Atlantic Monthly“ ein Bei- I trag des US-amerikanischen Journalisten Robert D. Kaplan mit dem Titel „Die kommende Anarchie“.1 Am Beispiel Westafrikas widmet sich der Autor der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der sogenannten unter- entwickelten Welt und zeichnet ein äußerst düsteres Bild derselben. Dessen Wirkung wird noch gesteigert durch die suggestiven Fotos von verstopften Straßen in südlichen Mega-Cities, von Slums und verschmutzten Flüssen, von Kindersoldaten und Bürgerkriegsszenen, mit denen der Beitrag unterlegt ist. Die Botschaft ist klar: Nachdem der globale Norden mit dem Ende des Kalten Krieges das Interesse am globalen Süden verloren hat, droht dieser im Chaos zu versinken. Er wird zum Hort von Gewalt, Staatszerfall, Epidemien, „Über- bevölkerung“ und ökologischer Zerstörung. Mit seinem Beitrag will Kaplan nicht auf das Leid von Menschen hinwei- sen oder den Zusammenhängen zwischen dem Reichtum im Norden und den Konflikten im Süden nachspüren. Es geht ihm vielmehr darum, eine Weltordnung zu skizzieren, in der die übersichtliche Konkurrenz zwischen Nationalstaaten durch eine anarchische Vielzahl von „kulturell“ und reli- giös motivierten Konflikten abgelöst wird. Zudem will er vor der Bedrohung der nationalstaatlichen Ordnung auch des globalen Nordens warnen, die aus einer Ausbreitung der Anarchie des Südens sowie aus den Spannun- gen resultiert, die in den kulturell heterogenen Gesellschaften des Nordens selbst angelegt sind. Den ökologischen Problemen in Gestalt von zunehmender Ressourcen- knappheit und Umweltzerstörung misst Kaplan dabei eine besondere Bedeu- tung zu: „Es ist an der Zeit, ‚die Umwelt’ als das zu begreifen, was sie ist: die nationale Sicherheitsfrage des frühen 21. Jahrhunderts. Die politischen und strategischen Auswirkungen von wachsenden Bevölkerungszahlen, sich ausbreitender Krankheit, Entwaldung, Bodenerosion, Erschöpfung von Was- serressourcen, Luftverschmutzung und, möglicherweise, steigenden Mee-

* Dieser Beitrag basiert auf dem neuen Buch der Autoren „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“, das jüngst im oekom verlag erschienen ist. 1 Robert D. Kaplan, The coming anarchy, in: „The Atlantic Monthly“, 2/1994, S. 44-77.

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resspiegeln in kritischen überbevölkerten Regionen wie dem Nildelta und Bangladesch stellen die zentrale außenpolitische Herausforderung dar, aus der alle anderen Herausforderungen letztlich hervorgehen werden. Denn diese Entwicklungen werden zu massenhafter Migration führen und Grup- penkonflikte anheizen.“2

Der Klimawandel als Frage nationaler Sicherheit

Gut 20 Jahre nach Erscheinen von Kaplans Artikel überbieten sich europäi- sche Politiker bei der Abschreckung und Abschottung gegenüber Menschen, die, getrieben von existenzieller Not oder dem Wunsch nach einem besseren Leben, die EU zu erreichen versuchen. Die Zurückweisung einer im inter- nationalen Vergleich überschaubaren Zahl von Geflüchteten wird zu einer Frage der nationalen Sicherheit stilisiert, Zäune werden gebaut, „Schicksals- gemeinschaften“ beschworen und „Obergrenzen“ eingefordert. Es scheint, als würde sich die von tiefen Interessengegensätzen entzweite politische Elite Europas einander in dem Bestreben annähern, an den Geflüchteten ein Exempel zu statuieren. Damit will sie anscheinend der von Kaplan imagi- nierten Bedrohung nationalstaatlicher – und in diesem Fall auch supranatio- naler – Ordnung geschlossen und mit aller Macht entgegentreten.3 Daneben zeigt sich in der Situation des Jahres 2017 noch eine zweite Remi- niszenz an Kaplans Diagnose von 1994: Viele der Menschen, die Europa zu erreichen versuchen, scheinen auch aus ökologischen Gründen zu fliehen: Steigende Temperaturen oder Konflikte um knapper werdende Ressourcen in Landwirtschaft und Bergbau berauben sie der Möglichkeit, ein von Not und Gewalt freies Leben zu führen. Auch der Syrienkrieg reiht sich in diese Erzählung ein, und zwar insofern, als ihm eine lange Dürre vorausging, die das gesellschaftliche Konfliktpotential vergrößerte.4 Kaplans Katastrophenszenario scheint sich also im Jahr 2017 zu bestätigen. Und nicht nur das: Es liefert der europäischen Abschottungspolitik gleich die Rechtfertigungsgründe mit. Wenn „die Umwelt“ zur Frage nationaler Sicher- heit wird und wenn es nun mal der globale Süden ist, dem „die Umwelt“ besonders übel mitspielt, wenn dieser Süden zudem in einem solchen Chaos versinkt, dass jede Perspektive politischer Stabilität und ökonomischer Ent- wicklung unter nationalstaatlichen Vorzeichen undenkbar wird, dann muss sich der globale Norden scheinbar auf die Verteidigung seiner zivilisatori- schen Errungenschaften konzentrieren – und sich zu ebendiesem höheren Zweck die Menschen aus dem globalen Süden vom Leib halten. Das Problem ist nur, dass sowohl die Diagnose von Kaplan als auch die heutige Flüchtlingspolitik ihre Legimitation und Plausibilität gerade daraus beziehen, dass sie sich über die beiden entscheidenden Zusammenhänge

2 Robert D. Kaplan, The coming anarchy, a.a.O., S. 58. 3 Vgl. Zygmunt Bauman, Die Welt in Panik. Wie die Angst vor Migranten geschürt wird, in: „Blätter“, 10/2016, 41-50. 4 Siehe hierzu die differenzierte Einschätzung von Andreas Frey in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, 22.2.2016.

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ausschweigen. Erstens: Menschen werden nicht einfach durch die „Knapp- heit“ natürlicher Ressourcen und „den Klimawandel“ zur Flucht getrieben. Stattdessen sind es ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse – wie der ungleiche Zugang zu Land, Wasser und Produktionsmitteln –, die Ressour- cen knapp und den Klimawandel für viele zu einer existenziellen Bedrohung machen. Zweitens: Diese Verhältnisse lassen sich nur begreifen, wenn man sich von den unmittelbaren Eindrücken löst und den Blick über den Teller- rand der betroffenen Regionen hinaus auf den globalen Kontext richtet. Erst dann nämlich werden ökologische Krisen und gewaltsam ausgetragene Kon- flikte in ihrer ganzen Komplexität verständlich.

Wohlstand auf Kosten anderer

Hinter den Konflikten sogenannter verfeindeter Ethnien im Kongo etwa zeigt sich der Bedarf des globalen Nordens an Coltanerzen, die für die Herstellung von Mobiltelefonen oder Laptops gebraucht werden. Wasserkonflikte – in vielen Teilen der Welt scheinbar die zwangsläufige Folge einer im Zuge des Klimawandels zunehmenden Trockenheit – erweisen sich als das Resultat der Zerstörung kleinbäuerlicher Produktionsweisen, wie sie von agrarindus- triellen Unternehmen des globalen Nordens betrieben wird – im Einklang mit den Interessen lokaler und nationaler Eliten des globalen Südens. Und schließlich gerät als eine Ursache der – mangels anerkannter Fluchtgründe oft als „illegal“ gebrandmarkten – Migration afrikanischer Kleinbauern nach Europa die EU-Agrar- und Außenhandelspolitik in den Blick, die mit dem Export hochsubventionierter Agrarprodukte nach Afrika dortige Märkte und Einkommensmöglichkeiten zerstört.5 Aus dieser Perspektive verliert die Analyse Kaplans genauso den Anschein der Plausibilität wie die Politik der EU den der Legitimität. Die EU- Politik präsentiert sich als Versuch, einen Wohlstand, der auch auf Kosten anderer entsteht, gegen die Teilhabeansprüche ebendieser anderen zu ver- teidigen. Sie ist insofern die logische Konsequenz einer Lebensweise, die darauf beruht, sich weltweit Natur und Arbeitskraft zunutze zu machen und die dabei anfallenden sozialen und ökologischen Kosten zu externalisieren:

Diese Externalisierung nimmt die Gestalt von CO2 an, das bei der Herstel- lung der Konsumgüter für den globalen Norden emittiert und von den Öko- systemen der Südhalbkugel absorbiert wird (bzw. sich in der Atmosphäre konzentriert). Sie tritt in Gestalt von metallischen Rohstoffen aus dem glo- balen Süden auf, die die unabdingbare Voraussetzung von Digitalisierung und „Industrie 4.0“ im globalen Norden darstellen. Sie zeigt sich aber auch in Gestalt jener Arbeitskräfte im globalen Süden, die bei der Extraktion von Mineralien und Metallen, bei der Wiederverwertung unseres Elektro- schrotts oder beim Schuften auf pestizidverseuchten Plantagen, die die im

5 Vgl. etwa Dorothea Schmidt und Sandra Sieron, Editorial: Ökonomie der Flucht und der Migration, in: PROKLA, 2/ 2016, S. 172-180; Kristina Dietz, Der Klimawandel als Demokratiefrage. Sozial-öko- logische und politische Dimensionen von Vulnerabilität in Nicaragua und Tansania, Münster 2011.

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globalen Norden verzehrten „Südfrüchte“ hervorbringen, ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren.6

Die imperiale Lebensweise

Eine Lebensweise, die auf derartigen Voraussetzungen beruht und immer auch die Produktionsweise einschließt, ist imperial. Das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wird wesentlich durch die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht. Das geschieht durch den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die natürlichen Ressourcen und Senken im globalen Maßstab.7 Entscheidend für das Leben in den kapitalistischen Zentren ist die Art und Weise, wie Gesellschaften andernorts – insbesondere im globalen Süden – organisiert sind und ihr Verhältnis zur Natur gestalten. Dies wiede- rum ist grundlegend dafür, ob der für die Ökonomien des globalen Nordens nötige Transfer von Arbeit und Natur aus dem globalen Süden gewährleis- tet ist. Umgekehrt strukturiert die imperiale Lebensweise im globalen Nor- den die Gesellschaften an anderen Orten in hierarchischer Weise entschei- dend mit. Der Ausdruck „andernorts“ ist in seiner Unbestimmtheit durchaus bewusst gewählt. In Haushaltsgeräten, medizinischen Apparaten oder Infrastruktu- ren des Transports sowie der Wasser- und der Energieversorgung stecken Rohstoffe, deren Herkunft nicht sichtbar ist. Das Gleiche gilt für die Arbeits- bedingungen, unter denen diese Rohstoffe ausgebeutet oder Textilien und Lebensmittel hergestellt werden. Und es trifft auch auf den Energieaufwand zu, der dafür erforderlich ist. All dies bleibt beim Kauf, beim Konsum und bei der Nutzung vieler notwendiger Alltagsgegenstände verborgen – dazu gehö- ren auch die „kulturellen Lebensmittel“ wie Print- oder digitale Medien. Nur aufgrund dieser unsichtbaren sozialen und ökologischen Voraussetzungen können diese Produkte überhaupt so selbstverständlich gekauft und genutzt werden. Der Agrarsoziologe Philip McMichael spricht von „Food from nowhere“ – Essen aus dem Nirgendwo – und meint das Verdunkeln der Herkunft und Produktion von Lebensmitteln, mit der ihre raumzeitlich unbegrenzte Ver- fügbarkeit normalisiert wird.8 Erdbeeren aus China, die im Winter in deut- schen Schulküchen angeboten werden, Tomaten, die illegalisierte Migranten in Andalusien für den nordeuropäischen Markt produzieren, und Garnelen, die unter Zerstörung thailändischer oder ecuadorianischer Mangrovenwäl-

6 Vgl. Stephan Lessenich, „Weil wir es uns leisten können“. Wie und warum wir über die Verhältnisse anderer leben, in: „Blätter“, 11/2016, S. 91-102. 7 Senken sind jene Ökosysteme, die mehr von einem bestimmten Stoff aufnehmen, als sie selbst an ihre Umwelt abgeben (wie Regenwälder und Ozeane im Fall von CO2). Allerdings wären die Begriffe „Ressourcen“ und „Senken“ weiter zu problematisieren, denn sie beinhalten bereits termi- nologisch ein instrumentelles Verständnis der äußeren Natur des Menschen: Ressourcen und Sen- ken existieren nicht per se, sondern nur in Bezug auf bestimmte und historisch wandelbare gesell- schaftliche Bedürfnisse. 8 Philip McMichael, The World Food Crisis in Historical Perspective, in: „Monthly Review“, 3/2009.

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der für die Konsumenten im globalen Norden gezüchtet werden, sind Bei- spiele hierfür. Die imperiale Lebensweise beruht auf Produktions-, Vertriebs- und Kon- sumnormen, die tief in die politischen, ökonomischen und kulturellen All- tagsstrukturen und -praktiken der Bevölkerung im globalen Norden – und zunehmend auch in den Schwellenländern des globalen Südens – eingelas- sen sind. Gemeint sind nicht nur die materiellen Praktiken, sondern insbe- sondere die sie ermöglichenden strukturellen Bedingungen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Leitbilder und Diskurse. Zugespitzt formu- liert: Die Standards des „guten“ und „richtigen“ Lebens, das ja vielfach aus der imperialen Lebensweise besteht, werden im Alltag geprägt, auch wenn sie dabei Teil umfassender gesellschaftlicher Verhältnisse und insbesondere von materiellen und sozialen Infrastrukturen sind.9 Der Kauf eines Autos ist beispielsweise eine bewusste Handlung, die sich in infrastrukturell, institutionell oder von gesellschaftlichen Leitbildern vor- gegebenen und habituell verinnerlichten Bahnen vollzieht. So beeinflussen zahlreiche überindividuelle und den Individuen nicht notwendigerweise bewusste Faktoren die Kaufentscheidung. Dazu gehören ein zu Lasten des öffentlichen Personentransports ausgebautes Straßennetz und staatliche Kauf- und Nutzungsanreize für PKW, aber auch vorherrschende Männlich- keitsbilder und Vorstellungen individueller Unabhängigkeit. Ebenso wichtig sind Wertschöpfungsketten, die eine billige Aneignung von Ressourcen und Arbeitskräften andernorts ermöglichen, sowie laxe Abgasnormen und eine gesellschaftliche Statuskonkurrenz, die auch über den Autobesitz ausgetra- gen wird. All diese Faktoren verleihen der Entscheidung fürs Auto erst ihre „Rationalität“ und lassen sie normal erscheinen. Sie bringen aber auch die Herrschaft begründenden und reproduzierenden Voraussetzungen, unter denen sie getroffen wird, gegebenenfalls auch ihre Gewaltförmigkeit, zum Verschwinden.

Die Abwälzung der Kosten

Demgegenüber gilt es, sichtbar zu machen, was den Alltag – das Produzieren und Konsumieren – der Menschen im globalen Norden sowie einer größer werdenden Zahl von Menschen im globalen Süden überhaupt erst ermög- licht. Das geschieht meist, ohne die Schwelle der bewussten Wahrnehmung oder gar der kritischen Reflexion zu überschreiten. Denn Normalität ergibt sich gerade, wenn die ihr zugrunde liegende Zerstörung ausgeblendet wird. Mit anderen Worten: Die Alltagspraktiken sowie die ihnen zugrunde liegen- den gesellschaftlichen und internationalen Kräfteverhältnisse erzeugen und verstetigen die Herrschaft über Mensch und Natur. Folglich müssen wir erklären, wie und warum sich so etwas Normalität herstellt – in einer Zeit, in der sich Probleme und Krisen häufen, zuspitzen

9 Dieter Kramer, Konsumwelten des Alltags und die Krise der Wachstumsgesellschaft, Marburg 2016, S. 29.

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und überlagern: Das betrifft die soziale Reproduktion und die Ökologie, es gilt für Wirtschaft und Finanzen, aber auch für Geopolitik, europäische Inte- gration und Demokratie. Um diesen Widerspruch zu verstehen, ist die imperiale Lebensweise zen- tral. Denn bei ihr handelt es sich um ein Paradoxon, das im Zentrum ver- schiedenster Krisenphänomene steht: Sie wirkt einerseits in vielen Teilen der Welt verschärfend auf den Klimawandel und die Vernichtung von Ökosys- temen, auf die soziale Polarisierung, die Verarmung vieler Menschen und die Zerstörung lokaler Ökonomien oder auf die geopolitischen Spannungen, von denen man noch bis vor wenigen Jahren ausging, sie seien mit dem Ende des Kalten Krieges überwunden worden. Mehr noch: Sie bringt diese Krisen- phänomene wesentlich mit hervor. Andererseits trägt sie aber dort, wo sich ihr Nutzen konzentriert, zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhält- nisse bei. So wäre es ohne die auf Kosten von Mensch und Natur andernorts hergestellten und eben deshalb billigen Lebensmittel womöglich weitaus schwieriger gewesen, die Reproduktion der unteren Gesellschaftsschichten des globalen Nordens auch angesichts der tiefen Wirtschaftskrise seit 2007 zu gewährleisten. Folglich werfen die gegenwärtigen Krisen und Konflikte ein grelles Licht auf die Widersprüchlichkeit der imperialen Lebensweise. Viele Probleme spitzen sich heute auch deshalb derart krisenhaft zu, weil sich die impe- riale Lebensweise derzeit zu Tode siegt. Ihrem Wesen nach beinhaltet sie im globalen Maßstab immer den überproportionalen Zugriff auf Natur und Arbeitskraft, mit anderen Worten: auf ein „Außen“. Sie setzt also voraus, dass andere auf ihren proportionalen Anteil verzichten. Je weniger diese anderen dazu aber bereit sind bzw. je mehr sie selbst darauf angewiesen sind, auf ein Außen zuzugreifen und ihre Kosten auf dieses zu verlagern, desto eher geht der imperialen Lebensweise die Geschäftsgrundlage verloren. Und genau das ist derzeit der Fall. Im gleichen Maße, wie sich Schwel- lenländer wie China, Indien und Brasilien kapitalistisch entwickeln und die dortigen Mittel- und Oberklassen sich „nördliche“ Vorstellungen und Prakti- ken des guten Lebens zu eigen machen, wachsen ihr Ressourcenbedarf und

die Notwendigkeit, Kosten etwa in Gestalt von CO2 zu externalisieren. Sie steigen dadurch nicht nur in ökonomischer, sondern auch in ökologischer Hinsicht zu Konkurrenten des globalen Nordens auf. Das Resultat sind öko- imperiale Spannungen, wie sie sich etwa in der globalen Klima- und Ener- giepolitik zeigen. Dazu kommt, dass immer weniger Menschen im globalen Süden bereit sind, sich ihr Leben von der imperialen Lebensweise des globalen Nordens zerstören zu lassen. Die aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. In ihnen zeigt sich zudem die unge- brochene Attraktivität, die die imperiale Lebensweise auf diejenigen aus- übt, die bislang nicht an ihr teilhaben konnten: Die Geflüchteten suchen Sicherheit und ein besseres Leben, das unter Bedingungen der imperia- len Lebensweise in den kapitalistischen Zentren eher zu realisieren ist als anderswo.

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201705_Buch.indb 80 19.04.17 10:47 Unsere schöne imperiale Lebensweise 81

Dies erklärt auch, warum sich die repressive und gewaltförmige Seite der imperialen Lebensweise – in Gestalt von Rohstoffkonflikten oder der Abschottung gegen Geflüchtete – gerade heute so deutlich offenbart. Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität, sie vermag sich nur so lange zu erhalten, wie sie über ein Außen verfügt, auf das sie ihre Kosten verlagern kann. Dieses Außen schwindet jedoch, denn immer mehr Ökonomien grei- fen darauf zu und immer weniger Menschen sind bereit oder in der Lage, die Kosten von Externalisierungsprozessen zu tragen. Die imperiale Lebens- weise wird dadurch zum Opfer ihrer eigenen Attraktivität und Verallgemei- nerung. Den kapitalistischen Zentren bleibt dann nur noch der Versuch, ihre Lebensweise durch Abschottung und Ausgrenzung exklusiv zu stabilisie- ren. Damit bringen die Vertreter dieser Politik, die sich in der Regel selbst als „bürgerliche Mitte“ etikettieren, genau das hervor, was sie als ihren Wider- part begreifen: autoritäre, rassistische und nationalistische Bestrebungen. Dass diese derzeit überall erstarken, liegt auch daran, dass sie sich in der Krise als die eigentlichen, weil konsequenteren Garanten jener Exklusivi- tät inszenieren können, die im Normalbetrieb der imperialen Lebensweise immer schon angelegt ist. Und im Unterschied zu ihren „bürgerlichen“ Kon- kurrenten vermögen sie ihrer Wählerschaft ein Angebot zu machen, das diese auf eine subalterne Position festlegt und sie gleichzeitig aus ihrer post- demokratischen Passivierung befreit. Nora Räthzel hat diesen Mechanismus im Hinblick auf den Rassismus, wie er sich im Deutschland der frühen 1990er Jahre artikulierte, treffend als „rebellierende Selbstunterwerfung“ bezeich- net. Den Akteuren wird es dabei ermöglicht, „sich als Handelnde in Verhält- nissen zu konstituieren, denen sie ausgeliefert sind“.10

Unhaltbare Produktions- und Konsumnormen

Wenn diese Diagnose zutrifft, dann müssen die Anforderungen an eine Alternative radikaler formuliert werden, als dies im Mainstream der Öko- logiedebatte geschieht. Es reicht nicht mehr, eine „grüne Revolution“11 oder einen neuen „Gesellschaftsvertrag“12 einzufordern. Denn dies lässt, der starken Rhetorik zum Trotz, die politische Ökonomie der Probleme sowie die imperiale Lebensweise unangetastet. Auch greift es zu kurz, implizit oder explizit darauf zu setzen, dass „die Politik“ aus der unabweisbaren, da wis- senschaftlich immer genauer belegten Tatsache der ökologischen Krise end- lich die richtigen Konsequenzen zieht. Damit übersieht man, dass der Staat kein möglicher Gegenpol, sondern ein wesentlicher Garant für die institutio- nelle Absicherung der imperialen Lebensweise ist.

10 Nora Räthzel, Rebellierende Selbstunterwerfung. Ein Deutungsversuch über den alltäglichen Ras- sismus, in: „links“, 12/1991, S. 25. Vgl. auch Christoph Butterwegge, Stolz auf den „Wirtschafts- standort D“, in: „taz“, 1.8.2016. 11 Ralf Fücks, Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, München 2013. 12 WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011.

