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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 29. Dezember 1997 Betr.: Physik, Jubiläum, SPIEGEL special

ie meisten SPIEGEL-Redakteure hätten da gar nicht erst mithalten können: Um Ddie außerordentliche Frage, ob in einem Raumschiff, das schneller fliegt als das Licht, die Zeit „negativ“ werde oder nicht, wetteten Johann Grolle, gelernter Phy- siker und einer der beiden Leiter des Wissenschaftsressorts, sowie sein Kollege Ste- fan Klein, der ebenfalls Physiker ist. Die Wette hatte zu tun mit der Titelgeschichte dieses Hefts, die eine revolutionä- re Entwicklung in der Naturwissenschaft beschreibt – mit der phantastischen Perspektive, dereinst die Schranken der Zeit überwinden zu können (Seite 92). Grolle verlor, die Zeit in jenem Raumschiff wird „imaginär“, nicht aber negativ. Derlei Diskussionen über physikalische Feinheiten ereig- nen sich häufig in diesem SPIEGEL-Ressort, denn außer Klein (Promotionsthema: „Markowsche Systeme in der Biophysik“) und Grolle können in jenem Fach auch die Re- dakteure Jürgen Scriba (Promotionsthema: „Nichtparabo- lizität von InAs/AlSb-Quantentöpfen“) und Olaf Stampf mitreden.Von Einseitigkeit kann dennoch keine Rede sein, M. WEBER W. andere Richtungen, vom Dr. med. über Biologie bis zum Klein Maschinenbau, ergänzen das Potential der Wissen- schaftstruppe. In diesem Heft belegen die Physiker allerhand Terrain: Scriba inter- viewt den Computer-Nachwuchsguru Marc Andreessen (Seite 136), Grolle be- schreibt sterbende Sonnen (Seite 143), und Stampf widmet sich Experimenten, bei denen das Versenden von Materie gelang (Seite 144). Da ist nicht gut wetten.

s war wohl das letzte Mal im Jubiläumsjahr, daß das Fünfzigste des Blattes den Ebesonderen Anlaß bot: Unter dem Titel „50 Jahre DER SPIEGEL – Deutschland und Europa im Spiegel einer großen Zeitschrift“ veranstalteten die Fakultäten für Informationswissenschaften und Philologie der Universität Sevilla ein öffentliches Seminar mit Vorträgen und Podiumsdiskussion. Im Vorfeld des Seminars, zu dem der SPIEGEL-Ressortleiter Information, Heinz P. Lohfeldt, Beistand leistete, zeigte die Hochschule eine Ausstellung mit SPIEGEL-Titeln und dem Video, das SPIEGEL-TV zum 70. Geburtstag Rudolf Augsteins produziert hat. Ort des Geschehens: die alte Tabakfabrik an der Calle San Fernando, wo eine gewisse Opernheldin Carmen mehr geflirtet als gearbeitet haben soll. Jetzt siedeln dort Teile der Uni.

ut 1,2 Milliarden Muslime leben auf dieser Erde, davon 2,7 Millionen in der Bun- Gdesrepublik, und bei den Deutschen, so ergab eine Emnid-Umfrage für das neue SPIEGEL special, trifft keine andere Religionsgemeinschaft auf derart heftige Vor- behalte wie der Islam – im Osten noch ausgeprägter als im Westen des Landes. In seiner jüngsten Ausgabe analysiert das Monatsmagazin den verwirrenden, zwischen relativer Toleranz und unverhülltem Terror changierenden Auftritt dieser Glaubenswelt. Zu Wort kommen dabei auch prominente Muslime wie der Literatur-Nobelpreisträger Na- gib Mahfus, der mit Bildungsreformen die Gewalt bekämpfen will, die Publizistin Chérifa Magdi, die über die Unterdrückung der Frauen schreibt, oder der frühere Präsident des ägypti- schen Staatssicherheitsgerichtshofs, Mohammed Saïd el- Aschmawi, der einen „minutiös vorbereiteten Generalangriff“ der Fundamentalisten heraufziehen sieht. Das neue SPIEGEL special „Rätsel Islam“ ist vom Dienstag an im Handel.

der spiegel 1/1998 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Wissenschaftler überwinden Ost-Front des Fortschritts Seite 22 die Schranken der Zeit...... 92 Inmitten des Niedergangs der ostdeutschen Wirtschaft wächst Deutschland einer der modernsten Indu- Panorama: Kohls Manöver gegen Türkei- striestandorte Europas heran. Beitritt / Knappe Kasse bei der CSU...... 16 Mit Hilfe von drei Milliarden Aufbau Ost: Hohe Renditen, wenig Jobs ...... 22 Steuermark gelang im Che- Aktionsbündnis gegen Werkschließung mierevier Bitterfeld-Wolfen in Leipzig...... 26 der Umbau einer maroden Steueraffären: Prämie für Denunzianten? .... 29 Staatswirtschaft in eine Insel Traumberuf Steuerfahnder ...... 30 der Hochleistungsökonomie. Garzweiler: Interview mit Der Preis: viel Produktion, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement wenig Arbeit. „Hier wird ge- über den umstrittenen Braunkohletagebau testet, wieviel Ungleichheit die und die Zukunft rot-grüner Politik...... 32 P. LANGROCK / ZENIT P. Gesellschaft aushält“, meint CDU: Wie ein ostdeutscher Bundestags- Raffinerie in Leuna der Ökonom Rüdiger Pohl. abgeordneter von seiner eigenen Fraktion ausgebootet wurde ...... 35 Grippe: Hühnervirus in Hongkong – Gefahr für die Welt? ...... 36 CSU: Interview mit dem Bonner Landes- gruppenchef über den Euro...... 38 Mit Scheckbuch gegen Steuersünder? Seite 29 Parlament: Die Kriegsgeneration nimmt Abschied von der Politik...... 40 Der Staat will den Kampf gegen Steuersünder verschärfen: Finanzexperten prüfen, ob sie für die Beschaffung von vertraulichen Bankunterlagen eine Belohnung Zeitgeschichte: Ein griechisches Gericht verurteilt Bonn zur Wiedergutmachung für zahlen sollen. Eine Liste aus Luxemburg wird derzeit für 500000 Mark angeboten. Massaker der Waffen-SS 1944 ...... 43 Bürokratie: Öko-Wächter gegen Kaminbesitzer...... 47 Islamisten: Algerische Terroristen in Deutschland...... 48 Telefonpreise purzeln Seite 64 Justiz: SPIEGEL-Gespräch mit Verfassungs- richter Winfried Hassemer über den Mit dem Jahreswechsel Ruf der Bürger nach mehr Sicherheit ...... 50 beginnt endlich auch in Prozesse: Gisela Friedrichsen über den Deutschland der Wettbewerb Verteidiger Salditt und die Verfahren gegen um den Telefonkunden: Jürgen Schneider und Marcel Avram ...... 58 Jeder kann nun seine Tele- fongesellschaft frei aus- Wirtschaft wählen. Neue Privatfirmen Trends: Ärger im VW-Vorstand / wie Arcor, Otelo und Viag Kohls Postenschacher bei Interkom treten gegen den der Europäischen Notenbank...... 61 ehemaligen Monopolisten Medien: Neue Fernseh-Holding von Telekom an. Die Folge: Bertelsmann? / Die TV-Absteiger des Jahres... 62 Überall purzeln die Preise,

Geld: Die Neujahrsprognose der Profis: neue Dienstleistungen und FOCUS / AGENTUR S. WARTER Wohin steuern Dax und Dollar? ...... 63 Technologien entstehen. Telefonsortiment Telekommunikation: Wie die Kunden vom Preiskrieg profitieren ...... 64 Asien: Droht eine Weltwirtschaftskrise?...... 68 Filmindustrie: Starproduzent Dieter Geissler in Finanznöten...... 70 Wirtschaftspolitik: Streitgespräch zwischen Moskau: „Spekulazija“ im alten Postamt Seite 76 SPD-Politiker Gerhard Schröder und Die Wertpapierbörse in Moskau Industriepräsident Hans-Olaf Henkel über eine Reform der Deutschland AG ...... 72 hat sich weltweit zum Treffpunkt Börse: Erich Wiedemann über das der Aktienzocker entwickelt. In Moskauer Zockerparadies ...... 76 einem Jugendstilsaal des ehema- ligen Postgebäudes werden vor allem Industriepapiere von Öl- Gesellschaft und Gasfirmen, Strom- und Szene: Ärztliche Bedenken gegen Telefonkonzernen gehandelt. Joggen mit Walkman / Der Aktienindex der „Moscow Frauen-Clubs im Börsenfieber ...... 83 Times“ schoß in 15 Monaten um Abenteuer: Ballonfahrer rüsten zur Weltumrundung...... 84 üppige 500 Prozentpunkte nach oben. Die „Spekulazija“ lockt Affären: Der Selbstmord eines japanischen Regisseurs...... 87 / SIPA EAST-NEWS risikofreudige Westler, neureiche Wunderkinder: Der Erfolg der zehnjährigen Börsengebäude in Moskau Russen – und die Mafia. Berliner Schlager-Göre Rubina König ...... 88

6 der spiegel 1/1998 Sport Leichtathletik: Kripo-Ermittlungen gegen Trainer wegen Körperverletzung...... 104 Warum sich die Kugelstoßerin Heidi Krieger zur Geschlechtsumwandlung entschloß...... 105 Boxen: SPIEGEL-Gespräch mit dem Profi Torsten May über Selbstzweifel, Existenz- angst und den Druck der Veranstalter ...... 108

Ausland Panorama: Protest aus den eigenen Reihen gegen Nigerias Diktator / Israels traurige 50-Jahr-Feier...... 113 Türkei: SPIEGEL-Gespräch mit Vizepremier Ecevit über den Zorn auf die EU und seine Erwartungen an die Deutschen...... 114 Rußland: Das Comeback des Putsch-Generals Ruzkoi...... 117 Südkorea: Wahlsieger Kim und die Staatspleite...... 120

BOCCON-CIBOD / GAMMA / STUDIO X Afrika: Hoffnung auf Ballon über dem Atlas-Gebirge in Nordafrika ein Wirtschaftswunder...... 122 Großbritannien: SPIEGEL-Gespräch mit Europaminister Doug Henderson über Vorbehalte gegenüber dem Euro ...... 124 Im Ballon nonstop um die Erde Seite 84 Balkan: Vor einem Krieg im Kosovo?...... 128 In engen High-Tech-Kapseln, nur angetrieben vom Höhenwind, kämpfen drei USA: Die Söhne des Ex-Präsidenten Bush Amerikaner, ein Schweizer und ein Brite um den millionenteuren Ruhm, als erster machen Karriere...... 132 in einem Ballon nonstop die Erde zu umrunden. Wissenschaft + Technik Prisma: Kunststoffkissen als Bandscheibenersatz / Neuer Sternatlas ...... 135 Computer: SPIEGEL-Gespräch mit Netscape-Gründer Andreessen über die USA: Die Bush-Boys auf dem Vormarsch Seite 132 Zukunft des Internet und das Ende des PC ... 136 Umwelt: 1000 Tonnen Atommüll Die Söhne des ehemaligen Präsidenten George Bush drängen an die politische Macht: im schottischen Felsloch...... 140 Jep, Immobilienhändler in Miami, kandidiert als Gouverneur von Florida; George Astronomie: Bilder vom Todeskampf Walker, Gouverneur von Texas, schickt sich sogar an, das Weiße Haus zu erobern. der Sterne ...... 143 Physik: Experiment in Innsbruck – „Beamen“ ist möglich ...... 144

Kultur Szene: CD-Ausgrabungen von Kabarettist Ist der PC bald am Ende? Seite 136 Wolfgang Neuss / Deutscher „Titanic“- Multimillionär Marc Andreessen, 26, öffnete das Internet Verein gegründet...... 147 für die Massen. Der Mitbegründer der Softwarefirma Schriftsteller: Bertolt Brechts 100. Geburtstag – und wie sich die Netscape schrieb das Programm „Mosaic“, das mit Maus- Deutschen mit dem Jubilar plagen ...... 150 klicks die Reise ins Datennetz ermöglicht. Von blinder Bestseller...... 154 Technikverliebtheit ist der Jungstar nicht getrieben. Im Theater: Das Sam-Shepard-Stück SPIEGEL-Gespräch denkt er über Gewinner und Verlie- „Die unsichtbare Hand“ in Berlin...... 158 rer einer vernetzten Gesellschaft nach. Fazit: Der PC ist Kino: „Lolita“ – ein Skandalfilm

bald am Ende. Es droht eine neue Klassengesellschaft – M. WEBER W. ohne Herz und Sex ...... 159 mit einem Proletariat elektronischer Habenichtse. Andreessen Literatur: Absturz des Bestsellerautors Robert Schneider mit dem Roman „Die Luftgängerin“ ...... 160 Schauspieler: Der deutsche Anti-Star Jürgen Vogel und sein neues Projekt „Fette Welt“ ...... 162 Zweifel eines Boxers Seite 108 Ausstellungen: Eine Kölner Schau untersucht „Frauenmacht und Torsten May, Boxer der alten DDR-Schule, ge- Männerherrschaft im Kulturvergleich“...... 166 lang während seiner Profikarriere nie, was Kol- Pop: Der New Yorker Rapstar Jay-Z ...... 167 lege vorbildlich praktizierte: sich Fernseh-Vorausschau...... 174 den Anforderungen von Fernsehsendern und Ver- marktern anzupassen. Im SPIEGEL-Gespräch schildert der von Selbstzweifeln geplagte Fami- Briefe ...... 9 lienvater seine Gefühle, als er beim letzten Impressum ...... 14, 168 STREUBEL / WENDE STREUBEL Kampf aufgab: „Ich habe mir eingestanden: Das, Register...... 170 May (r.) was ich hier treibe, will ich eigentlich gar nicht.“ Personalien ...... 172 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 178

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Werbeseite Briefe „Ich habe den Eindruck, daß das Ausleben von rechten Ansichten bei der Bundeswehr viel einfacher ist und nicht auf soviel öffentlichen Widerstand stößt wie glatzköpfige Krakeeler in der Innenstadt.“

Karl Knippelberg aus Sickte (Nieders.) zum SPIEGEL-Artikel Bundeswehr: Rühes Debakel in der Roeder-Affäre

tenberg hat zum 1. Januar 1989 eine Quel- Lauter Biedermänner lensteuer von 10 Prozent in Deutschland Nr. 51/1997, Titel: Die Liechtenstein Connection – eingeführt. Diese Quellensteuer betraf Wie die reichen Deutschen sämtliche Zinszahlungen eines deutschen ihr Geld vor der Steuer verstecken Schuldners an inländische sowie auslän- dische Anleger und hat zu einem Chaos Daß es geplagte Steuerzahler nach Liech- am deutschen Kapitalmarkt geführt. Herr tenstein zieht, ist bekannt. Warum also Waigel hat die Steuer gleich wieder ab- widmet der SPIEGEL dem Thema eine geschafft. Um eine Erfahrung reicher, ist ganze Titelgeschichte, deren man dann von einer De- Inhalt im Prinzip nicht über bitorenquellensteuer abge- die Feststellung „Liechten- rückt und hat drei Jahre stein – Steueroase“ hinaus- später eine Zahlstellensteuer geht. Interessanter wäre es ge- eingeführt, die nur Steuerin- wesen, eine Anleitung zur Stif- länder betrifft. Das Motiv tungsgründung in Liechten- kann ja nur gewesen sein, aus- stein zu schreiben. Wenn sol- ländische Anleger weiter am che Transaktionen nicht mehr Kapitalmarkt zu interessie- Herrschaftswissen einiger we- ren. Des weiteren besteht niger Flicks sind, könnte man nach wie vor ein Bankge- die Waigel-Truppe besser un- heimnis in Deutschland, und ter Druck setzen und die Kontrollmitteilungen an aus- (Steuer-)Reformen in Deutsch- SPIEGEL-Titel 51/1997 ländische Finanzämter sind land anschieben. nicht möglich. Berlin Andreas Fink Mamer (Luxemburg) Fernand Grulms

