HEUSS-FORUM 3/2016

Dierk Hoffmann Wirtschaftsliberalismus bei Von der Kapitalis- den Grünen? muskritik der Gründungsphase bis zur Agenda 2010

Theodor-Heuss-Kolloquium 2016 Die neoliberale Herausforderung und der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert 3.–4. November 2016

In Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

HEUSS-FORUM I S S N 2 6 9 9 - 0 1 6 4 www.stiftung-heuss-haus.de ϭ Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen?

terpräsident hat kürz- Dierk Hoffmann lich angekündigt, die Grünen als Wirtschafts- partei stärker zu profilieren. Belegen diese Wirtschaftsliberalismus bei den Aussagen schon wirtschaftsliberale Strömun- Grünen? Von der Kapitalismuskritik gen bei den Grünen, und wie entwickelte sich der Gründungsphase bis zur Agenda ihre wirtschaftspolitische Konzeption seit der 2010 Gründung der Partei? Haben sich die Grünen von einer eher kapitalismuskritischen hin zu einer teilweise marktliberalen Position gewan- delt? Dabei kann im Folgenden nur ein erster „Grüne Marktwirtschaft setzt einen effektiven Werkstattbericht präsentiert werden, da der Ordnungsrahmen. […] Der Ordnungsrahmen Untersuchungszeitraum sehr weit gesteckt ist verhilft der nötigen Vernunft zum Durchbruch, ohne die Produzenten und Konsumenten in ih- und Grundlagenliteratur eigentlich nicht vor- rer wirtschaftlichen Freiheit zu hindern. […] handen ist – bis auf die sehr gute ideenge- Grüne Marktwirtschaft stärkt die wirtschaftliche schichtliche Studie von Silke Mende zur Freiheit und selbstbestimmtes Handeln durch Gründungszeit und die etwas statisch wirkende einen fairen Marktzugang, Begrenzung von diskursgeschichtliche Überblicksdarstellung Marktmacht, Stärkung des Wettbewerbs [und von Frieder Dittmar, die sich auf die Pro- durch den] Abbau überflüssiger Bürokratie. grammdebatte auf den Bundesversammlungen […] Was [Unternehmens]Gründungen hemmt, konzentriert.3 Insofern können also an dieser 1 muss abgebaut werden.“ Stelle nur thesenhaft einige Schlaglichter auf Mit diesen Aussagen umreißt die Bundestags- den Untersuchungsgegenstand geworfen wer- fraktion von Bündnis 90/Die Grünen auf Ihrer den. Dies soll auf drei unterschiedlichen Ebe- Homepage aktuell ihre wirtschaftspolitischen nen geschehen: Der Vortrag geht erstens auf Vorstellungen. Klingen diese Sätze wie aus die Wirtschaftsprogrammatik der Grünen in dem ordoliberalen Lehrbuch, wie ein FAZ- den Anfangsjahren ein, untersucht zweitens Artikel unter Verweis auf ähnlich lautende Struktur und Funktion der Bundesarbeitsge- Passagen des nach wie vor gültigen Grund- meinschaft Wirtschaft und geht drittens auf die satzprogramms von 2002 behauptet?2 Nach Frage nach Brüchen und Kontinuitäten auf dem Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen einem sozialpolitischen Politikfeld ein, der Bundestag 2013 wurde in derselben Tageszei- Rentenpolitik. Dabei wird die Einführung der tung jedenfalls die Vermutung geäußert, die Riesterrente 2001 als ein Teil der sozial- und Grünen würden nun „ihr liberales Herz“ ent- wirtschaftspolitischen Strukturveränderungen decken und sich zur „legitimen Erbin der sie- begriffen, die unter der rot-grünen Bundesre- chen FDP“ erklären. Zu dieser Diagnose gierung durchgeführt wurden. Abschließend scheinen auch die Meldungen Anfang 2015 zu soll noch einmal auf die eingangs gestellte passen, die Partei wolle mit einem neuen Wirt- Frage Bezug genommen und ein vorläufiges schaftskonzept auf Unternehmer zugehen. Ins- Fazit gezogen werden. besondere der baden-württembergische Minis- 3 Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern 1 https://www.gruene-bundestag.de/themen/ vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen wirtschaft/die-gruene-marktwirtschaft.html. (= Ordnungssysteme, Bd. 33), München 2011; Frie- 2 Ralph Bollmann: Die Grünen entdecken ihr libera- der Dittmar: Das Realo-Fundi-Dispositiv. Die Wirt- les Herz, in: faz-net vom 7.10.2013. schaftskonzeption der Grünen, Marburg 2007.

