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Carl und – Jahrbuch

Bd. VII

2013 Carl und Gerhart Hauptmann - Jahrbuch

Redaktion Prof. Dr. Krzysztof A. Kuczyński Katedra Badań Niemcoznawczych \ Lehrstuhl für Deutschlandstudien Uniwersytet Łódzki \ Universität Lodz ul. Narutowicza 59 a, PL 90- 131 Łódź Tel.\Fax. 0048 -42 – 66 55 401 E-Mail: [email protected] Herausgeber der Reihe „Carl und Gerhart Hauptmann – Jahrbuch“ Prof. Dr. Krzysztof A. Kuczyński Herausgeber des Bandes VII, 2013 Prof. Dr. Grażyna Barbara Szewczyk

Gutachter: Prof. Dr. Marek Hałub Uniwersytet Wrocławski \ Universität Wrocław

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Mirosława Czarnecka, Universität Wrocław Prof. Dr. Marek Hałub, Universität Wrocław Prof. Dr. Peter Sprengel, FU Prof. Dr. Anna Stroka, Universität Wrocław Prof. Dr. Grażyna Szewczyk, Universität Katowice

ISSN 2084-2511

Vertrieb des Carl und Gerhart Hauptmann-Jahrbuchs

Państwowa Wyższa Szkoła Zawodowa we Włocławku / Staatliche Fachhochschule Włocławek Wydawnictwo Naukowe PWSZ we Włocławku Wissenschaftlicher Verlag der Staatlichen Fachhochschule in Włocławek PL 87-800 Włocławek, ul. 3 Maja 17 Fax: 0048 54 321 43 52 E-Mail: [email protected]

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Skład, druk i oprawa Partner Poligrafia Białystok, ul. Zwycięstwa 10; tel. 85 653-78-04; [email protected] Lehrstuhl für Deutschlandstudien der Universität Łódź Gerhart-Hauptmann-Museum Erkner

Carl und Gerhart Hauptmann – Jahrbuch

Bd. VII

Wissenschaftlicher Verlag der Staatlichen Fachhochschule in Włocławek

Włocławek 2013

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT...... 7

1. Peter Sprengel Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz am 15. November 2012...... 9

2. Eva-Maria Siegel Stimme/n der Gewalt. Gerhart Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie.. 19

3. Louis Ferdinand Helbig Geschichte und Gegenwart in Gerhart Hauptmanns Jugenddrama Germanen und Römer...... 37

4. Renata Dampc-Jarosz Hauptmanns -Studien...... 51

5. Zbigniew Feliszewski Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns Der Narr in Christo Emanuel Quint...... 59

6. Barbara Pogonowska Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint...... 73

7. Mirosława Czarnecka Dissimulatio als Gerhart Hauptmanns rhetorische Strategie zur Verteidigung des Patriarchats im Roman Die Insel der Großen Mutter, 1924...... 89

8. Grażyna Krupińska „...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabundentum, Bürgerlichkeit und Künstlerschaft. Zu Hauptmanns Roman Wanda...... 97

9. Grażyna Barbara Szewczyk Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann...... 107 10. Nina Nowara „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen Werk Eberhard Hilschers...... 119

11. Michał Skop Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks...... 133

12. Krzysztof A. Kuczyński „Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein.” Johannes Maximilian Avenarius und Gerhart Hauptmann. Ein Beitrag zu einer Künstlerfreundschaft...... 145

13. Marta Bąkiewicz Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang...... 153

14. Marek Kryś Die Verfilmungen der Werke Gerhart Hauptmanns am Beispiel von F. W. Murnaus Phantom...... 169 VORWORT

„Seine Erscheinung beweist in unserer Zeit die Unsterblichkeit der Kunst als eines natürlichen Ausdrucksmittels, eines Denkens in Gestalten und Bildern, das nicht aus der Welt kommen kann: als eines Urphänomens, dessen mythisches Immer- wieder-Erstehen der Welt sicher ist […]“. Die von an Gerhart Hauptmann, zu seinem siebzigsten Geburts- tag gerichteten Worte unterstreichen eine besondere Auswirkung des Phänomens Hauptmann, seiner Ideenwelt und seines Schaffens. Die große Anzahl von Aufsät- zen, Essays, Beiträgen, monographischen Büchern, die nach dem Tod des Schrift- stellers erschienen ist, beweist, dass sein Einfluss und Ruhm fortwirken, auch wenn die Bestandteile des Hauptmann Bildes von den Nachgeborenen immer wieder umgewertet werden. Der Autor der neuesten und ausführlichsten Monographie über Hauptmann u.d.T. Gerhart Hauptmann Bürgerlichkeit und großer Traum (Mün- chen 2012) Peter Sprengel, der sich mit „altgedienten Paradigmen der Hauptmann- Biographik“ kritisch auseinandersetzt, liefert einen neuen Impuls zur Erschließung seines Werkes. „Dieser Schriftsteller verstand sich nicht einfach nur als Schriftsteller – er wollte mehr sein, ein Lichtbringer oder ein neuer Christophorus. Und er wurde weithin so verstanden: als „Lichtel“ oder Verkörperung von Idealen, und zwar, über viele Jahrzehnte hinweg“ - schreibt er zu seinem Buch. Diesen Gedanken nimmt ein Teil von jungen Hauptmann-Forschern auf, die in dem vorliegenden Gerhart Hauptmann-Jahrbuch ihre wissenschaftlichen Beiträge präsentieren und Hauptmanns Werk und Künstlerschaft in einem dynamischen Spiel der Wirkung und Weiterwirkung aufzuzeigen versuchen. Der Band umfasst den Ertrag der im November 2012 anlässlich des 150. Geburtstages des Schriftstellers in Katowice veranstalteten Germanistenkonferenz, bei der auch an die festliche Verleihung des Nobelpreises für Literatur (1912) erinnert wurde. In ihren Aufsätzen greifen die Autoren auf verschiedene Aspekte des Hauptmann- schen Werkes und dessen Wirkung (z. B. in der Literaturwissenschaft und Kritik, auf den deutschen Bühnen und im Kino) zurück, entdecken darin das Spielerische und das Genialische, stellen seine Dramen und Prosafragmente im kulturgeschicht- lichen Rahmen dar, gehen auf die Geschichte und Gegenwart, das Problem der Bürgerlichkeit, Künstlerschaft und Individualität in frühen dramatischen Texten und in der Prosa ein, reflektieren das Patriarchalische in der Erzählstrategie, gehen den „skandinavischen Spuren“ und künstlerischen Freundschaften des Schriftstellers nach. Viele Beiträge setzen neue Akzente in der Aufnahme und Deutung seiner Einzelwerke. Dennoch erhebt der Sammelband keinen Anspruch darauf, Gerhart Hauptmanns Fortwirken in unserer Zeit vollständig darzulegen. Der Autor der Weber erscheint jeder neuen Generation in neuer Gestalt und es ist die Aufgabe der zeitgenössischen polnischen und deutschen Forscher, einige dieser Gestalten festzuhalten, zu erklären und zu vervollständigen. Der Staatlichen Fachhochschule in Włocławek, dem Wissenschatlichen Verlag und vor allem dem Herausgeber der verdienstvollen Reihe „Carl Und Gerhart Haupt- mann – Jahrbuch”, Herrn o. Univ.- Prof. Dr. habil. Krzysztof A. Kuczyński, danke ich sehr herzlich für die Möglichkeit, die Erträge unserer Konferenz im Band VII des Jahrbuchs zu veröffentlichen. Mein Dank gilt auch Herrn Dr. Marek Kryś, der bei der Vorbereitung der Jahrbuch- Beiträge für den Computersatz wesentlich geholfen hat.

Grażyna Barbara Szewczyk Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbiblio- thek ...

Peter Sprengel Berlin

Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz am 15. November 2012

Gerhart Hauptmanns erstes naturalistisches Drama Vor Sonnenaufgang war noch im kleinen Verlag eines Paul Ackermann erschienen, zu dem indirekte Kontakte über den literarischen Verein „Durch!“ bestanden. Durch die Annahme des Stücks seitens der Freien Bühne und die von ihr veranstaltete skandalumwitterte Uraufführung am 20. Oktober 1889 standen dem jungen Autor für künftige Veröffentlichungen natürlich ganz andere Optionen offen, unter anderem die Verbindung mit einem „schwedischen Hofbuchhändler“ ungarischer Herkunft, der als Kassenwart im Vorstand der Freien Bühne saß und als solcher mit Hauptmann schon im September 1889 persönliche Bekanntschaft schloss. Tatsächlich wird Hauptmann in diesem kleinen Herrn namens Samuel Fischer, einer der größten Gestalten in der Geschichte des deutschen Buchhandels überhaupt, seinen Verleger fürs ganze Leben finden. Wie sich wohl herumgesprochen hat, war das Verhältnis zwischen Dichter und Verlagsmann bei aller Freundschaft, die sich später zwischen den beiderseitigen Familien herausbildete, keineswegs frei von Krisen und heftigen Erschütterungen. Strenggenommen begann es sogar schon mit einem großen Zerwürfnis.1 Man muss dazu wissen, dass , als Vorsitzender der Freien Bühne der wichtigste Entdecker und Förderer des jungen Dramatikers, schon bald nach jener Schlacht im Lessingtheater und der Spaltung, die sich danach in der öffentlichen Meinung abzeichnete, die Idee zu einer eigenen Zeitschrift gefasst hat, die er gleich- falls „Freie Bühne“ nannte (genauer: Freie Bühne für modernes Leben) und für die er wie selbstverständlich den Verlag seines Kassenwarts Fischer wählte. Angesichts der Initialzündung, die für den Theaterverein von Hauptmanns erstem Drama aus- gegangen war, konnte sich Brahm für die ersten Nummern der neuen Zeitschrift verständlicherweise keinen größeren Trumpf vorstellen als die Veröffentlichung des

1 Vgl. erstmals Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. a. M. 1970, S. 115-119. 10 Peter Sprengel nächsten – hoffentlich ebenso schockierenden – Hauptmann-Dramas. Er wusste, dass sich der Autor gleich nach der Skandalpremiere Ende Oktober an den Schreib- tisch gesetzt und ein zweites naturalistisches Bühnenstück entworfen hatte, nämlich das damals noch „Der Vater“ genannte Friedensfest. Sein Anfang wurde für die erste Druckprobe verwendet, die am Neujahrstag vorlag, obwohl das Drama als Ganzes noch gar nicht fertig war und im Grunde auch noch keine Klarheit über die vertraglichen Voraussetzungen der Veröffentlichung bestand. Eine solche Klarheit bestand allenfalls im Kopf des Verlegers Samuel Fischer. Er hatte sich auf das für lange Zeit verlustreiche Zeitschriftenunternehmen nur ein- gelassen, weil er auf diesem Weg wichtige moderne Autoren zu gewinnen hoffte, deren Texte er – bei preisgünstiger Übernahme des Zeilensatzes – auch in Buchform vermarkten konnte. Dabei dachte der an Klassiker-Ausgaben orientierte Verleger schon weit in die Zukunft und wollte sich bei vielversprechenden Talenten gleich die Option aufs Gesamtwerk sichern. Der Autor des Friedensfests dagegen legte äußersten Wert auf persönliche Unabhängigkeit und hatte zudem sehr ausgeprägte Vorstellungen vom Marktwert seiner Arbeiten. Bereits die erste persönliche Aus- einandersetzung Anfang Januar 1890 scheint nicht allzu harmonisch verlaufen zu sein. Das zeigt uns der mit einem Luther-Wort endende erste Brief Hauptmanns an Fischer überhaupt, geschrieben am 11. Januar 1890 in seiner Charlottenburger Wohnung: Sehr geehrter Herr Fischer! Einige Punkte unserer Vorbesprechung sind mir im Kopfe herumgegangen. Ich habe doch recht gehört? Sie rechneten mir von tausend Exemplaren (à 1 Mk 50 ₰) zuerst 150 Mk, dann 300 Mk Honorar heraus. Dreihundert Mark, das wären 20 Procent, und dies ist der Satz, der für mich fest stand, bevor ich zu Ihnen kam. Damit nun also keine Unklarheit besteht, theile ich Ihnen das hierdurch nochmals mit. Den Contractentwurf anlangend, welchen Sie mir in Aussicht stellten, bitte ich Sie, den Honorarsatz für den Abdruck in „Freie Bühne für modernes Leben“ genau anzugeben. Ich habe darüber bis jetzt noch keinerlei Vorstellung. Bezüglich meiner künftigen Arbeiten möchte ich mich schließlich nach keiner Richtung hin binden. Es ist, meiner ganzen Natur nach, geradezu unmöglich für mich, eine lebenslange Verpflichtung einzugehen. Die Möglichkeit freier Entschlüße muß ich jederzeit offen haben. Und – seien wir realistisch! – was zwingt mich, mir selbst Fesseln aufzuerlegen? – Ich würde mich aber auch, selbst wenn man mir auf der Stelle, sagen wir zweitausend Thaler, böte, unbedingt für die Freiheit entschei- den. Andrerseits, sehr geehrter Herr Fischer! bin ich, in gewißer Beziehung, ein con- servativer Mann und außerdem bereit, Ihnen das Vorkaufsrecht für meine künftigen Arbeiten einzuräumen. […] Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbibliothek ... 11

Hier steh ich, ich kann nicht anders!2 Durch Fischers leider nicht erhaltene Antwort muss sich der Konflikt noch zu- gespitzt haben: Hauptmann besteht zwei Tage später auf seiner Forderung nach einem 20-prozentigen Buchhonorar, und zwar, wie er wiederum sechs Tage später präzisiert: als Garantiehonorar unabhängig vom Verkauf. Außerdem lehnt er das ihm angebotene Honorar für den Zeitschriftenvorabdruck als „über die Maßen gering“ ab. Er verknüpft damit grundsätzliche Fragen nach dem Schaden oder Vorteil, der ihm als Dramatiker durch eine solche Vorausveröffentlichung erwachse, und nimmt schließlich auch die Perspektive des Verlegers in den Blick: „Einmal sogar sagten Sie, daß das Project [der Zeitschrift] ohne mein Drama für Sie fallen würde. Nun, ich selbst habe keinerlei Meinung in dieser Sache, und dieselbe käme wohl auch hier nicht in Betracht. Hat mein Beitrag auch nur halb die Wichtigkeit, welche Sie ihr [lies: ihm] beilegen, so ist eine mäßige Honorirung, wie ich sie vorschlage, unter keinen Umständen ein unbilliges Verlangen […].“3 Damit rührt er zweifellos an den wundesten Punkt: Zweieinhalb Wochen vor dem Erscheinen des ersten Zeitschrif- tenhefts, für das und dessen Bewerbung das Friedensfest längst eingeplant war, konnte Fischer eigentlich gar nicht mehr zurück, ohne einen massiven Rückschlag in der Planung und damit auch finanzielle Verluste zu erleiden. Gerade diese prinzipielle Erpressbarkeit scheint den Kaufmann Fischer, der überdies noch den Herausgeber Brahm einer Komplizenschaft mit dem selbstbewussten Autor verdächtigte, in seinem Ehrgefühl getroffen zu haben. Er holt zu einem Befreiungsschlag aus und setzt Hauptmann einfach „vor die Tür.“4 So drückt es dieser in einem beschwichtigenden Brief vom 23. Januar 1890 aus, der zusammen mit einem vermittelnden langen Schreiben Brahms5 offensichtlich die Versöhnung zwischen den Kontrahenten einleitete – zu welchen genauen Bedingungen, wissen wir übrigens nicht. Wir können nur ahnen, dass es im Wesentlichen diejenigen Hauptmanns gewesen sein dürften, der sich andererseits in der Langfristigkeit der Kooperation Fischers Wünschen fügte. Doch geht es hier und heute nicht um Buch- handelsgeschichte, sondern um Fragen der Mentalität, und aus solchem Blickwinkel muss man doch sagen: ein erstaunlicher Vorgang. Wie kann ein Debütant, der es noch dazu dank des Vermögens seiner Frau eigentlich gar nicht nötig hatte, derart kompromisslos in die Verhandlungen mit einem angesehenen aufstrebenden Verlag hineingehen, mit dem er überdies – nämlich durch die gemeinsame Mitgliedschaft

2 Samuel Fischer / Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hrsg. v. Dierk Rodewald u. Corinna Fiedler. Frankfurt a. M. 1989, S. 197. 3 Ebd., S. 198. 4 Ebd., S. 199. 5 Brahm an Fischer, 21.1.1890, in: ebd., S. 185f. 12 Peter Sprengel im Verein Freie Bühne und durch die Freundschaft mit dem Zeitschriftenheraus- geber Brahm – institutionell schon eng verbunden war? Als dieses Thema bei einer Abendunterhaltung in einem Marbacher Weinlokal im Mai 2012 zur Sprache kam, sagte Dierk Rodewald, der Herausgeber von Fischers Briefwechsel mit Autoren und insofern ein primärer Experte für Hauptmanns Ver- lagsbeziehungen, in Ermangelung anderer psychologisch nachvollziehbarer Er- klärungen: „Er muss eine richtige Spielernatur gewesen sein.“ Hauptmann – ein Spieler? Der Dichter des Mitleids, der Anwalt der Menschlichkeit und der Armen, der Repräsentant Goethes im 20. Jahrhundert, das Gewissen der Nation und der Beinahe-Kandidat für die Reichspräsidentenwahl in der Weimarer Republik, der Poeta vates vom Wiesenstein – es fällt zunächst schwer diese Großinstanz des kulturellen Erbes zusammenzudenken mit jenem charakterologischen Spektrum des Leichtsinns und der Leichtfertigkeit, ja Süchtigkeit, die wir mit dem Begriff eines typischen Spielers verbinden. Ich bin mir auch durchaus bewusst, dass der Titel meines Vortrags hier und heute – nämlich für einen Festvortrag – eine gewisse Provokation in sich birgt. Ich darf daher schon hier versichern, dass ich damit keine im Ernst denkmalstürzerischen Absichten verbinde. Im Gegenteil hoffe ich, dass die ungewohnte Perspektive vielleicht neue Einsichten in Werk und Person erlaubt. Mir jedenfalls, der ich damals gerade die Fahnen einer umfangreichen Hauptmann- Biographie6 durchgesehen hatte, fielen nach dem ersten Stutzen angesichts der Prädikatierung ‚meines‘ Dichters als Spieler durchaus einige passende Beispiele ein. War der zwanzigjährige Hauptmann bei seiner Schiffsreise ins Mittelmeer nicht eigens deshalb in Marseille an Land gegangen und mit der Bahn nach Genua weitergefahren, um in Monaco das Casino zu besuchen? Allerdings hat man ihm damals wegen seines überaus jugendlichen Aussehens den Zutritt verwehrt, und es dauerte noch ganze sieben Jahre, bis er das berühmte Casino in Form eines Ausflugs von Bordighera aus zusammen mit seiner Frau und mehreren Freunden betreten konnte. Maries Postkarte vom 23. Februar 1890 verzeichnet in diesem Zusammenhang den Verlust einiger „Fränkli“.7 Auch hatte ich in die Biographie ein technisch leider nur sehr unvollkommen überliefertes Foto aufgenommen (ja sogar für die Umschlaggestaltung vorgeschla- gen), das Hauptmann als Jongleur mit drei Bällen zeigt (s. Abb.).Es wurde 1892 in Schreiberhau aufgenommen und hat immer schon mein Interesse erregt, weil Hauptmann ebenda ein Jahr zuvor sein Hauptwerk Die Weber geschrieben hat, das bekanntlich vielfach als kämpferische Anklage, ja als Ausdruck eines revo-

6 Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. München 1912. 7 „In Monaco haben wir nicht die Bank gesprengt, im Gegenteil einige Fränkli verloren“ (an Martha Hauptmann, Gerhart-Hauptmann-Museum Erkner). Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbibliothek ... 13 lutionären Engagements verstanden oder vielmehr missverstanden wurde. Über Hauptmanns eigentliche Haltung zu diesem Drama belehrt uns dagegen ein Brief an Otto Brahm, den die Staatsbibliothek vor wenigen Jahren auf einer Hamburger Auktion erwerben konnte. Am 1. September 1891 schreibt Hauptmann aus Schrei- berhau an den Berliner Freund: „Ich hatte mir meinen Wagen etwas verfahren, ein Sonderschicksal aus dem Massenschicksal herausgehoben. Der Schnitzer ist auch verbessert dank des in mir lebendigen Proportionen- u Perspective-Sinns. Nun geht es lustig .. nein traurig weiter.“8 Traurig geht es weiter, weil der Aufstand mit Blut und Tränen endet – lustig insofern die Ausführung seines ästhetischen Konzepts dem produzierenden Autor unmittelbare Freude bereitet. Und dieses Konzept ist entscheidend durch einen „Proportionen- u Perspective-Sinn“ bestimmt, in dem der 28-jährige Autor offenbar so etwas wie seine dichterische Eigenart erblickt. Sind das nicht aber ähnliche Eigenschaften, wie sie ein Jongleur besitzen muss – der darauf achtet, dass jeder Ball zu seinem Recht kommt und alles im Gleichgewicht bleibt? Eben eine solche Balance zwischen dem Einzelschicksal und der Masse wie zwischen den vitalen Anliegen der aufbegehrenden Weber einerseits und der Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung andererseits wahrt letztlich auch das vermeintliche Revolutionsdrama. Wenn man vom Gedanken der Spielernatur dieses Autors ausgeht, so lässt sich das Projekt der Weber insgesamt als so etwas wie ein ultimativer Trumpf verstehen, von dem der Autor freilich nie wissen konnte, ob er wirklich sticht. Das Stück steht inhaltlich und formal so weit außerhalb der dramatischen und theatralischen Spielregeln seiner Zeit, dass Hauptmann über viele Jahre nicht wissen konnte, ob es überhaupt bzw. noch zu seinen Lebzeiten aufgeführt wird. Verschiedene sei- ner Aussagen bezeugen das, u.a. eine Postkarte an Bruder Carl aus dem Bestand der Unversitätsbibliothek Wrocław vom April 1891: „Die Weber sind im Gange. Ein Stück Elend, das tiefste was jemals auf die Bühne gekommen ist. Ich zweifle übrigens daß es darauf kommt.“9 Wie kann man aber die Arbeit von Jahren in ein Projekt investieren, dessen Ausgang völlig zweifelhaft ist? Antwort 1 – es ist die Erklärung von für Hauptmanns Erfolgsvorsprung gegenüber seinen Konkurrenten10─ : Man ist ökonomisch abgesichert und kann es sich leisten, auch eine scheinbar hoffnungslose Spur zu verfolgen. Antwort 2: Man setzt alles auf eine Karte – nämlich mit der Mentalität (sit venia verbo) eines Zockers.

8 Autogr. I/4522-4. 9 An Carl Hauptmann, 16.4.1891 (BUWr Akc. 1991/19, Bl. 136). Freundliche Mitteilung von Edith Wack, Berlin. 10 Vgl. die Zitate in: Thorsten Fricke: Arno Holz und das Theater. Biografie – Werkgeschichte – Interpretation. Bielefeld 2010, S. 327f. 14 Peter Sprengel

Nachdem ich mit diesem Slangwort heutiger Tage sozusagen die verrufene Seite des Spielertums aufgerufen habe, ist es allerdings höchste Zeit, an die anthropolo- gischen Dimensionen und philosophischen Hoffnungen zu erinnern, die sich spätes- tens seit Schiller mit der Vorstellung des Homo ludens verbinden.11 In Hauptmanns dichterischer Phantasie verband sich die utopische Idee einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts mit einem Bild, das er in Simrocks Edda-Übersetzung fand und das genaugenommen auf einem sprachlichen Missverständnis beruhte.12 Denn in der Edda ist eigentlich von einem Brettspiel die Rede und nicht von gol- denen Scheiben oder Bällen, wie Hauptmann – der Jongleur Hauptmann! – sie von Simrock übernimmt. In einer Aufzeichnung aus Schreiberhau vom 1. Mai 1891 (wir sind also immer noch mitten in der Entstehungszeit der Weber) erklärt Hauptmann: Ich unterscheide einmal drei Stadien der menschlichen Entwickelung: Das unbewußt-kindliche Stadium, das, worin uns aller Kindersinn verlorenging, und schließlich das bewußt-kindliche. Mit goldnen Scheiben spielten die Götter der alten Germanen in ihrer Kindheit. Diese goldenen Scheiben gingen den Göttern mit der Zeit verloren; dann kam der Weltbrand, und als nach ihm alles sich erneut hatte, da fanden die Götter auch die goldnen Scheiben wieder. Möchten auch wir Menschen unsre goldnen Scheiben wiederfinden!13 Es gehört übrigens zu den markanteren Symptomen des Hauptmann’schen Balan- ce-, „Proportionen- u Perspective-Sinns“, dass er parallel zur Elendsdarstellung in den Webern ein Lustspielprojekt betrieb, das in Erinnerungen an die Zeiten seiner ersten Liebe schwelgte. Die Beschreibung, die er davon in einem Brief an Brahm gibt, zeigt, wie stark sich das Simrocks Edda-Übersetzung entnommene Symbol der göttlichen Spielscheiben oder -bälle mit vitalistischen Sehnsüchten und der Hoffnung auf eine Verschmelzung von Kunst- und Lebenspraxis verbindet: „Ein Juchzer der Lust soll es sein. Jenes Glück soll darin hervorbrechen, was wir mit 17 Jahren empfanden, als die Last der Jugend wich und wir, frei von allem Zwang, mitten im Frühling standen und das Wunder der Liebe in uns entdeckten. Als die Ideale goldne Kugeln waren, mit denen wir im Taumel des jungen Besitzes verzückt Ball spielten.“14

11 Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes in der Kultur. Amsterdam 1939. 12 Vgl. die Ausführungen des Herausgebers in: Gerhart Hauptmann: Tagebuch 1892-1894. Hrsg. v. Martin Machatzke. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1985, S. 154. 13 Zit. ebd., S.155. 14 An Brahm 31.3.1891. In: OttoBrahm / Gerhart Hauptmann: Briefwechsel 1889-1912. Erstausgabe mit Materialien. Hrsg. v. Peter Sprengel. Tübingen 1985, S. 116. Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbibliothek ... 15

Von solchen utopischen Hoffnungen sind auch die beiden großen Liebesexperimen- te in Hauptmanns Leben bestimmt, die sich mit den Namen Margarete Marschalk und Ida Orloff verbinden. Der Versuch, die Verliebtheit in die junge Geigerin mit der menschlichen Verbundenheit zur altgedienten Ehefrau Marie in einer Art Graf- von-Gleichen-Ehe zum Ausgleich zu bringen, grenzt ebenso ans „Unmögliche“15 wie der amour fou zur siebzehnjährigen Hannele-Darstellerin nur ein Jahr nach der mühsam erstrittenen Eheschließung mit Margarete. Ohne der leidenschaftlichen Tiefe der Gefühle nahezutreten, die Hauptmann in alle drei Beziehungen einbrachte, kann man diese Synthese-Versuche als radikalisierte, auf das eigene Leben ange- wandte Jongleur-Kunststücke verstehen, bei denen der Jongleur irgendwann selbst zu Boden gehen musste. Beschädigt wurde dabei allerdings nur die bürgerliche Existenz des Jongleurs. Der Künstler Hauptmann konnte von derlei die bürgerliche Moral in Frage stel- lenden Experimenten nur profitieren, und es war wohl nicht zuletzt der Künstler in Hauptmann, der ihn in jene gefährlichen Spiele hineintrieb. So müsste wohl die Nutzanwendung der ausführlichen Notate zum Spiel lauten, die Hauptmann Ende Juli 1897 ins Tagebuch einträgt. Sie weisen die „göttlichen Spiele mit ‚goldenen Scheiben‘“ den großen Künstlern von Phidias bis Goethe zu und erklären das Spiel generell zur „vornehmsten, reinsten, edelsten Betätigung des Menschen in Gott“: Das Kind spielt, und die wahre Kindschaft soll uns durchs Leben bleiben. Der gött- liche Spieltrieb ist es, den der Dichter-Künstler und jeder Künstler unverkümmert entwickelt hat. Im Philister jeder Art zeigt er sich abgestorben oder verdorben. Der Philister will alles mit „Ernst“ ergriffen sehen, d[as] h[eißt] starr und absolut. Zum Philisterium verführt die Wissenschaft zuweilen, nie die Kunst. […] Es gibt freiwilligen Ernst und einen gezwungenen; ich rede vom freiwilligen. Die Liebe in dem freiwilligen Ernst-zum-Spiel, wie Kind und Künstler ihn besitzen. Über diesen Ernst freilich geringschätzt der Herr Philister. Das Spiel des Kindes und das des Künstlers sind wesensverwandt, wie das kei- mende Pflänzchen und der schattenspendende, blühende Baum. Kind und Künstler ahmen dem Schaffenden bewußt nach, dem Göttlichen, Gott.16 Hauptmann, der sich in jenen Sommertagen 1897 intensiver mit verschiedenen Schriften Nietzsches beschäftigt, trägt keine Bedenken, den Philosophen an diesem letztlich auf Schiller und die Romantik zurückgehenden Künstlerbild zu messen. Da er im Verfasser des Zarathustra primär den „Religionsgründer“ erblickt, kann seine negative Bilanz nicht überraschen:

15 Vgl. die Baumeister Solness-Parallelen in: Sprengel: Hauptmann (wie Anm. 7), S. 245ff. 16 Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897-1905. Hrsg. v. Martin Machatzke. Frankfurt a. M., Berlin 1987, S. 27f. 16 Peter Sprengel

Der große, reine Künstler war Nietzsche nicht. Der Ernst, an dem ein solcher trägt, ist schwerer als der Nietzsches; aber er hindert den Starken doch nicht, sein Spiel zu treiben. Umdroht von Gefahren, Felstürmen und Abgründen, wirft der Dichter seine goldnen Scheiben, spielt der Maler sein Farbenspiel.17 Unerwähnt bleiben dabei die vielleicht produktivsten Einsichten, die Nietzsche zur Künstlerpsychologie seiner Zeit beigetragen hat: nämlich die skeptische Diagnose des Künstlers als Komödiant und Schauspieler, die doch schon im Biberpelz ihre diskreten Spuren hinterlassen hat.18 Sollte Hauptmann sie gerade deshalb verdrän- gen und verschweigen, weil er fürchten müsste, dass sie zuviel über sein eigenes Wesen und Auftreten verraten würde? Hat sich in verschiedenen Arbeiten der letzten Jahre doch die Tendenz zu Selbstinszenierung und Pose als charakteristischer Zug dieses Autors erwiesen, der sich nicht umsonst in eine Franziskanerkutte hüllte und seinen Zeitgenossen zunehmend als zweiter Goethe entgegentrat!19 Nicht umsonst sind Schauspiel und Schauspielertum sprachlich von Spiel und Spielen abgelei- tet. „Es ist eigentlich gar nichts Festes in mir“, schreibt Hauptmann in anderem Zusammenhang, und wenige Zeilen weiter: „Mitunter kommt mir das verwegene Spiel, das ich zu spielen gezwungen bin, in seiner Unerhörtheit zum Bewußtsein.“20 Das Spiel kann zur Bedrohung werden; jeder Spieler weiß, dass er auch verlieren kann. Hauptmann hat bekanntlich sein letztes großes Spiel verloren, das man als Flirt mit dem Nationalsozialismus bezeichnen kann. Blickt man auf die geistige Ent- wicklung Hauptmanns und die persönlichen Beziehungen, die er bis 1933 unterhielt, so bleibt sein Verhalten nach Hitlers Machtübernahme trotz aller Erkenntnisfort- schritte, die wir in letzter Zeit erreicht haben, immer noch unerklärlich. Legt man je- doch das Modell eines Hazardeurs zugrunde, der unter bestimmten Voraussetzungen bereit ist, einen Grand ouvert oder ohne vier zu spielen, wird Einiges verständlicher. Man erinnere sich: Hauptmann hört die Nachricht von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler in der Gesellschaft Fischers und Werfels in Rapallo. Aus Furcht vor Repressalien oder anderen unberechenbaren Vorkommnissen verschiebt er seine Rückreise nach Deutschland Woche um Woche und wartet schließlich noch den 1.

17 Ebd., S. 42f. 18 Vgl. Gert Oberembt: Chamäleon und Scharlatan. Nietzsches ‚Vom Probleme des Schauspielers‘ und Hauptmanns ‚Biberpelz‘. In: literatur für leser 1982, H. 2, S. 69-94. Wieder in: Ders.: Großstadt, Landschaft, Augenblick. Über die Tradition von Motiven im Werk Gerhart Hauptmanns. Berlin 1999, S. 11-36. 19 Vgl. Hauptmann 2007. Dokumentation der Internationalen Hauptmann-Konferenzen 2006/2007. Erkner 2008, S. 60ff. sowie Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. München 1977, S. 206-239. 20 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe. Hrsg. v. Hans-Egon Hass u. a. Bd. 1-11. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1962-1974, Bd. 7, S. 132. Der unmittelbare Kontext des Zitats aus dem Buch der Leidenschaft verweist auf das Verstell-Spiel des Ehebrechers. Gerhart Hauptmann der Spieler. Festvortrag, gehalten in der Staatsbibliothek ... 17

Mai ab, an dem er vorsichtshalber vor Haus Seedorn auch die Hakenkreuzfahne aufziehen lässt, bevor er deutschen Boden zu betreten wagt. Nur fünf Monate später wird an den Münchner Kammerspielen – und zwar genau am ersten sogenannten „Tag der Deutschen Kunst“ – sein neues Schauspiel Die goldene Harfe uraufgeführt. Wenige Steinwürfe entfernt legt Hitler am selben Tag den Grundstein für das „Haus der Deutschen Kunst“. Als Hauptmann dieser Zusammenhang jedenfalls im Umriss bekannt wird, notiert er im Tagebuch in maßloser Selbstüberschätzung: „Ich bin ein Feind von Unsachlichkeiten. Ich komme nur, wenn ich von Hitler eingeladen werde, sonst nicht. Sonst macht ihr die deutsche Kunst.“21 So schreibt jemand, der das Spiel gewonnen zu haben glaubt. An einen positiven „Umschwung“ glaubt damals auch Hauptmanns alter Freund, der Maler Ludwig von Hofmann. „Ich traute meinen Augen kaum“, schreibt er in einem Brief vom 17. Oktober 1933, „als ich las, was da alles vor sich ging. Du bist also in aller Form feierlich anerkannt und rehabilitiert, Minister dürfen mit Dir verkehren, und es wird Dir nicht zum Vorwurf gemacht, ein neues Stück geschrieben zu haben.“22 Vier Wochen lassen die Nazis Hauptmann noch in dem Glauben, ihm sei der große Coup gelungen, seine republikanische Vergangenheit problemlos mit einer unein- geschränkten Dichter-Präsenz im Dritten Reich zu verbinden – ziemlich genau bis zu seinem 71. Geburtstag, an dem er bei der feierlichen Eröffnung der Reichskul- turkammer in der Berliner Philharmonie Hitler selbst die Hand drücken darf. Schon bei der anschließenden Rückkehr nach Agnetendorf holt ihn der moralische Kater ein: Kerrs wütender öffentlicher Angriff reißt tiefe Löcher in seinen Freundeskreis. Die Anbiederung bei den Nationalsozialisten hat ihn unersetzliches symbolisches Kapital gekostet und ihm doch keinerlei konkrete Handhabe zur Durchsetzung seiner literarischen geschweige denn darüber hinausgehender Interessen verschafft. Als Autor steht ihm vielmehr eine lange Durststrecke und als moralischer Instanz die langsame, aber systematische Demontage bevor. Als hätte er geahnt, was ihm da bevorsteht, hat Hauptmann in dem letzten Stück, das zur Zeit der Weimarer Republik von ihm uraufgeführt wurde, einen unglücklichen Spieler gestaltet: eben jenen Geheimrat Matthias Clausen in Vor Sonnenuntergang, den man damals schon als vermächtnishaftes Selbstporträt des Siebzigjährigen gewertet hat. Im Gespräch mit dem befreundeten Professor Geiger, der nach dem Vorbild von Hauptmanns Oxforder Freund Hermann Georg Fiedler gezeichnet ist, bekennt Clausen:

21 Zit. in: Peter Sprengel: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Berlin 2009, S. 48. 22 Gerhart Hauptmann / Ludwig von Hofmann: Briefwechsel 1894-1944. Hrsg. v. Herta Hesse- Frielinghaus. Bonn 1983, S. 181. 18 Peter Sprengel

Ein Leben lang habe ich Schach gespielt, vom frühen Morgen bis vor dem Einschla- fen, Schach gespielt in die Träume hinein. Diese Elefanten, Pferdchen und Bauern sind Kunstwerke − aber das ist bedeutungslos. Figuren und Schachbrett hat man ja schließlich nur im Kopf. Die schwersten Partien, immer womöglich ein halbes Dutzend zugleich, kann man ja überhaupt nur im Kopf spielen ─ und ihre Figuren sind lebendigen Wesen, lebendigen Menschen substituiert. […] Aber nun nähert man sich allmählich der Schlußpartie, wo der Gegenspieler noch nicht gerade der Tod, aber auch nicht mehr das von gesunden Säften strotzende Leben ist. Da werden Figuren zu Dämonen. Und augenblicklich spiele ich eine, die mich Tag und Nacht wie in einem Schraubstock hält und mich mit ihren Problemen martert. […]. Etwas ist aber bei dieser Partie, das mir Grauen verursacht: die Schwarzen rücken, mit lauter bekannten Gesichtern, unerbittlich gegen mich an, sie sperren mir mehr und mehr die Ausflüchte und setzen mich unbarmherzig matt, wenn meine Augenlider nicht immer sperrangelweit offen sind. Tausendmal muß ich, selbst in dem Alptraum jeder Nacht, überhaupt aus dem Schachbrett herausspringen.23 „Wirf sie doch einfach um, wenn sie dich quält, diese Schachpartie“, rät Freund Fiedler. Leicht gesagt zu einem Spieler, für den das Spiel das Leben ist.

Beim Jonglieren in Schreiberhau, 1892 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kultur- besitz, Handschriftenabteilung, Nachlass Margarete Hauptmann, Nr. 1863, 1).

23 Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Bd. 3, S. 299f. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kul- turtheorie

Eva-Maria Siegel Köln

Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie

Kennzeichnend für die literarische Epoche des Naturalismus in Deutschland – und in Abgrenzung zur Wiener Moderne – gilt gemeinhin eine Engführung von soziolo- gischen und naturwissenschaftlichen Phänomenen. Für Hauptmanns Werk gilt dies allerdings auf spezifische Weise – und dies nicht nur, weil er sich gegen eine eindi- mensionale Reduktion auf den wissenshistorischen Stand der Auseinandersetzung mit der Vererbungslehre stets gewehrt hat.1 Diesem Befund steht die lebenslange Verbundenheit mit der ‚modernen Weltanschauung’ an der Seite, die sich auf Dar- win und Haeckel berief und deren Vertreter sich darum bemühten, Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Psychopathologischen zu erhalten. In sie eingeschlossen sind Elemente eines kulturtheoretischen Denkens, das sich am Ausgang des 19. Jahrhunderts der Schärfung der Trennlinie zwischen einer natürlichen und einer soziokulturellen Prägung des Menschen zuwendet und nach den Möglichkeiten der Regelung seines Beziehungsgefüges jenseits von Macht und Gewalt zu fragen beginnt. Belegen möchte ich meine Überlegungen zu literarischen Überschneidungen mit diesem Wissensfeld anhand Hauptmanns früher Dramatik – und zwar am Bei- spiel von Vor Sonnenaufgang, Das Friedensfest und Die Weber. In welchem Maße und in welchen ästhetischen Formen ist die Denkfigur einer Theorie des Kulturellen2

1 Gerhart Hauptmann: [Das Friedensfest. Erwiderung auf eine Kritik], in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. VI, Darmstadt 1963, S. 758. 2 Der Begriff der Kulturtheorie bezieht sich hier auf das Werk des „Generationsgenossen“ (Eberhard Hilscher) Sigmund Freud. Freud selbst hatte zwar keinen einheitlichen Kulturbegriff entwickelt und diesen vielmehr kurz nach der Jahrhundertwende aus anderen Quellen übernommen – um ihn schließlich durchaus zeittypisch für den Naturalismus als „Summe der Leistungen und Einrichtungen“ zu definieren, „in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt“ . Damit basiert Kultur auf den „Tätigkeiten und Werten, sich die Möglichkeiten der Erde untertan zu machen“ und ist abhängig vom jeweiligen „technischen-zivilisatorischen Niveau“ der Entwicklung. Zum Kulturbegriff bei Freud vgl. Marianne Springer-Kremser / Alfred Springer: Zur Aktualität von Sigmund Freuds Kulturtheorie heute, in: Bausteine der Psychoanalyse. Eine Einführung in die Tiefenpsychologie. Hg. von Peter Schuster/ Marianne Springer-Kremser. Wien 1997, S. 3. Zum Naturbegriff der Naturalisten 20 Eva-Maria Siegel hier bereits präsent? Welche psychischen Handlungs- und Antriebsmodelle der Gewalt werden in Hauptmanns literarischem Frühwerk darüber hinaus entworfen? Wie entstehen daraus Distanzierungselemente einer narrativen Stimme, die nach der Jahrhundertwende in Richtung der Episierung des Dramas vorangetrieben wer- den wird? Dramentheoretisch gesprochen: Welche Kaskade von Veränderungen ergibt sich, wenn nicht mehr der Charakter allein auf der Bühne als Erklärung für menschliches Fehlverhalten herhalten muss? Wenn die Umwelt, die räumliche als soziale Umgebung im Sinne eines literarischen Deutungsmusters einbezogen wird? Um den Naturalismus Hauptmannscher Provenienz als ein „historisch wer- dendes Phänomen […] zu den Bedingungen seiner Entstehung zu verstehen“3, braucht es Antworten auf die Frage, wie sich das literarische Feld seinerzeit mit anderen Diskursordnungen verband, wie es vielleicht sogar Schwellencharakter hin zur Diskursivität dieser Wissensformen gewinnen konnte. Bei der Analyse gehe ich in sechs Schritten vor: Erstens ist das Bedingungsgefüge dieser neu entstehenden literarischen Form als Dramenform Ende des 19. Jahrhunderts zu umreißen, um anschließend die Umwälzungen spezifizieren zu können, die sich daraus ergaben. Ein Exkurs ist dem modernen Gewaltbegriff gewidmet, sofern er für die besonderen Konfliktkonfigurationen in Hauptmanns frühen Stücken eine Rolle spielt. Viertens ist auf die ödipale Figurenkonstellation an einem ersten dramatischen Beispiel ein- zugehen, bevor an zwei weiteren Texten aus dem Frühwerk Hauptmanns Elemente des kulturtheoretischen Denkens aufgewiesen werden.

Von der Vergangenheit getrieben

Zunächst einmal sind unter der Voraussetzung, die das klassische Drama beherr- schende Charakterologie zurückzudrängen, die Personen im Stück nicht mehr allein für ihre Handlungen verantwortlich. Antriebskräfte für Konflikte werden in natura- listischen Stücken besonders in jener Situation gesucht, in der sie sich als Figuren jeweils befinden. Das hat Folgen für den Bau des Dramas wie für die Dramaturgie der ihm eigenen Wirklichkeit: Will eine Person im Stück die Bedingungen ihres Daseins verändern, muss sie selbst die Umstände abmildern, die zu unerwünschtem Verhalten führen. An eine übergeordnete, religiöse Instanz kann sie sich kaum noch

einführend Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann. Berlin 1979, S. 75; im Vergleich Arno Holz und Gerhart Hauptmann umfassender: Eva-Maria Siegel: High Fidelity. Konfigurationen der Treue um 1900. München 2004, S. 234-266 sowie Dies.: Das ‚Sprechen’ des kulturellen Archivs. Sieben Thesen zur phonographischen Schreibweise des Naturalismus, in: Phono-Graphien. Akustische Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur von 1800 bis zur Gegenwart. Hg. von Marcel Krings. Würzburg 2011, S. 179-188. 3 Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880-1900. Berlin/ New York 2009, S. 1. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 21 wenden. Um die entsprechenden Umstände als Umgebungsverhältnisse zu klären, braucht es aber im Wissensgefüge der Zeit einige Bedingungen: 1. Zu den Voraussetzungen gehört ein wissenschaftlichen Diskurs, der jene Situ- ationen identifiziert, die Verbrechen, Unwissenheit, Gewalt, Vorurteile, Versa- gen und andere Heimsuchungen des Menschen bedingen, damit diese bereinigt werden können. 2. Damit das geschieht, wird der Einsatz von Ressourcen – Zeit, Geld und Men- schen – benötigt, wenn die Gesellschaft gewillt ist, eine Korrektur sozialer Probleme voranzutreiben. 3. Und schließlich muss sich das Repräsentationsgefüge der Zeit – und am Aus- gang des 19. Jahrhunderts ist das immer noch im Besonderen die Literatur – auf schlechte Ereignisse konzentrieren, nicht auf gute. Auf diese Weise fördert die Milieutheorie, denn von ihr ist hier die Rede, auf fast unsichtbare, aber grund- legende Art und Weise die implizite Annahme „dass wir von der Vergangenheit getrieben und nicht von der Zukunft angezogen werden.“4 Mit diesem um 1900 noch nahezu unumstößlichen Paradigma ist jene Schnitt- stelle gekennzeichnet, die in der Forschungsliteratur zur Wissensgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die in Gang gesetzte Diskursivierung des sozia- len Feldes mit Wissenselementen der Psychologie und der Kulturtheorie anreichert. Eingeschlossen darin ist jenes als Epoche verkleidete disparate Textfeld, das wir heute den deutschen Naturalismus oder die Berliner Moderne nennen. Bereits die substantivierende Endung des -ismus verweist als Epochenkennzeichnung darauf, dass es sich bei dieser Fixierung auf eine einzige Denkfigur, nämlich auf die Vor- stellung von Natur, im Grunde nur um ein „Feld pluraler Kräfte“ handeln kann, dessen Begründungsversuche in unterschiedliche Richtungen streben. Der Begriff steht demnach für ein ganzes Feld, das seine Wirkung in die Zukunft hinein zwar bereits entfaltet, in dem ein Zählen der Einzelelemente allerdings im Nachhinein nicht mehr möglich ist. In einer solchen Diskurslandschaft treten daher „theoretische Würfe oder Entwürfe“5 regelmäßig an die Stelle einer Vielfalt von Perspektiven, deren Kräfteverhältnis immer wieder neu ausgehandelt werden müsste. Derarti- ge „Schilder vor einem Magazin“6, wie Gerhart Hauptmann die Wirkungskraft

4 Vgl. zur Differenz und Konkurrenz dieser beiden Ansätze im Kontext der Entstehungs- und Fachgeschichte der Psychologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenfassend Martin Seligman: Flourish. Wie Menschen aufblühen. Die positive Psychologie des gelingenden Lebens. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Schumacher. München 2012, S. 152. 5 Ich übernehme hier einen Gedankengang von Jacques Derrida: Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen. Berlin 1997, S. 8, der den Prozess der Ausdifferenzierung weltanschaulicher Modelle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert treffend erfasst. 6 Gerhart Hauptmann: [Realismus, Naturalismus] Kalendarium 1890, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. 22 Eva-Maria Siegel von Theorien am Beispiel der Theatertheorien treffend kennzeichnet, setzen am Ausgang des 19. Jahrhunderts Verhaltenssysteme und Umweltfaktoren schließlich unauflöslich miteinander ins Verhältnis. Legen wir den Schilderwald also einmal beiseite. Schauen wir zunächst einmal zurück zu jenen gravierenden räumlichen Veränderungen und diskursiven Verschiebungen, die die Repräsentationskrise der noch leeren deutschen Nation nach der Wilhelminischen Reichsgründung 1870/71 auszufüllen beginnen.

Veränderte Umgebung – Die Deregulierung des ländlichen Raumes

Zu den Umwälzungen, die insbesondere der soziale Raum am Ausgang des 19. Jahr- hunderts erfährt, hat der französische Kultursoziologe Paul Virilio das „Attrakti- onspotenzial der Stadt“ gezählt, das zunehmend dazu neigt, dem „landwirtschaft- lichen Raum seine (kulturelle und gesellschaftliche) Substanz“7 zu entziehen. Die Revolution des Transportwesens mit Hilfe der Eisenbahn und die Entwicklung neuer Kommunikationsmedien wie zum Beispiel Telefon oder Grammophon tragen Erhebliches dazu bei, den ländlichen Raum seine geopolitische Relevanz verlieren zu lassen. Er gibt sie an soziale Systeme weiter, die es ermöglichen, Subjekte als Objekte unmittelbar von einem Ort zum anderen zu transportieren oder, wie Vi- rilio in einer historischen Parallelisierung ausführt, sie „vielmehr zu deportieren: eine Deportation, die zum einen Deportation von Personen innerhalb der Verlage- rung von Produktionsstätten ist und zum anderen Deportation der Aufmerksam- keit vom menschlichen Augenkontakt“ hin zum „Interface zwischen Mensch und Maschine“.8 Von besonderer Bedeutung für den literarischen Prozess ist es jedoch, dass der soziale Raum im Zuge dessen nicht einfach ein Abstraktum bleibt. Was er von jetzt an mitführt, was er enthält und schließlich differenziert darstellt, sind Verhältnisse und ihre Folgen für das Verhalten: Es sind die sozialen Reproduk- tionsverhältnisse ebenso wie die Bedingungen der Produktion, es sind die „bio- physischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Altersstufen sowie die jeweilige Ordnung der Familie“.9

von Hans-Egon Hass. Bd. VI, Darmstadt 1963, S. 790. 7 Paul Virilio: Die Auflösung des Stadtbildes, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne/ Stephan Günzel. Frankfurt a.M. 2006, S. 261-273, hier S. 265. 8 Ebd. Virilio vergleicht diesen Prozess in dieser Passage mit dem etwa einhundert Jahre später stattfindenden Umbruch der „postindustriellen Entstädterung“, die nicht nur die Vorstädte wuchern lässt, sondern auch eine „Überbelichtung“ des Stadtbildes nach sich zieht, wobei die „unmittelbare Wahrnehmung der Wirklichkeit“ durch die „Simulation von Realität“ ersetzt wird, S. 268. 9 Henri Lefebvre: Die Produktion des Raumes [Aus dem Frz., Erstübersetzung], in: Ebd., S. 330-340, hier Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 23

Dieser Ausdifferenzierungsprozess im Übergang vom Land zur Stadt – und umgekehrt – sowie die Veränderungen, die damit einhergehen, kennzeichnen exakt die frühen Themen der Stücke Hauptmanns. Verfolgt man die Bewegungsvektoren der Zentralfiguren in seinen Dramen, kommt Loth, der Protagonist im fünfaktigen ‚sozialen Drama’ Vor Sonnenaufgang aus dem Jahr 1889 von der Stadt auf das Land. Dort werden die Auswirkungen der industriellen Kohleförderung, die zur neuen Gelddruckmaschine geworden ist, und der Planung des Eisenbahnbaus an den Veränderungen im bäuerlichen Familienkreis der Krauses manifest. Loth, der utopische Sozialist, widerlegt durch seine Praktik das eigene Ideal. Im zweiten Stück, dem Dreiakter Das Friedensfest, uraufgeführt 1890 an der Freien Bühne Berlin, zeigt sich am Heiligen Abend das bürgerliche Interieur von Tannenbaum, Kerzenlicht und besinnlichem Gesang durchkreuzt von der Heimkehr des Sohnes Wilhelm aus der Fremde. Das einsame Landhaus bei Erkner ist angesiedelt an der Stadtgrenze zu Berlin, das damals ein Provinznest ist, aufstrebend zur industriel- len Metropole. In Die Weber, das Stück aus dem Jahr 1893, das eine Reminiszenz an den schlesischen Weberaufstand von 1844 darstellt10, ist das Aufkommen der industriellen Maschinerie auf der Handlungsebene des Dramas angekommen – in Gestalt von Dreißigers Parchentfabrik und ihres Expeditionsraumes, in dem die Weber ihre manufakturell hergestellte Ware abliefern müssen. Mit ihrem unersätt- lichen Bedarf an ländlichem Lebensraum und billigen Arbeitskräften, die lediglich als bio-physische Verkörperungen ihrer nutzbaren Fertigkeiten betrachtet werden, geht ein noch unbekanntes strukturelles Gewaltpotenzial einher. Freilich bedarf es zu seiner Darstellung auf der Bühne einer veränderten Dramaturgie, der Einführung von Massenszenen. Auf diesen Wandel wird später zurückzukommen sein. Wie aber gestaltet sich das Verhältnis dieser dramatischen Veränderungen zum Aufkommen der Kulturtheorie? Im Gegensatz zur „Krise der großen Erzäh- lungen der Moderne“11 am Ausgang des 20. Jahrhunderts, wie Virilio mit Bezug auf Jean-François Lyotard bemerkt, findet die „Krise des Erzählens“ am Ende des 19. Jahrhundert ihren Ausgang in der Zuwendung zum wissenschaftlichen Diskurs. Während einhundert Jahre später nur noch „Mikro-Erzählungen“ gehört werden, die von der Unabhängigkeit des Einzelnen sprechen, lauscht das naturalistische Drama seine Konfliktkonstellationen einer Wirklichkeit ab, die ausschließlich nach dem Gesetz der großen Zahl konstituiert ist.

S. 331. 10 Vgl. dazu zuletzt: Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann „Die Weber“ – ein Projekt des Lebens, in: Carl und Gerhart Hauptmann – Jahrbuch, Bd. VI (2012). Hg. von Krzysztof A. Kuczyński. Włocławek, S. 23-44. 11 Paul Virilio: Die Auflösung des Stadtbildes, (wie Anm. 7), S. 268f. 24 Eva-Maria Siegel

Zur Diskursordnung dieser Wirklichkeit gehört insbesondere das kulturthe- oretische Denken, das mit Gustave Le Bons Studien zur Begründung einer – auf dem Rassebegriff basierenden – Massenpsychologie seit dem Jahr 1881, mit Alfred Binets psychometrischen Forschungen seit 1873 und Richard von Krafft-Ebings wirkungsmächtiger Veröffentlichung der Psychopathia Sexualis 1886 einen ersten Höhepunkt erreichte. Freuds Schriften Totem und Tabu, 1912 und 1913 in vier Auf- sätzen in der Zeitschrift Imago erstpubliziert, sowie Massenpsychologie und Ich- Analyse aus dem Jahr 1921 ergänzen dessen individualpsychologische Erkenntnisse um Überlegungen, deren Ursprünge bis in die Siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichen und die zeitgenössische Leitvorstellung von Kultur als einen Begriff ausbauen, der auf die Regulierung der sozialen Beziehungen abzielt. Obgleich von der Psychoanalyse als Kennzeichnung eines psychopathologischen Heilungsver- fahrens erst seit 1896 gesprochen werden kann, schließt dieses wissenschaftlich geleitete Nachdenken über Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens die Frage nach kulturellen Praktiken frühzeitig mit ein, die den psychischen Apparat strukturieren und so zur Herausbildung eines kollektiven Unbewussten beitragen.12 Das literarische Feld erfasst sie wie ein Seismograph. Obgleich es sich im Falle naturalistischer Strömungen um ein europaweites Phänomen handelt, las- sen sich doch bedeutsame nationale Unterschiede auffinden: So fällt auf, dass die deutschen Naturalisten ihre Aufmerksamkeit Phänomenen direkter oder indirekter Gewalt in besonderer Weise zuwenden. Anders aber als etwa in Holz/Schlafs Papa Hamlet, einem Prosastück, das einen Kindsmord thematisiert und dem die Widmung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang gilt, oder auch Familie Selicke, einem Stück der beiden Co-Autoren, das im Elend des Berliner Mietshausmilieus angesiedelt ist, handelt es sich in Hauptmanns Werken überwiegend um Varianten einer persönlich nicht zurechenbaren Gewalt. Zu ihrer weiteren Untersuchung bedarf es daher ei- nes Definitionsversuchs struktureller Gewalt, den der norwegische Mathematiker, Soziologe und Friedensforscher Johan Galtung als Teil seiner eigenen kulturtheo- retischen Überlegungen herausgearbeitet hat.