Ich bin fassungslos: lauter Biedermänner, diese ehrenwerten Herren Hans Adam II., Eklatanter Mangel Batliner & Co., christlich, an das Gute in Nr. 51/1997, Bundeswehr: Rühes Debakel anderen Menschen glaubend, dabei ohne in der Roeder-Affäre jegliches Unrechtsbewußtsein, die Gesetze der Nachbarstaaten souverän mißachtend. Jeder, der in seinem Leben einmal Soldat Fast schon selbstverständlich, daß unseren war, weiß, daß eine Armee nun mal nicht Bundeskanzler das alles nicht schert – ein Sammelbecken linker Intellektueller ist! schließlich haben und hatten schon be- Wer sich entscheidet, Berufsoffizier zu sein, deutendere Politiker als so hat vermutlich eher eine nationale Gesin- ihre „guten Bekannten“! nung. Das ist in der Bundeswehr nicht an- Delmenhorst (Nieders.) ders als in anderen Armeen der Welt. Christine Wilhelm-Peters Wiehl (Nrdrh.-Westf.) Hans Reumann

Wenn die Nichtbesteuerung von Steuer- Fast 50 Jahre mußten vergehen, bis sich ausländern ausschlaggebend ist, haben Sie eine Bundesregierung dazu bewegen ließ, das größte Steuerparadies der EU verges- per Gesetz ein Ausbreiten der braunen sen, nämlich die Bundesrepublik Deutsch- Gesinnungsideologie in seiner freiheitlich- land. Der ehemalige Finanzminister Stol- pluralistisch-demokratisch legitimierten

Vor 50 Jahren der spiegel vom 3. Januar 1948 König Michael I. von Rumänien dankt ab Die „Volksrepublik“ wird ausgerufen. Die britischen Kommunisten entziehen der Labour Party jegliche Unterstützung Die Gewerkschaften sind umkämpft. Der Her- zog von Windsor enthüllt im US-Magazin „Life“ Autobiographisches Schweigen über das Honorar. Der Architekturprofessor Walter Gropius referiert über den Wiederaufbau in Deutschland Gemeinden sollen nur noch bis zu 8000 Einwohner haben. Büchners „Wozzeck“ wurde von der Defa verfilmt Große schauspielerische Leistung von Kurt Meisel. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Die Ost-CDU-Vorsitzenden Jakob Kaiser und müssen abtreten

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Werbeseite Briefe zung gelangen kann, die Bundeswehr hät- te kein Problem mit national-konservativen Rechtstendenzen, bleibt sein Geheimnis. München Johannes Reetz

Das Schreiben nicht verfaßt Nr. 52/1997, Leserbriefe zur Panorama-Meldung über Manfred Roeder und die Bundeswehr

IMO Zu dem auf Seite 13 abgedruckten Leser- Bundesverteidigungsminister Rühe brief teile ich mit, daß ich, der einzige Trä- „Eine starke Truppe“ ger des Namens „H.Achinger“ in Bad Ber- leburg, das Schreiben nicht verfaßt habe. Verteidigungsarmee zu verhindern. Ein Pa- Der Brief wurde mir untergeschoben. Sein radebeispiel deutscher „Vorsorgepolitik“. Inhalt ist auch falsch. Über die Tradition, Nun ist zu befürchten, daß der eigene Wer- den Zapfenstreich, der übrigens ohne Be- beslogan „Eine starke Truppe“ doch tat- teiligung der Bundeswehr stattfindet, im sächlich zur Realität wird. Rahmen des alljährlichen Schützenfestes Gießen Volkmar Schrader auf dem Schloßhof aufzuführen, läßt sich sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Eines hat Rühe mit seiner falsch verstan- Sie hat aber nichts mit Rechtsradikalismus denen Kumpanei garantiert geschafft: auch zu tun und gibt deshalb auch keinerlei An- noch den allerletzten Abiturienten von der laß, den veranstaltenden Verein oder den Bundeswehr abzuschrecken. Eigentümer des Schlosses in einen solchen Freiburg Henning Wellbrock Zusammenhang zu stellen. Zu beklagen ist nur, daß derjenige, der den vermeintlichen Wie Rühe angesichts des eklatanten Man- Mißstand mitteilte, nicht bereit war, sei- gels an Studien über die politische Orien- nen wirklichen Namen zu nennen. tierung seiner Offiziere zu der Einschät- Bad Berleburg (Nrdrh.-Westf.) H. Achinger

Symptomatisch für das Verhältnis mens, zu identifizieren. Er versteigt sich Nr. 41/1997, Bürgerrechtler: Wolf Biermann zum gar zu der Behauptung, die Verteidi- Freispruch der Havemann-Richter ger, gerissen wie sie waren, hätten den Richter Dönitz unter Hinweis auf seine Das Landgericht in an der wenig reputierliche Verwandtschaft un- Oder hat sich Mühe gegeben im „Ha- ter Druck gesetzt. Natürlich ist kein vemann-Verfahren“. Sechs Stunden Verteidiger so dämlich, so geschmack- dauerte die Urteilsbegründung durch los gewesen. Darauf mußten erst Bier- den Vorsitzenden Richter Joachim Dö- mann und der SPIEGEL kommen. Das nitz, nicht nur das ist einmalig in der ließe sich achselzuckend beiseite legen, jüngeren Justizgeschichte. Und seine wäre es nicht symptomatisch für das Ausführungen gingen mit der Rechts- Verhältnis von Justiz und Öffentlich- anwendung der angeklagten Juristen keit auf dem Feld der Vergangenheits- hart ins Gericht. Aber daß sie bloße verwesung. Es ist nicht Aufgabe der Ge- Marionetten der Stasi gewesen seien, richte, Vergangenes „aufzuarbeiten“. wie die Anklage es glauben machen Sie haben Recht zu finden. Ein kom- wollte, das ließ sich beim besten Willen pliziertes Unternehmen, bei dem sich nicht feststellen. Falsche Rechtsanwen- nicht die Stimmungslagen einer Öf- dung ist eben noch keine strafbare fentlichkeit bedienen lassen, in der nur Rechtsbeugung. So will es das Gesetz – noch Glaubensbekenntnisse ausge- nicht nur für DDR-Juristen. Interessant tauscht werden: „Unrechtsstaat“ versus ist nun die Reaktion aus dem Lager der „Siegerjustiz“. Das Landgericht hat heimlichen Nebenkläger, der Überreste versucht, sich von diesem Dilemma zu der einstigen Umgebung Havemanns. emanzipieren. Das Ergebnis provoziert „Freispruch als Schuldspruch“ über- Kritik. Aber es verdient Respekt. Of- schreibt Biermann seinen Kommentar fenbar fehlt hier die Öffentlichkeit, die zu dem Prozeß, von dem er, abgese- dazu fähig wäre. Und das zeigt: Der hen von seinen eigenen Auftritten als Versuch, mit Hilfe der Justiz Vergan- Zeuge, nichts mitbekommen hat. Und genheit zu bewältigen, beschädigt in ihm fällt nichts Besseres ein, als in bil- erster Linie die Justiz. Der Vergangen- liger autoritärer Manier das Urteil mit heit kommen wir damit nicht näher, der Person des Vorsitzenden Dönitz und wir werden sie auch nicht los. und den mit seinem vermeintlichen On- Berlin Dr. Stefan König kel, dem Hitler-Nachfolger gleichen Na- Verteidiger im „Havemann-Prozeß“

12 der spiegel 1/1998 Doppeltes Gesicht Nr. 51/1997, Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über die Kindermordprozesse in Oldenburg und Augsburg

Die Prozesse von Oldenburg und Augsburg fanden und finden in einem Klima statt, das durch eine auf Effekte, Emotionen und Entmenschlichung des Täters abzielende Berichterstattung aufgeladen wurde. Al- lenthalben steht das Schicksal der Eltern im Vordergrund. Die Aufgabe des Strafpro- zesses, nämlich die Wahrheitsfindung in be- zug auf Tathergang und Persönlichkeit des Täters, treten in den Hintergrund. Die Hauptverhandlung und ihr Umfeld dürfen nicht zu einem Ort umfunktioniert werden, an dem Hinterbliebene Trauerarbeit lei- sten, denn die somit öffentlich gemachten Emotionen verstellen den Blick auf das We- sentliche, nämlich die Person des Täters. Berlin Sascha Braun

Ich kann es nicht mehr hören/lesen: Das ewig gleiche Gesülze über die „armen“ Sexualmörder, denen unbedingt geholfen werden müsse – aber kein Wort über die ermordeten Kinder und ihre Eltern. Wer hilft denn den Familien der Opfer? Wo sind die Forderungen nach psychologischer Be- treuung, von ernsthafter Therapie ganz zu schweigen, für Mütter, Väter und Groß- eltern ermordeter Kinder? Würzburg Klaus D. Bätz AP Eltern der ermordeten Natalie Astner Öffentlich gemachte Emotionen

Zur Verhinderung von Wiederholungsta- ten haben die beiden Strafverfahren wenig geleistet, was Frau Friedrichsen zutreffend rügt. Das Wissen um das Täter-Profil ist aber der Schlüssel zur Prävention bei Mißbrauchsdelikten. Treffend hat Professor A. Gallwitz in der Sendung „Fahndungs- akte“ das „doppelte Gesicht“ des Pädo- philen charakterisiert. Fachkundigen ist die Persönlichkeitsstruktur der Täter durchaus vertraut. Sie sollte Allgemeinwissen sein, denn den Tätern ist kein schutzwürdiges In- teresse an ihrer „Tarnung“ zuzubilligen. Bullenhausen (Nieders.) H. Marquardt

der spiegel 1/1998 Briefe recht. Es gibt ganz klar eine äußerst akti- ve Ausgrenzung des Vaters, und es gibt ge- Moderne Hexenjagd? nauso einen Kampf des Mannes gegen die Nr. 51/1997, Klima: Treibhaus-Forscher ehemalige Partnerin (und umgekehrt). rücken von Horrorszenario ab Wenn die Kinder als Machtmittel einge- setzt werden, sind Frauen allemal in der Wer nur zu bedenken gab, wie schwierig es überlegenen Situation. Sehr oft herrscht ist, ein Geschehen vorherzusagen, das auf beiden Seiten eine große Hilflosigkeit komplizierter ist als die Ziehung der Lot- zu begreifen, was eigentlich passiert. Dies tozahlen, wer meinte, daß sich im Rau- auch deshalb, weil das aktuelle Tren- schen des Computerbildes doch keine Pol- nungsgeschehen durch Dynamiken aus der tergeister verbergen, wer dagegen auf das Herkunftsfamilie bestimmt ist und erst aus sprunghafte „natürliche“ Klimageschehen einer mehrgenerationalen Perspektive ein der vergangenen Jahrtausende hinwies, der Verstehen entwickelt werden kann. Die wurde mit Totschlagsargumenten mundtot Mediation ist sicher ein hilfreiches Verfah- gemacht. Die Klimakatastrophe ist ein Wis- ren, sie muß aber scheitern, wenn eine sol- senschafts- und Medienskandal ohne Bei- che tiefere Dynamik nicht erkannt und be- spiel in der Geschichte, eine moderne He- arbeitet wird. xenjagd, eine Form von Anmaßung und Berlin K. W. Blesken Verblendung, wie es sie tatsächlich seit dem Mittelalter nicht mehr gegeben hat. Seit 10 Jahren bin ich nun schon Hausmann Uwe M. Schmidt Beide Übel haben dieselbe Wurzel und habe mich während dieser Zeit um Nr. 51/1997, Debatte: Der alltägliche Überlebenskampf unsere drei Kinder gekümmert, da meine Ein Bericht des Schweizer Forschungspro- alleinerziehender Mütter Frau sehr gut verdient. Was ich während gramms „Klimaänderungen und Naturge- dieser Zeit erlebt habe, ist kaum zu be- fahren“ hat kürzlich festgestellt, daß die Dieser Artikel war wirklich längst überfäl- schreiben. Da ich als Hausmann den un- Anzahl der Wetterkatastrophen in Mittel- lig. Ich möchte noch anfügen, daß es ein tersten Status belege, haben auch unsere europa in den letzten 100 Jahren abge- Armutszeugnis für unseren Staat ist, der Kinder im sozialen Bereiche Nachteile. Ihr nommen hat. Nicht die Wetterereignisse mit hartnäckiger Konsequenz die Bezah- Bericht kommt mir sehr weltfremd vor, da haben sich besonders verändert, sondern lung jedes Strafzettels über 20 Mark durch- es die Gesellschaft bestimmt, daß es nicht die ununterbrochene Präsenz der Medien! setzt und bei der Eintreibung der Unter- Aufgabe des Mannes sei, sich um die Kin- Also Vorsicht bei Regen in Spanien oder haltszahlungen die Mütter und somit der zu kümmern, und wehe, wenn doch … Stürmen über der Nordsee. Sie sind keine natürlich auch die Kinder allein läßt. Bonn Mario Döhler „Vorboten“. Wetterextreme hat es immer München Eva Babernits gegeben und wird es immer wieder geben. Da bin ich nun. Eine Art personifizierter Köln W. v. Juterczenka Als einen Faustschlag in das Gesicht emp- Störfall des real existierenden Feminismus. VHS-Dozent für Meteorologie finde ich die Darstellung, Väter würden Ein alleinerziehender, nicht- sich nicht um ihre Kinder kümmern wol- ehelicher Vater. Ich tue dies len. In einem Land, das durch eine femini- gern, arbeite halbtags, lebe stisch geprägte Unrechtsprechung zum unter dem Existenzmini- Sorgerecht einem Vater kaum eine Chan- mum und freue mich, wenn ce läßt, das Sorgerecht gegen den Willen Geld von der Unterhaltsvor- der Frau auszuüben, haben leider zu viele schußkasse kommt. Hätten Väter (bisher) resigniert. Dies soll und muß andere mir bekannte zahllo- sich ändern! Und 1998 ist Wahljahr, wir Vä- se Väter auch diese Chance, ter werden uns bemerkbar machen! müßten sich in der Opfer- Erlangen Volker Leiste rolle weidende Emanzen durch eigene Arbeit ihren Indem die Autorin Männer und Väter ab- Lebensunterhalt sichern und qualifiziert und das alte Lied der verant- Unterhalt für „ihre“ Kinder wortungslosen „Drückeberger“ anstimmt, zahlen. Soweit darf’s nun

wird sie ihrem eigenen Anspruch nicht ge- wirklich nicht kommen! AP Ladenburg Uwe Wagenfeld Überflutung in Spanien: Vorsicht bei Regen

Beide Übel, die in den Artikeln von Ma- Kein ernsthafter Forscher hat jemals be- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für tussek und Kartte zum Ausdruck gebracht hauptet, er befände sich im Besitz klarer Panorama, CSU,CDU,Parlament, Zeitgeschichte, Justiz: Dr. Gerhard werden, kommen oft vor und haben doch Erkenntnisse und verbindlicher Zahlen. Spörl; für Aufbau Ost, Garzweiler, Bürokratie, Islamisten: Gunther Latsch; für Steueraffären,Trends, Medien, Geld,Telekommunikation, dieselbe Wurzel: Während die potentielle Wer ständig solches Zahlenmaterial nach- Asien, Filmindustrie, Wirtschaftspolitik: Gabor Steingart; für Gleichberechtigung der Frauen in den letz- fragt und wenn nötig auch selbst nach oben Abenteuer, Affären, Panorama Ausland, Türkei, Südkorea, Afrika, ten Jahrzehnten mit großen Schritten vor- korrigiert, sind die Medien.Wenn sich dann Großbritannien, Balkan, USA: Dr. Erich Follath; für Leichtathletik (S. 104), Boxen: Alfred Weinzierl; für Grippe, Titelgeschichte, Prisma, angekommen ist, sind sie es auf der ande- später nur die „Katastrophe light“ ab- Computer, Umwelt, Astronomie, Physik: Jürgen Petermann; für ren Seite, die die Verantwortung bei der zeichnet, dann wird dies von den gleichen Szene, Wunderkinder, Bestseller, Theater, Kino, Schauspieler, Kinderaufzucht und -erziehung überneh- Skribenten benutzt, um die Wissenschaft Ausstellungen, Pop, Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für men und beruflich zurückstecken, sobald zu diskreditieren. namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für sich Nachwuchs ankündigt. Daß dieser Ver- Flensburg Joachim Seeländer Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: Rainer Sennewald; für zicht bei einer Trennung entweder in Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Chef vom Dienst: Horst Hilflosigkeit oder Verbitterung mündet, veröffentlichen. Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) darf nicht überraschen. TITELILLUSTRATION: Ludvik Glazer-Naudé für DER SPIEGEL Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Post- Köln Katarina Steinwachs karte der Firma Bauwerk, Leipzig, beigeklebt.