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1. These: In der wirtschaftspolitischen Debat- anderen aber auch mit der Heterogenität der te überwogen bei den Grünen von Anfang an Partei zusammen, deren Gründung 1980 aus gemäßigte Positionen einer Vielzahl außerparlamentarischer Bewe- gungen hervorgegangen war, und den damit In der Parteigründung der Grünen 1980 spie- verbundenen Sollbruchstellen, die die inner- gelten sich bekanntlich die wachsenden Unsi- parteilichen Debatten in den 1980er Jahren cherheiten gegenüber Ordnungsmustern und nachhaltig prägten. Schlüsselkategorien der modernen Industrie- gesellschaft wider, die den Wandel der west- Die Grünen haben sich bereits vor ihrem ers- deutschen Gesellschaft ‚nach dem Boom‘ cha- ten Einzug in den Bundestag mit arbeitsmarkt- rakterisiert hatten. Mit dem Bericht des Club und sozialpolitischen Fragen beschäftigt. Da- of Rome von 1972 waren die Begriffe ‚Wachs- bei zeigten sich schnell die zum Teil gegen- tum‘ und ‚Fortschritt‘ immer mehr in die Kri- sätzlichen Positionen. Erst die gemeinsame tik der westlichen Öffentlichkeit geraten. An Kritik an der westlichen Konsumgesellschaft diese Debatten konnten die Grünen anknüpfen konnte als Brückenfunktion zwischen den ein- und später etwa den Begriff des ‚qualitativen zelnen innerparteilichen Strömungen dienen, 4 Wachstums‘ mit prägen. Gleichzeitig versuch- wie Silke Mende nachgewiesen hat. Bei der ten die Grünen Antworten zu finden, die auf- Verabschiedung der Wahlplattform zur Bun- grund des Strukturwandels der Arbeitsgesell- destagswahl 1980 musste das Verhältnis zwi- schaft über den fordistischen Arbeitsbegriff schen Ökologie und Ökonomie noch offenge- und das damit verbundene Sozialstaatsmodell lassen werden; ein geplantes Papier zu dieser hinausgingen. Angesichts steigender Arbeits- Thematik kam nicht zustande. Die Wahlplatt- losigkeit und einer zunehmenden Anzahl an form stellte jedoch eine kleine Niederlage der Sozialhilfeempfänger begann sich in der Bun- K-Gruppen dar, denn im ersten Satz des Wirt- desrepublik in der zweiten Hälfte der 1970er schaftsteils war von den Grenzen des Wachs- Jahre eine Debatte über die ‚Zukunft der Ar- tums und den limitierten Rohstoffreserven die beitsgesellschaft‘ und die ‚neue Armut‘ zu Rede, eine Formulierung, die den orthodoxen entwickeln. Für die Grünen galt es konkret Linken in der Partei ein Dorn im Auge war, Stellung zu beziehen. Dabei standen frühzeitig legte er doch die Forderung nach Verzicht arbeitsmarkt- und sozialpolitische Themen nahe. Der Rückschlag bei der Bundestagswahl ganz oben auf der Agenda. 1980 und das Ausbleiben von Mandaten nahm dem innerparteilichen Streit die Schärfe und Die Grünen waren zwar von Anfang an auf der führte dazu, dass eine Entscheidung zunächst Suche nach einem eigenständigen wirtschafts- vertagt wurde. politischen Programm, das sich von den kon- zeptionellen Überlegungen der etablierten Par- 1982 wollte die Parteiführung die Wirtschafts- teien der Bonner Republik deutlich unter- und Sozialpolitik in den Mittelpunkt ihrer Ar- scheiden sollte. Bei der Umsetzung zeigte sich beit stellen. Dafür schien die Ausgangslage aber, wie schwer es den Gründungsgrünen fiel, günstig zu sein, denn die Bundesrepublik be- in diesem Politikfeld eine klare Konzeption zu fand sich nach dem zweiten Erdölpreisschock entwickeln. Das hing zum einen damit zu- in einer schweren Rezession. Für großes öf- sammen, dass Frieden und Ökologie offenbar fentliches Aufsehen sorgte der dreitägige die vorherrschenden Themenfelder waren, bei denen die Grünen rasch gegenüber CDU/CSU, 4 SPD und FDP punkten konnten. Das hing zum Vgl. Mende, „Nicht rechts, nicht links“.