12 Besonders in der Schrift Die Zukunft einer Illusion aus dem Jahr 1921 setzte Freud sich mit Le Bons Begriff der „Massenseele“ auseinander und griff damit auf eine Debatte zurück, die sich vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts entfaltete. Auch seine erste kulturtheoretische Arbeit im engeren Sinne, der Aufsatz Die ‚kulturelle’ Sexualmoral und die moderne Nervosität aus dem Jahr 1908, bezieht sich auf Positionen aus dieser Zeit. Von ihnen übernahm Freud schließlich den Kulturbegriff Christian von Ehrenfels’ mit seinen Implikationen als „Summe gesellschaftlicher Anforderungen und Einschränkungen durch zivilisatorische Entwicklungsprozesse“, vgl. Marianne Springer-Kremser und Alfred Springer (wie Anm. 2), S. 3. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 25 Exkurs: Personale und strukturelle Gewalt

Galtung gilt als einer der Gründungsväter der modernen Konfliktforschung – seine Arbeiten kennzeichnet aus diesem Grund ein sehr weiter Begriff von Gewalt. In seiner Kernbedeutung zielt er auf jede Form der Auseinandersetzung ab, deren Grund in einer vermeidbaren Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Be- dürfnisse aufzusuchen ist. Die Stimme solcher indirekter Gewaltformen ertöne immer da, führt er aus, wo sich der reale Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabgesetzt zeigt, was potentiell in einer Gegenwart bereits möglich ist.13 Anders als unmittelbar durch Personen ausgeübte Gewalt zeigen sich strukturelle Gewaltphänomene daher nicht unmittelbar. Oft sind ihre Auslöser nicht einmal vor Ort. „Das Objekt der personalen Gewalt“, fährt Galtung fort, „nimmt die Gewalt normalerweise wahr und kann sich dagegen wehren – das Objekt der strukturellen Gewalt kann dazu überredet werden, überhaupt nichts wahrzu- nehmen. Personale Gewalt steht für Veränderung und Dynamik – sie ist nicht nur eine sanfte Bewegung der Wellen, sondern bewegt selbst die sonst stillen Wasser. Strukturelle Gewalt ist geräuschlos, sie zeigt sich nicht – sie ist im Grunde statisch, sie ist das stille Wasser. […] So ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, daß sich das Nachdenken über die personale Gewalt (in der jüdisch-christlich-römischen Tra- dition) in seiner jetzigen Form zu einem großen Teil in Gesellschaften entwickelte, die wir heute im wesentlichen als statisch bezeichnen würden; während Gedanken über die strukturelle Gewalt (in der marxistischen Tradition) in den hochgradig dynamischen nordwesteuropäischen Gesellschaften formuliert wurden.“14 Als statische Gesellschaften gelten ihm beispielsweise auch die vormodern-länd- lichen Gemeinschaften, soweit sie von Industrialisierungsprozessen noch nicht erfasst worden sind. Betrachtet man eine derartige historische Raumordnung im Lichte der Ausführungen von Johann Galtung, so wird in ihrem Geltungsbereich vor allem personale Gewalt registriert und sanktioniert. Das mag noch heute auf zahlreiche Phänomene außereuropäischer Gewalt zutreffen. Doch sind Galtungs Überlegungen im Hinblick auf eine Analyse dramatischer Texte der frühen Moderne aus einem ganz anderen Grund so ergiebig: Sie stellen den äußersten Kontrapunkt zu Positionen dar, die den Gewaltbegriff auf ausschließlich physische Gewaltaus- übung eingrenzen.15

13 Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek b.H. 1975, S. 9. 14 Ebd., S. 16. 15 So zum Beispiel auf dem Stand der soziologischen Forschung in Deutschland der Band: Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Hg. von Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner. Frankfurt a.M. 2004. Anders Jan Philipp Reemtsma: Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden. Stuttgart 2002, S. 26, der das „Zusammenspiel der beiden Machtpotentiale Gratifikations- und Sanktionsmacht“ – wie Galtung auch – nicht auf die beiden Gewaltformen der Verletzung und des Entzuges von Eigentum 26 Eva-Maria Siegel

Die in die Sozialstrukturen eingelassenen Gewaltformen, die in Hauptmanns frühen Werken zutage treten, verweisen jedenfalls deutlich in Richtung eines Zu- sammenhangs personaler mit struktureller bzw. institutioneller Gewalt – wobei die Entwicklungsdynamik am Ende des 19. Jahrhundert eine zunehmende Schwer- punktverlagerung bedingt. Offenbar sind die Veränderungen dynamisch und ein- greifend genug in das Leben der Subjekte, um Stabilität auch in diesem Falle zu einer „irgendwie unnatürlichen Ausnahmesituation zu machen“16. Um daran zu erinnern: Es handelt sich um jene Zeitspanne, in der Deutsch- land sich vom Agrar- zum Industriestaat wandelt, seine Bevölkerung mit sich wi- dersprechenden politischen Zielsetzungen konfrontiert sieht und insofern auch mit einem innenpolitischen Spannungspotenzial, das so gravierend ist, dass es außenpolitisch durch den ‚Platz an der Sonne’ abgefedert werden muss. Im Kontext dieses Zeit-Raum-Gefüges und gleichsam in die Lücke zwischen der ersten und der zweiten Welle kulturtheoretischer Überlegungen springend, bildet Hauptmanns Werk eine einzigartige Fundgrube für diskursive Bezüge. Der Prozess einer sozio- kulturellen Destabilisierung mit literarischen Folgen ist jedenfalls besonders seinem Frühwerk deutlich abzulesen – obgleich er den Nobelpreis für Literatur erst 1912 erhält, im gleichen Jahr übrigens, in dem Freud seine Schrift Totem und Tabu zu veröffentlichen beginnt. Zum Zeitpunkt der skandalumwitterten Erstaufführungen seiner Stücke lebt er recht zurückgezogen in der Villa Lassen in Erkner. Dort steht er, nicht zuletzt durch die Vermittlung des schwedisch-deutschen Schriftstellers Ola Hansson sowie der deutsch-baltischen Autorin Laura Marholm, „den Einflüs- sen der Skandinavier“ in Gestalt von Ibsens und Strindbergs Stücken „besonders neugierig“, wenn auch überwiegend skeptisch, „gegenüber“.17

Vor Sonnenaufgang – Ödipus ante portas

Die griechische Sage vom Tyrannen Ödipus, von Sophokles’ Drama fixiert, gilt im modernen Zeitalter als eine Parabel für die unbewusste Weitergabe von Erfahrungen der Traumatisierung, des Tabubruchs und der Normverletzung über Generationen hinweg. Primär bezeichnet dieser besondere Komplex die Dynamik unbewusster Wunschmotive von Elternmord und Inzest im menschlichen Lebenslauf.18 Das In-

eingeschränkt sehen will. Zwar sei Macht immer „eine personale Beziehung“. Doch könne Gewalt auch „dem Schutze der Machtbeziehungen insgesamt“ dienen und sei damit in dieser Funktion „stets organisatorisch und meist institutionell“ gebunden, S. 43. 16 Johan Galtung: Strukturelle Gewalt (wie Anm. 13), S. 17. 17 Rolf Kauffeldt/ Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. o.O. 1994, S. 121. 18 Gottfried Fischer: Modell Ödipus – zwischen transgenerationaler Traumatisierung und Neurose, in: Kulturtheorie. Hg. von Ortrud Gutjahr, Würzburg 2005 (= Freiburger Literaturpsychologische Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 27 teresse für das Inzestverbot gehört bekanntlich zu den Gründungsakten von Freuds Kulturtheorie. Zu ihm kehrt er kurz nach der Jahrhundertwende nach einem „lebens- langen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin, und Psychotherapie“19 als jener kulturellen Problematik zurück, die ihn bereits zu Beginn seiner wissenschaft- lichen Arbeiten gefesselt hatte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ohne Bedeutung, dass die Hauptmannforschung mehrfach auf das in die Transkriptionen „alltägli- cher Verkehrssprache“20 eingelassene Konfliktmodell verwiesen hat, welches die Gewaltdynamik innerhalb der zu Reichtum gelangten Familie der Bauern in Vor Sonnenaufgang prägt.21 Das Modell der Vererbung erworbener Eigenschaften, etwa des Alkoholismus, geläufiges Deutungsmuster des Hauptmannschen Frühwerkes, wird dadurch aber ebenso unterlaufen wie komplettiert. Die Dynamisierung der Handlung im 2. Akt und die – für Helene – tragische Wendung im 5. Akt beru- hen vor allem auf der für den Zuschauer lediglich zu erschließenden Verletzung des Inzesttabus als eines kulturübergreifenden Phänomens.22 So wird durch die Figurenrede dem Zuschauer nahegelegt, dass es bei den „Goldbauern“ nicht nur Alkoholmissbrauch gibt, sondern auch körperlichen Missbrauch der Töchter, neben Ehebruch und anderen moralisch verdammenswerten Taten. Abgesehen davon, dass das Inzestmotiv ein von da an immer wiederkehrendes Konfliktmuster in Hautmanns Werk zu generieren scheint, gibt der Text ein Andeutungsfeld zu er- kennen, das durchgängig aus der Dialogperspektive aufgebaut wird und insofern deutungsoffen genug bleibt, um Phantasmen des Publikums anzuregen.23 Mit der Verletzung des Tabus, jenem Gewaltakt also, der womöglich die Loslösung der weiblichen Zentralfigur aus ihrer primordialen Bindung ebenso verhindert wie er Loths Rückzug im 5. Akt bedingt, ist bereits in Hauptmanns erstem dramatischem Werk trotz des medizinischen Vokabulars eine deutliche Grenzziehung zwischen Kultur und Unkultur vorgenommen worden. Ihre Markierung hält sich exakt an

Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse Bd. 24), S. 141-160, vgl. auch die Einführung S. 13. 19 Siegmund Freud: Selbstdarstellung. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1993, S. 98. 20 Siegfried Grosse: Sprachliche Varietäten in Gerhart Hauptmanns ‚Vor Sonnenuntergang’, in: Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Hugo Steger. Hg. von Heinrich Löffler. Berlin/ New York 1994, S. 126. 21 Rolf Christian Zimmermann: Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie der menschlichen Blindheit, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69. Jg. (1995) LXIV, S. 499; Hansgerd Delbrück: Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. Soziales Drama als Bildungskatastrophe, in: Ebd., S. 512–545; Eva-Maria Siegel: High Fidelity (Anm. 2), S. 262. 22 Vgl. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama, in: Ders.: Das gesammelte Werk. I. Abteilung, 1. Band, Berlin 1943, Suhrkamp, S. 297 sowie die Verbalisierung S. 316 und die Andeutungen gegenüber Loth S. 345. 23 Vgl. ebd., S. 312, 316, 326. 28 Eva-Maria Siegel jene Unterscheidung, die Freud – mit Bezug auf den schottischen Ethnologen James George Frazer – später zur Trennungslinie zwischen ‚zivilisierten’ und ‚wilden’ Vergesellschaftungsformen erhoben hat: „Anstatt aus dem gesetzlichen Verbot des Inzests zu schließen, daß eine natürliche Abneigung gegen den Inzest besteht, sollten wir eher den Schluß ziehen, daß ein natürlicher Instinkt zum Inzest treibt, und daß, wenn das Gesetz diesen Trieb wie andere natürliche Triebe unterdrückt, dies seinen Grund in der Einsicht zivilisierter Menschen hat, daß die Befriedigung dieser natürlichen Triebe der Gesellschaft Schaden bringt.“24 Dem kulturtheoretischen Grundlagenmodell zufolge, das damit umrissen ist, gilt das Inzestverbot als das erste Tabu, die sich eine kulturelle Gemeinschaft im Über- gang von einem natürlichen, unreflektierten zum kulturellen, bewussten Zustand auferlegen muss. 1912 hebt Freud hervor, dass die Vererbung des Totems in aller Regel über die Mütter an die Töchter und Söhne erfolgt – woraus er schlussfolgert, dass „die mütterliche Vererbung“ älter sein muss „als die väterliche, denn es liegt Grund vor anzunehmen, daß die Totemverbote vor allem gegen die inzestuösen Gelüste des Sohnes gerichtet sind“.25 Diese Rolle ist signifikanterweise innerhalb der Familiendynamik in Hauptmanns Stück vakant – ist doch Bauer Krauses zweite Ehefrau selbst in eine unerlaubte Liebesaffäre verstrickt. Das legt nahe, die famili- ären Verhältnisse mit jenem „Zustand der Wildheit“ in Verbindung zu bringen, der phylogenetisch betrachtet mit ödipalen Strukturen einhergeht – wobei der Komplex selbst die „ambivalenten Gefühlseinstellungen des Kindes zu den als ein hetero- sexuelles Paar intim aufeinander bezogenen Elternobjekten“26 beschreibt. In der Regel gehen die „Liebe zum gegengeschlechtlichen und eine feindselige Einstellung gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil“27 damit einher, die im Falle der Naturbelassenheit besonders gegenüber dem Vater ausgeprägt ist. Dieser Zugriff auf eine elementare Konfliktkonstellation könnte eine Erklä- rung dafür liefern, warum in Hauptmanns frühen Stücken abwesende oder unfähige Vaterfiguren – bis zu Johannes Vockerath inEinsame Menschen – paradigmatisch

24 Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9, Frankfurt am Main 1968, S. 150. 25 Ebd., S. 10. Freud begründete diese These folgendermaßen: „Die erste Objektwahl der Menschen ist regelmäßig eine inzestuöse [...] und es bedarf der schärfsten Verbote, um diese fortwirkende infantile Neigung von der Wirklichkeit abzuhalten.“ Sigmund Freud: Allgemeine Neurosenlehre, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 11: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1966, S. 249–382; hier S. 347. 26 Mathias Kettner: Psychoanalytische Kulturtheorie – Die Zukunft einer Desillusion, in: Kulturtheorie (wie Anm. 18), S. 19–44, hier: S. 20. 27 Gottfried Fischer: Modell Ödipus – zwischen transgenerationaler Traumatisierung und Neurose, in: Ebd., S. 143. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 29 für den Zerfall sozialer Strukturen stehen und weshalb sie somit überhaupt als Vor- lage für eine kritische Darstellung bürgerlicher Verhaltensweisen dienen können, mit der sich das Publikum identifizieren oder gegen die es revoltieren kann. Insofern die Machtverhältnisse, die damit einhergehen, als Abhängigkeitsverhältnisse Un- terwerfung unter asymmetrische personale Gewaltverhältnisse erzwingen, stehen sie im Kontext struktureller Gewalt.

Das Friedensfest - Bruderzwist und Vatermord

Die Bezugnahme auf den „Symptomen-Komplex“28 des Ödipus in Vor Sonnen- aufgang ist jedenfalls kein Zufallsfund. In der literarischen Darstellung familiärer Nahverhältnisse lassen sich weitere Anhaltspunkte dafür finden, dass der Über- gang vom bäuerlichen zum urbanen Raum bei Hauptmann einen zivilisatorischen Kraftakt darstellt. Was er hervor treibt, ist die Entwicklung der Kernfamilie, die mit ihrer Reduktion auf eine geringe Anzahl von Familienmitgliedern und maximal zwei Generationen unter einem Dach Ordnung erzeugend wirkt, in dem sie das Beziehungsgefüge scheinbar vereinfacht. Dieser sozialhistorische Befund steht aber der Parallelführung ge- sellschaftlicher und natürlicher Phänomene, wie sie den Naturalismus als gesamteuropäische Strömung auszeichnet, eher entgegen. Stilbildend wurde der durch sie geprägte Naturbegriff ohnehin erst um 1900, wie das Beispiel des Erfinders des populären Sachbuchs Wilhelm Bölsche zeigt, der mitDas Liebesleben in der Natur von 1898 – neben Ernst Haeckels Kunstformen der Natur, die sein ‚biogenetisches Grundgesetz’ belegen sollten – wirkungs- mächtig zu Gestaltungsformen des Jugendstils beitrug. Während aber Böl- sche, Bruno Wille und die Brüder Hart, bei denen der Jenaer Naturforscher Haeckel gerne zu Gast weilte, nahezu die versammelte europäische Boheme nach Berlin-Friedrichshagen zogen, residierte Hauptmann etwas abseits – im „Landhaus auf dem Schützenhügel bei Erkner“.29 Dort ist auch sein Drama Das Friedensfest entstanden und räumlich angesiedelt. Die Entwicklung der Handlungsfolge dieses Stücks geschieht nahezu in Manier eines Sensations- journalisten. Der Autor soll sich von der problematischen Familiensituation Frank Wedekinds haben inspirieren lassen, von der er während eines Auf- enthalts in Zürich bei seinem Bruder Carl erfuhr.30 Wedekind übte Rache an

28 Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (wie Anm. 22), S. 363. 29 Rolf Kauffeldt/ Gertrude Cepl-Kaufmann (wie Anm. 17), S. 122. 30 Vgl. ebd., S. 123. 30 Eva-Maria Siegel ihm, indem er später in seiner Komödie Kinder und Narren, umbenannt in Die junge Welt, einen beständig die Äußerungen seiner Freunde protokol- lierenden Dichter namens Franz Ludwig Meier auftreten ließ. Das Kammerspiel in drei Akten ist jedoch im vorliegenden Kontext eher unter einem kulturkritischen Gesichtspunkt interessant: Handlung und Figurenaufbau spiegeln die Auswirkungen swa Paternalismus im Wilhelminischen Reich. Von da- her trägt es den Untertitel Eine Familienkatastrophe zu Recht, wobei sich die Hand- lung nicht um den Inzest als Tabubruch dreht, sondern vielmehr um einen indirekten Vatermord, als Folge physischer Gewaltverhältnisse im engsten familiären Kreis. Den tödlichen Konflikt löst in diesem hochdynamischen Gefüge das Verhältnis von Schuld, Sühne und Strafe aus. Die Handlung dreht sich um einen Bruderzwist – und um weibliche Unterwerfung, um blinde mütterliche Fürsorge nicht weniger als um Vatertod. Die zeitgenössische Kritik hat dieses Drama auf einen Beitrag zur Diskussion um die „Erblichkeit des Verfolgungswahns“31 reduziert, eine Auffas- sung, gegen die Hauptmann sich mit seltener Deutlichkeit zur Wehr gesetzt hat. Die Einschränkung auf eine Auseinandersetzung mit dem medizinischen Diskurs wies er entschieden zurück, ist doch das Stück konzeptionell auf eine psychologische Ausmalung vor allem der männlichen Figuren hin bezogen. Der väterliche Beruf des Arztes erscheint als handlungstreibendes Element demgegenüber peripher. Noch im Vorfeld der Erfolgsgeschichte kulturtheoretischen Wissens bringt Hauptmann im Rahmen der modernen Konfiguration einer Kleinfamilie eine Viel- falt an Stimmen der Gewalt auf die Bühne. Und nicht nur das: Freuds spätere Er- klärung für den Monotheismus, die besagte, ein Vatermord sei die Voraussetzung für die Entstehung einer symbolischen Vaterfigur und damit der Ursprung religiöser Institutionen, scheint die Handlung in diesem Kammerspiel geradezu vorwegzuneh- men. Wie für den Diskursbegründer der Psychologie nach der Jahrhundertwende auch, so steht auch in Hauptmanns dramatischer Konfiguration die Familie für die phylogenetisch älteste Form des Zusammenlebens der Menschen. Versehen aber wird sie mit einem starken Hang zur Abschließung. Diese primordiale Konstellation prägt jene Bindungskraft, die von frühester Kindheit an Gefühle der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten vermittelt – aber auch zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu bestimmten Normen und Bräuchen – kurz: zu jener begrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die wir gemeinhin als Heimat bezeich- nen. In Das Friedensfest hat diese Verbindung weniger mit der Aufzeichnung eines Sprachmilieus zu tun – wie in Vor Sonnenaufgang oder in Die Weber - als vielmehr mit einer Engführung von regionalem Sprachstil und Herkunftsvermutung. Der

31 Gerhart Hauptmann: [Das Friedensfest. Erwiderung auf eine Kritik] (wie Anm. 1), S. 758. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 31

Kernkonflikt aber entsteht aus dem Glauben an die väterliche Autorität, hinter der alle anderen primordialen Bindungen zurücktreten müssen. Diese Vorrangstellung erscheint zwingend, will die moderne Gesellschaft ihre Vergesellschaftungsprozesse erfolgreich in Szene setzen. Sie ist das Kernstück disziplinierender Konditionierung. Betrifft die hierarchische Ordnung der Figuren vor allem die Ebene der Handlung, so zeigt Hauptmanns zweites Stück das familiäre Heimatgefühl vorwie- gend am Singen von Liedern auf, ein durchaus episches Element. Das bindet zwar auch den Anklang dialektaler Elemente ein, doch dienen diese im Friedensfest vor allem dem Appell an das Gefühl. Es sind die affektive Bindungen, die den Erfolg der Vergesellschaftung auf der Ebene des Einzelnen gewährleisten.32 Mit Hilfe dieser Bindungsmacht wehrt sich der Familienverband im Frie- densfest gegen kulturelle Einflüsse von außen, die eine Freigabe des Einzelnen erzwingen. Je inniger der Familienzusammenhalt, desto eher grenzen sich die Fami- lienmitglieder nach außen ab. Was auf diese Weise erschwert wird, ist der „Eintritt in größere Lebenskreise“, den der Protagonist Wilhelm, eine Künstlerfigur, aber auf seine Weise erzwingt. Den Eindruck, dass die Kernfamilie sich selbst genügt, ver- stärkt einerseits die dramaturgische Konstellation des Kammerspiels. Andererseits jedoch besteht der Plot des Stücks geradezu in einer Spiegelung des Heimkehrmo- tivs: Nach langer Abwesenheit kehrt nicht nur der verlorene Sohn Wilhelm zum friedensstiftenden Weihnachtsfest in den Schoß der Familie zurück, sondern auch sein jahrelang verschollener und heruntergekommener Arzt-Vater. Sein Tod führt im Schlussakt erneut zu einer Verdoppelung: Wilhelm, ursprünglich Auslöser des Konflikts, ergreift die nächstbeste Gelegenheit, um den autoritären Diskurs der Va- terfigur zu wiederholen. Diese mimetische Form des Sprechens33, in der die Sprache der Gewalt zur Gewalt der Sprache wird, verschärft den Bruderzwist, rechtfertigt den Gewaltakt aber vor der weiblichen Gegenfigur. Mit dieser Sublimierung tritt der Sohn nun in die väterliche Rolle innerhalb der ‚heiligen Familie’ ein. Zeitgleich öffnet sich der Familienverband auf ein Außen hin, um von nun an seine implizite demographische Funktion als Voraussetzung von Gemeinschaft nicht mehr ganz sich selbst überlassen zu verwalten. In einem äußerst dramatischen Spannungsbogen führt dieses Stück die Dy- namik einer Katastrophe vor Augen. Erst das Schlussbild wandelt den Tod im Nebengemach zur Aufbruchshoffnung einer jüngeren Generation um.34 Bereits der

32 Vgl. dazu umfassender und mit Blick auf den Kulturzusammenhang Clifford Geertz: Schicksalsbedrängnis. Religion als Erfahrung, Sinn, Identität, Macht, in: Sinn und Form, Jg. 53 (2001) 6, S. 742-760. 33 Zur Mimesis der Gewalt grundlegend Renè Girard: Gewalt und Gegenseitigkeit, in: Sinn und Form 54. Jg. (2002) 4, S. 437-454. 34 Gerhart Hauptmann: Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe, in: Ders.: Das gesammelte Werk, Bd. 32 Eva-Maria Siegel erste Akt hat allerdings bereits die ursächliche Übertretung des Tabus vor Augen gestellt: Gleich zu Beginn ertönt die Stimme der Gewalt, wird die Hand gegen die Unberührbarkeit des Vaters erhoben. Das Zusammenspiel von Verbot und Heilig- keit zeigt sich im weiteren Verlauf der Handlung insbesondere in der Konsequenz, mit der die Ausstoßung aus dem familiären Verband betrieben wird – obgleich die Tat Wilhelms doch nur die physische Verwirklichung eines von allen Famili- enmitgliedern gleichermaßen geteilten Wunsches zu sein scheint. Derjenige, der das Tabu übertritt, wird selbst tabu. Das Motiv der ungleichen Brüder legt dabei nahe, dass in diesem gnadenlosen Schreckensszenario unter dem Weihnachtsbaum durchaus eine Art Zufallsprinzip waltet. Den Ausschlag geben die statusbedingten Rollenerwartungen, die das Handeln erzwingen und die letztlich über Macht und Ohmacht verfügen.35 In einem solchen Handlungsgefüge gewinnen auch die abgebrochenen Sätze ihre Funktion, das Stocken und Stammeln der Figuren in jenen „Momenten des Affekts“36, welche die Regieanweisungen vorgeben. Sie verlegen die Aktion der Handlung in das Innere der Figuren, bis es zum Ausbruch der Katastrophe kommt. Damit werden sie jener Sphäre anheimgestellt, die Hauptmann mit den Worten aus Lessings Abhandlungen über die Fabel als einen „inneren Kampf der Lei- denschaften“ gekennzeichnet hat. Jene „Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt“, hat die klassische Tragödientheorie des 18. Jahrhunderts allerdings nie als Handlungstriebkraft anerkannt. In Hauptmanns Dramenkonzept aber ist jeder „Seelenkampf“ innerhalb der Familienallianzen laut Regieanweisung nun auch „physisch durchzuringen“37.

Die Weber - Institutionalisierter Mord

In ihrem Vergleich der Rede im Friedensfest mit Passagen aus Brechts Trommeln in der Nacht hat Marianne Streisand die These aufgestellt, es gehe im naturalistischen Drama vorwiegend darum, dem „Unaussprechlichen“ zur Sprache zu verhelfen, um somit das Vorbewusste publik zu machen. Dass aber und wie sehr das „Vertrauen in die tradierten und überkommenen Sprachstrukturen […] im Bewusstsein der Moderne gründlich zerstört“38 war, zeigt exemplarisch die Forschungsgeschichte

1, Berlin 1942, S. 374-451, hier S. 450f. 35 Vgl. ebd. S. 413 als körperliche Umsetzung der Sprachlosigkeit die Ohnmacht des Sohnes bei der erneuten Begegnung zwischen Vater und Sohn. 36 Ebd., S. 376. 37 Ebd., S. 412. 38 Marianne Streisand: und der junge Gerhart Hauptmann, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge X – 1/2000, S. 127-132, hier S. 130. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 33 zu Hauptmanns Drama De Waber/Die Weber auf. Während im Friedensfest die Gespaltenheit des handelnden Subjekts im Motiv des Bruderzwistes ebenso wie der körperliche Umschlag des Affekts in Gewalt zum Schauplatz der Handlung wird, kehrt sich das Verhältnis von Physis und Seelenpein im historischen Drama um. Hier erwächst die Not geradezu aus der sozial erzwungenen Vernachlässigung des Familienverbandes. Die Abstufung innerhalb der pyramidenförmigen Struktur des Textilunternehmens ermöglicht es, über die Bedingungen der Existenz hinwegzu- sehen. Die Konfliktlösung verlagert sich in die Möglichkeit des Handelns selbst – eine Form der Not-Wehr im Wortsinn. Peter Szondi hat auf die Vielfalt epischer Stationen verwiesen, die diese Handlungsmacht aufbauen helfen; Peter Sprengel hat die historische Fundierung und den Rezeptionsprozess des Stücks herausgear- beitet, der Hauptmann schließlich zur „öffentlichen Person“39 werden ließ. Revue, Darstellung der Szenerie vor einem Fremden, Bericht und Beschreibung führen dem Zuschauer vor Augen, was „anderscher […] doch werden“ muss.40 Im jeweils neuen Ansetzen nach dem Aktschluss, in der Einführung neuer Personen nach jedem Akt, im Verfolgen der Ausbreitung des Aufstandes, im Vorauseilen des letzten Akts wird die epische Grundstruktur des Werkes ausgemacht.41 Die beschränkte Anzahl von Personen, die im Kammerspiel auf die Absolutheit des dramatischen Gewebes ver- weist, hüllt sich im Massenspektakel in ein „Kollektivum“ ein, in dem die Wahl der Protagonisten eher zufällig erscheint. Signifikant wird die Form des naturalistischen Dialogs. Sie nimmt jene Phonogrammarchive vorweg, die das Stimmenreservoir der technischen Aufzeichnung wenige Zeit später in Erscheinung treten lässt.42 Für die abschließenden Überlegungen meines Beitrages ist es von Bedeutung, dass Hauptmanns Darstellung des historischen Aufstandes den Gewaltkanal nun gleichsam umkehrt. Nicht auf das A-Soziale des Inzests oder auf das ausgeschlos- sene soziale Element im knirschenden familiären Getriebe wird verwiesen. Es geht um das Primitive in der Repräsentation jenes institutionalisierten Sozialverbandes selbst, in dem Gewalt wiederum Gewalt entbindet. Lange Zeit hat die Forschungs- literatur dem fünften Akt, der im „Weberstübchen des alten Hilse“43 spielt, eine Märtyrertragödie abgelesen. Betrachtet man die Dialogführung aber genauer, ist zentral vielmehr die Frage, „wo“ genau denn nun „die Gewalt steckt“, von der die Figur des roten Bäckers behauptet, man könne sich mit ihrer Hilfe nehmen, was

39 Peter Sprengel (wie Anm. 10), S. 43. 40 Gerhard Hauptmann: Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren, in: Ders.: Das gesammelte Werk, Bd. 2, S. 97. 41 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950) Frankfurt a.M. 1965, S. 70. 42 Ebd., S. 72; vgl. auch Eva-Maria Siegel: Das ‚Sprechen’ des kulturellen Archivs (wie Anm. 2), S. 181f. 43 Gerhart Hauptmann: Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren (wie Anm. 40), S. 80. 34 Eva-Maria Siegel

„gutwillig“ nicht zu „kriegen“ ist.44 Sie steckt in der Verfügbarkeit über Apparate und Waffen, in der Vernachlässigung der sozialen Verantwortung – Galtung zufolge eine Frage des Ressourcen-Einsatzes und nicht ewiger Marktgesetze. So trifft die verirrte Kugel mit dem alten Hilse im Drama Die Weber aus- gerechnet denjenigen, der auf die bereits etablierte Kette eines strukturellen Ge- waltmonopols hinweist. Nicht umsonst schreibt die Regie dieser Figur vor, „mit wachsender Emphase“ in der Schlussszenerie den „himmlischen Vater“ anzurufen, der ihn veranlasst habe, hier zu sitzen und zu „tun, was mer schuldig“45 seien. Wenn Hilse die Kugel trifft, geht es also nicht allein um einen zufälligen Mord als phy- sischen Angriff auf Leib und Leben. Es geht um die Verkettung von symbolischen und realen Funktionen – geht doch die Anrufung Gottes einher mit der Maßregelung des Sohnes, der zeitgleich die Schärfe seiner Waffe prüft, um sich den Aufstän- dischen anzuschließen. Diese Schlusskonfiguration ist jenseits der a-personalen, auf die Massenszenen hin abgestimmten Konzeption des Dramas angesiedelt. Sie verweist auf ein psychisches Handlungs- und Antriebsmodell, das, anders als im Friedensfest, nicht als fehlschlagender Bruderbund gegen die väterliche Autorität horizontal polarisiert. Die Richtung der Kämpfe ist eher in der Vertikalen zu suchen, entlang der altbekannten Triade von religiöser Instanz, Vaterrolle und Sohnesfigur – die, wie um diesen Kreis zu schließen, den Namen Gottlieb trägt. Diese Allianz bildet das familiäre Bezugssystem zwischen den Personen aus, das von einer tran- szendenten Projektion her seine energetische Kraft bezieht. Sie hat die Normen und Werte geprägt, die im Aufstand der Weber ebenso auf dem Spiel stehen wie der materielle Gewinn aus ihrer Arbeit. Sie bedingt die letztlich die durch Militär und Polizei institutionalisierten Gewaltakte und damit den tödlichen Schuss auf den alten Weber – ein durchaus mit Fug und Recht religions- und kulturkritisch zu nennendes Modell. Ich fasse zusammen: In Hauptmanns frühen Dramenkonstellationen hat sich ver- dichtet, was die Gründungsdiskurse von Soziologie und Psychologie am Aus- gang des 19. Jahrhunderts fast zeitgleich ausdifferenzierten: der Zusammenhang von äußerer und innerer Handlungsmotivation. Das schließt auch gewaltförmige Konfigurationen mit ein. Zur Faszination für ein modernes Publikum mag es mit beigetragen haben, dass diese Ausdifferenzierung eines Feldes, das in der klassi- schen Dramenlehre noch eng beieinander lag, nicht wenige Entäußerungen von Verdrängtem ans Licht gebracht hat. Freud lieferte mit seiner psychoanalytischen Kulturtheorie einen Erklärungsansatz zur Bedeutung des Inzests als Tatmotiv und

44 Ebd., S. 97. 45 Ebd., S. 102. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 35 der ambivalenten Rolle der väterlichen Autorität für den Kulturprozess. Haupt- manns frühe Stücke zeigen, dass diese beiden neuen Erkenntnisse kein Privileg einer späteren Ausdifferenzierung zum wissenschaftlichen Diskurs ausmachen. Das kulturtheoretische Denken, es beginnt auf der naturalistischen Bühne. Inso- fern ist dem zuzustimmen: Die große Öffentlichkeit des Theaters nimmt lediglich bereits vorweg, was in der kleinen Öffentlichkeit des Sprechzimmers sich später tausendfach wiederholen wird. Ob die Monopolstellung dieses Deutungsansatzes im bürgerlichen Lager des dar- auffolgenden 20. Jahrhunderts die Differenziertheit und Flexibilität menschlichen Verhaltens jedoch hinreichend zu erklären in der Lage ist, dürfte auch einhundert- fünfzig Jahre nach Hauptmanns Geburt nicht zweifelsfrei erwiesen sein.

Louis Ferdinand Helbig Berlin / Les Echelles

Geschichte und Gegenwart in Gerhart Hauptmanns Jugenddrama Germanen und Römer

Vor hundertdreißig Jahren geschrieben (1882), achtzig Jahre später erstmalig veröf- fentlicht (1963) und somit seit fünfzig Jahren gedruckt zugänglich – und trotzdem bis heute ohne Uraufführung. Wie ist das zu erklären? Sucht man nach Antworten, weshalb Gerhart Hauptmanns Jugenddrama Germanen und Römer noch immer unerweckt in der Centenar-Ausgabe schlummert, wird an der Stelle anzusetzen sein, wo die Detailsuche nach des Dichters persönlichen Motiven abklingt und der Blick nicht mehr auf das Biographisch-Besondere, sondern auf das Historisch-Allgemeine gerichtet ist, auf die vielschichtigen Interessen des heutigen Theaterpublikums, vor allem die Geschichts- und Gegenwartsbezüge im Drama. Genau diesen Zusammenhängen beabsichtige ich nachzugehen, indem ich hauptsächlich die im Drama dargestellte Geschichte der alten Germanen und Römer in Betracht ziehe, zugleich aber auch – soweit es der abgesteckte Rahmen erlaubt – Hauptmanns zeitgeschichtliche Umwelt mit ihren machtpolitischen Gegebenheiten. Schließlich sollen einige Vorausdeutungen sowie Rückblicke im Drama beleuchtet werden, wenn darin aus heutiger Sicht eine andere inhaltliche Dimension zu erken- nen ist als die ursprünglich in den Text hineingelegte. Diese drei Zeit- und Urteilsebenen sind der Gegenstand meiner Bemerkun- gen, denn ich betrachte Germanen und Römer im Folgenden weniger als ein Doku- ment von Hauptmanns künstlerischem Werdegang, was das Drama selbstverständ- lich auch ist, sondern als ein Drama über eine Zeit (von vor zwei Jahrtausenden), aus einer Zeit (dem Kaiserreich von 1871), aber gelesen und interpretiert in einer ganz anderen Zeit, nämlich der unsrigen. Vielleicht – so hoffe ich – lassen sich daraus am Beispiel dieser sich vielfach überlagernden Bedeutungsschichten einige Rückschlüsse hinsichtlich der Aufführbarkeit des Dramas ziehen. 38 Louis Ferdinand Helbig

Zunächst aber einige kurze Angaben zur Geschichte des Dramas und sei- ner schließlichen Erstveröffentlichung.1 Unberücksichtigt bleibt dabei die Über- reichung einer Kopie des Textes an seine Verlobte im Jahre 1882, denn daraus ergab sich naturgemäß keine Rezeption in der Kritik und der Öffentlichkeit. Die erste wissenschaftliche Rezeption, die auf das Jahr 1929 zurückgeht, verdankt die Hauptmann-Forschung Walter A. Reichart.2 Man geht nicht fehl, seine Arbeit als erste Bestandsaufnahme zu betrachten. Ihr Hauptaugenmerk gilt dem werdenden Dichter und seinen Motiven – ein durchaus legitimes, aber doch begrenztes Unter- fangen. Sehr viel breiter behandelt Klaus Hildebrandt das Verhältnis des Dichters zur Geschichte. Er zeigt im Jahre 1965, dass der fünfzehnjährige Hauptmann im Jahre 1877 im Breslauer Lobe-Theater eine Aufführung von Kleists Hermannsschlacht (1808) sah, die ihn nachhaltig beeindruckte. Es sei dieses Werk gewesen, das Haupt- manns Interesse an den Germanen geweckt und ihn zu einem ungewöhnlichen Schritt veranlasst habe: „Bereitwillig ließ sich der Heranwachsende im Herbst des Jahres 1877 in eine Blutbrüderschaft aufnehmen, die einen ‚pangermanischen Welt- staat‘ zum Ziele hatte.“3 Soviel einleitend zu diesem Schaffensmotiv Hauptmanns, das sich auch in mehreren seiner Nachlass-Fragmente feststellen lässt.4 Zu Hauptmanns früh beginnender und dann lebenslanger Neigung zu histo- rischen Themen ist noch anzumerken, dass er als Schüler nicht nur durch Kleists Hermanns-Drama beeindruckt und beeinflusst wurde, sondern ebenso durch eine Aufführung von Shakespeares Hamlet. Felix A. Voigt schreibt, „bereits das erste, bislang noch ungedruckte Jugenddrama, ‚Germanen und Römer‘, zeigt einen sehr deutlichen Einfluß von dieser Seite, und dieser lebensvolle Strom geht hin bis in

1 Diesem Aufsatz liegt die anlässlich der Jahrestagung der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft zum 150. Geburtstag des Dichters vorgetragene Fassung zugrunde (Erkner (16.-18. Nov. 2012). Gerhart Hauptmann: Germanen und Römer. In: Centenar-Ausgabe, Bd. VIII. Hg. v. Hans-Egon Hass. Frankfurt/M.; Berlin 1963. S. 61-191. – Statt der üblichen Zitierweise, z.B. „CA/VIII/Seite(n)“ werden in der Folge lediglich die Seitenangaben in runden Klammern verwendet. -- Der Beitragstext folgt der neuen Rechtschreibung nur insofern, als das stimmlose „ß“ mit „ss“ wiedergegeben wird, ausgenommen bei Zitaten. 2 Walter A. Reichart: ‚Germanen und Römer‘. In: PMLA (Publications of the Modern Language Association), 44, 3/1929, S. 901-910. – Vgl. seinen Aufsatz Hauptmann before ‚Vor Sonnenaufgang‘. In: JEGP (Journal of English and Germanic Philology), 28, 1929, S. 518-531; wiederabgedruckt in: Ein Leben für Gerhart Hauptmann. Aufsätze aus den Jahren 1929-1990. Hg. v. Klaus Hildebrandt in Zusammenarbeit mit Holger Pingel. Berlin 1991. (= Veröff. der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft; 5). S. 15-25. Dieser Aufsatz wiederholt wesentliche Punkte des PMLA-Aufsatzes von Walter A. Reichart zu Germanen und Römer. 3 Klaus Hildebrandt: Gerhart Hauptmanns Verhältnis zur Geschichte. Diss. Univ. Erlangen- Nürnberg, 1965. S. 3. 4 Gerhart Hauptmann: Odins Klage zur Römerzeit. In: CA/XI/605; Germanias Befreiung. In: CA/ XI/607f.; Hermann, 1. Gesang. In: CA/XI/609-629; Hermann, 2. Gesang, Fragment. In: CA/ XI/635-639. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 39 das Alterswerk des Dichters“.5 Shakespeare und Kleist, sie sind die großen Anre- ger einer langen Reihe von Hauptmanns historischen Dramen und die wichtigsten äußeren Einflüsse, die inGermanen und Römer wirksam werden.6 Ob sich dieser offizielle Stand der Forschung ergänzen ließe, indem man Georg Büchner hinzufügt, ist bisher nicht nachgewiesen. Immerhin will mir scheinen, dass ein Vergleich von Hauptmanns Germanen-Drama mit Büchners Revolutions-Drama Dantons Tod (1835) reizvoll wäre, nicht nur hinsichtlich ihrer Lebensalter und der Länge ihrer Schaffenszeiten: Hauptmann vollendete das seine als Achtzehnjähriger in vier Monaten, Büchner (1813-37) seines als Einundzwanzigjähriger in vier Wo- chen.7 Dass sich in Germanen und Römer auch Friedrich Schillers Freiheitsideal widerspiegelt, wird noch zu zeigen sein. Was den jungen Hauptmann im Innersten bewegt haben mag und, wie die stereotype Formel lautet, ‚was er eigentlich sagen wollte‘, das – ich möchte dies nachdrücklich betonen – bleibt zweifellos interessant und wichtig, kann aber im- mer nur ein Aspekt der Interpretation bleiben. Schließlich lassen sich weder der Wissenshintergrund des kaum zwanzigjährigen Hauptmann noch seine Emotionen mit Sicherheit rekonstruieren. Neues bietet hierzu eine auf Kenntnis und Einfühl- samkeit gründende, kürzlich veröffentlichte Interpretation des Zusammenhangs zwischen Leben und Werk im Drama Germanen und Römer. Wir verdanken sie – dies ist kaum überraschend – Peter Sprengel, vor allem im Hinblick auf das schaffenspsychologische Moment. Es scheint mir notwendig, dass ich wenigstens kurz auf das einleitende Kapitel von vierzig Druckseiten seines Buches Abschied von Osmundis (2011) eingehe. Als die grundlegende „Musendichtung“ bezeichnet er dort Hauptmanns Drama: Dichtung über die zeitlich erste Muse seines noch jungen Lebens, unbeschadet des Weiterwirkens der genannten Geschichtsdramen.8 Sprengel schreibt: „Für den jungen Hauptmann dagegen stellt die in der Figur der Muse anvisierte Vermittlung von Geist und Sinnlichkeit ein jahrelang und mit

5 Felix A. Voigt; Walter A. Reichart: Hauptmann und Shakespeare. Ein Beitrag zur Geschichte des Fortlebens Shakespeares in Deutschland. 2., neubearb. Aufl. Goslar 1947. S. 12. 6 Unbekannt ist, ob der junge Hauptmann Büchners Drama Dantons Tod (1835) kannte, das 1879 von Karl Emil Franzos veröffentlicht wurde und das Hauptmann möglicherweise in seinem Naturalismus- Vortrag um 1890 vor dem Literarischen Verein „Durch!“ erwähnt hat. 7 Auch der Vergleich des Textumfanges einzelner Schlüsseldramen Hauptmanns wäre sinnvoll: Die Weber (1892), 80 Seiten; Vor Sonnenaufgang (1889), 90 Seiten; Germanen und Römer (1882), 130 Seiten, d.h. eine eventuelle Aufführung des Germanen-Dramas müsste erheblich gekürzt werden. 8 Vgl. auch GHs Redaktion und Herausgabe des Shakespeareschen Dramas: Gerhart Hauptmann: William Shakespeare: Die tragische Geschichte von Hamlet, Prinzen von Dänemark, in deutscher Sprache neu übersetzt und eingerichtet von Gerhart Hauptmann. Gedruckt von . Weimar 1928. 40 Louis Ferdinand Helbig beachtlicher Konsequenz verfolgtes Ziel dar. Wir erkennen in ihm vielleicht die eigentliche Basis seines Frühwerks.“9 Diesem Befund kann man in jeder Hinsicht beipflichten. Sprengel verweist einerseits auf die „germanophilen Tendenzen seiner Ju- genddichtung“, betont aber zugleich Hauptmanns Ironie, mit welcher der Dichter auf seine Anfangszeit zurückblickt, als er „die Gestalt eines idealen Marsen-Mädchens“ namens Osmundis einführt.10 In seinem Drama sind die Marsen einer von insge- samt zehn germanischen Stämmen, vertreten durch ihre ‚Fürsten‘, eigentlich wohl Stammeshäuptlinge; es ist der Stamm, wie Hauptmann in seiner Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend schreibt, den er mit der Varus-Schlacht-Handlung einfach „irgendwo in den deutschen Urwald“11 verlegt habe, nicht etwa in den schon damals historisch festliegenden Teutoburger Wald mit dem 1875 eingeweihten Hermanns-Denkmal. Sprengel gelingt der Nachweis, dass dem angehenden Dichter das Marsen-Mädchen – autobiographisch: Anna Grundmann – wichtiger war als die meisten anderen Gestalten. Keine Frage: Osmundis, Tochter des Schmieds von Teutoburg, ist die domi- nante Figur in Germanen und Römer. Mit dem Ausruf „Die Knechtschaft träumt von Freiheit“ beschwört sie das Thema dieses Stückes, und gleichsam als Beweis erscheint in ihrem Eingangs-Monolog der Adler als germanisch-deutsches Wap- pentier: Wie dort jener Aar sich wiegt, als wären keine Römer in Germanien, als gäb‘s keine Ketten in Germanien, so frei, so herrlich! Römer, fesselt ihn, greift aus mit list‘ger Zunge, gier‘ger Klaue, lüsternen Blicks und holt ihn euch herab! Springt leidenschaftlich empor. Versucht‘s, versucht‘s, ha, ha! In sich sinkend Deutschland! Deutschland! Dich hält‘s umklammert, dieses Rom, Gen Himmel weisend und er – – ist frei! (65f.)

9 Peter Sprengel: Abschied von Osmundis. Die Musendichtungen des jungen Gerhart Hauptmann: Dichtung und Deutung. In: Ders.: Abschied von Osmundis. Zwanzig Studien zu Gerhart Hauptmann. (= Hauptmanniana; 5). 2011. S. 9-51; hier S. 51. 10 Sprengel, ebd., S. 11. 11 CA/XI/822. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 41

Der deutsche Adler fliegt frei. Deutlich zu erkennen ist im Klagelied der Osmundis die Vorstellung von den Germanen als Sklavenvolk, das sich nach Befreiung sehnt, einer Freiheit – wie die Geschichte der Völker immer wieder zeigt, meist unter Beibehaltung der von den Unterdrückern und Besatzern hinterlassenen kulturellen Errungenschaften. Es ist dem jungen Hauptmann hoch anzurechnen, dass er den römischen Feldherrn Publius Quinctilius Varus (46 v. Chr.-9 n. Chr.) als Sympa- thisanten der freiheitsuchenden Germanen darstellt, wenn er Hermann als Sieger der Schlacht ganz am Ende des Dramas angesichts seiner Leiche in seinen Schluss- Monolog, der Anerkennung und Dank gegenüber Varus ausdrückt, sagen lässt: HERMANN (...) Ein Gedenken, ein stilles Gedenken weih‘ ich dir. Laut zu den andern Ihr aber, stecket grüne, frische Reiser an eure Helme! Jubelt, tanzt und singt, und „Freiheit“ schalle wider von den Bergen! Des Stromes Quelle und im Grund die Wurzeln, die Nachtigall soll dieses Tönen hören und ihren matten Klageton vergessen bei diesem Donnerworte: „Freiheit! Freiheit!“ Eber [= der Schmied, LFH] gibt den andern Germanen ein Zeichen. Diese drängen mit ihm heran und heben Hermann unter wildem, unbändigem Jubel auf den Schild. Währenddessen ist die Sonne aufgegangen. ALLE Freiheit! Freiheit! (191) Was lässt sich daraus schließen? Germanen und Römer – ein Freiheitsdra- ma? Ja, und nein. Nein, denn die ‚Versklavung‘ der germanischen Kultur, die den Römern angelastet wird, war sicher auch eine ‚Selbstversklavung‘, verstärkt durch Zwietracht und freiwilligem Verharren in unfreien Verhältnissen. Ja, denn so gese- hen könnte man die römische Kultur ‚vor Sonnenaufgang‘ der germanischen eher als freiheitbringend verstehen, da sie die primitiven germanischen Lebensverhält- nisse überwinden half. Klar ist, dass den Germanen als späteren Deutschen damit der geschichtliche Auftrag in die Hände gelegt wurde, ‚nach Sonnenaufgang‘ einen Weg in das Zeitalter zu finden, das man später die Moderne nennen wird. Ergänzend ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Gerhart Hauptmann noch 1880 – als kaum Achtzehnjähriger – in seiner epischen Dichtung „Hermann“ ganz 42 Louis Ferdinand Helbig von der römischen Unterdrücker-Rolle überzeugt war, wie diese an eine Osmundis- Gestalt gerichteten Zeilen bezeugen: Es ist dir bekannt, wie der Römer bedrücket das Volk deiner Väter und wie verderblich der Varus thronet an Rhein und Weser; wie er knechtet den Freien mit Knute und Peitsche und Zehnten fordert als mächtiger Zwingherr; (...) (...) wie ruchlos mit Stäben und Rutenbündeln die röm‘schen Liktoren die Lande durchstreifen (...)12 Weitere Anklagen folgen. Sie reißen kaum ab im Verlauf des 19. Jahrhun- derts, liest man etwa in Conrad Ferdinand Meyers „Huttens letzte Tage“ (1872) Zeilen wie diese, die den römischen Einfluss von außen und innen zu einer anderen Zeit sowie den Erfolg deutscher Gegenwehr beschwören: Der Römling, der in unsern Landen haust, Erbleicht vor der geschienten Edelfaust!13 Zeilen sind dies, die man sprachlich einem Ritterschauerdrama zuordnen könnte, die aber zu Beginn des Zweiten Kaiserreiches bestätigen, dass es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Neuauflagen des alten Nord-Süd-Streites gegeben hat: hier die geschienten Fäuste edler, freiheitsliebender Recken, dort, und auch hier schmarotzend, die nutznießenden „Römlinge“ als Unterdrücker. Wie man sieht, die Mentalität hat sich jahrhundertelang kaum geändert. Durchaus bemerkenswert ist es daher, dass ein noch nicht Zwanzigjähriger vor nunmehr einhundertdreißig Jahren diesen Weg wenigstens in Umrissen angedeutet und seine vielschichtige Problematik dramatisch dargestellt hat. Merkwürdig bleibt dabei allerdings, dass die Germanistik die bereits anvisierte Doppel-Problematik in Hauptmanns Germanen- und Römer-Drama bisher kaum wahrgenommen hat, denn

12 Gerhart Hauptmann: Hermann, 1. Gesang. In: CA/XI/609-629; hier S. 622. 13 : Huttens letzte Tage. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Robert Faesi. Bd. 2. Berlin o.J. S. 247-333; hier S. 288-291. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 43 schließlich verarbeitet Hauptmann darin nicht nur Persönliches und Persönlichstes, sondern in gleichem Maße allgemeine geschichtliche Entwicklungen. In der Tat, „Osmundis ist eine zentrale Figur der – erst posthum publizierten und wenig er- forschten – Jugenddichtung Hauptmanns“14 – so Sprengel. Germanen und Römer ist aber auch – und darum geht es mir – das Drama der in zeitbedingte Mythen und Bilder gekleideten, wenn auch nur bedingt theaterreifen Nationenwerdung der Deutschen (‚nation building‘). Man braucht an dieser Stelle nur auf die heute – N.B. mit Unterstützung internationaler Organisationen – stattfindende Schaffung zahlreicher neuer Natio- nen zu verweisen, oft ohne besondere sprachliche oder kulturelle Merkmale, um im Prozess der deutschen Nationenwerdung nicht von vornherein etwas schon im Ansatz Ungerechtfertigtes, Politisch-Inkorrektes, ja Böses zu sehen. Gewiss war Arminius/Hermann, wie Tacitus ihn nennt, eine Art Befreier, ‚Germaniae Libera- tor‘, und es ist deshalb sicherlich berechtigt, im Blick auf den Volksaufstand vom Teutoburger Wald „von einem ersten Erwachen ‚nationalen‘ Geistes“ zu sprechen.15 Die Handlung von Germanen und Römer lässt auch als „Kampf der Kultu- ren“ verstehen – etwa im Sinne von Samuel Huntingtons irreführend ins Deutsche übertragenem Buchtitel vom „Clash of Civilizations“ (1996).16 Richtig übersetzt müsste es jedoch statt „Kampf“ eher Zusammenprall oder Aufeinandertreffen hei- ßen, auch wenn dieser Vorgang, wie die Varus-Schlacht zeigt, nicht immer gewaltlos war. In der Langzeitperspektive handelt es sich im Falle vergleichbarer historischer Entwicklungen um das weitgehend friedliche Aufeinandertreffen von Kulturen – hier der römischen und der germanischen. Dass sich Harald Müllers Begriff vom „Zusammenleben der Kulturen“ (1998) inzwischen durchgesetzt hat, wenigstens für den europäischen Raum, Rom und Germanien eingeschlossen, ist deshalb zu begrüßen.17 Ich meine, Hauptmanns Stück behandelt eben dieses Aufeinandertref- fen der römischen und der germanischen Kulturkreise und nur vordergründig den „Kampf“, die Varus-Schlacht. Die Berührung der beiden Kulturen war damals längst in ein fortgeschrittenes Stadium eingetreten. Wenn trotz teichoskopischer Einlagen die Schlacht eigentlich ein Hintergrundspektakel bleibt, ist das vielleicht ein Beweis für diese geschichtliche Tatsache. Eine Schlacht zweier Heere oder Armeen hatte

14 Sprengel, a.o.O., S. 10, der dort den Aufsatz von Heinz Dieter Tschörtner anführt: ‚Germanen und Römer‘ im Werk Gerhart Hauptmanns. Ein Lebensthema im Überblick. In: Ders.: Unaufhörlich bläst das Meer. Würzburg 1996. S. 12-35. – Erstveröff. in: Schlesien: Kunst, Wissenschaft, Volkskunde 34/3, 1989, S. 170-176; 35/4, 1990. S. 223-229. 15 Hubertus Prinz zu Löwenstein: Römisch-Germanische Ursprünge. In: Ders.: Deutsche Geschichte. 5., neu bearb. u. erw. Aufl. München 1976.S. 38-44; hier S. 41. 16 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1996. – Der Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München/Wien 1996. 17 Harald Müller: Das Zusammenleben der Kulturen. Frankfurt/Main 1998. 44 Louis Ferdinand Helbig bei Kalkriese in der Nähe des Teutoburger Waldes bestimmt nicht stattgefunden, eher waren das überfallartige Gefechte und Metzeleien – Hubertus zu Löwenstein etwa liest den Bericht des griechischen Geschichtsschreibers Dio Cassius „wie eine Schilderung der Dschungel- und Guerillakämpfe aus Vietnam und Kambodscha der siebziger Jahre“.18 Eine noch weiter entwickelte friedliche Koexistenz – man darf 2012, ihrem Jubiläumsjahr, an die EU denken – findet beim jungen Hauptmann, weitsichtig oder bloß zufällig, immer wieder Ausdruck, etwa wenn Severus, ein römischer Jüng- ling und Dichter-Aspirant wie jener, „waffenlos und ohne Rüstung, ein Täfelchen und Griffel in der Hand“ (66), sich des längeren in fließendem Germanisch mit Osmundis unterhält. Man darf fragen: Wie passt eine solche Szene am Vorabend einer von den Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts hochgespielten epochalen Völkerschlacht zum Stereotyp des ‚hier terroristische Rebellen, dort rücksichtslose Okkupanten‘? Ohne sich dessen bewusst zu sein, verhilft Osmundis Severus zur Flucht, als sich germanische Trupps nähern; als dieser ihr dankt, wundert sie sich: „Ich wußte nicht, daß Römer danken können.“ (70) Man erkennt: Römer können ‚gut‘ sein – gewiss auch ‚schlecht‘, ebenso wie mancher Germane. Aber wer ist wer im ethnisch-kulturellen Sinne? Ein Gespräch zwischen Segest – bis zu seiner Selbsttötung Fürst der Cherusker – mit Varus über Hermann/Arminius, der Segests Tochter entführt hatte, verdeutlicht diese Frage. Segest zu Varus: Hermann ist ein Germane. Ich, Herr, war ein Germane, bin ein Römer. Hermann haßt alle Römer – wieviel mehr den Überläufer. So ist er mein Feind, der mich verachtet, den ich dafür hasse.

VARUS in Gedanken Hermann ein Feind der Römer? SEGEST Ja, beim Thor! Er ist‘s. VARUS Ein Feind des Varus, der ihn liebt? (84) Deutlich tritt in dieser Szene die ethnisch-kulturelle Vermischung zutage, die lange vor der Schlacht eingesetzt und sich danach noch verstärkt hatte. Segest schwört „beim Thor“ so wie Hermann als Arminius – dabei in römischer Rüstung,

18 Hubertus Prinz zu Löwenstein: Römisch-Germanische Ursprünge, a.o.O., S. 39. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 45 er ist praktisch der Adoptivsohn des Varus – dessen Sklaven mit „Thor schütze Dich, Selin“ (85) begrüßt. Wie man sieht, die Vermischung hat bereits den Götterhimmel erreicht. Liebe – durchgehend ein großes Thema in Germanen und Römer. Fast wie ein Liebesdrama liest sich besonders der Zweite Aufzug, wenn Osmundis die blinde Siegtraut, Tochter des Sängers Sigwin, mit dem römischen Jungdichter Severus – Hauptmanns Alter Ego – im Liebesgespräch antrifft. Osmundis zu Siegtraut: Es ist zwar nicht gemäß dem deutschen Blut, daß du den Römer liebst, doch bleibt‘s dabei, du liebst ihn, und ich weiß, Macht hat die Liebe noch über stärkre Herzen als das deine. Liebt dich der Römer wieder, wie du ihn, mehr wie sein Vaterland, Grimmig wie du es tust, er mag‘s beweisen. Wenn er‘s denn bewies, sei du sein Weib! (97) Diesmal jedoch gewinnt die Liebe nicht. Hermann erscheint in dem Au- genblick, als der römische Legat Numonius im Heer des Varus sich der blinden Siegtraut bemächtigen will und wird so anscheinend Zeuge, wenn Eber, Vater von Osmundis, Numonius mit dem Hammer tötet. Die Schlacht steht nun unmittelbar bevor. Hermann: Die Flamme glimmt und flackert: Heil, Deutschland, Heil! Bald rast sie durchs Geäst, römisches Eisen schmelzend, Ketten brechend. (109) Spätestens hier wird offenbar, wie Hauptmann den Akzent vom Land der Germanen auf ein zeitgeschichtlich noch nicht bestehendes Deutschland verlegt: Germanen und Römer wird zum patriotischen Drama, aus heutiger Sicht zum nationalistischen Drama. Jedenfalls kann es als solches gelesen und könnte somit heute bei jeglichen Spielplan-Überlegungen kategorisch ausgeschlossen werden. Es heute ‚nationalistisch‘ zu inszenieren, wäre selbstverständlich unerwünscht, es sei denn, man würde die modernen, europäischen, nichtnationalistischen Aspekte herausarbeiten, etwa wenn – auch im Drama zur Überraschung aller – Varus in seinem „Palast“ (115); stand dieser denn im Teutoburger Wald? – die Freilassung der Gefangenen Eber und Sigwin befiehlt und dadurch seinen Respekt erweist vor den Motiven der Germanen – heutiges Argument: vor deren Kultur und Gebräuchen, also politisch korrekt. 46 Louis Ferdinand Helbig

Doch zurück zur Handlung. Der Bruderzwist zwischen Flavus, dem gänzlich romanisierten Verräter, und Hermann/Arminius als insgeheimem ‚Deutschen‘, ver- mag die Schlachtvorbereitungen allerdings nicht aufzuhalten. Mit „Nacht, Sturm, Gewitter“ (130) beginnt der Vierte Aufzug, aber die Götter verweigern ihren Segen: SEGEST unmutig Flavus, die Götter hassen uns! FLAVUS Tote Götter können nicht hassen! und die lebenden lieben uns. Jupiter ist der Götter Vater, und ihm werde ich ein Opfer bringen, wie es noch kein Großer dieser Welt gebracht hat. Ganz Deutschland! (131) Das politische Machtspiel des Flavus, der gegen seinen Bruder und den germanischen Machthaber Marbod im damaligen Böhmen selbst alle Germanen zu regieren plant, geht nicht auf: Flavus als römisch-germanischer Vasall, „Weil ich Heerkönig werden will und muß!“ (133). Hier erhebt sich die Frage: Wie soll allein diese komplizierte Konfliktlage auf heutiger Bühne gezeigt werden? Es folgt die großenteils teichoskopische Szenenfolge des Thing (134-154), die längste zusammenhängende Passage im Stück. Die Germanenstämme mit ihren Anführern sammeln sich, jeder mit viel Fußvolk „aus einer Seitenschlucht“ kom- mend – man fühlt sich an Schillers Wilhelm Tell erinnert, bei Hauptmann darstellbar wohl nur in einem Freilichttheater: FLAVUS Hermann führt die römischen Legionen, unsere aufständischen Brüder fester ins Joch zu spannen, Und Marbod, so geht das Gerücht, steht ihm bei. (138) Obwohl sein Ausruf „Bei Jovis Thron“ (141), den Flavus unbedacht ausstößt, ihn als ‚Römling‘ verrät, bleibt dies unbemerkt, und so ist er es, der als erster zum Heerkönig gekürt wird und als solcher alle Germanenstämme anführen würde. Tu- multartige Szenen folgen, die darin ihren Höhepunkt erreichen, dass Hermann sich als „Deutscher“ (144) zu erkennen gibt, dem Schmied Eber den Hammer entwindet und sich als Heerkönig hochleben lässt. Die Verschwörung von Flavus und Segest fliegt auf, Hermann bekennt seine wahre Identität und seinen Schlachtenplan: Wohl zieh‘ ich aus mit Römern gegen Deutsche, [LFH: Germanen dienten zahlreich in römischen Legionen] der letzte bittre Trank ist‘s, den ich trinke, der letzte, Brüder, und die letzte Lüge. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 47

(...) (...) Was werd ich wohl mit jenem Heere tun? Antwortet, Brüder! – Führen will ich es an einen Abgrund, also jäh und tief, daß einem Adler davon schwindeln sollte! (151) Da fliegt er wieder, der Adler der Osmundis! Alle haben nun begriffen, was Hermann vorhat, auch Segest, der sich den Tod gibt und sich noch im Sterben mit seiner Tochter und Hermann versöhnt. (153f.) Mord und Tod häufen sich. Sigwin sieht sich gezwungen, die Liebe seiner Tochter Siegtraut zu Severus zu rächen. Wie damals in der germanischen Kultur – und bis heute in anderen Kulturen – zu erwarten, begeht Sigwin nach uralter Sitte Ehrenmord an seiner Tochter: „Fahr hin, du Metze!“ (162). Ihn hatte die römische – heute müsste man sagen: westliche – Kultur noch nicht erreicht. Osmundis ist nicht ganz unschuldig daran, hatte sie sich doch selbst zu Severus hingezogen gefühlt. Sie bekennt der zur Tötung bestimmten Siegtraut: Wisse denn, wie ich die Sache hin und her erwog, die spielet zwischen dir und jenem Römer, da kam mir doch zuletzt die Reue. Ja! ich sah es ein, die Kluft ist allzu tief, die zwischen Römern und Germanen gähnt, und wohl zehntausend Römer-Feldherrn deckten mit ihren blut‘gen Leichen sie nicht zu, wie denn der eine! (158) Inzwischen beginnt die Schlacht, wobei daran zu denken ist, dass die Hand- lung des Dramas einen Tag dauert, dazu die Nächte davor und danach: ein durchaus moderner und untersuchenswerter Aspekt bei Hauptmann. Hermann beschwört die alten Götter: Nun sei mir gnädig, Donar, Gott der Wolken! Stoß auf das Tor Walhalls, daß Balken krachen und immer bebt Walvaters Thron! (167) Varus ahnt nichts davon. Außerdem hat er – wie das Drama zeigt – seit langem große Pläne für Arminius, seinem Ziehsohn-Adoptivsohn. Hauptmann betont mehrfach die positive historische Rolle des Varus und zeigt, wie modern er 48 Louis Ferdinand Helbig dachte – bis in die Zeit nach Hauptmanns Tod und in unsere Zeit hinein modern. Im Drama selbst hat Hermann das freilich nicht wissen bzw. beurteilen können: VARUS: Vielleicht – wird er einmal Roms größter Feldherr, und dann vielleicht, wenn er die Macht besitzt, Befreier seines Volkes. O dies Volk! Dies arme, arme Volk! (171) Hier wird überdeutlich, wie Hauptmann den Feldherrn Varus als heimlichen Sympathisanten der freiheitsuchenden Germanen erscheinen lässt. Einen „deut- schen Falken“, den er heranzieht, sieht Varus in Arminius. Folgerichtig nennt Haupt- mann sein Schwert ein Instrument der „Volksbedrückung“ (171). An solchen Stellen wird erkennbar, was Heinz Dieter Tschörtner als „pazifistische, völkerverbindende Tendenz“ in diesem Drama bezeichnet hat.19 Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn Severus, der unkriegerische Künstler, den Varus zum Vorlesen in sein Zelt bestellt, sich nicht in der Lage sieht, dem Feldherrn das von ihm verfasste Liebesgedicht an Siegtraut anzuvertrauen. Trotz verordneter Ehrenwache mit gezücktem Schwert – Hermann verspottet ihn deshalb als „mächt‘ger, großer Krieger“ (173) – kann Severus niemals Krieger sein und fühlt sich als Dichter gespalten zwischen Völkern und Kulturen: Doch – mein Volk – mein Volk? Was da, mein Volk! Ist ihr Volk nicht mein Volk? Ist es nicht eine Erde, die wir teilen, sind wir nicht Menschen alle, ihr Volk, mein Volk? Wer gibt uns Recht, die Deutschen zu verdrängen, zu zücht‘gen, zu berauben? (172) Als Friedensdrama erscheint uns Germanen und Römer hier – kaum einen über- zeugenderen Grund würde es geben, eine Uraufführung zu wagen, wäre da nicht diese patriotische, aus heutiger Sicht nationalistische Kehrtwende. Noch ist die Schlacht nicht entschieden. Varus macht Hermann zu seinem Sohn; Flavus versucht vergeblich, die Macht an sich zu reißen; es ertönt „zuletzt zu donnerndem Getöse anschwellend, der Schlachtgesang der Germanen“; Hermann bläst zum letzten Gefecht: HERMANN Erwache, deutsches Volk!