14 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Panorama

bisher von Soldaten der US-Armee erfüllt wurden. Zu Übungen dürfen die „Patriot“-Einhei- ten schon jetzt innerhalb des Nato-Gebiets verlegt werden. Der muß nur zustimmen, wenn die Nato den tatsächli- chen scharfen „Einsatz“ verlangt oder wenn die USA die Raketenkräfte als Teil ei- ner Koalition mit Uno-Mandat, etwa in ei- nem Konflikt mit dem Irak oder Iran, ein- setzen wollen. „Patriot“-Raketen taugen begrenzt auch zur Abwehr von Raketen. Anläßlich des Golfkriegs hatte Bonn Israel daher 1991 eine „Patriot“-Einheit – ohne Personal – zur Bekämpfung irakischer „Scud“-Rake- ten spendiert. Der neue Job für deutsche „Patriots“ ist in einem Vertrag mit den USA geregelt, der am 1. Januar in Kraft tritt. Darin wird fest- gelegt, daß insgesamt 24 „Patriot“-Einhei- ten, die Washington der Bundeswehr bisher zur Verfügung gestellt hatte, bis zum Jahr 2005 in deutsches Eigentum übergehen. Als Gegenleistung versprach Bonn den Amerikanern, daß 12 dieser Flugabwehr-

I. WAGNER Einheiten fortan „Luftverteidigungsauf- Flugabwehrbatterie „Patriot“ der Bundeswehr gaben ohne die bisherige räumliche Be- grenzung“ sowie „Verpflichtungen“ der AUSLANDSEINSÄTZE Vereinigten Staaten gegenüber der Nato erfüllen würden. Die Bundeswehr erhält zudem 21 „Ro- Neuer Job für „Patriot“ land“-Raketensysteme zurück, die sie den Amerikanern zwecks Verteidigung eu- undesverteidigungsminister Volker werden künftig auch fern der Heimat ein- ropäischer Flugplätze gegen Tiefflieger BRühe setzt in aller Stille die Auswei- gesetzt. Ein neuer Vertrag mit Washington überlassen hatte. 6 weitere „Roland“ blei- tung der Out-of-area-Einsätze seiner Sol- regelt, daß die deutschen Soldaten nicht ben Eigentum der USA. Die deutsch-fran- daten fort. „Patriot“-Flugabwehr-Einheiten nur im Nato-Raum, etwa in der Türkei oder zösischen Raketen sollen nur noch „Test- der Bundeswehr, die bisher ausschließlich in Süditalien, sondern auch außerhalb des zwecken“ dienen – zur Simulation feind- zur Verteidigung Süddeutschlands dienten, Nato-Gebiets Aufgaben übernehmen, die licher Flugabwehr.

Das Zitat PARTEIFINANZEN Hubbert: Smart hat den Elchtest viele hundert Male bestanden. Neu berechnet Frage: Ist er dabei auch mal umgekippt? ie CSU hat, ähnlich wie die von 10,5 Hubbert: Er ist dabei auch in kritische DMillionen Mark Rückforderung be- Situationen geraten. drohte FDP, Schwierigkeiten, die für 1998 anstehenden Landtags- und Bundestags- Frage: Umgekippt? wahlkämpfe zu finanzieren. Nach einer Hubbert: Er ist nicht umgekippt. Auswertung der jüngsten Rechenschafts- Frage: Aber? berichte wies die Bilanz Ende 1995 ein Mi- nus von 22,4 Millionen Mark aus. Diese un- Hubbert: Nein nicht, kein Aber. Konnte gewöhnlich hohe Verschuldung wurde 1996 nicht umkippen. durch eine neue Berechnungsmethode be- Frage: Warum nicht? reinigt: Das Haus- und Grundvermögen der Hubbert: Weil er mit Stützrädern gefah- CSU-Zentrale wird seither nach dem Ver- ren ist. kehrswert auf 40 Millionen taxiert (1995: 14,1 Millionen). Frage: Und ohne Stützräder? So kann nunmehr ein Reinvermögen von

Hubbert: Ohne Stützräder wäre er in ex- 5,2 Millionen ausgewiesen werden. Durch EINBERGER / ARGUM T. tremen Situationen in Schwierigkeiten diese Aktivierung der stillen Reserven in CSU-Zentrale in München gekommen wie jedes Auto. der Bilanz der Landesleitung haben die Christsozialen aber tatsächlich keine wei- weitaus größte Teil des Zuwachses (7,6 Mil- Jürgen Hubbert, Pkw-Vorstand bei Mercedes und teren liquiden Mittel bekommen. Die Spen- lionen) aber ging in die Finanzierung Präsident des Verwaltungsrats von MCC, den Ent- den erhöhten sich 1996 zwar um mehr als des Kommunalwahlkampfs bei Orts- und wicklern des Kleinwagens Smart. Das Interview führte SPIEGEL TV. 8 Millionen Mark auf 22,6 Millionen, der Kreisverbänden.

16 der spiegel 1/1998 Deutschland

EUROPA ab, „von der Vorbereitung der Türkei auf Am Rande den Beitritt“ zu sprechen. Genau diese For- Bonns harte Linie mulierung setzte jedoch der Ratspräsident, Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, Rucke sanft nterne Papiere der Bundesregierung be- mit italienischer, französischer und spani- Ilegen, daß Deutschland heftiger als an- scher Unterstützung am Ende durch. Gegen Die Lage war ernst, dere EU-Staaten gegen eine schnelle Auf- den Widerstand Bonns offerierten die aber modern. Ein nahme der Türkei votiert hat. Ankaras Mi- EU-Chefs der Türkei zudem, genau wie bei „Gefühl der Läh- nisterpräsident Mesut Yilmaz hatte in den den elf anderen Beitrittskandidaten, auf mung“ liege über letzten Tagen Helmut Kohl persönlich die „Annäherung der Rechtsvorschriften“ unserer Gesell- dafür verantwortlich gemacht, daß die Tür- sowie die „Übernahme des Besitzstands schaft, eine „un- ken im Beitrittsprozeß jetzt sogar schlech- der Union“ hinzuarbeiten. glaubliche mentale ter dastehen als Rumänen oder Bulgaren. Nur einmal setzte sich Bonn voll durch: Depression“. Und „Ein EU-Beitritt der Türkei ist kurz- oder bei der Frage, ob der Türkei versprochen vor uns? „Ein langer Weg der Refor- mittelfristig nicht möglich“, heißt es kate- werden soll, ihre Beitrittsreife „regel- men.“ Also sprach, im Frühling 1997, gorisch in einem Verhandlungspapier des mäßig“ zu prüfen. Das Kommuniqué ver- der Bundespräsident Roman Herzog Auswärtigen Amts (AA), das vier Tage vor spricht nur unverbindlich und ohne zeitli- im Hotel Adlon zu Berlin. Und tat dem Luxemburger Gipfel Anfang Dezem- che Festlegung, es werde „überprüft“. Ei- kund: „Durch Deutschland muß ein ber verfaßt wurde. Deshalb sollte die EU nen regelmäßigen Check „schon jetzt“ an- Ruck gehen.“ unbedingt „den Eindruck vermeiden, als zubieten, so hieß es warnend im AA-Papier, Der Ruck blieb im Sack, und auf dem ob es jetzt konkret um die Vorbereitung könne „falsche Erwartungen wecken“ und langen Weg der Reformen formierte auf Beitrittsverhandlungen ginge“. Aus- das Verhältnis von Türkei und Union sich ein langer Stau; nichts ging mehr. drücklich riet das Auswärtige Amt davon „unnötig belasten“. In Deutschland ruckt es seit Jahren schon allenfalls dann, wenn ein Auto- fahrer beim „Blitzeis“ am Laternen- pfahl zu stehen kommt. So kam es, daß Roman Herzog einer- seits Wind säte und Pocken erntete; an- dererseits aber nicht in den Wind ge- pfiffen hatte. Denn sein „Ruck durch Deutschland“ und der von ihm be- klagte „Reformstau“ wurden „Worte des Jahres“. Zu diesen kürte sie eine „Gesellschaft für deutsche Sprache“ in Wiesbaden, nicht ihrer Schönheit wegen, sondern weil sie das „politische Leben“ in die- sem Land und Jahr charakterisierten. Leben? Na gut! Was der Gesellschaft für deutsche Sprache allerdings ent- ging, ist die Tatsache, daß der „Ruck“ ein Wort des Jahres 1806 ist. „Wir stehen in einer wichtigen Zeit- epoche“, schrieb einer damals, „einer Gärung, wo der Geist einen Ruck ge- tan, über seine vorige Gestalt hinaus- T. CHESNOT / SIPA Luxemburger EU-Gipfel im Dezember gekommen ist und eine neue gewinnt.“ Es war der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, und mit dem Geist- REGIERUNG im Bundestag behandelt werden“, so ein Ruck meinte er die Französische Re- Teilnehmer der Drei-Parteien-Runde. volution, zu deren Jahrestagen er sich Steuern im Wahlkampf Vor allem die FDP hatte massiv auf den Ab- stets und gern eine Bouteille Roten bruch der Gespräche mit den Sozialdemo- spendierte. ie konservativ-liberale Koalition in kraten gedrängt und wieder einmal mit Drängende Fragen brechen plötzlich DBonn will der Opposition keine neuen Konsequenzen für den Bestand der Koali- auf: Ist Herzog etwa Hegelianer? Verhandlungen über eine Steuerreform an- tion gedroht. Aber auch CSU-Chef Waigel Braucht Deutschland eine Französische bieten. Zwar haben Bundesfinanzminister war nur noch mit Unbehagen der von Wolf- Revolution? War der „Tic Tac Toe“-Be- (CSU) und der Vorsitzende gang Schäuble vorgegebenen Linie gefolgt. such beim Bundespräsidenten schon der Unionsfraktion im Bundestag, Wolf- Große Teile der CSU sind seit langem ein Signal der Gärung? Oder kann nur gang Schäuble (CDU), öffentlich noch in gegen weitere Steuergespräche mit den etwas rucken und über seine vorige Ge- den letzten Tagen einen neuen Anlauf für Sozialdemokraten. stalt hinauskommen, was Geist ist oder Januar 1998 angekündigt. Tatsächlich aber Nach der Ankündigung des SPD-Chefs Geist hat? hatte sich die Koalitionsführung schon , seine Partei werde einer Ohne Antwort müssen wir vom Jahr am 18. Dezember in einem „Strategie- höheren Mehrwertsteuer zur Finanzierung und seinen Worten scheiden. Rucke gespräch“ unter Leitung von Bundeskanz- von Einkommensteuersenkungen nicht zu- sanft. Uns bleibt das bekannte Gefühl ler Helmut Kohl darauf verständigt, stimmen, konnten sich die Gegner neuer der Lähmung, die unglaubliche menta- die Reformbemühungen einzustellen. Das Kompromißversuche im Regierungslager le Depression. Der Ruck-Stau eben. Steuerthema soll nun im Wahlkampf „statt nun offenbar durchsetzen.

der spiegel 1/1998 17 Panorama Deutschland

JURISTEN Nah an der Wirklichkeit uch Studenten der Jurisprudenz ver- Afügen über praktische Erfahrungen mit der Kleinkriminalität: Mehr als die Hälfte aller Jura-Erstsemester der Univer- sität Greifswald brach im vergangenen Jahr die Gesetze – 78 Prozent der männlichen, 48 Prozent der weiblichen Studienanfän- Norddeutscher Bund/Deutsches Reich, Deutsches Reich, 1935 – 1945 (verboten) ger. „Fast jeder zweite ist schwarz gefah- 1867 – 1921 (eingeschränkt erlaubt) ren“, sagt Kriminologieprofessor Frieder Dünkel, der regelmäßig zu Semesterbe- ginn seine Hörer befragt. An zweiter Stel- le rangiert Alkohol am Steuer, wobei drei- mal so viele Männer wie Frauen berauscht fuhren. Gestohlen hat immerhin jeder sieb- te der Uni-Neulinge. 12 Prozent der jungen Männer gaben Körperverletzung als De- likt zu – dagegen hatte nur eine Studentin zugeschlagen. Fast die Hälfte der Befrag- ten ist auch schon Opfer von Kriminalität geworden. Der Anteil der Studenten war Deutsches Reich, 1933 – 1935 (derzeit er- Deutsches Reich, 1922 – 1933 (derzeit er- beinahe doppelt so hoch (64 Prozent) wie laubt) laubt) der Studentinnen (33 Prozent). „Erfahrung mit Kriminalität, egal ob als Opfer oder KRIEGSFLAGGEN Täter, hängt in erster Linie vom Lebensstil ab“, sagt Dünkel. Raufen etwa sei immer Symbol am Mast noch Männersache. al schmückte sie eine Wand der Deut- Das Tragen und Zeigen dieses verfassungs- Mschen Zentrale für Tourismus in New feindlichen Symbols ist heute nach dem York, dann flatterte sie am Mast im Garten Strafgesetzbuch (Paragraph 86a) verboten von Karl Dersch, seinerzeit Vorstandsmit- – das wissen auch die Neonazis, weshalb sie glied der Daimler-Benz-Tochter Dasa. Die sich des alten, der Reichskriegsflagge ähn- Bundeswehr hält sie in Ehren. Und selten lichen Tuchs bemächtigten. Sieben Bun- fehlt sie, wenn Neonazis feiern – die Kriegs- desländer haben bereits darauf reagiert: flagge des Norddeutschen Bundes und des Berlin, Brandenburg, Hessen, Nordrhein- späteren Deutschen Reiches. Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saarland Die schwarz-weiß-roten Farben blieben das und Sachsen-Anhalt ahnden die demon- Symbol der Rechten auch in der Weimarer strative Verwendung der Kriegsflagge als Republik, die sich in Erinnerung an die de- Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. mokratischen und bürgerlichen Freiheits- Nicht so die Bundeswehr. Zwar gab es schon bestrebungen des 19. Jahrhunderts zwar 1993 im Verteidigungsministerium Pläne, schwarz-rot-goldene Staatsfarben gab – das das Zeigen der Flagge zu verbieten, weil Militär durfte aber weiter den alten Stoff die Öffentlichkeit sie zunehmend nicht als zeigen. Bis 1922 eine neue Flaggenordnung Teil der Traditionspflege, „sondern als Sym- in Kraft trat, mit der – als Tribut an die Re- bol des Rechtsextremismus und seiner ge- publik – die Farben Schwarz-Rot-Gold ins walttätigen Erscheinungsformen“ einstufe. linke obere Eck rückten. 1933 verschwan- Minister Rühe bleibt bis heute dabei, daß den die „demokratischen“ Streifen wieder, „eine Verwendung der Flagge mit rechts-

bis 1935 die eigentliche „Reichskriegsflag- extremistischem Hintergrund im Bereich A. MULTHAUPT ge“ mit Hakenkreuz gehißt wurde. der Bundeswehr nicht festzustellen“ sei. Universität Greifswald (Bibliothek)

VERSICHERUNGEN übliches Vorgehen bei Schadensersatzklagen. Die Advokaten be- riefen sich darauf, daß die Zeugen in Europa leben und die not- Merkwürdige Rücksicht wendigen Dokumente in europäischen Sprachen verfaßt sind. Nach amerikanischem Recht könne der Prozeß deshalb nicht in ie Allianz versucht, die Schadensersatzklage abzuwenden, die den USA geführt werden. DHolocaust-Überlebende angestrengt haben. 29 Nazi-Opfer Den Verdacht, die Allianz wolle damit nur den hohen Schadens- verlangen von vier Allianz-Töchtern und zwölf anderen europäi- ersatzforderungen ausweichen, die in den USA möglich sind, wies schen Assekuranzen die Zahlung von 28,5 Milliarden Mark Ent- ein Allianz-Sprecher zurück. Ein Prozeß dauere für die betagten schädigung. Sie werfen den Versicherern vor, Policen einbehalten Holocaust-Überlebenden „zu lange“. Das Unternehmen wolle zu haben, die Juden in der Vorkriegszeit abgeschlossen hatten. berechtigte Ansprüche lieber anders regeln. Bislang hat sich die Kürzlich lehnten die Anwälte der Allianz-Töchter die Zuständig- Allianz bereit erklärt, sieben Nazi-Opfer beziehungsweise deren keit des New Yorker Bezirksgerichts ab, ein in den USA durchaus Erben zu entschädigen. Maximale Summe: 10000 Mark.