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Kongress ‚Zukunft der Arbeit‘, der Anfang Zurückstellung des Tagesordnungspunktes.7 Oktober 1982 in Bielefeld stattfand und vom Angesichts von über 1.000 Änderungs- und dortigen AStA organisiert wurde. Zum Trä- Ergänzungsanträgen und mehreren eingereich- gerkreis der Veranstalter gehörten nicht nur ten Alternativkonzepten einzelner Kreisver- die Grünen, sondern auch der Bundesverband bände sah sich die Bundesgeschäftsstelle Bürgerinitiativen Umweltschutz, der gewerk- schließlich dazu gezwungen, die vorgesehene schaftsnahe ‚Arbeitskreis Leben‘ sowie die Beschlussfassung auf einen Sonderparteitag im Jusos. Zum Bielefelder Kongress erschien ein Januar 1983 zu vertagen und stattdessen der umfangreicher Reader, in dem weniger grüne Diskussion auf der Bundesdelegiertenver- Parteiprogrammatik als vielmehr der Streit sammlung in Hagen einen breiten Raum einzu- zwischen unterschiedlichen linken bzw. links- räumen. liberalen wirtschaftspolitischen Positionen Auf dieser Versammlung, die am 15./16. Janu- dokumentiert wurde. Unter den über 2.000 ar 1983 vor dem Hintergrund der vorgezoge- Teilnehmern fanden sich nicht nur „weite Tei- nen Bundestagswahl stattfand, gaben sich die le der bundesdeutschen Linken“, sondern auch 5 Grünen erstmals ein sozial- und wirtschaftspo- Jungdemokraten. litisches Programm, und zwar unter dem neuen Beflügelt vom medialen Erfolg wollte der Titel „Gegen Arbeitslosigkeit und Sozialab- Bundesvorstand nun endlich ein wirtschaftspo- bau: Sinnvoll arbeiten – solidarisch leben“. litisches Programm ausarbeiten und auf der Das als „Sindelfinger Sofortprogramm“ be- Bundesdelegiertenversammlung in Hagen im kannte Papier war der kleinste gemeinsame November 1982 verabschieden lassen. Dieser Nenner, auf den sich die einzelnen Parteiströ- Plan scheiterte jedoch. Ein Entwurf der im mungen einigen konnten. Der Kompromiss- August 1982 gebildeten Bundeswirtschafts- charakter fand sich nicht nur in der Über- Arbeitsgemeinschaft war bereits im Vorfeld schrift, sondern auch in der Präambel wieder, auf heftige Kritik in den Kreis- und Landes- in der konkrete wirtschaftspolitische Zielvor- verbänden gestoßen. So monierte etwa der stellungen weitgehend fehlten. Die Sorge, ein Kreisverband Ebersberg „unreflektierte mar- weiterer, offen ausgetragener Streit könnte die xistische Aussagen über die Ursachen unserer Aussichten bei der bevorstehenden Wahl Wirtschaftsweise“.6 Die Kreisverbände Augs- schmälern, bewog die Delegierten vermutlich burg-Stadt und Augsburg-Land hielten den dazu, den von einer Dreierkommission überar- Entwurf in einer gemeinsamen Stellungnahme beiteten Entwurf fast ohne Änderungen anzu- für „derart unbefriedigend“, dass er als Grund- nehmen. Zu dieser Kommission gehörten die lage für eine Beschlussfassung für ein Wirt- beiden Sprecher des Bundesvorstands Rainer schafts- und Arbeitsmarktprogramm nicht Trampert und Manon Maren-Grisebach sowie verwendet werden könne, und beantragten eine Joachim – genannt „Jo“ – Müller vom Lan- desverband Bremen, der auf seiner Vorlage handschriftlich vermerkte: „Ein Gemisch un- terschiedlicher Positionen – und mehr kann er

5 Vgl. Dittmar, Realo-Fundi-Dispositiv, S. 152. 6 Archiv Grünes Gedächtnis (AGG), B.I.1, Bd. 18, Globalantrag des Kreisverbands Ebersberg vom 7 Ebd., Anträge der Kreisverbände Augsburg-Stadt 3.11.1982 zum vorgelegten Entwurf des Bundes- und Augsburg-Land vom 4.11.1982 zur Bundes- wirtschafts-AK zur Bundesversammlung in Hagen. delegiertenversammlung in Hagen.