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Stattdessen kommt es zunächst darauf an, die ökologische Krise als deutli- chen Hinweis auf ein grundsätzlicheres Problem anzuerkennen: Die Produk- tions- und Konsumnormen des globalen Nordens, die sich mit dem Kapitalis- mus herausgebildet und schließlich verallgemeinert haben, lassen sich selbst in ihrer ökologisch modernisierten Variante nur auf Kosten von immer mehr Gewalt, ökologischer Zerstörung und menschlichem Leid aufrechterhalten – und auch dies nur in einem kleinen Teil der Welt. Aufgrund der autoritären, weiter auf Inwertsetzung der Natur und gesellschaftliche Spaltung setzen- den Politik erleben wir derzeit eine beispiellose Anhäufung der Widersprü- che. Die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer biophysikalischen Grund- lagen kann über den kapitalistischen Wachstumsimperativ immer weniger gesichert werden. Wir erleben eine Krise des Krisenmanagements, eine Hegemonie- und Staatskrise. Darauf antworten wiederum vielfältige Alternativen. Diese gilt es auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit und auf ihre verbindenden, die gesellschaft- liche Wirkmächtigkeit steigernden Elemente zu befragen: Inwieweit zeich- nen sich in den Bewegungen für Energiedemokratie, Ernährungssouveräni- tät oder solidarische Ökonomie, um nur einige zu nennen, die Umrisse einer Vergesellschaftung ab, die in einem starken Sinne demokratisch ist? Das wäre eine Gesellschaft, die auf dem Prinzip gründet, dass alle, die von den Folgen einer Entscheidung betroffen sind, gleichberechtigt an deren Zustan- dekommen mitwirken. Und nur ein solches gesellschaftliches Ordnungs- prinzip ist eine angemessene Antwort auf die unhaltbar gewordene impe- riale Lebensweise. Anzeige

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201705_Buch.indb 82 19.04.17 10:47 Marx contra Trump? Versuch einer feministischen Orientierung in gespenstischen Zeiten

Von Ingrid Kurz-Scherf

igentlich war die Arbeiterklasse längst von der Bühne der Geschichte E abgetreten. Sie galt als tot, hoffnungslos zersplittert, aufgesogen von ebenjener kapitalistischen Maschinerie, die sie doch eigentlich für immer zum Stillstand bringen sollte. Nun aber ist sie angeblich wieder da. Sie hat allerdings aktuell eher wenig im Sinn mit Kommunismus, Sozialismus, sozialer Demokratie oder sonst irgendwie links akzentuierter Politik. Ihre politische Tendenz geht viel- mehr – so wird allenthalben berichtet – eindeutig nach rechts. Sie war ent- scheidend beteiligt am gänzlich unerwarteten Sieg von Donald Trump bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen, und sie hat auch in Europa einen so starken Anteil am Aufstieg rechter Parteien und Gruppierungen, dass diese schon als die neuen Arbeiterparteien oder gar die neue Arbeiter- bewegung gelten. Zugleich erleben wir schon seit einiger Zeit ein erstaunliches Revival des Entdeckers der Arbeiterklasse als dem Geburtshelfer einer von allen Ressen- timents befreiten, klassenlosen Gesellschaft. Selbst in bislang eher antimar- xistisch orientierten Kreisen, die bis vor kurzem sogar den Begriff des Kapi- talismus aus ihrem Vokabular verbannt hatten (zugunsten der sozialen oder auch freien Marktwirtschaft), ist die Marxsche Kritik am zerstörerischen Potential einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung längst wieder en vogue. Die Verwerfungen an den globalen Finanzmärkten mit ihren gravierenden Folgen für die Staatsfinanzen und Sozialsysteme vie- ler Länder nähren offenkundig ernsthafte Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise – zumal in Verbindung mit der drohen- den Klimakatastrophe, der durchaus auch (!) ökonomisch evozierten Flücht- lingskrise und anderen bislang nicht bewältigten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Verwirrenderweise hat sich nun allerdings auch die „Neue Rechte“ die Kritik am globalisierten Kapitalismus so zu eigen gemacht, dass sie rhetorisch kaum noch von manchen Varianten linker Globalisierungskritik zu unter- scheiden ist. „Der Hauptfeind“ – konstatiert beispielsweise einer der promi- nentesten rechten Vordenker, Alain de Benoist, – „ist und bleibt, heute mehr denn je, die globale Entfesselung der Logik des Kapitals und die nahtlose

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201705_Buch.indb 83 19.04.17 10:47 84 Ingrid Kurz-Scherf

Integration sozialer Belange in die Marktwirtschaft“.1 Noch gespenstischere Züge nehmen die politischen Konstellationen an, wenn sich ein Multimilliar- där wie Donald Trump zum Kritiker an dem mit der Wall Street verbandelten „Establishment“ aufspielt und dafür dann auch tatsächlich gewählt wird – und zwar auch von Teilen der Arbeiterklasse. Kurzum: Es wird immer schwieriger, sich in der aktuellen Gemengelage nach den gängigen Kriterien von links und rechts zu orientieren. In einigen Ländern hat es sogar den Anschein, als ob demnächst Wahlentscheidungen nur noch zwischen einem mehr oder minder progressiven oder reaktionären Neoliberalismus auf der einen Seite und einem mehr oder minder autoritä- ren oder auch schon faschistoiden Rechtspopulismus auf der anderen Seite möglich sein könnten. Gleichzeitig droht dort der politischen Linken in ihren vielfältigen Varianten und auch außerparlamentarischen Verästelungen das Entschwinden in die Bedeutungslosigkeit.

Trumps Triumph und die fatale Genugtuung von links

Dennoch schwingt in einigen eher linken Kommentaren zur Rechtsver- schiebung der politischen Kräfteverhältnisse in den USA und in Europa eine gewisse Genugtuung mit – und zwar in gleich mehreren Tonlagen. Da ist zum einen die Tonlage des Rechthabens – nach dem Motto: Wir haben es doch schon immer gewusst, Neoliberalismus und neoliberale Glo- balisierung entziehen den modernen Demokratien ihre sozialen Grundlagen und führen die westlichen Gesellschaften in einen autoritären Kapitalis- mus, verschaffen rechtspopulistischen Strömungen Auftrieb und führen die moderne Zivilisation letztendlich in einen Prozess der Selbstzerstörung. Da ist zum zweiten aber auch eine neue Tonlage der Wiederbelebung lin- ker Machtoptionen: In der Wahl von Trump – so wird vielfach argumentiert – manifestiere sich ebenso wie im Vordringen des Rechtspopulismus in Europa doch vor allem die Verzweiflung der durch den globalen Finanzmarktkapita- lismus „Enteigneten und Entrechteten“.2 Deren Aufstand habe nur oder vor allem deshalb eine rechte Tendenz, weil große Teile der etablierten Linken – nahezu perfekt repräsentiert durch Hillary Clinton – die soziale Frage aus dem Auge verloren hätten. Obendrein stünden die „richtigen“, „echten“ Lin- ken entweder gar nicht zur Wahl – wie in der Endrunde der US-Präsident- schaftswahl – oder steckten in einer tiefen Krise, hervorgerufen durch das Ende des Staatssozialismus und die Hegemonie des Neoliberalismus – wie in vielen Ländern Europas. Wenn nun aber die Linke die Botschaft der Trump-Wahl und des Aufstiegs der Rechtspopulisten nur richtig begreife und darauf angemessen reagiere, dann – so wird nahegelegt – könne sich die rechte Wende schon bald als der Beginn vom Ende der neoliberalen Hegemonie erweisen. Sie wäre dann wenig mehr als ein hoffentlich kurzer Umweg zu einer neuen Hegemonie

1 Alain de Benoist, Die Wurzeln des Hasses, Berlin 2002, S. 58. 2 Vgl. nur zum Beispiel Deborah Feldman in „die tageszeitung“, 10.11.2016.

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einer neu erstarkenden Linken. Unverkennbar schwingt in dieser optimis- tischen Botschaft oft noch eine dritte Tonlage mit. Es ist die der Abrechnung mit angeblichen Pseudo-Linken, die mit falschen Allianzen und Orientie- rungen maßgeblich an der Herausbildung jener Hegemonie des Neolibera- lismus beteiligt waren, an der sie letztendlich gescheitert sind oder zu schei- tern drohen.

Kritik am »progressiven Neoliberalismus«

Sehr deutlich wird diese dritte Tonlage an der Position Nancy Frasers. Auch sie sieht im Ausgang der US-Präsidentschaftswahl „nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen, nämlich die Möglichkeit, eine neue ‚neue Linke’ zu schaffen.“3 Die US-amerikanische Sozialphilosophin und Feministin inter- pretiert die Trump-Wahl als das Ende einer „perversen politischen Konstel- lation“, die sich einer höchst fragwürdigen Allianz zwischen sozialdemo- kratisch verbrämten Konzepten des Neoliberalismus und kulturalistischen, postmodernen Strömungen in den sogenannten neuen sozialen Bewegungen nach 1968 verdanke und einen „progressiven Neoliberalismus“ hervorge- bracht habe. Frasers Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Entsorgung der sozialen Frage, wie sie in den USA von den „New Democrats“ (von Bill und Hillary Clinton mitbegründet und maßgeblich repräsentiert), in Groß- britannien von „New Labour“ unter Tony Blair und in Deutschland von Rot- Grün unter Gerhard Schröder betrieben wurde. Besonders scharf kritisiert Fraser aber auch die liberalen und identitären Irrwege des Feminismus, die „die Sache der sozialen Sicherheit, des Wohlstands und der Würde der Arbei- terklasse zugunsten falsch verstandener Emanzipationsvorstellungen in Sachen Meritokratie, Vielfalt und Empowerment geopfert“ und damit maß- geblich zur Herausbildung und Stabilisierung der neoliberalen Hegemo- nie beigetragen hätten.4 Dass mit der Wahlniederlage Hillary Clintons die „unheilige Allianz“ zwischen Neoliberalismus und Feminismus, „von Eman- zipation und Finanzialisierung“ gescheitert sei, eröffne nun die Chance für eine neue Verbindung zwischen der Arbeiterbewegung und neuen sozialen Bewegungen – und für eine neue Verkettung der Kritik an der „Finanziali- sierung“ der kapitalistischen Ökonomie mit einer „antirassistische(n), anti- sexistische(n) und antihierarchische(n) Vision von Emanzipation“. Eine neue „neue Linke“ – so verstehe ich Frasers Botschaft – wird sich nur herausbilden und behaupten können, wenn sie feministischer, ökologischer, antirassistischer, politischer und transnationaler wird, als es die alte „neue Linke“ und erst recht die noch ältere Traditionslinke waren. Gleichzeitig werden sich aber feministische, ökologische, antirassistische, demokratische und postkoloniale Anliegen nur dann nachhaltig behaupten können, wenn

3 Nancy Fraser, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: „Blätter“, 2/2017, S. 71-76. 4 Vgl. dazu auch schon Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: „Blätter“, 8/2009, S. 43 ff.; zur Kritik siehe u.a.: Nanette Funk, Contra Fraser on Feminism and Neoli- beralism, in: „Hypatia“, 11/2013, S. 179 ff.

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sie sich politisch mit der Arbeiterbewegung und theoretisch mit der Marx- schen Kapitalismuskritik verbinden. Der sozialen Frage und der Kapitalis- muskritik misst Fraser dabei eine systematische Priorität bei – nicht im Sinne der Wiederbelebung alter Unterscheidungen zwischen Haupt- und Neben- widerspruch, wohl aber im Sinne eines umfassenden Verständnisses vom Kapitalismus als einer „institutionalisierten sozialen Ordnung“, die neben der kapitalistischen Wirtschaftsweise auch alle anderen Herrschaftsverhält- nisse umfasst, auf denen sie beruht, also auch die Geschlechterverhältnisse.5

Die Herausforderungen der »feministischen Herausforderung«

Tatsächlich bedarf die feministische Gesellschaftskritik unter den gegebe- nen Umständen einer Erneuerung und vor allem einer Schärfung ihrer Kri- tik an der politischen Ökonomie moderner Gesellschaften. Dafür kann eine erneute, kritische Rezeption der Marxschen Kapitalismuskritik durchaus hilf- reich sein. Unter feministischen Gesichtspunkten hat diese Kritikperspek- tive aber ihre Tücken: Denn sie beinhaltet starke Momente einer Legitima- tionsideologie männlicher Herrschaft, die sich durch feministische Erweite- rungen und Korrekturen nicht ohne weiteres beseitigen lassen, weil sie in den Grundannahmen und Grundbegriffen der Marxschen Theorie und in den darauf Bezug nehmenden Marxismen verankert sind. Letztlich verhin- dert der Androzentrismus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, dass diese überzeugende Perspektiven auf die politische Ökonomie demo- kratisch verfasster Gemeinwesen hervorbringen kann. Dementsprechend bin ich skeptisch, ob Marx und seine Kapitalismuskritik tatsächlich – wie von Nancy Fraser empfohlen – als Ausgangspunkt oder gar – wie es Frigga Haug fordert – als „Richtschnur“6 taugen für eine feministi- sche Orientierung in diesen gespenstischen Zeiten. Aus meiner Sicht tragen das Revival der Arbeiterklasse und die Wiederkehr von Karl Marx auch des- halb gespenstische Züge, weil darin eine Wiederbelebung jenes „proletari- schen Antifeminismus“7 aufscheint, der unter den gegebenen Umständen auch in Teilen der linken Debatten leicht eine reaktionäre Tendenz beför- dern könnte. „In den Hunderten von Analysen, die […] versucht haben, das Scheitern der ersten weiblichen Bewerberin um das höchste Amt in den Ver- einigten Staaten zu erklären, war selten die Rede davon, dass Hillary Clinton nicht nur deswegen verloren hat, weil sie, wie inzwischen jeder im Schlaf aufsagen kann, zu intellektuell, zu wirklichkeitsfern und zu sehr Establish- ment gewesen sei. Sondern auch und vor allem: weil sie eine Frau ist. Zum 45.

5 Vgl. ausführlich Nancy Fraser, Behind Marx‘ Hidden Abode. For an Expanded Conception of Capi- talism, in: „New Left Review“, März/April 2014, S. 55 ff. 6 Vgl. Frigga Haug, Marxismus-Feminismus, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/II, Berlin 2015, S. 1886. 7 Der Begriff stammt aus der Schrift „Frauenemanzipation. Politik und Literatur der deutschen Sozial- demokratie zur Frauenbewegung 1863-1933“ des Gewerkschafters Werner Thönnessen (Frankfurt a. M. 1969). Thönnessen sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem „proletarischen Anti- feminismus“ und der Distanzierung der Arbeiterbewegung von ihren ursprünglich revolutionären Zielen.

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Mal in Folge steht an der Spitze der USA wieder ein Mann. Und das soll mit Gender dieses Mal ganz und gar nichts zu tun haben?“, fragt völlig zu Recht Iris Radisch.8 So wie Trump aggressiven Antifeminismus zur Wahlkampf- strategie erhoben hat, so ist der mindestens gleichermaßen aggressive Anti- genderismus geradezu konstitutiv für das Selbstverständnis der neuen Rech- ten und ihrer Anhängerschaft in Europa. Auch und gerade rechte Parteien und Gruppierungen, die – wie die deutsche AfD oder der französische Front National – von „Frontfrauen“ geführt werden, werden weit überproportional von Männern gewählt und bestehen vorwiegend aus Männern. Diese ver- stehen und inszenieren sich gern als „echte Männer“ und machen sich – wie Justus Bender überzeugend dargelegt hat – eher widerwillig damit vertraut, „dass die Frau ein ganz wesentliches Wort in der Politik mitzusprechen hat“.9 Um Missverständnissen vorzubeugen: Eine angemessene Berücksich- tigung der geschlechterpolitischen Dimension der aktuellen Rechtsver- schiebung des politischen Spektrums heißt nicht, Hillary Clinton als Opfer anhaltender Unterdrückung von Frauen zu stilisieren oder der neuen Rech- ten kontrafaktisch ein rein männliches Personaltableau zu unterstellen. Viel- mehr gilt es, die anhaltende Wirksamkeit von Weiblichkeits- und Männlich- keitskonstrukten in den Grundorientierungen politischen wie ökonomischen Denkens und Handelns zu begreifen – auch wenn sich dies unter Mitwir- kung von Frauen vollzieht. Zudem bildet – wie schon Karl Marx und vor ihm Charles Fourier argumentierte – der Umgang mit der Geschlechterfrage immer noch einen sehr empfindlichen Seismographen für die emanzipatori- sche Qualität politischen Denkens und Handelns. Aktuell signalisiert dieser Seismograph die Gefahr, dass der „progressive Neoliberalismus“ auch von einem ebenso reaktionären wie autoritären Pseudo-Sozialismus mit mehr oder minder starken Affinitäten zum Rechtsradikalismus oder auch zum autoritären Erbe des sogenannten Realsozialismus abgelöst werden könnte. Solche Tendenzen untergraben die Möglichkeit des Entstehens einer neuen „neuen Linken“ schon im Ansatz.

Klassenkampf versus Kulturkampf – die falsche Alternative

Diese Gefahr zeigt sich beispielhaft, wenn die Vernachlässigung der sozia- len Frage immer wieder an der Förderung von Frauen und Minderheiten festgemacht wird. Das Ausspielen der sogenannten sozialen Frage gegen die sogenannte Frauenfrage und gegen die Beförderung kultureller Vielfalt hat dabei nicht nur in linken Argumentationsmustern eine lange Tradition, sondern prägt mittlerweile auch rechts oder neoliberal orientierte Varianten des Antifeminismus. So warnte beispielsweise das britische Wirtschafts- magazin „The Economist“ schon Mitte der 1990er Jahre eindringlich vor einer Vernachlässigung der Interessen und Belange, der Befindlichkeiten

8 Iris Radisch, in: „Die Zeit“, 24.11.2016. 9 Justus Bender, Die Wut der AfD auf den neuen Mann, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 10.4.2017.

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201705_Buch.indb 87 19.04.17 10:47 88 Ingrid Kurz-Scherf

und Ängste jener einst als „Helden der Arbeit“ gefeierten Männer im Blau- mann. Während deren starker Arm vormals die Räder der Industriegesell- schaft drehte und sie notfalls auch zum Stillstand bringen konnte, sähen sie sich heute zunehmend dem Stigma der Überflüssigkeit und der Nutzlosigkeit ausgesetzt. Als besonders schmerzlich und demütigend erlebten die einst als das „Salz der Erde“ gerühmten, heutzutage aber oft arbeitslosen oder in pre- käre Beschäftigung abgedrängten Heroen der Industriegesellschaft den Auf- stieg von Frauen, Ausländern und anderen ihnen ehemals untergeordneten Bevölkerungsgruppen. Großzügig gefördert durch staatliche Programme und jovial unterstützt von der liberalen Öffentlichkeit würden diese nun an ihnen vorbeiziehen. Viele Fortschritte, die der Westen bei der Förderung von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen gemacht habe, würden daher schon sehr bald ihren Glanz verlieren, wenn die weiße, heterosexuelle, männliche Arbeiterschaft dabei an den Rand gedrängt, ja abgehängt würde.10 Schon damals richtete sich die Solidarität mit der alten Arbeiterklasse auch – oder sogar vorrangig – gegen eine Politik der Gleichstellung von Frauen, die auf Kosten von Männern geht oder auch nur von Männern als Bedrohung ihrer Vormachtstellung empfunden werden könnte. Auch das aktuelle Revi- val der Arbeiterklasse und ihrer angeblich vernachlässigten Belange ver- weist keineswegs durchgängig auf eine neue Aufmerksamkeit für die heu- tigen sozialen Verwerfungen, sondern richtet sich auch oder sogar in erster Linie gegen eine Politik der kulturellen Vielfalt, der Anerkennung von Min- derheiten und der Förderung von Frauen. Mehr noch: Nicht selten fungiert der Bezug auf die Arbeiterklasse als Camouflage von Ressentiments, die tra- ditionell auch in jenem bürgerlichen Establishment gepflegt werden, gegen dessen als political correctness getarnte Herrschaft sich der „Aufstand der Vergessenen“ angeblich richtet.

Die neue »Mehrheit der Minderheiten«

Tatsächlich lenkt das Revival der Arbeiterklasse von den eigentlichen Ursa- chen und der sozialen Basis der heutigen Rechtsverschiebung ab; denn die neue Rechte ist immer noch vor allem in klerikalen und konservativen Milieus sowie durchaus auch in der Finanzoligarchie und im sogenannten Besitzbürgertum verankert. In den USA ging Trumps Wahlerfolg der Auf- stieg der Tea Party voraus, zudem konnte er von vorneherein mit der Unter- stützung „des großen Geldes“ rechnen. Insgesamt wurde die Präsident- schaftswahl weniger durch den vermeintlich massenhaften Zustrom von ehemals demokratischen Wählern zu Trump entschieden. Ausschlaggebend war vielmehr, dass Hillary Clinton die „neue Mehrheitskoalition aus rassis- tisch unterdrückten Minderheiten, Migranten, Frauen und Jungen“ nicht in gleichem Maße für sich gewinnen konnte wie zuvor Barack Obama.11

10 Vgl. „The Economist“, 28.9.1996. 11 The new majority coalition of racial (and cultural, IKS) minorities, immigrants, liberal women and young people, in: Michael Lind, Obama: Last of the „New Democrats”?, www.salon.com, 30.10.2012.

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Daher stellt sich auch in Europa die Frage, ob die Rechtsverschiebung in ers- ter Linie aus der Vernachlässigung berechtigter Belange der Mittelschicht oder der „hart arbeitenden Menschen“ – womit üblicherweise vor allem Männer gemeint sind – resultiert. Oder wurzelt sie nicht vielmehr in der mangelnden Mobilisierung einer „neuen Mehrheit von Minderheiten“ aus „bewegten“ Frauen (und Männern), Menschen mit Migrationshintergrund sowie jungen Leuten, „Kreativen“ und „Nonkonformisten“ unterschiedlicher Provenienz? Diese Gruppen haben sich nicht nur der zunehmenden Prekari- sierung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu erwehren, sondern auch der wachsenden Aggressivität reaktionärer Ressentiments gegen jede Form der Verunsicherung des Althergebrachten. Diese Frage ist vor allem des- wegen brisant, weil in linken Diskursen oft ein unüberbrückbarer Konflikt oder doch zumindest eine unbedingt zu beachtende Rangfolge zwischen den sozialen Belangen der „hart arbeitenden Menschen“ und den kulturellen Anliegen einer neuen „Mehrheit der Minderheiten“ konstruiert wird. Darin liegt aber eine ebenso asoziale wie antiemanzipatorische und keineswegs unvermeidliche Instrumentalisierung sozialer Sicherheit gegen kulturelle Vielfalt – und umgekehrt. Der Clou einer feministischen Perspektive besteht gerade darin, sich nicht auf diesen Gegensatz einzulassen: Unter den „hart arbeitenden Menschen“ gibt es eben nicht nur weiße Männer, sondern auch viele Frauen, viele Ange- hörige von Minderheiten und viele Menschen mit Migrationshintergrund. Umgekehrt besteht die „neue Mehrheit von Minderheiten“ keineswegs nur aus Bohemiens, Intellektuellen und Kulturschaffenden, sondern auch aus Menschen, die ihren Anspruch auf ein gutes, sinnvolles und erfülltes Leben mit dem Anspruch auf gerechte Teilhabechancen verbinden. Darüber hinaus sind Bohemiens, Intellektuelle und Kulturschaffende keineswegs per se aso- zial, so wie umgekehrt „hart arbeitende Menschen“ keineswegs per se den kulturellen Seiten eines guten Lebens abgeneigt sind.

Soziale Sicherheit in kultureller Vielfalt

Letztlich ist der Konflikt zwischen Klassen- und Kulturkampf, zwischen sozialen Belangen und kulturellen Anliegen nicht nur ein Problem der Ver- einseitigung politischen Denkens und Handelns, sondern auch ein Reflex auf den grundlegenden Wandel der Rahmenbedingungen, unter denen sich kulturelle Vielfalt gegenwärtig entfalten kann, nämlich nur noch im Zerr- spiegel zunehmender sozialer Ungleichheit. Dies verschafft der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in der Tat neue Aktualität – allerdings in einem anderen, komplexeren Sinn, als dies heutzutage in den falschen Erge- benheitsadressen an eine Arbeiterklasse zum Ausdruck kommt, die es seit jeher – wie Christel Neusüß formulierte – nur als eine der „Kopfgeburten der Arbeiterbewegung“12 oder auch – wie Robert Misik neuerdings argumen-

12 Christel Neusüß, Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder: Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander, Hamburg und Zürich 1985.