18 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Panorama Deutschland

FERNSEHEN „Champagner, Wein oder Sherry“ Der Schauspieler Harald Juhnke, 68, über besser machen. Ich hätte selbst gern den Alkoholkonsum auf dem Bildschirm und Butler so gut wie Freddie Frinton gespielt. den Fernsehklassiker „Dinner for one“ in Aber 1963 hatte ich andere Verpflichtun- den Dritten Programmen der ARD gen an der Berliner Freien Volksbühne. SPIEGEL: Ein Glück, andernfalls müßten Sie SPIEGEL: Herr Juhnke, sehen Sie sich auch seit über 30 Jahren nicht nur über angeblich „Dinner for one“ an? artengeschützte Tigerköpfe stolpern, son- Juhnke: Selbstverständlich, es ist ein wun- dern auch eine Menge Alkohol schlucken. derbares Stück. Das kann man einfach nicht Juhnke: Hören Sie mir auf mit Alkohol. Das Stück ist nicht gerade ein gutes Vorbild

für die Jugend im Umgang mit berau- NDR schenden Getränken. In sowenig Sendezeit „Dinner for one“ lassen sich kaum mehr Flaschen leeren. Wenn ein europaweites Werbeverbot SPIEGEL: Immerhin gibt der Butler auch An- nicht nur für Tabak, sondern auch für regungen für alkoholfreies Vergnügen: Er alkoholische Getränke kommt, wird es trinkt Wasser aus der Blumenvase. „Dinner for one“ schwer haben, im Pro- Juhnke: Davon ist besonders abzuraten. Zum gramm zu bleiben. Dinner – Chicken, Fish und eine Mulliga- SPIEGEL: Soll das TV-Besäufnis verboten tawny-Suppe – paßt einfach kein Blumen- werden? wasser. Glauben Sie mir, da ist Champagner, Juhnke: Um Gottes willen, dann müssen wir Wein oder Sherry einfach angemessener. eine Volksabstimmung für das Stück orga- SPIEGEL: Es fehlen ja, ungewöhnlich für eine nisieren. Wollen Sie Miss Sophie und Mil- britische Tafelrunde, vollständig hochpro- lionen Zuschauern den Abend verderben? zentige Getränke. James muß doch ordentlich einen in der Juhnke: War ja auch ein deutscher Regis-

AP Hacke haben für „the same procedure as seur.Aber man sieht, daß es auch ohne har- Juhnke last year“. te Sachen geht.

WELTAUSSTELLUNG ausstellung einbringen. Der Vorstand des INTERNET Auto- und Rüstungskonzerns entscheidet Daimler-Benz zur Expo am 9. Januar über einen bereits ausgehan- PC für den Staatsanwalt delten Vertrag, nach dem Daimler-Benz als ie finanziell angeschlagene Weltaus- „World Partner“ der Expo auftreten darf. er sich aus dem Internet Kinderpor- Dstellungsgesellschaft Expo GmbH darf Der Konzern will in einer eigenen Halle Wnographie besorgt oder selber sol- wieder hoffen: Vor Weihnachten unter- eine „Kinderwelt“ errichten. Erst kürzlich che Dateien verschickt, muß häufig selbst schrieb die Gesellschaft einen Sponsoren- mußten der Bund und das Land Nieder- dann nicht mit einem Gerichtsverfahren vertrag mit der hannoverschen Continental sachsen 500 Millionen Mark an zusätzli- rechnen, wenn er von der Polizei erwischt AG, die sich beim sogenannten Themen- chen Bürgschaften für die Expo bewilligen. wird. Theoretisch droht im Höchstfall ein park im Bereich Verkehr und Mobilität prä- An Einsparungen bei Themenpark und Kul- Jahr Haft; schon der Besitz von Kinder- sentieren will. Conti zahlt dafür 4 Millionen turprogramm von rund 70 Millionen Mark pornos ist strafbar, dazu gehört auch das Mark in die Expo-Kasse. Mindestens wei- werde man dennoch nicht vorbeikommen, Speichern von Bildern auf der Festplatte. tere 30 Millionen Mark soll das Engage- erklärte Expo-Geschäftsführer Reinhard Die Staatsanwaltschaften stellen die Er- ment der Daimler-Benz AG für die Welt- Volk: „Der Kostendruck bleibt.“ mittlungsverfahren allerdings oft ein, so- fern der Täter nicht vorher einschlägig auf- gefallen war. In Niedersachsen etwa rechnet die Staats- anwaltschaft Hannover für 1997 mit fast 500 Ermittlungsverfahren; etwa 40 Prozent davon werden gegen ein Bußgeld von nor- malerweise 3000 bis 4000 Mark eingestellt. Das hat Vorteile für alle Beteiligten: Der Täter zahlt eine empfindliche Buße und muß obendrein in der Regel auch noch der Einziehung seines Computers zustimmen. Dafür aber gilt er nicht als vorbestraft, ein peinlicher Gerichtsauftritt bleibt ihm er- spart. Und die Staatsanwälte profitieren gleich doppelt: Die Verfahrenseinstellung läßt ihnen Zeit für andere Aufgaben, und die schlecht ausgestatteten Strafverfolger können ihre Behörden mit den eingezoge- J. LUEBKE Expo-Gelände (Modell) nen Computern aufrüsten.

20 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Deutschland FOTOS: P. LANGROCK / ZENIT P. FOTOS: Ruine des alten Kraftwerks Süd, neue Phosphorchemiefabrik in Bitterfeld: Von der DDR-Giftküche zum Wirtschaftswunderlabor Ost

AUFBAU OST „Speerspitze des Wandels“ Sinkende Wachstumsrate, steigende Arbeitslosenquote – der Aufbau scheint vor dem Ziel am Ende. Doch inmitten des Niedergangs wachsen Inseln einer Hochleistungsökonomie heran. In Ostdeutschland, so ein Ökonom, „wird getestet, wieviel Ungleichheit die Gesellschaft aushält“.

iefschwarz färbt der Ruß eines Jahr- ist eingeplant. Die entgiftete und planierte miewerkern im Sanierungseinsatz gelun- hunderts die Ziegel. Wo die blinden Erweiterungsfläche steht bereit, neben der gen, was einst unmöglich schien. Nach Gift TFensterscheiben der Fabrikhalle zer- zum Abriß bestimmten alten Chlorhalle. und Untergang steht jetzt Aufbruch im Pro- borsten sind, gibt das Gemäuer den Blick Kontraste wie diese erleben Besucher in gramm von Bitterfeld – eine Stadt, so „Bild“, frei auf ein dunkles Gewirr alter Kessel dieser Gegend überall. Verrottete Labor- „auf die wir jetzt stolz sein können“. und Rohre. Hier war die Vorhölle der ost- gebäude, Schrottberge – und daneben neue Akzo baut hier, und auch die Filiale des deutschen Chemieindustrie, eine Chlorfa- Produktionshallen, auf deren Dächern die italienischen Chemie-Riesen Montedison brik aus dem Jahr 1894, in der noch bis Logos von Weltkonzernen leuchten: Der wächst. Bayer ist mit vier Fabriken am Ort, 1989 Hunderte von Arbeitern ihre Ge- vielfache Wechsel zwischen Abbruch und unter anderem mit der Aspirin-Produktion sundheit riskierten. Aufbau erstreckt sich über mehrere Qua- für den gesamten Weltmarkt. Der Hanau- Um Chemie geht’s auch gleich nebenan: dratkilometer. Denn hier in Bitterfeld-Wol- er High-Tech-Konzern Heraeus, der zu- Übersichtlich stehen Kessel in Reih und fen, wo einst 33000 Menschen das größte nächst mit nur 70 Millionen Mark einstieg, Glied, kein Wölkchen entfleucht dem kom- Chemiekombinat der DDR und die Film- um hochreines Quarzglas für Glasfaser- plexen Leitungssystem zwischen den Tanks fabrik Orwo betrieben, wo blinde Plan- kabel herzustellen, plant jetzt schon die und dem Produktionsgebäude. Blumen- Exekutoren die Bevölkerung jahrzehnte- vierte Erweiterungsstufe und wird dem- beete und Rasenflächen zieren das lang mit Schadstoffcocktails aus maroden nächst bei 600 Millionen Mark Investi- weißlackierte High-Tech-Containment für Vorkriegsanlagen vergifteten, wächst heu- tionssumme ankommen. Im nächsten Jahr die gefährlichen Chemikalien, die hier ge- te einer der modernsten Industriestandor- muß auch der Rohstofflieferant nachzie- wonnen werden. te Europas heran. hen, die zum Veba-Konzern gehörende 85 Millionen Mark hat der Chemiekon- Unter Einsatz von gut drei Milliarden Hüls AG. zern Akzo Nobel investiert, um kasachi- Steuermark ist Treuhand-Managern, Lan- Bisher haben rund 370 Unternehmen schen Phosphor zu verarbeiten. Wachstum despolitikern und an die zehntausend Che- über zwei Milliarden Mark investiert und

22 der spiegel 1/1998 knapp 10 000 Arbeitsplätze ge- thar Späth in Jena, die Automobil- schaffen. Die Netzwerkstruktur bauer Opel und VW in Eisenach der Chemiebranche, wo eine und Chemnitz und eben die Milli- Firma die Ab- und Beiprodukte ardenprojekte im Chemiedreieck der nächsten verarbeitet, wird Buna-Leuna-Bitterfeld. Hinten lie- den Rest heranlocken. „In späte- gen die seit je strukturschwachen stens 15 Jahren wird das gesamte ländlichen Regionen wie Vorpom- Gelände wieder besiedelt sein“, mern oder die Uckermark. versichert Peter Breitenstein, der Bundespräsident Roman Herzog im Vorstand der Treuhand-Nach- formulierte es positiv: Die „hohe folgebehörde BvS für die Veränderungsbereitschaft“ der Ost-

Chemiebranche verantwortlich ist. A. SCHOELZEL deutschen gebe dem Standort Die Zahl der Jobs könne sich ver- Kanzler Kohl in Bitterfeld*: Kapitalismus ohne Arbeit Ost die Chance, zur „Speerspitze doppeln. des Wandels“ zu werden. Rüdiger Von der DDR-Giftküche zum ostdeut- Produktion, wenig Arbeit.“ Da komme Pohl, Präsident des Instituts für Wirt- schen Wirtschaftswunderort, glückliches „die wirkliche soziale Not erst jetzt“. schaftsforschung in Halle (IWH), sieht es Bitterfeld also? Das gilt nicht nur rund um die früheren nüchterner: „Hier wird getestet, wieviel „Das können wir leider nicht behaup- Chemiekombinate. Bitterfeld ist überall Ungleichheit die Gesellschaft aushält.“ ten“, stellt Bürgermeister Werner Rauball im deutschen Osten. Acht Jahre nach dem Bei aller Widersprüchlichkeit der Ergeb- klar. Gewiß, die Investitionsdichte im Zusammenbruch des DDR-Regimes haben nisse läuft der Umbauprozeß mit einer Landkreis sei rekordverdächtig, aber auch die Erben der Planwirtschaft zwischen Ro- Wucht, die in Europa ohne Beispiel ist. Bis eine weitere Zahl signalisiere ostdeutsche stock und Suhl vor allem eines gemeinsam: Ende 1996 investierten allein Bahn und Spitze: 13700 Menschen sind arbeitslos ge- Sie leben in einem ökonomisch zerrisse- Bund 146 Milliarden Mark in neue Schie- meldet, jeder vierte Erwerbsfähige sucht nen Land und einer sozial tief gespaltenen nentrassen,Autobahnen und Bundesstraßen Arbeit, Tendenz noch immer steigend. Gesellschaft. Während Teile der Bevölke- in Ostdeutschland. 45 Milliarden Mark gab High-Tech zum Trotz hat Rauball sogar rung und ganze Regionen immer weiter die Telekom für die Installation von über eine „furchtbare Resignation“ ausgemacht. abrutschen, drängen andere technisch und fünf Millionen neuer Telefonanschlüsse aus, In den Übergangsjahren waren immer- organisatorisch an die Fortschrittsfront. der Osten verfügt jetzt über eines der hin bis zu 10000 ehemalige Kombinatsar- Ganz vorn sind jene traditionellen Re- modernsten Telefonsysteme der Welt. beiter als ABM-Kräfte mit der Beseitigung viere, in denen Bundes- und Landesregie- Weitere 100 Milliarden Steuermark flos- der 630 Altanlagen beschäftigt. Doch die- rungen klassische Industriepolitik betrie- sen als Anschubhilfen in die Privatwirt- se Programme sind nun ausgelaufen. Der ben haben: die Chipfabriken von Siemens schaft und mobilisierten etwa das Fünffa- Chemieingenieur Jürgen Dunkel, als Sa- und AMD in Dresden, der erfolgreiche che an Investitionen. Insgesamt, schätzt das nierungsorganisator einer der vielen ener- Staatskonzern Jenoptik des baden-würt- Münchner Ifo-Institut, wurden seit der Wie- gischen Macher des Wunders von Bitter- tembergischen Ex-Ministerpräsidenten Lo- dervereinigung über eine Billion Mark in feld, konstatiert ironisch: „Jetzt haben wir Ostdeutschland investiert. Keines der Mil- einen wirklich modernen Standort: viel * Im Oktober bei der Firma Heraeus Quarzglas. liardenprogramme vermochte jedoch den