19 Heinz Dieter Tschörtner: ‚Germanen und Römer‘ im Werk Gerhart Hauptmanns. Ein Lebensthema im Überblick. In: Ders.: Unaufhörlich bläst das Meer. Würzburg 1996. S. 12-35; hier S. 16. Stimme/n der Gewalt. Gerhard Hauptmanns frühe Dramen und die Kulturtheorie 49

und schleudre die Tyrannenketten nieder wie morschen Zunder! Nun erwache, Deutschland! (182f.) Unmöglich wäre es, solches Säbelgerassel auf heutigen Bühnen erschallen zu lassen; allzu gegenwärtig ist immer noch der Sachsenmarsch „Deutschland, erwa- che!“ (1937) des NS-Regimes. Freilich, man könnte das ganze Stück ins Grotesk- Komische umkippen, etwa à la Monty Python. Hoffentlich wird kein Regie-Theater dies oder Ähnliches versuchen wollen. Denkbar wäre eher eine Regie-Theater- Bearbeitung, die das Versöhnende, Pazifistische inGermanen und Römer betonen würde. Das wäre zeitgemäß, doch die belasteten und belastenden nationalistischen Parolen und die pathetische Sprache stünden dem im Wege. Die Frage nach einer Uraufführung lässt sich deshalb wohl nur mit einem bedingten Ja beantworten – trotz des starken Versöhnungs-Schlussakkords in der letzten Szene von Osmundis und Severus mit dem greisen Sänger Sigwin, der als Hinterlassenschaft seine Vision einer humaneren Zukunft ausspricht, geläutert im Augenblick seiner Selbsttötung: SIGWIN Indes ich wandre nach dem großen Saal, wo Römer und Germanen friedlich wohnen, wo alles, was getrennt auf Erden war, trotz allen Strebens nach Vereinigung, sich endlich findet. (190) Nach diesem vielleicht utopischen, aber immerhin optimistischen Bekenntnis gegen Ende von Germanen und Römer bleibt – wenn man so will – der nichtnati- onalistische Ruf nach Freiheit, in den, wie anfangs zitiert, ALLE einstimmen mit dem Donnerworte: „Freiheit! Freiheit!“ (190). Freiheit wovon und Freiheit wozu – daran wird allerdings noch zu denken sein. Soweit meine Bemerkungen zu diesem vielleicht doch aufführungswürdigen historischen Gegenwartsdrama.

Hauptmanns Jesus-Studien

Renata Dampc-Jarosz Katowice

Hauptmanns Jesus-Studien

Gerhart Hauptmann begann die Arbeit an den Jesus-Studien im Winter 1885/86 in Erkner. Im April 1889 las der Autor den Bekannten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille seine Jesus-Abhandlung vor; schon ein Jahr später teilte er Otto Brahm den Abbruch seiner Arbeiten mit.1 Hauptmanns Versuch, sich an die Figur von Jesus Christus anzunähern, beschränkt sich aber nicht nur auf diese Studien. Sein In- teresse für „den echten Christus und dessen Lehre“2, wie der Biograph Eberhard Hilscher Hauptmanns Verhältnis zu Jesus sehr treffend definiert, lässt sich sowohl biographisch als auch zeittypisch nachvollziehen. Der junge Hauptmann setzte sich in seiner Jugendzeit wiederholt mit religiö- sen Fragen auseinander. Des öfteren hörte er den erregten Diskussionen seiner Brü- der Georg und Carl zu, die darüber stritten, ob Jesus der Sohn Gottes oder bloß ein Mensch gewesen sei.3 Einen gewissen Einfluss übten auf die religiöse Entwicklung des jungen Hauptmann auch der Religionsunterricht beim Breslauer Lehrer Karl Schmidt aus und vor allem die Predigten der das baldige Weltende verkündenden Zisterzienser, die den Schüler in innere Unruhe versetzten, die dann nur die Lektüre des Neuen Testaments beheben konnte.4 Die Kontakte mit den Pastorenfamilien Gauda in Breslau und Schubert in Lederrose machten den künftigen Schriftsteller auf viele konfessionelle sowie religiöse Fragen aufmerksam, was unter anderem Wolfgang Leppmann in seiner Hauptmann-Biographie bemerkt.5

1 Vgl. editorische Bemerkung zu Hauptmanns Jesus-Studien in Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass, Bd. XI, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 1213. 2 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Berlin 1996, S. 272. Zu Hilschers Biographie vgl. Renata Dampc-Jarosz: „Ein tief bewegendes Phänomen“. Gerhart Hauptmann in der Biographie von Eberhard Hilscher. In: Eberhard Hilscher (1927-2005). Schriftsteller und Forscher der deutscher Literatur. Pisarz i badacz literatury niemieckiej. Hg. von Grażyna B. Szewczyk. Świebodzin – Katowice 2010, S. 193-202. 3 Vgl. Wolfgang Leppmann: Gerhart Hauptmann. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 1996, S. 31. 4 Vgl. Hilscher, (wie Anm. 2), S. 212. 5 Vgl. Leppmann, (wie Anm. 3), S. 273f. 52 Renata Dampc-Jarosz

Seit 1885 beschäftigte sich Hauptmann mit der Jesus-Figur sehr intensiv. Er las seine „Traubibel“6, studierte Glossen zu Evangelien, hauptsächlich die Schriften der Bibelforscher David Friedrich Strauss und Ernest Renan.7 Die Spuren dieser geistigen Faszination lassen sich in vielen späteren Werken Hauptmanns verfolgen: in der Novelle Der Apostel (1905), in den Dramen Hanneles Himmelfahrt (1893) und Michael Kramer (1900), und letztendlich im Roman Der Narr in Christo Ema- nuel Quint (1910)8. Bevor sich aber Hauptmann endgültig entschied, den Jesus-Stoff in seinen Werken aufzugreifen, setzte er sich mit der biblischen Gestalt Jesu zuerst rein persönlich auseinander; seine aus zwei Teilen bestehenden Jesus-Studien aus der Erkner-Zeit geben vor allem Dilemmata eines Menschen der Jahrhundertwende wieder, der Nietzsches Diktum vom ‘Tod Gottes’ hinterfragen will und genauso wie der Philosoph die Frage nach dem „Sinn des Lebens“9 erneut stellen muss. Gerade dies regt zur Erforschung seiner Studien an. Sie dokumentieren nämlich die Suche des jungen Schriftstellers nach Werten, die die Probezeit der Jahrhundertwende überstehen könnten; seine Jesus-Studien exemplifizieren die freimütige Kunst des Lesens und bekunden die Geistesfreiheit des Schriftstellers. Zuerst soll der Versuch unternommen werden, Hauptmanns Jesus-Studien vor dem Hintergrund der Christologie, einer Disziplin der Theologie, die sich mit der Person von Jesus Christus beschäftigt, zu präsentieren. Die Christologie, eine der ältesten und wichtigsten Wissenschaften der Bekenner des Christentums, verbindet dessen Vertreter und lässt sie am ökumenischen Dialog teilnehmen10. Auf dieser theologischen Basis sind folgende Fragen interessant: Inwieweit reihen sich Haupt- manns Studien in die Tradition der Christologie ein? Wo lassen sich zwischen dem Hauptmann‘schen Jesus und der Person Jesu als Gegenstand der christologischen Forschung Verbindungslinien herstellen? Es soll vor allem die Fixierung der christologischen Forschung auf den Pas- sionsweg Christi, den Tod und die Auferstehung von Gottes Sohn und im Weiteren auf die Bedeutung des Kreuzes hervorgehoben werden. Man versäumt dabei des Öfteren das Menschliche Jesu.11 Von den acht Themen, die der Katalog der Chris-

6 Vgl. Gerhart Hauptmann, (wie Anm. 1), S. 1213. 7 Vg. Hilscher, (wie Anm. 2), S. 272f. 8 Zu religiösen Aspekten im Werk Hauptmanns vgl. Renata Dampc-Jarosz: Kwestia religii w utworach prozatorskich Gerharta Hauptmanna. In: Gerhart Hauptmann. W sześćdziesiątą rocznicę śmierci. Hg. von. G. B. Szewczyk. Katowice 2006, S. 55-69. 9 Nach Volker Gerhardt war Nietzsche der Autor, der die Formel vom „Sinn des Lebens“ erst in Umlauf gesetzt hat. Vgl. V. Gerhardt: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988, S. 69. 10 Über die Definition und die Grundsätze der Christologie vgl. G. Strzelczyk:Traktat o Jezusie Chrystusie. In: Dogmatyka, Bd. 1.Hrsg. von Elżbieta Adamiak, Andrzej Czaja, Józef Majewski. Warszawa 2005, S. 237ff. Vgl. auch Walter Kasper: Der Gott Jesu Christi. Mainz 1982, besonders Teil II. 11 Vgl. Strzelczyk, (wie Anm. 10), S. 383. Hauptmanns Jesus-Studien 53 tologie aufgreift, zählt die Beschäftigung mit der Persönlichkeit Christi zu den schwierigsten, weil man in der Bibel selbst fast keine aufschlussreichen Angaben12 über dessen Person und Charakter findet. Hauptmann interessiert sich ausgerechnet für diesen Aspekt – auch er will Jesus als Person ergründen, ohne besonders auf seine Lehrtätigkeit oder die Wundertaten zurückzuschauen. Betrachtet man die sys- tematische Reflexion der Christologie, die sich über Jahrhunderte hin entwickelte, und dadurch zum einheitsstiftenden Prinzip unter den Christen wurde, so stellt sich heraus, dass Hauptmann weder bewusst noch zufälligerweise an frühere Autoren, die sich gedanklich mit Christus beschäftigten, anknüpft. Die christologischen Ge- danken von M. Luther, I. Kant, J. G. Fichte, W. J. Schelling, F. D. Schleiermacher oder G.W.F. Hegel hatten nur geringen Einfluss auf Hauptmanns Studien; auch die modernen Jesus-Theorien waren ihm im Hinblick auf die Begründung und Gedankenführung ziemlich fremd. Im Allgemeinen verbindet ihn mit den früheren Theorien eigentlich das Bestreben, Jesus als ein Modell des Menschlichen zu sehen. Hauptmann entzieht sich konsequent der systematischen Reflexion, auch die in der christologischen Forschung auftretenden Aspekte der Persönlichkeit Jesu finden bei Hauptmann keinen Niederschlag. Was ihn mit der Christologie tatsächlich verbin- det, ist der persönliche Charakter der Studien, der, der Pluralität der christologischen Forschung13 folgend, jedem Gläubigen zukommt, sowie der konkrete Bezug zu den Evangelien. Hauptmann beruft sich bzw. zitiert hauptsächlich aus zwei Evangelien: dem des Matthäus und des Johannes. Im Matthäus-Evangelium dominiert die Deu- tung Jesu als Messias, Gesetzgeber und Lehrer; Johannes betont hingegen Christi Offenbarung durch Wundertaten, Zeichen und Person, darüber hinaus die Identität Jesu mit Gott, dem Vater, wogegen Lukas und Markus in Christus vor allem die Erfüllung des göttlichen Plans erblicken, der alttestamentarischen Prophezeiung von der Ankunft des Messias.14 Die Evangelisten Johannes und Matthäus sind in Hauptmanns Studien vollends transparent, den Weg mit Jesus beschreitet aber der Autor selbst. Im weiteren Teil konzentriere ich mich auf zwei Aspekte der Jesus-Studien: auf die Persönlichkeit Jesu und das Unkonventionelle in deren Darstellung. Schon im ersten Satz lässt der Autor an der menschlichen Existenz Jesu keine Zweifel. Jesus von Nazareth ist für ihn „ein Mann, welcher keine größere Liebe kannte als die, daß man sein Leben für seine Feinde [läßt]“.15 Ebenfalls im

12 Vgl. ebd., S. 275. Zu den häufigsten Themen gehören: Menschlichkeit Christi, seine Verbindung mit dem Alten Testament, Vater-Sohn-Verhältnis, Christi Lehre, Wundertaten, Symbolik seiner Gesten, Christi Persönlichkeit, Passion, Tod und Auferstehung. 13 Vgl. G. Strzelczyk: Teraz Jesus. Warszawa 2007, S. 17ff. 14 Vgl. Strzelczyk, (wie Anm. 10), S. 292f. 15 Gerhart Hauptmann: Jesus-Studien, in: Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke, (wie Anm. 1), S. 1215. 54 Renata Dampc-Jarosz ersten Satz gibt Hauptmann seine Argumentationsstrategie zur Kenntnis: er baut seine Reflexion auf gewissen Gegensätzen auf, die dann zur Dekonstruktion der bei den Gläubigen etablierten Vorstellung von Jesus geführt haben sollen. Das dekonstruktive Denken stiftet aber keinesfalls Chaos oder Unruhe. Der an den „Pre- digten“ der Quasi-Propheten des ´Fin de siècle´ geschulte Hauptmann sorgt wider deren Rhetorik für die innere Logik der Aussage; jeder Frage folgt eine konkrete, genaue Antwort, bei jeder Antwort scheinen Beispiele aus dem Neuen Testament auf. Der Schriftsteller verwendet auch eine für die Jahrhundertwende charakte- ristische Methode der kollektiven Sinngebung. Die Pluralform ´wir´ verweist auf das Identifikationsvermögen des Autors mit anderen Menschen, der Gebrauch des Imperativsatzes im Singular impliziert hingegen das individuelle Engagement jedes Einzelnen, der den wahren Christus erfassen möchte. Von Anfang an räumt also Hauptmann dem Individuellen, dem persönlichen Glaubensbekenntnis einen festen Platz ein. Das zweite Unterkapitel des ersten Teils verrät, dass sich hinter dem Ad- ressaten des Ausrufes der Heilige Geist verbirgt, der das Argumentieren befördern soll, und der für dessen Glaubwürdigkeit sowie Klarheit haftet. Im weiteren Verlauf reiht Hauptmann Gegensätze aneinander an: Christus tritt zuerst in Opposition zu seinen Feinden auf; die Feinde und die Jünger Jesu bilden zusammen ein Paar. Das wichtigste Attribut Jesu – seine Selbstlosigkeit – findet seinen Widerpart in der Selbstsucht der Jünger. Die oppositionellen Paare erfas- sen auch christliche Glaubensrituale: Beten darf nicht Bitten bedeuten, Beten darf nicht Erhören heißen; Jehova, der Gott des Alten Testaments wird zur Puppe, und „die Vergebung ist nicht mehr von ihm, sondern vom Menschen selbst abhängig“ (J, 1217). Nach Hauptmann will Jesus somit „einen Ausschaltungsversuch unter scheinbarer Anerkennung des Alten“ (J, 1216) machen, er „betreibe allüberall die Erlösung von dem Drucke Jehovas, dessen Ansehen er, wo es nur geht, schädigt“ (J, 1217). Hauptmann ruft in seinen Studien die Kritik nicht nur des Alt- und Neutes- tamentarischen, sondern des christlichen Glaubens schlechthin auf den Plan: Jesus wird in Opposition zu seinem Vater gebracht, zwischen Jesus und seinen Jüngern herrscht die Feindschaft. So widersetzt sich der junge Autor den theologischen Deutungen und tendiert zur Häresie. Trotzdem scheint diese Vorgehensweise legitim zu sein, denn „[d]as Alte mußte fallen, denn: Man füllt nicht neuen Most in alte Schläuche, noch flickt man einen Lappen von neuem Tuch an ein altes Kleid“ (J, 1218). Die Abgrenzung des Neuen vom Alten gehört nach Hauptmann zu dem von Jesus konsequent realisierten Plan. Die Abschaffung des Gerichts, der Strafe, für

Alle in dem vorliegenden Artikel zitierten Fragmente stammen aus dieser Ausgabe und werden mit dem Buchstaben J und der Seitennummer markiert. Hauptmanns Jesus-Studien 55 welche Jesus plädiert (J, 1219), kann den Sünder von der Rache Gottes befreien, und dessen Seele vor dem Verderbnis retten. Der Verzicht aufs Gericht, somit auf die Gerechtigkeit, heißt hier aber auch das Beseitigen des Egoismus. Hauptmanns Thesen finden dabei immer eine suggestive Bestätigung in den dem Leser gut ver- trauten Figuren vom König, der mit seinen Knechten rechnete, dem Weib, das im Ehebruch betroffen ist (J, 1220) oder dem verborgenen Schatz im Acker (J, 1222). Hauptmann scheint jeweils das Zitat, das bildliche Beispiel nicht zufällig heranzuziehen: So knüpft er an die Kunst des jesuanischen Gleichnisses an, das von den Jüngern oft missverstanden wurde und das ihnen gar nicht behilflich war, sondern sie am Verstehen von Jesu Lehre hinderte (J, 1222). So erscheint Jesus noch einmal als Feind seiner Jünger, der sie verführt und der vor ihnen eine Komödie spielt – noch mehr: Hauptmann sieht in ihm einen Geisteskranken. Der Autor nutzt schon hier eine der ältesten Abbildungen Jesu, die ihn mit einem Eselskopf, dem Symbol der Dummheit und Narrheit vorstellen16. Das später im Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint erweiterte Motiv erfüllt hier eine andere Funktion. In den Jesus-Studien finden wir keine direkte Erklärung, welche Funktion der Autor der vermeintlichen Geisteskrankheit Jesu zuschreibt. Im Gegensatz zu anderen Passagen der Abhandlung fehlt es hier an einer mit Beispielen bekräftigten Ar- gumentation, als ob Hauptmann dieses Phänomen des Jesuanischen noch nicht genug begriffen hätte. Merkwürdigerweise besteht in den Studien gerade an dieser Stelle eine Textlücke. Im nächsten Absatz geht Hauptmann gleich zu dem Begriff des Himmelreiches über, der ihn auch im späteren Werk beschäftigte, um nur noch einmal an den Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint zu erinnern.17 In Christi Worten findet der Autor den Sinn des Lebens legitimiert: „Ebenso nennt Jesus die Selbstlosigkeit, den Keim zum Himmelreich auf Erden, zuweilen schlechtweg «Himmelreich», so wenn er sagt: »Es ist in Euch.«“ (J, 1222) Die komödienhaften Züge Jesu, seine geisteskranke Verfassung entpuppen sich also als eine heilende Maßnahme, die den Menschen nicht nur aus einer geistigen Ohnmacht, von der nach Hauptmann z.B. die Jünger befallen sind, sondern aus seiner existenziellen Not, dem Bewusstsein des elenden Daseins in dieser Welt, zu befreien. Der gesunde Geist findet in sich selbst das nötige Potenzial, die Selbstlosigkeit, „die Perle der Selbstlo- sigkeit, [für die Jesus] sein ganzes übriges Gut, bis ebenfalls auf sein Leben hingibt“ (J, 1222). Hauptmann bemerkt aber gleich, dass „die Selbstlosigkeit mit Worten gepredigt – eine Lüge ist“ (J, 1224). Er sieht in der Tat den nötigen Widerpart zu

16 Vgl. K.-J. Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zürich-Köln 1978, S. 251. 17 Den Bezug der Jesus-Studien zum Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint untersucht S.D. Stirk. Vgl. Ders.: Gerhart Hauptmanns „Jesus-Studien“ in ihrer Beziehung zu dem Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“. Ein Beitrag zu Hauptmanns Religion. Breslau 1937. 56 Renata Dampc-Jarosz dem von den alttestamentarischen Propheten verkündeten Wort, einen Gegensatz also zu dem Alten schlechthin. Der Autor richtet seine akribische Aufmerksamkeit auf zwei Taten Christi, durch welche er die Übermacht der Tat, des menschlichen Wirkens offenbart: die Austreibung der Wechsler und Verkäufer aus dem Tempel und das Fußwaschen. „Das Fußwaschen ist ein Akt der Selbstlosigkeit; noch viel mehr als dies aber der Tod Jesu“, schreibt Hauptmann, und er argumentiert weiter: Zunächst sehen wir bereits, dass er ihn freiwillig auf sich nahm, ja ihn herausforder- te. Dies wird aber durch direkte Aussprüche Jesu noch bestätigt. Er sagt: »Niemand nimmt mein Leben von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe es Macht zu lassen«. (J, 1226) Die Selbstlosigkeit, die Aufopferung für andere, besonders für Feinde, bedeutet nach Hauptmann, dass Jesus an einem Fortleben nicht interessiert ist, denn „sein Himmelreich ist […] kein transzendentes, sondern das des Jesaja und nur auf der Erde zu denken“ (J, 1227). Hauptmann trägt hier die bekanntesten biblischen Me- taphern vom „Himmelreich“ zusammen; Lukas´ Vergleich des Himmelreiches mit einem „Senfkorn“ und mit dem „Sauerteig“ sowie die Darstellung Jesu als Sämann lassen den Autor die Gegenwart des Himmelreiches im Menschen, „inwendig in euch“ (J, 1228), bestätigen. Man hätte sich denken können, dass die Jesus-Studien damit schon ihr Ende finden. Das dialektische Verhältnis zwischen Wort und Tat, zwischen Alt und Neu, lässt zwar den Autor in Jesus, in seiner Selbstlosigkeit ein Muster der Menschlichkeit entdecken und in seiner Persönlichkeit ein Merkmal finden, das als eine nichtbe- zweifelte Richtlinie gelten mag, aber Hauptmann scheint noch nicht an den Kern des Jesuanischen gelangt zu sein. Im Weiteren beschäftigt den Autor die Bedeutung des Todes Christi. Haupt- manns Hypothese zufolge ist sich Jesus seines freiwilligen Sterbens bewusst, und die Abwendung vom Tod wurde von den Evangelisten bloß erdacht. Christus will nämlich durch seinen Tod die Macht des Geistes offenbaren und als „Gebärer des Gott Geistes“ (J, 1228) erscheinen, was die Jünger nicht erkannt haben. Die hier an- schließenden Überlegungen des Autors gelten somit den Jüngern und deren „Geis- tesarmut“ (J, 1230). Hauptmann balanciert zwischen der Selbstsucht der Jünger und der Selbstlosigkeit Christi, zwischen Unverständnis für die Lehre Jesu und Klugheit der christlichen Parabeln, sich dabei auf zahlreiche Beispiele aus der Bibel bezie- hend. Die Argumentationskraft des Autors wird jetzt immer schwächer, die Person Jesus wird auch ab und zu negativ schattiert, die angeführten Beweise häufen sich an. Hauptmann scheint der Vervollkommnung seiner Thesen zu bedürfen, nachdem er schon nachgewiesen hat, die selbstlose Haltung Christi habe ihn einerseits zum mächtigen, selbstverwirklichten Herrscher gemacht, andererseits aber habe sie Hauptmanns Jesus-Studien 57 ihn in Vereinzelung und Isolierung gebracht. Die Bilanz kommt zu Ungunsten der Jünger heraus, die außerstande waren, den Geist der Wahrheit zu erkennen und die Lehre Christi zu begreifen. Dieser Teil der Jesus-Studien endet mit dem Definieren eines „Geistes der Unwahrheit“, der die Jünger in der Dreieinigkeit des Aberglau- bens, der Selbstsucht und der Unbildung verharren lässt (J, 1239). Zum zweiten Mal erweckt Hauptmann den Eindruck, er wolle die Abhandlung abschließen, ohne die Bilanz endgültig zu ziehen. Um sich mit Jesus jetzt noch stärker konfrontieren zu können, führt er eine weitere Schlüsselfigur ein, nämlich Judas. Dieser Jünger nimmt in den Kontakten zu Jesus eine besondere Position ein. Er unterscheidet sich von den anderen Jüngern durch Intelligenz, Kenntnisse der Ökonomie (er hat doch die Kasse der Jünger geführt und kontrolliert) und durch den Mut, sich Christus und Maria widersetzen zu können. Dem Kapitel über Judas folgt noch Judae Tagebuch (anders Das Evangelium Judae genannt), in dem der Titel- held, der auch die Funktion des Autors übernimmt, und Jesus ein fiktives Gespräch führen, in dem der Geist endgültig definiert wird. Er heißt „der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis“. – „Derselbe ist es, auf den ich hoffe.“ (J, 1244) Judas leugnet diese Art von Geist und besteht auf der alten Vorstellung vom Gott „Abrahams, Isaaks und Jacobs, derselbe wird es alles herrlich hinausführen, wie er gelobt hat durch der Propheten Mund.“ (J, 1244) Das Evangelium Judae endet auf der Wüste, wo Judas zum Schüler des Evangeliums vom Geiste gekürt wird: (…) Und Jesus sprach zu Judas: „Folge mir! Ich bin bei mir selbst eins, zu lehren das Evangelium vom Geist“. – Judas aber sprach: „So lehre es mich zuerst“. – Je- sus antwortete ihm: „Höre und tue nach dem, was du hörest. (…) Verleugne dich selbst. (J, 1245) Hauptmann stellt Judas in den Mittelpunkt seiner christologischen Reflexi- on, vergleicht ihn mit Brutus, der zwar seinen Herrn und Freund verraten hat, der aber die Geschichte mit bestimmte. Was für eine Rolle Judas in den Jesus-Studien wirklich spielt, erklärt der letzte Teil der Abhandlung, in dem Hauptmann einen Dramenentwurf präsentiert. Das Drama trägt den Titel Der echte Christus und seine Lehre, sein Autor ist Lorenz Engel. Hauptmann stellt hier ausführlich die Entstehung seines Interesses für Jesus und den Aufbau des Dramas dar; er beschreibt die Arbeit an dem Stück und teilt das Ziel seiner eigenen Auseinandersetzung mit Christus mit: Also sei Gott nicht sein leiblicher Vater (denn Fleisch könne nur vom Fleisch gebo- ren werden: Joh. 3,6), sondern nur der Vater seiner geistigen Persönlichkeit. – Bin ich übrigens Gottes Sohn, so könnt ihr ebensowohl dieses Gottgeistes Kinder werden („Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?“). Die eigentliche Geburt des Men- 58 Renata Dampc-Jarosz

schen erweckt den Menschen noch nicht zum Leben. Erst die Wiedergeburt durch den Gott Geist macht uns zu Lebendigen („Der Geist ist es, der da lebendig macht …“) Wer nicht zum Leben erweckt worden ist durch den Geist, der ist tot! (J, 1254) Hauptmann behauptet, Jesu habe in seiner „Vernunftlehre, einer Lehre ohne persön- lichen Gott, einer Lehre, deren Boden der auf sich selbst gestellte, aus eigener Kraft heraus strebende, verfeinerte Mensch ist“ (J, 1251), eine neue Religion erfunden. Erst der letzte Teil scheint die Jesus-Studien abzurunden; der Autor hat hier eine Lösung der Probleme der gottlosen Welt um 1900 gefunden. Er hat in Jesus und in der Person des Geistes den Sinn der Welt entdeckt. Seine Bibelstudien führten ihn auch zu einer kontroversen Beurteilung der Jünger, die er als Christi Gegner deutet und die in seinen Studien für die ganze Kirche stellvertretend stehen mögen. Jeder wird als Gegner Christi anerkannt, wenn er in sich keinen Geist findet. Christus taucht zwar in Hauptmanns Studien als der einzige Bekenner seines Glaubens auf, der, auf sich selbst gestellt, das Gebäude der eigenen Lehre der Selbstlosigkeit trägt. Trotzdem oder deswegen kann Jesus, vor allem als Gebärender des Geistes, zum Muster für die kommenden Generationen werden. Die Orientierung am Geist scheint um 1900 zur individuellen Signatur des Menschlichen zu avancieren. Die Ahnung von der Gegenwart des Geistes begleitet Hauptmann das ganze Leben lang, was er in seinem Tagebuch von 1912 verzeichnet, und was als Lebenscredo des Schriftstellers gelten mag: Ich bin ein Mönch der Poesie, ein Mönch mit Flügeln, ein Mönch der inneren Frei- heit, ein Mönch der Toleranz, des Geistesdienstes („Gott ist Geist“) - , ein Mönch der Menschenliebe, des Dienstes am Leben, das als höchstes Gut begriffen wird.18

18 Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1906 bis 1913. Zit. nach Dieter Albrecht: Verlorene Zeit. Gerhart Hauptmann von bis Agnetendorf. Orte, Texte, Zeichen. Lüneburg 1997, S. 312. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Haupt- manns ...

Zbigniew Feliszewski Katowice

Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns Der Narr in Christo Emanuel Quint

„Geheimnis und Verheißung und das Jagen nach einer Illusion (sind) (…) jeder gesunden Seele natürlich“1. Mit diesem Satz bringt der Romanerzähler die Quintessenz des Bedürfnisses nach religiöser und mystischer Erfüllung auf den Punkt. Es sind eben die Religiosität und die Mystik und nicht zuletzt die in der Erlösung mündende Transzendenz, die den wesentlichen Teil der literaturwissen- schaftlichen Auseinandersetzung mit dem wohl bekanntesten Roman des Autors ausmachen. Nichtsdestoweniger mag vor allem der zweite Teil der zitierten Passage auf die theatralische Erfahrung des Religiösen und des Mystischen verweisen. Nicht nur in visueller Repräsentation liegt der Kern der Theatralität, die durch die Hand- lung durchsickert, sondern vielmehr vollzieht sich dies im angedeuteten Diskurs über die Rolle und Funktion des Theaters und dessen mimetischer Beschaffenheit. Angesichts Hauptmanns ausgeprägter Neigung zur dramatischen Form kann dies nicht verwundern. Dabei war der Autor nicht nur auf die literarische Seite des Theaters fixiert. Schon als junger Mann, als er nach Berlin umsiedelte, wollte er Schauspieler werden und nahm zu diesem Zweck bei Alexander Heßler Schauspiel- unterricht, dank dem er mit dem auf Rügen zu Gast spielenden Fürstlichen Theater in Kontakt kommen und das Leben der Theatertruppe von innen kennen lernen konnte. Auch versuchte er die Proben zu den Inszenierungen seiner Dramen wenn möglich persönlich zu beobachten. Von besonderem Belang für die Herausbildung seiner theatralischen Sensibilität schien jedoch die eingehende Beschäftigung mit der Theater- und Schauspielkonzeption Konstantin Stanislawskis, den der Dramen- autor zum ersten Mal im Jahre 1906 persönlich kennen lernte.

1 Gerhard Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint. Centar–Ausgabe zum hundertsten Geburtstag des Dichters. Frankfurt am Main – Berlin 1962, S. 196. 60 Zbigniew Feliszewski

Aufgrund dieser Tatsache liegt die Frage nahe, ob man dem Roman, einem fiktiven Erzählwerk also, Hauptmanns Stimme im Diskurs über das Theater und dessen ontologische Beschaffenheit und Wirkung abgewinnen kann. Der vorlie- gende Aufsatz konzentriert sich auf die Mimesis und mimetische Form, Funktion und deren Wirkung als ausschlaggebenden Begriff des Theaters. Gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts erhoben sich unter den Künstlern des Theaters, wie auch unter vielen Intellektuellen immer häufiger die Stimmen, die zum Bruch mit der herkömmlichen Tradition der Mimesis aufriefen. Ob diese auch in Der Narr in Christo akzentuiert werden? Die Illusion war und ist eins der signifikantesten Zeichen des Theaters an sich, an der es sich orientiert, der es seine Existenz verdankt und durch die es seine Wirkung außerhalb des Theatergebäudes auszuüben vermag. In diesem Kontext spricht man von der Theatralität nicht lediglich als einem ästhetischen Verfahren, sondern einem „präästhetischen Instinkt“, wie es der Autor der Begriffes, Nikolai Evreinov, selbst definiert.2 Für Evreinov bedeutet Theatralität ein „kulturerzeu- gendes und die Kulturgeschichte vorantreibendes Prinzip, das nicht nur der Kunst, sondern bereits der Religion zurunde liege.“3 Seine Theorie involviert zwei Thesen. Erstens kann von einer gewissen Wechselbeziehung zwischen der theatralischen und außertheatralischen Wirklichkeit die Rede sein, im Sinne einer Reziprozität, die im großen und ganzen darin besteht, dass sie dem Theater Vorbilder für seine Aktivität schafft, die auf der Bühne repräsentativ erscheinen, von dem sie (die Wirklichkeit) wiederum Formen, Akte, Gesten und anderes übernimmt, um diese zur Bewirkung einer Veränderung anwenden zu können. Somit – und hier gehe ich zur zweiten These über – hört die Illusion auf, die ihrer Definition gemäß zwangsläufig gegen die Realität gerichtet ist, und es beginnt die Phase, in der bestimmte Handlungen vollzogen werden. Fischer-Lichte würde die Letztere nicht mehr als Theatralität, sondern bereits als Performativität bezeichnen. Performativität täuscht die Wirk- lichkeit nicht vor, sondern konstituiert diese,4 sie reproduziert nicht, sondern sie transformiert, ist jedoch zugleich in ihrer theatralischen Präästhetik zumindest teil- weise befangen. Sie ist die Übergangsphase, eine Schwelle mit rituellem Charakter. Während Theatralität sich auf den jeweils historisch und kulturell bedingten The- atrebegriff bezieht und die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglich- keit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.5

2 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 27. 3 Ebd., S. 27. 4 Vgl. Ebd., S. 22-33. 5 Ebd., S. 29. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns ... 61

Festzulegen wäre der Moment, indem die fremdbestimmte Nachahmung zum vom Subjekt ausgehenden Handeln wird, das sich aus dem Bedürfnis nach aktiver Mit- gestaltung der umgebenden Wirklichkeit speist. Es gilt zu fragen nach der Rolle der Zuschauer und Akteure, und zwar nicht nur in der Rezeption der theatralischen/ performativen Aktion, sondern deren Funktion als Urheber einer solchen Wende. Dass Quint theatralisch agiert, ist im Roman klar. Der Autor erspart dem Leser nicht die Bilder der Erhabenheit, wie etwa in der Szene der Erscheinung Quints in einer Mühle: Als nun (…) eine dunkle Gestalt in den offenen Torweg der Mühle trat und dann in jenem Bereich des Gewölbes erschien, der durch das vorn einfallende Mondlicht erleuchtet wurde, kam für Quinten selbst und alle übrigen ein ebenso verhängnis- voller wie erschütternder Augenblick“6 oder etwa während des Mahles, das Quint mit seinen Lehrlingen einnimmt, ein „biblischer Anblick7, wie es der Erzähler ausdrückt. Bilder der theatralischen Er- habenheit gibt es im Roman noch mehr. Im Eröffnungskapitel, als Emanuel vom örtlichen Pastor, nachdem er vor den versammelten Gläubigen einige Male mit Erfolg gepredigt hat, zur Rede gestellt und nach seiner Profession gefragt wird, erwidert der Titelheld mit klangvoller Stimme, er sei „Bekenner des Evangeli- ums Jesu Christi“, „Arbeiter im Weinberge Gottes“8, Werkzeug (in den Händen des Allmächtigen), dessen Aufgabe und Ziel im Leiten der Menschen zur Buße angelegt sind.9 Noch bleibt Emanuel ein Bankert, ein außergewöhnlicher Müßig- gänger, dem die Bibellektüre und die Predigten der Heiligen Schrift lieber sind als die schwere körperliche Arbeit in der Tischlerei seines Stiefvaters. Schnell wird aber dem Einsteiger das bloße Verkünden des Evangeliums unzulänglich, er wird in die Ferne ziehen, um nach der biblischen Vorlage, die er hier noch buchstäblich befolgt, leben zu wollen. Das Leben Jesu Christi durch direkte Nachahmung zu empfinden, lässt ihn in seinem Inneren das Gefühl der Erhabenheit und schwärme- rischer Verzückung, jene Regung der „Hochgestimmtheit“, wie es im Roman heißt, verspüren, wobei all das ihm bisher Unbekannte „vorerst mehr Gärung als Klärung war“.10 Auf die Erfahrung der Mimesis, die Emanuel anfänglich erschreckt, später aber allmählich immer mehr überwältigt, folgt im weiteren Verlauf der Handlung eine kritisch-rationale Begründung. Emanuel plausibilisiert sein Vorgehen, indem er in der Imitatio Christi eine zwangsläufige Folge der praktischen Verrichtung

6 Gerhard Hauptmann: Der Narr in Christo ... , S, 259. 7 Ebd., S. 267. 8 Ebd., S. 13. 9 Vgl. Ebd., S.13. 10 Ebd., S. 45. 62 Zbigniew Feliszewski der Heiligen Schrift sieht, wonach der Mensch in allem Nachfolger Christi wer- den sollte. Doch die mentale Verarbeitung der Nachahmung ruft Zweifel hervor. Schließlich haben schon viele vor ihm denselben Weg betreten und wurden mithin in die Falle des Teufels gelockt. Die mimetische Erfahrung des Lebens Christi ist so entzückend wie irreführend, da nur ein dünner Faden das Echte vom Falschen trennt und das Heilige „durch Kloaken angezogen, mit Kot besudelt“11 werden kann. Vernunftmäßiges Verfahren lässt für Emanuel eine vorsichtige Distanz zum eigenen Handeln entstehen, die nicht so sehr für die Herausbildung einer nachahmenden Grundeinstellung notwendig ist, wie eher ihren Sinn zu begreifen verhilft und sie in ganzer Fülle und Vollkommenheit ausführen lässt. Die absolute, ja totale Mimesis, die der Vorlage treu bleibt, ist der einzige Garant, dass man vom vorgezeichneten Wege nicht abweicht. Mit halben Maßnahmen kann man höchstens das Heiligtum beschmutzen, was hier eine ungewollte Abkehr vom Gott bedeuten müsste. Deshalb mobilisiert Emanuel in sich alle Kräfte zur Vervollkommnung seiner Nachahmung, denn nichts, was Christus zuteil wurde, will er sich entgehen lassen. Er bleibt aber immer noch nur ein Imitator, ein Handwerker, obgleich er mit der Zeit an Überzeu- gungskraft zunehmend gewinnt. Dies kann er seiner ständigen Übung verdanken. Quasi schauspielmäßig geht Emanuel in seiner Imitation vor, als möchte er ganz in die Rolle schlüpfen. Die Praxis der Vervollkommnung beruht weniger auf mechanischer Übung der Gestik, Mimik und Proxemik, obwohl auch diese Bestand- teile der Schauspielkunst Emanuel nicht fremd sind, sondern vielmehr auf einer ins Innere gekehrten Arbeit, die die emotionale Ebene des Gesuchten aufdecken will. Das mechanische, äußere Kopieren einer Rolle gilt es zu überwinden und es durch die „Kunst des Erlebens“12 zu ersetzen, um die Methode von Stanislawski herbei- zurufen. In der Auffassung des russischen Theaterregisseurs soll sie ermöglichen „die Gestalt der Rolle zu schaffen, in ihr das Leben des menschlichen Geistes zu offenbaren und sie auf der Bühne ganz natürlich in schöner künstlerischer Form zu verkörpern“13. In der Praxis bedeutet das die Nutzung der persönlichen, emotionalen Erfahrungen. Das emotionale Gedächtnis setzt dabei die Identifikation zwischen dem eigenen Gefühlsleben und dem Leben der darzustellenden Figur voraus, ohne jedoch in die totale Identität zu verfallen. Ungeachtet dieser Konnotation steht fest, dass der arme, einseitig gebildete Quint (das einzige Buch, das er je gelesen hat, war die Bibel) intuitiv die Techniken der effizienten Nachahmung anzuwenden vermag. Und zwar mit Erfolg. Schnell

11 Ebd., s. 54. 12 Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Bd. I. Berlin 1961, S. 383. 13 Konstantin Stanislawski: Mein Leben in der Kunst. Berlin 1951, S. 681. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns ... 63 verbreitet sich in der Umgebung, was Quint und seine Anhänger verkünden. Mar- kanterweise unterstellen viele Bewohner der nahe liegenden Dörfer Emanuel Ei- genschaften, deren Besitz er selbst nie behauptet hatte, dass er etwa „Lahme gehen, Blinde sehen, mit Aussatz behaftete Menschen rein machen“14 könne. Unwillkürlich stellt sich der generalisierende Gedanke als Erklärung des Phänomens ein: der Nachahmer Jesu ist in der Mimesis dermaßen überzeugend, dass er nicht mehr als eine Kopie betrachtet wird, sondern als dessen Nachfolger und mit der Zeit als Jesus in eigener Person. Zwei Aspekte scheinen hier von besonderer Bedeutung zu sein. Inwieweit ist es Quint selbst, der über sein mimetisches Vorgehen entscheidet, und welches sind die Folgen der Verwandlung eines solchen Vorgehens in Identität. Der Weg der Verschmelzung zwischen dem Spielenden und der gespielten Rolle ist größtenteils fremdbestimmt. Da die Anhänger von Emanuels Lehre ihn immer häufiger für Christus halten, versucht er zunächst den „krankhaften Irrtum sogleich mit der Wurzel auszutilgen“15; da dies aber in der Regel vergeblich er- scheint, lässt er es zunächst dabei bewenden, um letzten Endes selber zu glauben, dass er in der Tat Jesus Christus sei: „Er war ein Narr, und also nahm er sich wohl ohne erheblichen Widerstand für das, wofür ihn die Leute in ihrer Torheit hielten: nämlich, wenn nicht für Gottes Sohn, so doch für einen mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Wundermann.“16 Die Verschmelzung des Nachahmenden mit dem Nachgeahmten kommt also vom Zuschauer her. Gewiss hätte Emanuel sich in die Gestalt Jesu Christi auch unter anderen Umständen, infolge seiner geistigen Sensibilisierung hineinversetzen können, doch die intensivierte Rezeption seiner Ta- ten beschleunigte den Prozess der Identifikation. Bevor jedoch Emanuel die Sache beim Namen nennen wird, sucht er alle Zweifel zu verjagen und die eigene Position vor sich selbst zu rechtfertigen. Zunächst etwas unsicher, dann immer gefasster schlussfolgert er, dass jeder, der aus dem Geiste wiedergeboren sei, Gottes Sohn sein müsse17, um dann später egozentriert über das Eigen-Göttliche zu sprechen: „das Leben Jesu, die Nachfolge Jesu ist mein Ziel! Die Einheit im Geiste Jesu mein wahres Leben.“18 Die Verschmelzung zur Einheit hat sich nun vollzogen, wenn auch dies noch nicht explizit gesagt wurde. Doch es ist nur die Frage der Zeit. Am Ende des Romans geht Quint von Tür zu Tür mit der Bitte um Kost und Logis und stellt sich immer nur noch als Christus vor. Theater ist kein Theater mehr.

14 Ebd., S. 158. 15 Ebd., S. 70,71. 16 Ebd., S. 82. 17 Ebd., S. 81. 18 Ebd., S. 92. 64 Zbigniew Feliszewski

In vielerlei Hinsicht nimmt die von Hauptmann vorgeschlagene Vision der Wirkung des theatralischen Handelns auf eine interessante Weise den symbolischen Interaktionismus vorweg. Über seine ästhetische Beschaffenheit hinweg bleibt das Theater eine soziale Institution, in der sich gesellschaftliche Interaktionen symbo- lisch widerspiegeln, was etwa Goffman untersucht und individuelle und soziale Handlungen als Beispiel für symbolische Kommunikation betrachtet werden, wie es u.a. in den Arbeiten von Arno Paul, Uli Rapp oder Klaus Lazarowicz zum Vorschein kommt. Zwar waren in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, als Hauptmann an dem Roman schrieb, die sozialen Theatermodelle wenig bekannt und noch weniger besprochen worden, jedoch wenn man Hauptmanns Schärfe der Beobachtung der sozialen Verhältnisse berücksichtigt, kann sein Protagonist unzweifelhaft als homo symbolicus gesehen werden, der aus dem dichten Netz der für die jeweilige Kultur und das soziale Leben typischen Verhaltensweisen schöpft und dies sowohl im Akt der Massenverführung durch den angeblichen Heiland, wie auch im Prozess seiner Ächtung als Außenseiter der Gesellschaft sichtbar ist. Nicht ohne Bedeutung scheint dabei die Tatsache zu sein, dass gerade in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts das europäische Kulturleben und in besonde- rem Ausmaß wohl der Theaterbereich durch die sog. kulturelle Wende erschüttert wurde. Nach Erika Fischer-Lichte kommt es in dieser Zeit zu einer allmählichen, jedoch deutlich sichtbaren Aufhebung der Grenze zwischen „textzentrierten und leibzentrierten Kulturen“.19 Sie schreibt: Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich in europäischen Gesellschaften ein Ver- ständnis der eigenen Kultur durchgesetzt und verfestigt, das sich im Wesentlichen auf die überlieferten Texte bezog. Nach diesem Verständnis artikulierte sich die moderne europäische Kultur überwiegend in Texten und Monumenten, in denen sie sich angemessen repräsentiert sah. Sogenannten »primitiven« Kulturen dagegen (…) wurden Merkmale und Eigenschaften zugesprochen, die nicht die moderne europäische Kultur bestimmen und ex negativo zu ihrer Selbstdefinition beitrugen.20 Unter diesen als negativ aufgefassten und den sog. primitiven also minderwerti- gen Kulturen attestierten Eigenschaften versteht Fischer-Lichte eine „spezifische Leibzentriertheit (…), die sich u.a. in den verschiedensten Arten von Aufführungen wie Ritualen, Festen, Zeremonien, Spielen a.Ä. manifestierte, die alle Beteiligten leiblich affizierte und eine klare Trennung in Handelnde und Zuschauende nicht erlaubte.“21

19 Erika Fischer-Lichte: Performativität ..., S. 14. 20 Ebd., S. 13. 21 Ebd., S. 13, 14. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns ... 65

Man kann annehmen, dass die religiösen Zeremonien in dem Roman ihre ursprüng- liche Leibzentriertheit zugunsten der symbolischen Textzentriertheit einbüßten und nun von dem Zuschauer eine kühle Distanz zu dem Dargestellten erzwingen, indem sie ihre Struktur symbolisch organisierten und ihre Wirkung auf Entschlüsselung, Dekodierung und ggf. Verarbeitung des Verschlüsselten anlegten. Zwischen dem Betrachter bzw. Empfänger einer solchen „Aufführung“ und dem Dargestellten besteht ein zusätzlicher Raum der Distanz und Entfernung, z.B. in Form des kirchli- chen Altars. Durch die Illusion wird eine Schutzgrenze der emotionalen Aktivität bei den Zuschauern gezogen. Sie sind zwar gefühlsmäßig in der Darstellung engagiert, empfinden jedoch selten diese Emotionen als etwas, was sie in ihrem realen Leben neue Bahnen einschlagen lassen geschweige denn andere Konsequenzen mit sich bringen könnte. Hingegen scheint Qiunts Vorgehen zwangsläufig gegen die Kon- vention gerichtet. Indem es sie außer Kraft setzt, schafft es jene den textzentrierten Kulturen typische Distanz zwischen dem Spielenden und Betrachtenden ab. Der Zuschauer tritt hier in die Welt der Darstellung ein, die er als eigene empfindet: „Statt eine Illusion von Wirklichkeit zu verschaffen, in die die Zuschauer sich in ihrer Phantasie hineinversetzen und einfühlen [können], [bringt] die Aufführung sich selbst als eine Wirklichkeit hervor.“22 Quints „Theater“ hybridiert zum Ort der tiefen psychophysischen, auf die Schauspieler wie auf die Zuschauer einwirkenden Empfindungen, denen das kollek- tive Unterbewusstsein zugrunde liegt. Dass Hauptmann seinen Protagonisten in eine psychiatrische Anstalt einsperren lässt, kann von der starken sozialen Wirkungskraft einer performativen Aktion zeugen, die für die gesellschaftliche Ordnung genauso faszinierend wie bedrohlich sein kann. Emanuels anfängliches mimetisches Vorgehen nimmt die Form einer eksta- tischen Verzückung an und verwandelt sich schließlich in Transgression, was zur totalen Identifikation des Spielenden mit seiner Rolle führt. Quint spielt nicht mehr, ahmt nicht mehr nach, sogar die Verschmelzung mit Jesus strebt er nicht mehr an, er ist in der Tat Jesus geworden. Das Einswerden zweier Phänomene lässt in der Regel ein Drittes entstehen, eine neue hybride Qualität. Emanuels Transitivität scheint zumindest beim ersten Anblick nicht so sehr in etwas neu Geborenem aus- geprägt zu sein, stattdessen verschwindet der Narr immer mehr hinter der Gestalt von Jesus Christus, die er in seiner Ganzheit und ohne Bedenken annimmt. Das ist zumindest sein Wunsch und sein Ziel. Nicht der Schauspieler ist es, der in die Rolle schlüpft, sondern die Rolle übernimmt den Spielenden, dessen Identität von nun an die fremde sein wird. Quint ist also in dieser Hinsicht, bis zu diesem Punkt ziem-

22 Ebd., S. 13. 66 Zbigniew Feliszewski lich passiv, er lässt sich übergreifen, gibt sich um eines fremden Propriums willen auf, ist ein mit Inhalt zu füllendes Gefäß, ein Rahmen und ein Rohstoff zugleich. In anthropologischer Hinsicht zeichnet er sich mithin durch Antiproduktivität aus und bringt der Gesellschaft somit keinen Nutzen. Konsequenterweise wird er zum Abfall in der produktiven Gesellschaft erklärt, und als solcher soll er womöglich abgeschafft werden. Wenn er auch zeitweise zahlreiche Anhänger hinter sich hat, so ist das nur ein quasi Simulakrum, da er nicht als Quint zu den Gläubigen spricht, sondern transsubstantiv für Christus steht. Die Rolle übernimmt den Spielenden, der von nun an als ein neues Subjekt zu handeln vermag.23 Zu dieser Erkenntnis gelangt er jedoch auf Schleichwegen. An ihrem Anfang befindet sich die Fähigkeit einer mehr oder weniger kritischen Auseinandersetzung mit den gängigen Dogmen und Praktiken. Etwas unsicher und selber von dem Gedanken überrascht übt Quint Kritik am „Vaterunser“, dem Gebet, das viel eher „das Wesen der Lehre als Leit- stern für suchende Schüler“24 sei als ein Gebet sensu stricte Und auch der Akt der Entthronung Gottes vollzieht sich zunächst diskursiv. Noch bleibt hier Quint der Su- chende. Die wachsende Überzeugung über sein wahres Wesen als Christus lässt ihn handeln und Verantwortung übernehmen, wie etwa in der Szene, in der er die Brüder Scharf mit harten Worten zu strafen beabsichtigt25, oder in der Entschlossenheit die kirchlichen Dogmen umzustürzen, als er bekundet, die Bibel an sich sei ja wun- derbar, „besonders für die, die nicht lesen können (…) das vornehmste Werkzeug der Offenbarung ist der Mensch“26. Je größer das Heilandbewusstsein Quints ist, umso entschlossener handelt er: „Bin ich Jesus, so trage ich seine Verantwortung“27. Subjektwerdung impliziert freien Willen zum Handeln, das sich nicht lediglich auf

23 Nicht zuletzt in der Mimesis realisiert sich der Mensch in der Relation zu Anderen. Die nachahmende Beschaffenheit entbehrt ihn nicht seiner individuellen Eigenschaften, im Gegenteil, durch sie erfolgt der identitätsstiftende Prozess des Sich-Findens im Spiegel des Anderen, ganz im Sinne René Girards: Im mimetischen Begehren [drückt sich] eine grundsätzliche und extreme Offenheit aller Menschen auf andere hin [..aus...] Die mimetische Theorie sieht den Menschen als ein gesellschaftliches Wesen, zu dem notwendig die Beziehung zu anderen gehört. Kein Mensch ist ein völlig allein in sich stehendes Individuum. Vgl: Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. Wien – Berlin 2008, S. 58. Demzufolge kann die Ursache für das Scheitern von Quints Vorhaben mit einem mimetischen Bruch gedeutet werden. Solange nämlich sein Handeln ein mimetisches Vorgehen war, betrachteten ihn seine Anhänger wie einen Spiegel, in dem sie sich besehen könnten. Zwar war dadurch die soziale Ordnung sei es durch die Infragestellung der Triftigkeit der existierenden Kirchen oder der Ausdehnung des sakralen Raumes bedroht, aber die gesellschaftliche Identität schien dadurch nur gestärkt zu sein. Mit der Transgression Quints geriet die Letztere aus den Fugen. 24 Gerhard Hauptmann: Der Narr in Christo ..., S. 61 25 Ebd., S. 76. 26 Ebd., S. 90. 27 Ebd., S. 247. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns ... 67 ein bloßes Abspielen des vorgezeichneten Szenarios beschränkt. Quint beginnt die Wirklichkeit zu kreieren. Er verbietet die Bibel, zerreißt das Buch, in dem er nichts als Lügen vermutet, „ (er) packte (…) und warf es, so daß es in Fetzen ging wider die Wand“28 und vernichtet die Altäre. Die einstweilige Demut und Bescheidenheit, die Qiunt in dem mimetischen Abspielen des Lebens Christi ausstrahlte, werden nun durch Hochmut und das Gefühl der Unfehlbarkeit verdrängt.29 Quints Mimesis zielte auf die Erfüllung des Menschen in der Erlösung ab und war in der performativen Aktion offenbar, die jedoch ihre Möglichkeiten schnell ausschöpfte. Eine Abkehr von dem geplanten Vorhaben würde nicht so sehr Ema- nuels Niederlage bedeuten, denn damit hat der Abtrünnige wohl gerechnet, als eher – was für ihn nicht annehmbar war – die Abwendung von Gott. So bezwingt Quint den nächsten „Berg“ seiner „Aktion“, indem er den Rahmen der traditionellen Theaterform verläßt und von nun an selbständig und subjektiv als Gott lehrt, handelt und kreiert. War die erste imitative Etappe die dramatische, psychologisierende Form des Lebens, so beginnt nach der Überwindung dieser Phase das unmittelbare Erleben durch totale Anwesenheit. Im Kontext der Theatralität ist das ein Paradox. Das Theater ist nämlich in seiner Repräsentation befangen und das unmittelbare Erlebnis setzt dem Theater ein Ende. Es ist gegen das Theater gerichtet. Angesichts einer solchen dekonstruktivistischen Auffassung, angenommen, dass die religiösen Zeremonien als eine theatralische Form verstanden werden, hieße es, dass Quint die Religion ihres repräsentativen, zeremoniellen Charakters berauben will, um ihr ihre originelle Beschaffenheit zurückzuerstatten, nämlich die der Transsubstantiation. Doch auch das ist zum Scheitern verurteilt. Durch die Konsekration vollzieht sich im Messopfer die Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Chris- ti. Was einst beim letzten Abendmahl durch Christus in Anwesenheit seiner Apostel zeremoniell ausgeführt wurde, geschieht nun nach und nach in einer symbolischen Repräsentation. Zu tun haben wir hier mit einem Ereignis und dessen Zelebrieren, symbolischem Wiederholen und Imitieren in der Überzeugung und in dem Glauben von der realen Präsenz des Heilands jedes Mal, wenn die Konsekration stattfindet. Eine grenzenlose Vervielfältigung der Aktion rückt diese zurück in das Universum der Theatralität. Indem Qiunt Christi Leben lebt, vollzieht er die empirische Verwirklichung des Unberührbaren, des Imaginären, des sich der Ratio Entziehenden, eines Ge- heimnisses also. Und hier offenbart sich die Dichotomie des Theaterdiskurses im Roman von Hauptmann. Indem der Autor Emanuel in dem Bereich des mimetischen

28 Ebd., S.264. 29 Vgl. Ebd., S. 266. 68 Zbigniew Feliszewski

Erlebens von Christi Schicksal lokalisiert, lässt er zwischen der materiellen Welt und dem geistigen Erleben des Geheimnisses ein oppositionelles Verhältnis entstehen. Dabei tötet Emanuel durch das reale Erleben das erwähnte Geheimnis. Besser könn- te man die Rolle und Funktion des Theaters wohl nicht zum Ausdruck bringen. Die Strategie der sich ausschließenden Oppositionen ist im Roman öfters anzutreffen, nicht zuletzt in der doppeldeutig zu verstehenden Formulierung: „ (…) es war doch der innere Christus, der in ihn eingebildete Christus, der auch äußerlich nun sein Herrscher und (…) ganz mit ihm eins geworden war“30. Der innen befindliche, aus dem Geist Emanuels wirkende, also echte Christus ist zugleich eingebildet, also fälschlich und unbegründeterweise existierend, kurzum: ein Irrtum – und Beides nicht nur in einem Satz, sondern in einer Figur. Die Vereinigung des Echten mit dem Imaginierten kann angesichts der op- positionellen Verfassung des nachzuahmenden Lebens Christi nicht wundern. Jesus trägt in sich diese unauflösbare, dem menschlichen Verstand sich entziehenden Gegensätzlichkeit, indem er als Mensch geboren, die Rolle Gottes nicht nur zu- geschrieben bekommt, sondern vor allem ebenfalls nach dem mehr oder weniger vorgezeichneten Szenario handeln muss. Das Menschliche und das Göttliche finden zu einer unbegreiflichen Einheit, die so faszinierend wie befremdend wirken muss. Und selbst seine Passion vollzieht sich gerade im Exzentrischen und wird, wenn man die mittelalterliche Tradition der Passionsspiele in Betracht zieht, gleichzeitig zur Quelle wenn nicht des europäischen Theaters par excellence, so gewiss der deutschen Theatertradition. Auch zeigt sich Quint in seinem Wesen dichotom zerrissen, doch seine Zer- rissenheit ist nicht die des humanen Wesens, sondern verweist vielmehr auf die Uneinigkeit der Beschaffenheit der Welt schlechthin und der Theaterwelt insbe- sondere. So liebt er das kranke Weib, „weil er wie eine immer blutende Wunde das Leiden des Mitempfindens in sich trug, weil jener im Kampf der Menschen untereinander alles beherrschende Haß in des Narren Brust keine Stätte hatte und also Menschenhaß durch Menschenliebe ersetzt worden war.“31 Quint ist somit der Akteur und Zuschauer zugleich, er spielt und rezipiert ein Spiel. In dieser Hinsicht ist die Figur des Narren eher ein Konstrukt als Mensch von echtem „Schrot und Korn“. Genauso wie es schwer ist, die Grenze der praktizierten Mimesis zu erkennen, ohne eine notwendige zeitliche und eventuell auch räumliche Distanz zu ihr zu haben, ist es nicht leicht, ein Simulakrum von dem Original zu unterscheiden.

30 Gerhard Hauptmann: Der Narr in Christo ..., S. 300. 31 Ebd., S. 72. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns ... 69

Der Weg, den die Betrachter und Anhänger von Quints Handeln durchlaufen, ist nicht minder verwickelt als seine eigene Transformation. Gleich zu Beginn der Handlung zeichnen sich zwei unterschiedliche Positionen ab, die als Reaktionen auf die theatralische Wirkung des angeblichen Heilands entstehen. Die Frau des Lehrers rationalisiert ihre Einstellung zu Quint folgendermaßen: „Ich habe […] nicht gesagt, ich hielte ihn für einen Propheten. Auch hält er sich selber nicht dafür. Mir kommt es vor, er spricht als Mensch, er handelt als Mensch und er wandelt schlechthin als Mensch.“32 Als Gegenpol zu diesem Standpunkt können jene Worte des Gendarms gelten, die er während der Verhaftung der Heimgesuchten ausspricht: Ihr redet verkehrtes Zeug durcheinander, und was ihr quatscht, wisst ihr selber nicht. Steckt eure Nase in euer Handwerk hinein und macht die einfachen Leute nicht aufsässig! Es wird euch auch niemand hindern, wenn ihr Sonntag für Sonntag zweimal meinethalben – mir wär´s zuviel! – zur Kirche geht.33 Während die Lehrersfrau sich gerade durch das Menschliche an der Aktion Quints verführen lässt, spricht der Gendarm dem angeblichen Heiland und seinen Anhän- gern das Menschliche ab. Für ihn seien sie nichts anderes als abtrünnige Anarchis- ten. An den beiden Positionen wird klar, wie performative Akte ihre Rezeption beeinflussen. Performativität bewirkt eine Wandlung, durch die sie eine besonde- re Anziehungskraft besitzt. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die Lehrersfrau sich über Quint verständnisvoll äußert. Ein Prophet ist er für sie nicht, sondern ein Mensch unter anderen Menschen, mit seinen Schwächen und menschlichen Bedürfnissen und Neigungen, während ein Prophet als Kunstfigur lediglich im Theater zu treffen wäre und also zwangsläufig etwas Illusorisches an sich haben müsste. Für die Frau resultiert Qiunts Stärke aus seiner menschlichen Echtheit. Daher kann nicht wundern, dass selbst der Pastor, der ihn eingangs des Romans vor seinem Vorhaben warnte, mit der Zeit, insgeheim wenn nicht verführt, dann zumindest angelockt wurde. Zu seiner Frau sagt er: „dieser stromerhaft aussehende Kerl hat mich minutenlang auf eine mir noch nicht vorgekommene Art und Weise verwirrt gemacht.“34 Der Unterschied zwischen einer theatralischen Aufführung und einer performativen Aktion wird also auch in der Einstellung der Empfänger der beiden Handlungen sichtbar. Der anfänglich zu dem naiven Quint und seinem Bestreben, das Evangelium Christi zu predigen, skeptisch eingestellte und seine höhere Position gegenüber diesem Narren betonende Pastor erfährt eine innere Wandlung, die dem Rezipienten nur durch eine performative Erfahrung widerfah- ren kann. Während Theatralität eine „als ob“ Situation erzeugt und den Zuschauer

32 Ebd., S. 110. 33 Ebd., S. 130. 34 Ebd., S. 157. 70 Zbigniew Feliszewski zu Dekodierung von symbolischen Zeichen einlädt, wodurch eine Distanz zu dem Dargestellten entsteht, auch wenn der Zuschauer emotional in den Begebenheiten, die auf der Bühne dargestellt werden, engagiert ist, hebt das Performative die thea- tralische Mimesis auf und zwingt die Zuschauer zu aktivem, leiblichem Mitwirken, wodurch eine Transformation vollzogen wird. Der Teilnehmer einer performativen Aktion bleibt nie gleichgültig ihr gegenüber, da sie durch ihre transformative Kraft seine Welt und ihn selbst zu verändern vermag. Nichts bleibt danach wie zuvor. Es wundert nicht, dass der Gendarm, der dazu berufen ist, die gesellschaft- liche Ordnung, die ihm seine Existenz sichert, zu schützen, gerade in der perfor- mativen Natur von Quints Handlung eine Gefahr für diese Ordnung sieht. Beten kann jeder sooft er will – Hauptsache, es erfolgt im Rahmen eines dazu bestimmten Raumes, nämlich in der Kirche. Analog kann jede beliebige Handlung im Theater vollzogen werden. Was nämlich dort geschieht, erhält den Anhauch einer Illusion und kann somit höchstens eine intellektuelle Revolution hervorrufen. Das Aufheben der Theatergrenze droht eine wirkliche Revolution auszulösen. Darin liegt die echte Gefahr, die Quint mit sich bringt und die den Status Quo der Gesellschaft ins Wan- ken zu bringen droht. Dies wird in vielen Szenen sichtbar: „Quint halte die Leute vom Arbeiten ab. Er mache sie unlustig, mache sie aufsässig, indem er Weiber und Kinder gewöhnlich frage, ob denn das Zuckerrübenhacken oder das Heil der Seele wichtiger sei.“35 Eine solche Wirkung, die auf Veränderung und infolgedessen auf Verwandlung ausgerichtet ist, zieht quasi zwangsläufig eine Gegenreaktion nach sich. Quints Handeln ruft Unruhe hervor. Darüber ist im Roman zu lesen: Es war damals nicht ganz ohne Gefahr, den Sitzungen solcher Konventikel beizu- wohnen, da man überall geheimbündlerische Tendenzen witterte, denen ein gewis- ses Ausnahmegesetz, das in jenen Zeiten in Kraft war, mit drakonischer Strenge zu Leibe ging. Aber gerade diese Strenge bewirkte einen zähen und fanatischen Widerstand und trug dazu bei, daß sich in vielen guten jugendlichen Köpfen kühne und revolutionäre Ideen in Menge bildeten. Man rechnete allen Ernstes mit einem gewaltigen, allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenbruch, der spätestens um das Jahr neunzehnhundert eintreten und die Welt erneuern sollte.36 In der Handlung Quints sieht Hauptmann also eine revolutionäre Tendenz, die der Jahrhundertwende eigen war. Wenn man jedoch neben den historischen Umwäl- zungen auch die kulturellen in Betracht zieht, so wird klar, dass die anrückenden revolutionären Bewegungen nicht nur die politischen Systeme und somit auch ihre gesellschaftlichen Ordnungen tiefgreifend verändern werden, sondern, dass ihr Charakter ein ontologischer sein wird. Einer Transformation unterliegt nämlich

35 Ebd., 279. 36 Ebd., 363. Grenzen der Mimesis. Theatralität und Performativität in Gerhart Hauptmanns ... 71 der Mensch an sich mit seiner angeeigneten und weiter überlieferten Vorstellung von Kultur, mit der Ablösung von traditionellen Vorstellungsmustern und – was vielleicht besonders wichtig sein kann – mit der Öffnung gegenüber anderen und mit der Suche nach Neuem. Und es geht hier nicht um die Verpflanzung von frem- den Kulturen auf den schlesischen Boden, sondern um die Zurückgewinnung des Rituals, der aktiven Teilnahme, des leiblichen Erlebens und des In-dem-Akt-sein.

Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ...

Barbara Pogonowska Katowice

Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint

Gerhart Hauptmanns Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910) erzählt die Geschichte des Griesdorfer Heilands, eines in religiösen Wahn verfal- lenen Tischlersohnes, der viele Anhänger um sich scharte und großes Aufsehen in Niederschlesien erregte. In Hauptmanns Heimat war dies um die Jahrhundertwende kein Einzelfall.1 Das um die Hauptfigur konzipierte Werk ist aber mehr als eine Krankheitsgeschichte; es ist ein Zeitdokument, in dem Hauptmann die zur Neige ge- hende wilhelminische Epoche schildert. Der Autor konstatiert hierin eine Ideenkrise der deutschen Gesellschaft, die unter anderem durch das Aufblühen christlicher und sozialistischer Utopien zum Vorschein kommt. Hauptmanns Roman gibt über dieses Zeitphänomen Aufschluss. Sein Romanerzähler informiert – nicht ohne Ironie – über diese Erscheinung, indem er feststellt: „Über vielen Tischen politisierender Volkskreise schwebte damals, verquickt mit dem Bier- und Zigarrendunst, gleich einer bunten, narkotischen Wolke die Utopie.“ 2 (363) Die einen beschworen „das Tausendjährige Reich“, die anderen hofften „auf die Verwirklichung des sozialis- tischen, sozialen und also idealen Zukunftsstaats.“ (363) Diese Entwicklung findet ihre Begründung in den sozialen, wirtschaftlichen und ideologischen Umwälzungen der Zeit. Der Fortschrittsoptimismus der Gründerjahre ist um die Jahrhundertwende allgemeiner Skepsis und Enttäuschung gewichen, da die zunehmende Technisierung und Industrialisierung nicht die lang herbeigesehnten Veränderungen brachten. Im Gegenteil: Die verunsicherten Menschen der Moderne blickten eher ängstlich in die Zukunft. Die wachsenden Scharen der Ausgebeuteten nahmen jedes Wort, das ihnen bessere Aussichten bot, begierig auf, was einen günstigen Boden für Pro-

1 Wilhelm Szewczyk: Vorwort zu: Gerhart Hauptmann: Szaleniec boży Emanuel Quint. 2. Auflage. Aus dem Deutschen von B.Merwin. Katowice: Śląsk 1964, S. 5. 2 Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint. Frankfurt am M./Berlin: Ullstein 1962, S. 363. Die Seitenzahlen im Anschluss an Zitate beziehen sich auf diese Auflage. 74 Barbara Pogonowska pheten jeder Art schuf.3 Dies Unbehagen an der Wirklichkeit um 1900 äußert sich in diversen alternativen Welt-, Lebens- und Gesellschaftskonzepten. Der Fall Quint zeigt darüber hinaus, wie die naturwissenschaftlich fundierte Denkweise, die die idealistische Philosophie ablöste, eine Niederlage erleidet. In seinem Aufstieg manifestiert sich ein Bedürfnis nach Individualität und genialer Größe, ein Wunsch nach Metaphysik und Transzendenz im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität. Darauf fußt die Attraktivität von Quints Botschaft und die Faszination für seine Person. Emanuel Quint ist zweifellos eine Individualität, die die Züge eines genialen Menschen trägt. Von den Figuren des Romans wird er mehr- mals ein Genie genannt. So können wir etwa lesen, wie Benjamin Glaser und Kurt Simon „für Emanuel und sein Genie […] inflammiert – mit begeistert klopfenden Herzen“ (307) ihm folgen, er in den Augen Dominiks wiederum „das geborene Genie“ (355) ist und ein junger Künstler „ihn für ein Genie gelten lassen“ (366) will. Nun soll also überprüft werden, inwieweit diese Bezeichnung auf ihn zutrifft und ob die Figur Emanuel Quints tatsächlich in der Tradition des Genie-Gedankens steht. Der Geniebegriff taucht sehr früh auf.4 Schon in der Antike begegnet man dem ‚Genius’, von dem das spätere ‚Genie’ abgeleitet wurde, doch der antike ‚Ge- nius’, unter dem man eigentlich einen Schutzgott verstand, hat wenig gemein mit der neuzeitlichen Genieauffassung. Auch das Mittelalter kennt keinen Geniebegriff, was nicht ausschließt, dass es damals auch begabte Menschen gab. Nur wurden sie alle als Werkzeuge Gottes betrachtet. Die Geburtsstunde des modernen Genies schlägt mit dem Erscheinen von Scaligers Poetik (1561). Hierin schreibt Scaliger dem Dichter angeborene, nicht erlernbare Eigenschaften zu und vergleicht dessen Schaffen mit dem der Gottheit. Das Gleichsetzen der poetischen Produktivität mit dem Schöpfungsakt Gottes schafft den Übergang vom Gott, der inspiriert, zum Menschen selbst, der über kreative Fähigkeiten verfügt. Das Schöpferische wird damit zum Wesenszug eines genialen Menschen, doch zur vollen Entfaltung des Geniekonzeptes kommt es viel später, erst im 18. Jahrhundert, in Gestalt des Originalgenies. In der Kunst der Renaissance herrscht weiterhin das Prinzip der

3 Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1996, S. 276f. 4 Zur Geschichte des Geniebegriffs siehe: Hans Brög: Zum Geniebegriff. Ratingen, Kastellaun, Düsseldorf: Aloys Henn Verlag 1973; Rudolf Hildebrand: Genie. In: Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm, IV. Bd., Sp. 3396ff; Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1982; Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985; Hermann Wolf: Versuch einer Geschichte des Geniebegriffs in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. 1. Bd. Von Gottsched bis auf Lessing. Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1923. Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 75

Nachahmung. In dieser Zeit treten am Genie irrationale Züge auf. Giorgio Vasari spricht von Wahnsinn und Wildheit, der bereits erwähnte Scaliger von der Dunkel- heit des genialen Gedankens. Der Beigeschmack des Religiösen und Mystischen haftet dem Geniebegriff bis heute an. Im 18. Jahrhundert erscheint eine Vielzahl von Abhandlungen zur Geniepro- blematik. Das zunehmende Interesse an diesem Phänomen gipfelt in der Geniezeit (1760-1775). Den Grundstein für die moderne Genieauffassung legen die Engländer (Shaftesbury, Addison, Gerard, Young) und die Franzosen (Dubos, Batteux), deren Überlegungen einen starken Einfluss auf die deutschen Genieästhetiker (Leibniz, Kant, Gottsched, Baumgarten u.a.) haben. Eine besondere Rolle fällt hier Shaftes- bury zu, der in der Figur von Prometheus den Inbegriff des Genies erblickt. Damit liefert er der Sturm-und-Drang-Periode eine Identifikationsfigur. Das Genie wird zum Revolutionär, zum Rebellen, der die alte Ordnung stürzt und neue Regeln schafft. Während der Engländer im Genie ein Mysterium, eine Offenbarung des Geistes sieht, gehen die französischen Denker einen anderen Weg in der Wesens- bestimmung des Genialen und entkleiden das Genie seines mystischen Gewandes. Im Sinne des Rationalismus versuchen sie das Phänomen zu erklären, schreiben dem außerordentlichen Individuum Fleiß, Ausgewogenheit und gesunden Men- schenverstand zu und wollen die Genialität künstlich anerziehen. In der deutschen Geschichte des Genie-Gedankens entdeckt man Spuren beider Sichtweisen. Daraus resultiert, dass mit dem Genie unterschiedliche, oft widersprüchliche Eigenschaf- ten assoziiert werden. Während das Genie für die Aufklärer eine durch Vernunft, Theorie, Geschichte, Tradition und Konvention gebundene höhere Intelligenz ist, prägt gerade das Fehlen dieser Bindungen das überragende Individuum der Sturm- und-Drang-Zeit und der Romantik. Seit dieser Zeit assoziiert man den Geniebegriff mit dem Irrationalen, dem Subjektiven, mit grenzenloser Willkür, einer Flucht vor der Misere des Alltags in ein Traumland und mit Freiheitsstreben. Das Geniale findet nicht immer seinen Ausdruck in einem kreativen Akt, denn das Genie stößt oft auf den Widerstand der Außenwelt, der durchschnittlichen Massen, die nicht im Stande sind, das Genie zu erkennen und es entsprechend zu würdigen. In dieser Überzeugung wurzelt die Idee des verkannten Genies, das sich nicht verwirklichen kann. Unverständnis und Abstoßung durch die Mitmenschen resultieren in Einsamkeit und prädestinieren das Genie zum Außenseitertum. Aus- grenzung wird somit zu einem Attribut des genialen Menschen. Andererseits begeg- net man dem Genie nicht selten mit Bewunderung und Respekt, was im Geniekult mündet. 76 Barbara Pogonowska

Seit der Geniezeit gehört auch das Irresein, dem oft ein höherer Erkennt- nisgrad zugeschrieben wird, zum Bild eines Genies.5 Dieser Gedanke wird von den Romantikern übernommen und fortgesetzt. Allerdings erscheint bei ihnen der Wahnsinn oft als tragische Folge einer überspannten Phantasie und eines überspitz- ten Subjektivismus. Die Gefahr, die Sinne zu verlieren, wird also zur Konsequenz einer künstlerischen Betätigung. Johann Georg Hamann war einer der ersten deut- schen Denker, die das Genie mit der Tollheit in Zusammenhang brachten. Besonders rege wird über den Zusammenhang von Genie und Geisteskrankheit seit Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Auf die krankhafte Disposition des Geistes genialer Menschen machte der italienische Mediziner und Kriminologe Cesare Lombroso6 aufmerksam. Die Deutschen leisteten ihren Beitrag zur Diskussion mit dem um- fangreichen Werk Genie, Irrsinn und Ruhm (1927) von Wilhelm Lange-Eichbaum und den Arbeiten von Ernst Kretschmer7. Ihre These vom pathologischen Ursprung des Genialen belegten die Wissenschaftler durch mehrere Beispiele von hochta- lentierten Künstlern, die an psychischen Krankheiten gelitten hatten. Die Ansicht, dass wahre Kunst dem Morbiden und Pathologischen entspringe, wurde durch die Vertreter der französischen Avantgarde gefestigt8. Wie oben erwähnt, gilt ein schöpferischer Mensch, meistens ein Künstler, als die höchste Verkörperung der Genieidee. Emanuel Quint ist zwar kein Künstler im herkömmlichen Sinne des Wortes, aber er tritt als Prediger vor das Publikum und hält improvisierte Reden. Die öffentlichen Auftritte fordern nicht nur Rednertalent, sondern auch gewisse schauspielerische Fähigkeiten, ein Charisma, um die Zuhörer zu fesseln. Es kann also angenommen werden, dass Quints Predigen ein schöpfe- rischer Akt ist. Gemäß der Genie-Konzeption der Sturm-und-Drang-Periode und der Romantik verfügt der überragende Mensch über angeborene, nicht erlernbare Kenntnisse. Auch Quints Begabung ist nicht erworben - als einfacher Mensch aus niederen Schichten der Gesellschaft hat er keine richtige Schulbildung genossen. Trotzdem verwundert er gebildete Menschen mit seinem Ausdrucksvermögen. Der junge Beleites, ein künftiger Mediziner, der Quints Gespräch mit Kindern zuhörte, ist sehr beeindruckt, denn es „war ungewöhnlich, daß ein Mensch aus niederem Stande […], der nur eine Dorfschule besucht hatte, solche Worte fand“ (219). Quint

5 Vgl. Wilhelm Lange-Eichbaum, Wolfram Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 1987; Gerhard Simson: Genie und Irrsinn. Ein überholtes Begriffspaar. In: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung. Heft 8. Köln 1982. 6 Cesare Lombroso: Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. Leipzig: 1887. 7 Ernst Kretschmer: Geniale Menschen. Berlin: Springer 1929. 8 Vgl.: Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Aus dem Englischen von Christian Detoux. Frankfurt am M.: Fischer Verlag 2007, S. 82. Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 77 wird somit zum Inbegriff des Naturgenies9, dessen Talent nicht im Erworbenen und Schulmäßigen wurzelt. Quint ist eine tragische Gestalt, die an ihrer Geisteskrankheit zugrunde geht. Da eine Affinität zwischen Wahnsinn und Genialität besteht, verdient die Figur Quints in dieser Hinsicht besondere Aufmerksamkeit. Zu Anfang erscheint Ema- nuel Quint keineswegs als ein Geisteskranker. Er kann höchstens als Sonderling eingestuft werden, obwohl der Erzähler ihn ständig einen Narren nennt und auch der Romantitel dies nahelegt. Diese Bezeichnung verdankt Quint wohl seinem Erscheinungsbild, das wenig Anklang bei den Zeitgenossen findet. Die Umgebung stört seine „sonderbar würdige Haltung“ (11), die im krassen Widerspruch zu sei- nem Äußeren steht. Zerlumpt, mit „unbekleideten Füßen“ und dem „unbedeckten Kopf“ (11), ähnelt er einem Landstreicher, als er auf dem Markt zu predigen beginnt. Durch Kleidung und Benehmen hebt sich Emanuel von der Volksmasse ab und sig- nalisiert zwangsläufig, ihr nicht angehören zu wollen oder zu können. Somit nimmt er die Position eines Outsiders an, was wiederum die Vorstellung vom rebellischen Genie evoziert. Emanuel Quint neigt zum Außenseitertum. An einer Stelle gesteht er, dass er „ein von den Menschen Verstoßener“ (22) ist. Diese Worte implizieren ausdrücklich seine Andersartigkeit und Entfremdung von der Gesellschaft. Als Ausgeschlossener zieht Quint allerlei Randexistenzen an. Unter den Talbrüdern, wie sich seine Ver- ehrer nennen, sind Arme, Benachteiligte, Kriminelle und Landstreicher. So finden wir im Umkreis Quints die Weber Scharf, Schubert und Zumpt, den Schmuggler Joseph, den buckligen Schneider Schwabe, den Schmied John oder die ehemalige Prostituierte und später verachtete Kellnerin Elise Schuhbrich. Sie alle versammeln sich um Emanuel, da sie in ihm intuitiv ihresgleichen erkennen. Unverständnis und Zurückweisung begleiten Quint von Geburt an. Er kam als Bankert zur Welt, weswegen er „unter dem Drucke der ausgesuchten Verachtung seiner Umwelt“ (141) aufwuchs. Das Gefühl von Geringschätzung und ständiger Herabwürdigung, das er „im Hause wie außer dem Hause“ (142) erfuhr, prägte seine Kindheit und trieb ihn beinahe in den Selbstmord. Sein einziger Trost wurde ihm damals der Glaube an den Heiland. In Christi Leidensweg meinte der kleine Emanuel sein eigenes Schicksal entdeckt zu haben. Der Glaube ließ ihn Selbstver- achtung und Minderwertigkeitsgefühle infolge sozialer Diskriminierung überwin-

9 Die Diskussion über das Verhältnis von ‚ingenium’ und ‚studium’, also zwischen dem Erlernten, Erworbenen und angeborener Begabung, Talent, Inspiration war im 18. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil des Geniediskurses. Der englische Denker Joseph Addison popularisierte die Unterscheidung von Naturgenie und Bildungs-Genie, das keine Naturbegabung war, wobei er dem Ersteren den Vorzug gab. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Basel 1974, Bd. 3, Sp. 283. 78 Barbara Pogonowska den. Er schlief mit einem zerlesenen Bibelexemplar, das er von einem Kolporteur geschenkt bekommen hatte, und genoss im Geheimen den Umgang mit dem Gött- lichen. Als er zu fantasieren beginnt, innere Bilder mit der Wirklichkeit verwechselt und unverständliche Worte redet, fällt er in seinem Umfeld sofort auf. Er ist anders. Seine Mutter befürchtet, er „könne auf dem Wege zum Wahnsinn sein“ (142), und der Romanerzähler erblickt gerade in der überspannten Phantasie des Kindes den „Grund zu seiner späteren, so verhängnisvollen Torheit gelegt“ (142). Emanuel wird von seinen Nächsten nicht akzeptiert. Besonders grausam gehen mit ihm sein Stiefvater und sein fleißiger Stiefbruder August um. Von ihresgleichen unterscheidet sich die Titelfigur zweifellos durch die „Ma- rotte, kein Geld anzunehmen“ (34). Quint weist einige Pfennige des Quartiergel- des zurück, die ihm Bruder Nathanael überreicht, weigert sich auch, eine kleine Summe anzunehmen, die ihm von den Schaulustigen angeboten wird, als er von dem Gendarmen abgeführt wird. In der materialistisch geprägten Welt vermag dies tatsächlich zu erstaunen. Durch solche Haltung manifestiert der Held seine Opposition zur Außenwelt und zeigt sich als Abweichler. Quints Vorsatz, kein Geld zu berühren, stößt nicht nur auf völliges Unverständnis der Zeitgenossen, sondern ruft ihre Aggression hervor. So lesen wir von einem Herrn von Kellwinkel, den „die leider von Emanuel eigensinnig festgehaltene Wunderlichkeit, weder Geld zu nehmen noch auszugeben […] immer wieder erheblich aufreizte.“ (237) Der mit Quint sympathisierende Lehrer Krause rät ihm, „die Marotte von wegen des Geldablehnens einzustellen, durch die nun einmal die Leute gereizt würden.“ (242) Als er im Amtsgericht seiner Kreisstadt unter anderem wegen Bettelei verhört wird und dem verblüfften Richter seine Abneigung gegen Geld signalisiert, schickt ihn dieser in eine nahe Irrenanstalt. In solchen Szenen weist Hauptmann auf die Rolle des sozialen Umfelds in der Bestimmung der Normalität hin. Das Stigma eines Verrückten erhält Emanuel auch durch seine feurigen Pre- digten unter freiem Himmel. Sein Appell an die Massen - „Tut Buße! Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (11) – klingt jedoch nicht unzeitgemäß und ist kein Indiz für seine geistige Verwirrung. Im Deutschland der Jahrhundert- wende blühten zahlreiche Sekten. Die pietistische Bewegung erhielt damals neuen Zulauf, was auf die allgemeine Skepsis der Gläubigen gegenüber dem offiziellen Kirchenleben zurückzuführen ist. Der Erzähler spricht in diesem Zusammenhang von „neue[m] Glauben und Frühlingsgefühl in der deutschen Luft“, die sich „ge- rade zu jener Zeit, um das Jahr neunzig“ (75) verbreiteten, und schreibt diesem Phänomen rauschhafte Züge zu: „Es war ein Rausch“ (75). An einer anderen Stelle berichtet er von einem entlegenen niederschlesischen Dorf, in dem „ein pietistischer Sektengeist“ (133) gepflegt wird. Arme Weber und Korbflechter finden sich dort Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 79 zu Betstunden zusammen. Nach langem Gebet geraten sie in ekstatische Zustände. Dargestellt wird im Text, wie „ein zahnloses altes Weib“ sich von den Knien erhebt und „in einer unverständlichen Sprache, fast unverständliche Worte“ (133) auszu- sprechen beginnt. Die Gemeinde hält ihren Ausbruch für das „>mit Zungen reden<, von dem die Apostelgeschichte berichtet“ (133). Das Bild des religiösen Lebens in der deutschen Provinz ergänzen auch Wanderprediger, die beim einfachen Volk Gehör finden. Hauptmann stellt so in der Gestalt des Bruders Nathanael Schwarz einen Laienprediger dar, der nicht nur unter ungebildeten Dorfbewohnern großes Ansehen genießt. Vor diesem Hintergrund schreibt sich Quints Anliegen, Gottes Lehre zu verkünden, durchaus in zeittypische religiöse Praktiken ein und kann also nicht für ein krankhaftes Symptom gehalten werden. Das Gleiche trifft auf Quints Betpraxis zu. Im zweiten Kapitel des Romans sehen zwei Vorbeigehende Emanuel in den ersten Sonnenstrahlen inbrünstig beten. Die Gestalt beeindruckt sie tief, stellt aber nichts Ungewöhnliches dar, auch wenn der Erzähler das Gebet mit einer „wunderlichen und kranken Ekstase“ (34) vergleicht. Auf eine krankhafte Disposition des Geistes deuten, wie es scheint, Quints Sinnestäuschungen. Im dritten Kapitel berichtet der Erzähler, dass Emanuel „dring- liche Stimmen flüstern“ (45) hört. Ein anderes Mal muss er sich sogar die Finger in die Ohren stecken, um „das tausendfältige Zischeln eines wilden Dämonen- gelichters […] nicht hören zu müssen“ (51). Das Hören von Stimmen muss aber nicht unbedingt ein Ausdruck seines krankhaften Gemütszustands sein. Nachdem Emanuel das Elternhaus verlassen hatte, wanderte er durch die Gegend, schlief in Strohschobern, trank nur Wasser und ernährte sich von Wurzeln. Man weiß, dass der Schlaf- und Nahrungsentzug bei mittelalterlichen Asketen in Gesichten resul- tierte. So darf man auch in diesem Fall annehmen, dass schlechte Lebensweise und Auszehrung auditive Täuschungen herbeigeführt haben. Quints Verhalten weist bis zu seinem verhängnisvollen Kerkertraum kaum krankhafte Symptome auf, obwohl er die ganze Zeit gegen die Versuchung an- kämpft, sich selbst für Christus zu halten. Nach einigen Wochen der Abgeschieden- heit in den Bergen macht Emanuel eine innere Verwandlung durch. Er „verwarf alle Phantastik von ehedem“, heißt es im Text, „alle Ekstasen und Übertreibungen“ (60). Auch sonst macht er „keineswegs den Eindruck eines Verrückten oder eines vom Teufel besessenen“ (184), wie eine der Heldinnen bezeugt. Außerdem beeindruckt er die Umgebung durch seine Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin. Obwohl der Erzähler ihn ständig einen Toren oder Irren nennt, bestätigen viele Menschen, mit denen Emanuel in Berührung kam, dass er lediglich ein harmloser Sonderling sei. Das Gurauer Fräulein, Quints Gönnerin, die sich seiner annimmt, räumt im Gespräch ein: „mein Bruder war auch ein Sonderling.“ (211) Ihre Meinung wird 80 Barbara Pogonowska im psychiatrischen Gutachten bestätigt, in dem steht, dass „Quint zu den Sonder- lingstypen gehöre, im übrigen aber als gesund und höchstens mit Zeichen leichten Schwachsinns behaftet anzusprechen wäre“ (139). Pathologischen Charakter hat dafür das Tun und Treiben von Quints Vereh- rern. Emanuels auf dem Markt zu Reichenbach gehaltene Predigt ruft die Gebrü- der Scharf auf den Plan, von denen es heißt, sie „galten nicht für ganz richtig im Kopfe“ (16). Anton und Martin geraten bei der ersten Begegnung mit Emanuel in seinen Bann und wirken dann aktiv an der Entstehung und Verbreitung von Quints Legende. Sie lassen sich von seiner Botschaft über das kommende Himmelreich hinreißen und missdeuten seine Worte. Zu Anfang behauptet Emanuel ja nicht, dass er ein Heiland sei. Die Brüder Scharf sind es, die ihn in ihrer religiösen Verblendung für die Verkörperung Christi halten. „Diese armen, unwissenden Menschen“, gibt er zu, „halten mich am Ende in ihrem Fieberwahn wahrhaftig und wirklich für Jesus Christus, Gottes Sohn“ (70). Trotzdem unternimmt Emanuel wenig, um die Irren aufzuklären, wodurch er in Kauf nimmt, dass ihre Verrücktheit auf sein Image abfärbt. Die geistige Verwirrung der Gebrüder wird im Text an mehreren Stellen signalisiert. Dabei kommt den Augen eine besondere Rolle zu – an den Augen ist Scharfs Irrsinn am deutlichsten zu erkennen. So können wir mehrmals von den krankhaft leuchtenden Augen der Brüder lesen, von einer seltsamen Flamme in ihrem Blick. Hauptmann zeigt, dass einfache Leute besonders anfällig für allerlei Propheten seien. Demzufolge rekrutieren sich Quints Anhänger in erster Linie aus den ärmsten Schichten der Dorfbevölkerung. Die Handlung des Romans spielt in den sozial schwachen Regionen Niederschlesiens, wo es ein halbes Jahrhundert zuvor (1844) zu dem blutig niedergeschlagenen Weberaufstand kam. Die Brüder Scharf und andere Anhänger erfüllen im hauptmannschen Text nicht nur die Funk- tion des sozialen Umfelds für den Titelhelden. Sie stellen eine Verehrergemeinde dar, wie sie zum Bild eines Genies gehört. Das Verhalten Emanuels weist pathologische Züge erst nach seinem Gefäng- nisaufenthalt auf. Da träumt er von einer geistigen Vereinigung mit dem Heiland und ist seitdem fest überzeugt, dass er selbst infolge dieses mystischen Erlebnisses Gottes Sohn geworden sei. Sein anfänglicher Vorsatz, in die Fußstapfen des Erlösers zu treten, den Leidensweg des Messias zu wiederholen, mündet im religiösen Wahn. Quint identifiziert sich mit Christus und gibt sich vor seinen Anhängern, die ihn zum geistigen Anführer wählen, als solcher zu erkennen. Träume und Visionen – von der Wahnsinnsfrage abgesehen – rücken die Figur Emanuels in die Nähe eines ro- mantischen Genies. Die Konzeption des ‚poeta vates’ schreibt einem dichterischen Genie prophetische Fähigkeiten zu, die in traumartigen Visionen realisiert werden. Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 81

Die Überzeugung, dass das geniale Schöpfertum einen visionären Charakter habe, wurzelt tief in der romantischen Apotheose der Kunst. Zur Verfolgung und Stigmatisierung Emanuel Quints als Geisteskranker trägt seine negative Einstellung zur Arbeit bei. An mehreren Stellen des Romans wird Emanuel sein Müßiggang vorgehalten, der die geltenden Normen des bürgerlichen Wertesystems verletzt. Gleich zu Anfang des Romans teilt der Wachtmeister Kraut- vetter mit, „dass Quint in seinem Dorfe als Nichtstuer gelte, seiner armen, fleißigen Mutter zur Last liege.“ (13) Zahlreiche Schimpfwörter drücken die Abneigung der Gesellschaft gegenüber dem faulen Tischlersohn aus. Diese fokussiert sich in der Worttirade Herrn von Kellwinkels: „Lümmel, infamer [… ] Schmarotzer, verfluchter […] Bube! Kriechender, feiger, hinterhältiger, schmarotzerischer, gei- ler, arbeitsscheuer, schleichender Schuft […] nichtsnutziger, fauler, arbeitsscheuer Rumtreiber“10 Der Adlige verliert gänzlich die Fassung, als er erfährt, dass Emanuel seine Leute vom Arbeiten auf dem Feld abhält, indem er sie fragt, „ob denn das Zuckerrübenhacken oder das Heil ihrer Seele wichtiger sei.“ (279) Erwerbslosigkeit gilt als schweres Vergehen auch in den Augen der Geist- lichen. Mit der Arbeitsverweigerung gefährdet Quint die bestehende, durch die Religion legitimierte gesellschaftliche Ordnung. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (13), ermahnt ihn ein Pastor zum Fleiß. Dass Faulheit ein schweres Laster ist, bezeugt eine Episode im zweiundzwanzigsten Kapitel des Romans. Hierin traut sich Schwester Hedwig nicht, Doktor Hülsebusch zu sagen, dass Emanuel nicht berufstätig ist: „Die Frage, in welchem Berufe Emanuel arbeite, brachte die Schwester in eine gewisse Verlegenheit.“ (337) Um das arbeitsscheue Individuum, von dem „allerlei öffentlicher Unfug […] zu vermuten stehe“ (96), in den Prozess der Produktion und Konsumption einzugliedern, wird von der Be- hörde „die Unterbringung des pp. Quint in ein Arbeitshaus, bezugsweise in die Provinzial-Irrenanstalt geboten“ (96). Dabei ist zu bemerken, dass Emanuel sich selbst keineswegs als Müßiggänger wahrnimmt. Von einem Pfarrer nach seinem Beruf gefragt, antwortet er vollen Stolzes auf seinen geistigen Auftrag: „Ich bin ein Werkzeug! Es ist mein Beruf, die Menschen zur Buße zu leiten! – Ich bin ein Arbeiter im Weinberge Gottes! - Ich bin ein Diener am Wort! – Ich bin ein Prediger in der Wüste!“ (13) Hier realisiert Emanuel die Idee des Genies – in der Sturm- und-Drang-Ausführung – , das sich über allgemein geltende Normen hinwegsetzt und neue Gesetze schafft. Arbeitslosigkeit wird zu einem belastenden Umstand auch vor Gericht. Als Quint des Mordes an Ruth bezichtigt wird, lässt der Staatsanwalt keine Zweifel an

10 Als Synopse zusammengestellt, S. 278f. 82 Barbara Pogonowska der Schuld seines Mandanten aufkommen und resümiert wie folgt: „Mit Arbeits- scheu, alias Faulheit, war nun im Falle, der vorlag, wie so oft, der erste Schritt auf der Bahn des Verbrechens gemacht worden.“ (403) Die Fähigkeit, ein normales Erwerbsleben zu führen und ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu sein, wird hier zu einer Determinante sozialer Norm und psychischer Gesundheit. Die Stigmatisierung Quints als Irrer erfolgt also nicht aus medizinischen, sondern aus sozialen Gründen. Seine Auftritte gefährden die bestehende Ordnung. Darauf geht auch der oben zitierte öffentliche Ankläger ein, der alle „staatsgefährliche[n] Äu- ßerungen“ (404) Quints sorgfältig zusammenträgt und klassifiziert: „Gegen die Monarchie! Gegen die Religion! Gegen die Kirche! Gegen den Staat!“ (404). Die Liste der Vergehen schließt mit der Information, dass Quint sich „für freie Liebe erklärt“ hat und „mit aller Entschiedenheit gegen das Privateigentum“ (404) eintritt. Diese Zusammenstellung liest sich wie das Programm eines Weltverbesserers der Sturm-und-Drang-Provenienz, der keiner Autorität unterliegen will und auf völlige Autonomie pocht. Nun soll aber untersucht werden, inwieweit Hauptmanns Held in die Rolle des genialen Weltreformers schlüpft. Quint stellt eine Gefahr für die Kirche als Institution dar, weil er das Mo- nopol der Geistlichen auf ihre Mittlerrolle zwischen Gott und Gläubigen verletzt. Ein Pfarrer gibt Emanuel zu verstehen, dass nur er „ein berufener Diener Gottes“ sei, der einen tieferen Einblick „in die Pläne und Absichten Gottes durch Amt und Beruf“ (14) habe. Mit seiner Anmaßung, die Menschen zu bekehren, trete Emanuel „Gottes Ordnung mit Füßen“ (14). Die Ordnung, auf die der Pfarrer pocht und an der Emanuel rüttelt, ist die Ständeordnung. Auf die besondere Rolle der Kirche für den Erhalt des sozial-politischen Systems macht der besagte Pfarrer Emanuel aufmerksam, indem er sagt: „dieses Pflänzchen vor allem sollen wir gießen und nähren in der Volksseele: Gehorsam gegen die Obrigkeit.“ (14) Er belehrt den aufsässigen Tischlersohn: „Gott hat die Menschen in Stände geteilt […] Er hat einen jeden Menschen nach seinem Stand und seinem Bildungsgrad in ein Amt gesetzt.“ (14) Emanuels Schuld liege darin, dass er „in den […] von Gott gezogenen Grenzen“ (15) nicht bleiben will. Schließlich argumentiert der Geistliche, dass das Predigen „einen klaren, gebildeten Kopf“ verlange, und diesen habe Quint nicht; „Den hat man in deinem Stande nicht“ (15). „Bete und arbeite“ (13), daran solle sich Quint halten. In ähnlichem Ton sprechen sich andere Romanfiguren aus wie etwa der Lehrer Stoppe, indem er sagt: „Tue jeder seine Pflicht und diene Gott im Verborgenen an dem ihm zugewiesenen Ort!“ (110). Quints negatives Verhältnis zur Institution Kirche zeigt sich auch in seiner Weigerung, am Gottesdienst teilzu- nehmen, was ihn besonders verdächtigt macht. Diese Absage an kirchliche Rituale resultiert zum Teil auch aus seiner Glaubensauffassung. Zu seinen Jüngern sagt er Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 83 einmal: „Ihr aber seid die Tempel Gottes, Tempel, die da wandeln und erfüllt sind von Gottes Geist. Andere Tempel […] gibt es nicht.“ (359) Unter diesem Gesichts- punkt ist auch Emanuels Tobsuchtsanfall zu verstehen, während dessen er das Innere der Kirche demoliert. Gottes Wort predigend begehrt Quint gegen die Obrigkeit auf. Er prangert die Mächtigen dieser Welt an, d.h. den Kaiser, den König, Generäle, Minister, hohe Geistliche, Magnaten, Fürsten, den Gerichtspräsidenten, Richter, Schöffen, Polizeiverwalter, Polizisten, Landherren und Fabrikherren. Jedoch verbergen sich hinter seiner Kritik an der herrschenden Klasse keine revolutionären Absichten. Er hat nicht vor, an der Umgestaltung der sozialen Verhältnisse mitzuwirken und bringt den Benachteiligten nur sein Mitleid entgegen. In diesem Punkt weicht er wesentlich von der seit der Geniezeit überlieferten Genievorstellung ab. Quint strebt die Erneuerung im Glauben an und verwirft jegliche Gewalt. Diese Haltung kommt ganz krass zum Vorschein in einer Szene gegen Ende des Romans, in der Emanuel von dem Zuhälter, dem schwarzen Karl, geohrfeigt wird. Daraufhin beugt sich Emanuel und küsst die Hand seines Schinders. Anzuführen sind in diesem Kontext auch Emanuels Worte an einen jungen Menschen, der den Militärdienst mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Quint rät ihm, dem König den Treueschwur zu verweigern und die Waffe abzulegen, auch wenn er dann zur Strafe eingesperrt oder getötet wird. Pazifistische Ansichten Quints – obwohl christlich motiviert – gefährden die Fundamente des deutschen Militarismus und werden zwangsläufig als staatsfeindlich betrachtet. Die Massen, die Quint anzieht, suchen in der Religion Trost und trachten in gewissem Sinne nach einer Verbesserung ihrer sozialen Lage: „In ihren Reden […] war nicht die Erlösung aller das Wichtige, sondern vielmehr die Verfluchung der Schlechten, das Gericht!“ (75) Der Rachsucht seiner Anhänger stellt Quint christliche Vergebung und Nächstenliebe gegenüber: „Segnet die, die euch fluchen! Bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen! Tut wohl denen, die euch hassen! Liebet euren Nächsten wie euch selbst!“ (344) Trotzdem erblicken die Behörden in Quints Tätigkeit eine große Gefahr und wittern verkappten Sozialismus. Er mache die „Gebirgsleute aufsässig“ (111), klagt an einer Stelle der Lehrer Stoppe, und befürchtet den Konflikt mit der Obrigkeit. Da Quint seine Gedanken und Absichten fast nie klar und verständlich formuliert, sondern sich meistens unterschiedlicher Bibelzitate und -fragmente bedient, wird seine Sendung oft missdeutet. Den Inhalt seiner Pfingst-Predigt wiedergebend, stellt der Erzähler fest: „Auch mengte der Narr im Feuer des Augenblicks wohl allerlei widersprechende Dinge zusammen“. (80) Man vermutet, dass Quint den Sozialisten nahesteht. Dies befürchtet etwa ein Pastor, der im Namen des Gurauer Fräuleins Emanuel ausfragt: „Willst du die 84 Barbara Pogonowska

Lage der armen Bevölkerung aufbessern? […] Strebst du die Gütergemeinschaft an, wie sie bei den ersten Christen üblich war? Neigst du zu den Sozialisten?“ (156) In Quints Umfeld taucht tatsächlich ein sozialistischer Agitator namens Kurowski auf. Dieser ist auf Emanuels Anhängerschaft neidisch und würde sie gern auf seine Seite ziehen. Er hält Quint vor, dass dieser auf „alte törichte Märchen baut“, wäh- rend er in seinem Programm auf der „soziale[n] Wissenschaft“ (66) basiert. Quint zieht auch die Aufmerksamkeit zweier „Schwärmer, Dichter und Sozialisten“ (83) auf sich. Die Brüder Hassenpflug, auf Emanuel und seine Ansichten neugierig geworden, verwickeln ihn in ein Gespräch. Von ihnen hört Quint zum ersten Mal in seinem Leben etwas über sozialistische und anarchistische Ideen, und obwohl er sich mit letzteren nicht identifiziert, verfolgt er sie mit großem Interesse. Quint und seine zwei Begleiter haben – bei allen Unterschieden – eins gemeinsam: utopi- sches Denken. Doch während die Gebrüder Hassenpflug „paradiesische Zustände“ in einem „sozialistischen Zukunftsstaat“ (84) verwirklicht sehen, strebt der Narr in Christo ein Himmelreich an. Alle drei gehören also in die Kategorie genialer Schwärmer. Der Geniebegriff evoziert ja, wie schon gesagt wurde, die Vorstellung eines Reformers und Weltverbesserers. Den Ausgangspunkt bildet dabei eine kri- tische Stellungnahme zur Außenwelt. Quints negative Einstellung zur Wirklichkeit ist auch in seiner Kritik an der modernen Zivilisation sichtbar. So können wir lesen: „Quint glaubte zu sehen, wie die gesamte moderne Zivilisation nichts weiter als eine erzwungene Orgie ohne inneren Sinn, verbunden mit einem Faden, oberflächlichen Rausche, war“ (343). Da Emanuel durch seinen kritischen Standpunkt gegenüber den bestehenden Verhältnissen eine Gefahr für den Erhalt der herrschenden Gesellschaftsordnung darstellt, wird er ein paar Mal verhaftet. Seine Internierung mit dem Verweis auf ein psychisches Leiden dient der Neutralisierung seines angeblich destruktiven Einflusses auf die Massen. In diesem Zusammenhang wird sein Wahnsinn zu einem Etikett, mit dem alle unangepassten Individuen, alle gegen anerkannte Normen Aufbegehrenden versehen werden. Ein wichtiges Element in der Wesensbestimmung des Genialen macht eine spezifische Aura aus, die ein Genie umgibt. Es ist eine Art besonderer Ausstrah- lung, die einem genialen Individuum eigen ist und von seiner Umgebung intuitiv wahrgenommen wird. Die Wirkung der Aura drückt sich in der Faszination aus, die ein Genie auf seine Mitmenschen ausübt. Hauptmanns Held verfügt zweifelsfrei über eine magische Anziehungskraft. Dies zeigt sich schon in seiner Kindheit. Der sadistische Stiefbruder August ist auf Emanuel neidisch, auf seine Anziehungskraft, die er zwar fühlt, aber nicht begreifen und in Worte fassen kann. Er „fühlte sehr wohl in Emanuel irgendein geistiges Wesen, das zu begreifen ihm nicht gegeben Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 85 war: ein Etwas, das er heimlich bewunderte“ (146). Auch die Mutter verspürt die geistige Ausstrahlung des Sohnes und begegnet ihm mit Respekt, zuweilen auch mit echtem Mutterstolz. Auch sie ist nicht im Stande zu verstehen, wovon die Kraft Emanuels herrührt. Die unheimliche Wirkung, die Quint auf die Außenstehenden ausübt, wird im Text vielfach thematisiert. Als Erste erliegen der „Macht“ (16), die von Emanuel ausgeht, die fanatischen Brüder Scharf. Ihnen folgen dann die moralisch fragwür- digen Figuren wie Schwabe und der böhmische Josef. Aber nicht nur arme Leute geraten in seinen Bann. Das Gurauer Fräulein, die pietistische Adlige, kann sich seiner Faszination nicht entziehen, was sie mit den folgenden Worten bezeugt: „Ich scheue mich nicht, noch mehr zu bekennen: ich habe diesem Menschen, wie noch nie einem Menschen in meinem Leben, gleichsam bezaubert und geradezu andächtig zugehört.“ (187) Sie stellt dann fest: „Es ruht eine […] eigentümliche Kraft zu faszinieren in ihm.“ (187) Die Wirkung Emanuels ist so groß, dass einige seiner Gesprächspartner ihrer selbst nicht mehr Herr werden. Der Wanderprediger Nathanael Schwarz gesteht, dass Quint auf ihn „einen sinnverwirrenden Eindruck gemacht“ (306) hat, und die besagte Adlige klagt, dass sie nach der ersten Begeg- nung mit Emanuel nicht mehr wusste, „was mit [ihrer] Seele geschehen war.“ (175) Kurt Simon, ein junger Schreiber, schätzt die Bekanntschaft mit Quint besonders hoch. Ihm kann der verschlossene Mann alles anvertrauen. „Emanuel Quint, etwa zehn Jahre älter als Kurt, wurde für diesen zur Autorität“ (235), kommentiert der Erzähler. Auch Kurts Freund, Benjamin Glaser, Sohn eines Gutsbesitzers, fühlt sich wohl in Quints Gegenwart. Beide Männer verspüren „eine rätselhafte Kraft“ (320), die sie anzieht, und bewundern Emanuel auch aus einem anderen Grund. Sie, ide- alistisch aufgelegt, beneiden ihn um seinen Mut, sich der Welt zu widersetzen. Folgende Worte weisen Emanuel wieder als einen Weltverbesserer aus, der die Verhältnisse kritisch befragt: „Die jungen Leute bewunderten Quint, weil er sich mutig in Gegensatz zur gesamten Welt zu stellen getraute, einer Welt, die überall im Gegensatz auch zu ihren Naturen stand.“ (308) Dabei muss noch einmal betont werden, dass Quint nicht auf eine Änderung der bestehenden Ordnung im her- kömmlichen Sinne zielt. Seine Ansichten haben eindeutig utopischen Charakter und fußen auf der christlichen Idee der Selbstlosigkeit. Die Auswirkungen von Emanuels magischer Aura lassen sich gut am Beispiel des tragischen Schicksals der kleinen Ruth Heidebrand verfolgen. Das fünfzehn- jährige exaltierte Mädchen gerät in psychische Abhängigkeit von Emanuel. Unter seinem Einfluss fällt sie eines Tages in einen „magnetischen Schlaf“ (222) und hat Gesichte. Ihr seltsamer Zustand ergibt sich zweifellos aus dem Umgang mit Emanu- el. Sie entfernt sich innerlich von ihrem Verlobten, und ihre Eltern beobachten be- 86 Barbara Pogonowska unruhigt, „wie Quint ihre Tochter an unsichtbaren Banden und Ketten hielt.“ (224) Als Quint das Haus ihrer Eltern verlässt, um sich den Talbrüdern anzuschließen, beschließt Ruth ihm zu folgen und flieht nachts aus dem Elternhaus. Als sie den zweiten Versuch unternimmt, Emanuel näher zu kommen, wird sie ermordet. Quint kann tatsächlich die Sympathie seiner Mitmenschen für sich gewinnen, wovon seine stets wachsende Verehrergemeinde zeugt. Viele werden von seinem „verführerische[n] Lächeln“ (244) beeindruckt: „Das liebe, kaum merkliche Lä- cheln, das zuweilen um Emanuels Lippen spielte, war etwas, das ihm unwidersteh- lich viele Herzen gewann.“ (244) „Dies stumme Lächeln“, lesen wir weiter, „glich einem Frühlingssonnenblick, der zu gleicher Zeit das Eis zerschmilzt und die Blume zum Blühen bringt“ (244) Von Quints Charisma überzeugen sich auch Bohemiens, die im Breslauer Lokal „Musenhain“ verkehren. Hier verbringt Emanuel in der Begleitung seines Freundes Dominik und dessen Geliebter Elise Schubrich viele Abende. Bald zieht er Dichter und Maler, Studenten und Professoren dorthin und wird zum Mittelpunkt der Tafelrunde. Zwar genießt Quint unter den Künstlern „den Respekt eines Irrsinnigen“ (353) und manche machen sich über ihn lustig, aber bald erliegen sie alle der Faszination seiner Persönlichkeit. Auch wenn sie nicht ganz ausschließen können, es in der Gestalt Quints mit einem Betrüger zu tun zu haben, können sie sich des Eindrucks, „von etwas Übernatürlichem angezogen“ (370) zu werden, nicht erwehren. Die oben unternommene Analyse der Titelgestalt des Hauptmannschen Ro- mans weist Emanuel Quint als Exponenten menschlicher Größe aus. Zwar vertritt Emanuel keinen künstlerischen Berufsstand, aber er verdient den Genietitel zu führen. Seine Rednerbegabung, seine prophetisch-visionären Fähigkeiten, seine ungewöhnliche Einbildungskraft, Sensibilität, geheimnisvolle Aura, Autonomie des Denkens, innere Freiheit und ein Hang zur Einsamkeit und zum Morbiden prädestinieren ihn zum Genie. Er verwirklicht den Genie-Gedanken aus der Sturm- und-Drang-Periode und der Romantik. Zum wichtigsten Wesenszug eines schöp- ferischen Genies werden die Auseinandersetzung mit der alten Ordnung in allen Bereichen und das Setzen neuer Normen und Regeln. In dieser Hinsicht realisiert Emanuel das Ideal eines Genies allerdings nicht ganz. Zwar widersetzt er sich den bestehenden Verhältnissen, will aber nicht aktiv an der Verbesserung der Lage teilnehmen. Trotzdem bleibt Quint eine überragende Persönlichkeit, die in der Genie-Tradition steht. In der Entwicklung der Genie-Idee markieren die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine endgültige Abdankung des Genies. Dies ist eine Konsequenz des überspitzten Autonomieanspruchs des romantischen Genies, der es von Welt und Gesellschaft allmählich ablöste. Die postromantischen Schriftsteller, darunter Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 87

Heine und Büchner, sowie die Autoren der späteren Generationen wenden sich der zeitgenössischen Gesellschaft und ihren Problemen verstärkt zu. Die rasche Entwicklung der Naturwissenschaften leitet eine Wende in der Geistesgeschichte ein. Es erfolgt eine Orientierung hin „zum Gesellschaftlich-Konkreten, zum Realen und ‚positiv’ Erfahrbaren.“11 Diese Abwendung von allem Idealen, Metaphysischen und Individuellen lässt paradoxerweise ein Bedürfnis nach Übernatürlichem, Ge- heimnisvollem und Unerklärlichem entstehen. Dies erklärt Quints überraschende Karriere und erlaubt es, Hauptmanns Roman als eine Reaktion auf die naturalisti- sche, naturwissenschaftlich fundierte Entzauberung der Welt zu betrachten.

11 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens…, a.a.O., S. 167f.

Mirosława Czarnecka Wrocław

Dissimulatio als Gerhart Hauptmanns rhetorische Strategie zur Verteidigung des Patriarchats im Roman Die Insel der Großen Mutter, 1924

Europa nach dem I. Weltkrieg war Schauplatz einer alle Bereiche des Lebens umfassenden Krise. Die Humankatastrophe von bis dahin unvorstellbarem Aus- maß erschütterte das christlich-bürgerliche Moral- und Wertesystem. Das Patri- archat als unhinterfragtes ontologisches System, das die hierarchische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft auf allen Ebenen bestimmte und kontrollierte, das die Geschlechterrelationen und kulturelle Geschlechtsrollen festschrieb, kompro- mittierte sich. Daraufhin begann eine Diskussion über die Zukunft Europas, über eine Neuordnung der Gesellschaft und das heißt auch eine Neuordnung in den Geschlechterrelationen. Diese Diskussion war für die Literatur der Nachkriegszeit mitbestimmend, und der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann schreibt sich mit seinem Roman „Die Insel der Großen Mutter“ in diesen Europadiskurs ein. Wenn wir die im Roman dargestellte Schiffskatastrophe, aus der neben einigen Kindern nur Frauen gerettet werden, die – ähnlich wie europäische Frauen im I. Weltkrieg bei Anwesenheit der Männer die männlichen Rollen in der Familie und in der Öffentlichkeit übernehmen, - wenn wir also diese Schiffskatastrophe als Kriegsmetapher lesen, so scheint das ganze utopische Konzept der Gründung eines Frauenstaates auf der paradiesischen Insel eine Antwort Hauptmanns auf die Zeitfragen über die Zukunft Europas zu sein. Zumal Europa in seinem Roman als „Finstermannland“ bezeichnet und die Gewalttat grundsätzlich als mannesunwür- diges Handeln abgelehnt wird. Auch in der Paralipomena zum Roman schreibt Hauptmann sehr kritisch über die Pathologie der Weltgeschichte und über den kranken Staatsorganismus, der eine Massenvernichtung und Zerstörung von Kul- turgütern zulässt und akzeptiert1.

1 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, 11 Bde., Frankfurt a.M., Berlin 1962-1974, hier vgl. Bd.11 S. 347-371. 90 Mirosława Czarnecka

Der Roman, an dem Hauptmann seit 1916 gearbeitet hatte, erscheint 1924, zur gleichen Zeit also wie der wichtigste deutsche Romane über die Krise der bürger- lichen Welt: „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Hauptmanns Werk wurde bei weitem kein mit dem „Zauberberg“ vergleichbarer Erfolg beschieden. Die deutsche Kritik reagierte ablehnend, vor allem wurde auf die Banalität der Narration und des Inhalts verwiesen, man warf Hauptmann einen Mangel an ironischer Haltung vor.2 Auch in meinem Urteil ist dieser Roman sowohl in seinem synkretischem Ideen- gehalt als auch auf formaler Ebene misslungen. Die Narration wird durch häufige Wiederholungen, zu groß ausgebaute Beschreibungen sowie durch unsere Geduld strapazierende ethnographische, kultur- und religionshistorische und philosophische Passagen, gestört. Im Gegensatz aber zu den kritischen Stimmen, will ich in der Narration dieses Textes durchaus eine ironische Haltung Hauptmanns aufdecken, nämlich die rhetorische Strategie des dissimulatio. Nach dem Handbuch der Rhetorik ist dissimulatio eine rhetorische Technik der Verstellung, des unkenntlich Machens, der Verheimlichung eigener Meinung. Die Intention des Sprechers ist das Gegenteil dazu, was er sagt. Durch die Bloßstellung der Meinung des Gegensprechers gelingt eine bedeutungsvolle Anspielung auf das nicht ausgedrückte eigene Meinung des Sprechers3. Meine These ist, dass es nicht Hauptmanns Intention war, einen Frauenstaat als ein refugium und eine Zukunftsperspektive für die kompromittierte patriarchale Gesellschaftsordnung zu entwerfen. Vielmehr lese ich seinen Roman als eine mit der Strategie des dissimulatio geführte Auseinandersetzung mit dem Bild der neuen Frau und sein Plädoyer für die Revitalisierung der traditionellen Geschlechterord- nung als ein Rettungsmanöver für Europa nach dem Krieg. Die neue Frau, dieses neue Weiblichkeitsmodel, das aus dem emanzipatorischen Impetus des I. Weltkrieges hervorging und in den 20er Jahren unter starkem Einfluss der amerikanischen Massenkultur in europäischen Metropolen durch neue Medien und Unterhaltungsindustrie propagiert war, begeisterte und beunruhigte zugleich. Sie war emanzipiert, genoss die sexuelle Freiheit, wollte und konnte sich bilden und beruflich emporsteigen, strebte nach individueller Entwicklung und lehnte traditio- nelle Geschlechterverhältnisse ab, die ausschließlich in der Ehe eine legale Form der Frau-Mann-Beziehungen anerkannten. Die neuen Geschlechterrelationen wurden auf die Promiskuität und auf so genannte Kameradschaft als freie, unverbindliche Form des Zusammensein von Partnern ausgerichtet. Die neue Frau lehnte auch ihre

2 Vgl. Mirosława Czarnecka, Jolanta Szafarz: Gerhart Hauptmann. Życie i twórczość w latach 1914- 1946. Wrocław 1997, S. 50f. 3 Handbuch der Rhetorik, S.446. Vgl. Auch Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 2005 (4 Aufl.), S. 317f. Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 91 traditionelle Zuweisung als Mutter ab. Die historische und psychologische Zäsur für diese - in der Tat dramatische Veränderungen war der I. Weltkrieg. Er vernich- tete die männliche Autorität, erschütterte die androzentrische Ordnung und führte zu einer großen Mobilität der Frauen und zur Transgression ihrer traditionellen Räume.4 Angesichts der Niederlage des Patriarchats hat man gerade auf die neue Frau die Hoffnung der Wiedergeburt der Kultur und der humanitären Werte gesetzt. Doch der Konflikt zwischen den bestehenden kulturellen Geschlechtermustern und dem neuen Weiblichkeitsideal war stark, was die Reaktionen der Männer zwi- schen Approbation der neuen Frau und ihrer völligen Ablehnung veranschaulichen. Diese ambivalente Haltung lässt sich eindeutig mit dem 1929 erschienenen Buch „Die Frau von morgen wie wir sie wünschen“5 belegen, in dem deutsche Dichter, Künstler und Intellektuellen über das neue Weiblichkeitsmodel reflektieren. Der Tenor einer allgemeinen Bejahung der neuen Frau, ihrer Souveränität und Freiheit unterlaufen in diesem Sammelband auch besorgte Fragen nach neuen Bedrohungen, wie sie etwa das Angestelltendasein für sie neue Frau darstellen könnten. Akut erscheint zugleich auch die Fragen nach dem neuen Mann. Immer wieder bricht in diesen Texten auch eine mehr oder weniger getarnte Sehnsucht nach dem alten Weiblichkeitsideal, dem romantisch verklärtem Ewig Weiblichen durch. Gerhart Hauptmann findet sich nicht im Autorenverzeichnis dieses Buches, aber mit seinem Roman „Die Insel der Großen Mutter“ schreibt er sich unmissverständlich in diese neue Geschlechterdiskussion ein. Die Entstehungsgeschichte des Romans, die C. Roy Cowen 1981 rekonstruierte6, und zu der Peter Sprengel 1982 mit seiner Studie „Die Wirklichkeit der Mythen“7 Wichtiges beisteuerte, lässt als Inspirationsquellen Hauptmanns vor allem utopische Texte Platons, Hl. Augustinus, Thomas Morus, Thomas Cammpanella, Etienne Ca- bet, sowie biblische Prophezeihungen und die klassische Robinsonade des Daniel Defoes von 1719 bestimmen.8 Eine besondere Relevanz hatte die Lektüre der Werke „Das Mutterrecht“ und „Versuche über die Gräbersymbolik der Alten“ des schwei- zerischen Ethnographen und Geschichtsphilosophen Johann Jacob Bachofen.9

4 Vgl. Miroława Czarnecka: Wieszczki. Rekonstrukcja kobiecej genealogii w historii niemieckiej literatury kobiecej od połowy XIX do końca XX wieku. Wrocław 2004, S. 103 - 129. 5 Die Frauvon morgen wie wir sie wünschen. Heraugegeben von Friedrich M. Huebner, Leipzig 1929. Neuaufgelegt wurde dieses Buch mit einem Vorwort von Silvia Bovenschen im Insel Verlag Frankfurt a.M. 6 C. Roy Cowen: Hauptmann-Kommentar zum nichtdramatischen Werk. München 1987, S. 109-117 . 7 Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982, S. 284-336. 8 Vgl. Gerhart Hauptmann: Diarium 1917-1933. hg. von Martin Machatzke, Frankfurt a.M.,, Berlin 1980, S. 169. 9 Johann Jacob Bachofen: Das Mutterrecht. Basel 1861. Neuauflage: Frankfurt a.M. 1975 herausgegeben von Hans-Jürgen Heinrichs. Vgl. auch Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.), Materialien zu Bachofens „Das 92 Mirosława Czarnecka

„Die Insel der Großen Mutter“ verbindet formale Elemente und Motive der klas- sischen Robinsonade, des Kunstmärchens und der utopischen Erzählung.10 Die Hauptmotive der Robinsonade - eine Meereskatastrophe, die Rettung von einer Gruppe der Gestrandeten auf einer Insel und der Aufbau neuer Formen des gemein- samen Lebens, sowie eine unumgängliche Konfrontation mit dem Gegner, verbindet Hauptmann mit mythischen und märchenhaften Elementen, die die einsame Insel wie ein Paradies mit exotischen Vögeln und üppiger Natur erscheinen lassen, ein bevorzugter Locus also, wo der Kultus der Großen Mutter und der Mythos der Parthenogenese aufblühen können. Der Ideengehalt melangiert Motive und Aspekte der Antiken Philosophie, v.a. des Platonismus und Epikureismus, mit den Lehren des Buddismus und Christentums zu einer Art eklektischen Weltanschauung.11 Hauptmann greift auch, wie gesagt, auf das Werk Bachofens und sein ontologisches Konzept der Zivilisationsentwicklung. Die Lektüre beider Studien Bachofens be- legen Tagebuchnotizen Hauptmanns aus dem Jahre 1919. Anzumerken sei, dass gerade in den 20er Jahren eine zweite – nach der ersten Rezeption in den 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts – sichtbare Renaissance der Lehre Bachofens in Deutschland erfolgte. Der Schweizerische Philosoph konnte nach seiner Analyse von Mythen der Ägypter, Griechen und Römer schlussfolgern, dass die patriarchale Gesellschaftsordnung nicht die erste und auch nicht die letzte in unserer Zivilisationsgeschichte war und sein wird. Er beschrieb die Gynaikokratie, also das reife Matriarchat, als die frühere Phase der Gesellschaftsentwicklung, der eine Vorphase, der Heterismus, vorausging. In der Gynaikokratie war die Frau als die Große Mutter das Haupt der Gesellschaft. Sie repräsentiert das mütterliche Gesetz, das durch unvoreingenom- mene Liebe, Altruismus, Güte, Gleichheit und Leben auf der einen Seite und durch Rache, Blut, Tod andererseits bestimmt war. Eine fundamentale Bedeutung für das ontologische Konzept Bachofens hatte die Analyse der Mutterliebe. Im Sinne eines Archetyps bedeutete sie – wie es heißt – „den Kern, aus dem alles Leben und aller Altruismus entsteht.“12 Sie ist die Grundlage eines allgemeinen Humanismus, garantiert Gleichheit, Freiheit, Glück, Lebensbejahung und Brüderlichkeitsgefühl.