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auch nicht sein.“8 Bei den vorgeschlagenen „ausreichende, den Wünschen der Menschen Sofortmaßnahmen avancierte die Arbeitsum- entsprechende Versorgung von Gütern“. verteilung zum Schlüsselprojekt grüner Ar- Gleichzeitig wurde vor einem „Paralysieren beitsmarktpolitik. Dabei betrachtete die Partei der Wirtschaft durch Radikalkuren“ gewarnt. die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit be-

reits stark diskutierte 35-Stunden-Woche „nicht als langfristiges Endziel, sondern als 2. These: Obwohl die BAG Wirtschaft zur Nahziel, das so schnell wie möglich erreicht Schärfung des wirtschaftspolitischen Profils werden muss.“ Das Programm enthielt jedoch der Partei erheblich beitrug, gewann sie je- nicht nur Passagen zur Arbeitszeitverkürzung, doch erst nach 1990 an Bedeutung sondern auch zur Flexibilisierung von Arbeits- Als „Anti-Parteien-Partei“ versuchten die zeit. Gleichzeitig wollte das Programm die Grünen von Anfang an neue Wege zu gehen, gesellschaftliche Eigeninitiative und Selbstor- um die enge Anbindung der Mandatsträger an ganisation stärken und listete dazu einige Al- die Parteibasis langfristig zu sichern. In dem ternativprojekte zur Bekämpfung der Arbeits- Zusammenhang nahm vor allem das imperati- losigkeit auf (Stichwort: Arbeitsloseninitiati- ve Mandat eine Schlüsselfunktion im Selbst- ven). verständnis der Partei ein. Darüber hinaus Das Sindelfinger Sofortprogramm war über schuf die erste Bundestagsfraktion organisato- weite Strecken zweifellos ein „additiv zu rische Strukturen, die das Mitwirkungsrecht Stande gekommene[r], formelhafte[r]“ Kom- der Parteibasis stärken sollten. Nach dem Ein- promiss,9 der einerseits konkrete Antworten zug in den Bundestag errichtete die Fraktion auf die Massenarbeitslosigkeit enthielt, der beispielsweise rund 40 Regionalbüros, die aber andererseits eine eindeutige wirtschafts- weitgehend den Wahlkreisbüros der anderen politische Positionierung vermied. Eine Ent- Parteien entsprachen. Zusätzlich dazu wurden scheidung wurde erneut vertagt; stattdessen zu wichtigen politischen Themenfeldern Bun- standen miteinander konkurrierende Ansätze desarbeitsgemeinschaften gebildet, die „zwi- im verabschiedeten Programm einfach neben- schen der parteiprogrammatischen Ebene ei- einander. Bei der Sichtung der eingereichten nerseits und dem parlamentarischen Alltagsge- Änderungswünsche fällt jedoch auf, dass sich schäft andererseits vermitteln und so für eine linkssozialistische Positionen in der Minder- Anbindung der Fraktion an die Problemsicht heit befanden, und das entgegen der öffentli- und Kenntnisse der außerparlamentarischen chen Wahrnehmung in der Presse. So sprach Bewegung“ zu sorgen hatten.11 Einen entspre- sich etwa der Landesverband Baden- chenden Beschluss fasste zwar die Bundes- Württemberg für das „Beibehalten einer freien delegiertenversammlung in Sindelfingen – die Marktwirtschaft“ aus.10 Nur sie garantiere eine Bundeswirtschafts-Arbeitsgemeinschaft (aus