der spiegel 1/1998 23 Deutschland Kahlschlag auszugleichen, der die DDR- aus dem VEB-Erbe kaum eigenständige beinahe übereinstimmend klagt die Mehr- Wirtschaft nach der Währungsunion von Großunternehmen mit Sitz in den neuen heit der befragten Führungskräfte über man- 1990 unvermeidlich heimsuchte. Ländern hervorgegangen sind. Bei der von gelnde Unabhängigkeit. Windolfs Resümee: Trotz der gigantischen Neuinvestitionen der Kohl-Regierung forcierten Privatisie- „Früher bekamen sie ihre Weisungen von arbeiten von einst 3,4 Millionen heute erst rung um jeden Preis wurden lediglich die der Plankommission, jetzt aus den Konzern- wieder gut eine Million Ostdeutsche im Kombinate zerlegt, die Einzelbetriebe dann zentralen in oder München.“ verarbeitenden Gewerbe. Während etwa an diejenigen verkauft, welche die größten, So ist der deutsche Osten hauptsächlich ein Fünftel der deutschen Bevölkerung in aber meist unverbindlichen Versprechun- ein Land der Zweigwerke geworden, „die den neuen Ländern lebt, wird dort erst gut gen über Jobs und Investitionen machten. verlängerte Werkbank des Westens“, nennt ein Zehntel der gesamtdeutschen Wirt- Das Ergebnis ist eindeutig: Der Osten es Unternehmensberater Roland Berger. schaftsleistung erbracht. gehört überwiegend dem Westen und wird Darum schlagen sich die vielen milliarden- Noch 1996 sah es – zumindest statistisch auch von dort gesteuert. Fast drei Viertel schweren Großinvestitionen kaum in der – so aus, als wäre es bis zu gleichen Ver- aller ostdeutschen Unternehmen, so ergab Arbeitsmarktstatistik nieder. hältnissen nur eine Frage der Zeit. Immer- eine Untersuchung des Trierer Sozialwis- Denn Jobs bringt heute nicht mehr die hin legte die Ost-Ökonomie über Jahre senschaftlers Paul Windolf, befinden sich Produktion, sondern die Dienstleistungs- doppelt bis dreimal so schnell zu wie die im Besitz westdeutscher oder ausländi- palette drumherum, von der Forschung bis Wirtschaftsleistung im Westen. Inzwischen scher Unternehmen und Privatleute. Bei zum Finanzmanagement. Dieser soge- aber sank die Wachstumsrate Ost zum er- den größeren Betrieben mit mehr als 400 nannte Overhead wächst aber zumeist stenmal wieder unter die westdeutsche. Mitarbeitern sind nur sieben Prozent von rund um die Zentralen – die Arbeitsplätze Damit vergrößert sich der wirtschaftliche Eigentümern im Westen oder im Ausland fallen also großenteils im Westen an. Abstand zwischen Ost und West sogar wie- unabhängig. Daß Wachstum darum im Osten noch der. Und während 1998 im Westen erstmals Problematisch daran ist weniger die mo- weniger das Arbeitsvolumen steigert als seit sechs Jahren wieder mehr Jobs im An- ralische Frage, ob den Bürgern der Ex- anderswo, bekam auch Helmut Kohl jüngst gebot sein sollen, prognostizierten die DDR nicht mehr von ihrem eigenen Pro- in Bitterfeld noch einmal deutlich vorge- sechs führenden Wirtschaftsforschungsin- duktivvermögen zugestanden hätte. Viel führt. Angereist, um die Eröffnung eines stitute Ende Oktober in ihrem Herbstgut- schwerer wiegt, daß die einseitige Eigen- großen Glaswerkes des US-Konzerns achten dem Osten noch einmal den Verlust tumsstruktur jetzt das Wachstum hemmt. Guardian zu feiern, bekam der Kanzler von 235000 Arbeitsplätzen bis Ende 1998. Denn nun mangelt es an Unternehmen, Anschauungsunterricht in Sachen Kapita- Behält also Sachsens Ministerpräsident die, aus sich selbst heraus und unabhängig, lismus ohne Arbeit. recht, der schon 1992 sag- im Wettbewerb um Marktanteile antreten. Als der Kanzlertroß die vom Maschinen- te, der Lebensstandard des Westens sei ein „So etwas gibt es in keiner anderen Re- lärm erfüllte Halle betrat, waren weit und „unerreichbares Ziel“? Erfüllt sich gar die gion auf der Welt“, sagt Windolf und ver- breit keine Werktätigen zu sehen. Erst nach Prognose des französischen Intellektuel- weist auf Polen und Tschechien. Gerecht 200 Meter Fußmarsch vorbei an der elek- len Alain Minc, der gleich nach dem Mau- sei es dort bei der Privatisierung auch nicht tronisch gesteuerten Fertigungsstraße fand erfall dem deutschen Osten das Schicksal zugegangen, gleichwohl sei ein normaler Kohl schließlich einen einsamen Maschi- des „Mezzogiorno“ verhieß, jenes südli- „Manager-Kapitalismus“ entstanden, der neneinrichter im Blaumann, mit dem sich chen Teils von Italien, der seit Jahrzehnten nun große Dynamik entfalte, weil die neu- das passende Fernsehbild inszenieren ließ. trotz Milliardensubventionen in Armut und en Chefs ihre Unternehmen unabhängig Um die 270 Millionen Mark teure High- Unterentwicklung verharrt? von Großkonzernen auf Wachstumskurs Tech-Anlage zu betreiben, werden gerade Diese Gefahr sei „unbedingt ernst zu bringen können. mal 270 Leute benötigt, und selbst diese nehmen“, meint Karl Brenke, Ostdeutsch- Zwar sind im Osten, so das durchaus über- nicht alle in Festanstellung. Der Konzern land-Experte beim Deutschen Institut für raschende Ergebnis der großangelegten bevorzugt Zeitarbeiter, die schnell wieder Wirtschaftsforschung (DIW). Sorge berei- Querschnittsstudie, 85 Prozent der Lei- abzubauen sind. Das gleiche Bild bot sich tet Fachleuten wie Brenke vor allem, daß tungsposten mit Ostdeutschen besetzt. Doch dem Kanzler beim benachbarten Spitzen-

Fatale Wachstumsschwäche Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent 10 +9,6 +7,8 8 OSTDEUTSCHLAND 6

4 +2,9 +1,8 WESTDEUTSCHLAND 2 +2,0 0

Ifo-Prognose –2 –2,1

P. LANGROCK / ZENIT P. 1992 93 94 95 96 97 Bayer-Fabrik in Bitterfeld: Hohe Rendite, wenig Jobs

24 der spiegel 1/1998 G. WESTRICH / PLUS49 VISUM G. WESTRICH M. WEISS / OSTKREUZ High-Tech-Erfinder Jentsch, Erfolgsunternehmer Jungnickel (r.) Ein ganz neues Kapitel Wirtschaftsgeschichte schen Mittelbach. Ge- investor Heraeus, wo gleichfalls auf jede in- Der RFT-Maschinen- meinsam mit einem west- vestierte Million nur ein Job kommt. park ist jedoch nur bis deutschen Berater grün- Während die Westkonzerne, gefüttert Ende des Jahres 1997 zu dete er 1993 die „Bruno mit Milliardensubventionen, industrielle mieten.Anschließend, so Banani Underwear“, um Kerne mit hohen Renditen und wenig Jobs fordert es die Treuhand- unter diesem Namen De- schaffen, haben es viele ostdeutsche Grün- Nachfolgerin BvS, muß signer-Unterwäsche zu der-Unternehmer dafür um so schwerer. der Jungunternehmer verkaufen. Der Gag mit Mangels Erbe oder Immobilieneigentum kaufen oder ausziehen. dem italienisch klingen- ist die Ausstattung mit Eigenkapital fast Seit Monaten, klagt den Namen schlug voll immer dünn, ohne Sicherheiten sind Kre- Jentsch, suche er daher ein, die Italiener aus dite aber kaum zu bekommen. „krampfhaft nach einer Sachsen verwiesen Kon- „Die privaten Großbanken beteiligen Hausbank, die mit uns kurrenzmarken wie sich praktisch nicht mehr am Aufbau Ost“, das Risiko eingeht“. Hugo Boss und Calvin beklagt Peter Senft, Ökonom bei der IG Habe er dabei keinen Er- Klein auf die hinteren Metall, die in den neuen Ländern längst folg, bleibe nur die Zu- Plätze. Der neue Markt- selbst Unternehmensberatung betreibt.Al- sammenarbeit mit einem führer beschäftigt bereits lein er kenne Dutzende von Firmen, die der westlichen Herstel- über hundert Mitarbeiter trotz nachweislich wettbewerbsfähiger Pro- ler, die von der neuen Bruno-Banani-Werbung und exportiert bis nach dukte nur knapp an der Rentabilitätsgren- Technik nur zu gern Korea. ze wirtschaften, da sie ohne Großkredite selbst profitieren wollen. „Aber dann“, Beinahe wie ein Märchen klingt die Ge- keine Produktion mit großen Stückzahlen ahnt Jentsch, der sich bewußt als ostdeut- schichte von Rainer Thiele, Chef und Ei- erreichen können, um preislich gegen die scher Unternehmer gibt, „wandern auch gentümer der Firma Kathi in Halle. Weil Westkonkurrenz anzutreten. diese Arbeitsplätze in den Westen.“ seine Eltern „fest an den Untergang der Die Suche nach einem Kreditgeber ist Ist Kapital vorhanden, werden durchaus DDR vor dem Jahr 2000“ glaubten, ließen derzeit auch das Problem des Physikers eigene Kapitel deutscher Wirtschaftsge- sie 1951 den Namen ihrer Firma für Back- und Technik-Unternehmers Winfried schichte geschrieben, wie etwa das vom mischungen als internationales Warenzei- Jentsch im sachsen-anhaltinischen Staß- Aufstieg der früheren Trabi-Schmiede chen schützen. furt. Mit einem kleinen Computerbetrieb, Sachsenring zum Innovationsführer unter Als die Thieles 1972 enteignet wurden, den er gleich nach der Wende in Potsdam den Automobilzulieferern. Im Windschat- prangte der Name auch weiterhin auf den gegründet hatte, verdiente er seinen Teil ten des benachbarten VW-Werks erreich- Packungen der volkseigenen Produkte. der Million, die er im Sommer dieses ten die West-Investoren, die Brüder Ulf Trotz seiner Weigerung, der SED beizutre- Jahres gemeinsam mit zwei Partnern in und Ernst Rittinghaus, schnell die Erträge, ten, gelang es Thiele außerdem mit Hilfe ei- die Gründung der RFT – digital steckte. mit denen sie Firmenzukäufe, neue Pro- nes Freundes Direktor in jenem Kombinat Mit zunächst 90 Mitarbeitern zog das dukte und sogar eigene Forschung finan- zu werden, dem seine eigene Firma zuge- Unternehmen in eine Halle des abge- zieren konnten. Der Börsengang im Okto- schlagen wurde. wickelten Fernseherkombinats RFT ein, ber brachte noch einmal 58 Millionen Mark Gleich nach der Wende konnte der stu- um einen selbstentwickelten Universal- in die Kasse des neuen alten Konzerns, der dierte Betriebswirt daher mit der Rück- monitor herzustellen, der sowohl Compu- eben kein simpler Ostableger sondern übereignung fast übergangslos in die Un- ter- als auch TV-Bilder verarbeiten kann. selbst Zentrale ist, die schon wieder über ternehmerrolle schlüpfen, die er ausfüllt, Der erste Prototyp machte auf der In- 800 Mitarbeiter zählt. als habe er nie etwas anderes gemacht. ternationalen Funkausstellung Furore, Überraschender war der Erfolg von Klaus „Der Bekanntheitsgrad der Marke war das Fachjournalisten kürten die neue RFT- Jungnickel, einem Ex-Direktor der einsti- Kapital“, freut sich der 54jährige Dynami- Gruppe zum „Messesieger“. gen DDR-Textilfirma Trikotex im sächsi- ker noch heute über die Weitsicht seines

der spiegel 1/1998 25 Deutschland Geballter Bürgerzorn In Leipzig kämpfen Prominente, Abgeordnete und Ostfirmen gegen die Schließung des Filialwerks eines Westkonzerns.

n geselliger Runde erzählt der Leip- acht Jahre nach der Wende „nicht mehr Osten verloren sein. Handelskammer ziger Regierungspräsident Walter ungestraft ein gut funktionierendes und Großunternehmen der Region IChristian Steinbach bisweilen An- Werk plattmacht“ – bloß weil das Mut- drohen offen mit Boykott, sollten die ekdoten aus vergangenen Zeiten. Der- terunternehmen in Schwierigkeiten ist. Eschborner nicht einlenken. zeit favorisiert er eine Episode, die ihn Die Leipziger Filiale war bis vor Der Vorstandsvorsitzende der Ver- als Rebellen ausweist. Vor zehn Jah- kurzem in der Gewinnzone. Elsag Bai- bundnetz Gas AG, Klaus-Ewald Holst, ren habe er als Pfarrer von Rötha mit ley jedoch und deren Miteigentümerin, machte die Konzernleitung in einem einer als Spendenaktion kaschierten die italienische Holding Finmeccanica, Brief „darauf aufmerksam, daß unsere Unterschriftensammlung („Eine Mark kamen kräftig ins Trudeln. Die Italiener geschäftlichen Beziehungen von Ihrer für Espenhain“) den DDR-Politbüro- machten allein im ersten Halbjahr 1997 Entscheidung erheblich betroffen sein kraten „einen kräftigen Schrecken ein- rund zwei Milliarden Mark Verlust, gut können“. Seit 1992 hat das Unterneh- gejagt“. ein Viertel des Umsatzes. men Aufträge über zehn Millionen Zehn Jahre später or- Mark an H & B vergeben. ganisiert der stürmische „Mit ausschlaggebend“, Sachse wieder einen Pro- schrieb Holst an H & B- test – diesmal aus dem le- Chef Klinz, sei dabei „die dernen Chefsessel des Re- Fachkompetenz Ihrer Mit- gierungspräsidiums. Sein arbeiter vor Ort“ ge- Gegner: ein multinationa- wesen. ler Konzern, der einen der Noch deutlicher wer- letzten großen metallver- den die Leipziger Stadt- arbeitenden Betriebe der werke, die Aufträge für Messestadt, das Leipziger zwölf Millionen Mark an Werk des Prozeßleittech- das Unternehmen verge- nik-Unternehmens Hart- ben haben. Ohne das mann & Braun (H & B), Fachpersonal sei H & B schließen will. 150 Ar- „nur noch einer von vie- beitsplätze stehen zur len Wettbewerbern“. Disposition. Ungemach droht auch Mitte November hatte von Sachsens Wirtschafts- die Eschborner Geschäfts- staatssekretär Wolfgang

leitung des zum nieder- ZEYEN W. Vehse. Der hat seinen ehe- ländischen Konzern Elsag Demonstrierende H & B-Mitarbeiter: „Fachkompetenz vor Ort“ maligen Treuhand-Kolle- Bailey gehörenden Unter- gen Klinz schon wissen nehmens das Aus für Leipzig verkün- Jetzt schlägt das Finanzdesaster bis lassen, daß bei Schließung des Leipziger det. Gerade mal vier Tage brauchte der zu H & B durch. „Wir sind zu tiefgrei- Unternehmens zwei Millionen Mark kampagnenerprobte Ex-Pfarrer, um die fenden Umstrukturierungen gezwun- Fördermittel zurückgefordert werden. Truppen für ein Aktionsbündnis zum gen“, sagt der Vorsitzende der Esch- Die geballte Ladung Leipziger Bür- Erhalt des Werks zusammenzutrom- borner H & B Geschäftsführung, Wolf gerzorns hat schon einmal einen Kon- meln. Klinz. Wohl um die Weststandorte zu zern einknicken lassen. Die Dortmun- Die Unterstützerliste von Steinbachs retten, soll das Werk Leipzig zu einem der Brau und Brunnen mußte Anfang Aktionsbündnis liest sich wie ein Verkaufsbüro schrumpfen. Dabei hat- des Jahres nach einer wochenlangen Who’s Who der Leipziger Society. Der ten die West-Unternehmen jahrelang Kampagne von ihrem Plan, die tradi- Schriftsteller Erich Loest, der Maler vom Standort Leipzig profitiert. tionsreiche Reudnitzer Brauerei zu Wolfgang Mattheuer, Alt-Schauspieler So konnte H & B 1992, damals noch schließen, Abstand nehmen. Der Vor- Fred Delmare und Opernintendant Teil des Mannesmann-Konzerns, einen standssprecher Friedrich Ebeling trat Udo Zimmermann sind nur die schil- 350-Millionen-Mark-Auftrag für die Re- noch während der Kampagne zurück. lerndsten Namen. Am Totensonntag geltechnik des Kraftwerkes Jänschwal- Die 60 Seiten umfassende Pressedo- schließlich reihten sich auch Pfarrer de nur durch den Zukauf des Leipziger kumentation des Kampfes um Reud- mehrer Kirchen ein und predigten: Geräte- und Reglerwerkes realisieren. nitz übergab Regierungspräsident „Eine weitere Schwächung des In- Von dem Deal hatten nicht nur die Steinbach dem Leipziger Betriebsrat dustriestandorts Leipzig können und Sachsen Vorteile. Vor allem profitierte von Hartmann & Braun mit aufmun- wollen wir um der Menschen und um eine Filiale in Minden.Ähnlich verhielt ternden Worten: „Damit die Herren Gottes willen nicht hinnehmen.“ es sich beim 46-Millionen-Auftrag für wissen, was auf sie zukommt. Auch ein Initiator Steinbach ist guten Mutes. das Kraftwerk Boxdorf. Herr Ebeling hat uns damals arrogant Jeden Tag, so sein Ziel, sollen die Kon- Wird das Leipziger Werk geschlos- angelächelt – bis er seinen Hut neh- zernherren spüren, daß man in Leipzig sen, dürften lukrative Aufträge aus dem men mußte.“