Mutterrecht“, Frankfurt a.M. 1975. J.J. Bachofen, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, Basel 1859. 10 Vgl. Joanna Jablkowska: Die Insel der Großen Mutter. Utopie oder Satire auf Utopie? In: Krzysztof Kuczyński, Peter Sprengel (Hg.): Gerhart Hauptmann. Autor des 20. Jahrhunderts. Würzburg 1991, S. 91-98. 11 Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Berlin 1987, S. 385. 12 Bachoffen: Das Mutterrecht, wie Anm. 9. Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 93

Die Mutterliebe ist unvoreingenommen und nicht hierarchisch, denn die Mutter liebt alle Kinder gleich. Sie umfängt sowohl die Lebenden als auch die Toten. Das chtonische Element und lunare Symbolik sind fundamentalen Eigenschaften der matriarchalen Kultur. In der Figur Demeters feiern die Mutter Erde und die chto- nischen Götter den Bund vom Leben und Tod. Das Recht der Großen Göttin endet mit der Übergabe der Macht an den Sohn Dionisos, mit dem die Herrschaft des Mannes beginnt. Das Gesetz des Vaters, das die Mutterliebe ersetzt, baut auf Rationalismus, Wissen, Zivilisation und In- tellektualismus, Hierarchieordnung, Ungleichheit, Unfreiheit, Individualismus und Ideologie. Für Bachoffen ist die Herrschaft des Patriarchats nicht die letzte Stufe der Gesellschaftsentwicklung, denn er sieht die Möglichkeit einer Synthese von diesen zwei antagonistischen Systemen vor. Erst die Verbindung von wieder aufgewerteter Mutterliebe mit dem Logos solle die Menschheit auf eine höhere Kulturstufe erheben.13 Im Roman „Die Insel der Großen Mutter“ von Gerhart Hauptmann lassen sich die wichtigsten Elemente matriarchaler Kultur, so wie sie Bachofen dargestellt hatte, leicht identifizieren. Das utopische Matriarchat auf Ille des Dames basiert doch auf dem Kultus der Großen Mutter Bona Dei, die Symbol der partenogenetischen Fruchtsamkeit, des fecunditas ist. Die erste jungfräuliche Schwangerschaft, der bald weitere folgen, begründet den Mythos von der Zeugung ohne Mann und die neue matriarchale Religion. Im Tempel der Bona Dei wird der Zeugungsakt zu einem Mysterium des Lebens ritualisiert. Aus der Meereskatastrophe war zwar der zwölfjährige Faon, ein einziges männliches Kind, gerettet, aber er konnte zunächst einmal als Erzeuger nicht in Erwägung gezogen werden. Geliebt und vergöttert durch alle Frauen, erscheint er wie ein Pan und erst mit der Zeit wie Dionisos. Das erstgeborene Kind auf der Insel war zwar ein Mädchen, was die matriarchale Religion befestigte, bald aber kamen natürlich auch Jungs auf die Welt und das komplizierte die Situation im Frauenstaat. Durch einen folgeschweren, dramati- schen Entschluss des Frauenrats wurde Faon mit den männlichen Kindern auf eine abgelegene Gegend der Insel geschickt und von den Frauen separiert. Die für das Matriarchat fundamentale Idee der Mutterliebe wird dadurch in Frage gestellt. Die konfliktgeladene Trennung der Mütter von ihren Söhnen wurde als Oppression verstanden und führte zu ersten Unruhen im Idealstaat. In der Entfernung von den Müttern organisiert Faon einen Männerstaat, in dem die heilige denkende Hand das Symbol der patriarchalen Macht wird. Schnell werden

13 Im 20. Jahrhundert haben Erich Neumann und Erich Fromm den Archetypus der großen Mutter weiter untersucht. Vgl. E. Neumann: Die große Mutter. Der Archetyp des großen Weiblichen. Zürich 1956. E. Fromm: Miłość, płeć i matriarchat. Poznań 1999. 94 Mirosława Czarnecka hier die zivilisatorischen Rückstände nachgeholt, was unvermeidlich zu einer Kon- frontation der beiden Ideen: des Matriarchats und des Patriarchats, des Mythos der Großen Mutter mit dem Mythos des Prometheus führt. Die matriarchale Utopie zeigt sich bei dieser Konfrontation als kontrazivilisatorisch und verliert mit dem in seiner Struktur und Handeln fortschrittlichen Männerstaat. Die Utopie des Lebensmysteriums, die Utopie des Frauenstaates, der auf eine neue Religion gründet und die so genannten weiblichen Attribute wie Mütterlichkeit, Naturbund, Friedfertigkeit, Güte, Demut und Phantasie pflegt, wird letzt endlich zu einer Antiutopie. In der dramatischen Konfrontation mit dem sich an ihrer Seite ungehindert entwickelten Männerstaat, übernehmen Frauen die einst verhassten und als barbarisch abgelehnten männlichen Formen und Verhaltensregeln, wie Gewalttätigkeit, Arroganz und Egoismus und erschüttern dadurch die Fundamente ihres eigenen mühsam entwickelten und durchgesetzten Wertesystems. Das Ende des Romans vernichtet die Illusion von der Vollkommenheit und Autarkie des Frauenstaats. Der Roman schließt mit einer Szene, wo Faon mit Diodate auf einem im Män- nerstaat gebauten Schiff die Rückreise nach Europa antritt. Diese Schlussszene kompromittiert endgültig die Versuche, matriarchale Gesetze und Werte auf die Totalität der Gesellschaft zu übertragen und hebt zugleicht eindeutig den Endsieg des Patriarchats hervor. Anders als bei Bachoffen wird bei Hauptmann die Verbin- dung der antagonistischen Ideen vom Mutterrecht und Vaterrecht in eine höhere Gesellschaftsordnung und damit als Zukunftsperspektive für Europa definitiv als unmöglich gezeigt. Diodate, die Gefährtin Faons auf der Rückreise, ist eine symbolische Figur für das endgültige Scheitern des Matriarchats, denn sie wird durchaus als das bürgerliche Frauenideal konstruiert. Diodata ist Faon grenzenlos ergeben, in Schweigen und Gehorsam erfüllt sie alle seine Befehle und strahlt dabei nicht nur eine körperliche Schönheit aus, sondern auch eine innere, seelische Vollkommenheit. Bei Haupt- mann gewinnt das Ewig Weibliche über die neue Frau. Diodate würde in Europa das Los vieler Frauen teilen, die – generell gesehen - nach einer kurzen Zeit der Freiheit, Souveränität und Gleichheit mit den Männern wieder in die traditionellen Frauenräume und traditionelle Frauenrolle verwiesen wurden. Ich komme zum Schluss. Die Strategie des dissimulatio ermöglichte Hauptmann die Maskierung der eigenen kritischen Meinung über die neue Frau als refugium für Europa. Die Bloßstellung der Naivität dieses Glaubens dient der Revitalisierung der patriarchalen Ordnung im Nachkriegseuropa. Gerhart Hauptmann übernimmt realiter die geschlecht- lichen Deutungsmuster der androzentrischen Anthropologie: die Große Mutter Auf der Suche nach Individualität und genialer Größe. Gerhart Hauptmanns Roman ... 95

Bona erscheint hier eigentlich männlich mit ihren Attributen wie Autorität, ratio- nale Kontrolle über den Mythos und die Wirklichkeit. In dieser Lesart erscheint Hauptmanns utopischer Roman als eine antifeministische Satire. Die durch ihn dargestellte Geschlechterrelation basiert nicht auf Partnerschaft, sondern auf der binären Opposition von Geist und Körper, Zivilisation und Natur, Logos und Eros, welche die alten Strukturen repetieren und deswegen kein Fundament für eine neue Gesellschaft sein können.

„...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabun- dentum, ...

Grażyna Krupińska Katowice

„...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabundentum, Bürgerlichkeit und Künstlerschaft. Zu Hauptmanns Roman Wanda

Das Neue entsteht nicht in einem Vakuum. Das Neue ist eine radikale Reaktion auf das Bestehende, es steht in der Opposition zum Vorhandenen. Um sich durch- setzen und dann etablieren zu können, muss es präzis definiert werden. Es muss seine Grenzen abstecken, und dazu braucht es den Anderen. Das Selbstbild braucht ein Fremdbild. Als die bürgerliche Schicht im 18. Jahrhundert ihre Geltungs- und Führungsansprüche erhoben hat, war ihr natürlicher Gegner der immer noch die Macht ausübende, doch längst überlebte Adelsstand. Der Bürgerliche verkörperte die Eigenschaften, die dem Adligen abhanden gekommen waren. Seine geistige Emanzipation im Sinne moralischer Überlegenheit war der erste Schritt zur poli- tischen Emanzipation. Als im Laufe des 19. Jahrhunderts sich die ökonomischen Bedingungen veränderten (Beschleunigung der Industriellen Revolution), und dem Bürgertum ermöglichten, an der Macht zu partizipieren, wurde auf jene Werte im Tugendkatalog des Bürgers Gewicht gelegt, die zur Sicherung und Stabilisie- rung der Macht beitrugen: Tüchtigkeit, Leistungsfähigkeit, Bildung etc. Wer diese Eigenschaften nicht aufweisen konnte, wurde als Bedrohung und Störfaktor in der Gesellschaft angesehen, wurde aus ihr verbannt, wurde zu ihrem Außenseiter. Helmut Kreuzer zitiert in seinem opulenten Buch Die Boheme u.a. Karl Marx, der einen ganzen Katalog der marginalisierten Existenzen präsentierte, von den Vaga- bunden über die entlassenen Zuchthaussträflinge, Gauner, Gaukler, Taschendiebe, Spieler, Bordellhalter, Literaten, Lumpensammler bis hin zu den Bettlern, „kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzo- sen la bohème nennen“1. Im Französischen taucht das Wort im 15. Jahrhundert auf als Bezeichnung für die Zigeuner, wobei sich seine Bedeutung schnell in anderer

1 Marx, zit. in Helmut Kreuzer: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968, S. 5. 98 Grażyna Krupińska

Richtung ausweitete: es wurde zu einem „Ausdruck für unordentliche, liederliche Sitten.“2 Bei der Analyse des Romans Wanda von Gerhart Hauptmann werde ich von der These Helmut Kreuzers ausgehen, dass die Boheme (im weitgefassten Sinne des Wortes) „nicht nur als ein Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft aufzufassen ist, sondern als ihr Produkt und Element. Sie ist ihr zugehöriges antagonistisches Komplement, und ihre Vorläufer in einer vorbürgerlichen Epoche sind bei aller Ge- gensätzlichkeit zum ‚Bürger‘ doch auch Verbündete der bürgerlichen Tendenzen.“3 Man könnte es auch so formulieren: Die prosperierende bürgerliche Gesellschaft ist geradezu ein ideeller Nährboden für die Boheme. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille, das eine ist ohne das andere nicht zu denken. So wie die Bürgerlichen ihre Sehnsüchte, verborgenen Wünsche (Freud lässt hier grüßen) auf die Randgruppen projizieren, so brauchen auch jene den Gegenpart zur Legitimierung der eigenen Position außerhalb des Systems. Das im Titel meines Aufsatzes angeführte Zitat aus Hauptmanns Buch könnte eine bestimmte Interpretationsschiene suggerieren, ist aber mit einem Fragezeichen versehen, denn ich werde versuchen über das bloße dualistische Gesellschaftsbild hinauszugehen, um zu zeigen, dass nicht das Entweder-oder (entweder ein ehrbarer Bürgerlicher, oder ein Landstreicher), sondern das Weder-noch von dem Helden des Romans – wenn auch unbewusst – erstrebt wird. Der Roman Wanda ist – worauf schon die zeitgenössischen Kritiker hinge- wiesen haben – dem Nobelpreisträger künstlerisch missglückt, er ist ein Beispiel für die sog. Kolportageliteratur4, eine Mischung aus Sensationellem, Erotischem, Trivialem. Hauptmann hat das Buch nur binnen weniger Monate verfasst und zuerst unter dem Titel Der Dämon in der „Vossischen Zeitung“ Anfang 19285 publizieren lassen. Auf diese Weise konnte er mit schnellem und hohem Verdienst rechnen, denn die Honorare für Vorabdrucke in Zeitungen waren wesentlich höher als für die Buchausgabe.6 Auch so ein erfolgreicher Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann, der zu seinen Lebzeiten hohes Ansehen genoss und gleichzeitig gut bezahlt war, sah sich zur Vielschreiberei gezwungen, denn, wie Peter Sprengel bemerkt: „Erfolg am Markt ist nur über ständige Präsenz zu haben.“7

2 Kreuzer, Die Boheme, S. 1. 3 Ebd., S. 45. 4 Vgl. Mirosława Czarnecka, Jolanta Szafarz: Gerhart Hauptmann. Życie i twórczość w latach 1914- 1946. Wrocław 1997, S. 45. 5 Der erste Abschnitt erschien am 3.1.1928, der letzte am 2.2.1928. 6 Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. München 1998, S. 156. 7 Ebd., S. 138. „...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabundentum, ... 99

Möchte man den Roman in nur einem Satz zusammenfassen, dann geht es hier um die Geschichte eines vielversprechenden jungen Bildhauers, Paul Haake, der einer wahren femme fatale, der Titelheldin Wanda, immer wieder verfällt und am Ende zugrunde geht. Wanda wird mit allen Merkmalen dieses um die Jahrhun- dertwende populären Frauentypus ausgestattet. In ihrem Äußeren dominiert zuerst die Farbe Schwarz, was gleich auf den Ursprungstitel des Buches zurückdenken und in Wanda eine Dämonin, Teufelin, böse Verführerin sehen lässt. Schwarz sind ihre Haare und Wimpern, schwarz ist ihr Trikot, in dem sie als Drahtseiltänzerin im Zirkus auftritt. Dazu kommt die Farbe Rot als Hinweis auf Sinnlichkeit, Lei- denschaftlichkeit, ungehemmte Sexualität (rote Schleife, Glutaugen). Als Haake sie kennenlernt, ist sie 16 Jahre alt (das Alter lässt an den anderen, in den Werken Hauptmanns häufig anzutreffenden Frauentypus derfemme enfant denken), fristet ihr Dasein auf der Straße, indem sie Streichhölzer zu verkaufen versucht und muss vor der Polizei auf der Hut sein. Haake glaubt einen Engel getroffen zu haben, was auch die gerne beschworene und auf den Mann angeblich so reizvoll wirken- de weibliche Ambivalenz zum Ausdruck bringt (Teufelin und Engel zugleich), er nimmt sie zu sich, pflegt sie, sie wird sein Modell. Wanda läuft ihm aber nach eini- ger Zeit davon. Der Mann kann und will nicht von dem Mädchen lassen, was ihm letztendlich zum Verhängnis wird. Wanda wird als gerissen, schlau, unzuverlässig und undankbar dargestellt, was in diesem Kontext auch dem damaligen literari- schen Bild einer schönen verderblichen und verderbenden Zigeunerin entspricht.8 Hauptmann bedient sich des ganzen Repertoires der seit der Jahrhundertwende gerne verwendeten und sich förmlich den Rang ablaufenden (eine Formulierung von Irmgard Roebling9) Stilisierungen der Weiblichkeit. Wanda wird mit Raubtieren verglichen (Puma, Marder, Iltis), sie sei ein das Blut aussaugender Vampir, was noch ihre weiße Stirn und die Blässe ihres Gesichts und Körpers hervorheben, eine Schlange, deren Umarmung den Mann wehrlos macht, und eine biblische Lilith, aus deren Bann er sich nicht zu lösen vermag. Allein der Name Wanda verweist zum einen auf die polnische Herkunft und beschwört damit das Klischee der exotischen, verführerischen und gefährlichen Slawin (Wanda kommt übrigens aus Oppeln). Zum anderen aktiviert er die früheren literarischen Frauenbilder dieses Namens, allen voran die Wanda aus Venus im Pelz von Leopold von Sacher-Masoch.10

8 Vgl. Almut Hille: Identitätskonstruktionen. Die „Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005. 9 Vgl. Irmgard Roebling: Lilith oder die Umwertung aller Werte. In: dies. (Hg.): Lulu, Lilith, Mona Lisa… Frauenbilder der Jahrhundertwende. Pfaffenweiler 1989, S. 157. 10 Andere Wanda-Werke deutschsprachiger Autoren sind z.B. das Drama Wanda, Königin der Sarmaten (1810) von Zacharias Werner oder die Novelle Wanda (1875) von . 100 Grażyna Krupińska

Wanda kommt aus einfachen kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ihr Vater war ein Stellmacher, die Mutter eine Hebamme, die „einige Male mit der Polizei zu tun gehabt“11 habe. Wohl nach dem Tode des Vaters und der Krankheit der Mutter landete sie auf der Straße. Sie verlässt Haake, um mit einem Zirkus durchzubren- nen und eine Seiltänzerin zu werden. Das Zirkusleben scheint ihre Bestimmung zu sein, auch wenn sie dort – tatsächlich oder angeblich – gedemütigt, misshandelt oder als Prostituierte ausgenutzt wird. Der Zirkus, das Vagabundenleben in einem grünen Wagen, sind für sie ein Inbegriff der Freiheit. Das wird ihr erst richtig klar, nachdem sie sich zum bürgerlichen Leben mit Haake als seine Ehefrau entschieden hat. Als die Eheleute eines Tages einer Zirkusveranstaltung beiwohnen, rastet sie förmlich aus, „bis zur Verzückung hingerissen“12; sie bekommt „etwas Erwecktes, Sprunghaftes, einem seltsamen, wilden Vogel ähnlich, der, lange gefangen, sich unvermutet in der offenen Tür seines Käfigs sieht“13. Damit korrespondiert auch das freie Schweben in der Luft beim Seiltanz.14 Wer so ein Leben gekostet hat, der wird in die bürgerliche Enge nicht zurückkehren wollen. Wie der Musiker Maskos, der ein Operndirigent werden konnte und doch das Leben „unter den fahrenden Leuten“15 bevorzugt, denn, wie er sagt: „Ich hasse nun einmal geschlossene Räume. Ich liebe die freie Weite der Landstraße.“16 Die „Zigeunerwirtschaft“17, wie Haake verächtlich die Zirkusgesellschaft nennt, wird im Roman im Vergleich zum Bild des Bürgertums als eine bunte Mi- schung aus individualistisch geprägten Persönlichkeiten präsentiert. Da ist z.B. der hochgewachsene Zirkusleiter, Balduin Flunkert, der „das Bein wie ein verwundeter Panther nachschleppte“18, habgierig, gemein, hitzköpfig, brutal, ein Lügner (worauf schon sein Name hinweist) und gleichzeitig ein brillanter Trapezkünstler. Da ist seine verwitwete Mutter, die Frau Direktorin, zwei Zentner schwer, die sich gerne Tabak in die Nase steckt, eine außereheliche Beziehung mit dem Musiker Maskos und dann mit einem viel jüngeren Baron eingeht und doch Haake gegenüber fast mütterliche Gefühle offenbart, indem sie Verständnis für seine aussichtslose Liebe zu Wanda aufbringt und Mitgefühl zeigt. Da haben wir den Baron von Römer-

11 Gerhart Hauptmann: Wanda, in: ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. von Hans-Egon Hass, Bd. V: Romane, Frankfurt/M, Berlin 1962, S. 918. 12 Ebd., S. 1019. 13 Ebd., S. 1016. 14 Zum Symbol des Seiltänzers bei Hauptmann vgl. Peter Sprengel: Abschied von Osmundis. Zwanzig Studien zu Gerhart Hauptmann (Hauptmanniana 5). Dresden 2011, S. 198ff. 15 Gerhart Hauptmann: Wanda, in: ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. von Hans-Egon Hass, Bd. V: Romane, Frankfurt/M, Berlin 1962, S. 1041. 16 Ebd., S. 1042. 17 Ebd., S. 948. 18 Ebd., S. 912. „...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabundentum, ... 101 scheid, der sich zu den unteren Schichten hinzugezogen fühlt, eine Abenteuernatur, zweimal verheiratet, einmal mit einer Sängerin, dann mit einer Spanierin, jetzt der alten Direktorin verfallen, ein „Kunsthistoriker, Konvertit und diplomatische[r] Geheimemissär“19, der zotige Reden führt, gerne und viel schwatzt und sich „ganz ungeniert über den Zigarettenbestand“20 seiner Gesprächspartner hermacht. Ihn und den Musiker Maskos könnte man zu den typischen Bohemiens zählen, da sie ganz bewusst der Gesellschaft den Rücken kehren. Der Baron flieht aus den Fängen der elterlichen Familie, der Musiker der Enge des bürgerlichen Berufs.21 Jede dieser Figuren besitzt eine ihr inhärente, sie auszeichnende Eigenschaft: ihnen allen, auch wenn sie liederlich, kriminell, auf den eigenen Nutzen bedacht sind, haftet etwas Anziehendes, Verlockendes und Sympathisches an. Sie sind eine große Zirkusfamilie, die auf die Normen und Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft nicht achtet, und das ganz bewusst, da sie die Schranken der Konventionen als etwas Widernatürliches empfinden: „Was die Gesetze uns in moralischer Beziehung ver- bieten wollen […] das sind jene Sprenkel, in denen sich die Drosseln fangen, arme kleine Vögel, die natürlich, wenn sie in der Pfanne schmoren, das Fliegen aufgeben müssen“22, urteilt die Direktorin, wobei die Metapher wieder auf die Freiheit als die Hauptkomponente des Vagabundenlebens verweist. Im Unterschied zu den Zirkusleuten wird das bürgerliche Milieu als ziem- lich uninteressant und fade dargestellt. Seine wichtigsten Repräsentanten sind der Bildhauer Haake und sein bester Freund, der Architekt Willi Maack, wobei man gleich eine Anmerkung machen muss, denn Haake ist eigentlich ein Proletarierkind, das dank seiner Begabung und im gewissen Sinne dank dem Tod seines Meisters in die bürgerlichen Kreise aufsteigt. Maack ist im ganzen Roman dafür zuständig, den Freund immer wieder aus dem Sumpf zu befreien, mehr erfahren wir von ihm nicht. Von Bedeutung wären noch zwei weibliche Figuren, die im Kontrast zu Wan- da konzipiert sind. Zum einen geht es um die blonde Schwedin Carola, die Haake in Rom kennenlernt. Sie kommt aus einer reichen und kunstliebenden Familie, ist zart, wohlerzogen und verständnisvoll. Haake verehrt sie, aber sieht in ihr wohl mehr eine Schwester als eine Geliebte. Dass diese Beziehung aussichtslos ist, wird in der symbolischen Szene mit der einstürzenden überlebensgroßen weiblichen Tonfigur deutlich, zu der Carola Modell gestanden hat.23 Nach der gescheiterten

19 Ebd., S. 992. 20 Ebd., S. 988. 21 Vgl. Kreuzer, a.a.O., S. 48. 22 Gerhart Hauptmann: Wanda, in: ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. von Hans-Egon Hass, Bd. V: Romane, Frankfurt/M, Berlin 1962, S. 989. 23 Diese Szene beruht auf einem authentischen Ereignis aus dem Leben des Dichters, als er sich als Bildhauer in Rom versucht hatte. Kurz vor dem Besuch seiner damaligen Braut Marie Thienemann ist 102 Grażyna Krupińska

Ehe mit Wanda erholt sich Haake bei einer Försterfamilie und verliebt sich dabei in die wiederum blonde junge Tochter des Hauses. Micke ist ein unverdorbenes Naturkind, sie riecht nach Harz und Nadelwald, ist freimütig und selbstbewusst. Haake will sich von Wanda scheiden lassen, aber nachdem er sie nach langer Zeit erneut trifft, verfällt er ihr wieder, diesmal endgültig. Der Held selbst scheint ein ambivalentes Verhältnis zum Bürgertum zu haben. Für das Proletarierkind bedeutet der Beruf des Bildhauers einen gesellschaftlichen Aufstieg. Da er sehr tüchtig ist, prädestiniert ihn das geradezu zu einer bürgerlichen Karriere. Haake träumt von Ruhm und Anerkennung, von großen künstlerischen Werken, von vielen wichtigen Aufträgen, er „sah sich im Frack, den Ordensstern auf der Brust, ja, er sah sich zuletzt geadelt, im Besitz großer Liegenschaften“24. In gewissen Situationen benimmt er sich auch wie ein typischer Bürgerlicher. Durch die Heirat mit Wanda will er sie auf den rechten, d.h. eben bürgerlich sanktionier- ten Weg zurückbringen; wie ein Geschäftsmann verhandelt er mit Balduin, dem Zirkusleiter, über ihre Freigabe (was übrigens als Kuhhandel bezeichnet wird), und er hat für sein eigenes gesindelhaftes Benehmen (das Ausrasten, Randalieren, die Trunksucht, Schlägereien, sexuelle Hörigkeit) bürgerliche Selbstbezichtigungen pa- rat wie Entwürdigung, Versumpfung, Scham und Schmach. Gleichzeitig, da er nicht aus diesen Kreisen kommt, kann er sie als Außenstehender kritisch beurteilen. In einer großen Rede, die seinen Stolz auf die eigene proletarische Herkunft offenbart, empört er sich über die soziale Ungerechtigkeit, die Herablassung, Verachtung und Erniedrigung, mit der die Höhergestellten den Mitgliedern der unteren Schichten begegnen, und plädiert fast für ein Leben auf der Straße: „Aber mancher lebt lie- ber außerhalb als innerhalb einer Welt, deren Maschinerie ihn zum Rädchen oder sonst was versklavt und ihm die Seele im Leibe mordet.“25 Auch die bürgerlichen Tugenden, die er selbst in seinem Bildhauerberuf ohne weiteres aufzuweisen im Stande ist (hartnäckiges Arbeiten, Fleiß), sind wie Fallen, da sie in Verpflichtungen verstricken, „die mich von meinem wahren Dasein lostrennen“26. Der Erfolg, das Ansehen, die diese Tugenden mit sich bringen können, sind demnach kein Segen, im Gegenteil, sie schränken ein. Da Haake ein Bildhauer ist, könnte man in diesen zwei angeführten Zitaten einen Versuch sehen, auf die Verstrickungen des modernen Künstlers in den ge-

das von ihm angefertigte Monument eingestürzt. Vgl. Hilscher, Eberhard: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk, Berlin 1996, S. 45. 24 Gerhart Hauptmann: Wanda, in: ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. von Hans-Egon Hass, Bd. V: Romane, Frankfurt/M, Berlin 1962, S. 937. 25 Ebd., S. 934. 26 Ebd., S. 981. „...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabundentum, ... 103 sellschaftlichen und institutionellen Kontext hinzuweisen27. Die wenigstens seit der Romantik gängige Vorstellung, ein Künstler müsse, um seine Freiheit zu bewahren, ein Außenseiter der Gesellschaft sein, erweist sich als ein Trug. Der Künstler ist ein Teil der Gesellschaft und den gleichen Prozessen wie diese unterworfen. Für Wolfgang Ruppert ist das moderne Künstlertum, so wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, „eng mit dem Modernisierungsprozess der bürger- lichen Gesellschaft verflochten“28. Mit anderen Worten: die Kunst sei – jetzt mit N. Luhmann gesprochen – ein weiteres (neben Wirtschaft, Recht, Religion etc.) ähnlich strukturiertes Funktionssystem der Gesellschaft. Dem Erfolgsstreben, Individuali- tätsideal, den Leistungszwängen unterliegen demnach nicht nur die Bürgerlichen, sondern auch Künstler (Hauptmanns Vielschreiberei, von der ich anfangs sprach, wäre ein Zeugnis dafür). In diesem Kontext könnte man auf das 1919 erschiene- ne Manifest „An alle Künstler“ des expressionistischen Malers Ludwig Meidner verweisen, der den Zusammenhang zwischen Kunst und Bürgertum anprangernd, gleichzeitig das Bild des Künstlers als Anti-Bürger heraufbeschwört: „Sind wir nicht wie Bettler abhängig von den Launen der Kunst sammelnden Bourgeoisie! Sind wir noch jung und unbekannt, so wirft sie uns einen [!] Almosen hin oder läßt uns lautlos verrecken. Wenn wir einen Namen haben, dann sucht sie uns durch Geld und eitle Wünsche vom reinen Ziele abzulenken. Und wenn wir längst im Grabe [!], dann deckt ihr Protzentum unsere lauteren Werke mit Bergen von Goldstü- cken zu. – Maler, Dichter, Musiker, schämt euch eurer Abhängigkeit und Feigheit und verbrüdert euch dem ausgestoßenen, rechtlosen, gering bezahlten Knecht!“29 Meidner fordert die Künstler auf, sich auf das oberste Prinzip der Künstlerschaft zu besinnen, nämlich die Freiheit, die nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn sich der Künstler den Randgruppen der Gesellschaft, den Ausgestoßenen und Rechtlosen, den Vagabunden, anschließt. Nach Ruppert ist aber das Bild des Künstlers als Anti-Bürger eine Projektion der bürgerlichen Gesellschaft, in der ihre Sehnsucht nach einer Gegenwelt zum Ausdruck kommt.30 Meidner selbst spielt – wohl ohne es zu merken – auf die den Künstler mythisierenden Eigenschaften an. Wenn er vom reinen Ziel und von lauteren Werken redet, dann werden damit nicht nur die vermeintliche Autonomie und Zweckfreiheit der Kunst betont, sondern auch die seit dem Geniekult im 18. Jahrhundert propagierte Vorstellung, der Künstler sei der zweite Schöpfer neben Gott.

27 Vgl. Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 31. Im Weiteren werde ich des Öfteren auf das 1. Kapitel dieser Arbeit rekurrieren. 28 Ebd., S. 22. 29 Meidner, zit. in Kreuzer, a.a.O., S. 239. 30 Vgl. Feulner, Mythos Künstler, S. 24f. 104 Grażyna Krupińska

Haake, der Künstler in Hauptmanns Roman Wanda, scheint den gängigen stereotypen Künstlervorstellungen nicht mehr zu entsprechen. Umso mehr, als man nach dem Lesen des Buches den Eindruck bekommt, er könnte ebenso gut einen anderen gesellschaftlich angesehenen Beruf ausüben, da es hier nicht um einen Konflikt zwischen Leben und Kunst gehe, sondern um ein Entgleisen aus der bürgerlichen Sphäre. Es ist nicht so, dass sich Haake als Künstler missverstanden fühlt und daher eine Affinität zum Vagabundentum hat. Anders als z.B. bei Tho- mas Mann wird das Außenseitertum nicht ästhetisiert und verklärt.31 Hauptmann abstrahiert nicht von dessen Lebensumständen. Auch das Paradigma des Neuen32, nach Ruppert ein weiteres den Künstlerhabitus mitgestaltendes Element, wird von Haake nicht realisiert. Seine künstlerischen Erfolge beruhen auf seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit und nicht auf dem Innovationspotential seiner Werke. Daher ent- behrt er auch der Aura des dämonisch Genialen. Zwar spricht der Held von einem Dämon, der ihn peitscht oder in ihm lebendig ist33, aber damit sind entweder die Dämonen der Trunksucht und der Gewalttätigkeit oder des Eros und der Eifersucht gemeint. So gesehen kann lediglich seine Verhaltensweise als künstlerisches Gehabe interpretiert werden, wobei sie sich interessanterweise nicht in den bürgerlichen, sondern in den Vagabundenkreisen entlädt. Die einzige Exzentrik, die sich Haake als Professor der Akademie erlaubt und die wohl nur bei einem Künstler geduldet wird, ist die Heirat mit der Seiltänzerin Wanda. Haake ist kein typischer Außenseiterkünstler mehr, er hat einen Hang zum Bürgerlichen, steigt gerne in D-Züge ein. Bürgerlichkeit bedeutet gesellschaftliches Prestige, öffentliche Anerkennung und Hochschätzung. Trotzdem verspürt der aus den niedrigsten Schichten der Gesellschaft stammende Held bei Hauptmann die ihm selbst vielleicht gar nicht so bewusste Sehnsucht nach dem Vagabundendasein. Er ist auch imstande, – anders als die aus dem Bürgertum kommenden Künstlerfiguren bei Thomas Mann, die trotz des Konflikts zwischen dem bürgerlichen Leben und der Kunst auf die Künstlerschaft nicht verzichten wollen und können – seine Bildhau- erexistenz aufzugeben. Das Leben in einem grünen Wagen zusammen mit Wanda scheint sein wahres Dasein, seine eigentliche Bestimmung zu sein. Das Paradoxe oder auch Tragische ist, dass die Zirkusgesellschaft in Haake keinen Ihresgleichen mehr sieht, sondern den Repräsentanten des Bürgertums. Die oben präsentierte moderne Auffassung von der Kunst als einem Bestandteil der Gesellschaft wird hier

31 Vgl. ebd., S. 65. 32 Vgl. ebd., S. 23. 33 Vgl. Gerhart Hauptmann: Wanda, in: ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. von Hans-Egon Hass, Bd. V: Romane, Frankfurt/M, Berlin 1962, S. 921, 999. „...daß man im grünen Wagen weiter kommt als in D-Zügen“? Vagabundentum, ... 105 dem Artistendasein entgegengesetzt, das sich jeglichen Einschränkungen seitens der Gesellschaft zu entziehen weiß. Oberflächlich und durch die bürgerliche Brille gelesen könnte der Tod des Helden am Ende des Romans, der wie ein Selbstmord anmutet, als ein Scheitern und eine Warnung vor gefährlichen Liebschaften gedeutet werden. Nach der Schlägerei mit dem Liebhaber seiner Frau Wanda, dem Zirkusdirektor Flunkert, stirbt Haake wie ein richtiger Vagabund „hinter einer Hecke an der Landstraße“34. Seine letzten Worte – dreimal wiederholt er das Wort Balibö, das in der Gaunersprache Himmel bedeuten soll – lassen auf eine Akzeptanz der Unmöglichkeit einer Überbrückung der Zerspaltung des modernen Menschen schließen. Haake ist kein wahrer Vaga- bund mehr, kann aber auch kein Bürgerlicher werden. Die Künstlerschaft, die das gemeinsame Dritte sein könnte, erweist sich als bedeutungslos. Für den Helden gibt es keinen Ort in oder auch nur zwischen dem Vagabundentum und der Bür- gerlichkeit. Vielleicht nur im Tod kann die unüberbrückbare Differenz aufgehoben werden.

34 Ebd., S.1082.

Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann

Grażyna Barbara Szewczyk Katowice

Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann

Die Untersuchung der thematischen oder strukturellen Analogien zwischen G. Hauptmanns Dramen und den Werken der skandinavischen Schriftsteller Ibsen, Björnson, Strindberg oder S. Lagerlöf, die von Sven Ekdahl, Sigfrid Hoefert , Jen- nifer Watson und anderen Forschern durchgeführt wurde, stellt typologische und genetische Vergleiche auf, viele Fragen bleiben jedoch dabei nicht ergründet. Vor allem die Stoffe, Themen und Motive der skandinavischen Geschichte und Kultur, die in Hauptmanns nachgelassenen Werken und dramatischen Fragmenten aufzu- finden sind, werden unbeachtet gelassen. Die Sichtung des Materials hat außerdem ergeben, dass neuere Beiträge und Studien sowohl zur Rezeptionsgeschichte der Hauptmannschen Dramen in Skandinavien als auch zur Analyse der skandinavi- schen Motive in seinen Texten weitgehend fehlen. Die Erschließung der komplizierten Problematik zwingt den heutigen Li- teraturforscher zur Erarbeitung einer Verfahrensweise, in der der kulturwissen- schaftlich–interdisziplinäre Ansatz eine neue Perspektive auf den literarischen Text eröffnet und diesen in sozialen Kontexten reflektiert. Die Art und Weise, wie man die Stücke Hauptmanns in Skandinavien interpretiert und inszeniert hatte und wie der deutsche Dramatiker skandinavische Stoffe modifizierte und künstlerisch be- arbeitete, lässt die Frage in einem größeren, außerliterarischen Rahmen betrachten. Auf der Suche nach einem Wahrnehmungs- und Entschlüsselungscode, der jedem Rezeptionsakt zugrunde liegt, erweist sich der Begriff des literarischen Feldes ad- äquat. Von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu als ein Teilsystem des kulturell-intellektuellen Feldes definiert, erlaubt er uns die Literaturrezeption nicht als autonomes und isoliertes Phänomen zu betrachten, sondern als einen Prozess, in dem es zur Spannung zwischen Individuen und Gruppen, Verlegern, Kritikern, Wissenschaftlern und kulturellen Institutionen kommt. Unter Heranziehung von Bourdieus Kategorien kann man die Verleihung des Nobelpreises an Gerhart Hauptmann beurteilen und ihn als Ergebnis von Kämpfen 108 Grażyna Barbara Szewczyk auf dem literarischen Feld verstehen, auf dem unterschiedliche Kräfte, Institutionen, Regisseure und Kritiker ihre Interessen verhandelt haben.

Hauptmanns Werk in Schweden. Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur

Während der Nobelpreisverleihung an Gerhart Hauptmann, am 10. Dezem- ber 1912 , nannte Hans Hildebrand, der neu gewählte Sekretär der Schwedischen Akademie, den deutschen Dramatiker „einen großen Meister auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung“ und erwähnte die Gründe, von denen sich die Schwedi- sche Akademie bei der Zuerkennung des Nobelpreises leiten ließ. „Was Gerhart Hauptmann hier vor allem auszeichnet, ist eine Betrachtungsweise, die gründlich untersucht und tief in das innere Leben des Menschen vordringt […] In seinen Dramen erweist er sich als großer Künstler besonders durch eine Konzentration, die so dicht ist, daß der Zuschauer oder der Leser von Anfang an bis zum Ende in die Handlung einbezogen ist“.1. Dennoch verlief die Preisverleihung in einer „gewissen Unruhe, einer unsicheren Stimmung“, wie Gunnar Ahlström berichtet. Sowohl in der französischen Öffentlichkeit als auch in der Londoner Presse erhoben sich Proteste und ablehnende Stimmen. G. Hauptmann, unterstrich man, sei im Gegensatz zu anderen Kandidaten wie Henri Fabre, Anatol France, und zu seinen Vorgängern (Nobelpreisträgern) noch ein junger Mann ( im Jahre 1902, als seine Kandidatur zum ersten Mal angebahnt wurde, war er allerdings schon 40), und dessen Werke (gemeint waren vor allem Die Weber) seien nicht durch eine „hohe idealistische Ausrichtung“ geprägt. Ein langer Weg hatte doch zum erwarteten Ziel geführt. Das schwedische Publikum nahm den Namen des deutschen Dramatikers zum ersten Mal im Jahre 1899 wahr, als man im Stockholmer Theater ( Svenska Teatern) sein Stück „Die Weber in schwedischer Sprache aufführen ließ. Die schwedischen Kritiker haben das Drama als Kritik der sozialen Zustände im preußischen Staat aufgefasst und die „umstürzlerische Seite“ des Werkes hervorgehoben. Die Premiere der „Weber“ wurde aber weder zu einem theatralischen Ereignis noch zu einem Erfolg, etwa vergleichbar mit dem, den die Dramen von Ibsen und Björnsen erreicht hatten. 1902 lehnte man zum ersten Mal G. Hauptmanns Kandidatur ab, vielleicht auch deshalb, weil man in Empfehlungen von zwei Professoren ( Prof. Richard M. Meyer aus Berlin und Prof. Frederick Polock aus Edinburgh) „ polemische Seitenhiebe

1 Gunnar Ahlström: Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Gerhart Hauptmann, aus dem Schwedischen übersetzt von M. Höjer. In: Gerhart Hauptmann: Große Erzählungen. Nobelpreis für Literatur 1912. Frankfurt/Mann 1967, S. 25, 26. Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann 109

“ gegen ihn gefunden hatte. 1906 wurde die Kandidatur G. Hauptmanns wieder aufgenommen, unterstützt von 35 Persönlichkeiten aus Deutschland und Österreich, Literaturwissenschaftlern und Mitgliedern verschiedener Akademien, z. B. von Erich Schmidt und Adolf Harnack. Obwohl Hauptmanns Dramen Hanneles Himmelfahrt und Die versunkene Glocke am Anfang des 20. Jhs. auf den skandinavischen Bühnen oft gespielt waren und der Name des Dramatikers den Kritikern gut bekannt war, wurde der Nobelpreis dem italienischen Romanverfasser Ciosuè Carducci verliehen. Schuld daran trugen im gewissen Sinne die Übersetzter seiner Stücke. Jeder Titel wurde von einem anderen Übersetzer übertragen2, meistens übersetzte man die Texte schnell im Auftrag eines Theaterdirektors oder eines Regisseurs, ohne auf die Sprache und die Atmosphäre des Originals zu achten. 1912 setzte man erneut den Namen G. Hauptmann zusammen mit 31 anderen Schriftstellern aus Frankreich, England, aus den USA und der Schweiz auf die Liste der Kandidaten für den Nobelpreis. Für die Kandidatur des deutschen Dramatikers erwiesen sich unerwartete Zustände günstig. Prof. Erich Schmidt, der von der dra- matischen Begabung Hauptmanns überzeugt und fasziniert war, nahm unmittel- baren Kontakt mit dem schwedischen Nobelkomitee auf und überreichte ihm alle Unterlagen mit Empfehlungen und mit einer Beschreibung seines Gesamtwerkes. Anfang des Jahres verstarb der langjährige Sekretär der Schwedischen Akademie, Herr Dr. Carl David Wirsen, bekannt für seine konservativ- militanten Äußerungen und ablehnende Haltung den modernistischen Strömungen in der Literatur gegen- über. Zum dritten wütete damals im öffentlichen Leben Schwedens ein harter po- litischer Kampf zwischen zwei großen Gruppierungen, der 1911 mit dem Sieg der sozialdemokratischen Partei endete. Danach erschienen in der sozialdemokratischen Presse Besprechungen der Dramen von G. Hauptmann, den man dem schwedischen Publikum als einen „ radikalen und fortschrittlichen Autor“ und als „den jungen Streiter“ darstellte. Mit der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1912 an G. Hauptmann - am 15. November feierte die literarische Welt seinen 50. Geburtstag - setzt eine neue Etappe in der Rezeption seiner Werke in Skandinavien ein. Im Einzelnen kann heute nicht nachvollzogen werden, inwieweit das Zusammenwirken von Kritikern, Literaturforschern, Übersetzern, Regisseuren und Verlegern die Entscheidung der Schwedischen Akademie beeinflusst hatte. Gewiss hat einerseits der Habitus der

2 Das Stück Die Weber (Vävarna) wurde 1899 von Edvard Alkman übersetzt, während andere Dramen, z.B. Vor Sonnenaufgang (Före soluppgången, 1930), von Einar Knutsson und Winterballade (Vinterballaden, 1919) von Selma Lagerlöf übersetzt wurden. 110 Grażyna Barbara Szewczyk

Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern Europas, ihre tonangebende und ge- festigte Stellung im literarischen Feld – man darf auch nicht vergessen, dass das „ symbolische Kapital“ der schwedischen Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf, das sich durch Prestige und Anerkennung äußerte, ein wichtiger Faktor bei der Unter- stützung der Kandidatur Hauptmanns war, andererseits der Habitus der skandinavi- schen und ausländischen kulturellen Institutionen, die das Werk Hauptmanns positiv begutachtet haben, in hohem Maße zur Verleihung des Nobelpreises beigetragen. Hauptmann hat Selma Lagerlöf erst bei der Verleihung des Nobelpreises im De- zember 1912 persönlich getroffen, mit der er seit 1910 einen Briefwechsel führte.3 Im Gegensatz zu S. Lagerlöf waren seine Beziehungen zu anderen schwedischen Persönlichkeiten, z.B. zu A. Strindberg, kühl und distanziert. Der deutsche Autor hielt seinen schwedischen Kollegen für einen Chaoten und einen Menschenfeind, der vom Frauenhass erfüllt war und mit jedem auf dem Kriegsfuß stand.

Dramenfragmente. Arbeit an skandinavischen Stoffen

Die skandinavischen Stoffe in dramatischen, nicht abgeschlossenen und erst 1962 in der Centenar - Ausgabe veröffentlichten Werken G. Hauptmanns nehmen in seinem Nachlass einen besonderen Platz ein und lassen sie als sich fortentwi- ckelnde, offene Motive betrachten. Bereits im Jahre 1879 greift der junge Dichter zu altnordischen Stoffen und macht die daraus entnommenen Personen in einem seiner frühen Dramenfragmente zu Akteuren. Der Text heißt Frithiofs Brautwerbung und knüpft an die von skandinavischen Romantikern, dem Dänen Adam Ohlenschläger und dem Schweden Esaias Tegner4 aus der altnordischen Mythologie übernommene Geschichte an. Frithiof, die Hauptfigur, wird von G. Hauptmann als ein stolzer, freier Bauer dargestellt, der sich um die Hand Ingeborgs, der Schwester des Königs bewirbt. Der hochmütige König Helge weist den Helden mit den Worten ab: „ Hast du denn je gehört, dass Königsblut mit Bauernblut vermischt ward? […] Der Dirnen gibt es viel im weiten Land. Begnüge dich und nimmt des Königs Sold, so wirst du stets in meinen Gunsten stehn“ 5, worauf Frithiof empört reagiert und dem König

3 Im Briefwechsel ging es u.a. um die Arbeit Hauptmanns an der Novelle von Selma Lagerlöf Herrn Arnes Schatz, die er in ein Versdrama umgestalten ließ. 4 Esaias Tegner (1782-1846), schwedischer Lyriker, Professor für griechische Sprache und Literatur und Mitglied der Schwedischen Akademie, gehört mit seinem Hauptwerk, dem Epos in 24 Gesängen aus dem Jahr 1825 Frithiofs saga ( Die Frithjofssage wurde 1826 in die deutsche Sprache übersetzt und mehrmals aufgelegt) zu den bedeutenden Repräsentanten der schwedischen Romantik. Frithiof erlebt verschiedene Abenteuer, verliebt sich in Ingeborg, wird aus seiner Heimat verbannt, reist durch viele Länder, auch nach Griechenland, wo er von der Kunst des antiken Tempelbaus fasziniert wird, nimmt an Kriegen teil und wird schließlich zum König. 5 Gerhart Hauptmann: Frithiofs Brautwerbung. Fragment. In: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, herausgegeben von Hans-Egon Hass, Band VIII, Nachgelassene Werke, Fragmente, Darmstadt 1963, Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann 111 bewusst macht, dass er nur ein schwacher, ängstlicher Mensch sei, der sich zwar seiner Ahnen rühme, nicht aber wisse, die Heldentaten der mutigen Bauern zu würdigen. „Die Ahnen zählst du viel, o schwacher, bleicher Helge. So klettre doch an deiner Ahnen Zahl hinauf bis zu Walhallas Pforten, be- siege deinen Feind mit deiner Ahnen Siegen […]. Was wärest du in deiner Feinde Hand? Ein schwacher Ball im wilden Meer der Zeit.“6 An dieser Stelle bricht das Fragment ab, das Hauptmanns Interesse an der nordischen Mythologie in seinen Jugendjahren bekundet und ein Beweis dafür ist, dass der junge Dramatiker, der das ins Deutsche übersetzte Werk Tegners Frithiofs saga gelesen hatte, den alten Stoff in ein soziales Konzept umgestalten ließ. So- wohl in seinem frühen dichterischen Entwurf als auch in späteren dramatischen Fragmenten rücken in den Mittelpunkt der Handlung menschliche Konflikte und Rivalitäten, wobei sich die Hauptfiguren gegen die herrschenden Zustände und Klassenunterschiede vehement auflehnen. Ein anderes Dramafragment mit skandinavischen Motiven, u.d. T. Grönlandtra- gödie, entsteht in den Jahren 1917 -1918; die letzten Szenen werden erst in den Monaten November und Dezember 1944 geschrieben. Der Text besteht aus drei Akten, in deren Mitte eine furchtbare Familien- geschichte aus der Wikingerzeit steht, eine Geschichte, die durch Inzest, Verrat, Rache, Pest und unheimliche Todesfälle gekennzeichnet ist und deren Figuren dem Schicksalhaften verstummt, verzweifelt und wehrlos entgegenlaufen. Die Handlung spielt in der Umbruchzeit, in der man die alten nordischen Götter Odin, Thor und die Göttin des Totenreiches Hel immer noch beschwört und gelegentlich auch zu Christus betet7 . „Helft, steht mir bei; du Christus und du, roter Thor“ – schreit die Protagonistin Thorey in Verzweiflung. Eine königliche Familie mit dem mutigen Jarl Thorgils an der Spitze, seiner schwangeren Frau Thorey, – sie gebiert unter schrecklichen Schmerzen ihren Sohn - deren Geschwistern, Verwandten und Knechten, flieht aus Island nach Grönland8 , wo sie, von Elend, Hunger, Kälte und Pest ergriffen, langsam untergeht. Aus den dramatischen Dialogen geht hervor, dass die des Inzestes beschuldigten Geschwister Kol und Gudrun samt dem König und seiner Frau aus Island verbannt wurden und auf Grönland ein neues Zuhause fanden. Alle Personen des Dramas, z. B. Kol, der seinen Gefährten (Sörli) aus Eifersucht

S. 211. 6 Ebda, S.211 7 Heidnische Vorstellungen hielten sich im Leben der Wikinger sehr lange. Skandinavien wurde im Vergleich zum übrigen Westeuropa spät christianisiert. 8 G. Hauptmann entnimmt den geschichtlichen Stoffen Skandinaviens einige seiner Figuren; z. B. den Isländer Erik den Rothaarigen, der der Sage nach als Verbannter im 10. Jh. zusammen mit seiner Frau ein Obdach auf Grönland suchte und dort die erste Wikingersiedlung gründete. 112 Grażyna Barbara Szewczyk erschlägt, oder der König Thorgils, der mehrere Bluttaten auf dem Gewissen hat, wandeln zwischen Finsternis und Licht, zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Während die Frauen Visionen und Alpträume erleben, in denen sie die Geister der Toten sehen und den Untergang der Sippe vorwegnehmen, müssen die Männer, geplagt durch Gewissenbisse, die Geräusche der Ermordeten stets wahrnehmen. Am Ende brechen einige Knechte aus der verschneiten und vereisten Insel aus und die Überlebenden, dabei Thorgils mit seiner Frau Thorey, gehen dem Tod versöhnt und friedlich entgegen. Grönlandstragödie stellt die Familiengeschichte in einer historisch-symbolischen Zeit dar - einmal geht es um die tragischen Zeitläufte der Wikingerepoche, um die Zeit der Kämpfe zwischen Heidentum und Christentum, zum anderen um die Streitigkeiten und Kriege zwischen den rachsüchtigen Sippen, zum dritten um die finstere und dunkle Epoche in der zeitgenössischen Menschheitsgeschichte, die auf den ersten und den zweien Weltkrieg abzielt - und sie spielt in einem Raum, in dem die Ermordeten die Lebenden für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen, sie mit Pest, Kälte und Schmerzen bestrafen und einem unabwendbaren Schicksal gnadenlos ausliefern. G. Hauptmann zeigt in dem Dramenfragment, in dem er alle Personen, Män- ner und Frauen, wie eigenständige Persönlichkeiten handeln lässt, auf ihre Leiden- schaften, Schwächen und Stärke hinweisend, die dunkelsten und schmerzhaften Seiten des Lebens. Wesentliche Impulse zur Verfassung des Textes lieferten ihm seine persönlichen Erlebnisse, eine schwere Krankheit seiner Frau Margarethe, die Sorge um die bei- den Söhne, die im Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft hatten, auch der Verlust seines Neffen. Im Sommer 1916 bringt der Dichter seine Erschütterung zum Ausdruck, zieht sich aus dem öffentlichen Leben zurück und flieht in vergangene und ferne Welten, doch auch in ihnen schildert er „ das Wüten der Inhumanität“, die „rätselhafte Entfesse- lung der dunklen Mächte“9 . Die ersten Skizzen für das größere dramatische Fragment Grönlandstra- gödie entstehen, wie früher erwähnt, in den Jahren 1917 – 1918. Im Jahre 1915 schreibt Hauptmann an dem Schauspiel Magnus Garbe, „ der bittersten Tragödie der Menschheit“, wie er es in dem Entwurf zu einem Titelblatt nennt.10 Beiden Werken - Grönlandtragödie und Magnus Garbe– ist die ergreifende Anklage des Dichters gegen Menschenverhetzung, Hass und Rachsucht gemeinsam. In der At-

9 Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann. Berlin 1969, S. 319. 10 Das Drama wurde erst 1942 veröffentlicht. Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann 113 mosphäre der Verzweiflung und Bedrohung fühlen sich die Protagonisten von den Mächten der Finsternis umgeben, denen sie nicht entgegen zu treten wagen. Böse Alpträume und Visionen, in denen Tod, Mord, Klopfen und Schreie der Ermorde- ten vernehmbar sind, rufen bei den Lebenden Ängste und Schicksalsfurcht hervor. Beide Werke sind, obwohl sie in verschiedenen Zeiten spielen (das Dramenfragment in der Wikingerzeit, das zweite Drama in der Epoche der Inquisition), Zeugnisse einer „ fortschreitenden Verdüsterung“11 in Hauptmanns Menschenbild angesichts des heraufkommenden Nationalismus und Militarismus. Unter der Herrschaft des Faschismus weicht G. Hauptmann immer öfter aus der Gegenwart in frühere Jahrhunderte aus, obwohl er auch immer wieder Er- klärungen abgibt, in denen er indirekt Hitlers Politik befürwortet. Nur im engsten Kreis seiner Freunde drückt er seinen Abscheu vor dem Diktator aus. Ein größeres dramatisches Fragment Die Hohe Lilie , an dem G. Haupt- mann im Oktober 1937, dann im April, Mai und Juni 1943 gearbeitet hat, gehört in die Reihe von Dramen und Dramenfragmenten, die die Zeit der Reformation und Gegenreformation von verschiedenen Seiten aus schildern und beleuchten (z.B. Florian Geyer, Magnus Garbe, Der Dom, Die Wiedertäufer ), im Grunde aber auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse, so auf Hitlers Machtübernahme, Personen- kult und Fanatismus, auf den Anschluss Österreichs, Ausschreitungen gegen die Fremden und den Krieg abzielen und als Dokumente „menschlicher Entartung“ wirken. Die Handlung des Zweiaktenstückes spielt am 4. Oktober 1631, mitten im dreißigjährigen Krieg, im Wirtshaus „ Zur hohen Lilie“ in Erfurt, wo sich an einem großen runden Tisch eine größere Gesellschaft versammelt. Die Gäste – sowohl die Schweden als auch die deutschen Ratsherren, hinzu noch der berühmte Physiker und Erfinder der Kolbenluftpumpe Otto von Guericke – amüsieren sich, während sie auf die königliche Majestät warten, bei Bier und Musik, und unterhalten sich über die siegreichen Züge des schwedischen Königs. „Der ganze Norden liegt ihm zu Füßen. Die deutschen Fürsten fallen ihm zu. Die Reichsstädte rufen ihn als Befreier aus.[…]. Gustav Adolf, König von Schweden, zieht nur noch im Triumphzug einher! Vom Kriegszug ist fast nichts mehr zu spüren – prahlt der Ratsherr Schwind.“12 Auf den schrecklichen Krieg, der die Städte zerstört und Menschenopfer fordert, wird in den Gesprächen zwar eingegangen, die Herren wollen aber lieber den Fragen nach Einzelheiten ausweichen oder sie schnell vergessen. „ Im Kriege nimmt man ein Bad, wäscht das Blut von den Händen und denkt nicht weiter des Schlachtenge-

11 Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann, ebda, S. 322. 12 Gerhart Hauptmann: Die Hohe Lilie. In: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, ebda., Band VIII, S. 1182. 114 Grażyna Barbara Szewczyk tümmels. Man greift nach dem Humpen und stürzt das Vergessen in sich hinein“13 - sagt der Ortskommandant. Die Atmosphäre im Wirtshaus scheint lustig, sorglos und scherzhaft. Die weiteren Szenen des Dramas entstanden im Jahr 1943. Zum Schauplatz wird sowohl das Gasthaus „Zur hohen Lilie“ als auch das Gasthaus „ Zum Pro- pheten“, wo der König zunächst unerkannt um die Aufnahme in die Sattlerzunft nachsucht, dann als Gustav Adolf „zum Ritter und jüngsten Gesellen“ erhoben wird. Schwänke und Witze werden in Anwesenheit der königlichen Majestät erzählt; jede Hochwohlgeborenheit wird dabei ad absurdum geführt. Der erste Akt des Dramas wurde am 27. April von G. Hauptmann umgearbeitet, weiterhin jedoch herrscht in der Handlung eine heitere, fast komödiantische Stimmung. Im Gasthof wird haupt- sächlich über die Sattlerzunft und die feierlichen Zeremonien gesprochen, während Gustav Adolf einen galanten Liebhaber an der Seite der Tochter des Gastwirtes spielt. Selbst der zweite Akt erfuhr 1943 mehrere Bearbeitungen und Entwürfe. In den ersten Szenen wird das Thema der Hexenjagd in Erfurt angesprochen, sonst unterhält man sich gut beim Wein, man lässt sich auch verkleiden (z. B. der König wird als Bräutigam geschmückt), man tanzt und vergisst den Krieg. In den weiteren Szenen wird über wichtige historische Fakten berichtet, z.B. über den Sieg Gustav Adolfs bei Leipzig ( Breitenfeld) und über Tilly; die Stimmung ändert sich, und an den Gesprächen im Gasthaus nehmen neben Gustav Adolf auch Generäle und Landgrafen teil. Der schwedische König prophezeit im Monolog seinen eigenen Tod, den auch die ehemalige Nonne Lilie ( genannt hohe Lilie) vorausdeutet. Das Stück nimmt zum Schluss den Charakter eines allegorischen Spiels an, in dem der Teufel wie in der Faust- Szene aus einem Bierfass steigt, die schwedischen Soldaten zum Kampf aufmuntert und den langen Krieg prophezeit. Es blitzen Schwerter ohne Zahl in hunderttausend blut`gen Händen. Nein, meine Herrschaft wird nicht enden hier in Europas Jammertal.14 Dem Gespräch mit dem Mönch und dem schwedischen Pfarrer, der auf die Sinnlosigkeit des Religionskrieges hinweist, folgen die letzten Szenen des Frag- ments – sie werden als neue Kompositionsvorschläge in die Handlung eingeführt –, in denen der Krieg in einen Zirkusraum verlegt wird. Darin tritt Gustav Adolf hoch zu Ross als ein Mimus auf, von einigen Figuren begleitet, darin erscheinen auch

13 Gerhart Hauptmann, ebda, S. 1183. 14 Gerhart Hauptmann: Die Hohe Lilie, ebda, S. 1235. Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann 115 die Narren, die Komödien spielen. Mittels dieser Burleske macht G. Hauptmann auf die Greuel der Zeit aufmerksam und zeigt dabei das Tragisch- Komische an der Person Gustav Adolfs. Der schwedische König wird nicht als eine bedeutende historische Persönlichkeit, sondern als ein schwacher, lächerlicher Mensch, als ein Schürzenjäger dargestellt, der für den Krieg keine Verantwortung übernimmt. Die Dramenfragmente mit nordischen Stoffen wurden nie auf deutschen Bühnen aufgeführt. Man hat sie bis heute auch nicht erforscht. Die Flucht aus der Gegenwart in eine ferne Geschichte gab G. Hauptmann Anlass, eine kritische Stellungnahme zu den finsteren Ereignissen seiner Zeit zu beziehen. Und nicht nur das. Neben der politisch- historischen Ebene haben die erst 1942 bis 1943 vollen- deten Fragmente eine menschliche Dimension. Der Dichter nimmt das Thema des Todes und des menschlichen Leidens auf, indem er der Opferrolle der wehrlosen Frau (Grönlandstragödie), den Qualen der Gebärenden, den Ängsten des Vaters, dem Wahn der Sündigen einen wichtigen Stellenwert einräumt. Die Polarisierung von Licht und Finsternis, Leben und Tod spielt dabei keine geringe Rolle, wobei die Perspektive des Dramatikers stets wechselt und keineswegs nur auf eine Seite verlegt wird. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass Hauptmann in den skan- dinavischen Sagen und in den mythengeschichtlichen Texten Stoffe fand, die er in der dichterischen Auseinandersetzung mit barbarischer Gewalt modifizieren und künstlerisch bearbeiten konnte.