8 AGG, B.I.1, Bd. 23, Vorlage der Bundeswirtschafts- Württemberg (Rudolf Kießlinger und Hans Weis- AG der Grünen zur Bundesdelegiertenversamm- bart), S. 1. lung am 15./16.1.1983 in Stuttgart-Sindelfingen. 11 Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle 9 Dittmar, Das Realo-Fundi-Dispositiv, S. 179. und Anlagen 1983-1987 (= Quellen zur Geschichte 10 AGG, Petra-Kelly-Archiv (PKA), Bd. 3540, Thesen- des Parlamentarismus und der politischen Parteien, papier zur Wirtschaftspolitik der Grünen vom Re- IV. Reihe, Bd. 14/1). Bearbeitet von Josef Boyer und daktionsausschuss des Arbeitskreises Wirtschaft Helge Heidemeyer unter Mitwirkung von Tim B. und Finanzen des Landesverbandes Baden- Peters, Düsseldorf 2008, S. LVII.

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der später die BAG Wirtschaft hervorging) be‘, in dem in der Legislaturperiode von 1983 hatte aber, wie bereits erwähnt, zuvor schon bis 1987 Jo Müller, Eckhard Stratmann, Willi bestanden. Tatge und die Fraktionssprecherin Marieluise Die BAG Wirtschaft, in der kurzzeitig auch Beck-Oberdorf den Ton angaben. Die beste- hende Rivalität zwischen Partei und Fraktion Jutta Ditfurth saß, hatte in den 1980er Jahren – fand seine Fortsetzung im ebenfalls strukturell wie auch die übrigen Arbeitsgemeinschaften – mit zwei Problemen zu kämpfen, die die in- bedingten Konkurrenzverhältnis zwischen haltliche Arbeit und die Außenwirkung erheb- BAGs und Fraktionsarbeitskreisen. Letztere lich einschränkten: Erstens war die Finanzie- waren aufgrund der materiellen und personel- rung lange Zeit umstritten. Der Bundesrech- len Ausstattung aus Mitteln des Bundestags nungshof hatte im Juni 1983 mit dem Hinweis deutlich im Vorteil. auf das Parteienfinanzierungsgesetz grundle- Die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 gende Einwände geäußert, denn die Bundesar- stellte zweifellos einen tiefen Einschnitt in der beitsgemeinschaften stellten eine Einrichtung Geschichte der Grünen dar. Als die Wahlloka- der Partei dar, deren Arbeit nicht durch Frakti- le schlossen und die ersten Hochrechnungen onsmittel bestritten werden könne. Die BAGs kamen, war schnell klar, dass nach zwei Legis- mussten sich deshalb darauf beschränken, die laturperioden erst einmal Schluss war mit grü- Bundestagsfraktion in ihrer Arbeit zu unter- ner Parlamentsarbeit im Deutschen Bundestag. stützen. Das wiederum widersprach aber dem Mit 4,8 Prozent der im Wahlgebiet West abge- ursprünglichen Parteiauftrag, der einen über- gebenen Zweitstimmen hatten die westdeut- geordneten Arbeitszusammenhang vorsah, und schen Grünen eine deutliche Schlappe erlitten. zwar jenseits der Parlamentsarbeit. Damit wa- Aufgrund einer Sonderregelung zogen acht ren Aufgabenbereiche aus der Zuständigkeit Mandatsträger von Bündnis 90 in die erstmals der Fraktion herausgelöst und zum Teil einem gesamtdeutsche Volksvertretung, die aller- Parteigremium übertragen worden, das nicht dings keinen Fraktionsstatus erhielten. Mit der aus Wahlen legitimiert war. Die BAGs waren Wahlniederlage verloren alle bisherigen Man- nämlich grundsätzlich für alle interessierten datsträger und ein Großteil der Mitarbeiter und Parteimitglieder offen. Dieser Konflikt konnte Referenten ihren Job. Als 1990/91 auch noch erst Ende 1985 entschärft werden, als die Par- viele Köpfe des linken Flügels ihrer Partei den tei auf einer Bundesversammlung in Hagen Rücken kehrten, die bis dahin vor allem die beschloss, die Finanzierung der Arbeitsge- arbeitsmarktpolitische Ausrichtung der Grünen meinschaften vollständig zu übernehmen. maßgeblich mitbestimmt hatten, verschoben Zweitens standen die BAGs lange Zeit im sich die innerparteilichen Gewichte: So waren Schatten der sechs Arbeitskreise der Fraktion, erfahrene und prominente Fundis, wie etwa 12 Jürgen Reents, Thomas Ebermann, Rainer die „der Motor der sachlichen Arbeit“ waren. Trampert und die bereits erwähnte Jutta Dit- Sie tagten regelmäßig, anfangs einmal wö- furth nicht mehr mit an Bord. Mit der Wahl- chentlich, und hatten ihrerseits Unterarbeits- niederlage gab es auch keine Fraktionsarbeits- kreise. Komplementär zur BAG Wirtschaft kreise mehr; im Gegenzug gewannen die teil- gab es somit einen Arbeitskreis ‚Haushalt, weise neu gebildeten BAGs (ab 1993: BAG Wirtschaft, Finanzen, selbstverwaltete Betrie- Wirtschaft/Finanzen) an Bedeutung, in denen Vertreter aus den Landesverbänden saßen. Die 12 Ebd., S. XLI. späteren Karrieren von oder