26 der spiegel 1/1998 Vaters. Binnen fünf Jahren machte er „Kathi“ von der Nummer 23 zur Nummer 1 auf dem ostdeutschen Markt und lief dem Riesen Oetker den Rang ab. Auch wenn viele Neu-Unterneh- mer wieder aufstecken müssen, ins- gesamt ist die Bilanz erstaunlich: Von den rund 3000 sogenannten Ma- nagement-buy-outs (MBO), mit de- nen Ex-Mitarbeiter von volksei- genen Betrieben sich selbständig ge- macht haben, arbeiteten 1996 im- merhin zwei Drittel kostendeckend oder mit Gewinn, ermittelte das In- stitut für Wirtschaftsförderung in Halle (IWH). In solchen Erfolgen se- hen viele Beobachter eine unter- nehmerische Dynamik, die im We- sten selten geworden ist. „Der Osten ist hungrig, und deswegen wächst dort eine neue Unternehmergene-

ration heran“, glaubt auch Lothar M. JEHNICHEN / TRANSIT Späth, der als Sanierer der Jenoptik Produktion von Backmischungen bei der Firma Kathi: Ein Erfolg beinahe wie im Märchen zum Ostexperten wurde. Darum stellt der starke Einbruch der der Westen der Republik unter Vertei- deutung. Zwar fordert Hasso Düwel, re- Wachstumsrate in diesem Jahr nur die hal- lungskämpfen, weil Manager und Ak- gionaler Bezirkschef der Metaller, der be Wahrheit dar. Denn der Konjunktur- tionäre die Reformkosten nur von den Ar- Osten dürfe kein „Dumpingtarifgebiet“ knick östlich der Elbe geht vor allem auf beitnehmern bezahlen lassen wollen. Im werden. Doch in Wahrheit ist dieser tarif- das Ende des künstlichen Baubooms Osten dagegen stellt sich die Verteilungs- politische Sündenfall längst eingetreten. zurück, den die Bundesregierung durch die frage erst gar nicht, weil den Erwerbstäti- Marktradikale wie Lothar Späth verkün- 40 Milliarden Mark teure steuerliche För- gen aller Branchen wenig geblieben ist, den denn auch, der Osten sei nur „der Mi- derung zur Errichtung leerstehender Büro- was ihnen zu kürzen wäre. nenhund des Westens“. bauten entfachte (SPIEGEL 46/1997). Ohne Darum hat auch der Streik, für den die Der Willigkeit der Arbeitnehmer steht die Baubranche legt die ostdeutsche Indu- IG Metall die 8000 Arbeiter der ostdeut- die öffentliche Verwaltung kaum nach. Die strie auch in diesem Jahr rund sechs Pro- schen Stahlindustrie vom 12. Januar an mo- existentielle Not erzwingt geradezu be- zent zu, kalkulieren die IWH-Experten. bilisieren will, bestenfalls symbolische Be- amtete Dynamik. So machen die Landes- Begünstigt werden hungrige regierungen die Rettung gefährdeter Un- Gründer und Geschäftsführer durch ternehmen zum öffentlichen Auftrag. Am Bedingungen, von denen Manager weitesten geht das rot-grüne Sachsen-An- im Westen nur träumen können. halt. Überbrückungskredite erhält nur, wer So steht im Unternehmerparadies sich zuvor von der Partnerfirma Prognos Ost die Annäherung der Löhne Gekappte ABM-Stütze beraten läßt. Mit einem Grundstücks- und an die Westeinkommen nur in Offene und verdeckte Arbeitslosigkeit 1 379766 Maschinenpool sichert das Land per Kauf den Tarifverträgen. Tatsächlich ist in den neuen Bundesländern die Substanz von Pleitebetrieben. Zudem die Mehrheit der Ostunternehmen steht eine fünfköpfige „task-force“ aus er- nicht mal Mitglied in den Tarifver- 1 170 261 fahrenen Beratern bereit, um im Krisenfall bänden. die Konkurseröffnung abzuwenden. Für Arbeiten mit geringen Anfor- Auch bei den Genehmigungsverfah- derungen ist die Forderung der west- ren haben die Verwaltungen im Osten deutschen Unternehmerlobby nach 1047015 die Nase vorn. Wie etwa Bitterfeld-Wol- einem Niedriglohnsektor längst er- ARBEITSLOSE fen: Vom ersten Kontakt zwischen dem füllt. Wer im Call-Center als Telefo- jeweils am Jahresende Guardian-Konzern und dem Wirtschafts- nistin, als Wachmann im Werkschutz 912 838 ministerium in Magdeburg vergingen bis oder als angelernter Verkäufer ar- zum Betriebsstart der Glasfabrik gerade beitet, muß in der Regel mit Stun- BESCHÄFTIGTE mal 18 Monate. Ein ähnliches Tempo legen denlöhnen um die zehn Mark aus- in Arbeitsbeschaffungs- auch der US-Konzern Dow und die kommen. Auch auf qualifizierte maßnahmen (ABM), französische Elf Aquitaine in Leuna und Arbeit gibt es Abschläge. Obwohl 388 056 Jahresdurchschnitt Buna vor. formal 85 Prozent des Westniveaus 312 265 Daß es läuft wie geschmiert, dafür sor- tariflich vereinbart sind, seien die gen Leute wie Ingrid Häußler, Regie- Mitarbeiter unter dem Strich fast 40 rungspräsidentin in Halle. Genehmigungen 183 324 Prozent billiger als in Leverkusen, nach dem Immissionsschutzgesetz, die im kalkuliert etwa ein Manager bei Westen schon mal ein Jahr dauern kön- Bayer Bitterfeld. Denn gespart wer- nen, „erledigen wir bei neuen Teilbetrieben de vor allem bei den außertarifli- 106 014 in drei Monaten“, garantiert die Power- chen Leistungen. Frau an der Amtsspitze. Gleichzeitig för- Von der Steuerreform bis zur Fle- 1991 92 93 94 95 96 97 dert sie „die Selbstorganisation der Indu- xibilisierung der Tarifverträge ächzt November strie, damit wir den Vernetzungseffekt er-

der spiegel 1/1998 27 reichen“, der einen Ballungsraum erst wirt- schaftlich interessant mache. Zumindest für jene ostdeutschen Re gionen, die schon vor dem Krieg pro- sperierten, erscheint so das Szenario vom deutschen Mezzogiorno übertrie- ben. Wahrscheinlicher ist, daß sie binnen 10 bis 15 Jahren, ähnlich wie einst das rückständige Bayern, mit hohen Subven- tionen und teurer Industriepolitik den An- schluß an die europäische Spitze finden werden – wenn die „Aufbruchstimmung“, so die Regierungspräsidentin, erhalten bleibt. In diesem Punkt sind viele Experten al- lerdings skeptisch. So befürchtet etwa IWH-Präsident Pohl, daß „der Aufbauwil- le schon nachläßt“. Die Statistik scheint ihm recht zu geben, die Investitionen der öffentlichen Hand sind seit zwei Jahren um bedenkliche 16 Prozent gesunken. Die we- sentliche Ursache ist jedoch, daß die mei- sten Kommunen die Grenze der zulässi- gen Verschuldung erreicht haben, während gleichzeitig die Ausgaben für die Sozial- hilfe steigen. Pohls Warnung, der Mezzogiorno be- ginne „in den Köpfen“, trifft dennoch zu – im Westen. Denn dort suggerieren viele Politiker fortwährend dem Wähler West, er habe nun für den Bürger Ost genügend bezahlt, dieser müsse jetzt sehen, wie er klarkomme. So fabuliert etwa Kanzler- Aspirant Gerhard Schröder von der Zeit, „wenn die Aufbaumilliarden für die neuen Länder für die Forschungsförderung frei werden“ – als stünde diese unmittelbar be- vor. Und der Finanzminister des reichen Baden-Württemberg, Gerhard Mayer-Vor- felder (CDU), sinniert unter großem Beifall vom „süßen Gift der Subventionen“, das den neuen Ländern nur schade. Gleich, ob es um Kürzungen bei der Bundesanstalt für Arbeit, um Einsparungen bei den Krankenkassen oder den Länder- finanzausgleich geht: Stets soll der wirt- schaftsschwache Osten Ansprüche auf- geben, die im Westen selbstverständlich sind – gerade so, als hätten die neuen Län- der den Charakter einer assoziierten Kolonie. „Wer jetzt an den Transferzahlungen spa- ren will“, ärgert sich der durchaus subven- tionskritische Ökonom Pohl, „der soll auch klar sagen, daß sich der Abstand zwischen Ost und West wieder vergrößern soll.“ Schließlich würden bei einem Finanzabbau Ost sofort die kommunalen Investitionen einbrechen, also gerade dort, wo es noch die größten Mängel zu beheben gebe. Heiner Flaßbeck, Konjunkturexperte des Berliner DIW, formuliert es noch ein- dringlicher. Der Aufbau Ost sei eine Auf- gabe für mindestens noch eine Generation. Darum komme „nun erst die Zerreißpro- be“ für die Finanzpolitik. Falls der Prozeß jetzt abgebrochen werde, gebe man „ei- nen Teil unseres Landes der Verelendung preis“. ™

der spiegel 1/1998 Deutschland

STEUERAFFÄREN Prämie für Denunzianten? Schlechte Zeiten für Steuersünder: Der Staat greift immer härter durch, selbst eine Belohnung für Denunzianten steht nun zur Debatte. Am 22. Januar fällt in Bonn die Vorentscheidung. P. VAUTHEY / SYGMA VAUTHEY P. Schließfächer einer Schweizer Bank: Darf der Staat gestohlene Unterlagen ankaufen, um damit Steuerhinterzieher zu überführen?

en ersten Hinweis erhielten die Proteste ein: Zahlen sie, dann honorieren Saarbrücker Steuerfahnder von sie erstmals einen Spitzel, der sich mögli- Dihren Kollegen aus dem nahen cherweise illegal Unterlagen beschafft hat. Metz: Bei ihnen in Lothringen habe sich ei- Zudem führt eine sechsstellige Prämie so ner gemeldet, der einiges über Luxembur- manchen in Versuchung: „Das ist eine Ein- ger Konten wisse, was auch die deutschen ladung für Bankangestellte, ihren Laden Behörden interessieren könnte. zu bestehlen“, empört sich Lucien Thiel, Ihr Mann, so die Franzosen, werde sich Geschäftsführer der Luxemburger Ban- wohl bei den Saarbrücker Fahndern kenvereinigung. melden. Sie gaben ihm eine Telefonnum- Zahlt der Fiskus nicht, wird er den Vor- mer, und Ende September wählte der wurf hören, der Staat verzichte auf einen geheimnisvolle Lothringer schließlich zweistelligen Millionenbetrag und lasse 004968150100. Seitdem hat der deutsche Steuerhinterzieher unbehelligt.

Fiskus ein Problem. SEEGER-PRESS Den heiklen Fall mag das Saarbrücker Der Fall, sagt der saarländische Finanz- Steueroase Liechtenstein Wirtschafts- und Finanzministerium nicht Staatssekretar Thomas Christmann, werfe allein entscheiden: Auf der Konferenz der „politisch-moralische Implikationen“ auf: Finanzminister am 22. Januar soll das The- Ein Informant bietet Unterlagen an, die ma diskutiert werden.Vorab wollen die Be- den Steuerbehörden einen zweistelligen amten der Minister am 7. Januar das Spit- Millionenbetrag einbringen, und fordert zengespräch vorbereiten. „Wir wollen in dafür eine hohe Belohnung. Bonn klären, ob es zu einem Ankauf Er könne, verriet der anonyme Anrufer, kommt“, sagt Christmann. Konto-Unterlagen von 270 Deutschen be- Schließlich, so argumentiert der Saar- schaffen, die ein Depot bei einer Luxem- brücker, seien in der Luxemburger Liste burger Bank hätten, mit Beträgen von Steuersünder aus dem gesamten Bundes- 300000 Mark an aufwärts. Er selbst habe gebiet zu finden, also müßten sich alle Län- mit der Sache nichts zu tun, versicherte er; der anteilsmäßig an dem Kauf beteiligen. er sei nur der Vermittler, der Informant Den Vorschlag findet der mecklenburg- verlange für die Dokumente 500000 Mark. vorpommersche Finanzstaatssekretär Otto

Wie auch immer die Steuerbehörden in DECOUT / REA LAIF Ebnet plausibel: „Wir wären mit 10 000 diesem Fall entscheiden – sie handeln sich Bankenviertel in Luxemburg Mark dabei.“ Doch das Geld spielt eine