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tiert – als idealistisches Erbe in der Marxschen Kapitalismuskritik gab.13 Die Aktualität von Karl Marx verweist vor allem auf eines: Es bedarf einer sozial- emanzipatorisch orientierten Kritik der politischen Ökonomie, die die Frage nach politischen Alternativen nicht mehr an das „Prinzip Hoffnung“ (bzw. dessen Inkarnation in der Arbeiterklasse) delegiert, sondern mit glaubwür- digen Konzepten politischen Handelns beantworten muss. Dabei – so scheint mir – steht eines fest: Soziale Sicherheit kann es in einem links-emanzipato- rischen Sinn nur in kultureller Vielfalt geben.14 Nur so lässt sich in Zukunft eine neue „Mehrheit der Minderheiten“ für links-emanzipatorische Poli- tik mobilisieren, an der Frauen wahrscheinlich erst einmal einen höheren Anteil haben werden als Männer. Ebenso wie eine neue „neue Linke“ ihre soziale Basis nur aus der Verknüpfung kultureller Vielfalt mit sozialer Sicher- heit gewinnen kann, wird sie auch ihre theoretischen und konzeptionellen Grundlagen nur aus der gleichberechtigten Integration unterschiedlicher Ansätze entwickeln können. Feministische Erkenntnisse werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Ob und in welcher Weise dies auch für marxistische Sichtweisen gilt, hängt insbesondere davon ab, ob sich diese Sichtweisen von dem in ihnen enthaltenen Androzentrismus und dem damit systematisch ver- knüpften männlichen Dominanzanspruch lösen können.

13 Robert Misik, Marx verstehen, Berlin 2012, S. 38 ff. 14 Die Vorstellung, kulturelle Vielfalt könne „im Alltag (nur) gelassen und mit Respekt gelebt werden“, wenn „soziale Sicherheit für alle garantiert ist“, wie sie von Hans Jürgen Arlt und Wolfgang Storz in der Zeitschrift „OXI“ vom April 2017 dargelegt wird, läuft zumindest Gefahr, „kulturelle Vielfalt“ nur unter der Dominanz eines kontrafaktisch als „Normalität“ definierten und privilegierten Stand- punkt aus zulassen zu können.

Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.) MEHR GEHT NICHT! Der Postwachstums-Reader

Mit Beiträgen von Alberto Acosta . Elmar Altvater Maude Barlow . Ulrich Brand . Jayati Ghosh David Harvey . Tim Jackson . Naomi Klein Serge Latouche . Barbara Muraca . Niko Paech Vandana Shiva . Barbara Unmüßig . Harald Welzer und vielen anderen

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201705_Buch.indb 90 19.04.17 10:47 Who cares? Teil II Die Ausbeutung der Sorgearbeit im neoliberalen Kapitalismus

Von Nancy Fraser

uf den Zusammenbruch des liberalen Wettbewerbskapitalismus folgte A der staatlich regulierte Kapitalismus. Dieser erwuchs aus den Trüm- mern der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs und verschleierte den Widerspruch zwischen ökonomischer Produktion und sozialer Repro- duktion auf ganz andere Weise als das vorherige Kapitalismusregime – näm- lich, indem er die Staatsmacht verpflichtete, sich zugunsten der Reproduk- tion zu engagieren. Die Staaten übernahmen in dieser Ära ein gewisses Maß an öffentlicher Verantwortung für die „soziale Wohlfahrt“. Dadurch suchten sie der zerstörerischen Wirkung nicht nur der Ausbeutung, sondern auch der Massenarbeitslosigkeit auf die soziale Reproduktion entgegenzuwirken. Dieses Ziel machten sich sowohl die demokratischen Wohlfahrtsstaaten der kapitalistischen Kernzone als auch die unabhängig gewordenen Entwick- lungsländer der Peripherie zu eigen – ungeachtet der ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, es zu erreichen. Die Motive waren dabei auch diesmal gemischt. Ein Teil der aufgeklärten Eliten war zu der Überzeugung gelangt, dass das kurzfristige Interesse des Kapitals, maximale Profite zu erzielen, den längerfristigen Erfordernissen einer dauerhaften Akkumulationssicherung untergeordnet werden müsse. Bei der Einführung des neuen sozialökonomischen Regimes – des staatlich regulierten Kapitalismus – ging es darum, das kapitalistische System vor seinen eigenen selbstzerstörerischen Neigungen zu bewahren und zugleich das Gespenst revolutionärer Entwicklungen in einer Ära der Massenmobi- lisierung zu bannen. Produktivität und Profitabilität erforderten nicht etwa einen zerlumpten revolutionären Pöbel, sondern die „biopolitische“ Kultivie- rung eines gesunden, gut ausgebildeten Arbeitskräftepotentials, dem das System etwas zu bieten hatte.1 In einer Ära, in der Kapitalverhältnisse das soziale Leben dermaßen durchdrungen hatten, dass die arbeitenden Klassen sich nicht länger aus eigener Kraft reproduzieren konnten, erkannte man die

* Dies ist der zweite Teil eines Beitrags, der zuerst in der „New Left Review“ vom Juli-August 2016 erschien. Den ersten Teil finden Sie in „Blätter“, 4/2017. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Karl D. Bredthauer. 1 Michel Foucault, Governmentality, in: Graham Burchell, Colin Gordon und Peter Miller (Hg.), The Foucault Effect, Chicago 1991, S. 87-104; Ders., The Birth of Biopolitics, Lectures at the Collège de France 1978-1979, New York 2010, S. 64.

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Notwendigkeit öffentlicher Investitionen in das Gesundheits- und Schul- wesen, in Kinderbetreuung und Altersversorgung, ergänzt durch entspre- chende Maßnahmen der Unternehmerseite. In dieser Situation musste die soziale Reproduktion internalisiert, also in den amtlichen Verwaltungsbe- reich der kapitalistischen Ordnung integriert werden.

Die Verknüpfung von Markt und sozialer Sicherung

Dieses Projekt entsprach zugleich der neuartigen Problematik ökonomischer „Nachfrage“. Wirtschaftsreformer, die eine Dämpfung der dem Kapitalismus innewohnenden Boom-Bust-Zyklen anstrebten, wollten dauerhaftes Wachs- tum dadurch sicherstellen, dass sie die Arbeitnehmer in der kapitalistischen Kernzone befähigten, sich doppelt nützlich zu machen: als Konsumenten wie als Produzenten. Sie akzeptierten die Gewerkschaften, die für höhere Löhne sorgten, ebenso wie öffentliche Ausgaben, die Arbeitsplätze schufen. Zudem erfanden die Strategen der neuen Kapitalismusversion den Haushalt aber- mals neu – diesmal als einen privaten Raum häuslicher Konsumption von Massenprodukten des täglichen Bedarfs.2 So verknüpfte dieses fordistische Modell das Fließband einerseits mit den familiären Verbrauchsgewohnheiten und andererseits mit der staatlich unterstützten Reproduktion. Dadurch ent- stand eine neuartige Synthese aus Marktorientierung und sozialer Sicherung – aus Projekten also, die Karl Polanyi noch als antithetisch aufgefasst hatte. Es waren aber vor allem die arbeitenden Klassen selbst – Frauen wie Män- ner –, die den Kampf um öffentliche Versorgungsleistungen anführten – und dabei ihre ganz eigenen Ziele verfolgten. Ihnen ging es darum, als demokra- tische Staatsbürger gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu werden, also um Würde, Rechte, Anerkennung und materielles Wohlergehen. Für all diese Dinge galt ein stabiles Familienleben als Voraussetzung. Indem sie sich die Ziele der sozialen Demokratie zu eigen machten, werteten die arbeiten- den Klassen die soziale Reproduktion gegenüber der alles verschlingenden Dynamik der ökonomischen Produktion entschieden auf. Damit votierten sie letztlich für Familie, Gemeinschaft und Lebenswelt und gegen die Fabrik, das System und die Maschine. Anders als die Schutzgesetzgebung des libe- ralen Regimes war dieses staatlich-kapitalistische Arrangement das Resultat eines Klassenkompromisses und ein demokratischer Schritt nach vorn. Von ihren Vorgängern unterschieden sich die neuen Arrangements auch inso- fern, als sie – zumindest für manche und eine Zeit lang – einer Stabilisierung der sozialen Reproduktion dienten. Für Angehörige der ethnischen Mehrheit in der kapitalistischen Kernzone verminderten sie die materiellen Belastun- gen des Familienlebens und förderten ihre politische Einbindung. Doch bevor wir uns dazu hinreißen lassen, ein goldenes Zeitalter zu beju- beln, sollten wir die grundlegenden Ausschlüsse zur Kenntnis nehmen, die diese Errungenschaften erst ermöglichten. Denn genau wie früher ver-

2 Kristin Ross, Fast Cars, Clean Bodies, Cambridge, MA 1996; Dolores Hayden, Building Suburbia, New York 2003; Stuart Ewen, Captains of Consciousness, New York 2008.

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quickte sich die Sicherung der sozialen Reproduktion in der Kernzone mit dem (Neo-)Imperialismus. Die fordistischen Regime in der Kernzone finan- zierten ihre Sozialleistungen teilweise durch die anhaltende Ausbeutung der Peripherie – die „Peripherie innerhalb der Kernzone“ inbegriffen –, die auch nach der Dekolonisierung in alten und neuen Formen fortbestand.3 Die ins Fadenkreuz des Kalten Krieges geratenen postkolonialen Staaten lenk- ten ihrerseits den Löwenanteil ihrer – durch imperiale Ausbeutung ohnehin geschmälerten – Ressourcen in entwicklungspolitische Großprojekte, die häufig mit der Enteignung „der eigenen“ indigenen Bevölkerung einher- gingen. Für die überwältigende Mehrheit in der Peripherie blieben staatlich bereitgestellte Leistungen sozialer Reproduktion unerreichbar, gerade die Landbevölkerung musste für sich selbst sorgen. Das staatlich regulierte Regime des Kapitalismus glich seinem Vorläu- fer auch darin, das es Züge einer rassistischen Hierarchie trug: So schloss die amerikanische Sozialversicherung Hausangestellte und Landarbeiter aus und enthielt auf diese Weise vielen afroamerikanischen Beschäftigten Sozialleistungen vor.4 Und die auf die Sklaverei zurückgehende Ungleichver- teilung der Reproduktionsarbeit zwischen Weißen und Nicht-Weißen nahm in den „Jim Crow“-Zeiten5 der Segregation eine neue Gestalt an: Women of Colour6 fanden schlecht bezahlte Lohnarbeit in der Kinderbetreuung oder waren darauf angewiesen, die Wohnungen „weißer“ Familien sauber zu hal- ten – zu Lasten ihrer eigenen Familien.7

Der Familienlohn als Idealbild des staatlich regulierten Kapitalismus

Zudem zeichneten sich diese Arrangements durch eine klare Genderhierar- chie aus. In einer Zeit – von den 1930er Jahren bis etwa zum Ausgang der 1950er Jahre –, in der feministische Bewegungen wenig öffentliche Beach- tung fanden, stellte kaum jemand die Vorstellung in Frage, die Würde der Arbeiterklasse hänge vom „Familienlohn“ des Mannes als dem „Ernährer“

3 In dieser Ära wurde die staatliche Förderung der sozialen Reproduktion mit Steuermitteln und Son- derfonds finanziert, in die Arbeiter wie Unternehmer der Metropolen zu unterschiedlichen, von den Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen des jeweiligen Staates abhängigen Anteilen einzahlten. Doch diese Einnahmequellen wurden erweitert durch den Wert, der aus der Peripherie abgeschöpft wurde, etwa durch Profite aus ausländischen Direktinvestitionen und ungleichem Handel. Vgl. Raúl Prebisch, The Economic Development of Latin America and its Principal Problems, New York 1950; Paul Baran, The Political Economy of Growth, New York 1957; Geoffrey Pilling, Imperialism, Trade and „Unequal Exchange“: The Work of Aghiri Emmanuel, in: „Economy and Society“, 2/1973; Ger- not Köhler und Arno Tausch, Global Keynesianism, New York 2001. 4 Jill Quadagno, The Color of Welfare, Oxford 1994; Ira Katznelson, When Affirmative Action Was White, New York 2005. 5 Der Name „Jim Crow“ wurde im 19. Jahrhundert zum Synonym für das rassistische Stereotyp eines tanzenden, singenden, mit sich und der Welt zufriedenen, aber faulen, unterdurchschnittlich intel- ligenten und zum Teil auch stehlenden Schwarzen. Die zwischen 1876 bis 1964 erlassenen US- Gesetze, mit denen die Segregation festgeschrieben wurde, wurden von Kritikern auch als „Jim- Crow-Gesetze“ bezeichnet. – D. Red. 6 People bzw. Women of Colour ist eine politische Selbstbezeichnung von nicht-weißen Menschen bzw. Frauen, die negativ von Rassismus betroffen sind. Er geht auf die US-Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre zurück. – D. Red. 7 Jacqueline Jones, Labor of Love, Labor of Sorrow, New York 1985; Evelyn Nakano Glenn, Forced to Care, Cambridge 2010.

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und „Herr im Hause“ ab sowie von einer deutlichen Unterscheidung der Geschlechterrollen. Im Ergebnis dominierte in den Ländern der Kernzone des staatlich regulierten Kapitalismus das heteronormative Modell der „gegenderten“ Familie, in der Er arbeiten geht und Sie das Haus hütet. Die öffentlichen Investitionen in die soziale Reproduktion verfestigten diese Normen nur noch. In den Vereinigten Staaten etwa nahm das Sys- tem sozialer Sicherung eine dualisierte Form an – mit einer stigmatisierten Armenhilfe für („weiße“) Frauen und Kinder ohne männlichen „Ernährer“ auf der einen Seite und einer respektablen Sozialversicherung für diejeni- gen, deren Tätigkeit als „(Lohn-)Arbeit“ gesellschaftlich anerkannt war, auf der anderen.8 In Europa wurde die androzentrische Hierarchie demgegen- über anders verankert, nämlich durch die Spaltung zwischen Mütterrenten und Sozialansprüchen, die an Lohnarbeit gebunden waren. In vielen Fällen wurde diese Entwicklung durch pronatalistische Agenden angetrieben, die aus zwischenstaatlicher Konkurrenz erwuchsen.9 Beide Modelle bestätigen den „Familienlohn“, ja setzen ihn sogar voraus und fördern ihn. Indem sie androzentrische Familien- und Arbeitsvorstellungen institutionalisierten, naturalisierten sie zugleich Heteronormativität und Genderhierarchien und entzogen diese damit weitgehend der politischen Auseinandersetzung. Bei all dem opferte die soziale Demokratie die Emanzipation einer Ver- knüpfung von sozialer Sicherung und Vermarktlichung, auch wenn sie den sozialen Widerspruch des Kapitalismus für einige Jahrzehnte entschärfte. Doch das staatlich regulierte Regime des Kapitalismus begann sich nach und nach aufzulösen; zunächst politisch, als in den 1960er Jahren weltweit eine Neue Linke aufbrach, um im Namen der Emanzipation gegen imperiale, geschlechtliche und rassistische Ausschlüsse dieses Regimes ebenso wie gegen dessen bürokratischen Paternalismus vorzugehen; dann auch ökono- misch, als in den 1970er Jahren Stagflation, „Produktivitätskrise“ und sin- kende Profitraten in der industriellen Produktion neoliberalen Impulsen zur Entfesselung der Märkte Nachdruck verliehen. Sollten diese beiden Richtun- gen ihre Kräfte vereinen, würde die soziale Sicherung auf der Strecke bleiben.

Finanzkapitalismus und die neue Norm des Doppelverdienerhaushalts

Wie vor ihr das liberale Regime löste sich auch die staatlich regulierte Version des Kapitalismus im Verlauf einer lang anhaltenden Krise auf. Schon in den 1980er Jahren zeichneten sich für weitblickende Beobachter erste Umrisse

8 Nancy Fraser, Women, Welfare, and the Politics of Need Interpretation, in: Dies., Unruly Practices, Minneapolis 1989; Barbara Nelson, Women’s Poverty and Women’s Citizenship, in: „Signs: Journal of Women in Culture and Society“, 2/1985; Diana Pearce, Women, Work and Welfare, in: Karen Wolk Feinstein (Hg.), Working Women and Families, Beverly Hills 1979; Johanna Brenner, Gender, Social Reproduction, and Women’s Self-Organization, in: „Gender & Society“, 3/1991. 9 Hilary Land, Who Cares for the Family?, in: „Journal of Social Policy“, 3/1978; Harriet Holter (Hg.)., Patriarchy in a Welfare Society, Oslo 1984; Mary Ruggie, The State and Working Women, Princeton 1984; Birte Siim, Women and the Welfare State, in: Clare Ungerson (Hg.), Gender and Caring, New York 1990; Ann Shola Orloff, Gendering the Comparative Analysis of Welfare States, in: „Sociologi- cal Theory“, 3/2009.

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eines neuen Regimes ab: das des finanzialisierten Kapitalismus, in dem wir heute leben. Global ausgreifend und neoliberal geprägt betreibt dieses Regime den Rückzug von Staat und Privatwirtschaft aus den sozialen Siche- rungssystemen, während es gleichzeitig Frauen für die Lohnarbeit rekrutiert – und so einerseits Sorgearbeit externalisiert, sie also Familien und Gemein- schaften aufbürdet, andererseits zugleich deren Vermögen schwächt, diese Leistungen zu erbringen. Das Resultat ist eine neuartige, dualisierte Orga- nisation der sozialen Reproduktion: warenförmig für Zahlungskräftige und privat organisiert für alle, die sich das nicht leisten können. Dabei verrichten Angehörige der letzteren Kategorie Sorgearbeit für Angehörige der ersteren im Austausch gegen (geringe) Bezahlung. Mittlerweile hat der Doppelschlag aus feministischer Kritik und Deindustrialisierung den „Familienlohn“ end- gültig aller Glaubwürdigkeit beraubt. Das überkommene Ideal ist der heuti- gen Norm des „Doppelverdienerhaushalts“ gewichen. Wichtigste Triebkraft dieser Entwicklungen und bestimmendes Merkmal des neuen Regimes ist die zentrale Rolle der Verschuldung. Die Verschul- dung ist das Instrument, mit dessen Hilfe die globalen Finanzinstitutionen die Staaten unter Druck setzen, Sozialaufwendungen zu kürzen, Austeritäts- politik zu betreiben und sich mit Investoren gemein zu machen, um wehr- lose Bevölkerungen zu schröpfen. Verschuldung ist auch das entscheidende Mittel, das es ermöglicht, Bauern im globalen Süden durch eine neue Runde des Landraubs zu enteignen. Energie- und Wasservorräte, Ackerland und „Karbonsenken“ werden zu Spekulationszwecken aufgekauft. Selbst in der historischen Kernzone des Kapitalismus wird der Akkumulationspro- zess zunehmend via Verschuldung vorangetrieben: In dem Maße, in dem schlecht bezahlte prekäre Dienstleistungen an die Stelle der Lohnarbeit gewerkschaftlich organisierter industriell Beschäftigter treten, fallen die Löhne unter das Niveau der gesellschaftlich notwendigen Reproduktions- kosten. Um den Konsum in Gang zu halten, bedarf es in dieser „Gig-Eco- nomy“ der „Ich-AGs“ vermehrter Verbraucherkredite, die dementsprechend exponentiell wachsen.10 Anders gesagt, dient die Verschuldung dem Kapi- tal zunehmend dazu, die arbeitende Bevölkerung auszunehmen, Staaten zu disziplinieren, Reichtümer aus der Peripherie in die Kernzone zu trans- ferieren und Haushalten, Familien, Gemeinschaften, ja der Natur selbst Wert abzupressen. Der Effekt besteht in einer Intensivierung des kapitalismuseigenen Wider- spruchs zwischen ökonomischer Produktion und sozialer Reproduktion. Während das vorherige Regime die Staaten ermächtigte, die kurzfristigen Interessen von Privatunternehmen dem langfristigen Ziel nachhaltiger Akkumulation unterzuordnen und dabei die Reproduktion zum Teil durch öffentliche Versorgungsleistungen zu stabilisieren, autorisiert die gegenwär- tig herrschende Kapitalismusvariante das Finanzkapital, Staat und Öffent- lichkeit den unmittelbaren Interessen privater Investoren unterzuordnen – nicht zuletzt durch die Forderung, sich aus der öffentlichen Finanzierung der

10 Adrienne Roberts, Financing Social Reproduction, in: „New Political Economy“, 1/2013.

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sozialen Reproduktion zurückzuziehen. Und während das vorherige Regime Vermarktlichung und soziale Sicherung vereint gegen die Emanzipation in Stellung brachte, erzeugt das jetzige eine noch abartigere Konfiguration, in der Emanzipation im Zusammenspiel mit Vermarktlichung die soziale Sicherheit untergräbt.

Die verhängnisvolle Allianz von Marktgläubigkeit und Emanzipation

Dieses neue Regime ging aus einer fatalen Überschneidung zweier Sets gesellschaftlicher Auseinandersetzungen hervor. Das eine Set konfrontierte eine aufstrebende Fraktion von Verherrlichern des freien Marktes, denen es um die Liberalisierung und Globalisierung der kapitalistischen Ökono- mie ging, mit den niedergehenden Arbeiterbewegungen in den Ländern der Kernzone. Waren Letztere einst der mächtigste Rückhalt der sozialen Demo- kratie, so sind sie jetzt in der Defensive, wenn nicht bereits niedergekämpft. Das andere Set gesellschaftlicher Kämpfe konfrontierte progressive „neue soziale Bewegungen“, die Hierarchien geschlechtlicher, sexueller, rassis- tischer, ethnischer und religiöser Art in Frage stellen, mit jenen Teilen der Bevölkerung, die althergebrachte Lebenswelten und Privilegien zu vertei- digen suchen, die heute durch den „Kosmopolitismus“ der neuen Ökonomie bedroht sind. Die Kollision dieser beiden Sets gesellschaftlicher Auseinan- dersetzungen führte zu einem erstaunlichen Resultat: zu einem „progres- siven“ Neoliberalismus, der „Diversität“, Meritokratie und „Emanzipation“ feiert, während er zugleich soziale Sicherungen abwrackt und die soziale Reproduktion re-externalisiert. So werden nicht nur ganze Bevölkerungen den Raubzügen des Kapitals schutzlos preisgegeben, vielmehr wird zugleich Emanzipation in Marktkategorien umdefiniert.11 Die emanzipatorischen Bewegungen hatten ihren Anteil an diesem Pro- zess. Sie alle – auch antirassistische und multikulturelle Bewegungen, Ver- fechter von LGBT-Rechten und Umweltbewegte – brachten marktfreundliche neoliberale Strömungen hervor. Unter diesen erwies sich die feministische Variante angesichts der althergebrachten kapitalistischen Verknüpfung von Gender und sozialer Reproduktion als besonders verhängnisvoll. Genau wie jeder seiner Vorgänger institutionalisiert auch der finanzialisierte Kapitalis- mus die Aufspaltung von Produktion und Reproduktion auf vergeschlecht- lichter Basis. Anders als bei den vorangegangenen Kapitalismusregimen ist seine Vorstellungswelt allerdings vorwiegend liberal-individualistisch und geschlechtergerecht geprägt: Frauen gelten als Männern in allen Bereichen ebenbürtig, weshalb ihnen die gleichen Chancen, ihre Talente zu entfalten, zustehen wie Männern, auch – und vielleicht ganz besonders – im Bereich

11 Im Ergebnis dieser unwahrscheinlichen Allianz zwischen Marktgläubigen und „neuen sozialen Bewegungen“ wirbelt das neue Regime alle gewohnten politischen Konstellationen durcheinander und erzeugt groteske Frontstellungen wie die zwischen „progressiven“ neoliberalen Feministinnen à la Hilary Clinton und autoritär-nationalistischen Populisten wie Donald Trump. Vgl. auch Nancy Fraser, Für eine neue Linke oder Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: „Blätter“, 2/2017, S. 71-76.