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Christine Scheel und Oswald Metzger, die sich Leipzig nach eigenen Angaben seine erste nach dem Wiedereinzug in den Bundestag umweltpolitische Rede.14 1994 schnell den Ruf als Finanzexperten der

Partei erwarben, lassen sich teilweise vor die- sem Hintergrund erklären. 3. These: Die Zustimmung der Grünen zur Teilprivatisierung der Rentenversicherung Der personelle Wechsel in der BAG Wirt- 2001 war kein Bruch mit den sozialpoliti- schaft ging mit einer inhaltlichen Neuausrich- schen Vorstellungen der Partei tung der Partei einher, die bereits kurz vor der Bundestagswahl 1990 einsetzte. Im Kern ging Die Staatskritik der Grünen (Stichwort: Atom- es darum, neue Wege bei der Versöhnung von staat und Überwachungsstaat) beinhaltete von Ökonomie und Ökologie auszuloten und dabei Anfang an auch eine Kritik am bundesdeut- auch Berührungsängste im Umgang mit dem schen Sozialstaat, dessen Umbau die Partei politischen Gegner – insbesondere zur CDU – bereits 1983 gefordert hatte. Bemängelt wur- abzubauen. 1988 hatte die grüne Bundestags- den insbesondere dessen „bürokratische Struk- fraktion eine parlamentarische Initiative ge- turen[, die] als autoritär, entmündigend und startet, die darauf abzielte, die Bundesregie- obrigkeitsstaatlich“ empfunden wurden.15 Die rung zu einer umweltökonomischen Berichter- Grünen machten sich in dem Zusammenhang stattung zu bewegen. Parallel zum Jahreswirt- für eine Neuausrichtung der primär erwerbs- schaftsbericht sollte es regelmäßig einen Jah- bezogenen Sozialpolitik stark, da der Indust- resbericht zu den ökologischen Folgekosten riegesellschaft in zunehmenden Maße die be- der bundesdeutschen Wirtschaft geben. Den zahlte Arbeit ausgehe.16 Dabei schälten sich Wirtschaftsexperten der Grünen ging es aber rasch zwei Zielvorstellungen heraus: Die Par- noch um sehr viel mehr: Sie wollten das Stabi- tei sprach sich erstens für ein existenzsichern- litäts- und Wachstumsgesetz von 1967 refor- des Grundeinkommen aus und verlangte zwei- mieren und „ein neues Grundgesetz für die tens die Bevorzugung von privaten und/oder Wirtschaftspolitik“13 schaffen, das freilich den gesellschaftlichen, d.h. vor allem nichtstaatli- wirtschaftspolitischen Ordnungsrahmen der chen Initiativen. Da der Staat mit seinen Ver- Sozialen Marktwirtschaft nicht in Frage stellte. sorgungsleistungen nicht aus der Not befreie, 1989 bildete sich dann eine interfraktionelle sondern neue Abhängigkeiten schaffe,17 woll- Arbeitsgruppe im Wirtschaftsausschuss des ten die Grünen im Sinne einer Dezentralisie- Deutschen Bundestags mit Josef Grünbeck rung das Prinzip der Gemeinschaft stärken – (FDP), Dietrich Sperling (SPD), Eckhard jenseits von Staat und Markt. Das grüne Mo- Stratmann (Die Grünen) und Kurt Biedenkopf dell einer „bedarfsorientierten Grundsicherung (CDU). Der christdemokratische Querdenker und spätere sächsische Ministerpräsident hielt 14 Kurt H. Biedenkopf: Von Bonn nach Dresden. Aus auf der ersten von den Grünen mit organisier- meinem Tagebuch Juni 1989 bis November 1990, ten deutsch-deutschen Konferenz ‚Ökologi- München 2015, S. 178. sches Wirtschaften‘ am 6. April 1990 in 15 Antonia Gohr: Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren – Eine Herausforderung für die SPD (= ZeS- Arbeitspapier Nr. 5/02), Bremen 2002, S. 8. 13 Eckhard Stratmann-Mertens / Rudolf Hickel / Jan 16 AGG, B.II.2, Bd. 392, Thesen von Margherita Zan- Priewe (Hg.): Wachstum. Abschied von einem der zur Aktualität einer bedarfsorientierten Grund- Dogma. Kontroverse über eine ökologisch-soziale sicherung (o. D.), S. 1. Wirtschaftspolitik, Frankfurt am Main 1991, S. 9. 17 Gohr, Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren, S. 9.