der spiegel 1/1998 29 Deutschland untergeordnete Rolle. Auf der Luxembur- ger Liste finden sich Depots in einem Ge- samtwert von über 150 Millionen Mark, die Zahlung von 500000 Mark würde den „Auch unters Bett gucken“ deutschen Steuerbehörden mindestens den 30fachen Betrag einbringen. Der Aufsteiger-Beruf des Jahres: Steuerfahnder Es geht um einen Präzedenzfall: Darf der Staat gestohlene Unterlagen ankaufen, or zehn Jahren nannte Hajo Kel- te aufgestockt. Allein in Nordrhein- um damit Steuersünder zu überführen? ler seinen Arbeitsplatz eher un- Westfalen oder Baden-Württemberg ist Darf er Prämien für Denunzianten aus- Vgern. Nicht, daß er sich ge- ihre Zahl seit 1992 um mehr als die schütten, um damit mehr Steuern einzu- schämt hätte, im Kölner Finanzamt für Hälfte gestiegen. nehmen? Steuerstrafsachen und Steuerfahndung „Die Kollegen müssen schon mal un- Andererseits: Warum soll der um seine zu sitzen. Das nicht. Aber es kam in ters Bett gucken“, sagt Paul Courth, Steuereinnahmen geprellte Staat nicht seinem Bekanntenkreis auch nicht son- Geschäftsführer der Steuer-Gewerk- auch auf zweifelhafte Weise beschaffte Un- derlich gut an. schaft. „Schließlich stehen gewaltige terlagen auswerten? Die sinkende Steuer- Schließlich klingelten Leute wie er Summen auf dem Spiel.“ Die Fahnder moral hat auch damit zu tun, daß ein klei- frühmorgens unbescholtene Bürger aus finanzieren sich selbst: Im Schnitt sorgt ner Teil der Besserverdienenden sich der dem Bett, verschleppten kistenweise jeder für jährliche Mehreinnahmen von Besteuerung zu entziehen versteht und Akten und ließen oft genug leichen- über einer Million Mark. Kein Wunder, sich die Ehrlichen als die Dummen fühlen. blasse Gattinnen mit düsteren Vorah- daß ihre Lobbyisten ständig neue Stel- Und hat der Staat nicht die Pflicht, alle nungen vom gesellschaftlichen Absturz len fordern. Unterlagen auszuwerten, um Straftätern zurück. Ihr Ansehen rangierte irgend- Nur ein Bruchteil des Geldes bleibt auf die Schliche zu kommen? Schließlich wo zwischen Ärmelschonern und Sta- allerdings den Beamten. Ein 40jähriger zahlen auch Polizei und Zoll seit eh und je si. Schnüffler in Polyester-Anzügen verdient rund 5000 Mark brutto. Da für Tips ihrer meist zwielichtigen Infor- eben. mag es trösten, daß der Job wenigstens manten. Seither habe sich „einiges verbes- krisensicher ist. „Uns geht die Arbeit Bislang mochte sich nur der bayerische sert“, sagt Keller. Seine Behörde wur- nie aus“, sagt Courth fröhlich. Finanzminister Erwin Huber dazu äußern: de auf 150 Mitarbeiter verdoppelt, der Deshalb brauchen die Finanzämter Er steht finanziellen Anreizen für Steuer- Ruf ist poliert. Zwar klingeln Keller & keine Werbeagentur, die mit coolen spitzel „skeptisch bis ablehnend“ gegen- Co. immer noch gern frühmorgens an Sprüchen wie „Frühstücken fremden Haustüren. Aber nun tragen mit Vater Graf? Komm sie die Kisten mit Vorliebe aus den Vor- zu uns!“ den Nachwuchs standsetagen großer Banken, den Villen ködern würde. Die Ämter der Chefs und aus den Büros einst un- können sich vor Bewer- antastbarer Größen wie Sportmanager bungen kaum retten, obwohl Peter Graf oder Thyssen-Chef Dieter die Fahndung nichts für Vogel. zartbesaitete Neueinstei- Derlei Aktionen hätten „dem klei- ger ist. nen Steuerzahler gezeigt, daß wir vor Der Such-Dienst steht am den vermeintlich großen Tieren nicht Ende einer langen Ausbil- zurückschrecken“, glaubt Keller und dung, die Abitur voraussetzt wagt ein bißchen Selbstvertrauen. „So und über die Beamten-Fach- was imponiert den Leuten.“ Er freut hochschule in den geho- sich, daß er den Imagewandel ausge- benen Dienst führt. Wer rechnet der Dresdner Bank zu verdan- Glück hat, darf irgendwann ken hat, die 1994 bis vor das Bundes- Kisten mit Geheimunter- verfassungsgericht zog, um zu ergrün- lagen schleppen. Wer Pech den, wie weit die Beamten eigentlich hat, gerät beim ersten Haus- gehen dürfen. besuch gleich an einen un- Sehr weit, urteilten die Richter. „Die wirschen Vertreter des orga- Fahnder“, so der Düsseldorfer Wirt- nisierten Verbrechens. schaftsanwalt Jürgen Wessing, „sind In den eigenen Reihen nach dem Urteil alle drei Zentimeter wird deshalb immer häufiger gewachsen.“ diskutiert, ob eine bislang Das habe „uns den Rücken ge- verbotene Dienstpistole den stärkt“, gibt Dieter Ondracek zu. entwaffnenden Spürhund- Der Vorsitzende der Deutschen Charme nicht doch wirksam Hausdurchsuchung bei der WestLB in Düsseldorf (1996): „So Steuer-Gewerkschaft schwärmt von unterstützen könnte. Großeinsätzen wie bei der WestLB, Der Kölner Finanzbeamte Keller er- über. Der Staat, so Huber, dürfe „nicht aus wo rund 600 Einsatzkräfte angerückt zählt von Kollegen, die mit Kampfhun- trüben Quellen fischen“. waren. den konfrontiert wurden. Ihn selbst hat Die Luxemburger Unterlagen sind aller Nicht nur, daß sie als „Hilfsbeamte ein säumiger Steuerzahler mal im Büro Wahrscheinlichkeit nach von solider der Staatsanwaltschaft“ fast jeden Safe verprügeln wollen. Keller nimmt es ge- Qualität. Der Mann aus Metz überließ durchstöbern dürfen. Die Länder ha- lassen. Mit seinen 61 Jahren ist er der den saarländischen Fahndern gratis Depot- ben ihre fiskalischen Sonderkomman- eigenen Pensionierung weitaus näher auszüge von zwei Deutschen aus dem dos auf bundesweit 1385 aktive Beam- als einer Ausbildung im Nahkampf. Saarbrücker Raum und von einem aus Trier. Die Luxemburger Konten waren schnell mit den Einkommensteuerer-

30 der spiegel 1/1998 klärungen der drei Herren abgeglichen: ganisieren, das Handwerk legen kann, muß drei Volltreffer. man zumindest darüber nachdenken.“ Was aber, wenn die Liste wider Erwarten Seit Steuerbetrug zu einem Massende- nicht so ergiebig ist? „Das machen wir wie likt geworden ist – die Deutsche Steuer- beim Zoll“, empfiehlt ein Spitzenbeamter, Gewerkschaft schätzt den hinterzogenen „für den Tip gibt’s ein Handgeld, den Rest Betrag auf 150 Milliarden Mark jährlich –, gibt’s bei Erfolg.“ Daß die Länder die heiße geht der Fiskus schärfer ran. Fahnder ha- Ware aus Lothringen kaufen, ist nicht aus- ben Dutzende von Banken untersucht und geschlossen. Immerhin haben werten derzeit einige zigtau- sich die Finanzministerialen send Belege aus. Die Selbst- darauf verständigt, bei ihrem „Wir wollen anzeigen von Besserverdie- Treffen in Bonn „Verhaltens- nenden, die ihr Geld heimlich muster“ auszuarbeiten, wie nicht, daß in Luxemburg, der Schweiz Christmann erläutert: „Was ein Spitzelnetz oder Liechtenstein gebunkert akzeptieren wir, was nicht?“ über das haben, mehren sich. Informelle Telefonkontakte gesamte Auch Gerichte haben viel- gab es in den vergangenen fach die Strafen verschärft. Im Wochen quer durch die Repu- Bundesgebiet vergangenen Monat verur- blik. Danach zeichnet sich ein gezogen wird“ teilte das Oberlandesgericht erstes Stimmungsbild der Ex- Frankfurt einen Kaufmann zu perten ab. einer Geldstrafe von 13 200 Informationen „aus dem privaten Be- Mark, weil er in zwei Kleinbelegen über reich“, soviel steht schon fest, sollen nicht insgesamt 67,90 Mark das Datum gefälscht honoriert werden. Verlassene Ehefrauen hatte. und enttäuschte Geliebte sind die wichtig- In diesem rauher gewordenen Klima nei- sten Tip-Geber der Fahnder; sie haben bis- gen Steuerbeamte dazu, auch Unterlagen lang auch nie Geld verlangt – und sie wer- zu verwerten, die auf eine nicht ganz sau- den auch keine Mark bekommen, ebenso- bere Art beschafft wurden. Das sei mög- wenig wie Kinder, die aus Wut oder Rache lich, befand der Bundesgerichtshof 1975: ihren Vater beim Finanzamt verpfeifen. „Aus der rechtswidrigen Erlangung eines Beweismittels durch einen Dritten folgt zum Beispiel nicht automatisch die Un- verwertbarkeit dieses Mittels im Strafver- fahren.“ Der anonyme Tip-Geber aus Metz, ver- mutlich ein Angesteller einer Luxemburger Bank, hat sich nach Luxemburger Recht strafbar gemacht. Artikel 41 des Bankge- setzes verpflichtet die Angestellten zur Ver- schwiegenheit; Verstöße ahndet das Straf- gesetzbuch mit Freiheitsstrafen von acht Tagen bis sechs Monaten und/oder Geld- bußen bis zu umgerechnet 10000 Mark. Die deutsche Rechtslage ist weniger klar. Ein Angestellter, der vertrauliche Belege aus seinem Büro schmuggelt und kopiert, begeht keinen Diebstahl; er verstößt ge- gen seinen Arbeitsvertrag. Dieter Ondracek, der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, ist strikt gegen eine Belohnung für Informanten: „Der Staat würde sich damit auf das Ni- veau der Straftäter begeben, die solch ille- gal erlangten Informationen anbieten.“ Andere Staaten sehen so etwas gelasse- ner. In Frankreich etwa zahlt der Fiskus

F. ROGNER / NETZHAUT F. diskret für Tips; die Belohnung richtet sich was imponiert den Leuten“ nach der hinterzogenen Summe und wird ausgehandelt. In den USA sind die Zah- Wie aber verhält sich der Staat bei In- lungen sogar gesetzlich geregelt: Infor- formationen von Bankangestellten oder manten bekommen bis zu zehn Prozent Buchhaltern anderer Firmen? Hier gehen des vom Steuersünder nachzuzahlenden die Meinungen auseinander. Betrags, maximal 100000 Dollar. „Wir wollen nicht, daß letzten Endes ein Über die Summe ließe sich reden, hat der Spitzelnetz über das gesamte Bundesge- anonyme Anrufer aus Metz inzwischen biet gezogen wird“, sagt der Saarländer durchblicken lassen. Der clevere Denun- Christmann. Ein Ministerialer aus ziant schlägt den Fahndern eine Erfolgsbe- hält dagegen: „Wenn man solchen Leuten, teiligung vor: Wird die Steuerfahndung fün- die Steuerhinterziehung systematisch or- dig, will er davon prozentual profitieren. ™

der spiegel 1/1998 31 Deutschland

GARZWEILER „Ein Problem der Grünen“ Der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) über den umstrittenen Braunkohletagebau und die Zukunft rot-grüner Politik in Deutschland

SPIEGEL: Gegen den Protest der Grünen hat das Bergamt Düren den sogenannten Rah- menbetriebsplan für Garzweiler II geneh- migt. Ist das der politische GAU der rot- grünen Koalition in Düsseldorf? Clement: Das ist eine rechtlich notwendige und richtige Entscheidung. SPIEGEL: Die politischen Folgen können Sie ja wohl nicht ignorieren. Clement: Ich gehe davon aus, daß unser Koalitionspartner diese rechtlich gebote- ne Entscheidung respektiert und politisch richtig gewichtet. Sie muß jedenfalls die Koalition in Nordrhein-Westfalen nicht be- enden. SPIEGEL: Die Umgangsformen zwischen SPD und Grünen in den vergangenen Wochen und Monaten ließen Zweifel zu, ob ein politischer Kompromiß noch an- gestrebt werde, um die Koalition zu erhalten. Clement: Es geht nicht in erster Linie um ei- nen politischen Kompromiß, sondern um eine notwendige und fällige rechtliche Ent- scheidung über eines der wichtigsten in- dustriepolitischen Projekte des Landes Nordrhein-Westfalen. SPIEGEL: Was ist, wenn die Grünen aus der Koalition aussteigen? Clement: Ich gehe nicht davon aus, daß sie das tun. Ich hoffe es nicht. Doch das ist jetzt ein Problem der Grünen, ich kann es ihnen nicht abnehmen. SPIEGEL: Es ist ein Problem, das zur Zeit die

M. DARCHINGER gesamte politische Diskussion in der Bun- Minister Clement: „Eine rechtlich gebotene Entscheidung“ desrepublik bewegt.

Die unendliche Geschichte Man werde das umstrittene Papier prü- Rau-Nachfolger penibel auflistete. Ihm fen, so der Vorstandssprecher der NRW- vor allem lasten die Grünen die Zuspit- um den Braunkohletagebau Garzweiler II Grünen, Reiner Priggen. Für Anfang Ja- zung der vergangenen Woche an. Unter ist um ein weiteres Kapitel reicher. Schon nuar kündigte er einen Beschlußvor- dem Druck der Betreiberfirma Rhein- während der Koalitionsverhandlungen schlag des Vorstands an, über den am 17. braun habe er nach anfänglichem Entge- 1995 war das Projekt von den Bündnis- Januar ein Sonderparteitag entscheiden genkommen „immer weiter draufgesat- Grünen zur potentiellen Sollbruchstelle soll. Die Frage, ob das Mammutprojekt telt“ (NRW-Umweltministerin Bärbel der Koalition hochstilisiert worden. Ein die Koalition in Düsseldorf, Vorausset- Höhn) und den möglichen Bruch der Ko- Konflikt, der die rot-grüne Regierung im zung für einen Machtwechsel in Bonn, alition in Kauf genommen. bevölkerungsreichsten Bundesland von sprengt, wurde ein weiteres Mal vertagt. Nach einer ersten Prüfung des geneh- Anbeginn an belastete, ohne sie jemals Nach mehr als zwei Jahren zähen Rin- migten Rahmenbetriebsplans, zeigte sich wirklich zu gefährden. gens war der Streit in den letzten Wo- die Grünen-Spitze vergangene Woche Zwar nannten die Grünen die Geneh- chen zum Dreh- und Angelpunkt der Po- wieder einmal verhalten optimistisch. migung des Rahmenbetriebsplans vom litik in Nordrhein-Westfalen geworden. Das 73 Seiten starke Papier lasse Spiel- 22. Dezember „völlig inakzeptabel“. 79,5 Stunden wurde seit dem 17. Novem- raum, über das Wasserrecht den Tagebau Aber schon eine schlichte Erklärung von ber verhandelt, wie Wirtschaftsminister doch noch zu verhindern. Dies müsse nun Ministerpräsident Johannes Rau beru- Wolfgang Clement, Chef-Unterhändler bis zum Sonderparteitag der Basis ver- higte die Gemüter. der Sozialdemokraten und designierter mittelt werden. Fortsetzung folgt.

32 der spiegel 1/1998 Clement: Das zeigt, wie fehlgelei- Clement: Das hat nichts mit „Vo- tet manche unserer politischen gel friß oder stirb“ zu tun, son- Diskussionen sind. Ich kann mir dern mit der Bitte um Einsicht in nicht vorstellen, daß der Parteitag die Notwendigkeit der industrie- der Grünen am 17. Januar ein In- politischen Handlungsfähigkeit dustrieprojekt ablehnt, das alles einer rot-grünen Koalition. in allem mehr als 50 000 Men- SPIEGEL: Sie haben doch bestimmt schen Arbeit bietet. Das sind un- mit Oskar Lafontaine und Ger- gefähr so viele, wie ins Stadion hard Schröder über die mögli- von Borussia passen. chen Folgen der Entscheidung SPIEGEL: Ministerpräsident Johan- mit Blick auf die Bundestagswahl nes Rau hat am Dienstag in ei- gesprochen. Können Sie uns de- nem Brief an alle Spitzenfunk- ren Ratschläge nennen? tionäre der NRW-SPD „von bei- Clement: Nein. den Seiten ein hohes Maß an Sen- SPIEGEL: Oskar Lafontaine hat im- sibilität und Klugheit“ verlangt. mer zu erkennen gegeben, daß Ist das auch eine Mahnung an Sie? er die nordrhein-westfälische Ko- Clement: Das ist ein richtiger Hin- alition mindestens bis zu den weis, daß man aus einer rechtlich Bundestagswahlen im Amt sehen gebotenen Entscheidung nicht möchte. falsche Schlüsse ziehen soll. Clement: Eine Koalition erfolg- SPIEGEL: Frau Höhn behauptet, reich bis zum Ende einer Legis- der Garzweiler-Investor Rhein- latur führen zu wollen, also auch braun könne aus der unklaren notwendige politische, wirt- Abgrenzung von Berg- und Was- schaftliche und sonstige Ergeb- serrecht Schadensersatzforde- nisse zu erzielen, ist doch selbst- rungen ableiten? verständlich. Dieses Ziel habe ich Clement: Dieser Vorwurf geht ins auch. Leere. Richtig ist, daß wir es jetzt SPIEGEL: Teilen Sie Gerhard nach der Zulassung des Rahmen- Schröders Ansicht, die Genehmi- betriebsplans demnächst mit ei- gung des Braunkohletagebaus sei