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der Produktion. Die Reproduktion erscheint demgegenüber als rückständi- ges Überbleibsel, das man – auf dem Weg zur Befreiung – auf die eine oder andere Weise loswerden muss.

Die Abwälzung der Sorgearbeit in globale »Care-Chains«

Trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer feministischen Aura versinn- bildlicht diese Vorstellung die Form, die der mit neuer Wucht aufbrechende soziale Widerspruch des Kapitalismus gegenwärtig annimmt. Parallel zur Reduzierung öffentlicher Versorgungsleistungen und der Rekrutierung von Frauen für die Lohnarbeit hat der finanzialisierte Kapitalismus auch die Reallöhne gesenkt und so die Anzahl bezahlter Arbeitsstunden pro Haus- halt erhöht, auf die eine Familie zu ihrem Unterhalt angewiesen ist. Damit löste er ein verzweifeltes Gerangel um die Abwälzung von Sorgearbeit auf andere aus.12 Um den dadurch entstehenden care gap, die „Sorgelücke“, zu schließen, importiert das bestehende Regime Arbeitskräfte per Migration aus ärmeren in reichere Länder. In der Regel sind es rassifizierte Frauen, häufig der Landbevölkerung armer Regionen entstammend, die die vor- mals von privilegierteren Frauen verrichtete Reproduktions- und Sorgear- beit übernehmen. Doch um dies tun zu können, müssen die Migrantinnen ihre eigenen Familien- und Gemeinschaftsverantwortlichkeiten auf andere, noch ärmere Betreuungskräfte abwälzen, die dann ihrerseits das Gleiche tun – und so weiter und so fort. Auf diese Weise entstehen immer längere globale „care-chains“, globale „Sorgeketten“. Unter dem Strich wird die „Sorgelü- cke“ dabei allerdings nicht etwa geschlossen, sondern lediglich verschoben – von reicheren Familien zu ärmeren, aus dem globalen Norden in den globa- len Süden.13 Dieses Szenario passt zu den vergeschlechtlichten Strategien postko- lonialer Staaten, die finanziell klamm, hochverschuldet und den Struktur- anpassungsprogrammen des IWF unterworfen sind. Auf der verzweifelten Suche nach harten Devisen haben einige dieser Staaten die Auswanderung von Frauen zur Verrichtung bezahlter Sorgearbeit im Ausland mit Blick auf deren Geldüberweisungen in die Heimat aktiv gefördert. Andere wiederum locken ausländische Direktinvestitonen an, indem sie Sonderwirtschaftszo- nen einrichten, häufig in der Textilindustrie oder der Montage elektronischer Geräte, wo vorzugsweise weibliche Arbeitskräfte beschäftigt werden.14 In beiden Fällen geraten die sozialreproduktiven Kapazitäten der jeweiligen Gesellschaften noch weiter unter Druck. Zwei aktuelle Entwicklungen in den Vereinigten Staaten veranschauli- chen den Ernst der Lage. Bei der ersten handelt es sich um die zunehmende Beliebtheit des „egg-freezing“, des Einfrierens von Eizellen, das normaler-

12 Elizabeth Warren und Amelia Warren Tyagi, The Two-Income Trap, New York 2003. 13 Arlie Hochschild, Love and Gold, in: Barbara Ehrenreich und Arlie Hochschild (Hg.), Global Woman, New York 2002, S. 15-30; Brigitte Young, The „Mistress“ and the „Maid“ in the Globalized Economy, in: „Socialist Register“, Nr. 37, 2001. 14 Jennifer Bair, On Difference and Capital, in: „Signs“, 1/2010.

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weise an die 10 000 US-Dollar kostet, jetzt aber von IT-Unternehmen hoch- qualifizierten weiblichen Beschäftigten als Zusatzleistung gratis angeboten wird. Um diese Frauen anzuwerben und zu halten, bieten Firmen wie Apple und Facebook ihnen den starken Anreiz, etwaige Kinderwünsche zu verta- gen. Im Grunde sagen sie ihnen damit: „Warten Sie und bekommen Sie Ihre Kinder später, mit vierzig, fünfzig oder sogar sechzig; widmen Sie Ihre pro- duktivsten Jahre, Ihre höchste Leistungsfähigkeit der Firma!“15 Eine zweite Entwicklung in den USA ist ebenso symptomatisch für den Widerspruch zwischen Reproduktion und Produktion: die zunehmende Verbreitung teurer Hightech-Pumpen zum Extrahieren von Brustmilch. In einem Land, das eine hohe Beschäftigungsrate weiblicher Arbeitskräfte ver- zeichnet, obligatorischen bezahlten Mutterschafts- oder Elternurlaub nicht kennt und technikverliebt ist, ist dies für viele die „Patentlösung“ der Wahl. Es handelt sich zudem um ein Land, in dem Stillen zwar ein Muss ist, aber mittlerweile in nicht wiederzuerkennender Form praktiziert wird. Eine Frau stillt heute nicht etwa, indem sie ihrem Kind die Brust gibt: Heute „stillt“ sie, indem sie ihre Milch maschinell absaugt und für die spätere Flaschenfüt- terung durch die Tagesmutter lagert. Gerade bei massivem Zeitdruck gel- ten sogenannte Double-cup-Pumpen, bei denen die Hände frei bleiben, als die brauchbarsten, weil sie es ermöglichen, aus beiden Brüsten gleichzeitig Milch abzusaugen, während die junge Mutter auf der Autobahn zur Arbeit fährt.16 Kann es unter einem derartigen Druck, unter solchen Zwängen verwun- dern, dass die Auseinandersetzungen um die soziale Reproduktion in den letzten Jahren geradezu explodiert sind? Im globalen Norden rücken Femi- nistinnen oft die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.17 Aber die Kämpfe rund um die soziale Reproduktion umfassen weit mehr: etwa lokale Bewegungen für bezahlbaren Wohnraum, für Gesundheitsversorgung, gesunde Ernährung und ein bedingungsloses Grundeinkommen; Kämpfe um die Rechte von Migranten, Hausangestellten und Angehörigen des öffentlichen Dienstes; Kampagnen zur gewerkschaft- lichen Organisierung von Beschäftigten im Dienstleistungssektor, etwa in

15 Apple and Facebook offer to freeze eggs for female employees, „The Guardian“, 15.10.2014. Bemer- kenswerterweise bleibt diese Vergünstigung nicht länger exklusiv der professional-technical- managerial class vorbehalten. Die US-Armee ermöglicht Berufssoldatinnen, die sich zu längeren Auslandseinsätzen verpflichten, mittlerweile ebenfalls das kostenlose Einfrieren von Eizellen, vgl. Pentagon to Offer Plan to Store Eggs and Sperm to Retain Young Troops, „New York Times“, 3.2.2016. Hier übertrumpft die Logik des Militarismus diejenige der Privatisierung. Meines Wis- sens ist noch niemand der sich aufdrängenden Frage nachgegangen, was mit den Eizellen einer im Kampf gefallenen Soldatin geschehen soll. 16 Courtney Jung, Lactivism, New York 2015, insbes. S. 130 f. Der Affordable Care Act (alias „Oba- macare“) verpflichtet Krankenversicherer, derartige Pumpen kostenlos bereitzustellen. Auch diese Vergünstigung bleibt also nicht länger privilegierten Frauen vorbehalten. So entsteht ein riesiger neuer Markt für Hersteller, die solche Pumpen in den Fabriken ihrer chinesischen Zulieferer in Großserie produzieren lassen: Sarah Kliff, The breast pump industry is booming, thanks to Obama- care, „Washington Post“, 4.1.2013. 17 Lisa Belkin, The Opt-Out Revolution, „New York Times“, 26.10.2003; Judith Warner, Perfect Mad- ness, New York 2006; Lisa Miller, The Retro Wife, „New York Magazine“, 17.3.2013; Anne-Ma- rie Slaughter, Why Women Still Can’t Have It All, in: „The Atlantic“, Juli/August 2012, und dies., Unfinished Business, New York 2015; Judith Shulevitz, How to Fix Feminism, „New York Times“, 10.6.2016.

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kommerziell betriebenen Altersheimen, Krankenhäusern und Kinderbe- treuungseinrichtungen; Kämpfe um öffentliche Dienstleistungen wie Tages- betreuung und Altenpflege, um kürzere Wochenarbeitszeiten, um großzügig bezahlten Mutterschafts- und Elternurlaub. Zusammengenommen laufen diese Ansprüche auf die Forderung hinaus, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion von Grund auf neu zu organisieren: Es geht um soziale Arrangements, die es allen Menschen unabhängig von Klassenzugehörig- keit, Geschlecht, sexueller Orientierung und Hautfarbe erlauben, sozialre- produktive Aktivitäten mit einer gesichertern, interessanten und gutbezahl- ten Beschäftigung zu verbinden. Diese Grenzkämpfe um Fragen der sozialen Reproduktion sind unter den gegenwärtigen Bedingungen ebenso bedeutsam wie die ökonomischen Klassenkämpfe im Bereich der Produktion. Vor allem bilden sie die Antwort auf eine „Krise der Sorgearbeit“, die der strukturellen Dynamik des finan- zialisierten Kapitalismus entspringt. Dieser globalisierende und schuldenge- triebene Kapitalismus enteignet systematisch die zur Unterhaltung sozialer Beziehungen verfügbaren Potentiale. Indem er den Doppelverdienerhaus- halt zum neuen Ideal ausruft, spannt er Emanzipationsbewegungen für sich ein, die gemeinsam mit Verfechtern von Marktlösungen gegen die – inzwi- schen zunehmend verbitterten und chauvinistischen – Verteidiger sozialer Sicherungssysteme vorgehen.

Die Neuerfindung der Geschlechterordnung

Was könnte aus dieser Krise hervorgehen? Die kapitalistische Gesellschaft hat sich im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder neu erfunden. Besonders in allgemeinen Krisen, in denen vielfältige Widersprüche – politische, öko- nomische, ökologische und sozial-reproduktive – ineinandergreifen und sich wechselseitig verschärfen, brechen gerade dort Grenzkämpfe aus, wo es um die für den Kapitalismus konstitutiven, institutionellen Spaltungen geht: wo die Dimensionen des Ökonomischen und des Politischen, der Gesellschaft und der Natur, der Produktion und der Reproduktion aufeinanderstoßen. An diesen Grenzlinien haben sich die sozialen Akteure mobilisiert, um die ins- titutionelle Landkarte der kapitalistischen Gesellschaft neu zu zeichnen. So brachten sie zunächst den Übergang vom liberalen Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts zum staatlich regulierten Kapitalismus des 20. Jahr- hunderts und später dann zum finanzialisierten Kapitalismus unserer Zeit zustande. Die Geschichte zeigt auch, dass der soziale Widerspruch des Kapi- talismus stets ein wichtiger Aspekt jeder heraufziehenden Krise ist, weil der Grenzverlauf zwischen sozialer Reproduktion und ökonomischer Reproduk- tion sich jedes Mal als ein Hauptschauplatz und -ziel des Ringens erweist. So wurde bei jedem Regimewechsel auch die Geschlechterordnung der kapita- listischen Gesellschaft in Frage gestellt. Der jeweilige Ausgang des Ringens hing immer auch davon ab, welche Allianzen zwischen den Hauptelementen dreier Bewegungen zustande kamen: Vermarktlichung, soziale Sicherheit

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und Emanzipation. Diese Dynamik bewirkte zunächst den Übergang vom Regime getrennter Sphären zu jenem des Alleinverdiener- alias Familien- lohns und später dann zum Doppelverdienerhaushalt. Was folgt daraus für die gegenwärtige Konstellation? Sind die derzeitigen Widersprüche des finanzialisierten Kapitalismus hinreichend zugespitzt, um als allgemeine Krise des Kapitalismus eingestuft werden zu können? Sollten wir uns also auf eine neuerliche Mutation der kapitalistischen Gesellschaft einstellen? Kann die gegenwärtige Krise so weitreichende und zukunfts- weisende Kämpfe auslösen, dass eine grundlegende Transformation möglich wird? Wird es einer neuen Version eines sozialistischen Feminismus gelin- gen, die Vernarrtheit des Mainstreams in die Vermarktlichung zu überwin- den und ein neues Bündnis zwischen Emanzipation und sozialer Sicherung zu schmieden – und wenn ja: mit welchem Ziel? Wie könnte das Verhältnis von Reproduktion und Produktion heute neu erfunden werden und was träte an die Stelle der Doppelverdienerfamilie? Nichts von dem, was ich hier entwickelt habe, vermag diese Fragen umstandslos zu beantworten. Dennoch hoffe ich, mit der Vorarbeit, die uns befähigt, diese Fragen überhaupt zu formulieren, mehr Klarheit über die bestehende Konstellation geschaffen zu haben. Dabei ging es mir insbe- sondere um die Erkenntnis, dass die Wurzeln der heutigen „Krise der Sor- gearbeit“ in dem sozialen Widerspruch zu finden sind, der dem Kapitalis- mus selbst innewohnt – oder, genauer gesagt, in der zugespitzten Form, die dieser Widerspruch heute im finanzialisierten Kapitalismus annimmt. Wenn das zutrifft, wird der gegenwärtigen Krise durch sozialpolitisches Flickwerk nicht beizukommen sein. Der Weg zu ihrer Lösung kann dann nur über eine tiefgreifende strukturelle Transformation dieser Gesellschaftsordnung füh- ren. Vor allem muss die räuberische Unterwerfung der Reproduktion unter die Produktion, die den finanzialisierten Kapitalismus kennzeichnet, über- wunden werden – diesmal aber weder auf Kosten der Emanzipation noch der sozialen Sicherheit. Das wiederum erfordert die Neubestimmung des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion und die Neuerfindung der Geschlechterordnung. Ob das Ergebnis überhaupt mit dem Kapitalismus ver- einbar ist, ist derzeit völlig offen.

Das syrische

© zio fabio (CC BY-SA 2.0) © zio fabio (CC BY-SA Inferno

Der Krieg in Syrien nimmt kein Ende. Aus einer Rebellion ist dabei längst ein Stellvertreterkonflikt geworden. Wie müsste eine Friedenslösung aussehen? Das Dossier auf www.blaetter.de: 14 »Blätter«-Beiträge für nur 6 Euro

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201705_Buch.indb 100 19.04.17 10:47 Iranische Paradoxien Streifzüge durch ein uneindeutiges Land

Von Charlotte Wiedemann

enn die Iranerinnen und Iraner am 19. Mai ihren Präsidenten wählen, W hat der moderate Kleriker Hassan Rohani gute Chancen, das Vertrauen für eine zweite Amtszeit zu erringen. Vielen Beobachtern gilt er als Garant dafür, dass sich Irans neue Diplomatie des Dialogs gegenüber dem Westens fortsetzen würde – wenn auch unter widrigen Bedingungen. Denn die Ent- spannung, die sich viele Iraner nach dem 2015 ausgehandelten Nuklear- abkommen erhofft haben, will vorerst nicht eintreten: US-Präsident Donald Trump ist daran gelegen, eine Drohkulisse aufrechtzuerhalten; neue Sank- tionen wurden erlassen. Die üblichen Kurzzeit-Analysen übersehen allerdings, dass sich die ira- nische Gesellschaft unter der Oberfläche der offiziellen Politik schon lange in einem Veränderungsprozess befindet. Das zu erkennen ist nicht immer leicht, und westliche Prognosen über die Entwicklung der Islamischen Repu- blik haben sich so oft als falsch erwiesen, dass die Iraner daraus eine Gesetz- mäßigkeit abgeleitet haben: „Nur eines weiß man sicher: Was ihr alle vorher- sagt, wird garantiert nicht passieren.” Quelle vieler Fehldeutungen ist unser Hang zum binären Denken: Gut oder Böse; für uns, gegen uns; westlich- säkular gegen reli­giös-fanatisch. Alles, was uns vertraut und schön erscheint, wird als pro-westlich definiert: ob Lippenstift, verrutschtes Kopftuch oder Menschenrecht. Tatsächlich hat die Iraner die Frage, wie westlich sie sein wollen und wie sie sich zu einer westlich definierten Moderne verhalten, seit mehr als einem Jahrhundert umgetrieben. Auf der anderen Seite ist die Führung der Islami- schen Republik von der Vorstellung besessen, der Westen bediene sich fünfter Kolonnen, um das Land zu infiltrieren. In der Tat wird Iran bei uns immer wie- der als aggressiv porträtiert, doch die historische Prägung des Landes ist eine ganz andere. Jahrhundertelang musste Iran den Konkurrenzkampf imperia- ler Mächte auf seinem Territorium erdulden und schließlich einen westlich orchestrierten Staatsstreich, den kein Iraner vergessen kann. Diese Erfahrun- gen haben ein berechtigtes Misstrauen hervorgebracht. Heute, in einer Zeit, da andere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens von Zerfall bedroht sind, wirkt Iran vergleichsweise stabil und erfolgreich. Die USA haben ihr Ziel,

* Der Beitrag basiert auf Auszügen aus „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“, dem jüngsten Buch der Autorin, das kürzlich in der dtv Verlagsgesellschaft erschienen ist.

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in Teheran einen regime change zu erzwingen, vorerst zurückgestellt. Wird nun, mit fast vierzig Jahren Verspätung, Irans Recht auf einen eigenen poli- tischen Weg anerkannt? Gewiss: Der Weg, den die Islamische Republik 1979 einschlug, hat die Mehrzahl der Iraner einen entsetzlich hohen Preis gekos- tet. Heute aber verkörpert Iran einen politisch unabhängigen Vielvölkerstaat mit starkem Nationalbewusstsein – das ist rar in einer Welt, deren Kennzei- chen gegen­wärtig die ethnische und religiöse Parzellierung ist.

Die »undenkbare Revolu­tion«­ von 1979 und ihre Folgen

Historikern und Sozialwissenschaftlern fällt es bis heute schwer zu erklären, was 1978/79 in Iran geschah. Binnen weniger Monate stürzte eine überwie- gend unbewaffnete Bewegung ein Regime, das sich auf eine der bestaus- gestatteten Armeen der Welt stützte und auf den Rückhalt der USA. Es war „The Unthinkable Revolu­tion”, so formulierte es der amerikanische Soziologe Charles Kurzman. Gewiss, auf dem Land darbten die Iraner. Eine verfehlte Agrar­reform hatte vielen die Existenz geraubt; verarmte Bauern flohen in die wachsenden Slums der großen Städte. Eine kleine Ober­schicht lebte derweil mit Dior, Juwelen und Champagner wie in einem Bilderbuch westlicher Deka- denz. Entscheidender war je­doch etwas anderes: Der Schah war in den Augen des Volkes zu­gleich Despot und Marionette – brutal nach innen, willfährig nach außen. Wie bei früheren Kämpfen für Emanzipation ging es auch dies- mal um Bürgerrechte und Unabhängigkeit von ausländischer Einmischung. Ab Februar 1978 begann in der Stadt Tabriz im Nordwesten Irans die heiße Phase des Volksaufstands. Sie währte noch ein ganzes Jahr, mit erstaunli- chen Kampffor­men, etwa wenn die Beschäftigten von Kraftwerken für meh- rere Stunden täglich den Strom abschalteten. Im Januar 1979 floh schließlich der Schah mit seiner Familie; zwei Wochen später, am 1. Februar, kehrte der politische und religiöse Führer der Islamischen Revolution, Ayatollah Kho- meini, aus dem französischen Exil zurück. Die Menschenmassen, die ihn empfingen, wurden auf bis zu vier Millionen geschätzt. Doch erst am 11. Feb- ruar 1979, als letzte Schah-treue Einheiten der Streitkräfte den Widerstand aufgaben, hatte die Revolution gesiegt. Der Grad aktiver Beteiligung unter den damals 37 Millionen Iranern macht die iranische Revolution zu einer der großen Erhebungen der Weltgeschichte. Und sie führte tatsächlich zu einem profunden Wechsel von System, Macht und Eliten – ganz anders als später die Stürze von Diktatoren während des sogenannten arabischen Frühlings. Ihnen folgten Restauration, Staatszer- fall oder allenfalls bescheidene Reformen. Solche Ereignisse Revolutionen zu nennen, ist nur eine Marotte des Zeitgeistes. Die iranische Revolution hin- gegen verdient diese Bezeichnung; sie spielt aus historischer Sicht in einer Liga mit der Französischen und der Russischen Revolution. Im Vergleich mit diesen beiden war der Umsturz in Iran populärer und weniger blutig. Doch der Nachwelt blieb von diesem großen Freiheitskampf ein irriges, ein ungerechtes Bild. Das gilt für den Westen, und es gilt ebenso für die offizielle

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iranische Sicht: Auf beiden Seiten wird die Revolution in der Rückschau auf eine religiöse Bewegung reduziert – und die religiösen Motive auf wenige Phrasen. Im Westen begann 1979, nach einem flüchtigen Moment der Fas- zination, die Islamophobie neuerer Zeit. Die Figur Khomeinis schien dafür wie geschaffen; „Ayatollah“ wurde zum Synonym für einen gefährlichen Spinner. Viele westliche Medien reduzieren die Revolution bis heute auf die suggestive Macht Khomeinis: Als seien Millionen Iraner nur ein fanatisiertes Gefolge gewesen. Die allermeisten Iraner und Iranerinnen, die heute über fünfzig sind, haben als junge Männer und Frauen die Revolution unterstützt, waren zumindest Sympathisanten. Warum das so war, darüber wissen ihre Kinder erstaun- lich wenig. In den Familien haben viele Ältere den Jüngeren nichts von ihrer Erfahrung erzählt, aus Scham darüber, was aus der Revolution geworden ist, oder aus Angst, nur auf Unverständnis zu stoßen. Jeder Zweite ist unter dreißig, und in dieser großen jungen Bevölkerung finden viele unbegreif- lich, wofür sich ihre Eltern begeisterten. Im Schulunterricht werden Namen und Daten auswendig gelernt, dann rasch vergessen. Von der Vergangenheit bleibt ein Holzschnitt, ohne Farbe, ohne Leben: Der Schah wurde gestürzt, weil alle den Islam wollten. Und tatsächlich ist Khomeini in Iran noch immer eine Ikone. Gewiss nicht für alle, doch unter den Älteren und bei vielen Ärmeren erfährt er eine Verehrung, die mit seiner tatsächlichen historischen Rolle nur bedingt zu tun hat. Die Verehrung ist auch ein Zeichen, wie tradi- tionell ein Teil der Bevölkerung weiterhin empfindet, ungeachtet der neues- ten Unterhaltungstechnik im Wohnzimmer.