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in allen Lebenslagen“18 von 1986 zielte darauf Bernd Raffelhüschen einen quasi wissen- ab, „Armut zu verhindern und insbesondere schaftlichen Gütesiegel aufdrückten. auch eine eigenständige Einkommenssiche- Nach der Regierungsübernahme durch Rot- rung für Frauen in einem für die ganze Bevöl- Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder kerung einheitlichen Sicherungssystem aufzu- trug der grüne Regierungspartner die rentenpo- bauen“. Diese Form der Grundsicherung, de- litische Umsteuerung der Modernisierer in der ren Finanzierung in den Planspielen über Steu- SPD mit, erblickte er doch in der kapitalge- ern erfolgte, sollte allen Bürgern ein Einkom- deckten Teilprivatisierung ein Element der men in einer Höhe gewährleisten, die eine Generationengerechtigkeit, das der Partei, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicher- eine „bürgerlich-akademische Mittelschichts- stellt. Diese Konzeption floss zwar in eine klientel mit einem Gutteil an jüngeren Wäh- Gesetzesinitiative der Grünen im Bundestag 22 lern“ vertrat, auch aus wahltaktischen Grün- Anfang 1993 ein, war aber innerparteilich um- den notwendig erschien. Gerecht, so ein inter- stritten. Reinhard Bütikofer, Peter Sellin, aber nes Diskussionspapier vom Oktober 1999, auch hielten die bedarfsorien- kann „eine soziale Sicherung dann sein, wenn tierte Grundsicherung für „nicht finanzierbar“ sie zwischen heute Lebenden und den künfti- un 19 d „unseriös“ – vor allem angesichts des gen Generationen einen Interessenausgleich Festhaltens an der raschen Angleichung der 23 herstellt“. Die Parlamentarische Geschäfts- Ost-Einkommen an das Westniveau. führerin und rentenpolitische Sprecherin der Bei den Vorbereitungen auf die Bundestags- Bundestagsfraktion Katrin Göring-Eckardt wahl 1998 hielten die Grünen an dem Ziel der begründete die geplante Umsteuerung mit dem Einführung einer Grundsicherung nach wie Hinweis, die alte Regierung unter Helmut vor fest; gleichzeitig sahen ihre Pläne aber Kohl habe schließlich „die Interessen der alten eine langfristige Senkung des Rentenniveaus Generation über einen Ausgleich zwischen Alt vor.20 Außerdem griffen die Grünen einen in und Jung gestellt“.24 Bei der abschließenden der Öffentlichkeit bereits diskutierten Begriff Beratung der Riester-Reform im Bundestag auf, der zu einem schillernden Leitbegriff wies sie darauf hin, dass die Grünen gern so- avancierte, den älteren Begriff des ‚Generatio- gar noch einen Schritt weitergegangen wären: nenvertrages‘ mehr und mehr verdrängte und „durch noch geringere Beiträge, damit den der auch der rentenpolitischen Positionierung Leuten noch mehr im Portemonnaie verbleibt, der Partei einen neuen Dreh gab: Es geht um vielleicht auch ein noch geringeres Rentenni- die sogenannte Generationengerechtigkeit, veau, um die Notwendigkeit einer privaten dem „privatisierungsnahe Experten“21 wie z.B.