Selma Lagerlöfs Übersetzung der Winterballade ins Schwedische

Eine eingehende Analyse der Winterballade verbunden mit ihrer interessanten Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte haben mehrere deutsche und ausländische Literaturwissenschaftler und Kenner des Hauptmannschen Werkes durchgeführt. Die im Frühjahr 1912 und im Jahre 1916 abgeschlossene Dichtung ist ein Drama im Blankvers, das in Anlehnung an Selma Lagerlöfs Novelle Herr Arnes penningar (1903) geschrieben wurde. Es ist ein Beispiel für eine neue dramatische Technik15 des Dramatikers und seine Schicksalskonzeption, nach der die „Helden am Dasein schlechthin zerbrechen“. Einige Forscher, so André Jolivet, Vivi Edström oder Jennifer Watson16 , haben in ihren Studien beide Werke, Hauptmanns Winterballade und S. Lagerlöfs Herrn Arnes Schatz (1904 erschien die deutsche Übersetzung

15 Vgl. Wolfram Mauser: Gerhart Hauptmanns „Winterballade“. In: Karl Kurt Klein (Hrsg): Germanisti- sche Abhandlungen (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, 6), Innsbruck 1959, S, 237. 16 In der ausführlichen Studie Gerhart Hauptmann Winterballade, en psykologisk studie,(Selma Lagerlöf ur tyskt perspektiv, Lagerlöfstudier 2002) geht die amerikanische Forscherin Jennifer Watson auf Hauptmanns Umarbeitungen, Veränderungen und Deutungen der Lagerlöfschen Novelle ein. 116 Grażyna Barbara Szewczyk der Novelle), im Hinblick auf den behandelten Stoff verglichen und die Äußerungen der schwedischen Autorin zu Hauptmanns Umgang mit der Vorlage zitiert. Die Feststellung, dass sich die beiden Texte nicht nur im Formalen, in der künstleri- schen Gestaltung und in den Ausdrucksmöglichkeiten, sondern auch in der Art der Darstellung der Konfliktmuster und ethischen Probleme voneinander unterscheiden, sollte den Literaturwissenschaftlern einen Freiraum für die Interpretation schaffen, in dem G. Hauptmanns und Selma Lagerlöfs Erzähl- und Figurenperspektive, das Traumhafte, Phantastische und das Magische, die Menschengestaltung, Struktur und die Sprache jeweils betrachtet und separat ergründet werden. Im Brief an Valborg Olander vom 21.06.1917 erzählt Selma Lagerlöf von ihrer Übersetzungsarbeit an der Winterballade und klagt über „schwere historische Fehler“, die G. Hauptmann bei der Umarbeitung des Stoffes von Herrn Arnes Schatz begangen habe. „Er hat einige historische Fehler gemacht, weil er ganz naiv glaubt, Bohuslän gehöre in die Zeit des Königs Johan von [?] Schweden. Ich frage mich oft, ob ich darauf hinweisen sollte. In meiner Übersetzung werde ich selbstverständlich möglichst viele Fehler korrigieren, aber ist es sinnvoll mit ihm darüber zu streiten? Es ist ja lustig zu studieren, wie ein Kerl schreibt. Er macht das nicht immer gut. An einigen Szenen geht er vorbei, auf andere legt er viel Gewicht. Ich überlege mir, ob nicht eine Frau das Ganze gewissenhafter behandeln würde. Sie führt nämlich mehr Har- monie in die Dichtung ein, aber vielleicht nicht so viel Kraft in die großen Szenen“17. Aus anderen Briefen S. Lagerlöfs an V. Olander und S. Elkan geht hervor, dass die Schriftstellerin Hauptmanns dramatische Dichtung zuerst „Wort für Wort“ ins Schwedische zu übersetzen versuchte; dann, im Sommer 1917, ließ sie die Über- tragung mithilfe von S. Elkan sprachlich verbessern. Davon berichtet sie in einem im Blankvers in sieben Strophen verfassten Brief an Sophie18, in dem sie Haupt- manns Umarbeitung kritisch betrachtet. Die Übersetzung wurde 1919 druckfertig und erschien im gleichen Jahr im Bonnier Verlag in Stockholm. Die von Selma Lagerlöf durchgeführten Änderungen im Textder Winterballade betreffen einerseits

17 Vgl. Ying Toijer-Nilsson (Hrsg.): En riktig författarehustru. Selma Lagerlöf skriver till Valborg Olander. Albert Bonniers förlag 2006, S. 129, 130. Aus dem Schwedischem G. B. Szewczyk. 18 Im Brief vom 21.06.1917 an Sophie Elkan greift Selma Lagerlöf auf den Hauptmanns- Blankvers zurück und berichtet von ihrer Arbeit an der Winterballade in einem ironischen Ton, der ihre kritische Distanz zur Hauptmannschen Adaptation der Vorlage unterstreicht; „Meine allerliebste Sophie, ich habe heute den ganzen Tag im Blankvers gelebt, in Hauptmanns Blankvers, und mein armes Gehirn hat aufgehört in Prosa zu denken. Es ist ein Drama, stell Dir vor, ein ernstes Drama in Akten und Szenen, schön eingeteilt, mit Mord und Gewissensqualen, mit langen Reihen von übermenschlichen Reden und grimmigen Ausrufen. Man hätte staunen müssen über solch einen Reichtum an aggressiven Worten über Hass und Liebe, wenn man nicht einen Mann namens Shakespeare gekannt hätte […], in (Hrsg.) I.Toijer-Nilsson: Du lär mig att bli fri. Selma Lagerlöf skriver till Sophie Elkan, Nonniers 1992, S.454. Skandinavische Stoffe im dramatischen Schaffen von Gerhart Hauptmann 117 die Elemente ihrer Erzähltechnik, die auf eine besondere Camouflage-Technik in der Darstellung der Struktur der menschlichen Psyche, der Rollenspiele, Verwandlun- gen und Verdoppelungen der Figuren hindeutet, andererseits beziehen sie sich auf die Stellen, die die moralische Botschaft des Textes herausstellen. In den Briefen an die beiden Freundinnen S. Elkan und V. Olander drückte sie ihre Enttäuschung über Hauptmanns Drama aus und kritisierte seine Personenzeichnungen. Die Lektüre von beiden Werken macht dem Leser bewusst, dass solche Begriffe wie Schuld, Gewissensbisse, Sühne und Rache von Hauptmann und Lagerlöf anders aufgefasst und gedeutet werden. Während der deutsche Dramatiker darauf besteht, Rachelust sei ein be- stimmendes menschliches Gefühl, das von dem Bösen komme und niemals zur Gerechtigkeit führe, zeigt die schwedische Autorin, wie der Mörder, durch das rachegierige Gespenst verfolgt –Hauptmann verzichtet in der Handlung auf die „Gespenstergeschichte“ – , die Gewissensbisse und Visionen erlebt, in denen er der Ermordeten Berghild begegnet. In den letzten Szenen der Winterballade erscheinen vor dem Mörder sowohl der erschlagene junge Pastor Sune als auch die tote Elsalill, die wichtigste weibliche Figur des Dramas und Augenzeugin der verbrecherischen Taten; die heitere Stimmung bei Hauptmann, zu der die Spiele der schottischen Soldaten beitragen, wird durch den unerwarteten Tod des Mörders unterbrochen. Das Drama endet mit dem Monolog von Pastor Sune, in dem er von der Erlösung des Mörders spricht, zu der er mittels seines „ eigene[n] Nein“, seines Gewissens gelangt. Bei Selma Lagerlöf ist die Stimmung bis zum Ende gespens- terhaft und finster. Es ist die Rede von der Schuld und Strafe, nachdem der Mörder zu Boden gefallen war, und die Ausrufe seiner Kameraden heben die Spannung hervor. Selbst die letzten Sätze des Monologs klingen anders; statt der Substantive: [Hier liegt] „ein Überwinder…ein Entsühnter“[ Freunde! – und wo ist mein Feind?!“], die den von der Schuld„ erlösten“ Mörder bezeichnen, charakterisiert die schwedische Autorin den Verbrecher���������������������������������������������������������������������������� mithilfe von Verben: ”Här ligger en, som segrat, övervunnit, for- sonat – vänner, en, som var min ovän“19 (Hier liegt der, der gesiegt, überwunden, sich versöhnt hat – Freunde, derjenige, der mein Feind war). Die von Selma Lagerlöf unternommenen Ergänzungen, Streichungen und Veränderungen am Hauptmannschen Original – sie ließ nicht nur einige Szenen aus und veränderte einige Charaktere, sondern verlieh auch der schwedischen Sprache einen lyrischen, natürlichen Klang – wurden weder von den deutschen Kritikern

19 Vgl. G. Hauptmann: Vinterballaden. Dramatisk dikt. Med författarens tillåtelse översatt och bearbetad ar Selma Lugerlöf. Stockholm 1919, S. 147. 118 Grażyna Barbara Szewczyk noch dem schwedischen Publikum wahrgenommen. Vinterballaden wurde 1918 dreimal auf der Bühne des Nya Teatern in Göteborg gespielt, danach hat man das Drama nie mehr in Schweden aufgeführt. Noch vor der Premiere des Stückes schrieb sie an V. Olander „Nästan allt, som jag har behållit kvar av Hauptmann, ångrar jag. Jag skulle har följt intrigen ur min bok, det hade varit bättre“20 [Ich bereue fast alles, was ich von Hauptmanns Text zurückgehalten habe. Ich hätte ja der Intrige in meinem Buch folgen können, das wäre besser], um noch einmal ihre Unzufriedenheit mit der Übersetzung zum Ausdruck zu bringen. Hauptmanns Winterballade erschien auch in dänischer Übersetzung, die zwar nicht veröffentlicht, aber 1923 im Dagmar- Theater in Kopenhagen aufgeführt wurde. Sowohl die Dramenfragmente mit skandinavischen bzw. schwedischen Stoffen, als auch die spärliche Korrespondenz des deutschen Nobelpreisträgers mit Selma Lagerlöf beweisen, dass die Faszination von der nordischen Mythologie, Geschichte und Literatur einerseits und die Briefkontakte mit skandinavischen Schriftstellern andererseits, seine künstlerische Werkstatt sowie Form und Gehalt seiner dramatischen Werke beeinflusst hatten. Besonders in der Zeit, in der der Dichter unter inneren Spannungen litt und nach neuen Techniken, Stoffen und Ausdrucksmöglichkeiten suchte, erwiesen sich die skandinavischen Inspirationen, die Entdeckung des Unfassbaren, des geheimnis- voll Wirkenden und des Übersinnlichen für sein dichterisches Schaffen als fruchtbar.

20 Selma Lagerlöf an Valborg Olander, der Brief vom 22.9.1918. In: En riktig författarehustru[...], ebda, S. 143. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ...

Nina Nowara Katowice

„Er war für mich immer nur kritisches Objekt“1. Gerhart Hauptmann im essayistischen Werk Eberhard Hilschers

Der am 28. April 1927 im damaligen Schwiebus (heute Świebodzin) gebo- rene, am 7. Dezember 2005 in Berlin verstorbene Schriftsteller, Literaturwissen- schaftler und Essayist Eberhard Hilscher ist weiten Germanistenkreisen als Autor umfassender Monographien über Arnold Zweig (1962/1968), Thomas Mann (1965) und Gerhart Hauptmann (1969/1987/1996) bekannt. Die literarischen Werke Hil- schers, der als freier Schriftsteller seit 1953 tätig war, bleiben dagegen bis heute weitgehend unbeachtet2, obwohl er selbst in seiner biographischen Skizze angibt, dass er sein Hauptbetätigungsfeld im Literarischen sieht3. Einer der Gründe dafür mag darin liegen, dass seine belletristischen Werke heute schwer zugänglich sind – einzelne Exemplare sind nur noch in Antiquariaten auffindbar. Hilschers Werke, die sowohl von Lesern, als auch von Literaturkritikern durchaus positiv aufgenommen

1 Eberhard Hilscher: Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: Eberhard Hilscher: Neue poetische Weltbilder. Sieben Essays. Berlin 1992, S. 7-27, hier S. 8. 2 Unschätzbare Verdienste um die Popularisierung und Erkundung des Werkes von Eberhard Hilscher hat sich die Kattowitzer Germanistin Grażyna B. Szewczyk erworben, welche einige Werke Hilschers ins Polnische übersetzte. (Vgl. Eberhard Hilscher: Meine Schwiebuser Verwandten und das polnische Mädchen. Erzählung und Gedichte. Moi świebodzińscy krewni i polska dziewczyna. Opowiadanie i wiersze. Ins Polnische übertragen von Grażyna Barbara Szewczyk/Jan Goczoł. Mitarbeit: Włodzimierz Zarzycki, Vorrede: Jerzy Piotr Majchrzak, Redaktion: Marek Nowacki. Świebodzin 2002). Sie ist auch die Herausgeberin der ersten Monographie über Hilscher, die in Polen erschienen ist. (Vgl. Eberhard Hilscher (1927-2005). Schriftsteller und Forscher der deutschen Literatur. Pisarz i badacz literatury niemieckiej. Hg. von Grażyna Barbara Szewczyk. Świebodzin, Katowice 2010). Im Germanistischen Institut der Schlesischen Universität in Katowice ist ebenfalls derzeit eine Habilitationsschrift über Eberhard Hilscher im Entstehen begriffen, die sein literarisches Werk komplex beschreiben wird. Auch das Regionale Museum in Świebodzin, in dem sich die Hilscher-Bibliothek befindet, bemüht sich, das Werk des Ehrenbürgers dieser Stadt zu popularisieren. Dank der Zusammenarbeit zwischen dem Regionalen Museum und dem Germanistischen Institut in Katowice war es möglich, die oben genannten Sammelbände zu veröffentlichen sowie zwei deutsch-polnische Symposien zu organisieren, die Hilscher gewidmet waren. Das erste Symposium fand im Gebäude der Schlesischen Bibliothek am 3. und 4. April 2009 statt, das zweite am 22. September 2012 in Świebodzin. 3 „Wichtiger als das Literaturwissenschaftliche und Essayistische ist mir mein Erzählwerk.“ Eberhard Hilscher: Autobiographische Skizze (1992), S. 2. Hilscher-Bibliothek in Świebodzin. Unveröffentlichtes Manuskript. 120 Nina Nowara wurden, weckten jedoch kein großes Interesse seitens der Verlage. Während man in der ehemaligen DDR den Dichter aus ideologischen Gründen nicht veröffentlichen wollte4, gaben nach der Wende westdeutsche Verlage an, dass seine Romane und Schriften zwar als „intellektuell, anspruchsvoll, modernistisch gattungsübergrei- fend“ gelten, jedoch nicht „bestseller-verdächtig“5 seien. Der zweite Grund für die fehlende Anwesenheit des Dichters im Bewusstsein des heutigen Lesers ist die Tatsache, dass einige seiner literarischen Werke überhaupt nicht veröffentlicht wurden. Das betrifft seinen ersten Roman über Robert Schu- mann Maestros Himmel- und Höllenfahrt, an dem Hilscher in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts arbeitete, und welcher als unveröffentlichtes Manuskript in den Beständen der Staatsbibliothek in Berlin aufbewahrt wird. Unveröffentlicht bleiben ebenfalls die längere Erzählung Anselms Eskapaden und Irrgänge, deren Hand- schrift im Besitz der Hilscher-Bibliothek im Regionalen Museum in Świebodzin ist, sowie der Gedichtband Die Bewunderung des Universums, aus dem lediglich einige Gedichte in Literaturzeitschriften publiziert wurden. Einen Sonderfall bildet hier Hilschers Essay Liebesbrief an die Menschheit, der in der polnischen Übersetzung des Kattowitzer Germanisten Zbigniew Feliszewski durch das Regionale Museum in Świebodzin herausgebracht wurde6. Als Dichter konnte sich Eberhard Hilscher zeitlebens in dem deutschen Li- teraturbetrieb nicht richtig durchsetzen. Es ist daher auch kein Wunder, dass er aus finanziellen Gründen sich verstärkt mit literaturwissenschaftlichen und publizisti- schen Arbeiten weiterhelfen musste. Die materielle Not war wohl auch der Grund, warum sich Hilscher intensiv Gerhart Hauptmann widmete. In seiner autobiogra- phischen Skizze stellt der Berliner Autor eindeutig fest: „Über andere Autoren (auch Hauptmann, Zweig, Feuchtwanger) schrieb ich weniger aus Neigung als vielmehr aus finanzieller Notlage“.7 Dieselbe Behauptung wiederholt sich in einem Radio- Interview, in dem Hilscher beklagt, dass er seine Arbeit an dem Roman über Walther von der Vogelweide zugunsten Hauptmann zeitlich verschieben musste8. An der Biographie Hauptmanns arbeitete Hilscher vier Jahre lang. Es entstand ein opulentes

4 In einem Radio-Interview behauptet Hilscher, dass er vier Jahre lang auf die Veröffentlichung seines ersten Romans über Walther von der Vogelweide (Der Dichter und die Frauen) warten musste, nachdem das Manuskript schon abgeschlossen war. Vgl. Interview mit Eberhard Hilscher. Deutschlandfunk, Sendung „Zwischentöne“. 3.2.2002. Archivierte Kassette. 5 Eberhard Hilscher: Autobiographische Skizze (1992), S. 2. Hilscher-Bibliothek in Świebodzin. 6 Vgl. Eberhard Hilscher: Miniatury. List miłosny do ludzkości. Vorwort: Grażyna Barbara Szewczyk. Ins Polnische übertragen von Grażyna Barbara Szewczyk und Zbigniew Feliszewski. Redaktion: Marek Nowacki. Świebodzin: Muzeum Regionalne 2010. 7 Eberhard Hilscher: Autobiographische Skizze (1992), S. 2. Hilscher-Bibliothek in Świebodzin. 8 Interview mit Eberhard Hilscher. Deutschlandfunk, Sendung „Zwischentöne“. 3.2.2002. Archivierte Kassette. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ... 121

Werk, das sich sowohl in der ehemaligen DDR als auch in Westdeutschland einer großen Anerkennung erfreute. So behauptete ein Kritiker, dass es „eine außeror- dentlich gut informierte Biographie“9 sei, während ein anderer darauf hinwies, dass Hilschers Verdienst in „einer kritischen Wiederannäherung an einen von Einfällen umgetriebenen, von Figuren hartnäckig bedrängten, unerhört produktiven Dichter“10 besteht. Hilschers Opus Magnum auf dem Gebiet seiner Hauptmann-Studien gilt noch heute als aktuell und als Wegweiser in Sachen Gerhart Hauptmanns11. Eine Besprechung dieser Abhandlung aus heutiger Perspektive bietet der Beitrag von Renata Dampc-Jarosz „Ein tief bewegendes Phänomen“. Gerhart Hauptmann in der Biographie von Eberhard Hilscher. Die Forscherin liefert mit ihrem Text eine aufschlussreiche, ideologiekritisch ausgerichtete Analyse des Werkes Hilschers. Laut Dampc-Jarosz zeichnet „die Komplexität der biographischen Darstellung“ diese Biographie aus: Es handelt sich dabei nicht nur um eine detaillierte, sehr gut fundierte Wiedergabe von Hauptmanns Lebensetappen und Werkanalysen, sondern um eine Schattierung des Bildes von Hauptmann und eine Vielfalt von aufgegriffenen Aspekten seiner Persönlichkeit, die jeden Leser inspirieren mag.12 Neben der mehrmals aufgelegten Biographie des schlesischen Dichters widmete Eberhard Hilscher Gerhart Hauptmann über 20 Einzelstudien, darunter literaturkritische Essays, Rezensionen und Würdigungen zu Jubiläen, die zerstreut in Literaturzeitschriften, Konferenzbänden und Tageszeitungen erschienen sind. Er äußerte sich über das Werk des Nobelpreisträgers sowohl in Radio- als auch in Fernsehsendungen13. Nicht zuletzt beteiligte er sich an Symposien und Tagungen

9 Willy Haas: Hauptmann auf dem dialektischen Streckbett. Biographie aus Ost-Berlin. In: „Die Welt der Literatur“, 20. August 1970, Nr. 17, S. 8. 10 Martin Gregor-Dellin: Eine große, torsohafte Gestalt. Zur Gerhart-Hauptmann-Biographie von Eberhard Hilscher. In: Deutsche Welle (Sendung Lesezeichen), Köln, 16.06.1988. 11 Diese Behauptung wurde neuerdings während des Hauptmann-Symposiums in Katowice von dem angesehenen Hauptmann-Kenner, Prof. Dr. Krzysztof A. Kuczyński, bestätigt. Auch neueste Publikationen über Hauptmann beziehen sich auf die Monographie Hilschers. (Vgl. z. B.: Rüdiger Bernhardt: Die Zerstörung der preußischen Ordnung. Zu Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie aus dem märkischen Kiefernforst. In: Carl und Gerhart Hauptmann- Jahrbuch. Bd. VI. Hg. von Krzysztof A. Kuczyński. Włocławek 2012, S. 107-134, hier S. 122. Oder Peter Sprengel: Gerhart Hauptmanns Die Weber – ein Projekt des Lebens. In: Carl und Gerhart Hauptmann-Jahrbuch. Bd. VI. Hg. von Krzysztof A. Kuczyński. Włocławek 2012, S. 23-43, hier S. 38). 12 Renata Dampc-Jarosz: „Ein tief bewegendes Phänomen“. Gerhart Hauptmann in der Biographie von Eberhard Hilscher. In: Grażyna Barbara Szewczyk (Hrsg.): Eberhard Hilscher (1927-2005). Schriftsteller und Forscher der deutschen Literatur. Pisarz i badacz literatury niemieckiej. Świebodzin 2010, S. 193-202, hier S. 200. 13 Eine genaue Auflistung der Publikationen Eberhard Hilschers über Gerhart Hauptmann folgt am Ende des vorliegenden Beitrags. 122 Nina Nowara zu Ehren des großen Dichters14. Die wichtigsten Texte über Hauptmann wurden in Hilschers Essaybänden Neue poetische Weltbilder (1992) und Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein (nach)gedruckt (2000). Den letzten längeren Artikel über Hauptmann publizierte Hilscher 2001 in der polnischen Zeit- schrift „Studien zur Deutschkunde/Studia Niemcoznawcze“15. In seinen literaturwissenschaftlichen Essays ist Hilscher vor allem darum bemüht, das mit Gerhart Hauptmann, seiner Familie und seinem Bekannten- und Freundeskreis verbundene biographische Material auszuwerten. Im Artikel Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis geht Hil- scher Hauptmanns Beziehungen zu dem Autorenkreis aus Friedrichshagen16 auf den Grund. Ihn interessieren besonders biographische Einzelheiten und Hintergründe, und zwar die Frage, wann und zu welchem Zweck Gerhart Hauptmann in Fried- richshagen verkehrte. Die Beschreibung seiner Reisen und Bekanntschaften versieht er mit vielen Details. Hilscher erläutert darin auch, wie es zu dem weit verbreiteten Missverständnis kam, demzufolge Hauptmann zu den Friedrichshagenern gehört habe. Er behauptet, dass die Gruppe „Durch“ in Berlin für den Dichter viel wichti- ger gewesen sei. In Berlin, und nicht in Friedrichshagen, traf sich Hauptmann mit Arno Holz, Johannes Schlaf, Wilhelm Bölsche und Bruno Wille. Hilscher informiert über die Lesungen der Gruppe und über die zur Diskussion stehenden Probleme. Hauptmann habe damals aus seinen Jesusstudien und aus „dem Sämann-Drama, das später „Vor Sonnenaufgang“ genannt wurde“17, vorgelesen. Sein Wissen über die Tätigkeit der Gruppe bezieht Hilscher dabei aus den Erinnerungen von Wille und Bölsche. Die Erinnerungen der beiden Autoren konfrontiert Hilscher mit den Erinnerungen von Stanisław Przybyszewski, der nicht viel von dem Dichterkreis aus Friedrichshagen gehalten habe. Hilscher stimmt mit seinem Urteil überein und betont, dass es sich nicht um einen Dichterkreis, sondern vielmehr um einen Literatenkreis gehandelt habe18. Hilscher resümiert: „Offensichtlich nahm Gerhart

14 Eberhard Hilscher sprach u. a. über Hauptmanns Mittelalterdichtungen während des internationalen Colloquiums Gerhart Hauptmann. Zum 50. Todestag, das vom 28. April bis 1. Mai 1996 auf Hiddensee stattgefunden hat. 15 In den Jahren 1999-2005 publizierte Hilscher in den „Studien zur Deutschkunde“ über 25 literaturwissenschaftliche Essays und Rezensionen, u. a. über , Thomas Mann, Friedrich Nietzsche und Albert Einstein. 16 Der Friedrichshagener Dichterkreis hat sich um 1890 geformt. Er wurde auch Friedrichshagener Naturalisten-Kolonie genannt. Zu dem Kreis gehörten Dichter, Intellektuelle und Künstler, wie Bruno Wille, Wilhelm Bölsche, Heinrich und Julius Hart, Wilhelm Spohr, Peter Hille. 17 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis. In: Eberhard Hilscher: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 100-112, hier S. 102. 18 Vgl. Ebd. S. 103. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ... 123

Hauptmann an den Diskussionen und Bemühungen des Friedrichshagener Auto- renkreises, der um 1892/93 seine Blüte erlebte, keinen Anteil.“19 Mehr Aufmerksamkeit widmet Hilscher dagegen der Beziehung zwischen Haupt- mann und Wilhelm Bölsche. Die Briefe der beiden, die Hilscher genau studiert hat, beweisen, dass sie zeitlebens guten Kontakt hatten. Hilscher bezieht in seine Untersuchung auch die nicht publizierten Briefe und Postkarten von und an Bölsche aus Hauptmanns Nachlass ein und zitiert jene Stellen, die von der guten Beziehung zwischen den beiden zeugen. Des Weiteren geht Hilscher der Beziehung zwischen Gerhart Hauptmann und Bruno Wille nach. In diesem Falle liege aber laut Hilscher nicht genügend biographisches Material vor, aufgrund dessen man die Beziehung der beiden näher charakterisieren könnte. Hilscher fasst zusammen: „Andere Friedrichshagener Autoren spielten in Hauptmanns Leben vergleichsweise eine geringe Rolle.“20 Im letzten Teil seines Beitrags berichtet Hilscher von den ausländischen Autoren, zu denen Ibsen, Arne Garborg, Ola Hansson, August Strindberg und Stanisław Przybyszewski gehörten, die „episodisch in Friedrichshagen wohnten“21. Abschließend schreibt Hilscher über die zwischen den Dichtern bestehenden Abneigungen und Sympathien, sowie von deren persönlichen Kontakten. Auf die Beziehung zwischen Gerhart Hauptmann und seinem Sohn Ivo geht Hilscher in dem Artikel „Ich bin bisher mit Anerkennung nicht überhäuft worden“. Ansprache beim Ivo Hauptmann-Kolloquium am 25. April 1998 in Erkner22 ein. Hilscher beschreibt die künstlerische Laufbahn des Malers Ivo Hauptmann, er un- ternimmt auch den Versuch, die Beziehung zwischen Ivo und Gerhart Hauptmann näher zu charakterisieren. Dabei stützt er sich auf den bisher unpublizierten Brief- wechsel zwischen Vater und Sohn. Hilscher berichtet z. B. von den finanziellen Problemen Ivos, auf welche der große Vater mit Befremdung reagiert habe23. Trotz dieser Reaktion unterstützte der Vater den Sohn jahrzehntelang mit Beiträgen „ver- mutlich in sechsstelliger Höhe“24. Hilscher unterstreicht, dass Hauptmann versuchte, auf seinen Sohn vor allem geistig zu wirken, ihm neue Impulse für sein Schaffen zu geben. Die beiden seien aber im Künstlerischen wie auch im Politischen andere Wege gegangen. Da Hilscher den Maler Ivo persönlich kennengelernt hat, macht

19 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis. In: a.a.O. 104. 20 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis. In: a.a.O.. 107. 21 Ebd. S. 108. 22 Eberhard Hilscher: „Ich bin bisher mit Anerkennung nicht überhäuft worden.“ Ansprache beim Ivo Hauptmann-Kolloquium am 25. April 1998 in Erkner. In: Eberhard Hilscher: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 134-145. 23 Vgl. Ebd. S. 137. 24 Ebd. S. 140. 124 Nina Nowara er auch keinen Hehl daraus, dass er in diesem ‚Konflikt’ zwischen Vater und Sohn auf der Seite des Sohnes steht. Hilscher interessieren auch Hauptmanns schlesische Bekanntschaften und seine „geistige Verwurzelung im Heimatland“25. Im Beitrag Gerhart Hauptmann in Rü- bezahls Reich. Schlesien im Leben und Werk des Dichters zeichnet Hilscher das Verhältnis zwischen Hauptmann und Hermann Stehr nach, wobei er den Inhalt des Briefwechsels zwischen den beiden Schriftstellern wiedergibt. Bei der Bespre- chung der Korrespondenz Hauptmanns mit seinem zweiten schlesischen Freund, Max Pinkus, bezieht er sich auf den „verdienstvolle[n] Aufsatz“ Max Pinkus und Gerhart Hauptmann von Krzysztof A. Kuczyński. Er bedauert aber zugleich, dass Kuczyński nur „gekürzte Proben“ aus neun Briefen abgedruckt hat, wo es doch in der Staatsbibliothek 163 Briefe und Postkarten von den beiden gebe26. Hilscher klagt auch darüber, dass der Forscher wichtige, möglicherweise nicht lesbare Passagen aus der Korrespondenz ausgelassen habe27. Die ausgelassenen Passagen führt Hil- scher an. Die Darstellung von Hauptmanns schlesischen Bekanntschaften verbindet Hilscher mit der Frage nach der Rolle Schlesiens in seinem Leben und Werk. Hil- scher nimmt Hauptmanns Erinnerungen Das Abenteuer meiner Jugend sowie die fragmentarischen Aufzeichnungen Zweites Vierteljahrhundert unter die Lupe. Von diesen Werken ausgehend analysiert Hilscher Hauptmanns innere Beziehung zum Riesengebirge und zur Stadt Breslau. Er zieht den Schluss, dass Hauptmann sich zu Schlesien als zu seiner Heimat bekannt habe. Hilscher verweist auch darauf, dass der schlesische Berggeist Rübezahl in einem frühen Gedicht des Dichters auftritt. Anschließend gibt Hilscher einen Überblick über die vorliegende Forschungslite- ratur zum Thema Schlesien in Hauptmanns Leben (er nennt u. a. die Arbeiten von Felix A. Voigt und Klaus Hildebrandt) und zählt Werke auf, die ein schlesisches Ambiente haben (zu denen Die Weber, Emanuel Quint und Der neue Christophorus gehören). Das schlesische Ambiente sei laut Hilscher auf der Bühne unsichtbar. Hilscher betont dabei, dass Hauptmann „seine schlesischen Schauplätze keineswegs immer nur in Schlesien schuf“28. Der Charakterisierung der Werke schließt sich eine kurze Auflistung der schlesischen Motive im Leben des Dichters an. In seinen Essays unternimmt Hilscher auch den Versuch, nicht nur die Hal- tung Hauptmanns zu seiner Heimat, sondern auch zum Vaterland zu ergründen. Hilscher analysiert seine Einstellung zum 1. Weltkrieg, seine Position in der Wei-

25 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann in Rübezahls Reich. Schlesien im Leben und Werk des Dichters. In: Studia Niemcoznawcze / Studien zur Deutschkunde. Hg. von Lech Kolago. Warszawa, XXII. Band (Juni) 2001, S. 435-450, hier S. 442. 26 Edb., S. 447. 27 Ebd., S. 449. 28 Ebd., S. 440. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ... 125 marer Republik, „am umstrittensten“29 findet er jedoch Hauptmanns Verhalten im Dritten Reich. Hilscher versucht hierfür Erklärungen zu finden, indem er aufzählt, wie Hauptmann das Dritte Reich unterstützte und in welcher Weise er sich von ihm distanzierte. Hilscher will nicht fremde Meinungen über Hauptmann wiederholen, sondern seine eigenen Erkenntnisse zeigen. Zu diesem Zweck studierte er mehr als 30 Tage- und Notizbücher Hauptmanns aus dem Zeitraum zwischen 1933-1945, er hat auch Korrespondenzen und Zeitungsarchive durchgesehen. Hilschers These lautet: „Es zeigte sich, daß der Dichter überhaupt nicht eindeutig festzulegen ist“30. Die Wechselhaftigkeit sei dabei ein wesentlicher Charakterzug des Dichters. Den Wechsel der Haltungen Hauptmanns sieht Hilscher als ein Zeichen unserer Zeit, aber er zieht auch einen Vergleich mit Walther von der Vogelweide, der seine Kunst in die Dienste verschiedener Herren stellte. Den zweiten Schwerpunkt von Hilschers Essays über Gerhart Hauptmann bilden Analysen und Interpretationen der literarischen Werke des schlesischen No- belpreisträgers. Im Artikel Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen erkundet Hilscher, welche mittelalterlichen Texte Hauptmann gelesen hat und welche ihm als Inspiration dienten. Er verweist in diesem Zusammenhang auf das Versepos Armer Heinrich und die Kynast-Sage. Hauptmanns Mittelalterdichtungen interes- sieren Hilscher auch als Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse. Er geht auf die Doktorarbeit von Jörg Platiel unter dem Titel Mythos und Mysterium. Die Rezeption des Mittelalters im Werk Gerhart Hauptmanns ein, die er zwar für wertvoll und informativ hält, doch verweist er zugleich auf Lücken in der Arbeit des Doktoran- den, der zwar den Nachlass Hauptmanns genau studierte, aber „merkwürdigerweise eine spezielle Manuskriptmappe mit wichtigen Skizzen und Kommentaren nicht“31 ausgewertet habe. Nun setzt sich Hilscher zum Ziel, diese Lücke zu schließen. Er berichtet von dem Inhalt der genannten Mappe: diese enthalte Hauptmanns Projekt eines unvollendeten Dramas, einer Nachschöpfung des Nibelungenliedes. Vorgese- hen war laut Hilscher auch eine Dramatisierung des Kudrun – Epos. Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen geht Hilscher auf das Drama Der arme Heinrich ein, dessen Interpretation er in seiner Hauptmann-Biographie schon geboten hatte, die er aber an dieser Stelle vervollständigt. Hilschers These lautet, dass Hauptmanns Anliegen die „Darstellung der seelischen Krise des armen Heinrich“32 gewesen sei. Neben Der arme Heinrich interpretiert Hilscher Hauptmanns Neuerzählungen

29 Eberhard Hilscher: Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: a.a.O., hier S. 24. 30 Ebd., S. 26. 31 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen. In: Eberhard Hilscher: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 113-133, hier S. 114. 32 Ebd., S. 118. 126 Nina Nowara von Parzival und Lohengrin, die seiner Ansicht nach in der Forschung zu wenig beachtet werden. Hilscher schlussfolgert, dass Hauptmann in den Nachdichtungen der mittelalterlichen Texte im Wesentlichen eigene Wege gehe33. Hauptmanns Ko- mödie Ulrich von Lichtenstein gibt ihm indes den Anlass dazu, die Urteile anderer Forscher über das Stück heranzuziehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Hilscher macht z. B. auf die Fehldeutung von Felix A. Voigt aufmerksam, der das Stück rühmte, während Hilscher es für wenig gelungen hält. Das letzte Mittelalterpoem von G. Hauptmann, Die Tochter der Kathedrale, wird von Hilscher als „ein überraschend zeitkritisches, ja prophetisches Werk“34 gedeutet. Die Tochter der Kathedrale sei ein „schätzenswertes Lesedrama und Variations- spiel von Vorzugsthemen des Dichters, ein schönes Bekenntnis des greisen Gerhart Hauptmann zum Leben und zum ewigen Eros.“35 In seinen Essays verbindet Hilscher oft die Sichtweise des Literaturwissen- schaftlers mit der des Literaturkritikers. Im Essay Was bleibt von Gerhart Haupt- mann? äußert er sich z. B. über die Präsenz Hauptmanns auf den Bühnen Deutsch- lands. Er gibt u. a. zu bedenken, dass Hauptmann in Deutschland in den 90er Jahren kaum noch gespielt werde, im Gegensatz zu anderen Dramatikern wie etwa Brecht, Plenzdorf oder Krötz36. Hilscher zufolge wirke nämlich Hauptmann etwas anti- quiert. Für wichtig hält Hilscher dagegen „Gerhart Hauptmanns literaturhistorische Bedeutung”37. Hauptmann habe nämlich das deutsche Drama auf internationales Niveau gebracht. Zu unterstreichen sei auch Hauptmanns Bedeutung für die Ent- wicklung des Naturalismus (obwohl Hilscher in diesem Zusammenhang abwägt, ob Hauptmann eigentlich ein Naturalist war). Hilscher fragt, was aus der Perspektive der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bei Hauptmann aktuell wäre und welche Werke sich als wertbeständig erwiesen hätten. Den ersten Rang räumt er den Webern ein, weil Hauptmann in diesem Drama „einen Stoff aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ gestaltet habe und das Stück „das erste wirksame Massendrama unserer Literatur“38 sei. In diesem Sinne sei das Drama von literaturhistorischer Bedeutung, den modernen Leser könne es aber langweilen. Für wertbeständig hält Hilscher dagegen den Biberpelz, denn er behaupte sich auf den Bühnen, und in den Verfilmungen sei die Hauptfigur sein größter Vorteil. Das Stück sei „voll köstlicher Komik“ und „eine großartige Satire auf den wilhelminischen Obrigkeitsstaat, auf Bürokratie und aristokratische Allüren, inszeniert von einer prachtvoll emanzi-

33 Vgl. ebd., S. 123. 34 Ebd., S. 126. 35 Ebd. 36 Eberhard Hilscher: Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: a.a.O., hier S. 7. 37 Ebd. S. 8. 38 Ebd. S. 10. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ... 127 pierten, mutterwitzigen Volksfigur“39. Zu den besten Stücken Hauptmanns zählt Hilscher auch die Ratten, wobei er deren „Modernität“40 betont. Bedeutsam seien auch Rose Berndt und Michael Kramer. In diesem Zusammenhang fordert Hilscher, dass sich die Germanistik dem Spätwerk des Dichters mehr widmen sollte. Er äußert sich dabei kritisch über die zeitgenössische Hauptmann-Forschung, die über die abgeschlossenen Werke und über die 40er Jahre nicht hinausgehe. Einer genaueren Untersuchung wert seien seiner Meinung nach solche Werke wie Magnus Garbe, Herbert Engelmann, Die Insel der großen Mutter, Der große Traum, die Atriden- Tetralogie und Der neue Christophorus. Darüber hinaus behauptet Hilscher in Bezug auf Hauptmanns Sprache, dass er zwar in seinen Dramen genial sei, ein nachlässiger Umgang mit der Sprache dagegen seine Prosa kennzeichne41. Kritisch begegnet Hilscher jedoch solchen dramati- schen Werken wie Die versunkene Glocke und Florian Geyer – das letzt genannte Stück sei nämlich eine „stümperhafte Altertümelei“42. Den Gedichten Hauptmanns schenkt Hilscher ebenfalls nicht viel Aufmerksamkeit, weil der Nobelpreisträger seiner Ansicht nach zeitlebens ein „traditionsverhafteter Reimstümperer“43 geblie- ben sei. Recht kritisch äußert sich Hilscher auch über Hauptmann als Briefschreiber: in seinen Augen war er „weder ein aussagekräftiger, stilvoller Epistolograph noch Essayist“.44 Hilschers Hauptmann-Essays manifestieren aber nicht nur eine wissenschaft- lich-objektive Sicht auf Gerhart Hauptmann. An vielen Stellen wird der wissen- schaftliche Diskurs durch subjektive, manchmal sogar durchaus ironische Bemer- kungen gesprengt, die auf Hilschers persönliche Haltung zu dem Nobelpreisträger schließen lassen. Ein immer wiederkehrendes Motiv in Hilschers Essays ist die Frage nach der Genialität Gerhart Hauptmanns. Hauptmanns Selbstaussage „Ich glaube, ich bin ein Genie“ wird fast zu einem Leitmotiv der Essays Hilschers. Im Zusammen- hang mit Hauptmanns Mittelalter-Studien45 fragt Hilscher z. B., ob Hauptmann als

39 Ebd. S. 13. 40 Ebd. S. 14. 41 Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann in Rübezahls Reich. Schlesien im Leben und Werk des Dichters. In: a.a.O. S. 436. 42 Eberhard Hilscher: Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: a.a.O., hier S. 12. 43 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann in Rübezahls Reich. Schlesien im Leben und Werk des Dichters. In: a.a.O. S. 436. 44 Ebd., S. 448. 45 Wenn es um die Mittelalterdichtungen Hauptmanns geht, so bekennt Hilscher, dass er in der Zeit, als er an seiner Hauptmann-Biographie arbeitete, den Dichter auf diesem Gebiet für einen Dilettanten hielt. Er revidierte sein Urteil über Hauptmann erst dann, als er seinen Nachlass studiert hatte. (Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen. In: Eberhard Hilscher: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 113-133, hier S. 113). 128 Nina Nowara

Genie angesehen werden könne und ob er die Bezeichnung Gelehrter verdiene. „Mit Maßen!“, antwortet Hilscher, fügt aber gleich hinzu, dass es „beachtlich“ sei, „was Gerhart Hauptmann alles las“46. Eine Tagebuchnotiz Hauptmanns, die über die vielen Lektüren des Dichters informiert, gibt ihm indes den Anlass, sich über die Arbeitsweise des Nobelpreisträgers durchaus ironisch zu äußern: Hilscher ver- sieht diese Information mit dem vielsagenden Kommentar: „O welch gottbegnadete Schaffensweise eines Genies!“47 Hilscher zählt zwar die Lektüren von Hauptmann auf, unterstreicht aber auch die Lücken in seiner Bildung. Die These von der Ge- nialität des Dichters kann Hilscher allem Anschein nach nur schwer akzeptieren. Hilscher scheut es ebenfalls nicht, den Hochmut des Dichters anzuprangern. Er verweist z. B. darauf, dass die Friedrichshagener Hauptmann wie einen Gott behan- delt hätten48oder stellt fest, dass Hauptmann „von Weltruhm“49 verwöhnt war. Eine Festrede von Hauptmann an den Dichter Bölsche nennt er „ein bißchen Peeper- kornsche Tiraden“50. Für Überraschung sorgen kann Hilschers eindeutige Aussage in einem seiner Essays, dass er „[…] kein Gerhart-Hauptmann-Verehrer”51 sei und dass Hauptmann ihn als Autor nie inspiriert habe52. Er sei für ihn nur als Forscher wichtig gewesen: „Er war für mich immer nur kritisches Objekt.“ Hilscher scheint sich dabei dessen bewusst zu sein, dass er mit seinem kritischen Urteil über den Nobelpreisträger für Kontroversen unter den Liebhabern Hauptmanns sorgen mag: „Und um nach mancherlei Kritik allen Verehrern [Hauptmanns – NN] eine Freude zu machen, möchte ich für eine verstärkte Entdeckung des weltklugen Humoristen Gerhart Hauptmann werben.“53 Trotz dieser persönlichen Stellungnahmen sind Hilschers Hauptmann-Essays eine wichtige Wissensquelle über Gerhart Hauptmann, die Entstehungsbedingungen seiner Werke und schließlich über seine Zeit. Fragt man nach der Untersuchungs- methode Hilschers, so liegt die Antwort nahe, dass er der produktionsästhetisch- hermeneutischen Arbeitsweise verpflichtet ist. Ausschlaggebend für seine Beiträge sind immer der Autor und das Werk im breiten historischen und gesellschaftlichen Kontext. In vielen Aspekten leistet Hilscher philologische Grundlagenarbeit, vor

46 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen. In: Eberhard Hilscher: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 113-133, hier S. 114. 47 Ebd. S. 114. 48 „Und manchmal empfinden sie den lieben Gott der modernen Stürmer und Dränger, nämlich Gerhart Hauptmann, dem sich die meisten Jünger jedoch kaum zu nahen wagten.“ (Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis. In: a. a. O, S. 104.) 49 Ebd. S. 104. 50 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis. In: a. a. O. S. 106. 51 Eberhard Hilscher: Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: a. a. O., S. 7-8. 52 Diese Selbstaussage Hilschers sollte man selbstverständlich überprüfen. 53 Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen. In: a. a. O., S. 129. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ... 129 allem dort, wo er aus dem Nachlass Hauptmanns zitiert oder den Inhalt der nicht publizierten Briefe und Tagebücher angibt. Die Bezugnahme auf den Nachlass des Dichters wird für Hilscher zum wichtigsten Maßstab, an dem er andere Hauptmann- Studien misst. Hilscher betont mehrmals, dass erst die Lektüre des Nachlasses eine neue Sicht auf Hauptmanns Werke ermöglichen wird: die Details aus der Biographie des Dichters und seine Kommentare zu den eigenen Werken könnten zu neuen Erkenntnissen in den Hauptmann-Studien führen.54 Ein unübersehbares Verdienst Hilschers zeigt sich auch darin, dass er als Forscher stets auf dem Laufenden sein will und sich um die Aktualisierung seiner Studien durch Heranziehen neuester Veröffentlichungen bemüht55. In seinen Studien bezieht er sich auf die Arbeiten solcher Hauptmann-Kenner wie Felix A. Voigt, Peter Sprengel, Siegfried Hoefert, Klaus Hildebrandt, Anna Stroka, Krzysztof A. Kuczyński und Wilhelm Szewczyk. Im Disput mit den genannten Forschern bemüht er sich aber immer wieder, eine kritische Distanz zu bewahren und eigene Wege zu gehen. Zu loben ist ebenfalls die Tatsache, dass Hilscher auf der anderen Seite nicht auf dem eigenen Stand- punkt als Forscher beharrt. Er scheut nicht vor der Revision eigener Erkenntnisse zurück. Dies zeigt sich z. B. in seinem Geständnis, dass er manche Stellen in seiner Hauptmann-Biographie überarbeiten musste, nachdem er am Nachlass Hauptmanns gearbeitet hatte. Der Forscher Eberhard Hilscher zeigt sich als ein Entdecker, der die um Gerhart Hauptmann entstandenen Mythen revidieren will. So gesehen wird für ihn, ähnlich wie für Charles Darwin, den Helden seines literarischen Debüts, die Wissenschaft zum Abenteuer56.

54 Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Hauptmann-Biographie. Hilscher kritisiert zwar, dass man im Nachlass Hauptmanns „viel peeperkornsches Blabla“, „Bombastik und Banalität“ finden kann, doch „enthält das riesige Quantum der Niederschriften durchaus Qualität und unschätzbare Auskünfte zur Lebens-, Werk- und Zeitgeschichte. Die Forschung müßte sie verstärkt sichten und nutzen, damit sich neue Beiträge nicht sogleich partiell als veraltet erweisen.“ Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann, Leben und Werk, Berlin 1996, S. 581. An vielen Stellen seiner Essays betont Hilscher die eigenen Verdienste für die Hauptmann-Forschung: er erinnert gerne an seine Arbeit an dem Nachlass Hauptmanns in der Staatsbibliothek zu Berlin, dabei verweist er auf die Schwierigkeiten, die z. B. Hauptmanns nur schwer lesbare Handschrift bereiten kann: „Obwohl ich von einigen Kollegen weiß, daß sie die Schwierigkeiten nicht zu überwinden vermögen, kommt man, wie ich glaube, mit Ausdauer und Beharrlichkeit am Ende zum Ziel.“ (Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann, Leben und Werk, Berlin 1996, S. 443). 55 Durch seine Anmerkung am Ende des Essays über Ivo Hauptmann, die darüber informiert, wann er mit dem Text des Vortrags fertig wurde und welche Arbeiten in der Zwischenzeit zu diesem Thema entstanden sind, gibt er dem interessierten Leser die Möglichkeit zum Vergleich seiner Arbeit mit anderen, verwandten Beiträgen. 56 Ich rekurriere hier direkt auf den Aufsatz von Cem Sengül: Wissenschaft als Abenteuer in Eberhard Hilschers Darwin-Erzählung. In: Eberhard Hilscher (1927-2005). Schriftsteller und Forscher der deutschen Literatur. Pisarz i badacz literatury niemieckiej. Hg. von Grażyna Barbara Szewczyk. Świebodzin, Katowice 2010, S. 34-42. 130 Nina Nowara Eberhard Hilscher über Gerhart Hauptmann

Bibliographie57

A. Essays, Einzelbeiträge, Rezensionen

Baumeister im Menschenreich. Zu Gerhart Hauptmanns 100. Geburtstag. In: Bör- senblatt für den deutschen Buchhandel. Leipzig, 13.11.1962, S. 693-695 Aus Gerhart Hauptmanns Nachlaß (zu Band 8 der Centenar-Ausgabe. Hg. Von Hans-Egon Hass). In: Neue deutsche Literatur. Heft 1 / 1965, S. 148-151 Romanfragmente Gerhart Hauptmanns. Zum 25. Todestag des Dichters. In: Sonn- tag, 6.6.1971 Neues von und über Gerhart Hauptmann. In: Weimarer Beiträge. Berlin, Heft 7 / Juli 1983, S. 1294-1305. Allerlei Neues vom alten Hauptmann (über Wolfgang Leppmann, Gerhart Haupt- mann). In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. 21.12.1986, S. 27. Gerhart Hauptmanns Beziehungen zur Medizin. In: humanitas. Berlin, Jena, Leip- zig, Nr. 11, 28.05.1987, S. 11 Aktuelle Sicht auf Hauptmanns Alterswerk. Atriden-Tetralogie in der Bearbeitung Armin Stolpers. In: Neues Deutschland, Berlin 20./21.6.1987 Ute und Eberhard Hilscher: Würdigungen und Briefe von Käthe Kollwitz und Gerhart Hauptmann. In: Neue deutsche Hefte. Berlin. Nr. 194, Heft 2 / 1987, S. 277-301. Gerhart Hauptmanns Bedeutung für unsere Zeit. In: Gerhart Hauptmann. Werk und Wirkung. Beiträge zur Referentenkonferenz. Red. H. D. Tschörtner. Berlin 1987, S. 2-26 (Nachdruck unter dem veränderten Titel Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: Eberhard Hilscher: Neue poetische Weltbilder. Sieben Essays. Berlin 1992, S. 7-27.) Die schiefe Bahn von „Hanneles Himmelfahrt“ (über Lutz Besch, Hauptpersonen). In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. Hamburg, 2.10.1988, S. 27. Besuch im Dichterhaus. (Gerhart Hauptmann – Museum Erkner). In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 16.03.1990, S. 26. Ich glaube, ich bin ein Genie. An seinem 50. Todestag erweist sich Gerhart Haupt- mann als äußerst präsent. In: Der Tagesspiegel. Berlin 6.6.1996

57 Die nachfolgende Auflistung wurde erstellt auf der Basis der Biographie von Ute Hilscher (Ute Reimann-Hilscher: Bibliographie zum Werk Eberhard Hilschers. Primär- und Sekundärliteratur 1953-2001. Berlin 2002), der ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank für die Zugänglichmachung unikater Hilscher-Materialien aussprechen möchte. „Er war für mich immer nur kritisches Objekt“. Gerhart Hauptmann im essayistischen ... 131

Einladung zu Gerhart Hauptmann (über Rüdiger Bernhardts Buch). In: Decision, Hamburg, 9. Jg. Heft 32 / Juli 1996, S. 23. Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen. In: Zeitgeschehen und Lebensansicht. Die Aktualität der Literatur Gerhart Hauptmanns. Hg. von Walter Engel und Jost Bo- mers. Erich Schmidt-Verlag, Berlin (Mai) 1997, S. 92-109. Nachdruck in: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 113-133. Archivarische Entdeckungen (über Gerhart Hauptmann-Gedenkband, Legnica 1997). In: Zbliżenia, Polska-Niemcy (Annäherungen). Hg. von Norbert Honsza. Wro- claw, Heft 1 (19) / 1998, S. 100-102. Aufschlußreiches (über Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1914-1918. Hg. von Peter Sprengel). In: Berliner Morgenpost. 2.8.1998, S. 94. „Ich bin bisher mit Anerkennung nicht überhäuft worden.“ Ansprache beim Ivo Hauptmann-Kolloquium am 25. April 1998 in Erkner. In: Zeitschrift für deutsche Phi- lologie. Berlin. Band 118, Heft 2. / 1999, S. 286-296. Nachdruck in: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 134-145. Gerhart Hauptmann und der Friedrichshagener Autorenkreis. In: Gerhart Haupt- mann. Beiträge eines Colloquiums. Hg. von Rüdiger Bernhardt. Lübeck-Travemünde 1998, S. 109-124. Nachdruck in: Dichtung und Gedanken: 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart 2000. S. 100-112. Gert Oberembt: Großstadt, Landschaft, Augenblick (über Gerhart Hauptmann). In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin, 2. Heft / Juni 2000, S. 308-311. Gerhart Hauptmann in Rübezahls Reich. Schlesien im Leben und Werk des Dich- ters. In: Studia Niemcoznawcze / Studien zur Deutschkunde. Warszawa, XXII. Band (Juni) 2001, S. 435-450. Sigfried Hoefert: Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Berlin, 3. Heft, Juni 2004, S. 315-317.

B. Rundfunksendungen

Was aber bleibet? Gerhart Hauptmann zum 120. Geburtstag. Hesssicher Rundfunk. 15.11.1982, ca. 300 Zeilen Zum 50. Todestag Gerhart Hauptmanns. (O-Ton). Radio Bremen. .6.1996, 90 Zeilen Ich glaube, ich bin ein Genie. Zum 50. Todestag von Gerhart Hauptmann. Hessi- scher Rundfunk. 5.6.1996, 360 Zeilen (für drei Sprecher) Gerhart Hauptmanns literarischer Kriegs- und Friedensdienst. Rezension von Hauptmann, Tagebücher 1914-1918. Hg. von Peter Sprengel / O-Ton). Radio Bremen. 20.7.1997, 100 Zeilen 132 Nina Nowara

Auf Hauptmanns literarischer Spielwiese. Über Gert Oberembts G. Hauptmann- Buch (Rezension / O-Ton). Radio Bremen. 2.4.2000, 80 Zeilen

C. Fernsehsendungen:

Zu Gerhart Hauptmanns 50. Todestag. Gespräch der Moderatorin C. Felixmüller mit Eberhard Hilscher und Werner Schulze-Reimpell. TV-Norddeutscher Rundfunk (NDR), Nordzeit, Hamburg, 5.6.1996 (Kassette ar- chiviert) Gerhart Hauptmann und Hiddensee. Ein Film von Klaus Alde und Günther Meh- nert mit drei Auftritten von Eberhard Hilscher. TV-Norddeutscher Rundfunk (NDR 3), Hamburg und Rostock, 28.7.1996 Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks

Michał Skop Katowice

Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks

Das Leben und Werk des großen deutschen Dramatikers beschäftigten den Schrift- steller, Publizisten und Erforscher der deutschsprachigen Literatur Wilhelm Szew- czyk (1916-1991) sein ganzes Leben hindurch. Dass Szewczyk es sich zur Aufgabe gemacht hat, in seinen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Studien und Skizzen dem polnischen Leser über Jahrzehnte hinweg das Schaffen des Li- teraturnobelpreisträgers aus Niederschlesien näherzubringen, ist von polnischen Literaturkritikern, Publizisten und Literaturwissenschaftlern, wie zum Beispiel Zygmunt Greń, Jan Koprowski, Aleksander Rogalski, Marian Szyrocki, Eugeniusz Klin, Norbert Honsza, Krzyszof A. Kuczyński, vielfach gewürdigt worden. Gleich nach dem zweiten Weltkrieg, als die deutsch-polnischen Beziehungen vor allem in Oberschlesien zensiert wurden, erscheinen Wilhelm Szewczyks erste Pu- blikationen und Artikel über Gerhart Hauptmann. Der Verfasser empfindet eine geistige Verwandtschaft mit dem deutschen Dramatiker, sammelt Hauptmanniana und arbeitet an einer Monografie über den schlesischen Dichter, die unvollendet als neunzig Seiten umfassendes Manuskript in Beständen seines Privatarchivs auf- bewahrt wird. Gerhart Hauptmanns Schaffen wird daneben auch zum Gegenstand der Analyse in seinen Studien über die deutsche Literatur, wie zum Beispiel in dem 1948 veröffentlichten, doch von der Zensur aus dem Verkehr gezogenen Werk Literatura niemiecka po wojnie [Deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg], im Skizzenband Dramaturgia niemiecka [Deutsche Dramatik] (1954) und im mo- nografischen Werk Literatura niemiecka w XX wieku [Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts] (1962 und 1964). Szewczyk übersetzt auch Hauptmanns Stücke Die Weber [1955, Tkacze. Sztuka z lat czterdziestych XX wieku]1 und Rose Berndt [1998,

1 Gerhart Hauptmann: Tkacze. Sztuka z lat czterdziestych XIX wieku. Warszawa 1955. Das Stück über den Aufstand der schlesischen Weber wurde nicht ohne Schwierigkeiten im Theater in Jelenia Góra aufgeführt. Nach Angaben von Mirosław Fazan wurden Die Weber 1968 in Teatr Nowy in Łódź aufgeführt. M. Fazan: Twórczość Wilhelma Szewczyka (1938-1992). Próba bibliografii [Wilhelm Szewczyks Werk (1938-1992). Versuch einer Bibliographie]. „Zaranie Śląskie” 1991, LIV, S. 309-322. 134 Michał Skop

Róża Bernd], die auf polnischen Bühnen in Łódź, Wałbrzych und in Warszawa aufgeführt wurden. Das Werk des Literaturnobelpreisträgers begleitet nicht nur die schriftstel- lerische und publizistische Laufbahn von Wilhelm Szewczyk, es bildet auch ei- nen Rahmen für sein Leben und Werk. Denn sowohl die ersten Texte, die in der Nachkriegszeit entstanden, wie auch seine letzten Feuilletons sind dem berühmten schlesischen Dramatiker und Schriftsteller gewidmet. Gerhart Hauptmann tritt auch immer wieder in Wilhelm Szewczyks übrigen Arbeiten, in Übersetzungen, Feuilletons und Beiträgen hervor, die über Jahrzehnte hinweg in regionalen und überregionalen Zeitschriften erscheinen, wie zum Beispiel in den Zeitschriften „Odra“, „Poglądy“, „Życie Literackie”. In dem 1947 in der Zeitschrift „Odra“ veröffentlichten Feuilleton „Od Hauptmanna do Weisenborna“ [Von Hauptmann bis Weisenborn]2 lässt der Publizist einzelne deutsche Pressestim- men über Gerhart Hauptmann zu Wort kommen; er zitiert dabei den Schriftsteller Gerhart Pohl, der in der ostdeutschen Wochenschrift „Neue Berliner Illustrierte“ den letzten mit Gerhart Hauptmann in der Villa Wiesenstein verbrachten Heiligabend 1945 beschreibt: „Bettet mich auf das Sofa meiner Mutter!“ hatte Gerhart Hauptmann befohlen, der die lange Dämmerung träumend verbrachte. „Laßt die Lichter erstrahlen. Die wahren Volksfeste müssen gefeiert werden – auch in Not und Tränen. Sie verbinden den einzelnen mit seinem Volk und das Volk mit den Völkern derselben Kultur.“3 Das Interesse an der deutschen Literatur und besonders an Gerhart Hauptmann steht in Szewczyks Veröffentlichungen in den fünfziger Jahren im Vordergrund. In der Skizze „Gerhart Hauptmann w świetle i mrokach” [Gerhart Hauptmann im Licht und Dunkel], die er in dem Buch Dramaturgia niemiecka veröffentlichen lässt, rekonstruiert er den künstlerischen Werdegang des Dramatikers, rezensiert polnische Aufführungen von Hauptmanns Dramen und betrachtet die Rezeption der Werke Gerhart Hauptmanns in Deutschland. Das Interesse an Gerhart Hauptmann lässt in den sechziger Jahren nicht nach. Einen wesentlichen Platz nimmt die von ihm herausgegebene unvollendete Serie Pisma wybrane Gerharta Hauptmanna [Gerhart Hauptmanns ausgewählte Schrif- ten] ein, die vom Verlag „Śląsk” in Katowice veröffentlicht wurde. Wie Krzysztof A. Kuczyński in seinem Beitrag über Wilhelm Szewczyks Studien zum Werk von

2 Wilhelm Szewczyk: Ostatnia wigilia Hauptmanna. In: „Odra” 1947, Nr. 5 (62), S. 3, auch in: Ders., Co robią Niemcy. Kraków 1969, S. 19-22. 3 Ebd., S. 19-20, auch in: Gerhart Pohl: Bin ich noch in meinem Haus? Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns. Berlin 1953, S. 89. Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks 135

Gerhart Hauptmann bemerkt, wurden von insgesamt fünf zum Druck vorgesehe- nen Büchern nur drei Bände herausgegeben: Księga namiętności [1962, Buch der Leidenschaft, übersetzt von Irena T. Sławińska], Kacerz z Soany [1964, Der Ketzer von Soana, übersetzt von Leopold Staff] und Szaleniec boży Emanuel Quint [1964, Der Narr in Christo Emanuel Quint, übersetzt von Bertold Merwin].4 Zu Gerhart Hauptmann kehrt Szewczyk in weiteren Arbeiten und Studien über die deutsche Literatur zurück. 1962 erscheint sein Buch Literatura niemiecka w XX wieku, in dem in der Skizze „Gerharta Hauptmanna droga przez ciemności” [Gerhart Hauptmanns Weg durch Finsternisse] ein literarisches Porträt des Dramatikers gezeichnet wird. Anlässlich des hundertsten Geburtstags des Dramatikers publiziert Szew- czyk 1962 im Breslauer Monatsheft „Odra“ eine Skizze u.d.T. „Wokół Gerharta Hauptmanna“ [Um Gerhart Hauptmann]5, vier Jahre später, 1966, erscheint in der Krakauer Wochenschrift „Życie Literackie“ sein Beitrag „Jak kąpać się w szam- panie“ [Wie badet man im Champagner]. Dieses Feuilleton nimmt ein Motiv aus dem Werk Das Buch der Leidenschaft (1930) auf und ist ein Versuch, die Person des Nobelpreisträgers aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Der Publizist nimmt die Beziehung zwischen Gerhart Hauptmann und der Schauspielerin Ida Or- loff (1889-1945) unter die Lupe. Nachdem ein zehnjähriger Liebes- und Ehekonflikt beendet war, erhielt Hauptmann – so Szewczyk – „die ersehnte Scheidung“. So zog er mit seiner zweiten Frau in die damals neu erbaute Villa Wiesenstein ein und wenige Monate später ging er die Beziehung mit der Schauspielerin Ida Orloff ein. Hauptmann, damals zweiundvierzig, habe sich in die sechzehnjährige Schauspiele- rin verliebt, fühlte sich dem „schönen jungen Kind“ verfallen, bangte aber zugleich um seine eben erst geschlossene zweite Ehe. Diese Gedanken und Gefühle legte er sowohl in seinem Tagebuch nieder, wie auch in dem autobiografisch geprägten Roman Das Buch der Leidenschaft. Doch die Eingeständnisse des Dramatikers und Schriftstellers über seine Romanze mit Ida Orloff – so Szewczyk in seinem Feuille- ton – werden erst sechzig Jahre nach der Liebesaffäre und zwanzig Jahre nach des Autors Tod in der Öffentlichkeit bekannt. Die bislang „unbekannte Beichte“, die der Korrespondenz des reifen Schriftstellers an die junge Künstlerin zu entnehmen ist, ist zugleich ein Anhang zum Buch der Leidenschaft, in dem Hauptmann seine Liebesaffäre verarbeitet. In diesem Buch treten sowohl seine beiden Ehefrauen wie auch Ida Orloff auf. Szewczyk unterstreicht, dass Gerhart Hauptmann seinen autobiografisch geprägten Roman zum Druck gegeben hat, doch die Ehefrau Mar-