Die Individualisierung der Religion

Doch während in Ländern, die mit dem Westen über Jahr­zehnte verbün- det waren oder es weiterhin sind, ein buchstaben­gläubiger und ideologisch radikaler Islam lauter geworden ist, haben sich die Iraner religiös entradi- kalisiert. Manche haben durch die mit der Revolution installierte Islamische Republik den Glauben ganz verloren; an­dere (und das sind mehr) leiden dar- unter, wie dieser Staat ihn diskreditiert hat. Nichts hat dem Islam in der lan- gen Geschichte Irans so gescha­det wie das System der Islamischen Republik – das sagen gerade fromme Iraner. Vor der Revolution gab es Religiöse und Nicht-Religiöse, es gab Gläubige und solche, die dem Glauben auswichen, ihn mieden, ihm entflohen. Heute gibt es hingegen sogar Islam-Hasser. Und sie finden sich vor allem bei den Jungen aus regimenahen Familien, in jener Schicht der Neureichen, die durch gute Bezie­hungen und schwarze Geschäfte skandalös wohlhabend geworden sind. Ihre Kinder haben von Nahem erlebt, wie Religion zum Werk­zeug der Heuchelei wurde; sie verzeihen es dem Islam nicht, wie er sich missbrauchen ließ. Und sie zerschlagen nun die Heuchelei, indem sie radikal antiislamisch leben, mit Sex- und Drogenpartys an den Swimmingpools aus- ladender Villen und mit auftrumpfend zur Schau gestellten Sportwagen.

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Aber wie bei allem gibt es in Iran eine andere Seite. Trotz der Staatsreligion oder sogar gegen sie wird schiitischer Glaube gelebt. In dem ganz eigenen Gesellschaftspanaroma, das die Islamische Republik hervorgebracht hat, zeigt auch die Religion verwirrend viele Gesichter. Verwirrend womöglich nur für uns. Denn gerade das Schiitentum ist eigentlich prädestiniert für das, was heute in Iran passiert: Religiosität individualisiert sich. Und die irani- schen Geistlichen stehen heute vor der Aufgabe, sich inmitten einer imperia- len religiösen Hardware wieder Ansehen als Experten für die religiöse Soft- ware zu verschaffen. Und das heißt: Unabhängigkeit vom Staat. So wie die Staatsdoktrin des velayat-e faqih, der „Herrschaft des Rechtsge- lehrten“ offiziell ausgelegt wird, hat der Revolutionsführer, ein Kleriker, das letzte Wort in der Politik. Diese Verschmelzung hat ein Teil der Geistlichen nie akzeptiert, doch die Kritiker wurden mundtot gemacht, mit Lehrverbo- ten, dem Aberkennen von Titeln und mit Schlägertrupps vor der Tür. Bedeu- tende Reformgeistliche gingen nach 2009 ins Exil und hielten eine Rückkehr noch nicht für angebracht. Zu den verbliebenen fortschrittlichen Klerikern zählt Mohammed-Taqi Fazl-Meybodi. Ihm zufolge darf „der Staat [...] weder ein Interpret noch ein Aufpasser über religiöse Dinge sein. Und Reli­gion darf nicht als Damm gegen Freiheitsbestrebungen missbraucht werden“. Dennoch ist er kein Säkularist im westlichen Sinn: Der Islam beschränke sich nicht auf das private Leben, sagte er. „Islam ist politisch, aber er soll nicht herrschen.“ Ähnlich äußert sich ein anderer Standhafter, Asadollah Bayat-Zandschani. Er ist schon Mitte siebzig, war noch ein Schüler Kho­meinis und gehört als Großayatollah und Marja heute zu Irans ranghöchsten Geistlichen. Was er for- dert, klingt wie die Blaupause für einen besseren Iran. „Um das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen, müssen die Regierenden Kontrolle akzeptieren und eine im Wortsinn unabhängige Regierung, eine ehrliche, unpartei­ische und unabhängige Justiz und ein starkes und freies Parlament zulassen.”

Die Ventilfunktion des Regelbruchs

Die Widersprüchlichkeiten der iranischen Gesellschaft zeigen sich nicht nur in religiösen Fragen. Vermutlich wird in keinem anderen Land der Erde so viel und so ausdauernd Verbotenes getan wie in der Islamischen Republik. Und dies ist, so absurd es klingen mag, ein wesentlicher Grund für ihre Sta- bilität. Regelbruch ist ein Massenphänomen. Das plakativste und sichtbarste Zeichen der Alltagsdissidenz sind die Satellitenschüs­seln. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Verbot nutzen mehr als die Hälfte der Teheraner täglich die Auslandssender. So lautet die offi­zielle Zahl; nach einer unabhängigen Studie sind es fast zwei Drit­tel. Allein in der Hauptstadt handeln also zehn Millionen Men­schen jeden Tag vor aller Augen auf eine verbotene Weise. Und auch außerhalb von Teheran ist das persischsprachige Programm der BBC in vielen Wohnzimmern ein gewohntes Hintergrundgeräusch. Buch- stäblich jeder Iraner bis hinauf zum Präsidenten erlaubt sich, ganz öffentlich

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Verbote zu missachten. Selbst der Revolutionsführer Ali Khamenei verbreitet seine Botschaften über die offiziell als illegal erachteten Kanäle von Face- book und Twitter. Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden, rät ein irani- sches Sprichwort. Auch im virtuellen Raum hat sich das Verbotene eingenis- tet, wenn es etwa beim Instant-Messaging-Dienst „Tele­gram” eine Gruppe für Witze über Revolutionsführer Khamenei gibt. Warum werden Verbote aufrechterhalten, wenn sie nicht durch­gesetzt werden? Und warum lässt der Staat ihre Missachtung zu, wenn er über genug repressive Instrumente verfügt? Was also ist der Sinn eines solch paradoxen Systems? Kleine Freiheiten wie beim Satellitenfernsehen haben eine Ventil- funktion; sie erlauben, Dampf abzulassen, damit der Druck im Kessel nicht zu hoch wird. So banal, könnte man meinen, funktio­nieren autoritäre Regime überall auf der Welt. In Iran ist daraus über die Jahre ein informeller Waf- fenstillstand zwischen Herr­schenden und Beherrschten geworden: Ihr lasst uns trotz eurer großen Unzufriedenheit an der Macht, und wir machen euch da­für das Leben nicht so schwer, wie wir könnten.

Der Machtapparat als theokratisch-demokratisches Hybridsystem

An dieser Stelle enden allerdings die Gemeinsamkeiten mit her­kömmlichen Autokratien. Denn wer in Iran überhaupt herrscht, das ist so leicht nicht zu sagen, jedenfalls ist es keine Junta, kein verschworener Zirkel. Der Tehe- raner Machtapparat ist vielstimmig, oft kakophon, es tummeln sich darin Geistliche, Uniformierte und Bürokraten in Zivil, und allein die verfassungs- mäßige Struktur der Islamischen Republik ist so kompliziert, dass man sie ohne Schautafel kaum erklären kann. Es handelt sich um ein Hybridsystem mit theokratischen und demokratischen Elementen: Der Revolutionsführer, ein Kleriker, hat in politischen, nicht jedoch in religiösen Fragen das letzte Wort. Im Parlament ist der Anteil der Geistlichen heute mit sechs Prozent auf einem historischen Tief­stand, und manchmal wird dort so heftig gestritten, dass ein Dis­kutant einen Herzinfarkt erleidet. Wie Theokratie und Demokratie jeweils gewichtet werden, hängt von poli- tischen Erfordernissen ab, aber auch von der Geisteshaltung der Beteiligten. Die Bandbreite an Meinungen ist enorm, allein innerhalb der iranischen Kle- riker ist sie weitaus größer als etwa in einer deutschen Volkspartei. Grob ord- nen sich die Träger der Islamischen Republik in vier Strömungen: Hardliner, Konservative, Pragmatiker und Refor­mer. Dies sind aber notdürftige Bezeich- nungen, die aus unserem Denken stammen. Ein iranischer Konservativer kann, was seinen Antiimperialismus betrifft, eher einem hiesigen Linken ähneln. Und die Reformer sind wiederum jüngst immer zahmer geworden und haben sich den Pragmatikern anverwandelt. Die Politfraktionen konkur- rieren, bekämpfen einander und ge­hen wechselnde Koalitionen ein, nicht so viel anders als die Par­teien einer westlichen Demokratie. Zwar müssen sie sich nicht auf Parteitagen rechtfertigen, aber jede von ihnen hat auch eine Basis, eine Klientel, die bedient werden will. An dieser Stelle rückt er­neut

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der Regelbruch ins Bild, die Gesellschaftspolitik: Hardliner und Konserva- tive werden, vereinfacht gesagt, mit den fortdauern­den Verboten zufrieden- gestellt, die Anhänger von Pragmatikern und Reformern hingegen mit dem Übertreten-Lassen. Von bei­dem gibt es mal mehr, mal weniger, je nach aktu- eller Lage. So schaukelt sich das System immer wieder zurecht. Es ist elasti- scher und erlaubt mehr Pluralität, als Außenstehende denken. Es hält sich in einer Balance, die prekär wirkt und doch gerade daraus Stabilität gewinnt. Die Führung der Islamischen Republik möchte das unordentliche echte Leben der Iraner am liebsten aus der öffentlichen Wahrnehmung aussper- ren, vor allem gegenüber dem Ausland. Deshalb die nervöse Empfindlich- keit gegenüber allem, was berichtet wird. Die Wirklichkeit beim Namen zu nennen, das ist gravierender als die Wirklichkeit selbst. Die innenpolitischen Arrangements zwischen Herrschern und Beherrschten werden hinfällig, sobald ein fremder Blick darauf fällt. Es droht Gesichtsverlust, weil Liberali- tät und Zulassen von Dissidenz als Schwäche gedeutet werden könnten, als Zurückweichen des Regimes, als Bodengewinn des Westens. Dieser fast hys- terisch wirkende Zug iranischer Politik hat viele Menschen ins Gefängnis gebracht. Er ist auch dafür verantwortlich, dass westliche Menschenrechts- kampagnen hier oft ins Leere laufen. Weil gerade dem Druck von außen auf keinen Fall nachgegeben werden darf.

Das Recht des Stärkeren

Der Regelbruch hat ein sympathisches Gesicht, solange sich Menschen damit Freiräume ertrotzen, die ihnen von einem anmaßenden Staat verwehrt wer- den. Wir im Westen, gerade im regeltreuen Deutschland, applaudieren den Regel- und Gesetzesbrechern besonders gerne, wenn die Gebote islamisch- religiös ummantelt sind. Was zunächst nach Emanzipation, nach bürgerli- cher Ermächtigung aussieht, schlägt allerdings irgendwann ins Gegenteil um: Wenn daraus eine Gesellschaft wird, in der nur das Recht des Stärkeren oder des Skrupellosesten gilt. Wer Iran von außen betrachtet, assoziiert den Staat der Islamischen Repu- blik zuvorderst mit Unterdrückung, mit Theokratie, Verboten, Hinrichtun- gen. Im Alltag aber ist der iranische Staat vor allem korrupt. Die Korruption habe den Staat „wie Termitenfraß“ befallen, so formulierte es ein enger Mit- arbeiter von Präsident Hassan Rohani. Und die Summen unterschlagener Gelder sind manchmal fantastisch hoch, im Falle eines Angeklagten waren es mehr als zwei Mrd. Euro. Der iranische Staat mag stark wirken, weil er Menschen nach Belieben ins Gefängnis werfen kann. Aber die Regierung ist erstaunlich schwach gegenüber dem Eigeninteresse, das sich in Iran auf vielerlei Weise organi- siert. Das markanteste Beispiel dafür sind die Revolutionsgarden. Die soge- nannte Armee der Wächter der Islamischen Revolution wurde von Khomeini geschaffen, weil er der regulären Armee kurz nach dem Ende der Schah-Zeit nicht traute. Heute ist daraus eine Wirtschaftsmacht geworden, ein Staat im

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Staate. Die Revolutionsgarden betreiben Häfen und Flughäfen, bauen Stau- dämme und Autobahnen, sie sind eng mit der Ölwirtschaft verflochten und beherrschen den Immobilienmarkt der Hauptstadt. Ihre Technologie-Hol- ding nennt sich „Das Siegel des Propheten“, aber wie wenig fromm es bei den Revolutionswächtern zugeht, zeigt folgendes Beispiel: Iranern fällt auf, dass ihre Satellitenschüsseln immer dann konfisziert werden, wenn neue Modelle auf den Markt kommen. Die Revolutionswächter importieren die verbotenen Empfangsgeräte, und sobald ihre neue Ware auf dem Schwarzmarkt ist, bele- ben sie die Nachfrage, indem sie die alten Modelle beschlagnahmen. Iran ist ein Land der schlechten Vorbilder. Wer die richtigen Verbindungen hat, zieht an allen anderen vorbei, wird reich vor aller Augen. So gibt es in Teheran Apartments von achthundert Quadratmeter Größe, von denen viele leer stehen, weil sie ausschließlich zu Spe­kulationszwecken gebaut wurden. Und wo die Apartmentanlagen bewohnt sind, reichen die Tiefgaragen bezie- hungsweise das für Autos reservierte Erdgeschoss oft nicht, um die Anzahl an Erst-, Zweit- und Drittwagen unterzubringen. Ob die Kluft zwischen Reich und Arm in der Islamischen Republik größer ist als während der Schah-Zeit, vermag niemand genau zu sagen. Sicher ist: Die damals winzige Schicht der Superreichen ist heute wesentlich größer. Manche schätzen die Allerärmsten und die Allerreichsten auf jeweils zehn Prozent der Bevölkerung. Im Januar 2015 waren in Iran vierhundert Shop- pingmalls im Bau oder in Planung, allein fünfundsechzig in Teheran. Kon- sum ist Lebensstil. Die Mittelklasse hat sich seit den Tagen der Revolution stark vergrößert, aber je nach Statistik haben nur fünfzehn bis dreißig Pro- zent tatsächlich eine Beschäftigung in Mittelklasseberufen. Viele konsumie- ren über ihren Möglichkeiten, um äußer­lich dieser Schicht anzugehören. Gleichzeitig beziehen viele Iraner staatliche Unterstützung, eine Art Sozial­hilfe, obwohl sie wohlhabend sind. Diese sogenannten Bargeld-Sub- ventionen, eigentlich nur für Arme gedacht, verschlingen zwanzig Pro- zent des nationalen Haushalts. Es ist leicht, den Staat zu betrügen: Mangels Steuer- und Einkommensüberprüfungen zählt allein, wie sich der Betroffene selbst deklariert.

Strategische Unabhängigkeit und technischer Fortschritt

Dennoch: Wenn wir kühl die Fortschritte eines Landes bilanzieren, das man- che vor vier Jahrzehnten noch zur Dritten Welt zählten – dann sehen wir eine gebildete und stark städtische Gesellschaft, in der die Eltern viel Wert auf die Ausbildung ihrer Kinder legen und darum heute so wenig Nachwuchs bekommen wie nie zuvor. Tatsächlich hat sich Iran in einem politisch-reli- giösen System, das wir mit den Attributen archaisch und rückwärtsgewandt versehen haben, in den vergangenen Jahrzehnten rasant entwickelt. Die Bevölkerung hat sich seit der Revolution mehr als verdoppelt; da jedoch die Geburtenrate viel niedriger ist als in der Schah-Zeit, ist die Zahl der Kinder unter vierzehn heute nur halb so groß wie damals. Der Anteil der Analpha-

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beten ist von seinerzeit gut 60 Prozent auf etwa neun Prozent gefallen. Die Lebenserwartung ist wiederum drastisch gestiegen, auf 76 Jahre bei Män- nern und 81 bei Frauen. Immer mehr junge Iraner studieren; in der Alters- klasse der 18- bis 24jährigen sind es mehr als die Hälfte. Und über 60 Prozent der Studierenden sind weiblich. Nicht anders als unter dem Schah träumen junge Akademiker davon, ihren Doktor im Ausland zu machen. Am liebsten in den USA, gefolgt von Deutschland, Kanada, Großbritannien. Innerhalb des Regimes, das über Fragen der Wirtschaftspolitik häufig zerstritten ist, besteht Einvernehmen, dass Investitionen in Forschung und Technologie Priorität haben. Bis zum Jahr 2025 will Iran wirtschaftlich, wis- senschaftlich und technologisch die unangefochtene Nummer eins im Mitt- leren Osten und Zentralasien sein. So wurde es vor geraumer Zeit in einer „Nationalen Zwanzig-Jahre-Vision” festgeschrieben, und alle Kräfte des politischen Spektrums halten daran fest. Der Aufstieg zu einer knowledge- based economy, einer Wissensgesellschaft, würde bedeuten, endlich das Trauma der Rückständigkeit zu überwinden, das in den vergangenen hun- dert Jahren Ursache so vieler Verwerfungen war. Dem Westen ist auch heutzutage nicht wirklich daran gelegen, dass sich Iran erfolgreich aus technologischer Ab­hängigkeit befreit: Diese Schlussfol- gerung lässt sich jedenfalls aus dem zermürbenden Nuklearstreit ziehen, in dessen Verlauf irani­sche Kompromissangebote über Jahre ignoriert wurden. Viele Ira­ner gewannen den Eindruck, ihnen werde schlechthin das Recht auf diese Technologie verwehrt – und weil dieser Konflikt als eine Frage des Rechts (und nicht der militärischen Kapazität) betrach­tet wurde, stand bei die- sem Thema wie bei keinem anderen na­hezu jeder Iraner hinter der Führung. Zur Vision gehört gleichfalls, sich vom Öl unabhängi­ger zu machen. Iran besitzt eine der weltgrößten Reserven an Erd­gas und entwickelt ihre Erschließung mit hohem Tempo für den Export. Für die heimische Strom- versorgung sollen bis 2025 neun Atomkraftwerke gebaut werden. Dagegen erheben sich nur ver­einzelt kritische Stimmen. Technologischer Fortschritt, nationale Unabhängigkeit und militärische Potenz, das ist für die Islamische Republik ein ange­strebter Dreiklang. Trotz aller Kooperation mit Russland und China will Iran für seine ehrgeizigen nationalen Projekte First-Class-Technologie aus dem Westen. Das war ein wesentlicher Grund, warum sich die Staatsführung auf das Herunterschrau- ben des Nuklearpro­gramms eingelassen hat. Und nach dem Ende der Sank- tionen will Iran nicht wie früher ein bloßer Absatzmarkt sein, sondern selbst produzieren. Technischer Fortschritt soll die Unabhängigkeit sichern, aber zugleich besteht stets die Gefahr, um des Fortschritts willen an Unabhän- gigkeit einzubüßen, etwa durch ausländische Investoren im Land. Um die- sen neuralgischen Punkt drehen sich viele Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen des Systems. Die hiesige Berichterstattung verflacht solche Debatten gern zum stereotypen Pro-und-contra-Hardliner-Pingpong. Tat- sächlich geht es um eine Kurssteuerung, die für jede Nation schwierig ist, die nicht zu den großen Mächten zählt. Das Verhältnis zu Russland einerseits und dem Westen andererseits auszubalancieren, ist für Iran auch deshalb von

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besonderer Bedeutung, weil es sich ohne festen Alliierten in der Region sieht, in einer „strategischen Ein­samkeit”, wie seine Außenpolitiker sagen.

Der Kampf um Teilhabe und die Ambivalenz der iranischen Moderne

Aber kann es eine fortschrittliche Wissensgesellschaft geben ohne einen Aus­bau der politischen Teilhabe? Dies ist der Grundkonflikt der Islami­schen Republik. Ihre Führung ist in eine Hardware-Moderne ver­liebt und fürchtet die intelligente moderne Software, die Ansprüche der Bürger. Unsere westliche Sichtweise überschätzt gern die Rolle von Menschen- rechten im individuellen Sinn, den Kampf um das freie Wort. Für den Weg in eine iranische Moderne sind die sozialen Rechte von mindestens ebenso gro- ßer Bedeutung: das Eintreten für Gemeinwohl gegen mächtige Interessen. Und tatsächlich vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in Iran Arbei- ter protestieren oder streiken: weil ihre Löhne über Monate nicht gezahlt wurden, weil die Fabrikleitungen ihren Anteil an der Kran­kenversicherung nicht abführen oder weil willkürliche Entlassun­gen drohen, sobald Betriebe privatisiert werden. Es handelt sich um Kämpfe im Schatten, ohne die Auf- merksamkeit internationa­ler Medien, ohne Lobby im eigenen Land und oft- mals abgedrängt in die Illegalität. Jene Kräfte, die sich in den nachrevolutionären Machtkämpfen als „isla- mische Linke” verstanden, wandelten sich über die Jahre zu sogenannten Reformern, die in Wirtschaftsfragen eher neolibe­ral denken. Keine Frak- tion des politischen Lagers hat Konzepte von Sozialpolitik entwickelt, um die Kluft zwischen Reich und Arm zu mildern. Stattdessen gab und gibt es Belohnungen für Be­nachteiligte, sofern sie sich in ideologisch erwünschter Weise verhalten: etwa Studienplätze für Angehörige der Basij-Miliz. Die Armen hatten bereits in der Wiederaufbauzeit nach dem Iran-Irak- Krieg das Nachsehen. Als dann der Populist Mahmud Ahmadinedschad mit seiner simplen Sprache und Kleidung um ihre Stimmen warb, glaub- ten sie, das Gerechtigkeitsversprechen der Revolution sei zurückgekehrt. Doch Ahmadinedschad etablierte auf dem Rücken ihrer Hoffnungen einen hochkorrupten Crony-Kapitalismus, eine Cliquenwirtschaft zum Wohle der Neureichen. Die Sozialforscherin Fatemeh Sadeghi schreibt, es gebe heute „eine Mauer“, welche die Besitzlosen trenne vom Mainstream einer auf Konsum, Statussymbole und Mittelklasse-Attribute orientierten Gesellschaft. „Die Barfüßigen“, die einst die Flag­genträger der Revolution und ihre Nutznießer sein sollten, sind in den Augen der verschiedenen Fraktionen des Staates zu Feinden geworden, das gilt für Reformer wie für Hardliner. Und da die Unter- privilegierten aus Enttäuschung oft nicht mehr wählen gin­gen, mangele es den Wahlergebnissen zunehmend an sozialer Repräsentativität. Jeder, der weiß, dass für Schiiten seit Imam Ali die Gerechtig­keit das entscheidende Merkmal einer legitimen Regierung ist, muss sich fragen, ob die Islamische Republik in dieser Hinsicht ihren Namen verdient.