18 AGG, B.II.2, Bd. 392, Thesen von Margherita Zan- und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssi- der zur Aktualität einer bedarfsorientierten Grund- cherung, in: Ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfal- sicherung (o. D.), S. 2. tung und Gefährdung seit 1945, Bonn 2012, S. 294- 19 AGG, B.II.2, Bd. 326, offener Brief von Daniel 324, hier S. 312. Kreutz (MdL NRW) vom 2.11.1993. 22 Ebd., S. 317. 20 AGG, B.II.3, Bd. 309 1/2, Artikel in der Frankfurter 23 AGG, A – Kristin Heyne, Bd. 169, internes Diskus- Rundschau vom 14.10.1997 („Grüne arbeiten am sionspapier von Thea Dückert (MdB) vom ‚krisensicheren‘ Sozialstaat“) . 25.10.1999. 21 Hans Günter Hockerts: Abschied von der dyna- 24 Ebd., internes Diskussionspapier von Katrin Gö- mischen Rente. Über den Einzug der Demographie ring-Eckardt vom 29.10.1999, S. 4.

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Zusatzvorsorge deutlicher zu unterstreichen“.25 regulierung niederschlugen. Die Skepsis vor Mit der Teilprivatisierung der Alterssicherung einem scheinbar überbordenden Sozialstaat wurde letztlich das Prinzip der Lebensstan- ermöglichten es den Grünen sehr viel leichter dardsicherung als Leitkriterium der gesetzli- als der SPD, den Paradigmenwechsel mit der chen Rentenversicherung vom Ziel der Bei- Riester-Rente zu vollziehen. Drittens sorgte tragsstabilität abgelöst. die Professionalisierung der Partei für einen relativ raschen Wandel des Sozialprofils der wirtschaftspolitischen Experten. In der BAG Fazit Wirtschaft kamen ab Mitte der 1990er Jahre in Zugegeben: Die eingangs gestellte Frage ist verstärktem Maße Volks- und Betriebswirte provokativ, grobschlächtig und lässt sich so zum Zuge, die, wie das Beispiel von Gerhard pauschal kaum seriös beantworten. Der Begriff Schick zeigt, auch enge berufliche Verbindun- ‚Wirtschaftsliberalismus‘ ist äußerst schil- gen zu Verfechtern eines mehr oder weniger lernd; er wurde und wird im öffentlichen Dis- offen propagierten Wirtschaftsliberalismus kurs – nicht erst seit der Banken- und Finanz- hatten. krise – als politischer Kampfbegriff verwen- det. Mit Bezug auf das Vortragsthema kann Zitation: zunächst einmal ein scheinbares Paradoxon festgehalten werden: Obwohl die Grünen bis Dierk Hoffmann: Wirtschaftsliberalismus bei heute kein kohärentes wirtschaftspolitisches den Grünen? Von der Kapitalismuskritik der Programm besitzen, haben sie sich von Anfang Gründungsphase bis zur Agenda 2010, in: an zu wirtschaftspolitischen Themen geäußert. HEUSS-FORUM 3/2016, URL: Bei der Untersuchung insbesondere der ar- www.stiftung-heuss-haus.de/heuss- beitsmarkt- und sozialpolitischen Leitbilder forum_3_2016. der Grünen stechen drei Ergebnisse besonders hervor: Erstens ist mit dieser Fehlstelle eine relative Offenheit bei der konkreten Ausfor- mulierung von Politikzielen zu konstatieren. Das zeigte sich zum einen bei der Anschluss- fähigkeit an andere Themenfelder, die für die Grünen von zentraler Bedeutung waren: von der Rüstungspolitik über die Umwelt- und Energiepolitik bis hin zur Frauenpolitik. Das zeigte sich zum anderen aber auch im Umgang mit anderen politischen Parteien, etwa in sozi- alpolitischen Fragen zur CDU (Stichwort: Subsidiaritätsprinzip). Zweitens gilt es die längerfristigen Traditionslinien einer grünen Sozialpolitik zu unterstreichen, die sich in ei- ner Betonung der Eigeninitiative und der De-

25 Zitiert nach: Hockerts, Abschied von der dynami- schen Rente, S. 317.

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