4 Vgl. Krzysztof A. Kuczyński: Życie i twórczość Gerharta Hauptmanna w badaniach Wilhelma Szewczyka. In: Grażyna B. Szewczyk (Hrsg.): Gerhart Hauptmann.w sześćdziesiątą rocznicę śmierci. Katowice 2006, S. 137-138. 5 Wilhelm Szewczyk: Wokół Gerharta Hauptmanna (W setną rocznicę urodzin). In: „Odra” 1962, Nr. 11, S. 45-55. 136 Michał Skop garete Marschalk verhinderte effizient dessen Veröffentlichung.6 Erst nach dem Tod der Witwe des Dichters im Jahre 1957 und schließlich nach dem Tod des Sohnes Benvenuto im April 1965, der das väterliche Erbe pflegte, konnten die Verleger bei der Veröffentlichung einer Jubiläumsausgabe Hauptmanns Gesammelter Werke auf die „interessanten Korrespondenzfragmente“ zurückgreifen7. Es bleibt offen – laut Wilhelm Szewczyk –, in welchem Grad die bislang vorenthaltenen und unter Ver- schluss gehaltenen Briefe wie auch Hauptmanns Tagebucheintragungen wirklich die Liebesbeziehung zwischen der Schauspielerin und dem Dramatiker widerspiegeln. Auf eine ambivalente Haltung des Dramatikers zu einigen Ereignissen aus seinem Leben macht Szewczyk in einem anderen Beitrag aus dem Jahre 1976 aufmerksam. In der Zweiwochenschrift „Poglądy” (1976, Nr. 15) veröffentlicht er – zum dreißigsten Todestag Hauptmanns – eine umfangreiche Besprechung der Studie Gerhart Hauptmann. Zeitgeschehen und Bewusstsein in unbekannten Zeug- nissen von Hans von Brescius. Somit macht er den polnischen Leser bekannt mit diesem Thema. Der Verfasser der Monografie – lesen wir im Text – hatte bis 1973 in Berlin an der hundertjährigen Ausgabe, an der sogenannten Centenar-Ausgabe, „der Werke Hauptmanns mitgearbeitet und dabei Einblick in die unveröffentlichten Aufzeichnungen des Dichters nehmen können“.8 Der Artikel „Gerhart Hauptmann - głupota, kompleksy czy oportunizm?“ [Gerhart Hauptmann – Dummheit, Minderwertigkeitskomplexe oder Opportunis- mus?] ist eine Übersetzung der in der Zeitschrift „Der Spiegel“ (1976, Nr. 25) ver- öffentlichten Buchbesprechung über den Literaturnobelpreisträger.9 Szewczyk gibt eine Zusammenfassung des Originaltextes und fügt Zitate aus dem Brescius’schen Buch ein, in denen „die teilweise bis heute unklar gebliebenen politischen Hal- tungen und Schwankungen Gerhart Hauptmanns (1862 bis 1946) anhand bisher unbekannter Selbstzeugnisse untersucht werden, und zwar anhand der Tagebücher, Notizen und Briefe aus den Hauptmann-Nachlässen, die von der Stiftung Preu- ßischer Kulturbesitz in West-Berlin und der Ost-Berliner Akademie der Künste aufbewahrt wurden.“10 Ferner präsentiert er den Grundgedanken des Autors Hans von Brescius, der seine Studie als einen wesentlichen Beitrag zur Hauptmann-Forschung bewertete. Bre- scius analysiert den künstlerischen und politischen Werdegang des Dichters, den

6 Wilhelm Szewczyk: Jak kąpać się w szampanie. In: Ders., Co robią Niemcy. Kraków 1969, S. 298-299. 7 Ebenda, S. 298. 8 „Ich fühle das Ereignis im Blut“. In: „Der Spiegel” 1976, Nr. 25, S. 127. Polnische Fassung – Wilhelm Szewczyk: Gerhart Hauptmann - głupota, kompleksy czy oportunizm? „Poglądy“ 1976, Nr. 15, S. 7-8. 9 Hans von Brescius: Gerhart Hauptmann. Zeitgeschehen und Bewußtsein in unbekannten Selbstzeugnissen. Bonn 1976. 10 „Ich fühle das Ereignis im Blut“, a.a.O., S. 127. Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks 137

Wilhelm Szewczyk in seinen zahlreichen Publikationen über Hauptmann als einen „(Irr)Weg durch Finsternisse“ bezeichnet. An der Entwicklung von Hauptmanns politisch-ideologischer „Bewusstseinslage“, wie Brescius sie in den intimen Notizen des Dichters fixiert fand, lässt sich in der Tat „der historische Erfahrungs- und Erlebnishorizont des national, aber im Grunde unpolitisch eingestellten deutschen Bürgertums exemplarisch verfolgen“ – Gerhart Hauptmann gibt ein Beispiel, resümiert Brescius mit einem Wort des Philosophen Helmuth Plessner, für die politische „Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes“.11 Mit dieser Äußerung wird darauf hingedeutet, dass der Biograf den Dramatiker teilweise gegen Anschuldigungen verteidigen, teilweise die Haltung des Künstlers rechtfertigen will. Die frühe Abkehr des Autors der „Weber“ vom sozialkritischen Naturalismus, seine Entwicklung zum konservativen Neuklassiker erklärt Brescius auch aus Haupt- manns „Aufsteiger“-Mentalität: Der erfolgreiche „Künstler-Bourgeois“ erhob sich über das eigene Ursprungsmilieu, „stellte sich selbst den Adelsbrief der Auser- wähltheit aus“.12 Brescius‘ Studie zeigt Gerhart Hauptmann als Person, die während des Ersten Weltkriegs für die deutsche Propaganda empfänglich war, „anfällig für jene deutsch- nationalen und völkischen Ressentiments“. Szewczyk präsentiert den Standpunkt des Hauptmann-Forschers: Hauptmanns Äußerungen zum Dritten Reich, schreibt der Nachlass-Analytiker Bre- scius, vermittelten den Eindruck, „als sei er selbst sich nicht restlos klar über seine Einstellung gewesen“; ihnen eigne „vielmehr weithin der Charakter einer Selbstma- nipulation des Bewusstseins“. Eines zumindest machen diese Selbstzeugnisse aber doch deutlich: Entschiedene, wenn auch stille, Gegnerschaft zu Nationalsozialismus und Hitler-Regime, wie von manchen früheren Biographen behauptet, war Gerhart Hauptmanns Sache nicht.13 Jede der vier „Umwälzungen der deutschen Geschichte“ (1914, 1918, 1933, 1945), die Hauptmann bewusst miterlebt habe, so beginnt Brescius, entlockte ihm mehr oder weniger spontan ein zustimmendes Bekenntnis, jedes Mal stellte er sich „zur Verfügung“. Aber die Studie macht dann klar, dass dieser „wandlungsfähige Konformismus“ doch kein „bewusster politischer Opportunismus als Erfolgsve- hikel“ war, sondern „eher schon“ einer beträchtlichen politischen Ahnungs- und Instinktlosigkeit entsprang, einer betont individualistischen Auffassung vom „hö-

11 Ebenda, S. 127. 12 Ebenda, S. 127. 13 Ebenda, S. 129. 138 Michał Skop heren Künstlertum“ und einem „zum Kompromiss neigenden Naturell“, das sich „gern der Macht des Faktischen beugte“.14 Mit der Brescius’schen Monografie beweist Wilhelm Szewczyk, dass Hauptmann diese Repräsentationsrolle gern gespielt hat. Der Publizist nimmt keine persönliche Stellung den Behauptungen von Brescius gegenüber und stellt ein Bild des Schrift- stellers dar, das sich aus dem unbekannten Nachlass des Dichters und anhand der Brecius’schen Monografie erstellen lässt. Auf Hauptmanns Tagebücher wird erneut 1981, fünfunddreißig Jahre nach dem Tod des Dramatikers, aber eher aus einem anderen Anlass – sechzig Jahre nach dem dritten schlesischen Aufstand – in einem Beitrag u.d.T. Niemiecka propaganda plebiscytowa [Deutsche Volksabstimmungspropaganda] hingewiesen. Der Publizist greift das in der polnischen Presse bislang selten erörterte Thema auf und schreibt über an deutsche Schlesier gerichtete Flugblattaktionen und Propagandakampa- gnen in der örtlichen Tagespresse. Vor diesem Hintergrund reflektiert er über die Einstellung Gerhart Hauptmanns zu dem Nationalitätenkampf zwischen Deutschen und Polen in Oberschlesien am Anfang der zwanziger Jahre und stellt fest, dass der Autor der Weber zweifelsohne als einer der wenigen deutschen Intellektuellen in die Tagespolitik hineingezogen war. 1921 wird Hauptmann „im Dienst für deutsches Oberschlesien“ aktiv, wie er es selbst in seinen Tagebüchern formuliert. Er hält Reden in Berlin, Hirschberg und Wien, am Vortag der Volksabstimmung setzt er seine Unterschrift unter den inbrüns- tigen Aufruf an Oberschlesier, damit sie ihre Stimmen für Deutschland abgeben. In seinem Vorhaben bleibt er nicht allein, obwohl viele damals bekannte Schriftsteller und Intellektuelle solchen propagandistischen Aktionen fern blieben. Hauptmann, der schon 1920 als Kandidat für das Amt des Republikpräsidenten vorbestimmt war, erfüllt diese Rolle mit ganzer Gewissenhaftigkeit. Daraus resultieren seine patheti- schen Reden und offenen Briefe, die sich auf hohe moralische Werte beziehen, die von Völkern der Siegerkoalition angeeignet werden sollten.15 Als Erforscher der deutschen Literatur und Kenner der Geschichte und der Literatur Schlesiens stellt Wilhelm Szewczyk fest, dass Gerhart Hauptmanns Stimme in der Flut von Propagandaschriften, Flugblättern und Plakaten, Reden und Kundgebun- gen weitgehend verschwand. Der Publizist schlussfolgert, dass Gerhart Hauptmanns Mitwirken im Abstimmungskampf in Oberschlesien von der deutschen Propaganda nicht genügend stark artikuliert wurde. Somit war sein Ruf nach der ersehnten deut- schen Einheit – konstatiert Szewczyk – in der Zeit der politischen Zersplitterung des

14 Ebenda, S. 127. 15 Wilhelm Szewczyk: Niemiecka propaganda plebiscytowa. In: „Poglądy” 1981, Nr. 6, S. 5. Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks 139

Landes, auf dem Gebiet voller nationalen und sozialen Konflikte und Gegensätze, eine Stimme ohne die erhoffte Wirkung.16 In einem Feuilleton in „Życie Literackie” von 1987 – anlässlich des hundert- fünfundzwanzigsten Geburtstages des Dramatikers und Schriftstellers – betrachtet Szewczyk die Rezeption von Gerhart Hauptmanns Werk in West- und Osteuro- pa. Er verweist auf wenig bekannte Tatsachen, schreibt über die erste polnische Monographie über Hauptmann von Józef Flach, die 1898, gleichzeitig mit dem deutschen Buch von Paul Schlenther erschien, weist auf die Aufnahme der Stücke Der Biberpelz (1900 uraufgeführt) und Die Weber (1904, Teatr Miejski in Lwów) durch das polnische Publikum hin, unterstreicht, dass es 1904 eine vollständige Ausgabe der Werke Hauptmanns in russischer Sprache gab, wobei das Stück Vor Sonnenuntergang während des zweiten Weltkriegs, 1941, im Wachtaganow-Theater in Moskau gespielt wurde. Ferner verweist Szewczyk auf Veröffentlichungen in der Nachkriegszeit in Deutschland, zum Beispiel auf das erste herausgegebene Werk Hauptmanns u.d.T. Neue Gedichte (es erschien 1946 im damals neu gegründeten Aufbau-Verlag im sowjetischen Sektor ). In seinem Feuilleton geht der Publizist auch auf die in der polnischen Presse entfachte Diskussion über Hauptmann ein. Es ging darum, dass Tadeusz Oracki ein negatives, polenfeindliches Bild des Dramatikers zu vermitteln versuchte, wobei Wojciech Kunicki und Norbert Honsza in ihren Aussagen „den Dramatiker von voreingenommenen Vorwürfen“ zu schützen versuchten. Der Publizist schließt seinen Beitrag mit der Empfehlung, dass man sich mit Gerhart Hauptmann auch dann befassen solle, wenn man ihn nicht mag.17 Zu Hauptmann kehrt Szewczyk in weiteren Artikeln am Anfang der neun- ziger Jahre zurück Wilhelm Szewczyk starb unverhofft am 8. Juni 1991. Am Tag davor wurde im „Dziennik Zachodni” (Nr. 109 vom 7-9.06.1991) sein letzter Ar- tikel u.d.T. „45 lat po śmierci Hauptmanna“ [45 Jahre nach Hauptmannns Tod]18 gedruckt. Der Publizist rekonstruiert das letzte in der Villa Wiesenstein verbrachte Jahr, in dem der Dramatiker nach der Besetzung Agnetendorfs durch die Rote Armee seit Mai 1945 nur gelegentlich Besuch bekam, unter anderen vom sowjeti- schen Oberst Sokolow aus Liegnitz. Dabei verweist Szewczyk auf das Buch von Gerhart Pohl Bin ich noch in meinem Haus? Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns (1953)19, in dem Pohl unter anderen seine persönlichen Eindrücke vom Treffen mit

16 Ebenda, S. 5. 17 Vgl. Wilhelm Szewczyk: Opowieści złe i dobre o Gerharcie Hauptmannie. In: „Życie Literackie” 1987, Nr. 4 (1818), S. 2. 18 Wilhelm Szewczyk: 45 lat po śmierci Gerharta Hauptmanna. In: „Dziennik Zachodni” 1991, Nr. 109, S. 4. 19 Gerhart Pohl: Bin ich noch in meinem Haus? Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns. Berlin 1953. Das Werk erlebte eine Neuauflage 1954, dritte Auflage 1962. 2011 erschien das Buch im Verlag Plöttner in 140 Michał Skop dem Beauftragten der polnischen Regierung für den Schutz des Kulturgutes in den Westgebieten, Professor Stanisław Lorentz (1899-1991), schildert. Szewczyk stellt den Literaturnobelpreisträger als eine Person dar, die viel mehr um das Schicksal seiner schlesischen Heimat nach dem Kriegsende als um die Zukunft seines Va- terlandes besorgt war. Dabei zitiert er die in Gerhart Pohls Hauptmann-Biographie festgehaltene Aussage des Dramatikers, die er im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Lorentz machte: [Lorentz – Anm. MS] „Das Schicksal Deutschlands ist hart, doch wohl nicht un- verschuldet. Denken Sie an die Greuel, die man unserem Volk angetan hat. Sie sind unbestreitbare Fakten.“ Danach herrschte eine lange Weile das Schweigen. Schließlich sagte Hauptmann ebenso leise wie sein Gast: „Die Menschheit hat Valet gesagt.“ Dann sprach er mit einer stockenden Bestimmtheit, die nicht zu überhören war: „Mich – Herr Professor – interessiert – das Schicksal – das man – diesem Land hier – zugedacht hat…“20 Für die Hauptmann-Forschung in Polen bleiben von Interesse zwei weitere Texte von Wilhelm Szewczyk. Der erste Beitrag u.d.T. „Gerhart Hauptmann Be- ziehungen zu Schlesien. Zur Hauptmann-Rezeption in Polen“ erschien im einem von Krzysztof A. Kuczyński herausgegebenen Band Gerhart Hauptmann. Annä- herungen und Neuansätze (1991). Szewczyk liefert darin stichhaltige Argumente, dass Gerhart Hauptmanns Beziehungen zu Schlesien für uns Polen kein Tabu mehr seien und dass, obwohl die Rezeption der Werke Hauptmanns gleichzeitig mit ihrem Entstehen begann, das Schaffen des Dramatikers von polnischen Germanisten und Theaterwissenschaftlern auch weiterhin über Jahrzehnte hinweg bis heute analy- siert wird.21 Szewczyks zweiter Text u.d.T. „Gerharta Hauptmanna droga przez ciemność“ [Gerhart Hauptmanns Weg durch Dunkelheit] erschien posthum (1992) im germanistischen Jahrbuch „Germanica Wratislaviensia“. Der in Ober-Salzbrunn in Schlesien geborene und in Agnetendorf im Rie- sengebirge gestorbene Dramatiker zeigt sich in Wilhelm Szewczyks Feuilletons als eine faszinierende Person, als ein Schriftsteller, für den Literatur und Politik wich- tig waren. Besonderes Interesse schenkt Szewczyk den sozialkritischen Dramen Hauptmanns, in denen, wie zum Beispiel in den Werken Die Weber und Hanneles Himmelfahrt, die soziale Lage der schlesischen Bevölkerung aus der wirtschaft- lichen und politischen Situation der Region resultiert. Der Publizist blickt nicht

Leipzig und London. 20 Wilhelm Szewczyk: 45 lat…, op.cit., S. 4, auch in: Gerhart Pohl: Bin ich noch…, op.cit., S. 50-51. 21 Vgl. Wilhelm Szewczyk: Gerhart Hauptmanns Beziehungen zu Schlesien. Zur Hauptmann-Rezeption in Polen. In: Krzysztof A. Kuczyński (Hrsg.): Gerhart Hauptmann. Annäherungen und Neuansätze. Warszawa 1991, S. 137-144. Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks 141 nur auf die Schnittpunkte zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Kunst und Politik, er nimmt auch bestimmte Fakten aus der Vita des Dramatikers unter die Lupe, schreibt über seine politischen Ansichten, ästhetischen Anregungen und Inspirationsquel- len, Neigungen und Leidenschaften. So untersucht er zum Beispiel das Verhältnis Hauptmanns zu Frauen, beleuchtet die dem polnischen Leser bislang unbekannten Ereignisse aus dem Privatleben des Schriftstellers, die in biographischen Werken, wie zum Beispiel im Buch der Leidenschaft, ihre Widerspiegelungen fanden. Da- durch liefert er genaue Einblicke in das lange und facettenreiche Leben des Schrift- stellers, oft untermauert Wilhelm Szewczyk seine Behauptungen mit Zitaten aus Hauptmanns Biographien (von Carl Friedrich Wilhelm Behl, Felix A. Voigt) oder aus dem Dichter gewidmeten Monographien (von Hans von Brescius). In seinen Feuilletons stieg der Autor des Dramas Rose Berndt vom Ehemann zum Ehebrecher und Liebhaber, vom Oppositionsliterat der wilhelminischen Zeit zum eigentlichen literarischen Repräsentanten auf, zum „König der Republik“ – wie ihn Thomas Mann in seiner Rede „Von deutscher Republik“ (1922) nannte.22 Auch in der Zeit des Nationalsozialismus, auf seinem „(Irr)Weg durch die Finsternisse“ vermochte der Nobelpreisträger – zum Entsetzen einiger Forscher und Biografen – darauf nicht zu verzichten. So thematisch unterschiedlich und differenziert man das dramatische Werk von Gerhart Hauptmann deutet, so verschieden und verwickelt, nahezu un- erklärlich, stellen sich anhand seiner Tagebuchnotizen und Aufzeichnungen auch sein Privat- und Berufsleben dar.

Wilhelm Szewczyks Publikationen über Gerhart Hauptmann

Skizzen, Studien, Artikel

Literatura niemiecka po wojnie. Poznań: Wydawnictwo Zachodnie, 1948, S. 84-92. Niemiecka dramaturgia. Szkice literackie. Warszawa: Państwowy Instytut Wy- dawniczy, 1954, S. 7-75. Odwetowcy na Parnasie (Referat na II Zjazd Pisarzy Ziem Zachodnich w Katowi- cach i Świerklańcu uzupełniony i poszerzony). Opole: Instytut Śląski w Opolu, 1959, S. 13 [Komunikat nr 39]. Literatura niemiecka w XX wieku. Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1962, S. 241- 260.

22 Dieter Borchmeyer: Geschichte der deutschen Literatur: Der Naturalismus und seine Ausläufer. S. 150 in: Victor Žmegač: Geschichte der deutschen Literatur. Band II, S. 221 [Digitale Bibliothek Band 24: Geschichte der deutschen Literatur, S. 2255]. 142 Michał Skop

Literatura niemiecka w XX wieku. Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1964, S. 261- 280. Wokół Gerharta Hauptmanna (W setną rocznicę urodzin). „Odra” 1962, Nr. 11, S. 45-55. Gerhart Hauptmanns Beziehungen zu Schlesien – zur Hauptmann-Rezeption in Polen. In: Kuczyński Krzysztof A., (Hg.), Gerhart Hauptmann. Annäherungen und Neuansätze, Warszawa: Goethe-Institut, 1991, S. 137-144. Gerharta Hauptmanna droga przez ciemność. In: Gerhart Hauptmann w krytyce polskiej 1945-1990, red. Norbert Honsza, Krzysztof A. Kuczyński, Anna Stroka, Wro- cław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego, 1992, S. 9-25 [Acta Universitatis Wratislaviensis No 1328, Germanica Wratislaviensia XCIV].

Feuilletons

Opowieści niemieckie. „Odra” 1946, Nr. 45-46 (56-57), S. 3, 5. O pamięci Gerharda [sic] Hauptmanna. „Listy z Teatru” 1946, Nr. 6, S. 22. Ostatnia wigilia Hauptmanna. „Odra” 1947, Nr. 5 (62), S. 3. Gerhart Hauptmann w blasku i mrokach. „Teatr” 1951, Nr. 6, S. 52-75. Wspominamy Gerharta Hauptmanna. „Świat i Życie” 1952, S. 49, S. 1. Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz”. „Teatr” 1953, Nr. 8, S. 4-6. „Przed zachodem słońca” Hauptmanna w berlińskim Deutsches Theater. „Teatr” 1955, Nr. 24, S. 7-8. Käthe Kollwitz. „Przemiany” 1957, Nr. 31 (43), S. 8. Za tą kobietą szalał Gerhart Hauptmann. „Przemiany” 1957, Nr. 11 (23), S. 6. Gerhart Hauptmann. „Poglądy” 1962, Nr. 2, S. 4. Rodzinne kłótnie. „Życie Literackie” 1962, Nr. 19 (537), S. 3. Jak kąpać się w szampanie. „Życie Literackie” 1966, Nr. 22 (748), S. 2. Od Hauptmanna do Weisenborna. In: Co robią Niemcy, Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1969, S. 19-22. Jak kąpać się w szampanie. In: Co robią Niemcy, Kraków: Wydawnictwo Lite- rackie, 1969, S. 297-301. Alfred Kerr o Gerharcie Hauptmannie. „Poglądy” 1976, Nr. 15, S. 8. Gerhart Hauptmann – głupota, kompleksy czy oportunizm? „Poglądy” 1976, Nr. 15, S. 7-8. Niemiecka propaganda plebiscytowa. „Poglądy” 1981, Nr. 6, S. 4-5. Gerhart Hauptmann in Feuilletons Wilhelm Szewczyks 143

Nicpoń i klasyk. Z mojego raptularza. „Dziennik Zachodni” 1987, Nr. 284, S. 5. Opowieści złe i dobre o Gerharcie Hauptmannie. „Życie Literackie” 1987, Nr. 4 (1818), S. 2. 45 lat po śmierci Gerharta Hauptmanna. „Dziennik Zachodni” 1991, Nr. 109, S. 4.

Vorworte / Nachworte

Hauptmann Gerhart, Kacerz z Soany, übers. von Leopold Staff, Vorwort Wilhelm Szewczyk. Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1964, S. 5-8 [Pisma wybrane Gerharta Hauptmanna pod redakcją Wilhelma Szewczyka]. Hauptmann Gerhart, Szaleniec boży Emanuel Quint, übers. von Bertold Merwin, Vorwort Wilhelm Szewczyk. Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1964, S. 5-10 [Pisma wybrane Gerharta Hauptmanna pod redakcją Wilhelma Szewczyka].

Übersetzungen

Gedichte: Hauptmann Gerhart, Wielki sen [Fragment]. In: Szewczyk Wilhelm, Literatura niemiecka w XX wieku, Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1962, S. 86. Hauptmann Gerhart, Wielki sen [Fragment]. In: Szewczyk Wilhelm, Literatura niemiecka w XX wieku, Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1964, S. 96.

Dramen: Hauptmann Gerhart, Róża Bernd, übers. von Wilhelm Szewczyk. In: Hauptmann Gerhart, Dramaty, ausgewählt und bearbeitet von Piotr Knapik, Wrocław: Wydawnict- wo Europa, 1997, S. 61-130 [Hauptmann Dzieła, 2]. Hauptmann Gerhart, Tkacze [Fragment]. „Trybuna Robotnicza“ 1952, Beilage Nr. 14, S. 2, 3. Hauptmann Gerhart, Tkacze. Sztuka z lat czterdziestych XIX wieku, übers. von Wilhelm Szewczyk. Warszawa: Państwowy Instytut Wydawniczy, 1955.

„Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein.” Johannes Maximilian Avenarius und Gerhart ...

Krzysztof A. Kuczyński Łódź

„Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein.” Johannes Maximilian Avenarius und Gerhart Hauptmann. Ein Beitrag zu einer Künstlerfreundschaft

Es kommt selten vor, daß ein Künstler – sogar im Kontext seines, manchmal umfangreichen, Œuvre in der breiten Öffentlichkeit eigentlich aufgrund eines ein- zigen Werkes groβe Popularität errungen hat. Mit solch einer Situation haben wir im Fall von Johannes Maximilian Avenarius, einem schlesischen Maler, Graphiker und Schriftsteller, zu tun. In Gerhart Hauptmanns Freundeskreis gab es vom Beginn seiner groβen Karriere an zahlreiche berühmte, aber auch weniger bekannte Künstler, Wissen- schaftler, Politiker oder Industrielle, die dem Dichter oft jahrelang nahe standen1. Nicht selten war der Kontakt mit Gerhart Hauptmann für sie eine Bereiche- rung ihres Lebens. Der Dichter hat ihnen oft nach Kräften geholfen, was für ihre weitere Karriere von entscheidender Bedeutung war. Ein geradezu Paradebeispiel dafür war Johannes Maximilian Avenarius. Es ist kaum zu bestreiten, daβ nur dank dem Dichterfürsten von Agnetendorf sein Name heute noch bekannt ist und er selbst nicht zu den vielen vergessenen Künstlern gehört. Johannes Maximilian wurde am 7. Januar 1887 Greifenberg (Gryfów Śląski) in einer Familie geboren, die in der Kulturgeschichte Deutschlands einen festen Platz hatte. Sein Vater, Dr. Ludwig Avenarius, Amtsrichter und Justizrat, hatte 3 Brüder, die zur intellektuellen Bedeutung der Familie beigetragen haben: Ferdi- nand – Herausgeber der angesehenen Zeitschrift „Der Kunstwart“ und Gründer

1 Vgl. u.a.: Weggefährten Gerhart Hauptmanns. Förderer – Biographen – Interpreten, hrsg. von Klaus Hildebrandt und Krzysztof A. Kuczyński. Würzburg 2002; Gerhart Hauptmanns Freundeskreis. Internationale Studien, hrsg. von Klaus Hildebrandt und Krzysztof A. Kuczyński, Włocławek 2006; „Habt herzlichen Dank für Eure Freundschaft…“ Menschen um Gerhart Hauptmann, hrsg. von Klaus Hildebrandt und Krzysztof A. Kuczyński, Włocławek 2011. 146 Krzysztof A. Kuczyński des „Dürer - Bundes“, Richard – Professor der Züricher Universität, Verbreiter des Empiriokritizismus und Maximilian – Maler. Der Vater von Dr. Ludwig Avenarius, also der Groβvater von Johannes Ma- ximilian, war Eduard Avenarius, Verleger, der „mit der Stiefschwester von Richard Wagner, Cäcilie, verheiratet “2 war. 1892 übersiedelten die Avenarius nach Hirschberg (Jelenia Góra), wo Johan- nes Maximilian die Schule besuchte. In seinem Elternhaus erhielt er seinen ersten Kunstunterricht von Karl Hanusch (1881-1969), dem er in den weiteren Jahren noch begegnen wird. Sein Studium begann er an der Dresdener Kunstakademie u.a. bei Robert Sterl und Richard Müller (1906-1907). Ein Semester des Jahres 1908 widmete er dem Studium an der Universität in München, wo er Fächer wie Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie als Gasthörer studierte. Bald, seit 1909, begann er als freier Künstler zu schaffen, in erster Linie als Bildnismaler. Auf der Breslauer Jahrhundertausstellung 1913 zeigte er Bildnisse (Bleistiftzeichnungen) von bekann- ten Schlesiern, u.a. von Wilhelm Bölsche, Carl und Gerhart Hauptmann, Hermann Stehr, aber auch von Werner Sombart. Leider sind die meisten 1945 verschollen. Es ist möglich, daβ eben die Erfolge während der Breslauer Ausstellung dazu beigetragen hatten, daβ Avenarius bald seine ersten Auftragsarbeiten erhielt, u.a. die Ausmalung der evangelischen Kirche in Küpper (Stara Kopernia) bei Sagan. 1914 erhält er den Vorschlag, als Austauschprofessor an der Columbia – Universität zu New York zu lehren. Der Ausbruch des Krieges machte diese Pläne zunichte, er wird bald eingezogen. 1914 verwundet, doch mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, verbrachte er den Krieg als „Leiter des Lichtdruckwesens in der kartographischen Abteilung der Armee.“3 1918 heiratete er Lili Reuter, die Tochter der Schriftstellerin (Scheidung 1922); 1926 heiratete er Anna Marie Ronge, eine Zeichenlehrerin und Handweberin aus Breslau. Die Nachkriegsjahre mit ihrer Not und Inflation brachten auch für Avenarius menschliches Leid. Zwar „arbeitete er zu dieser Zeit als Gebrauchsgraphiker und Buchkünstler […] hatte nun ein bescheidenes Atelier in Berlin“4, aber Verzweiflung und Hunger waren ihm nicht fremd.

2 Detlef Lorenz: Johannes Maximilian Avenarius. Ein schlesisches Künstlerleben im Umkreis Gerhart Hauptmanns In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich- Wilhelms-Universität zu Breslau, Bd. 45/46, 2004-2005, S.554. 3 Ebda, S.555. 4 Ebda. „Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein.” Johannes Maximilian Avenarius und Gerhart ... 147

Künstlerische Aufträge hat er jetzt selten erhalten, sein Name war nicht bekannt, „vermutlich weil er jetzt überwiegend >Kunstgewerbler< war, nicht Mit- glied der bekannten Berliner Künstlervereinigungen“5, konnte er sich als Maler oder Graphiker kaum durchsetzen. „In dieser bitteren Zeit hilft ihm ein berühmter Schlesier und entreißt ihn der Verzweiflung. Wie einst Wilhelm Bölsche Jahrzehn- te vorher durch eine eigenartige Schicksalsfügung in einer Notzeit seines Lebens von Gerhart Hauptmann nach Schlesien gerufen wurde und bei ihm Obdach und Zuflucht fand, so verdankt auch Johannes M. Avenarius diesem groβen Schlesier seine Hilfe und Errettung.“6 Die Ausmalung der „Paradieshalle“ im Haus Wiesenstein leitet eine Wen- de im Leben von Avenarius ein. 1924 wird er an die Staatliche Kunstschule für Textilindustrie in Plauen berufen. Der Direktor der Schule ist der ihm seit vielen Jahren befreundete Karl Hanusch. Der Maler ist auch „künstlerischer Beirat des Evangelischen Presseverbandes für Schlesien.“7 Die Familie Avenarius faβt allmählich einen festen Fuβ, doch politische Er- eignisse durchkreuzen wiederum ihre Lebenspläne. 1933 wird er (ähnlich wie auch der Direktor Karl Hanusch) entlassen. Es war ihm vorgeworfen, er „bietet keine Gewähr für Zuverlässigkeit im nationalsozialistischen Sinne“. Um leben zu können, hat er sich nachher beworben, in die Reichskunstkammer aufgenommen zu werden, sein Gesuch ist jedoch – trotz der jahrelangen Freundschaft mit Hans Christoph Kaergel (damals einfluβreiches Mitglied der NSDAP) abgewiessen worden. Zwar begrenzt, aber dank seinen Freunden (u.a. Heeresbaurat Herden oder Generalleutnant Koch) konnte Avenarius von Zeit zu Zeit eine Maler – Arbeit bekommen. So z. B. erhielt er 1938 den Aufrag, die Infanteriekaserne in Oppeln - Stefanshöh auszumalen. Zwar war das wohl keine Kunst-Arbeit (er sollte einige Säle für Soldaten und Unteroffiziere verschönern), aber an Gerhart Hauptmann schreibt er am 6. Juli 1938 glücklich: „Die Notzeit ist beendet“.8 Dank der finanziellen Hilfe der Familie und Freunde, konnte er 1936 ein altes Holzhaus in Langwaltersdorf bei Waldenburg erstehen. Eine bittere Not hat er nicht mehr gelitten, doch er lebte mit seiner Frau ständig in sehr bescheidenen Verhältnissen. Zu seinen wichtigeren Aufträgen kann man u.a. zählen: Arbeiten auf dem Gebiete der Wandmalereien und Metallarbeiten, mit den er Sanatorien und Kirchen

5 Ebda. 6 Edmund Glaeser: Professor Johannes M. Avenarius. Der Mann und sein Werk. In: Der Wanderer im Riesengebirge, Nr. 2, 1940, S.10. 7 Detlef Lorenz: Johannes Maximilian Avenarius…, a.a.O. 8 Ebda. 148 Krzysztof A. Kuczyński ausschmückte, wie in Sandberg (Piaskowa Góra, Görbersdorf (Sokołowsko), Wal- denburg (Wałbrzych), Friedland (Mieroszów), Bad Salzbrunn (Szczawno Zdrój) oder Hirschberg. Welchem Stil huldigte Avenarius? Die meisten Kenner sind der Meinung, daβ seine „Kunst […] in erster Linie mit dem Jugendstil in Verbindung gebracht [wird] … mit ihrer symbolhaltigen Aussage und ihrer Betonung von Linie und floraler Form die engen Bindungen von Jugendstil und angewandter Kunst fortsetzt.“9 Seine Wandmalereien schuf er mit expressionistischen Visionen mit Formen des Art déco verbunden. In den politisch und materiell schwierigen 1930er und 1940er Jahren, von den er in Briefen an Margarethe Hauptmann sogar vom Zusammenbruch seiner Existenz sprach, halfen ihm immer wieder vertraute Freunde, zu denen auch Gerhart Hauptmann gehörte. Avenarius verlieβ sein schlesisches Haus 1946 (dank früherer Hilfe von Ger- hart Hauptmann, dem Landeslandrat Wojciech Tabaka und Oberst Wasilij Sokolow war er teilweise gegen Plündereien geschützt) , und erhielt eine Wohnung in Berlin - Müggelheim am Gosener Damm. Als Maler betätigte er sich kaum mehr, bekannt sind nur noch seine Bilder für Berliner Kirchen, aber seine Kräfte ließen nach. Er schrieb sporadisch Lyrik, die bis heute unveröffentlicht ist . Vom Staat erhielt er eine finanzielle Unterstützung, die ihm seine bescheidene Existenz ermöglichte. Er starb am 21. August 1954 in Berlin-Köpenick in einem Krankenhaus. Einige Jahre später (19590wurde er - seinem Wunsch nach - auf dem Görlitzer Nikolaifriedhof beigesetzt. Auch in Görlitz, in dem Kulturhistorischen Museum, wird teilweise sein Nachlaβ aufbewahrt. Johannes Maximilian Avenarius konnte seine besten schöpferischen Jahre leider nicht in einer friedvollen und sorglosen Zeit erleben. Die Jahre des III. Rei- ches haben einen beträchtlichen Teil seiner Schaffenszeit verdüstert. So hat sein bedeutendes Werk kaum Beachtung gefunden. Wenn er ab und zu in der Vorkriegs- zeit genannt worden ist, verdankt er es – auch in den Jahren nach 1945 – in einem hohen Gnade seiner Arbeit an der Gerhart Hauptmanns „Paradieshalle“ am Anfang der 1920er Jahre. *** Zu einer ersten Begegnung Avenarius‘ mit Gerhart Hauptmann ist am 7. Sep- tember 1907 in Saalberg während der Einweihung der Hampelbaude gekommen. In Gerhart Hauptmanns Tagebüchern lesen wir u.a.: „Das Baudenfest litt an einem

9 Ebda, S. 556. „Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein.” Johannes Maximilian Avenarius und Gerhart ... 149

Mangel an Inhalt […] Eine schwächliche, philiströse Vergnüglichkeit, ohne Stil. Nur einer, der junge Maler Av war nicht >montiert< […]“.10 Avenarius, in jenen Jahren erst ein angehender Maler, hatte während des Fes- tes zur Gitarre gesungen, eingeführt durch den in Saalberg lebenden, befreundeten Schauspieler und Schriftsteller Bernhard Wilm. In seinen Erinnerungen schreibt Johannes Maximilian Avenarius: „Am 7. September 1907 beging man das Fest einer neuen Weihe der im Vorjahre völlig niedergebrannten >Hampelbaude< […] Es ging hoch her. Ich hatte die Gitarre und sang mit jugendlichem Überschwang meine Lieder dazu.“11 Sein Freund holte ihn vom Podium mit den Worten: „Gerhart Hauptmann ist auch da mit Freunden. Er will den Sänger, nämlich dich, kennenlernen“.12 Avenarius‘ Name war dem Gerhart Hauptmann nicht unbekannt. Die Fami- lie des jungen Malers war ja in Schlesien, besonders in kulturellen Kreisen, hoch verdient. Bald erhielt er eine Einladung auf den Wiesenstein. Allmählich, in den nächs- ten Monaten und Jahren, entwickelte sich ihre Bekanntschaft, sogar Freundschaft. Ehe es zu dem Auftrag, die Wiesensteiner Halle auszumahlen, gekonnen war, konnte Avenarius seine Begabung als Graphiker und Buchkünstler präsentieren. 1921 hat er die Drei Sonette vor Gerhart Hauptmann (hg. bei Tilgner in Berlin) mit Bildern geschmückt, „seine Stärke im Dekorativen, in der angewand- ten Kunst, verband sich bereits hier aufs Glücklichste mit schier überquellender Erzählfreudigkeit und Liebe zum Detail, die für sein Werk typisch sind.“13 Avenarius‘ Radierungen „fanden Gerhart Hauptmanns Gefallen“, auch seine Ausstattung der Gerhart Hauptmann - Bibliographie, die Max Pinkus und Viktor Ludwig 1922 herausgegeben haben. Gerhart Hauptmanns burgartige Villa Wiesenstein, erbaut 1900/1901 von dem berühmten Berliner Architekten , hatte einen zwei Stock- werke hohen Empfangsraum, die spätere Paradieshalle. „Die Halle war zunächst wäβrig hellblau gestrichen mit wenigen dünnen Goldlinien um Sockel, Türen und Fenster“.14 Gerhart Hauptmann schrieb humorvoll an seinen Freund, den Maler

10 Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1906 bis 1913. Mit dem Reisetagebuch Griechenland – Türkei 1907. Nach Vorarbeiten von M.Machatzke hrsg. vom P.Sprengel, Frankfurt am Main – Berlin 1994, S.176. 11 Johannes M. Avenarius: Aus meinem Leben mit Gerhart Hauptmann. In: Schlesische Bergwacht, Nr. 28, 1970, S. 429. 12 Ebda. 13 Detlef Lorenz: Johannes Maximilian Avenarius…, a.a.O. 14 Walter Schmitz: Das Haus „Wiesenstein”. Gerhart Hauptmanns dichterisches Wohnen. Dresden 2009, S. 52. 150 Krzysztof A. Kuczyński

Ludwig von Hofmann im August 1901. „… fall nicht um vor Augenschmerzen, wenn Du in meine Papagaihalle tritts“.15 Gerhart Hauptmann hielt die bisherige Ausmalung der Halle von Anfang an für einen vorübergehenden Zustand, schon Ende September 1901 schrieb er an denselben Hofmann: „Mehrere Wände und leere Glasfenster hier warten auch auf Dich.“16 Doch mit der neuen Gestaltung der Halle wartete Gerhart Hauptmann bis 1922. Zu dieser Zeit hatte Avenarius schon einige Erfahrung in der Freskenmalerei, kaum konnte er jedoch erwarten, daβ der Dichter eben ihm diese bedeutende und re- präsentative Arbeit anvertraut. Um so mehr, daβ es andere, mit Gerhart Hauptmann befreundete Maler gab, die diese wichtige Aufgabe gern angenommen hätten. Bei Avenarius lesen mir u.a. „Es ist mir das Glück beschieden gewesen, der Wesenheit Gerhart Hauptmanns auch noch mit meinen anderen Ausdrucksmitteln gestaltend zu huldigen. So erlebte ich im Jahre 1922 bereits in einer Notzeit meines Lebens etwas ganz unerwartet Beglückendes: Hauptmann beauftragte mich mit grenzenlosem Vertauen: die Halle in seinem Hause >Der Wiesenstein< in Agnetendorf ganz und gar auszumalen. Und dies, obwohl , Ludwig von Hofmann, und auch Max Slevogt Vorschläge gemacht hatten, ja auch Entwürfe waren schon da. Sie sagten Gerhart Hauptmann nicht zu, und so meinte er ermunternd, ich solle nur so verfahren, wie bei den Drei Sonetten von ihm, die ich soeben als gesondertes Buchkunstwerk, von mir gestochen und mit reichem ornamentalem Schmuck versehen, herausgebracht hatte. Und ich solle darauf los fabulieren, wie ich es immer plaudernd und Geschichten erzählend vor ihm getan hätte zu mancher guten Stunde“.17 Avenarius arbeitete an der Halle von Januar bis September 1922, seine Arbeit beschrieb er in einem bekannten Aufsatz in dem I. Band des „Gerhart Hauptmann Jahrbuch“ im Jahre 1936.18 Was stellt die Halle dar? Den Worten von Avenarius nach, „in diesem Para- dies wird des >Hannele< beglückt in den Himmel gebracht. Adam und Eva dürfen unverschuldet und ungefährdet vom Baume des Lebens köstliche Früchte schmau- sen, die Alten und Leidenden werden auf einer Himmelsleiter hinaufgeführt, Musik und Jubel wogen durcheinander“.19

15 Ebda. 16 Ebda, S. 52-53. 17 Johannes M. Avenarius: Aus meinem Leben…, a.a.O. 18 Johannes M. Avenarius: Die Malereien in der Paradieshalle auf dem Wiesenstein. In: Gerhart Hauptmann Jahrbuch, Bd. I, 1936. Siehe Anhang. 19 Johannes M. Avenarius: Aus meinem Leben…, a.a.O. „Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein.” Johannes Maximilian Avenarius und Gerhart ... 151

Das Hauptwerk von Johannes Maximilian Avenarius ist kaum gewürdigt worden. Die Gründe sind schon teilweise genannt, also eine Abgeschiedenheit des Wiesenstein von Künstlervereinigungen, lange Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft, dann die Neuordnung der deutschen Grenzen nach 1945. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einer Restauration der Fresken durch Ferdinand Just. In den 1920er bis 1940er Jahren hat Avenarius den Dichter mehrmals por- trätiert, es waren Zeichnungen, Lithographien, Pastelle. Oft „lassen A.´ Porträts ihn menschlicher und schlichter (nicht heroisch - pathetisch wie andere - KAK ) erscheinen.“ 20 Es ist auch zu einer poetischen Würdigung des Dichters gekommen. 1942, zu 80. Geburtstag Gerhart Hauptmanns, hat Avenarius im Görlitzer Theater seine Dichtung Zuneigung an Gerhart Hauptmann vorgetragen. Zum letzten Mal hat Avenarius den groβen Dichter am 4. April 1945 gese- hen. Es waren einige Wochen nach der Bombardierung Dresdens: „Ich fand ihn als einen an Leib und Seele gebrochenen und schwerkranken Mann wieder. In dieser geheiligten Stunde des Abschieds für immer – denn das wurde es – bekannte er mir dies: >Ich lebe nur noch in Erinnerung an meine Toten […] Nach diesem nicht mehr. – Ich habe auch das klare Gefühl, daβ ich am Ende meiner Kräfte stehe […] Nun aber schwindet alles: ich gehe meinem Ende rasch entgegen: ich habe keine Lust mehr am Leben. Ich habe getan, was zu tun war…“21 Avenarius sah in Gerhart Hauptmann seinen groβen Freund, Mäzen und Meister. Seine vielen Briefe an den Dichter fing er immer an: „Geliebter Meister“ oder „Verehrter, lieber Meister“. Seine Frau Anna Marie schrieb 1941: „Es ist nun einmal so, daβ Avenarius in Liebe an Ihnen hängt, gleich wie Ihr eigener Sohn“.22 Dem Avenarius war dieser Zustand völlig bewusst, er war sich im klaren, wie viel er Gerhart Hauptmann verdankt. Er sagte einmal: „Mein Lorbeer wächst im Wiesenstein“23. Johannes Maximilian Avenarius war auch ein begabter Schriftsteller, u.a. schrieb er Erzählungen (Himmel auf der Erde, 1936)24, er schuf auch Prosa in schlesischer Mundart, z. B. den Roman Schoepse Christel.25

20 Detlef Lorenz: Johannes Maximilian Avenarius…,a.a.O., S. 567. 21 Johannes M. Avenarius: Aus meinem Leben…, a.a.O. 22 Detlef Lorenz: Johannes Maximilian Avenarius…,a.a.O., S. 567. 23 Ebda, S. 564. 24 Johannes M. Avenarius: Das schlesische Himmelreich. In: Ders.: Himmel auf der Erde. Ostdeutsche Verlagsanstalt, Berlin 1936. 25 Vgl.: Hans J. Hahn: Die „Similierung“ des Paradieses. Zum 50. Todestag von Johannes Maximilian aAvenarius (1887-1954). In: Silesia Nova, 2004, H. 1, S. 47-54. 152 Krzysztof A. Kuczyński

*** Kleines deutsch-polnisches Wörterbuch von Ortsnamen: –– Greiffenberg – Gryfów Śląski –– Saalberg im Riesengebige – Zachełmie –– Küpper, Kreis Sagan – Stara Kopernia b. Żagań –– Waltdorf, Kreis Neisse – Prusinowice –– Görbersdorf, Kreis Waldenburg - Sokołowsko –– Oppeln – Stefanshöh – Opole - Szczepanowice –– Langwaltersdorf – Długa (1945-46), dann Unisław Śląski Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ...

Marta Bąkiewicz Słubice

Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang

Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die Stimmen der Kritiker zur Aufführung von Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang Revue passieren zu lassen. Rekon- struiert wird dies anhand von Rezensionen des Theatervereins Freie Bühne zur Uraufführung des Dramas am 20. Oktober 1889 im Berliner Lessingtheater sowie von Rezensionen zu einigen ausgewählten zeitgenössischen Neufassungen der szenischen Umsetzung der Textvorlage. Das Drama hatte damals, vor 120 Jah- ren, vor allem deswegen eine erschütternde Wirkung auf das Publikum gehabt, weil kaum literaturfähige Sujets auf der Bühne präsentiert wurden. Soziales Elend, Krankheit, Triebhaftigkeit, Sucht und Inzest sind Themen, die einen großen Teil des Publikums entsetzten. Hier soll untersucht werden, welchen Themenbereichen sich die Kritiker in ihren Bestandsaufnahmen näherten. Im Hauptteil meines Beitrages werden gegenwärtige Inszenierungen untersucht, um zu prüfen, welche Neuansätze gemacht worden sind. Für die vorliegende Untersuchung wurden knapp 20 exemp- larische Aufführungsbesprechungen ausgewählt, die die Rezeption des Stückes Vor Sonnenaufgang an deutschen Theatern dokumentieren. Die Untersuchung dieser Rezensionen soll auch zeigen, von welchen Regisseuren das Stück heutzutage in- szeniert wird, an welchen Theatern es gespielt wird und welche ästhetischen und konzeptionellen Neuansätze in den zeitgenössischen Inszenierungen festzustellen sind. Der Analyse der gegenwärtigen Inszenierungen wird eine Besprechung der Rezensionen der Uraufführung des Dramas vorangestellt. Welchen Skandal die Uraufführung des naturalistischen Dramas Vor Sonnenauf- gang hervorrief, kann man der Aufführungsbesprechung des Kritikers Ernst von Wolzogen entnehmen, die in der Zeitschrift Die Gesellschaft erschien. Den Tag der Aufführung, den 20. Oktober 1889, nennt der Kritiker „ein[en] denkwürdigen Tag in der Geschichte des deutschen Theaters.“1 Er kann sich nur an ein einziges

1 Ernst von Wolzoger: Freie Bühne. Berlins Publikum und Presse über Hauptmanns Drama „Vor 154 Marta Bąkiewicz

Drama erinnern, das früher in der deutschen Theatergeschichte ähnliche Kontro- versen hervorgerufen hat: In den Mittagsstunden dieses hellen Sonntags wurde nämlich in den Räumen des Berliner Lessing-Theaters zwischen den Alten und den Neuesten ein Kampf aus- gefochten, dem sich in der gesamten Theatergeschichte nur die große Schlacht vergleichen läßt, die im Jahre 1830 bei Gelegenheit der ersten Aufführung von Viktor Hugos Hernani zwischen Klassizisten und Romantikern geschlagen wurde.2 Bereits der Auftritt der Frau Krause hat das Publikum erschüttert und man konn- te die ersten Zwischenrufe aus dem Publikum hören. Ein Zuschauer fragte laut in einem erbitterten Ton, ob sich die Zuschauer in einem Theater oder in einem Bordell befänden. Während der Aufführung, dank der „der modernste deutsche Naturalismus auf die Bühne gelangt“3, konnte man ständig „höhnische Zurufe und alberne[s] Gelächter“4 hören. Ernst von Wolzogen äußert sich zu der naturalistischen Konzeption des Dramas und führt an, was die Kritik darüber meinte: „Sie schimpfen alle mit dem kräftigsten Abscheu über den schönheitsmörderischen Naturalismus, der das Wahre nur im Schmutzigen erblicke.“5 Da zu gleicher Zeit auch Paul Lind- aus Der Schatten im Deutschen Theater aufgeführt wurde, haben die Kritiker die beiden Aufführungen miteinander verglichen. Der Kritiker und Theaterleiter Otto Brahm vertritt die Auffassung, dass es keine Versöhnung „zwischen dem Gesell- schaftsdrama des Einen und dem sozialen Drama des Anderen“ gebe. Die „Kühnheit und Originalität der Anschauung, die völlige Lebendigkeit der Charaktere und die unerschrockene Konsequenz in der Ausgestaltung eines grausigen und peinlichen Stoffes“ bewundert er an Hauptmanns Drama. Dank seiner Rezension, die in Die Nation erschienen ist, können wir die Reaktionen des Publikums nachvollziehen, das sich aus fanatischen Gegnern und ebenso fanatischen Bewunderern des Stücks zusammensetzte. Aufschlussreich sind die Passagen der Rezension, die daraufhin verweisen, welche Reaktionen einzelne Szenen der Inszenierung bei dem Publikum hervorriefen: „Lebendige Menschen tauschen ihre Ansichten aus, in den tiefgreifen- den Gesprächen von Loth und seinen Freunden Hoffmann und Schimmelpfennig über soziale Fragen, über Vererbung und Frauenemanzipation; und wenn nun ein

Sonnenaufgang“. In: Die Gesellschaft. Münchner Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur 5/1889. S. 1733. 2 Ebd. 3 Otto Brahm: Theater. In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. 7/1889- 1890. S. 58. 4 Ernst von Wolzoger: Freie Bühne. Berlins Publikum und Presse über Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“. In: Die Gesellschaft. Münchner Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur 5/1889. S. 1736. 5 Ebd. S. 1742. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 155

Theil der Hörer bald den einen auslachte, bald dem anderen applaudierte, so mag das als ein Zeichen naiver Wirkung und Gegenwirkung immerhin wahrnehmen.“6 Vor Sonnenaufgang hat bereits vor der Aufführung Kontroversen hervorgerufen auch deswegen, weil man ein Stück eines bisher unbekannten Verfassers auf die Bühne bringen wollte. Auch die Determinationstheorie, deren Anhänger Loth ist, wirkte auf die Kritiker verwirrend. Otto Brahm versucht den „Kernpunkt der Streit- frage“ herauszuarbeiten, der seiner Meinung darin besteht, dass Loth seine Geliebte verlässt aufgrund seiner Überzeugung über die Vererbungstheorie. Das Paradoxe ist darin zu sehen, dass Helene sich sehr guter Gesundheit erfreut und das ist der Punkt, der für die Kritiker kaum logisch nachvollziehbar scheint. Otto Brahm hält den Haupthelden in Hauptmanns Drama für einen „Thor“.7 In seiner Besprechung der Inszenierung lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf die Figuren und sieht in Loth eine Figur mit vielen individuellen Zügen. Das korrespondiere mit der Grund- annahme des Verfassers: „Handelnde Menschen“, wie Hauptmann sagt, „will er darstellen, nichts weniger und nichts mehr.“8 Obwohl die Rezension in durchaus positivem Ton verfasst ist, kann man doch zu der Feststellung gelangen, dass Otto Brahm sich der Schwächen des Stücks bewusst ist. Er sieht Loth als „die Schöpfung eines jugendlichen Dichters.“9 Er meint, Hauptmann hätte diese Figur stärker und objektiver konzipieren sollen. Loth sei „die am wenigsten kräftige Gestalt“ des Dramas und stehe dadurch in großem Widerspruch zu Helene, „der bis in kleinste poetisch angeschauten, wundervollen Gestalt.“10 Die Rezeptionsgeschichte des Dramas Vor Sonnenaufgang und dessen Aufführung ist unmittelbar und unverkennbar mit Theodor Fontane verbunden, der Hauptmanns Stück in der Paul Ackermannschen Buchhandlung entdeckt hat. Er berichtet, dass der Text auf ihn sehr großen Eindruck gemacht hat. Dazu notiert er folgende Zeilen: Er erschien mir einfach als die Erfüllung Ibsen‘s. Alles, was ich an Ibsen seit Jahr und Tag bewundert hatte, das „Greif‘ nur hinein ins volle Menschenleben“, die Neuheit und Kühnheit der Probleme, die kunstvolle Schlichtheit der Sprache, die Gabe der Charakterisirung (sic!), dabei konsequenteste Durchführung der Hand- lung und Ausscheidung alles nicht zur Sache Gehörigen, - alles das fand ich bei Hauptmann wieder, und alles was ich seit Jahr und Tag an Ibsen bekämpft hatte: das Spintisierenige, das Mückenseigen, das Bestreben, das Zugespitzte noch im- mer spitzer zu machen, bis dann die Spitze zuletzt abbricht, dazu das Verlaufen ins Unbestimmte, das Orakeln und Räthselstellen, Räthsel, die zu lösen Niemand

6 Otto Brahm: Theater. In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur 7/1889- 1890. S. 60. 7 Vgl. Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 156 Marta Bąkiewicz

trachtet, weil sie vorher schon langweilig geworden sind, alle diese Fehler fand ich bei G. Hauptmann nicht.11 Nachdem sich Fontane die Inszenierung angesehen hatte, musste er feststellen, dass die Wirkung, die der Originaltext auf ihn gemacht hatte, in der Inszenierung ganz verloren ging, und als Begründung gibt er an, dass „alle die Vorkommnisse, die dem Stücke, wohl oder übel, seine bestimmte Physiognomie geben und so recht eigentlich das waren, wovon ich mir eine mächtige, so zu sagen kunstrevolutionäre Wirkung versprochen hatte, ziemlich spurlos vorübergingen.“12 Fontane bezieht sich, wie auch andere Kritiker seiner Zeit, auf die Reaktionen des Publikums, aus dem sowohl die Stimmen der Zufriedenheit als auch des Missfallens zu hören wa- ren. Zu dem Besten im ganzen Drama zählte Fontane den 2. Akt, und an diesem Punkt kann man aus seiner Aufführungsbesprechung eine gewisse Enttäuschung herauslesen: „ Der Grusel, der hier durch eine Häufung von Entsetzlichkeiten her- vorgebracht werden soll und auf den das Stück und sein tragischer Ausgang zu gutem Theile gestellt ist, blieb aus.“ Fontane äußert sich auch zu einigen Figuren der Inszenierung und stellt fest, dass Helene Krause eine auf solche Art und Weise konzipierte Figur sei, dass sie der Schauspielerin Schwierigkeiten bei der szenischen Darstellung bereiten könne. Er erklärt das folgendermaßen: Die Schwierigkeit liegt darin, eine nach Charakter und Erziehung wunderbar ge- mischte Gestalt lebenswahr und in ihrer grausigen Schlußthat, der sie zum Opfer fällt, begreiflich hinzustellen. Heftig, herbe, leidenschaftlich, und zugleich doch weich und schmiegsam und von einer edlen Sehnsucht und Wahrheit, Frieden und Liebe verzehrt; dazu Bauernkind und Säufertochter mit herrnhutischer Erziehung, welche letztere nicht bloß obenauf liegen blieb, sondern ihr ins Herz drang.13 Dank der Besprechung von Theodor Fontane erfahren wir auch Wesentliches zum Erscheinungsbild des Dramatikers, der während der Uraufführung seines Dramas im Lessingtheater präsent war. Während die im Lessing-Theater Anwesenden einen „bärtigen, gebräunten, breitschultrigen“ Mann erwartet hatten, kam „ein schlank aufgeschlossener junger blonder Herr, von untadligstem Rockschnitt und untad- ligsten Manieren“14 zum Vorschein. Eine weitere Besprechung der Erstaufführung finden wir inDer Kunstwart. In dem in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beitrag von K. Erdmann wird zum wiederhol- ten Male bestätigt, dass die Aufführung „zu lebhafter Meinungsäuβerung und so lei-

11 Theodor Fontane: Gerhart Hauptmann „Vor Sonnenaufgang“. In: Gerhart Hauptmann. Hg. v. Joachim Hans Schrimpf. Darmstadt 1976. S. 13f. 12 Ebd. S.14. 13 Theodor Fontane: Gerhart Hauptmann „Vor Sonnenaufgang“. In: Gerhart Hauptmann. Hg. v. Joachim Hans Schrimpf. Darmstadt 1976. S.17. 14 Ebd. S.18. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 157 denschaftlicher Parteinahme“ führte und „einem Schlachtfelde [glich].“15 Erdmann hat ein vernichtendes Urteil über diese Aufführung gefällt, das in den Bezeichnun- gen „abstoßend“, „ekelhaft“ und „langweilig“ gipfelte. Der Kritiker beanstandet, dass zu wenig Handlung spürbar sei. Auch die Konfliktgestaltung hätte man besser bearbeiten können. Erdmann äußert sich dazu wie folgt: „der Konflikt in der Seele des Helden wird in wenig Minuten überwunden: was Andere zum Ausgangs- und Mittelpunkte gemacht hätten, setzt Hauptmann an den Schluß seines Werkes.“16 Die Verhaltensweise des Loth sei für den Kritiker nicht nachvollziehbar. Erdmann versieht seine These mit folgendem Kommentar: „Daß er die Geliebte, die ihm Alles zu sein schien, verläßt und rücksichtslos ihrem Schicksal preisgibt, steht allenfalls von einem starren, fanatisch an seinen Grundsätzen hängenden Dogmatiker, nicht aber von dem Manne zu erwarten, als der nun einmal Alfred Loth eingeführt ist.“17 Erdmann bewundert Hauptmanns Umgang mit der Sprache, die er für neuar- tig hält. Solche Sprachgestaltung sei für ihn ein Ausdruck „der eindringenden Beobachtungsschärfe“18 des Verfassers. Die Sprache, vor allem den Dialekt der Bauern und die Ausdrucksweise der Gebildeteren, könne man mit der des realen Lebens vergleichen. In seinem Beitrag erwähnt er auβer der Sprache auch The- men, die das Publikum schockiert haben. Modern sei für ihn die Behandlung des Motivs des Ehebruchs. Die Tatsache, dass im Drama dieses Thema nicht lediglich angedeutet, sondern augenfällig vorgeführt wird, erzeugt bei dem Publikum „das Gefühl moralischer Entrüstung“, „das Gefühl des Ekels“ und schließlich „das Ge- fühl verletzter landläufiger Schamhaftigkeit“.19 Julius Gesellhofen, ein anderer Kritiker, sieht den größten Vorteil des Stücks darin, dass auf die Bühne „ein Stück wirklichen Lebens, wie es sich eben draußen in der Welt abspielt und Menschen von Fleisch und Blut“20 zeigt, gebracht worden ist. Dieser Theaterkritiker schätzt an Hauptmann, dass er die Fähigkeit dazu besitze, „scharf und zutreffend zu charakterisieren und seine Scenen [sic!] durch einen knappen, inhaltsreichen Dialog lebensvoll zu gestalten, wenn er nicht, was einige Male vorkommt, auf das trockene Feld theoretischer Disputation geräth [sic!].“21 Andererseits wird aber auch auf einige Fehler der Aufführung hingewiesen. Dar- unter folgende Passage:

15 K. Erdmann: Über die Erstaufführung von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. In: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen 3 /1889-1890. S. 38. 16 Ebd. S. 38. 17 Ebd. S. 39. 18 Ebd. S. 39. 19 Ebd. S. 39. 20 Julius Gesellhofen: Vor Sonnenaufgang. Sociales Drama von Gerhard Hauptmann. In: Monatsblätter. Organ des Vereins Breslauer Dichterschule 15/1889. S. 175. 21 Ebd. 158 Marta Bąkiewicz