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201705_Buch.indb 109 19.04.17 10:47 110 Charlotte Wiedemann

Ein Prozess ungeordneter Säkularisierung

Wie es in Iran weitergeht, lässt sich auf kurze Sicht kaum prognos­tizieren. Das gilt vor allem für die internen Konstellationen im System der Islamischen Republik. Die Machtkämpfe sind vorerst nicht geringer geworden, obwohl doch in jüngster Zeit moderate Kräfte mehr Einfluss genießen. Nach dem Zurückschrauben der Sanktionen wird sich Iran in einer län- geren Übergangsphase befinden. Konflikte, die vorder­gründig ideologisch wirken, drehen sich nun oft ganz handfest um Besitz und wirtschaftlichen Einfluss. Die Sanktionen hatten die Konzentration ökonomischer Macht in Staatsnähe verstärkt, samt Korruption und Schwarzmarkt. Nun werden Pfründe und Zugänge neu geordnet, mit Siegern und potentiell gefährlichen Verlierern. Dennoch lassen sich vorsichtig einige Entwicklungslinien skizzieren. Nach­haltige Veränderungen werden in Iran wie bisher langsam und von innen her wachsen: Mehr Freiheit, mehr Bürgerrechte können nur die Ira- ner selbst erkämpfen; sie kommen nicht als Begleitpaket zu Marktanteilen westlicher Unternehmen. Die demokratischen Ele­mente im Hybridsystem der Islamischen Republik werden trotz ihrer restriktiven Handhabung in den Augen vieler Iraner wichti­ger. Bei den Parlamentswahlen von 2016 bewar- ben sich so viele Kan­didaten wie nie zuvor, es waren mehr als 12 000. Frauen verlangen auch auf diesem Feld mehr Beteiligung. Auch sieht es vorerst danach aus, dass das System der Islamischen Repu- blik bleiben wird, denn es gibt im Land keine Kraft mit einem alternativen Entwurf. Das Regime hat die enorme Modernisierung der Gesellschaft über­ standen, teils ja auch selbst hervorgebracht. So groß die alltägliche Wut auf einen Willkürapparat sein mag: Iran genießt heute mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit als in den vergangenen zweihundert Jahren, und alle Iraner wollen diese Position wahren. Ein alternativer Systementwurf müsste die errungene äußere Freiheit verteidigen und sie mit mehr inneren Frei- heiten und Teilhabe verknüpfen. Doch bislang hat dafür niemand ein kohä­ rentes Konzept. Vielmehr ist die Islamische Republik selbst einem Prozess der ungeord- neten Säkularisierung unterworfen. Ihr inneres Gerüst, ihre Funktions- weise sind immer weniger religiös. Das gilt sogar für die Frage, wie künftig die Nachfolge im Amt des Revolutionsführers geregelt wird (möglicherweise durch mehrere Personen statt einer); die Entscheidung wird ein Resultat poli- tischer Erwägungen und Verhandlungen sein. Und wie immer die Iraner die erste Amtszeit von Präsident Rohani bewerten: Weder für seine außenpoli- tischen Erfolge in der Nukleardiplomatie noch für seine innenpolitischen Misserfolge auf dem Feld der Bürgerrechte war es von Belang, dass er die Robe eines Geistlichen trägt. Islamisch ist in der Islamischen Republik oft nur noch die Hülle, die Erscheinungsweise – und weil es darum so sehr auf das Aussehen ankommt, auf Symbole, wird so vehement am Stück­ Stoff auf den Köpfen der Frauen festgehalten.

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201705_Buch.indb 110 19.04.17 10:47 Tagträume der Gesellschaft Piper Chapman, Tony Soprano und Walter White als Zeitdiagnostiker

Von Markus Rieger-Ladich

Nicht nur weiße Polizeigewalt oder ein Tweet aus dem Trump Tower sorgen in den USA immer wieder für heftige Debatten über Rassismus – auch die Fernsehserie „Orange is the New Black“ löste bereits intensive Diskussionen aus. Wenn ab Juni die neuen Folgen auf dem Streamingdienst Netflix lau- fen, könnte die Debatte wieder aufflammen. Denn noch immer scheiden sich an deren vierter Staffel die Geister. Die Serie führt uns auf den Spuren von Piper Chapman, einer weißen, bisexuellen Frau aus der middle class, in ein Frauengefängnis im Bundesstaat New York. Zunächst wurde die Serie dafür gefeiert, dass sie einen Einblick in das komplexe Zusammenspiel von race, class und gender gewährt, das sicherte ihr ein junges, intellektuelles Publi- kum. Dann aber wurde in Internetforen und Online-Journalen der Vorwurf erhoben, die Macher von „Orange is the New Black“ würden neuerdings genau jene Ressentiments bedienen, die sie bisher strikt vermieden hatten. Obgleich hier Frauen im Zentrum der Erzählung stünden,1 kehrten doch ste- reotype, bisweilen sogar rassistische Erzählmuster wieder, so die Kritik. Verfolgt man diese anspruchsvoll geführte Debatte, wird eines deutlich: Es wäre fatal, das Schauen von Serien wie „Orange is the New Black“, „Bet- ter Call Saul“ oder „True Detective“ als unverbindlichen Zeitvertreib oder gar als Eskapismus zu betrachten. Vielmehr gilt es, diese und andere Serien als Zeugnisse der Gegenwartskultur ernst zu nehmen: Was verraten sie über die westlichen Gesellschaften und ihre Verwerfungen? Was erzählen sie von ihren Mitgliedern und deren Sorgen und Nöten, Wünschen und Hoffnungen? Welche „Tagträume der Gesellschaft“ lassen sich im Autorenfernsehen stu- dieren? Oder anders, schlichter gefragt: Welche Themen werden hier ver- handelt, mit welchen sozialen Milieus werden wir konfrontiert, mit welchen Figurenkonstellationen und Erzählmustern? Um diese Fragen zu beantworten, empfiehlt sich ein Rückgriff auf die Arbeiten des Sozialtheoretikers Siegfried Kracauer. Der begeisterte Kino- gänger schrieb in den 1920er Jahren für die „Frankfurter Zeitung“ mehr als 300 Filmbesprechungen und legte eine Geschichte des deutschen Films sowie eine originelle Filmtheorie vor.2 Unter der Vielzahl von Beobachtun-

1 Vgl. Elena Meilicke, Frauen, Serien. Postpatriarchales Fernsehen aus den USA, in: „Merkur“, 10/2016. 2 Vgl. Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016.

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201705_Buch.indb 111 19.04.17 10:47 112 Markus Rieger-Ladich

gen und Überlegungen, die Kracauer zur Welt der bewegten Bilder angestellt hat, sind zwei, die mit Blick auf die intensiv diskutierten Serien besonders reizvoll sind und nichts an Aktualität eingebüßt haben. Kinofilme erregten Kracauers Interesse, weil sie nicht nur wertvolle Einblicke in eine sich rasch verändernde Gesellschaft erlaubten, sondern auch in das Seelenleben ihrer Mitglieder. Die auf Celluloid gebannten Geschichten betrachtete er mithin nicht als Instrumente der Kulturindustrie, sondern als kulturelle Artefakte, die zu Werkzeugen der Aufklärung werden können.

Ein »Spiegel der bestehenden Gesellschaft« (Siegfried Kracauer)

Zu einem „Spiegel der bestehenden Gesellschaft“ (Kracauer) werden die im Kino gezeigten Filme – und ebenso die neuen Serien –, erstens, weil sie stets für ein Massenpublikum produziert werden. Damit sich die hohen Invest- ments rasch amortisieren und einen finanziellen Gewinn generieren, muss es den Produzenten gelingen, reale Wünsche und Hoffnungen der Kinogän- ger einzufangen und ins Bild zu setzen. Wir begegnen daher, so Kracauer, im Medium des Imaginären den „Tag- träumen der Gesellschaft“: Es sind die geheimen Wünsche und die unter- drückten Phantasien, welche die Leinwände bevölkern und abendlich Tausende in die Lichtspielhäuser ziehen.3 Pikanterweise sind es somit die Interessen des Kapitals – genauer: jene der Investoren –, die dazu führen, dass die Produzenten einen präzisen Blick für das Publikum ihrer Filme aus- bilden. Sie müssen ein Sensorium für dessen Interessen entwickeln, müssen um die Tabus einer Gesellschaft wissen und um jene Themen, an denen sich Leidenschaften entzünden. Zweitens erläutert Kracauer in seiner Filmtheorie anhand der antiken Geschichte der Medusa, weshalb das Kino als ein Erkenntnismedium eigener Art gelten kann. Ähnlich wie es Perseus vermeiden musste, der Medusa ins grauenhafte Angesicht zu blicken und stattdessen einen Spiegel benutzte, sind auch wir dazu angehalten, die ungeschützte Konfrontation mit dem Schrecklichen zu vermeiden – und stattdessen ins Kino zu gehen: „Unter allen existierenden Medien ist es allein das Kino, das in gewissem Sinne der Natur den Spiegel vorhält und damit die ‚Reflexion’ von Ereignissen ermög- licht, die uns versteinern würden, träfen wir sie im wirklichen Leben an.“4 Manche Erkenntnisse sind, so Kracauer, zu grausam, als dass wir uns ihnen direkt aussetzen könnten. Erst wenn das Kino jene Stoffe und Ereignisse, welche die conditio humana prägen, symbolisch repräsentiert und in eine Form zwingt, können wir uns ihnen aussetzen. Fiktionale Stories und Figu- ren entlasten uns somit: Indem wir uns mit ihnen befassen – statt mit realen Personen – und probehalber ihre Perspektiven einnehmen, erfahren wir stets auch Dinge über uns. So werden wir, die Kinogänger, zu Einsichten über uns geführt, die wir uns nur ungern eingestehen.

3 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M. 1977, S. 279-284. 4 Siegfried Kracauer, Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1973, S. 395.

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Was bedeutet das nun für das heutige Autorenfernsehen? Das zeigt ein Blick auf „Orange is the New Black“ sowie auf einige Serien, die schon längst als Wegbereiter einer neuen Art des Erzählens gelten: „The Sopranos“, „The Wire“ und „Breaking Bad“.5 Sie alle erzählen von einer Welt, die aus den Fugen geraten ist: An die Stelle tradierter Ordnungen sind verwirrende Kon- stellationen und kurzfristige Arrangements getreten. Die Erwartungen an stabile, übersichtliche Verhältnisse werden fortwährend enttäuscht; Routinen laufen ins Leere und neue Konventionen gelten nur unter Vorbehalt. Die han- delnden Akteure erleben diese Situation zumeist als heillose Überforderung. Vorausschauendes Planen ist unter diesen Bedingungen äußerst schwierig, wenn nicht zum Scheitern verurteilt. Und dies gilt auch für die Versuche der Krisenbewältigung, die häufig beträchtliche Folgeprobleme auslösen. An kaum einer Figur lässt sich dieser fortschreitende Ordnungsverlust so gut studieren wie an Tony Soprano, dem Protagonisten der Mafiaserie „The Sopranos“ (HBO, 1999-2007). Tony Soprano hat einen mühevollen Aufstieg hinter sich und bewegt sich in zwei sozialen Universen, die unterschiedli- cher kaum sein könnten. Als Boss einer kleinen Mafiatruppe im Norden New Jerseys lebt er seine Virilität und seine Machtgelüste aus. Zugleich ist er aber auch Ehemann und Vater, Sohn und Liebhaber. Er zeigt sich hier als einfühl- sam und verletzbar und muss zugleich vermeiden, als Gangster die kleinste Schwäche erkennen zu lassen. In diesen beiden Welten ist er unterwegs; hier leben seine engsten Bezugspersonen. Diese Welten und ihre jeweilige soziale Logik streng zu trennen, überfordert ihn zunehmend. Immer wie- der scheitert er daran, den widerstreitenden Rollenerwartungen gerecht zu werden, es kommt zu Komplikationen und Zwischenfällen. Sucht er bei Kon- flikten zu intervenieren, geschieht dies meist ohne besondere Fortüne. Nicht eben selten provozieren seine Interventionen neue Verwicklungen. Und so leidet Tony Soprano nicht nur an Depressionen, sondern auch an Panikatta- cken, die ihn dazu bringen, regelmäßig eine Psychiaterin aufzusuchen. Über Jahre hinweg besucht er Dr. Jennifer Melfi – stets in der Angst, dabei erkannt zu werden, denn für einen richtigen Mann, für einen Boss alter Schule ist es undenkbar, sich in psychologische Behandlung zu begeben, noch dazu in die einer Frau. „The Sopranos“ stellt also einen Mafiaboss ins Zentrum, der von den neuen Zeiten überfordert ist und dem immer wieder die Kontrolle entglei- tet. Tony Soprano appelliert wiederholt an die „alten Werte“, schwärmt von dem schweigsamen Gary Cooper, zieht sich zum Schauen alter Kriegs- filme zurück – und zeigt dabei doch nur seine Hilflosigkeit. Er gleicht bis- weilen einem Überbleibsel längst vergangener Zeiten, überfordert von dem beschleunigten Wandel und der Ablösung der alten Ordnung.6 Wie unübersichtlich diese neuen Verhältnisse sind, zeigt auch die Serie „The Wire“ (HBO, 2002-2008), die am Beispiel von Baltimore vom Nieder-

5 Vgl. Alan Sepinwall, The Revolution was Televised. The Cops, Crooks, Slingers, and Slayers who changed TV Drama forever, New York 2012; Brett Martin, Difficult Men. Behind the Scenes of a Creative Revolution. From The Sopranos and The Wire to Mad Men and Breaking Bad, London 2013. 6 Vgl. Diedrich Diederichsen, The Sopranos, Zürich 2012.

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gang der amerikanischen Großstadt erzählt. Anders als konventionelle Polizeiserien, die das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Drogendealern und Polizisten schildern und mit entsprechenden Stereotypen arbeiten, ist diese Serie einem ausgeprägten Sozialrealismus verpflichtet. In fünf Staffeln rückt sie jeweils andere Personengruppen und ihre Milieus ins Zentrum und ent- wickelt auf diese Weise ein hochkomplexes Gesellschaftspanorama. In den Blick geraten dabei nicht nur Polizisten und schwarze Drogendealer, sondern auch die überwiegend weißen Gewerkschafter, die im Hafen arbeiten, sowie engagierte Pädagogen, die an öffentlichen Schulen unterrichten und gefähr- deten Jugendlichen eine Alternative zur Drogenkarriere zu eröffnen versu- chen. Und wir werden vertraut gemacht mit den Bedingungen, unter denen die Vertreter des Journalismus und der Politik arbeiten. Nicht weniger wich- tig sind die komplizierten Wechselbeziehungen, die zwischen diesen Sphä- ren existieren und die sich fortwährend verändern. So überrascht es denn auch kaum, dass das Ensemble der Figuren ungleich größer ist als bei den „Sopranos“. Überdies wird hier die Aufmerksamkeit immer wieder verlagert: Es geraten neue Figuren in den Fokus, andere treten in den Hintergrund oder wir müssen uns plötzlich von ihnen verabschieden, weil sie einem Gewalt- verbrechen zum Opfer fallen.7

Fortschreitender Orientierungsverlust

Auch für „The Wire“ ist charakteristisch, dass die Figuren sehr präzise ent- worfen sind und in ihrer Widersprüchlichkeit gezeigt werden. Sie entziehen sich daher auch den vertrauten Gegenüberstellungen, die etwa für viele klassische Western typisch sind. Die von Korruption geprägte Polizei taugt nicht länger als Gegenbild zu den Kartellen, weil auch hier ein Ehrenkodex existiert. So gibt es integre Figuren auf beiden Seiten und hier wie da gefühl- lose Zyniker. Um zu zeigen, wie schillernd die Figuren bisweilen angelegt sind, erwähne ich nur zwei Beispiele. Jimmy McNulty ist einer jener Polizis- ten, die durchaus gewinnend gezeichnet werden. Er ist häufig unbeherrscht und neigt zu Alleingängen. Und er leidet unter der schlechten Ausstattung der Polizei, weshalb er in der letzten Staffel einen Serienmörder fingiert, damit seiner Einheit endlich die notwendigen finanziellen und personel- len Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Kaum weniger schillernd ist die Figur des Omar Little. Er ist ein Gangster, der sich als Outlaw inszeniert: Er raubt Drogendealer aus, verteilt das Geld, gibt der Polizei Hinweise zur Ergreifung der Bosse eines Drogenrings. Und er lebt seine Homosexualität offen aus – das ist wohl auch der Grund, warum er einer der größten Sympa- thieträger von „The Wire“ ist. Als einer seiner prominentesten Fans outete sich 2008 der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Barack Obama.8 Kaum weniger dramatisch ist der Orientierungsverlust in „Breaking Bad“ (AMC, 2008-2013). Die Hauptfigur dieser Serie, die unterschiedliche Genres

7 Vgl. Daniel Eschkötter, The Wire, Berlin 2012. 8 Vgl. Obama goes gloves off, head-on, www.lasvegassun.com, 14.1.2008.

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miteinander kombiniert, ist Walter White. Dieser unterrichtet als mäßig beliebter Chemielehrer an einer High School in Albuquerque und bessert sein karges Gehalt durch einen zusätzlichen Job in einer Autowaschanlage auf. Als er mit der Diagnose Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium kon- frontiert wird, verschweigt er dies seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn. Mit Blick auf die zu erwartenden horrenden Arztrechnungen und im Wissen um seine schlechte Krankenversicherung beginnt er ein folgenreiches Dop- pelleben: Tagsüber unterrichtet er weiterhin Chemie, an den Wochenenden steigt er, unter Beteiligung eines ehemaligen Schülers, in die Produktion von Crystal Meth ein. Die Qualität seiner professionellen Laborarbeit ist so hoch, dass die Droge bald reißenden Absatz findet. Und so führt auch Walter White zwei Leben, die er strikt zu trennen sucht: Er pendelt zwischen seiner Fami- lie und dem Drogenlabor hin und her; er legt sich ein zweites Mobiltelefon zu und mit Heisenberg einen zweiten Namen. Und er führt dieses Doppelleben auch dann noch weiter, als er längst über jene finanziellen Mittel verfügt, die ihm nicht nur das Begleichen der Arztrechnungen erlauben, sondern auch seiner Frau und seinem Sohn – nach seinem Ableben – ein mehr als gutes Auskommen ermöglichen würden. Ähnlich wie „The Sopranos“ rückt „Breaking Bad“ damit eine Figur ins Zentrum: Über fünf Staffeln hinweg schildert die Serie, wie aus dem biede- ren Chemielehrer Walter White der gerissene Drogenbaron Heisenberg wird, der seine Familie ruiniert, der Millionen anhäuft und dabei buchstäblich über Leichen geht. Und dies, so scheint es, aus dem einfachen Grund, dass er noch nie zuvor etwas auf einem so hohen Niveau betrieben, noch nie etwas so weit perfektioniert hat. Dabei bleibt niemand unbeschädigt – weder er selbst noch sein ehemaliger Schüler, weder seine Ehefrau noch sein Schwager, der als Drogenfahnder tätig ist.9 Auch in „Orange is the New Black“ wird schnell deutlich, dass es Abschied von vertrauten Ordnungen zu nehmen gilt. Mit der Einweisung in das Frauen- gefängnis in Litchfield betritt Piper Chapman eine neue Welt. Die Manage- rin verdankt ihren Haftaufenthalt einem zehn Jahre zurückliegenden Dro- gendelikt: Sie hatte für eine Frau, mit der sie während ihrer Collegezeit eine Affäre unterhielt, Geld über die Grenze geschmuggelt. Nun muss sie sich in einem Universum zurechtfinden, das ihr unbekannten Regeln folgt. Ihr mangelt es nicht nur an Street Credibility, auch all jene Attribute, die in einer liberalen Gesellschaft geschätzt werden, sind hier kaum von Vorteil: Elo- quenz, Bildung und gepflegte Umgangsformen verweisen auf einen akade- mischen Mittelschichtshabitus, der jenseits der Gefängnismauern ausgebil- det wurde. Konfrontiert mit den unterschiedlichen Frauengruppen, die sich entlang ethnischer Grenzen bilden, lernen wir nicht nur die Ressentiments (und den Narzissmus) der Protagonistin kennen. In Form eines Bildungsro- mans der besonderen Art lässt sich verfolgen, wie diese langsam jene Dis- positionen entwickelt, die notwendig sind, um sich in dieser von Macht und Gewalt, aber auch von Humor und Solidarität geprägten Einrichtung

9 Vgl. Christine Lang und Christoph Dreher, Breaking Down. Breaking Bad. Dramaturgie und Ästhe- tik einer Fernsehserie, München 2013.

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zu behaupten. Wie sehr sie sich dabei von den Codes der bürgerlichen Welt entfernt, wird deutlich in den Telefonaten, die sie mit ihrem Verlobten führt. Indem sie enge Beziehungen zu einzelnen Häftlingen knüpft und Ein- blicke in deren Lebenszusammenhänge erhält, entwickelt sie ein Gespür für das hidden curriculum des Gefängnisses – und wirft in der Folge einen neuen Blick auf die kleinen Dramen, die sich jenseits der Sicherheitszäune abspielen. Der besondere Reiz der Serie besteht freilich nicht allein in dieser Geschichte, sondern auch darin, dass sie sich von der Fixierung auf Piper Chapman mehr und mehr löst und den anderen Charakteren durch Rück- blenden schärfere Konturen verleiht. Das Tableau der Figuren wird dadurch immer komplexer und vielschichtiger.

Widersprüchliche Figuren

Um nun zu verstehen, weshalb diese Serien nicht nur von der Kritik gefei- ert wurden – die „New York Times“ etwa bezeichnete die erste Staffel der „Sopranos“ als den wichtigsten Beitrag zur Populärkultur der letzten 25 Jahre, „The Wire“ gilt manchen als die beste Serie überhaupt und „Breaking Bad“ wie auch „Orange is the New Black“ haben zahllose Debatten provoziert –, sondern auch kommerzielle Erfolge waren, müssen die erzählerischen Mittel, die hier zum Einsatz kommen, kurz vorgestellt werden. Die sogenannten Autorenserien werden stets über mehrere Staffeln hin- weg erzählt und investieren die beträchtliche Zeit, über die sie auf diese Weise verfügen, in die Entwicklung eines komplexen Tableaus widersprüch- licher Figuren. Anders als konventionelle Serien, deren narrative Möglich- keiten deshalb stark begrenzt sind, weil der Handlungsbogen eine einzelne Folge meist nicht überschreitet, arbeiten sie mit einer Vielzahl von Hand- lungsbögen, die über eine Episode hinausgehen, häufig auch über eine ganze Staffel oder die komplette Serie. Überdies beschränken sie sich nicht auf einen zentralen Plot, sondern arbeiten mit mehreren parallel. Die Kom- plexität einer Serie lässt sich also erst dann beträchtlich steigern, wenn in ihr eine Vielzahl unterschiedlich langer Handlungsbögen kunstvoll mitein- ander kombiniert wird. Auf diese Weise können die einzelnen Figuren, ihre Charakterzüge wie auch die Milieus, in denen sie angesiedelt sind, sehr viel kleinteiliger und detaillierter beschrieben werden.10 Eine Folge dieser feineren Auflösung der Figuren ist, dass sie sich schlich- ten Unterscheidungen wie gut/böse, sympathisch/unsympathisch kaum noch fügen. Dies gilt für soziale Gruppen wie für einzelne Figuren: Integri- tät und Fairness, Skrupellosigkeit und Niedertracht sind nicht für einzelne Professionen reserviert; sie lassen sich eben nicht nur unter Drogendealern beobachten, sondern auch unter den Vertretern der Polizei, der Politik und des Journalismus. Komplex ist daher nicht allein das Arrangement der unter- schiedlichen Figurenkonstellationen, sondern auch die Charaktere selbst

10 Vgl. Jason Mittell, Narrative Complexity in Contemporary American Television, in: „The Velvet Light Trap“, 58/2006, S. 29-40.