Am meisten ins Auge springt der Miβgriff des Autors, daβ er uns unter der ganzen Schar von Verzerrungen des Ebenbildes Gottes nur eine einzige Figur bringt, die wohlgetroffen eine ganze Menschenklasse der Gegenwart vertritt. Das ist der faule, genuβwüthige und gewissenlose Geldmensch Hoffmann, der als das Urbild des gesamten Mammonpöbels unserer Zeit gelten kann.22 Er verweist noch auf „verschiedene Unzulänglichkeiten“, die er beispielsweise in der Anwendung des schlesischen Dialekts sieht. Seiner Meinung nach hätte man darauf „aus bühnensprachlichen Gründen“ verzichtet sollen. Er begrüßt in diesem Stück „eine hochbedeutsame Lebensäußerung eines kraftvollen dichterischen Ta- lents. Wir glauben, daß dies sociale Drama das geeignete Material ist, aus dem sich einst ein echtes nationales Drama der Deutschen entwickeln kann.“23 Ein durchaus positives Urteil fällt Heinrich Stümcke über die Aufführung. Er stellt fest, dass der Regisseur Emil Lessing mit „naturalistischen Kraßheiten“ sorgsam umgegangen sei. Er konzentriert sich in seiner Besprechung auf die schauspiele- rischen Leistungen. Die beste Leistung zeigte nach seiner Auffassung Emanuel Reicher, der den Hoffmann spielte. „Die Feinheit und Sicherheit der Charakteris- tik, mit der er dieser problematischen Natur beikam, wird nicht so bald vergessen werden.“24 Auch die Leistung von Heinz Monnrad weiß Stümcke wertzuschätzen: „Dem prinzipienreitenden Idealisten Dr. Loth verlieh Heinz Monnrad recht ge- schickte Züge einer sympathischen, offenen Männlichkeit und in der Liebesszene natürliches Empfinden.“25 Im Jahre 1969 ist das Stück unter der Regie von Hans Dieter Mäde und mit dem Bühnenbildner Peter Friede am Kleinen Haus der Dresdner Staatstheater aufgeführt worden. Zu dieser Aufführung lesen wir eine Rezension von Ingrid Seyfarth, die in der Zeitschrift Theater der Zeit erschienen ist. Die Aufführung sei nach Auffas- sung der Rezensentin insofern von tragender Bedeutung, weil sie die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung dokumentiere. 26 Die Rezensentin sieht in dem Stück Vor Sonnenaufgang viele Ähnlichkeiten mit den westdeutschen Zuständen und untermauert ihre These mit folgenden Worten: (…) in der durch Geld- und Besitzgier bestimmten, degenerierten Lebensweise auf dem Hof der Krauses, in der Durchlässigkeit der Figur des Alfred Loth für Po- sitionen der heutigen Sozialdemokratie, in der Typik von Scheingegensätzen und

22 Ebd. 23 Ebd. 24 Heinrich Stümcke: Von den Berliner Theatern 1909/10. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik 12/1909-1910. S. 274. 25 Ebd. 26 Vgl. Ursula Püschel: Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann am Kleinen Haus der Dresdner Staatstheater. In: Theater der Zeit. Zeitschrift für Politik und Theater. Heft 6/1969. S. 15. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 159

Gemeinsamkeiten der drei Männer Loth, Hoffmann und Schimmelpfennig für die ideologische Struktur einer „formierten Gesellschaft.“27 Die Rezensentin notiert, dass der Regisseur nur kleine Änderungen der Textvorlage vorgenommen hat. Sie merkt an, dass diese Aufführung auf die Fabel und Bot- schaft des Stücks konzentriert war, wobei auf die „milieugetreuen, naturalistischen Nebensächlichkeiten“ verzichtet wurde. Der Regisseur habe eine konzeptionelle Änderung vorgenommen, indem er die Akteure nur auf dem Gutshof spielen lasse und auf alle außerhalb des Gutshofes spielenden Szenen verzichte. Damit schuf er „eine dramatische Ballung der Menschen im Haus, ihre Begrenzung, Einengung, ihr unausweichbares Miteinander, aber auch ihr Streben aus dieser Enge heraus .“28 Der dynamische Charakter der Inszenierung wird hervorgehoben, was unter anderem durch den Verzicht auf das Prinzip der Akteinteilung erreicht wurde. Hingewiesen wird auf „eine dem psychologischen Duktus dieses Stücktyps angemessene inter- essante Form der Verfremdung“.29 Diese Aufführung sei auf die vier Hauptfiguren konzentriert, darunter die Figur der Helene, die von Karin Lesch gespielt wird, „sicher beherrschende Schauspielerin von starker Subtilität.“30 Es ist der Schau- spielerin gelungen, den widersprüchlichen Charakter der Helene zum Vorschein zu bringen. Sie war der Aufgabe gewachsen, „die Geschichte des erwachenden Selbstbewußtseins einer sich herausbildenden Persönlichkeit“ darzustellen. Der Theaterkritiker Henning Rischbieter bespricht eine Aufführung am Schauspiel Frankfurt aus dem Jahr 1987. Er setzt sich in seinem Beitrag Theater ist Wider- spruch. Plädoyer für die umstrittenste Aufführung der vergangenen Spielzeit mit den Grundzügen der Spielweise der Figuren auseinander. Nach seiner Auffassung setzt Jürgen Holtz, der Loth spielt, „den höchsten, den bestimmenden schauspiele- rischen Standard.“31 Er weist darauf hin, dass der Schauspieler mit Zäsuren, Pausen, Tempostauungen und mit der Mimik arbeitet. Dass Holtz ein Meister der Mimik sei, beweise er in der Szene, in der ihm Helene ihre Liebe erklärt. Einer genauen Analyse wird Helene unterzogen und ihre soziale und familiäre Situation. Sie wird „vom sinnlos und unablässig besoffenen Vater“, „vom Entsetzen übers Elternhaus“, „vom Mißverhältnis zwischen dem Fein- und Hochsinn“ hin und her gejagt. Zum ersten Mal wird in Rischbieters Rezension auf die Symbolik dieses Dramas hingewiesen. Der Rezensent deutet Helenes weißes, ballerinenhaftes Kleid symbolisch und er-

27 Ebd. S. 15. 28 Ebd. S. 18. 29 Ebd. S. 19. 30 Ebd. S. 21 31 Henning Rischbieter: Theater ist Widerspruch. Plädoyer für die umstrittenste Aufführung der vergangenen Spielzeit. In: Theater heute 28/1987. S. 118. 160 Marta Bąkiewicz kennt darin ihren Wunsch, „rein und fein bleiben zu wollen.“32 Ein großes Verdienst dieser Inszenierung ist der „Widerspruch zwischen Milieu und Seelenstreben“. Der Regisseur war darum bemüht, soziale und gesellschaftliche Widersprüche deutlich zu machen. Ein markanter Widerspruch zeigt sich zwischen Helenes Stiefmutter, die während des Gala-Abendessens in einem Kleid und mit Silberkrone auf dem Kopf auftritt, und den Dienstfrauen, die in ihren Kitteln und Schnürstiefeln und Kopftü- chern auf der Bühne agieren. Zum ersten Mal rückt die Figur des Arztes ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Theaterkritikers. Der Arzt liefere nämlich seinen „Beitrag zum großen, unbequemen und unerfreulichen Thema des Stückes und der Auffüh- rung: der Verderbnis der Psyche und der Physis durch die sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, und zwar auf beiden Seiten der Klassenschranke.“33 In dieser Inszenierung bemerkt Rischbieter den Zerfall der „Utopie der die Geschlech- ter einigenden Liebe“, indem Loth auf die Beziehung mit Helene verzichtet und den Erbtheorien folgt. Diese Aufführung bringt auch den Zerfall der Frauen zum Ausdruck, was der Regisseur „in den Widersprüchen von Gesten, Tonfall, Kostüm bei den Frauen“34 zeigen will. Es ist die Aufführung, so Rischbieter, die sich „dem ästhetisierenden Stillstand des Theaters“ und „den geschickten, gemäßigten, bloß geschmackvollen Mitteln“ entgegen. In dieser Inszenierung in der Regie von Schla- efs „werden die in Hauptmanns Stück dargestellten, miteinander verklammerten materiellen, sozialen, sexuellen, psychischen, ideologischen Aspekte der damaligen Realität zur Theater-Gegenwart von heute (…)“35 Der Regisseur „kümmert sich nicht um Hauptmanns antibürgerliche Attacke“, so Rischbieter. „Die großen Reden des Alfred Loth - Parteitheoretiker und Menschheitsbeglücker (…) - sie sind ihm gleichgültig, ja das gesamte Hauptmannsche naturalistische Problemkonvolut, das «Schnaps- und Zangenstück», so der Berliner Spott, ist ihm nichts wert. Der Text wird benutzt und denunziert.“ Im Folgenden sollen die Inszenierungen der gegenwärtigen Theatermacher unsere Beachtung finden. Ein breites Echo erfuhr die Inszenierung Vor Sonnenaufgang unter der Regie von Andreas Kriegenburg36 am Deutschen Theater Berlin. Das Bühnenbild hat Johanna Pfau als ein Geschachtel aus hohen Wänden geschaffen, glühend in Rot und Blau, errichtet auf einem Boden, der mit Torfmull bedeckt ist. Die Materie erinnert an die Kohle, mit deren Förderung die Familie ihren Reichtum begründet hat - auf Kosten der

32 Ebd. S. 118. 33 Ebd. S. 120. 34 Ebd. S. 120. 35 Ebd. S. 120. 36 Ein deutscher Theaterregisseur (geb. 1963 in Magdeburg). Seit 2009 ist er Hausregisseur am Deutschen Theater Berlin. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 161

unter Tage schuftenden Bergleute, deren Situation der Sozialreformer Loth zu re- cherchieren beabsichtigt, zum Missfallen von Freund Hoffmann, der seine alten Ideale längst an den Kapitalismus verraten hat.37 In den Rezensionen zu dieser Aufführung wird darauf hingewiesen, dass hier in- haltliche Änderungen vorgenommen wurden. Dies stellt auch Günther Grack in seiner Rezension fest, die im Berliner Tagesspiegel vom 19.06.2000 zu lesen ist. Während in der Textvorlage Helene sich das Leben nimmt und nach einem Mes- ser greift, greift sie in dieser Inszenierung nach einer Schnapsflasche, die sie auch leert. Der Regisseur reduziert die Figuren und die Dialoge – Eingriffe, die auch bei anderen Aufführungen festzustellen waren. Nicht begrüßenswert findet Grack fremde Texte, die Hauptmanns Stück hinzugefügt worden sind.38 Kommunika- tionsbeeinträchtigend empfindet er die Verhaltensstörungen, die mit Hilfe einer grotesken Körpersprache dargestellt worden seien: „etwa der watschelnde Gang (…) oder die alberne Art, mit der sich Michael Schweighöfer als Arzt, für Hoff- manns schwangere Frau Rezepte schreibend, die Beine abstrampelt.“39 Insgesamt lässt sich ein positives Urteil über diese szenische Darstellung herauslesen, die der Kritiker dank der „lebenslustigen, todtraurigen Rummelplatzmusik (Laurent Simonetti)“ und „dem schauspielerischen Einsatz“ als gelungen beurteilt. Musik wird zum wichtigen Element dieser Inszenierung, worauf auch Roland Koberg in seiner Rezension für die Berliner Zeitung hinweist. Kriegenburg hat das Stück so bearbeitet wie Laurent Simonetti die Hintergrundmu- sik komponiert hat: für Klarinette und Tuba. Wie die Tuba so hindurchstapft durch die drei Stunden Theater, wie sie so einen Ton nach dem anderen setzt, so setzt auch die Inszenierung ein bewegtes Bild vor das andere. So wie die Tuba sich vom Schmelz der Klarinette dahintragen lässt, so treibt es auch die Inszenierung melan- cholieumweht dahin. Und so wie die Musik im Dauereinsatz ist, so ist auch auf der Bühne nie Ruhe. Es scheint da ein einheitliches Grundmaß von Körperbewegung pro Sekunde zu geben, einen Takt, in dem die Figuren schlagen.40 Man erkennt an den Kritikerstimmen, dass Kriegenburgs Interpretation zwiespäl- tige Emotionen hervorruft. Während Grack von einem insgesamt guten Endeffekt

37 Günther Grack: Deutsches Theater Berlin. Kriegenburgs Hauptmann: „Vor Sonnenaufgang“. In: „Der Tagesspiegel“ (2000) (WWW-Seite, Stand 19. Juni 2000). Internet: http://www.tagesspiegel. de/kultur/deutsches-theater-berlin-kriegenburgs-hauptmann-vor-sonnenaufgang/148542.html (Zugriff: 23.05.2013, 10:40 MEZ). 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Roland Koberg: Theater für Klarinette und Tuba. In: „Berliner Zeitung“ (2000) (WWW-Seite, Stand 23. Mai 2013). Internet: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/andreas-kriegenburg- inszeniert-hauptmanns--vor-sonnenaufgang--am-deutschen-theater-theater-fuer-klarinette-und- tuba,10810590,9809380.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 10:45 MEZ). 162 Marta Bąkiewicz spricht, wird die Inszenierung in dem Beitrag Das Dogma obsiegt, der im Neuen Deutschland am 27.06.2004 erschienen ist, mit einer defätistischen Psychogroteske verglichen, die denjenigen empfohlen sei, die „marionettenhaft getrimmte, vom Kabarett oder vom Comedy-TV geprägte Typen“ lieben. Ein anderer Aspekt wird dagegen positiv angesehen, nämlich die Kunst, mit der Verfremdung auf der Bühne umzugehen: „Mit Phantasie, Geschmack­ und Verständnis für überkommene Thea- terfiguren filtert er aus deren widersprüchlichen literarischen Existenz ihm wichtig scheinende, möglicherweise die heutige Öffentlichkeit angehende Züge und stellt sie auf der Bühne extrem aus.“41 Als szenischer Höhepunkt dieser Aufführung wird folgende Szene angeführt: Alfred Loth, erstarrt sitzend, wie zur Hinrichtung auf elektrischem Stuhl festge- schnallt. Soeben hat er vom Alkoholismus in der Familie seiner Angebeteten er- fahren. In ihm tobt ein Kampf zwischen Liebe zu Helene und Anschauung über Erbkrankheiten. Das Dogma siegt. Verzweifelt beschwört er sich selbst: »Immer weiter kämpfen! Immer­ weiter kämpfen!« Wobei Einfühlung stattfindet.42 Die Kritiker der zeitgenössischen Aufführungen setzten sich öfters mit der Sym- bolik auseinander. Der Kritiker dieser Rezension weist z. B. auf das Bühnenbild hin, vor allem auf den roten Salon, der die Neureichen symbolisieren solle. Neben den inhaltlichen Aspekten wird in dieser Rezension auch die Regiekonzeption be- schrieben, die auf einer Aneinanderreihung der Szenen beruhe, die immer wieder unterbrochen werde. Als Beispiel lässt sich folgende Passage anführen: „Das roman­ tische Liebesgeständnis zwischen Helene und Alfred, das er ohnehin humorvoll frisch anlegt, bricht er zusätzlich grotesk mit der simultan ablaufenden stummen Lust der Magd Miele (Katrin Klein), die es mal nebenbei dem jungen debilen Baer (Tim Lang) besorgt. Wobei in diesem Falle die Gestalten in einem besonderen Guckkasten­ wie Puppen hinter einer Spielleiste agieren.“43 Das (Hamburg) brachte Anfang 2009 Vor Sonnenaufgang unter der Regie von David Bösch44 auf die Bühne. Monika Nellissen, die eine Insze- nierungsbesprechung für Die Welt verfasste, registriert, dass der Regisseur „tiefe Empathie für Menschen mit Verwundungen empfindet, deren Leben aus dem Lot geraten ist, die sich in einem seelischen Ausnahmezustand befinden wie die inVor

41 (Ohne Verfasserangabe): Das Dogma obsiegt. In: „Berliner Schauspielschule“ (2004) (WWW-Seite, Stand 27. Juni 2004). Internet: http://www.berliner-schauspielschule.de/sonnenaufgang2.htm (Zugriff: 23. Mai 2013, 10:50 MEZ). 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ein deutscher Theaterregisseur (geb. 1978 in Lübeck). Die erste Inszenierung, zu der er Regie führte, war William Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 163

Sonnenaufgang.“45 Wenige Tage vor der Premiere formulierte Bösch seinen Inter- pretationsansatz mit folgenden Worten: „Mich interessiert, wie durch ein Brennglas auf die Figuren zu schauen und zu erfahren, wie sie sind, was sie treibt, warum sie so schreckliche Dinge tun. Sie alle haben zerbrochene Biografien, deren Splitter, zusammengesetzt, ihre komplexen Lebenssituationen widerspiegeln.“46 Der Re- gisseur konzentrierte sich vorwiegend auf die Darstellung der drei Hauptfiguren: Hoffmann, Alfred Loth und Helene, wobei andere Randfiguren „als eher burleske Elemente“ zum Vorschein kommen. David Bösch entschied sich für eine Kürzung des fünf-aktigen Dramas, so dass sich „das bisweilen an einen Groschenroman gemahnende Drama aus Suff, Inzest, Betrug, Ausbeutung, Tragik, Kindstod und einer ausweglosen Liebe verdichtet zu einem Kammerspiel à la Ibsen.“47 Die Re- zensentin vergleicht die Inszenierung mit einer „Ballade von heute mit modernen Menschen“. Sie arbeitet einige Aspekte der Aufführung heraus, die in den bisher besprochenen Aufsätzen nicht vorzufinden waren. Die äußeren Umstände stehen nämlich, wie sie anmerkt, im deutlichen Zusammenhang mit dem inneren Erleben der Figuren. „Deren Innen- und Außenwelten symbolisiert eine riesige, offene Abraumhalde mit wenigen Möbeln, die verdeutlicht: Hier wollen alle weg. Der Kohleabbau, im Stück Grundlage für Reichtum wie Elend der Menschen, lässt letztlich alle zu Verlierern werden. Die Sonne geht für sie nicht auf, sie geht für sie unter.“48 Den Vorzug dieser Neuinszenierung sah die Rezensentin in der Anpassung des Stücks an die heutige Zeit. Dies beurteilt ebenso positiv Armgard Seegers in ihrer Besprechung Wie schwer es doch ist, die Welt zu retten, die im Hamburger Abendblatt erschienen ist. Seegers konzentriert sich in ihrer Besprechung auf die Botschaft, die dem Drama innewohnt, und verweist auf die Diskrepanz zwischen Wollen und Tun der Figuren. Die Kohlenhalde im Hintergrund der Bühne bilde eine Anspielung auf das schlesische Ambiente. Die fehlende Dynamik der Insze- nierung beanstandet die Kritikerin, wenn sie von „wenig Aktion“ und „zu wenig Spielerisches“ spricht und anmerkt, dass die Inszenierung dadurch „fad wirkte.“ Die Rezensentin erläutert das wie folgt: Durch die Strichfassung ist eine kammerspielartige Dichte erreicht worden, die schauspielerisch aufgeht, inhaltlich jedoch nicht. Die Verkommenheit der Figuren wird nicht deutlich. Das Bühnenbild von Bannwart zeigt eine graue, durch einen Krater eingeschlossene Welt. Darin wird Böschs Inszenierung zur Parabel: Egal,

45 Monika Nellissen: Hoffnungsschimmer, mitten in der Nacht. In: „Die Welt“ (2009) (WWW-Seite, Stand 2. Februar 2009). Internet: http://www.welt.de/welt_print/article3144014/Hoffnungsschimmer- mitten-in-der-Nacht.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 11.00 MEZ). 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 164 Marta Bąkiewicz

was ich bin oder behaupte, ich komme aus meinem Milieu nicht heraus. Das ist als zweistündige Geschichte jedoch zu dürftig, trotz klug gebauter Bilder. Es fehlen starke Figuren, verblüffende Entwicklungen und umwerfende Erkenntnisse.49 Die Verfasserin konzentriert sich in ihrem Beitrag vor allem auf die Figuren der Inszenierung und die Änderungen der Textvorlage. Wilhelm Kahl (Claudius Franz), der im Drama als Neffe und Geliebter von Helenes Mutter auftritt, tritt in dieser Inszenierung als Clown auf. Der Zuschauer fühle sich dadurch zwar gut unterhal- ten, wisse jedoch nicht, welchem Ziel diese Regiekonzeption dienen solle.50 Die Rezensentin attestiert dem Schauspieler Peter Jordan eine hervorragende schau- spielerische Leistung. Er hat das reiche Original geheiratet, macht Geschäfte in Kohle, hat dabei einige übers Ohr gehauen, ist „über Leichen gegangen“ und genießt den Schampus in vollen Zügen. Schnell wird sein Dilemma deutlich: Seine Frau säuft und gebiert nur tote Babys. Jordan gelingt es hervorragend, diese tragische Differenz zwischen äußerem Wohlstand und privatem Unglück zu zeigen.51 Das letzte Bild, mit dem der Zuschauer konfrontiert wird, ist die Tabletten schlu- ckende Helene. Norman Hacker, der die Rolle Loths spielte, „zeigte aufrechte Zerrissenheit, doch zu wenig Spielerisches.“ Paula Dombrowski in der Rolle von Helene Krause zeigte die „Vielschichtigkeit eines noch gesunden, aber schon an- geknacksten Charakters“. Christoph Mehler52 führte Regie bei der Aufführung im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters am 14.06.2012. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien eine Rezension von Christoph Schütte. Der Zuschauer ist diesmal mit einer Inszenierung konfrontiert worden, die der schlesischen Atmosphäre und der naturalistischen Kon- vention beraubt worden ist. Bis auf die Kohlengruben hat man auf den schlesischen Hintergrund verzichtet, wie der Rezensent feststellt: Der Umgang mit dem Schlesischen ist kompliziert, schon allein sprachlich. Außer- dem: Hier in Deutschland gibt es heute solche Ausbeutungsstätten nicht mehr. Man müsste das Stück in den Kongo oder nach China versetzen, wo unter gesundheits- schädlichen Bedingungen gearbeitet wird. Damit könnte man dem Naturalismus

49 Susann Oberacker: No way out. In: „Nachkritik“ (2009) (WWW-Seite, Stand 7. Februar 2009). Internet: http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2378%3Avor-sonnenaufgang- david-boesch-zeigt-das-hauptmann-stueck-als-fatalistische-parabel&catid=37&Itemid=100078 (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:00 MEZ). 50 Vgl. Ebd. 51 Ebd. 52 Ein deutscher Theaterregisseur (geboren 1974 in Berlin). Zur Zeit ist er Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 165

treu bleiben. Wir verlegen den schlesischen Kontext in den gedanklichen, bühnen- technischen Hintergrund.53 Der Regisseur reduziert die auf der Bühne agierenden Personen. Dadurch ist es ihm gelungen, die Botschaft des Werkes verständlich herauszuarbeiten. „Die soziale ist hier nicht nur eine materielle, auf die kapitalistischen Verhältnisse gemünzte Frage, sondern eine der individuellen Haltung.“54 - lesen wir in der Rezension. In „stili- sierten wie schlichten und präzisen Bildern“ stellt Mehler Hauptmanns Figuren dar, die ihre Ideale am Ende verraten. Der Rezensent unterstreicht, dass die Figuren als Charaktere auf der Bühne erscheinen „so menschlich noch in ihrer Erbärmlichkeit. Und in ihrem Scheitern. Heftiger Applaus.“55 Auch Andreas Pecht rezensiert die Aufführung von Christoph Mehler und stellt in seinem Beitrag „Vor Sonnenaufgang“ gerät zur Schrei-Orgie fest, diese Inszenie- rung sei „eine Kakophonie von Geschrei“. Die hebt gleich zu Beginn an mit dem Auftreten von Lisa Mies als verblödetem wie übellaunig und unverständlich brüll-zeterndem Monstrum von Magd. Das Gekreisch erreicht seinen Höhepunkt, als die ganze Mannschaft an der Bühnenrampe in kollek- tiver Hysterie die Schreie der eben niederkommenden Frau Hoffmanns nachäfft.56 Dadurch seien nach Auffassung des Rezensenten ein interessanter Interpretati- onsansatz sowie die Schauspielleistungen verlorengegangen. Die Leistung der Schauspieler weiß er aber wertzuschätzen, vor allem „Körperausdruck, Gestus, Stellungsspiel“. Von den gegenwärtigen szenischen Interpretationen von Hauptmanns Drama ist noch Anselm Webers Aufführung vom 23.05.2012 am Schauspiel Bochum zu er- wähnen. Regisseur Anselm Weber setzt ganz auf seine Schauspieler, „auf sein ausgezeichnetes Ensemble, das Zeitgenossenschaft durch genaue Psychologie erspielt.“57 Der Zusammenstoß der Menschen, die verschiedene Werte pflegen, spielt auf einer leeren Bühne, in einem abstrakten Raum. „Im aufs Wesentliche reduzierten Bühnenbild dominieren Champagnerflaschen im Kühler – alles vor

53 Christoph Schütte: Am Ende kämpft hier jeder ganz für sich allein. In: „Frankfurt Allgemeine Zeitung“ (2009) (WWW-Seite, Stand 15. Juni 2012). Internet: http://m.faz.net/aktuell/rhein-main/staatstheater- mainz-am-ende-kaempft-hier-jeder-ganz-fuer-sich-allein-11787577.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:10 MEZ). 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Andreas Pecht: „Vor Sonnenaufgang“ gerät zur Schrei-Orgie. In: Artikeldienst „pecht.info“ (2012). (WWW-Seite, Stand 16. Juni 2012). Internet: http://www.pecht.info/texte/2012/20120616.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:15 MEZ). 57 Stefan Keim: Offene Pulsadern und ein jovialer Dietmar Bär. In: „Deutschlandradio“ (2012). (WWW- Seite, Stand 23. Mai 2012). Internet: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1765483/ (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:20 MEZ). 166 Marta Bąkiewicz dem unsichtbaren, aber stets mitgedachten Elend der Bergarbeiter.“ So lesen wir in der Rezension, die in „Focus“ erschienen ist. Xenia Snagowski, die in die Rolle der Helene schlüpfte, wird von dem Kritiker zu der „berührendste[n] Figur der Auf- führung“ gezählt. Diese Inszenierung mit Dietmar Bär in der Rolle von Loth stieß auf große Resonanz der Kritik. Dietmar Bär stellte sein schauspielerisches Können unter Beweis und verleiht dem Ingenieur menschliche Züge. Die große Leistung ist darin zu sehen, dass es ihm gelungen ist, Loths Widersprüchlichkeit zu Tage zu bringen, so dass die Figur viel interessanter ist als der Loth von Hauptmanns Text.58 Auch Stefan Keim attestiert Dietmar Bär eine große schauspielerische Leistung: „Dietmar Bär verkörpert perfekt den möglichst konfliktfrei durchs Leben steuernden Genussmenschen und bekommt ebenso Bravorufe wie seine Kollegen. Manchmal wird etwas viel gebrüllt, doch das ist der einzige, kleine Einwand gegen eine un- terhaltende und kritische Aufführung, die viel von heutigen Problemen erzählt.“59 In der Inszenierung ist die Diskrepanz deutlich durch die Gegenüberstellung zweier Welten, die aufeinanderprallen: „Die neureichen Bauern schwelgen in Hummer, Austern und Champagner. Die schlesischen Bergleute verrecken in den Stollen. Zwischen die Fronten gerät der sozialdemokratisch engagierte Volkswirtschaftler Loth.“60 Obwohl der Regisseur auf den Dialekt verzichtet hat, ist das Kolorit des Reviers erhalten.61 Die Analyse der Rezeptionsgeschichte der Inszenierungen Hauptmanns Drama erwies sich als ergiebig, und der Vergleich der Aufführungsbesprechungen ermög- licht es, einige Schlüsse zu ziehen. Aus den kritischen Pressestimmen zu der ersten Aufführung vom 20. Oktober 1889 lassen sich vorwiegend Reaktionen des Premi- erenpublikums herauslesen. Die Bühnenrealität und der Stoff, mit denen man die Zuschauer damals konfrontiert hat, waren zutiefst schockierend, was alle analysier- ten Beiträge bestätigen. Die deutschen Kritiker konzentrieren sich damals auf den Inhalt des Stückes sowie darauf, wie der grauenhafte Stoff in Szene gesetzt wurde. Sehr kritisch ist man mit der Vererbungstheorie umgegangen. Demzufolge war die Verhaltensweise von Loth für die damaligen Zuschauer und Kritiker unverständlich.

58 Vgl. Ralf Stiftel: Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ am Schauspiel Bochum. In: „Westfälischer Anzeiger“ (2012). (WWW-Seite, Stand 24. Mai 2012). Internet: http://www.wa.de/nachrichten/kultur- nrw/gerhart-hauptmanns-vor-sonnenaufgang-schauspiel-bochum-2331902.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:25 MEZ). 59 Stefan Keim: Bravorufe für Bär. In: „WDR2-Hörfunk“ (2012). (WWW-Seite, Stand 24. Mai 2012). Internet: http://www.wdr2.de/kultur/kritiker/vor_sonnenaufgang100.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:26 MEZ). 60 Ralf Stiftel: Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ am Schauspiel Bochum. In: „Westfälische Allgemeine“ (2012). (WWW-Seite, Stand 24. Mai 2012). Internet: http://www.wa.de/nachrichten/ kultur-nrw/gerhart-hauptmanns-vor-sonnenaufgang-schauspiel-bochum-2331902.html (Zugriff: 23. Mai 2013, 11:27 MEZ). 61 Vgl. Ebd. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 167

Während sich die Kritiker über diesen Punkt einig waren, waren ihre Meinungen bezüglich des schlesischen Dialekts auf der Bühne geteilt. Obwohl seit der Erstaufführung des Stückes im Lessingstheater in Berlin über 120 Jahre vergangen sind, hat das Stück mehrere Aktualisierungen erfahren, und die szenische Darstellung dieses Ausschnittes der deutschen Geschichte erregt nach wie vor großes Aufsehen. Hauptmanns Drama inspiriert seit Jahrzehnten die Regisseure und regt heutzutage die Theatermacher zur Aktualisierung des Stoffes an, was sich den Rezensionen zu den neuesten Aufführungen entnehmen lässt. Auffällig ist, dass die gegenwärtigen Theatermacher sich für eine deutliche Reduktion der Figuren entscheiden, wie die Analyse der Beiträge gezeigt hat. Die Regisseure suchten den Ausweg in der Konzentration auf nur wenige Figuren, um die Botschaft des Dramas deutlicher herauszuarbeiten. Die zeitgenössischen Aufführungen, die dem gegenwärtigen Zuschauer die Problematik der deutschen Arbeiterbewegung näher bringen möchten, lassen eine Regiekonzeption erkennen, die die Widersprüche auf- decken will. Sie zeigen den Widerspruch zwischen dem Wollen und dem Tun, den Widerspruch zwischen den neureichen Bauern und den schlesischen Bergleuten und schließlich die widerspruchsvolle Konzeption der beiden Figuren Loth und Helene. Eines der Probleme bei der Übertragung des Originaltextes auf die Bühne bestand darin, den schlesischen Dialekt darzustellen. Einige Regisseure haben auf diesen Dialekt verzichtet, um die Aufnahme des Stoffes zu erleichtern. Interessant ist, dass nur die zeitgenössischen Kritiker ihre Aufmerksamkeit auf einige Symbole gelenkt haben. Helenes Kleid als Symbol der Unverdorbenheit und ein prächtig ausgestatte- ter Salon als Symbol für die Neureichen können an dieser Stelle angeführt werden.

Marek Kryś Katowice

Die Verfilmungen der Werke Gerhart Hauptmanns am Beispiel von F. W. Murnaus Phantom

Der sechzigste Geburtstag Gerhart Hauptmanns, der heute weitere neunzig Jahre zurückliegt, war 1922 Anlass zu zahlreichen Ehrungen, Veranstaltungen, Festakten und kulturellen Unternehmungen. Der Schriftsteller, der genau zehn Jahre zuvor den Nobelpreis verliehen bekam, genoss weiterhin große Popularität sowohl unter der Leserschaft als auch unter den Schriftstellerkollegen. So erklärte ihn Thomas Mann zum „König der Republik“1, der Verleger Samuel Fischer sah in ihm einen „heimlichen Kaiser“2 und nannte Hauptmann den „Präsident[en] des Herzens, das dies Reich hat“3. Sogar Reichspräsident Friedrich Ebert gratulierte mit den Worten: „Mit einer Ehrung Gerhart Hauptmanns ehrt das deutsche Volk sich selbst“. Dem neuen Medium Film, das zu diesem Zeitpunkt noch keine dreißig Jahre alt war, stand der Jubilar seit langem aufgeschlossen gegenüber; bereits 1913 kam es zur ersten Filmadaption eines seiner Werke – es handelte sich um den Roman „Atlantis“, welcher durch die Nordisk-Filmgesellschaft unter der Regie von August Blom verfilmt wurde. Sowohl zu Hauptmanns Lebzeiten als auch danach brachten Filmemacher seine Werke häufig auf die Leinwand, es gab dabei mehrere Phasen, in denen sie sich besonderer Beliebtheit als Filmstoffe erfreuten. Die erste fiel auf das Ende der zweiten und den Anfang der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts, als seine Texte sechs Mal verfilmt wurden. Es handelte sich dabei um die Filme: „Rose Bernd“ (1919, Regie: Alfred Halm), „Die Ratten“ (1921, Hanns Kobe), „Hanneles Himmelfahrt“ (1922, Urban Gad), „Phantom“ (1922, Friedrich Wilhelm Murnau),

1 Thomas Mann: Von Deutscher Republik. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt 1960, Bd. IX, S. 812. 2 Samuel Fischer: Für Gerhart Hauptmann zum 15. November 1922. In: „Neue Rundschau“, November 1922, S. 1057. 3 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, Bd. 11. Frankfurt, Berlin, Wien 1974, S. 1323. 170 Marek Kryś

„Die Weber“ (1927, Friedrich Zelnik) und „Der Biberpelz“ (1927/28, Erich Schön- felder). Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, der sich zur Wende der zwanziger und dreißiger Jahre vollzog, ließ das Interesse an Hauptmanns Werken als Filmvor- lagen zwar kurzzeitig abebben, doch nach 1933 lebte es wieder auf. Zu dieser Zeit gerieten diese Werke jedoch unter den Einfluss der nationalsozialistischen Kulturpolitik. So propagierte die Filmadaption von „Der Herrscher“ (nach „Vor Sonnenuntergang“, 1936/37; Regie führte dabei Veit Harlan, ein berüchtigter Fil- memacher der NS-Zeit, verantwortlich auch für „Jud Süß“) „die Verpflichtung auf die Volksgemeinschaft und auf das Persönlichkeits- und Führerprinzip als zentrale Normen nationalsozialistischer Ideologie“4. Eine andere Funktion sollte die zwei Jahre vor Kriegsende entstandene Adaption der Komödie „Die Jungfern vom Bi- schofsberg“ (1942/43, Regie: Peter Paul Brauer) erfüllen – unter anderem wollte man mit diesem Film die deutsche Öffentlichkeit von den deutschen Niederlagen im Krieg ablenken. Nicht alle Projekte fanden aber die Akzeptanz der damaligen Machthaber: stoppte beispielsweise die Adaption von „Schluck und Jau“ angeblich mit den Worten „Sauf- und Pennbrüder gehören in ein KZ, aber nicht auf die Filmleinwand“5. Das Interesse für Hauptmanns Werke als Filmvorlagen erwachte in den fünfziger Jahren neu; zwischen 1952 und 1959 kamen folgende Adaptionen in die Kinos: „Königin der Arena“ (nach dem Roman „Wanda“, 1952, Regie: Rolf Meyer), „Die Ratten“ (1955, Robert Siodmak), „Vor Sonnenuntergang“ (1956, Gottfried Rein- hardt), „Fuhrmann Henschel“ (1956, Josef von Báky), „Rose Bernd“ (1956/57, ) und „Dorothea Angermann“ (1958/59, Robert Siodmak). Gleichzeitig begannen Rundfunkanstalten Hauptmanns Werke als Vorlagen für Fernsehspielproduktionen zu gebrauchen, allein in der Zeit zwischen 1955 und 1962 entstanden vierzehn solche Bearbeitungen. Insgesamt beläuft sich die Anzahl der Filme, die auf einem Text Hauptmanns ba- sieren und zwischen 1913 und 1999 produziert wurden, auf 36, wobei acht bis zur Machtergreifung Hitlers, vier in der NS-Zeit und die weiteren 24 nach dem Krieg entstanden (davon zwei jeweils in der DDR und in Österreich).6 Doch diese Zahlen und Daten ergeben kein vollständiges Bild von Gerhart Haupt- manns Beziehung zum Kino. Einerseits wirkte der Schriftsteller häufig selbst als

4 Vgl. Rebecca Kandler: „Phantom“. Textgenese und Vermarktung. München 1996, S. 70. 5 Erich Ebermayer: …und morgen die ganze Welt. Erinnerungen an Deutschlands dunkle Zeit. Bayreuth 1966, S. 213. 6 Vgl. Sigfrid Hoefert: Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns. Berlin 2003, S. 115-130. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 171

Urheber der Verfilmung seiner Werke und wurde sogar als „der Filmindustrie liebster Olympier“7 bezeichnet. Bei der Lektüre der wenigen Aussagen des Nobel- preisträgers zum Kino zeigen sich aber auch Widersprüche. Während er sich bei- spielsweise sehr positiv über die „Phantom“-Verfilmung äußerte („Den Rang einer Kunstform wird man ihm unbedingt einräumen“8), nannte er das Kino in seinem Tagebuch aber zur gleichen Zeit „das allüberflutende, taubstumme Kunstsurrogat für Taubstumme“9 und meinte auch: Das Kino ist das alte Schattentheater. Es fällt, trotz seiner ungeheuren Entwicklung unter den Begriff künstlerische Belustigung. Damit ist nicht wenig gesagt.10 Der Lobpreisung des Kinos wegen seiner Volkstümlichkeit anlässlich der „Phantom“-Verfilmung („Es gibt keine Kunstform, die so weit und breit zum Volk dringt wie das Kino“11) steht die folgende kritische Aussage gegenüber: Das Kino, schon weil es stumm ist und weil es überdies unnaiv und raffiniert ist, konnte diese Erbschaft nicht antreten. Es hat seine Wurzeln nicht im Volk, sondern in den Büros und Kalküls internationaler Geschäftsleute.12 Es lässt sich also feststellen, dass Hauptmann den Stummfilm der 20er Jahre nicht als Ganzes akzeptierte, sondern lediglich einige seiner Aspekte. Zum einen wäre es der „volkspädagogische Aspekt“ – die Breitenwirkung dieses „völkerverbin- denden und grenzüberschreitenden Massenphänomens“. Zum anderen schätzte der Schriftsteller den „konservatorischen Aspekt“ und die Möglichkeit, die Qua- litätsschwankungen der jeweiligen Theaterinszenierungen zu überwinden. Hinzu kam der „innovatorische Aspekt im Hinblick auf die Schauspielkunst“. Es sei aber angemerkt, dass es sich dabei lediglich um den Stummfilm handelte, bei dem das fehlende gesprochene Wort den Schauspieler dazu zwinge, „sich auf das ihm eigene mimische und gestische Ausdruckspotential zu besinnen und hier seine Fähigkeiten zu entwickeln“.13 Das widersprüchliche Verhältnis Hauptmanns zum Kino mag auch mit der Tatsa- che zusammenhängen, dass er sich selbst, trotz mehrerer Versuche und der vielen Adaptionen seiner eigenen Werke, nie als Autor für den Film etablieren konnte. Seine Szenarien kamen über die Stufe der Vorstudien nicht hinaus, Korrekturen am

7 Bernhard Zeller: Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm. Stuttgart 1976, S. 168. 8 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 975. 9 Gerhart Hauptmann: Die Kunst des Dramas. Über Schauspiel und Theater. Berlin 1963, 145. 10 Ebd., S. 212. 11 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 975. 12 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, Bd. 6. Frankfurt, Berlin, Wien 1962, S. 788. 13 Vgl. Rebecca Kandler: „Phantom“, S. 77f. 172 Marek Kryś

„Atlantis“-Drehbuch wurden nicht beachtet und auch die Zwischentitel zu Murnaus „Faust“ fanden keine Verwendung.14 Insgesamt bleibt ein gespaltenes Bild der Beziehung Hauptmanns zum Film; zahl- reichen, auch künstlerisch gelungenen Adaptionen („Atlantis“, „Rose Bernd“, „Die Ratten“) stehen Misserfolge bei direkten Arbeiten am Film und widersprüchliche Bewertungen des Mediums gegenüber. Bei „Phantom“ handelt es sich um eine frühe, insgesamt um die fünfte Ad- aption eines Werkes von Hauptmann, die sowohl aus künstlerischen als auch wirt- schaftlichen Gründen von Interesse sein kann: „Hauptmanns Text ist mehr als eine Vorlage, Murnaus Werk mehr als eine Verfilmung“15. Der Roman hat eine lange Genese, denn Hauptmann begann die Arbeiten daran noch im 19. Jahrhundert, ungefähr im Jahr 1887. Schon damals trug der Protagonist den Namen Lorenz Lubota.16 Seine Arbeit setzte der Schriftsteller bei einem späteren Aufenthalt in Zürich fort, wo er auch aus diesem „autobiographischen Romanfrag- ment gelesen“17 haben soll. Das Projekt wurde dann für mehr als zwei Jahrzehnte verworfen (ca. 1889-1915), ehe sich der Schriftsteller wieder daran wagte. Aus dieser Zeit sind einige Fragmente erhalten, deren Problematik weitgehend mit der Endfassung übereinstimmt. Zu diesen Aspekten gehören: „Das Norm- und Wert- system des Kleinbürgers (…), die Macht der Schönheit (…), der Eros als Quelle des Leidens (…) [und] die gesellschaftliche Stellung des Dichters (…)“18. Das umfangreichste erhaltene Fragment aus der Entstehungszeit des Romans bildet das von Hauptmann verfasste Filmexposé, welches 20 Druckseiten umfasst und auf die Zeit zwischen 1918 und 1922 datiert werden kann. Die darin enthaltenen Figuren und Motive stimmen weitgehend mit dem Roman überein. Es sei angemerkt, dass das Filmexposé keinen direkten Einfluss auf das Drehbuch hatte, möglicherweise kannte es die Autorin gar nicht. Das Buch erschien zunächst, zwischen Februar und April 1922, als Fortsetzungs- roman in neun Folgen in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ (BIZ), der mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren auflagenstärksten und meistgelesenen Wochen- zeitschrift der Weimarer Republik. Hauptmanns „Phantom“ blieb nicht die einzige Veröffentlichung dieser Art in der BIZ; publiziert wurden dort ebenfalls Bernhard Kellermanns „Schwedenklees Erlebnis“ (1923) oder Arthur Schnitzlers „Spiel im Morgengrauen“ (1927). Auch waren Verfilmungen dieser Bücher nicht unüblich;

14 Vgl. ebd., S. 72. 15 Ebd., S. 17f. 16 Vgl. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, Bd. 7. Frankfurt, Berlin, Wien 1962, S. 1081. 17 Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann. Berlin 1898, S. 43. 18 Rebecca Kandler: „Phantom“, S. 37, 41. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 173

„wer einen Text zu dieser Zeit als Fortsetzungsroman in der BIZ publizierte, nahm die Verfilmung seines Werkes billigend in Kauf“19. Dies barg aber auch Gefahren für den Autor: Zwar sicherten ihm Auflagenhöhe und Verbreitung der BIZ einen großen Leser- kreis; andererseits aber schufen sowohl das redaktionelle Umfeld einer Illustrierten als auch die üblicherweise dort erscheinenden Romane beim Publikum einen Er- wartungshorizont, der für künstlerischen Anspruch und ästhetische Finessen kaum Raum ließ.20 Eine der Folgen davon war, dass die Kritik kaum Notiz von der Zeitungsfassung nahm und sich erst mit der im Frühjahr 1923 erschienenen gebundenen Buchver- sion beschäftigte. Man kann dabei von dem Phänomen der Trivialisierung durch das Medium sprechen. Diese Form der Veröffentlichung hatte für den Verleger aber auch einen negativen wirtschaftlichen Aspekt: die Einzelausgabe wurde 1923 in Deutschland drei Mal aufgelegt und nur 22.000 Mal verkauft. Demgegenüber standen Erfolge im Ausland, wo das Buch in zwölf verschiedenen Übersetzungen erschien (1923: Großbritannien, Russland – zwei Fassungen, Ungarn; 1926: Polen, Tschechien; 1928: Italien; 1929: Bulgarien; 1939: Estland; 1947: Spanien), in zwei Fällen noch vor der deutschen Einzelausgabe (1922: USA und Schweden).21 So konnte der Verlag die ausgebliebenen Einnahmen aus Deutschland mit den Einnah- men aus den ins Ausland verkauften Rechten am Buch kompensieren. In „Phantom. Aufzeichnungen eines Sträflings“ erzählt Hauptmann retrospektiv die Geschichte des Falls und späteren Wiederaufsteigs des ehemaligen Breslauer Rats- schreibers Lorenz Lubota. Zur Erzählzeit hat der Ich-Erzähler seine Gefängnisstrafe von sechs Jahren bereits abgebüßt, ist glücklich verheiratet und wohnt in einer klei- nen, namentlich nicht genannten Ortschaft. In seinen chronologisch dargebrachten Erinnerungen wird der Anblick eines minderjährigen Mädchens, Veronika Harlan, zum Schlüsselerlebnis für den Ich-Erzähler und zum Ursprung eines unstillbaren Begehrens. Hinzu kommt die von seinem späteren Schwiegervater, dem Buchbin- dermeister Starke geschürte Hoffnung auf den Erfolg seiner Gedichte und großen Ruhm. Eine entscheidende Wendung gibt dem Schicksal von Lubota die Bekannt- schaft mit Wigottschinski, einem Liebhaber seiner wohlhabenden Tante Schwabe, einer Pfandleiherin. Lorenz, bislang ein Muster an Tugend, auch weil er zuhause die Vaterrolle gegenüber seinen Geschwistern übernehmen musste, gerät immer tiefer in ein zweifelhaftes Milieu, dessen Mitglieder er folgendermaßen beschreibt:

19 Ebd., S. 67. 20 Ebd., S. 63. 21 Vgl. ebd., S. 87. 174 Marek Kryś

(…) verkrachte Existenzen aller Art, Kandidaten der Theologie, die Zuhälter ge- worden waren, Offiziere, zu Falschspielern herabgesunken und vorbestraft, Volks- schullehrer, die wegen Sittlichkeitsverbrechen im Zuchthause gesessen hatten, und andere mehr. Ich habe dort Dirnen kennengelernt, die auf mich den Eindruck von anständigen Frauen machten, und anständige Frauen und Töchter gutbürgerlicher Menschen, die sich für Geld als Dirnen hingaben, um einen Pelz oder ein Ballkleid, für ein Fest der ersten Gesellschaft, etwa im Ständehaus, zu bezahlen.22 In seinem Größenwahn kündigt er die Stellung, leiht sich Geld von der Tante und hält sogar um die Hand Veronikas an. Wigottschinski schmiedet Pläne, die den beiden finanziellen Erfolg bescheren sollen, aber nie über die Planung hinauskom- men und letztlich nur zu weiteren Schulden bei Tante Schwabe führen. Lorenz lernt die junge Frau Melitta kennen, die ihm zum Ersatz für die unerreichbare Veronika wird, deren Unterhalt aber weitere Kosten nach sich zieht. Wigottschinski will Schwabe bestehlen lassen, der Plan misslingt und Tante Schwabe kommt ums Leben. Wigottschinski wird zum Tode, Lorenz als sein Komplize zu sechs Jahren Haft verurteilt. Dank der Fürsorge von Marie, der Tochter von Buchbindermeister Starke, übersteht er diese Zeit, woraufhin die beiden heiraten. Auch wenn sich die Inhaltsbeschreibung wie eine einfache Kriminalgeschichte liest und das Buch zunächst nur wenig Beachtung in der Forschung fand, machten Lite- raturwissenschaftler darin Bezüge verschiedener Art ausfindig, auf die hier nur kurz eingegangen wird. Wenn es um die literarische Einordnung geht, wird der Roman dem Naturalismus und Fin de siècle zugerechnet, wobei man auch eine Nähe zu Büchner („Lenz“), Dostojewski („Schuld und Sühne“) sowie („Von morgens bis mitternachts“) feststellte.23 Von großer Bedeutung sind im Roman die religiösen Motive, sowohl in mythologischer als auch christlicher Hinsicht (Widerstreit zwischen christlicher Heilslehre und dionysischem Lebensprinzip; Liebe als christliches Ideal bzw. Kraft und Gewalt des Eros).24 Hinzu kommt eine autobiographische Deutung: in den Jahren 1905-1906 hatte der damals 43-jährige Hauptmann eine Beziehung zu der damals 16-jährigen Schauspielerin Ida Orloff.25 Der Film war von Anfang an als eine Jubiläumsproduktion zum sechzigsten Geburtstag des Nobelpreisträgers gedacht und deshalb ein Prestigeprojekt, an dem viele Größen des damaligen deutschen Films mitwirkten. Da man sich an dem Fortsetzungsroman orientierte, fand die Premiere bereits vor Veröffentlichung der

22 Gerhart Hauptmann: Phantom. Aufzeichnungen eines Sträflings. Frankfurt/M – Berlin – Wien 1996, S. 45. 23 Vgl. Gunter Hertling: Selbstbetrug und Lebenskunst. Gerhart Hauptmanns Lorenz Lubota und Thomas Manns Felix Krull. In: „Orbis Litterarum“ Nr. 20/1965, S. 207. 24 Vgl. Rebecca Kandler: „Phantom“, S. 133ff. 25 Vgl. ebd., S. 110. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 175

Einzelausgabe statt, am 13. November 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo und am gleichen Tag in Breslau. Das Interesse der Zuschauer sollte am Tag zuvor durch einen „zweieinhalb Seiten umfassenden, großformatig mit Standfotos bebilderten Beitrag“26 in der BIZ geweckt werden. Das Drehbuch stammte von , die damals zwar noch keine große Erfahrung im Filmgeschäft hatte (sieben Drehbücher seit 1920), trotzdem ein ho- hes Ansehen genoss. 1922 heiratete sie den Regisseur Fritz Lang, mit dem sie bis 1933, als er ins Exil ging und sie in Deutschland blieb, auch zusammenarbeitete und Drehbücher u.a. zu „“ (1926), „“ (1928), „Frau im Mond“ (1929) und „M“ (1930) schrieb. Beim Erscheinen der letzten Folge von „Phantom“ in der BIZ am 1. April 1922 war die erste Fassung des Drehbuchs bereits fertig, es folgte ebenfalls im Frühjahr eine zweite, nur geringfügig veränderte Fassung, auf deren Grundlage der Film realisiert wurde. Was die Form angeht, bestand das Drehbuch nicht aus Szenen, sondern, wie damals üblich, aus 208 Bildern von unterschiedlicher Länge (2,5 Zeilen bis 5 Seiten).27 Von Harbous Drehbuch kennzeichnet sich durch Genauigkeit im Detail und atmosphärische Dichte in der Beschreibung des äußeren Szenarios, Profilierung der Figuren durch soziologische Typisierung und psycho- logische Individualisierung sowie eine auf Kategorien der Handlung konzentrierte Form der Darstellung28. Die Autorin hatte eine genaue Vorstellung von den Funktionen, die ihre Drehbücher erfüllen sollten; zu den wichtigsten zählten: die „Konzentration auf die wesentlichen Elemente der Handlung“ und somit die „Reduktion von Komplexität“, eine „klare, stringente Handlungsführung“, d.h. die „(zeitliche) Komprimierung in logischer Folge“ sowie die „emotionale Bindung des Zuschauers“, also die „Konzentration des Affektpotentials“.29 Verglichen mit der literarischen Vorlage veränderte sie infolgedessen ihr Drehbuch in drei wesentlichen Punkten: Lorenz‘ Begegnung mit Veronika wird auf ein einziges Ereignis komprimiert. Wenn es um die Verwicklung des Protagonisten in das Verbrechen geht, tritt im Drehbuch die Rolle Wigottschin- skis in den Hintergrund, während der Anteil Lubotas betont wird. Die größte Trans- formation erfährt die Tötung von Tante Schwabe. Im Gegensatz zu Hauptmann war in Harbous Drehbuch Lorenz‘ aktive Beteiligung am Einbruch und Diebstahl sowie seine Mitschuld am Tod der Tante durch Passivität vorgesehen.30 Während die

26 Ebd., S. 81. 27 Vgl. ebd., S. 173. 28 Ebd., S. 163. 29 Vgl. ebd., S. 185. 30 Vgl. ebd., S. 187 ff. 176 Marek Kryś strukturellen Gliederungselemente der Vorlage weitgehend übernommen wurden, kam es bei Harbou zu erheblichen Veränderungen in der Figurenkonzeption. Lubota ist im Drehbuch nicht mehr das Tugendmuster schlechthin, sondern nur ein buch- versessener Träumer, was seinen moralischen Sturz weniger dramatisch erscheinen lässt. Marie, Lorenz‘ spätere Ehefrau, ist in dem Drehbuch von Anfang an in ihn verliebt, wodurch der Film auch zu einem Melodram wird. Von Harbou erreichte mit diesem Schritt die angestrebte Reduzierung der Komplexität des Liebesdiskurses sowie eine Emotionalisierung des Zuschauers.31 Transformationen gegenüber der Vorlage erfuhr das Drehbuch auch hinsichtlich der darin vertretenen Normen, die sich an den traditionellen Werten des Bürgertums orientieren. Die erotische Lei- denschaft erscheint in dem Drehbuch als eine gefährliche Macht, weshalb erotische Liebe allein der Ehe vorbehalten bleiben sollte. Eine gute, auf „patriarchalischen Prinzipien“ basierende bürgerliche Ordnung wird mit einer humanen Ordnung gleichgesetzt, wobei ein Ausbruch aus dieser Ordnung als Leid erlebt wird und gesühnt werden muss.32 Regie führte bei „Phantom“ Friedrich Wilhelm Murnau, damals ein auf- gehender Stern am deutschen Kinohimmel. Murnau hatte vor „Phantom“ bereits zwölf Filme gedreht, darunter das bis heute geschätzte Werk „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens“, galt aber immer noch als Geheimtipp. Nach „Phantom“ sollte der Regisseur nur noch neun Filme realisieren, ehe er 1931 im Alter von 42 Jahren tödlich verunglückte. Sein Schaffen erfreut sich bis heute hohen Ansehens, was beispielweise der fünfte Platz von „Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“ („Sunrise – A Song of Two Humans“, 1927) in der diesjährigen Liste der besten Filme aller Zeiten des britischen Filminstituts belegt.33 Im Gegensatz zur Drehbuchautorin betrachtete der Regisseur filmische Adaptionen literarischer Vorlagen mit viel Skepsis, wovon folgende, die Zukunft des Kinos betreffende Aussage zeugt: Gegenwärtig müssen wir auf Romane zurückgreifen, auf Bühnenstücke, Kurzgeschich- ten, auf Geschichten als Basis für unsere Filmpläne. Aber in der zukünftigen Szene werden Autoren Filmideen ausdenken und Filmträume träumen. Die Regisseure der Zukunft werden in die Wirklichkeit umsetzen, daß der Film eine separate Kunst ist, die nichts mit der Bühne gemein hat, und sie werden gedankliche und gefühlsmäßige Fein- heiten ausdrücken können, die im gesprochenen Drama unmöglich zu realisieren sind.34

31 Vgl. ebd., S. 202 f. 32 Vgl. ebd., S. 232. 33 Vgl. URL: http://explore.bfi.org.uk/sightandsoundpolls/2012. 34 Fred Gehler, Ulrich Kasten: Friedrich Wilhelm Murnau. Berlin (DDR) 1990, S. 145. Deutsche Kritiker über die Theateraufführung von Gerhart Hauptmanns ... 177

Andererseits kamen ihm die Themen und Motive, die die Vorlage bot, wie das Motiv des Außenseiters, durchaus entgegen. Bei der Entscheidung, die Regie bei „Phantom“ zu übernehmen, werden auch die außerordentlich guten Arbeitsbedin- gungen nicht ohne Bedeutung gewesen sein, schließlich konnten dafür sowohl herausragende Schauspieler (Alfred Abel, Aud Egede Nissen, Lil Dagover, Lya de Putti) als auch erstklassige Techniker (z.B. Axel Graatkjär – Kamera, Hermann Warm – Bauten) verpflichtet werden. Bei der Umsetzung des Drehbuchs hielt sich Murnau weitgehend an das Drehbuch, führte jedoch auch eigene Elemente ein und verstärkte oder vereinfachte manche Motive. So beginnt der Film beispielsweise mit Aufnahmen, die Gerhart Hauptmann in ländlicher Umgebung zeigen, was im Drehbuch nicht vorgesehen war. Man kann diese Maßnahme als eine Huldigung an den Dichter verstehen, andererseits wird dadurch eine Verbindung zwischen der Person Hauptmanns, dem Erzähler und dem Protagonisten hergestellt, auch weil diese Figuren Bücher in ihren Händen halten bzw. darin schreiben. Darüber hinaus vereinfachte der Regisseur das Drehbuch, indem er einige Szenen eliminierte: Murnau verzichtete auf die Darstellung des Kontrasts zwischen Lorenz und seinem Bruder Hugo zugunsten der Verstärkung der Profilierung anderer Figuren (Wigottschinski, Melitta). Außerdem versuchte er „Thea v. Harbous Tendenz zur Sentimentalisierung (…) entgegenzuwirken“35, vor allem in Bezug auf die Figur Marie Starkes. Die wichtigste Veränderung, die der Regisseur gegenüber der Drehbuchvorlage vornahm, ist die Verstärkung der Sphäre des Irrealen, die durch drei Maßnahmen erreicht wird. Erstens ordnet Murnau die Figur Veronikas eindeutig diesem Bereich zu, was vor allem durch die mit ihr assoziierte Farbe Weiß realisiert wird, die sich in einem Schwarzweißfilm viel deutlicher abzeichnet als in einem Farbfilm. Zwei- tens erscheint in dem Film mehrmals das Bild der ebenfalls weißen Kutsche, die dazu noch durchsichtig und wie aus Silberfäden gebaut ist, wodurch sie eindeutig in den Bereich des Irrealen fällt. Drittens erweitert der Regisseur die nicht mehr vollständig erhaltene Sequenz „Der taumelnde Tag…“ um acht Bilder gegenüber dem Drehbuch (von 9 auf 17). Hierin dominieren Bilder von Drehbewegungen, mit dem Ziel zu zeigen, wie der Protagonist „in einer Bar vom Taumel erfasst wird und wie sich alles um ihn dreht und er gewissermaßen in einen Abgrund gerissen wird“36. Die vorgesehene Wirkung wird durch „optische Dynamisierung subjekti- ver Empfindungen“37 erreicht. Den Eindruck, den die Sequenz auf den Zuschauer machte und damit ihre Modernität, verdeutlichen folgende Worte von Béla Bálazs:

35 Rebecca Kandler: „Phantom“, S. 251. 36 Hermann Warm: Technische Effekte für Phantom. In: Lotte H. Eisner: Murnau. Frankfurt 1979, S. 148. 37 Rebecca Kandler: „Phantom“, S. 261. 178 Marek Kryś

Straßen ziehen vorbei mit wandelnden Häuserreihen vor einem, der selbst unbeweg- lich steht. Treppen steigen und sinken unter Füßen, die sich scheinbar nicht bewegen. Ein Brilliantenschmuck flammt auf in einem Schaufenster. Ein Blumenstrauß teilt sich, und ein Gesicht schaut hervor. Eine Hand greift nach einem Glas. Säulen des Ballsaals taumeln trunken. Autolampe blendet. Ein Revolver liegt am Boden.38 Überhaupt bestätigt Murnau auch mit diesem Film seine Nähe zur Malerei, durch den meisterhaften Umgang mit dem Helldunkel oder den Einsatz von Spiegeln. Während der Fortsetzungsroman von der Kritik übersehen und die späte- re Einzelausgabe neutral bis negativ beurteilt wurde, nahm man die Verfilmung durchaus wohlwollend auf, wenngleich angemerkt werden muss, dass das Kino zu Beginn der zwanziger Jahre einen anderen Stellenwert hatte als heute und sich als Kunstform erst noch behaupten musste. Trotzdem bleibt „Phantom“ bis heute mehr als nur das Dokument einer frühen Entwicklungsphase des deutschen Kinos, woran neben dem Regisseur, den Schauspielern und dem Filmstab sicherlich auch Gerhart Hauptmann als Autor der Buchvorlage Anteil hatte. Aus filmhistorischer Sicht ist „Phantom“ nicht nur ein Werk Friedrich Wilhelm Murnaus, sondern auch ein groß angelegtes und ob dieser Tatsache gewissermaßen auch ein modernes Projekt, bei dem ein Film nur wenige Monate nach Veröffentlichung der literarischen Vorlage in die Kinos kam, unter Beteiligung vieler Vertreter der kulturellen Elite. Dank zahlreicher Quellen neben dem Roman und dem Film selbst (Drehbuch, Filmheft, Tagebücher bzw. Notizen der Verantwortlichen, Kritiken) lassen sich auch heute, neunzig Jahre später, die einzelnen Schritte, von der Entstehung und Veröffentli- chung des Romans, über die Vorbereitung des Drehbuchs bis zur Realisierung des Films, gut nachvollziehen.

38 Béla Bálazs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. In: Ders.: Schriften zum Film, Bd. I. ünchen 1982, S. 91.