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sind es. Sie werden häufig nicht eingeführt, sondern sind einfach da; sie las- sen sich auf den ersten Blick kaum verlässlich einordnen – und provozieren damit den Zuschauer. Lee Siegel hat die Zumutung, die von den Ambivalen- zen des Serienpersonals ausgeht, an der Figur Tony Soprano treffend illust- riert: „Seit der Anfangsepisode der ‚Sopranos‘, als Tony seine erste Panikat- tacke hatte, die ihn sofort sympathisch machte, und er dann einen Mann, der ihm Geld schuldete, verfolgte und zusammenschlug, was ihn sofort absto- ßend machte, waren die ‚Sopranos‘ ein Problem.“11 Diese TV-Serien haben freilich nicht allein neue Formen des Erzählens etabliert, sie betreiben auch die Emanzipation des Betrachters. Konfron- tiert mit langen Erzählbögen und parallelen Plots, mit komplexen Tableaus ambivalenter Figuren, einer Vielzahl von Perspektiven und sich verändern- den Aufmerksamkeitshorizonten, muss er sich auf eine zuvor vielleicht nie gekannte Weise engagieren. Weil die Erzählungen stets lückenhaft bleiben und ohne Regieanweisungen auskommen, weil sich die widersprüchlichen Figuren zunächst in ihrer Handlungslogik kaum erschließen, appellieren sie an uns – die Betrachter –, Zeit, Energie und Aufmerksamkeit zu investie- ren. Dabei sind wir nicht selten hin- und hergerissen: Wir teilen die Anliegen mancher Figuren, fühlen uns dann aber doch wieder von ihren Handlungen abgestoßen. Wir wechseln fortwährend die Perspektive, identifizieren uns mit ihnen, erschrecken darüber – und suchen nicht allein unser Verhältnis zu den Figuren zu klären, sondern auch unsere eigenen Reaktionen zu ver- stehen. Eben dadurch werden wir zu aktiven Rezipienten.12

Die Selbstbefragung des Zuschauers

Das Ergebnis dieser neuen Rezeptionshaltung ist eine besondere Form der Identifikation. Um die Figuren zu verstehen, ihre Motive und Beweggründe erhellen zu können, müssen wir den Blick für Details schärfen; wir müssen die Mimik und Gestik der Akteure zu entziffern lernen. Wir werden gleich- sam dazu verführt, uns ihren Blick zu eigen zu machen und die Weiterent- wicklung der Story aus ihrer Perspektive zu verfolgen. Durch die Einnahme einer solchen diegetischen Perspektive kommen wir den Figuren nah. Und wir müssen uns eingestehen, dass sie uns durchaus nicht so fremd sind, wie wir das zunächst annahmen. Es tritt also genau das ein, was Siegfried Kracauer am Beispiel des Kinos beobachtete: Indem es die Selbstbefragung des Menschen in eine Form zwingt und uns von der direkten Konfrontation entlastet, stiftet es eine Distanz, die es uns ermöglicht, uns auch mit überaus schmerzhaften Befunden auseinanderzusetzen. Deutlich wird dies in Zeug- nissen, in denen Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle nicht allein von ihrer Begeisterung für das neue Format sprechen, sondern eben auch die tief-

11 Lee Siegel, Das Abstoßende kann sehr anziehend sein. Über Gewalt, Amerika und „Die Sopranos“, in: „Merkur“, 673/2005, S. 477-490, hier: S. 485 f. 12 Vgl. Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literari- scher Prosa, Konstanz 1971.

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greifende Verunsicherung artikulieren, die sie als Zuschauer solcher Serien erfahren haben. Indem uns diese zur Identifikation mit Figuren verleiten, um die wir im realen Leben lieber einen großen Bogen machen,13 zwingen sie uns dazu, unser Selbstbild auf den Prüfstand zu stellen. So schilderte Geoffrey O’Brien, als er 2007 für die „New York Review of Books“ die beiden letzten Staffeln der „Sopranos“ kommentierte, das beun- ruhigende Eingeständnis, wie sehr ihm das Personal der Serie über die Jahre hinweg ans Herz gewachsen sei und wie intensiv er an dessen Schick- sal Anteil genommen habe.14 Ein Grund für die Bindung an die Figur Tony Soprano besteht darin, dass über ihn jene Versagungen offenkundig werden, die der Alltag für uns bereithält. Indem er sich über die Zumutungen des Triebverzichts hinwegsetzt, erinnert er uns an den Preis, den wir für das zah- len, was man eine bürgerliche Existenz nennt.15 Die Grenzverletzungen, die er dabei begeht, begeht er somit auch für uns. Der Mafioso lebt manches von dem aus, was wir uns strikt verbieten. In dieser Hinsicht verkörpert er eben nicht das ganz Andere der bürgerlichen Gesellschaft, vielmehr erinnert er uns mit seiner brodelnden Sinnlichkeit daran, dass der Firnis der Zivilisa- tion ausgesprochen dünn ist. Die Lektion, die uns Tony Soprano erteilt, lautet daher, dass er uns ähnlicher ist, als uns das lieb sein kann. Gerade weil wir uns bisweilen in ihm wiedererkennen, klärt er uns über uns selbst auf. Er ist somit nicht die Inkarnation des Bösen – er ist unser Gegenüber. Tony Soprano verkörpert unsere Möglichkeiten; er stellt jene Seiten aus, die wir gerne verschweigen. Ähnliche Erfahrungen können wir bei „The Wire“ machen. Auch hier werden die Sympathien des Betrachters auf Personen gelenkt, die durch- aus nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Der bereits erwähnte Omar Little etwa wird zunächst nicht als Gangster eingeführt, sondern als Liebhaber, der sich seinem Lebensgefährten gegenüber als zärtlich und zugewandt erweist. Obwohl er sich in einem homophoben Milieu bewegt, zeigt er sich offen schwul – und lässt gleichzeitig eine bemerkenswerte Coolness erkennen, etwa wenn er in einen seidenen Morgenmantel gehüllt auf die Straße tritt, um seine bevorzugten cereals zu erstehen. Überdies begleitet er seine Groß- mutter sonntags zum Gemeindegottesdienst – und bleibt dabei doch stets ein Gangster. Versucht man nun die Zuneigung zu dieser überaus beliebten Figur zu verstehen, muss man einräumen, dass wir bei der Beurteilung von fiktionalen Figuren eine gewisse „Beweglichkeit“ erkennen lassen. Sind wir erst einmal von einer Figur eingenommen und schätzen manche Charakter- eigenschaften, sind wir im weiteren Verlauf augenscheinlich bereit, in der Beurteilung ihrer Handlungen eine gewisse Großzügigkeit regieren zu las- sen. Wir weichen die Kriterien etwas auf und lassen bei den Handlungsmoti- ven mildernde Umstände gelten.16

13 Martin Seel, Die Künste des Kinos, Frankfurt a. M. 2013. 14 Zit. nach Frank Kelleter, Populärkultur und Kanonisierung: Wie(so) erinnern wir uns an Tony Soprano?, in: Matthias Freise und Claudia Stockinger (Hg.), Wertung und Kanon, Heidelberg 2010, S. 55-76, hier S. 68. 15 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1997. 16 Vgl. Margrethe Bruun Vaage, Our Man Omar. Warum die Figur Omar Little aus „The Wire“ so

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Diese eigentümliche Kombination von Verbundenheit und Parteilichkeit charakterisiert auch das Sehen von „Breaking Bad“. Hier muss die Figu- renbindung deshalb besonders raffiniert betrieben werden, weil Walter White zu Beginn als eine unauffällige, alles andere als charismatische Figur geschildert wird. Er nimmt als Person kaum für sich ein und verändert sich mit jeder weiteren Staffel auf beängstigende Weise. Aber dieser Bruch mit dem bürgerlichen Wertekanon wird so stringent entwickelt, so schlüssig und auch im kleinsten Detail nachvollziehbar erzählt, dass doch stets ein gewisses Maß an Bindung gewahrt bleibt. Wir sind – über die vielen Stun- den hinweg, die wir seinen Weg verfolgt haben – schließlich so vertraut mit ihm, haben so viele dramatische Situationen miterlebt, so viele Gewalttätig- keiten stumm ertragen und Geheimnisse mit ihm geteilt, dass wir schließlich doch mitfiebern und an der Seite des skrupellosen Drogenbarons verharren. David R. Koepsell und Robert Arp, Herausgeber eines Bandes mit philosophi- schen Beiträgen zu „Breaking Bad“, bekennen denn auch freimütig, dass wir – die Zuschauer – zwar wissen, wie grausam dieses Spiel enden wird, dass wir aber auf gleichsam verzweifelte Weise dennoch den Sieg von Heisenberg wünschen.17

Autorenfernsehen als Zeitdiagnose

Welche Einsichten vermitteln also die neuen TV-Serien? Und welche Rück- schlüsse lassen die neuen Rezeptionsformen zu? Kann das „Autorenfernse- hen“ tatsächlich als Medium der Aufklärung in Anspruch genommen wer- den? Und wenn ja: Worüber klärt es auf? Die hier vorgestellten Serien zeigen zweierlei: Sie belegen – erstens – ein- drucksvoll, dass die gesellschaftliche Selbstthematisierung längst auch im Fernsehen auf hohem Niveau betrieben wird. Anders als prominente Ent- würfe der Sozialtheorie, die bei der Beschreibung von Gesellschaft von binä- ren Begriffspaaren ausgehen,18 operieren sie mit einer heillosen Verschmut- zung dieser Codes, mit Mehrfachcodierungen und komplizierten Formen der Überlagerung. Solche Serien demonstrieren, dass gesellschaftliche Kri- senphänomene mit dem Rückgriff auf schlichte Oppositionen nicht zurei- chend analysiert werden können. Sie sensibilisieren für die beträchtlichen zentrifugalen Kräfte und eine gesellschaftliche Ordnung, die kein Zentrum mehr kennt. Zugleich lenken sie das Augenmerk auf das Problem der ver- lässlichen Zurechnung von Handlungen und die Grenzen der Intentionalität. Von anspruchsvollen Gesellschaftstheorien unterscheiden sie sich freilich dadurch, dass sie – über den Aufbau von Bindungen an fiktionale Figuren – zeigen, wie sich Handlungszwänge, Identitätskrisen sowie der Kontroll- verlust aus der Innenperspektive darstellen. Die Kontingenz der sozialen

beliebt ist, in: Robert Blanchet et al. (Hg.), Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuel- len Quality-TV- und Online-Serien, Marburg 2011, S. 211-227. 17 David R. Koepsell und Robert Arp (Hg.), Breaking Bad and Philosophy. Badder Living through Che- mistry, Chicago 2013, S. ix. 18 Vgl. etwa Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997.

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Verhältnisse und die Ohnmacht der handelnden Akteure bleiben daher nicht abstrakte, theoretisch gewonnene Einsichten, sondern gewinnen eine sinn- liche Qualität. Das Autorenfernsehen betreibt somit Zeitdiagnose, dies aber im Modus einer sinnlichen Vergegenwärtigung.19 Indem sie das leisten, können die Serien des „Neo-TV“ – zweitens – ihre Zuschauer auch jenen unterkomplexen Problembeschreibungen gegen- über imprägnieren, die gegenwärtig eine besondere Konjunktur erfahren.20 Die Begegnungen mit Tony Soprano und Omar Little, mit Piper Chapman und Walter White nötigen dazu, den Umgang mit Ambivalenzen einzu- üben. Diese schillernden Figuren behandeln elementare Fragen der condi- tio humana auf eine Weise, die uns dazu zwingt, Stellung zu beziehen. Sie sind so raffiniert angelegt, dass von ihnen eine Sogwirkung ausgeht, die uns förmlich in ihre Geschichten hineinzieht. Dabei erweisen sich die fik- tionalen Charaktere nicht als das „ganz Andere“ unserer selbst, sondern als Figuren, über die indirekt auch unsere Fragen und Probleme thematisiert werden. Eben dadurch stimulieren sie unsere Urteilsbildung. Die Ausflüge in die Hinterhöfe von New Jersey und die Neighborhoods von Baltimore, in die Drogenszene von Albuquerque und ein Frauengefängnis in Upstate New York führen zu einer folgenreichen Befremdung des Eigenen. Die Figuren dieser TV-Serien können daher als Agenten der Alterität gelten: Sie ermög- lichen uns Differenzerfahrungen und lassen uns dadurch das Eigene als das Eigene begreifen; sie stoßen eine Bewegung der Dezentrierung an, trainie- ren unsere Empathiefähigkeit – und können damit politische Bildungspro- zesse auslösen.21 Indem sie uns aus dem Zentrum rücken, laden sie uns dazu ein, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und dünnhäutiger zu werden für die Erfahrungen, Lebensentwürfe und Schicksale anderer.

19 Vgl. Gottfried Gabriel, Erkenntnis in den Wissenschaften und der Literatur, Mainz und Stuttgart 2013. 20 Vgl. etwa Micha Brumlik, Das alte Denken der neuen Rechten, in: „Blätter“, 3/2016, S. 81-92. 21 Vgl. Andreas Dörpinghaus, Theorie der Bildung. Versuch einer „unzureichenden“ Grundlegung, in: „Zeitschrift für Pädagogik“, 4/2014, S. 464-480; Markus Rieger-Ladich, Deeply involved. Walter White, Heisenberg – und ich, in: Olaf Sanders et al. (Hg.): Ambivalenzwucherungen. Breaking Bad aus bildungs-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Blickwinkeln, Köln 2016, S. 71-99.

Französische

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Die 5. Republik steht vor der Wahl – und vermutlich vor einem beispiellosen Umbruch. Wohin steuert Frankreich? Das Dossier auf www.blaetter.de: 7 »Blätter«-Beiträge für nur 4 Euro

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201705_Buch.indb 120 19.04.17 10:47 BUCH DES MONATS

Keiner oder alle Von Achim Engelberg

Wer sich von den Stereotypen der Nach- richten, von den leerlaufenden Talkshows befreien will, der lese – wieder – Heiner Müller. „Für alle reicht es nicht. Texte zum Kapitalis- mus“ sind die beste Einführung in sein gro- ßes Werk und zudem hoch aktuell. Nachdem führende Medien die Flücht- lingskrise des Jahres 2015 unerwartet nann- ten, ist es erhellend, was Müller bereits 1992 geschrieben hat. Angesichts der Verschär- fung der Asylgesetze und der vielen über das Mittelmeer Fliehenden heißt es: „Auf der Tagesordnung steht der Krieg um Schwimm- westen und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten.“ Müller sah im Heute das Morgen. Doch sein Morgen ist unser Heute: „Die ehemaligen Heiner Müller, „Für alle reicht es Kolonien rächten sich an den Metropolen, nicht“. Texte zum Kapitalismus. Hg. von Helen Müller und Clemens Porn- indem sie sie zu zersetzen begannen. Es ent- schlegel in Zusammenarbeit mit Bri- standen Collagen mit Konflikten zwischen gitte Maria Mayer, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 389 S., 16 Euro den einzelnen Teilen.“ Dass die Ausgegrenz- ten 2015 verstärkt in Mitteleuropa auftauch- ten, bewirkte die Rückkehr des Verdrängten. „Mit der Frage, wie man diese Lage seinem Kind erklärt, ist jeder allein. Und vielleicht ist diese Einsamkeit eine Hoffnung.“ Schwer bleibt es, so Müller, im lärmenden Betrieb „die Wahrheit, leise und unerträglich“ zu sagen. Katas- trophen folgen im Stakkato, die Kameras schwenken von einem Brennpunkt zum nächsten. „Die totale Information wird zum Stabilitätsfaktor und zemen- tiert den Status quo, wenn sie nicht in eine Praxis übersetzt werden kann.“ So heißt es bei Müller bereits 1979, lange vor dem Zeitalter des Internets. Als der krebskranke Heiner Müller am 30. Dezember 1995 starb, kam die Todesnachricht nicht überraschend, aber sie schockierte dennoch eine breite Öffentlichkeit. Es folgten Tage mit Lesungen in überfüllten Räumen, auf Monitoren liefen seine sphinxhaft-einprägsamen Interviews gegen die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Zwar läuft seine letzte

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201705_Buch.indb 121 19.04.17 10:47 122 Buch des Monats

Inszenierung, Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit dem famosen Martin Wuttke, nach über zwei Jahrzehnten immer noch, den- noch wurde es gerade in Deutschland still um ihn. Bereits in seinen letzten Lebensjahren, nach dem vermeintlich endgültigen Sieg des Westens 1990, tat ihn eine selbst ernannte Meinungselite als ewig Gestrigen ab, der dem Neuen, Freiheit und Marktwirtschaft, gegenüber nicht aufgeschlossen sei. Manchmal ähnelte diese Kritik der von SED-Funktionären, die zuvor seine Stücke verboten hatten. Solange Müller lebte, wehrte er sich mit überlege- ner Intelligenz: „Das Niveau [der Debatte] wird wesentlich bestimmt von ost- und westdeutschen Spätheimkehrern in den Schoß des Kapitals, die beim Run auf die Märkte, auf der Flucht vor den eigenen Schamteilen, den roten Flecken ihrer Biographien, das Vokabular des politischen Analphabetismus […] sich besonders schnell angeeignet haben.“ Und bevor er starb, schrieb er noch stoisch-trotzig: „Das letzte Abenteuer ist der Tod / Ich werde wieder- kommen außer mir.“ Das vorliegende Buch ist Teil dieser erahnten Renais- sance: Spätestens nach Beginn der neuen großen Krise des Kapitalismus 2007, die zufällig mit dem Abschluss der Werkausgabe zusammenfiel, wurde „leise und unerträglich“ Jahr für Jahr deutlicher, wie veraltet seine Kritiker heute sind – im Gegensatz zu Müllers Stücken. Diese werden wieder häufi- ger aufgeführt, aber noch fand man keine neuen, überzeugenden Lesarten, nach den Exzessen eines oft historisch-politisch tauben Regietheaters. Gerade weil Heiner Müller tief in die Kämpfe, Hoffnungen und Irrtümer seines extremen Jahrhunderts verstrickt war, schuf er ein bald klassisch wer- dendes Werk. Das zeitlich Gebundene ermöglichte das Überzeitliche. Wenn er über Goya spricht, erläutert er auch Erfahrungen mit Marxismus und Kom- munismus, Sowjetunion und DDR: „Goya sitzt da in seinem reaktionären Spanien, in dieser Monarchie, gierig interessiert an der französischen Auf- klärung. Dann kommt das Neue, der Fortschritt, die Aufklärung, die Revo- lution, aber als Besatzungsarmee, mit dem ganzen Terror der Besatzungs- armee. Die Bauern bilden die erste Guerilla für ihre bedrohten Unterdrücker. Sie bekämpfen den Fortschritt, der ihnen in Gestalt von Terror entgegentritt. […] Es gibt keine festen Konturen mehr, keinen klaren Pinselstrich.“ Heiner Müller selbst entwickelte sich zu einem Goya in Worten. Anders als sein Lehrmeister Brecht schrieb er keine großformatigen Parabeln, son- dern Montagen in einem fragmentarischen Stil, der die Phantasie der Leser fordert und fördert. Obwohl Bertolt Brecht weltliterarisch größere Schatten wirft, ist bei der Durchdringung des blutigsten Jahrhunderts der Mensch- heitsgeschichte Heiner Müller ohnegleichen. „Der Auftrag“ ist die bis heute gültige dramatische Reflexion der Revolutionserfahrungen des 20. Jahrhun- derts. „Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. […] Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt.“ Diese Metapher weist über Brecht hinaus in unsere Zeit, wo der Krieg der Land- schaften eine Antwort auf die Frage verlangt: Weltende oder Neuanfang? Der „rasende Stillstand“ (Paul Virilio) eines Systems des Warenkultes und des Konsumgottes erfüllte Heiner Müller mit EKEL, dem in „Für alle reicht

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es nicht“ nach dem Kapitel über KAPITALISMUS UND KAPITALISMUS- KRITIK ein zweites von fünf Kapiteln gewidmet ist. Der Band nutzt dabei gekonnt Müllers Montagetechnik, die Kunst und Philosophie, Szenen und Zitate, Gedichte und Prosa spannungsreich nebeneinanderstellt. Genährt wird Müllers Ekel von Kommentaren der Herrschenden, die ihre Unschuld betonen und ihren Willen zum Nicht-Wissen-Wollen der Ursachen für das Elend der Welt. In SPRACHE, dem dritten Kapitel, geht es darum, wie diese manipuliert wird mit Euphemismen, Umdeutungen und heuchlerischen Wir- Ansprachen. Drastisch spitzte Müller in Gesprächen bei Whisky und Zigarre zu: „Gegen die kommunistische Lebenslüge ‚Keiner oder alle‘ hat Hitler gesetzt: ‚Für alle reicht es nicht‘. Das hat Hitler auf den Punkt gebracht, schon in seiner Rede vor dem Industrieclub 1932: Der Lebensstandard der weißen Rasse kann nur gehalten werden, wenn der der anderen Rassen sinkt. Die Selektion ist nach wie vor das Prinzip der Politik der Industriestaaten. Inso- fern hat Hitler gewonnen.“ Hier klingen Sätze an wie der von Horkheimer, wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen. Allerdings agiert Müller stets als Dramatiker, mit verdichtender Schärfe. „Wir haben das Geld zu Gott gemacht. [...] Wir sind […] dem Götzendienst des Geldes verfallen“, zitieren die Herausgeber Papst Franziskus. Hier wird verständlich, obwohl Zweifel bleiben, warum Heiner Müller bereits 1990 im 21. Jahrhundert eine Allianz von Kommunismus und Katholizismus für not- wendig hielt, um den Kapitalismus zu überwinden. Da Heiner Müller religiös aufmerksam war, erkannte er als einer der Ersten die Rückkehr der Religio- nen in den frei werdenden Raum nach dem Ende des fingierten Sozialismus. So gibt es im Abschnitt RELIGION manches zu entdecken, was nicht ins landesübliche Bild passt: „Das Preußen des Heinrich von Kleist ist eine Erd- bebenzone, von Verwerfungen bedroht, angesiedelt auf dem Riss zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Reli- gion oder Ideologie die alten Stammesfeuer neu gezündet werden. Einem Riss, in dem zum Beispiel Polen immer wieder verschwunden ist.“ (1990) Aufreizend quer liegt das letzte Brevier, KRIEG, zum Zeitgeist, der bekenntnishaft Gewalt ablehnt und verschleiernd von Verantwortung spricht, wenn es um Militäreinsätze geht. Nicht nur eine Diktatur, sondern auch eine Republik wie die BRD beruhe nicht auf Natur und Recht, son- dern auf Gewalt. Deshalb gibt es nach Bürgerkriegen oft das Erstaunen, wie schnell angeblich friedliche Nachbarn raubten, folterten und töteten. Die wie eine Geheimschrift verborgene Gewalt war wieder sichtbar geworden. „Die Narben schrein nach Wunden“, heißt es bei Müller. Im Frieden tritt der Krieg nur manchmal an die Oberfläche: „Fünf Straßen weiter wie die Sire- nen andeuten / Schlagen die Armen auf die Ärmsten ein“. Solange das aber so bleibt, ist der Satz aus „Der Auftrag“ gültig, mit dem das Buch anfängt und dieser Artikel endet: SOLANGE ES HERREN UND SKLAVEN GIBT, SIND WIR AUS UNSEREM AUFTRAG NICHT ENTLASSEN.

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201705_Buch.indb 123 19.04.17 10:47 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Flüchtlingskinder sind besonders oft von Armut betroffen« Studie des WSI der Hans-Böckler-Stiftung, 18.4.2017

• »Keine Chancengleichheit beim Verfassungsreferendum in der Türkei« Stellungnahme der Wahlbeobachter des Europarats, 17.4.2017

• »Drei von vier Bundesbürgern befürworten eine grundlegende Umgestal- tung unserer Wirtschafts- und Lebensweise« Umweltbewusstseinsstudie des Umweltbundesamts, 12.4.2017

• »Die 50 größten US-Firmen verschieben zunehmend Geld in Steueroasen« Oxfam-Bericht, 12.4.2017 (engl. Originalfassung)

• »Im Jemen, in Nigeria und am Horn von Afrika droht massenhafter Hungertod« Stellungnahme des UNHCR, 11.4.2017 (engl. Originalfassung)

• »2016 gab es weniger Hinrichtungen als im Vorjahr« Bericht von Amnesty International, 11.4.2017

• »Die Skepsis gegenüber Einwanderung hat zugenommen« Studie der Bertelsmann Stiftung, 7.4.2017

• »Geflüchtete sind auf der Balkanroute systematischen Misshandlungen aus- gesetzt« Bericht von Oxfam International, 6.4.2017 (engl. Originalfassung)

• »2016 wurde weltweit mehr in erneuerbare als in fossile Energien investiert« Bericht der Frankfurt School of Finance and Management, 6.4.2017 (engl. Original- fassung)

• »Erst gemeinsam gewinnen wir Kraft und Gewicht in der Welt« Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor dem Europaparlament in Straßburg, 3.4.2017

• »Wir verlassen die Europäische Union, aber wir verlassen nicht Europa« Brief der britischen Premierministerin Theresa May an den Vorsitzenden des Europä- ischen Rats Donald Tusk, 29.3.2017 (engl. Originalfassung)

• »Die EZB braucht mehr demokratische Kontrolle und Transparenz« Studie von Transparency International, 28.3.2017 (engl. Originalfassung)

• »Muslime engagieren sich besonders stark für Geflüchtete« Studie der Bertelsmann Stiftung, 27.3.2017

• »Rund ein Drittel der Jobs in Deutschland drohen bis 2030 automatisiert zu werden« Studie von Pricewaterhouse Coopers, 24.3.2017 (engl. Originalfassung)

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201705_Buch.indb 124 19.04.17 10:47 Chronik des Monats März 2017

1.3. – EU. Die Kommission formuliert in „weitere Verschärfung der Situation zu ver- einem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ meiden“, so ein Kommissionssprecher. Die Optionen und Szenarien bis zum Jahr 2025. Entscheidung über türkische Wahlkampf- Eine Option empfiehlt die Konzentration auf auftritte falle in die Kompetenz jedes einzel- den Binnenmarkt, eine andere trägt den Ti- nen Mitgliedstaates. – Am 25.3. halten die tel „Wer mehr will, tut mehr“ und plädiert Regierungschefs einen „Jubiläumsgipfel“ für ein Europa mehrerer Geschwindigkei- in der italienischen Hauptstadt ab, der an ten. Einige Staaten könnten ihre Koopera- die Unterzeichnung der Römischen Verträ- tion intensivieren, ohne von den Skeptikern ge zur Gründung der Europäischen Wirt- gebremst zu werden. Bei der Vorlage des schafts-Gemeinschaft/EWG am 25. März Weißbuchs bezeichnet Kommissionspräsi- 1957 erinnern soll. Großbritannien ist nicht dent Juncker den Austritt Großbritanniens vertreten. Der Gipfel verabschiedet eine „Er- als „bedauerlich und schmerzhaft“, der die klärung von Rom“. – Am 28.3. setzt Premier- Union auf ihrem „Marsch in die Zukunft“ ministerin May in London mit ihrer Unter- jedoch nicht stoppen könne. – Am 5.3. setzt schrift nach 44 Jahren EU-Mitgliedschaft sich Österreichs Bundeskanzler Kern in den Austrittsprozess in Gang. Grundlage einem Interview mit der Zeitung „Welt am ist der Vertrag von Lissabon vom Dezember Sonntag“ für ein Verbot von Wahlkampf- 2007, Artikel 50 Absatz 1: „Jeder Mitglied- auftritten türkischer Politiker in allen Mit- staat kann im Einklang mit seinen verfas- gliedstaaten der Europäischen Union ein, sungsrechtlichen Vorschriften beschließen, „damit nicht einzelne Länder wie Deutsch- aus der Union auszutreten.“ Die Absichts- land, in denen Auftritte untersagt werden, erklärung wird am 29.3. in Brüssel überge- unter Druck der Türkei geraten“. Die ge- ben, damit beginnt die Frist für Verhandlun- planten Verfassungsänderungen in der Tür- gen, die am 29. März 2019 endet. Die 27 üb- kei würden „den Werten der EU widerspre- rigen Mitglieder veröffentlichen eine Stel- chen“. – Am 6.3. beschließen die Außen- lungnahme, gemeinsame Positionen sollen und Verteidigungsminister in Brüssel den auf einem Sondergipfel am 29. April d.J. Aufbau einer gemeinsamen militärischen festgelegt werden. Kommandozentrale für Auslandseinsätze. 1.-2.3. – Nato. Generalsekretär Stoltenberg Mittelfristig sei geplant, auch andere Arten hält sich zu Gesprächen mit führenden Poli- von Einsätzen über das neue Hauptquartier tikern der Eidgenossenschaft in Bern auf. zentral zu koordinieren. – Am 7.3. stellt der Im Vorfeld hatte Stoltenberg auf die sehr Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem enge Partnerschaft zwischen der neutra- Urteil fest, die EU-Mitgliedstaaten seien len Schweiz und der Nato hingewiesen und nicht verpflichtet, in ihren diplomatischen betont, die Bedeutung der Neutralität habe Vertretungen Asylanträge anzunehmen sich gewandelt. – Am 2.3. kommt es erstmals und humanitäre Visa zu erteilen. – Am 9.3. seit der Annexion der Krim 2014 zu hoch- wird der Pole Donald Tusk trotz Widerstands rangigen Kontakten zwischen den Militärs der Warschauer Regierung für eine weitere der Allianz und Russlands. Generalstabs- Amtsperiode als Ratspräsident bestätigt. chef Gerassimow und der Vorsitzende des Die Entscheidung fällt mit 27 gegen eine Nato-Militärausschusses US-General Pavel Stimme. Die polnische Regierungschefin führen ein längeres Telefongespräch. – Am Dzydlo spricht von einem „traurigen Tag“. 31.3. findet im Brüsseler Hauptquartier eine Das größte Problem der EU sei, dass sie Zusammenkunft der Außenminister statt, sich über den Willen der Mitgliedstaaten an der auch der neue US-Ressortchef Tiller- hinwegsetze. – Am 13.3. appellieren Nach- son teilnimmt. Zu den umstrittenen Themen barschaftskommissar Hahn und die Außen- gehört die Höhe der Militärausgaben der beauftragte Mogherini gemeinsam an die Mitgliedstaaten. Türkei, auf „exzessive Aussagen und Ak- 2.3. – Schweden. Die von Sozialdemokraten tionen“ zu verzichten. Es gehe darum, eine und Grünen geführte Minderheitsregierung

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201705_Buch.indb 125 19.04.17 10:47 126 Chronik

legt einen Gesetzentwurf zur Wiedereinfüh- reas amtliche Nachrichtenagentur KCNA rung der 2010 abgeschafften allgemeinen bezeichnet die Tests als Übung für einen Wehrpflicht vor. Von dem Beschluss, der im Angriff auf die amerikanischen Streitkräfte. Zusammenhang mit der sich verschärfen- Potentielles Ziel seien US-Stützpunkte in Ja- den Lage im Ostseeraum steht, wären 13 000 pan. Staatschef Kim Jong-un habe den Ab- Wehrpflichtige betroffen. schuss persönlich überwacht. 5.3. – BRD/Türkei. Außenminister Gabriel – Frankreich. Der scheidende Präsi- warnt vor einer weiteren Eskalation in den dent Hollande warnt eindringlich vor einem Auseinandersetzungen mit der Türkei: „Wir Sieg des Front National (FN) bei der bevor- dürfen das Fundament der Freundschaft stehenden Präsidentschaftswahl. Falls Ma- zwischen unseren Ländern nicht kaputtma- rine Le Pen an die Macht komme, würde sie chen lassen“, heißt es in einem Gastbeitrag sofort mit dem Ausstieg aus der Eurozone für „Bild am Sonntag“. Wir sind gut beraten, und der Europäischen Union beginnen. Es die schwierigen Themen „nicht gegeneinan- sei seine „letzte Pflicht“, zu verhindern, dass der aufzurechnen“. Zu Auftritten türkischer Frankreich „eine derartige schwere Verant- Politiker in Deutschland schreibt Gabriel: wortung auf sich lädt“. „Wer bei uns reden will, muss uns nicht nach 7.3. – Ungarn. Das Parlament fasst den Be- dem Mund reden, aber er muss unsere Re- schluss, alle Asylbewerber künftig in ge- geln respektieren.“ – Am 8.3. treffen sich die schlossenen Lagern unterzubringen. Die Außenminister Gabriel und Cavusoglu in Vorlage wird von der Regierungspartei Fi- einem Berliner Hotel. Das Gespräch wird an- desz eingebracht. Das UN-Flüchtlingshilfs- schließend als „offen und ehrlich“, aber auch werk UNHCR übt heftige Kritik. als „kontrovers“ bezeichnet. Im Fernsehen 7.-8.3. – Syrienkonflikt. Die Generalstabs- hatte Gabriel am Vorabend die von Präsident chefs der Türkei, der USA und Russlands Erdogan und auch von Außenminister Cavu- beraten in der südtürkischen Stadt Antalya soglu gezogenen Vergleiche der deutschen über einen Modus, um Zusammenstöße der Politik mit dem nationalsozialistischen Truppen in den umkämpften Gebieten zu ver- Deutschland als unhaltbar zurückgewiesen. hindern. – Am 15.3. werden bei einem Selbst- Es gebe Grenzen, die man nicht überschrei- mordanschlag auf den Justizpalast im Zen- ten dürfe, wenn ein respektvoller Umgang trum der Hauptstadt Damaskus mindestens gepflegt werden solle. Mehrere deutsche 40 Personen getötet, darunter mehr als 20 Zi- Kommunen hatten Wahlkampfveranstaltun- vilisten. Wenig später zündet ein Attentäter gen türkischer Politiker wegen Gefährdung seinen Sprengstoffgürtel in einem Restaurant. der öffentlichen Sicherheit untersagt. Gene- 9.3. – Russland/BRD. Bundesaußenminis- relle Verbote lehnt die Bundesregierung ab. ter Gabriel macht seinen Antrittsbesuch bei „Wir glauben nicht, dass ein Einreiseverbot Außenminister Lawrow in Moskau. Gabriel sinnvoll wäre“, heißt es am 10.3. in einer Er- wird auch von Präsident Putin empfangen. klärung des Auswärtigen Amtes. – Am 19.3. 10.3. – Russland/Türkei. In Begleitung einer greift Erdogan in einer Rede die Bundes- umfangreichen Delegation kommt Präsident kanzlerin persönlich an: „Merkel, nun be- Erdogan nach Moskau. Es werden Abkom- nutzt du Nazi-Methoden.“ – Am 20.3. erklärt men zu Handel, Kultur und Informationsaus- Bundeskanzlerin Merkel: „Wir werden nicht tausch unterzeichnet. Präsident Putin lobt die zulassen, dass der Zweck die Mittel immer Zusammenarbeit mit Ankara im Syrienkon- wieder heiligt und jedes Tabu fällt.“ – Am flikt als vertrauensvoll und effektiv. 21.3. heißt es, vor dem Verfassungsreferen- 15.3. – USA. Ein Bundesrichter im Staat Ha- dum am 16. April d.J. seien keine weiteren wai verhindert per Einstweiliger Verfügung Auftritte türkischer Politiker in Deutschland das Inkrafttreten eines weiteren Einreise- geplant. – Am 26.3. wiederholt Erdogan an verbots für Personen aus sechs überwie- die Adresse der Bundesrepublik: „Ihr seid gend muslimischen Ländern (vgl. „Blätter“, Faschisten, ihr mit euren Nazi-Praktiken 4/2017, S. 126 f.). Präsident Trump kündigt könnt so verärgert sein wie ihr wollt.“ den Gang zum Obersten Gerichtshof an. 6.3. – Korea. Die Demokratische Volksre- – Niederlande. Die Partei des amtieren- publik Korea (Nordkorea) testet erneut vier den Ministerpräsidenten Mark Rutte (VVD) ballistische Raketen, die in japanischen liegt bei den Parlamentswahlen mit 21,3 Territorialgewässern niedergehen. Nordko- Prozent klar vorn, gefolgt von der Partei des

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201705_Buch.indb 126 19.04.17 10:47 Chronik 127

Rechtspopulisten Geert Wilders (PVV), die Seite Israels sei trotz aller Rückschläge im- auf 13,1 Prozent zulegen kann. In der Zwei- mer noch der beste Weg, den Nahost-Kon- ten Kammer des Parlaments (150 Sitze) stellt flikt zu beenden: „Ich sehe nach wie vor kei- die VVD künftig 33 (bisher 41), die PVV 20 ne vernünftige Alternative für das Ziel einer (15) Sitze. Wegen der zahlreichen Fraktionen Zwei-Staaten-Lösung.“ Israels Zukunft als in der Kammer wird in Den Haag mit einer „jüdischer und demokratischer Staat“ sei schwierigen Regierungsbildung gerechnet. mit dem Ausbau jüdischer Siedlungen im 16.3. – USA/Russland. Aus Anlass des drit- Westjordanland auf Dauer nicht vereinbar. ten Jahrestages der Annexion der Halbinsel Abbas äußert die Hoffnung auf baldige An- Krim (vgl. „Blätter“, 5/2014, S. 125) erklärt erkennung des Staates Palästina durch die ein Sprecher des Außenministeriums in Wa- Bundesrepublik. shington: „Die Krim ist ein Teil der Ukraine. – Ägypten. Der ehemalige Präsident Die USA verurteilen die russische Beset- Hosni Mubarak wird nach sechs Jahren aus zung der Krim und rufen zu deren unverzüg- dem Arrest entlassen. Das Oberste Gericht lichem Ende auf.“ Sanktionen gegen Russ- hatte Mubarak Anfang des Monats endgül- land sollten in Kraft bleiben, bis Moskau die tig vom Vorwurf freigesprochen, an der Tö- Halbinsel zurückgegeben habe. tung von Hunderten Demonstranten im Jah- 17.3. – Bundespräsident. Im Garten von re 2014 mitschuldig zu sein. Schloss Bellevue in Berlin wird Bundesprä- 26.3. – Saarland. Bei den Landtagswahlen sident Joachim Gauck feierlich verabschie- können die Christdemokraten von Minister- det. Das neue Staatsoberhaupt Frank-Walter präsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer Steinmeier legt am 22.3. vor dem Bundestag ihre führende Position weiter ausbauen. Der den Amtseid ab (zur Wahl durch die Bundes- Koalitionspartner, die Sozialdemokraten, versammlung vgl. „Blätter“, 4/2017, S. 126). verzeichnet leichte Stimmenverluste. Die – USA/BRD. Bundeskanzlerin Merkel Linke mit ihrem Spitzenkandidaten Oskar trifft erstmals mit dem neuen Präsidenten Lafontaine, verliert ebenfalls Wähler. Das der Vereinigten Staaten Donald Trump im Parlament verlassen müssen die Piraten Weißen Haus zusammen (vgl. „Blätter“, mit einem Stimmenanteil von nur 0,7 Pro- 3/2017, S. 126). Beide verabreden für die Zu- zent (bisher 7,4 und 4 Abgeordnete) sowie kunft eine enge Zusammenarbeit. die Grünen mit 4,0 Prozent (bisher 5,0 und 19.3. – SPD. Ein Sonderparteitag in Berlin 2 Abgeordnete). Ebenfalls an der Fünfpro- wählt Martin Schulz einstimmig zum neu- zentklausel scheitern erneut die Freien en Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Demokraten mit 3,3 Prozent. Neu vertre- Partei Deutschlands und SPD-Kanzlerkan- ten ist die Alternative für Deutschland. Die didaten für die Bundestagswahl im Septem- Wahlbeteiligung steigt auf 69,7 (2012: 61,6) ber d.J. Schulz, Präsident des Europäischen Prozent. Nach dem vorläufigen amtlichen Parlaments bis Januar 2017 (vgl. „Blätter“, Endergebnis entfallen auf die vier im Lan- 3/2017, S. 127), übernimmt den Parteivorsitz desparlament vertretenen Parteien (Anga- von Sigmar Gabriel, Vizekanzler und Bun- ben in Prozent): CDU 40,7 (2012: 35,2), SPD desaußenminister. 29,6 (30,6), Die Linke 12,9 (16,1), AfD 6,2 (-). 20.3. – Italien. In Rom beraten Vertreter Zusammensetzung des neuen Landtags (51 europäischer und nordafrikanischer Staaten Abgeordnete): CDU 24 (2012: 19), SPD 17 über Maßnahmen, mit denen der Flücht- (17), Linke 7 (9), AfD 3 (-). CDU und SPD tre- lingsstrom von Libyen nach Italien gestoppt ten in Verhandlungen über die Fortführung werden soll. Seit Schließung der „Balkan- ihrer Zusammenarbeit ein. (Zur Landtags- Route“ kommen 90 Prozent der Migranten wahl vom 25. März 2012 und zur Bildung der über das Mittelmeer nach Europa. Großen Koalition vgl. die Chronik in „Blät- 22.3. – Großbritannien. In der Umgebung ter“, 5/2012, S. 127 und 7/2012, S. 126.) des Parlamentsgebäudes in London kommt 31.3. – Ukraine. Präsident Poroschenko ord- es zu einem terroristischen Anschlag. Es gibt net nach einem Treffen der Ukraine-Kon- Tote, darunter der Attentäter, und Verletzte. taktgruppe in Minsk eine neue Waffenruhe 24.3. – Bundesregierung. Vor einem Treffen für die umkämpften Ostgebiete (Donbass) mit Palästinenserpräsident Abbas in Berlin des Landes an. Er sei jedoch nicht sehr opti- erklärt Bundeskanzlerin Merkel, die Schaf- mistisch, „dass sich die andere Seite an die fung eines palästinensischen Staates an der Absprache halten wird“.

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201705_Buch.indb 127 19.04.17 10:47 Zurückgeblättert... Vor zehn Jahren, zu Hochzeiten der Regierung von George Bush jun., schrieb der US-amerikanische Diplomat und Autor Chas W. Freeman einen Text, der heute aktueller ist denn je: Empire ohne Diplomatie. Der Niedergang der amerikanischen Politik, in: »Blätter«, 5/2007, S. 551-561.

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An der Ausgabe wirkten als Praktikantinnen Pilar Caballero Alvarez und Franca Kappes mit.

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201705_Buch.indb 128 19.04.17 10:47 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater, geb. 1938 in Kamen, Ismail Küpeli, geb. 1978 in Bursa/Tür- Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Dr. oec. publ., Prof. em. für Politische kei, Politikwissenschaftler, promoviert Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power Ökonomie an der Freien Universität an der Universität Bochum, Buchautor Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl Berlin. und Journalist. Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Inken Behrmann, geb. 1993 in Berlin, Utz-Ingo Küpper, geb. 1942 in Wup- Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor studiert Sozialwissenschaften und ist pertal, Dr. rer. pol., Wirtschaftsgeo- Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan in der Klimagerechtigkeitsbewegung graph, ehem. Leiter des Amtes für Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann aktiv. Stadtentwicklung Köln. Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Ulrich Brand, geb. 1967 auf der Insel Ingrid Kurz-Scherf, geb. 1949 in Trier, Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Mainau im Bodensee, Dr. phil., Pro- Dr. rer. pol., Prof. em. für Politikwis- Walter Kreck Helmut Ridder fessor für internationale Politik an der senschaft und Geschlechterverhält- Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling Universität Wien, Mitherausgeber der nisse an der Universität Marburg. In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose „Blätter“. Adam Krzeminski Rossana Rossandra Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Michael Brzoska, geb. 1953 in Heide, gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Jürgen Kuczynski Irene Runge Dr. phil., Politikwissenschaftler und wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Charles A. Kupchan Bertrand Russell Ökonom, Professor am Institut für Frie- Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto densforschung und Sicherheitspolitik Birgit Mahnkopf, geb. 1950 in Berlin, Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen der Universität Hamburg. Dr. rer. pol., Prof. em. für europäische Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Gesellschaftspolitik an der Hochschu- Matthias Eickhoff, geb. 1966 in le für Wirtschaft und Recht Berlin, Ku- Hermann Scheer Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hamm, Politikwissenschaftler, Jour- ratoriumsmitglied des Instituts Solida- Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl nalist und Übersetzer. rische Moderne. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer Achim Engelberg, geb. 1965 in Ber- Ulrich Menzel, geb. 1947 in Düssel- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann lin, Dr. phil., Historiker, Journalist und dorf, Dr. phil., Professor em. am Insti- Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Buchautor. tut für Sozialwissenschaften der TU E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Braunschweig. Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Christoph Fleischmann, geb. 1971 in Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Hilden/Rheinland, ev. Theologe, freier Markus Rieger-Ladich, geb. 1967 in Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Journalist u.a. für den ARD-Rund- Bad Orb, Dr. phil., Direktor des Insti- Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer funk. tuts für Erziehungswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Nancy Fraser, geb. 1947 in Baltimore, Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern PhD, Professorin für Politik- und So- Ulrich Weigel, geb. 1954 in Stuttgart, Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz zialwissenschaften an der New School Dr. rer. soc, Soziologe, Leiter des Ser- Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby for Social Research in New York/USA. vicezentrums Informationsressourcen Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd an der Universität St. Gallen. Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin Dr. phil., Historikerin, freie Journalis- Charlotte Wiedemann, geb. 1954 in György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban tin, stellvertretende Chefredakteurin Mönchengladbach, Journalistin und Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal von klimaretter.info. Buchautorin mit dem Schwerpunkt is- Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein lamische Länder. Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Benjamin-Immanuel Hoff, geb. 1976 in Berlin, Dr. phil., Sozialwissen- Markus Wissen, geb. 1965 in Neu- Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler schaftler und Politiker (Linkspartei), wied/Rhein, Dr. phil., Professor für Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Minister für Kultur, Bundes- und Euro- Gesellschaftswissenschaften an der Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer paangelegenheiten in Thüringen. Hochschule für Wirtschaft und Recht Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Berlin. Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Fabian Kretschmer, geb. 1986 in Ber- Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf lin, Kommunikationswissenschaftler, Laura Wollny, geb. 1987 in Essen, Dr. Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Buchautor und Korrespondent in Seoul rer. nat., Chemikerin, aktiv bei der Ini- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann u.a. für „taz“, und „Der Standard“. tiative „ausgeCO2hlt“. Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

201705_Umschlag_innen.indd 1 19.04.17 10:43 Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage des VSA Verlags. Wir bitten um freund- liche Beachtung. 201705_Umschlag_außen.indd 1

Blätter 5’17 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Birgit Mahnkopf und Mahnkopf und Birgit Die Globalisierung des einen Prozent einen des West Ost: versus Grenzziehungen Elmar Altvater Elmar Ulrich Menzel Ulrich Die neuen internationale deutsche und Blätter für Politik Markus Rieger-LadichMarkus Serien als Zeitdiagnostik Tagträume Gesellschaft: der Fraser Nancy Sorgearbeit der Die Ausbeutung Ingrid Kurz-Scherf contra Trump?Marx Ulrich und Brand Wissen Markus imperiale schöne Unsere Lebensweise Wiedemann Charlotte ParadoxienIranische Christoph Fleischmann alle für Güter Gottes 5’17 19.04.17 10:42