genständigen wasserrechtlichen J. EIS ein Symbol dafür, „daß eine rot- Verfahren zu tun haben. Beide, NRW-Umweltministerin Höhn*: „Einsicht in die Notwendigkeit“ grüne Koalition wirtschaftlich das berg- wie das wasserrechtli- keinen Blödsinn macht“? che Verfahren, sind rechtlich gebunden. Es SPIEGEL: behauptet, daß Clement: Diese Ansicht teile ich. gibt keine Schadensersatzforderungen, sich das Projekt Garzweiler II bald SPIEGEL: Die Grünen unterstellen Ihnen wenn man sich rechtlich sauber verhält. von selbst erledigen werde: Die Ge- Handeln auf eigene Rechnung. Einerseits SPIEGEL: Wie Ihr Parteivorsitzender Oskar stehungskosten der dort gewonnenen könnten Sie dem Unternehmen und den Lafontaine oder der Grüne Joschka Fischer Energie seien langfristig nicht konkur- Bergleuten imponieren, Sie hätten für sie verbindet auch Ihr Ministerpräsident das renzfähig. alles herausgeholt. Andererseits könnten Schicksal der NRW-Koalition mit den Clement: Es gibt weltweit keine Energie- Sie durch Ihr Verhalten das Ende der Ko- Chancen der SPD im Bundestagswahl- quelle, die für Deutschland günstiger als alition provozieren und sich dann auf den kampf. Ist das auch Ihre Sicht? Garzweiler zu erschließen und zu nutzen Stuhl des Ministerpräsidenten schwingen. Clement: Sorry, ich wollte schlichtweg, daß wäre. Clement: Ich habe mich schon als „Ber- das Bergamt eine unaufschiebbare Ent- SPIEGEL: Was kann die SPD noch dazu bei- telsmann-Knecht“, als „Kirch-Knecht“, scheidung fällt. tragen, Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen als „Thyssen-Knecht“, als „Krupp-Knecht“, SPIEGEL: Wollen Sie Ihrer Bundespartei er- zu retten? als „RWE-Knecht“ und als „Rheinbraun- sparen, was Sie in Nordrhein-Westfalen Clement: Bezogen auf Garzweiler II sind Knecht“ bezeichnen lassen müssen. Man mit dieser Koalition erlebt haben? jetzt, wie Frau Kollegin Höhn gesagt hat, hat mir unterstellt, ich wollte durch Clement: Nein! tatsächlich die Grünen am Zuge. die Genehmigung Karriere machen. Mich SPIEGEL: Wenn an diesem Verwaltungsakt SPIEGEL: Heißt das – bezogen auf die Grü- kann an diesen Bewertungen nichts mehr die NRW-Koalition zerbricht, wäre die rot- nen – „Vogel friß die Entscheidung vom 22. erschüttern. Eine ist so unsinnig wie die grüne Perspektive für Bonn hin. Dezember oder stirb“? andere. Clement: Wirklich? Ich fände es Mir ist wichtig, daß Unterneh- um so wichtiger, wenn die Garz- men, Bergleute und Anlagenbau- weiler-Entscheidung als das ge- er erkennen, daß, ungeachtet wertet würde, was sie ist: eine solch freihändiger Vorwürfe, in Entscheidung für ein Industrie- der Bundesrepublik Deutschland projekt, das leider in seinem immer noch rechtsstaatlich ein- Rang und seinen Auswirkungen wandfreie Entscheidungen mög- auf den Arbeitsmarkt bisher nicht lich sind. Dafür zu sorgen ist mei- ausreichend gewichtet wird. ne Aufgabe. Das werde ich auch Vor dem Hintergrund wünschte in Zukunft tun. ich mir, manche Diskussion SPIEGEL: Wenn Ihnen die Grünen würde etwas weniger allgemein die Erfüllung dieser Aufgabe ver- politisch und etwas sachlicher ge- wehren, sind dann nicht Neu- führt. wahlen der sauberste Ausweg?

IMO Clement: Die Erfüllung dieser * Im Braunkohletagebau Garzweiler. Grünen-MdB Fischer: Garzweiler nicht konkurrenzfähig Aufgabe ist nicht verweigert wor-

der spiegel 1/1998 33 den. Unser Koalitionspartner hat Probleme mit der Entscheidung. Ich hoffe, daß sich die Grünen für die Koalition entscheiden. SPIEGEL: Würde der Koalitionspartner an- dernfalls die SPD in Neuwahlen oder zu ei- ner Minderheitsregierung treiben? Clement: Das ist zu besprechen, wenn die Entscheidung des Grünen-Parteitages ge- fällt ist. SPIEGEL: Die Ankündigung von Neuwahlen in NRW könnte vielleicht frischen Wind in die gesamte Partei bringen: zwei Land- tagswahlkämpfe, in Niedersachsen und NRW, mit zwei wirtschaftsfreundlichen SPD-Spitzenkandidaten. Clement: Ein reizvoller Gedanke! SPIEGEL: Könnte eine solche Neuwahl in NRW noch vor der niedersächsischen Landtagswahl stattfinden? Clement: Das geht schon aus Rechts- und Zeitgründen nicht. SPIEGEL: Das haben Sie schon geprüft? Clement: Klar. SPIEGEL: Würde eine Neuwahl in NRW noch vor der Bundestagswahl stattfinden?

„Ich empfinde mich als völlig unabhängig und völlig frei“

Oder wären Sie dafür, daß man den Termin mit der Bundestagswahl zusammenlegt? Clement: Sicher nicht. Das widerspräche auch meinem Anspruch an unseren fö- deralen Staatsaufbau. SPIEGEL: Die Grünen haben ja schon dun- kel angedroht, für die schlechte Behand- lung in den vergangenen Wochen Rache zu nehmen, falls Sie sich in der Koalition als Nachfolger Raus zur Wahl stellten.Wie schätzen Sie Ihre Chancen auf die Rau- Nachfolge vor dem Hintergrund des Garz- weiler-Konfliktes ein? Clement: Sie werden es nicht glauben, aber ich empfinde mich als völlig unabhängig und völlig frei von solchen Überlegungen. Ich werde mich niemals von solchen Über- legungen abhängig machen – und zwar bis zum Ende meiner Arbeit in der Politik. Eher werde ich aussteigen. SPIEGEL: Ihren Willen, Rau als Regierungs- chef zu folgen, haben Sie bekundet. Wer- den Sie im Januar auf dem Landespartei- tag für den SPD-Vorsitz kandidieren? Clement: Nein, auch um solchen Fragen wie der Ihren zu entgehen, habe ich Jo- hannes Rau eindringlich gebeten, erneut für den Landesvorsitz der SPD zu kandi- dieren. SPIEGEL: Gilt der Verzicht auf diese Kandi- datur auch für den Fall, daß die Koalition nach dem Parteitag der Grünen platzt? Oder werden dann die Karten für eine sol- che Bestimmung oder Aussage neu ge- mischt? Clement: Darüber machen wir uns Ge- danken, wenn der Parteitag der Grünen vorbei ist. ™

der spiegel 1/1998 Deutschland Auch der stellvertretende Fraktionschef wenn der Innenminister Leipzig den Vor- CDU der CDU/CSU, der Mecklenburger Paul zug gebe, behauptet er. Krüger, empörte sich wegen des Affronts, Auch Fraktionschef Schäuble hat die Hessisch zumal er vor der Abstimmung mit Wolfgang Rauswurf-Aktion in kleinem Kreis inzwi- Schäuble vereinbart hatte, die Entscheidung schen als „hessisch eingefärbt“ bezeich- zu vertagen. Genau das hatten vor dem net. Rechtlich umstritten ist die Suspen- eingefärbt Eklat auch die Teilnehmer der sogenannten dierung von Petzold sowieso. Bohl-Runde empfohlen. Zwar haben die Fraktionen das Recht, Die CDU-Bundestagsfraktion Die Angehörigen dieses mittwöchlich ihre Ausschußmitglieder beim Bundes- mit Kanzleramtsminister ta- tagspräsidium zu benennen. Ob sie die bewahrte einen ostdeutschen Ab- genden Gesprächskreises, in dem sich vor Vertreter auch wieder abberufen dürfen, geordneten davor, gegen allem ostdeutsche Unionsabgeordnete ver- „steht allerdings dahin“, so Petzold. Kolbe seine Überzeugung zu stimmen – sammeln, wollten nicht einsehen, weshalb drückt sich klarer aus: Der Abgeordnete sei sie suspendierte ihn davon. noch mehr Bundesbedienstete nach Frank- nur seinem Gewissen verantwortlich, „das furt umsiedeln sollen. „Am Main leben und gilt auch im Haushaltsausschuß“. Alles ls 1989 das SED-Regime zusam- arbeiten jetzt schon über 17000 Bundes- andere, empört er sich, „ist unzulässiger menbrach, machte sich der Witten- beamte“, kritisiert Kolbe, „in Leipzig ge- Fraktionszwang“. Aberger Ulrich Petzold auf die Suche rade mal 4000.“ Solche Grundsatzfragen mag Roth gar nach einer Partei. Die Entscheidung fiel Das Institut für Kartographie wurde vor nicht erst aufwerfen. In Wahrheit kam die dem gelernten Diplom-Ingenieur, der sich 160 Jahren in Leipzig gegründet. In Frank- Suspendierung seiner Überzeugung nach zu DDR-Zeiten von der Politik ferngehal- furt etablierte sich das Bundesamt als west- nämlich einem Freundschaftsdienst gleich. ten hatte, ziemlich leicht. Er trat in die CDU liches Pendant zur DDR-Konkurrenz erst Man habe Petzold davor bewahren wol- ein, denn „die hatte im Gegensatz zur SPD in den fünfziger Jahren. Nun sollen beide len, „gegen seine Überzeugung zu stim- ein Büro, ein Telefon und einen Sekretär“. Institute an einem Ort vereint werden. men“. Im übrigen sei das alles „ein ganz Gemeinsam mit einem Dutzend Neulin- Leipzig hat zwar die älteren Rechte, Frank- normaler Vorgang im Bonner Betrieb“. gen eroberte er den CDU-Kreisvorstand furt aber die stärkeren Bataillone. Das mögen die Ostdeutschen nicht ganz und schob die alten Blockflöten ins Ab- Die Hessen , Dienst- glauben. Unterstützt von CDU-Fraktions- seits. Seit sieben Jahren vertritt Petzold, herr der Behörde, und Roth setzten die vize Krüger, bereitet die sächsische Lan- 46, in der Lutherstadt geboren, die Region Entscheidung pro Frankfurt vor Weih- desgruppe der Unionsabgeordneten des- Wittenberg im Bundestag. nachten schnell noch durch, anstatt sie zu halb einen Gruppenantrag vor, der dann im Das Wahlplakat „Wir sind ein Volk“ be- verschieben. Ein „ungeheuerlicher Vor- Bundestag beraten werden soll. Die Haupt- sitzt einen Ehrenplatz in seinem Witten- gang“, entrüstete sich auch der Leipziger forderung: Vor einer Entscheidung über berger Büro. Doch in Bonn machte der Ab- Unionsabgeordnete Hermann Pohler. den Standort solle eine Wirtschaftlichkeits- geordnete jetzt seltsame Erfahrungen mit Schon ein Gutachten, das Kanther über untersuchung vorgenommen werden, die den herrschenden Gepflogenheiten. Für die Wahl des Standorts in Auftrag gegeben alle bisher vorgetragenen „Bedenken aus- den Geschmack seiner Fraktionsführung hatte, war in der Unionsfraktion umstritten räumt“. nimmt es Petzold mit der Wahrung ost- gewesen. „Die Kosten von Frankfurt am Und wenn Leipzig, woran die ostdeut- deutscher Interessen zu genau. Main wurden runter-, die von Leipzig da- schen CDU-Abgeordneten nicht zweifeln, Als vor Weihnachten im Haushaltsaus- gegen hochgerechnet“, klagt Kolbe. Rund besser wegkommt als Frankfurt, soll das schuß die Frage anstand, ob das 240 Mit- 32 Millionen Mark könne der Bund sparen, Institut auch dort angesiedelt werden. ™ arbeiter starke Bundesamt für Kartographie und Geodäsie künf- tig in Frankfurt oder Leipzig resi- dieren soll, wollte Petzold eine schnelle Entscheidung zugunsten der Main-Metropole verhindern. Bevor er aber seine Bedenken zu Protokoll geben konnte, wurde er von seiner Fraktionsführung kurzerhand als Ausschußmitglied suspendiert. „Du darfst nicht mehr mit ab- stimmen“, eröffnete ihm sein hes- sischer Parteifreund Adolf Roth und hielt ihm ein Faxschreiben des Parlamentarischen Geschäftsfüh- rers Joachim Hörster unter die Nase. Darin wurde Petzold aufge- fordert, entweder mit der CDU für Frankfurt zu stimmen oder die Sit- zung umgehend zu verlassen. Der Vorgang ist in Bonn ohne Beispiel und bringt vor allem ost- deutsche CDU-Parlamentarier wie den Grimmaer Bundestagsabge- ordneten Wolfgang Kolbe in Wal- lung. „Solche Aktionen“, meint der

Sachse, „vertiefen den Graben in K. MEHNER Deutschland.“ CDU-Abgeordneter Petzold in seinem Wittenberger Büro: „Du darfst nicht mehr mit abstimmen“

der spiegel 1/1998 35 Deutschland

GRIPPE „Der Wind kann sich schnell drehen“ Der Ausbruch der Hühnergrippe in Hongkong versetzt Mediziner weltweit in Sorge. Weil kein Mensch gegen das neue Virus gefeit ist, könnte es sich rasch über die ganze Erde verbreiten. Seuchenexperten fahnden nach den Übertragungswegen.

ine Zeitlang schien es den Medizi- visite nach Hongkong anreiste, zeigte sich Doch die Krankheit kann zur todbrin- nern, als sei die Krise ausgestanden. sehr besorgt. Wenn sich das Virus von genden Seuche mutieren, gefährlicher EEtliche Wochen hatten die Seuchen- Mensch zu Mensch übertrage, so seine als Cholera, Ebola und Lassafieber zu- detektive nach dem Killervirus in der Stadt Warnung, könnte eine Krankheitswelle um sammen. gefahndet.Aber sie fanden nichts. Einziges die Welt gehen. Im schlimmsten Fall, so Alle 15 bis 30 Jahre, so der von den For- Opfer des seltsamen Erregers aus dem Vo- fürchtet auch Rolf Heckler vom Nationa- schern beobachtete Zyklus, gelingt es dem gelreich schien ein dreijähriger Junge, der len Referenzzentrum in Hannover, könnte Virus, sich eine neue Verkleidung zuzule- im Mai an den Folgen der Krankheit ge- ein derart aggressives Virus „innerhalb von gen.Auf den so maskierten Erreger ist kei- storben war. Erleichtert reisten die For- ein bis zwei Monaten“ jeden Winkel der nes Menschen Immunsystem vorbereitet. scher wieder ab. Erde erreichen. Die Zahl der Infizierten wächst dann Doch die hochkarätigen Seuchenexper- Grippe gilt im Bewußtsein der meisten schlagartig, auf hohes Fieber und Körper- ten des Centers for Disease Control (CDC) Menschen als lästiges Sechs-Tage-Fieber. schwäche folgt nicht selten eine Lungen- in Atlanta haben sich geirrt. oder Herzbeutelentzün- Kaum hatten sie die quirli- dung, die rasch zum Tode ge 6,5-Millionen-Metropole führt. Hongkong im Spätherbst Allein die Pandemie, die verlassen, war das Virus, von 1917 bis 1919 wütete, das die Hühnergrippe aus- hat weltweit 20 bis 40 Mil- löst, wie aus dem Nichts lionen Menschen getötet. wieder aufgetaucht. Weitere schwere Grippe- Im November steckte wellen ereigneten sich 1956 sich ein Zweijähriger an; er und 1968, jeweils mit Mil- genas erst nach intensiver lionen Toten weltweit und Behandlung im Kranken- einigen zehntausend in haus. Anfang Dezember Deutschland. Seit langem starb ein 54jähriger Zahn- warnen Forscher, daß ein arzt, die Hühnergrippe hat- neuer Seuchenzug von der- te seine Lunge zerstört. art massiver Gewalt über- Bis Mitte vergangener fällig sei (SPIEGEL 8/1997). Woche zählten die chinesi- Eine Pandemie kann nur schen Behörden elf Perso- dann entstehen, wenn es nen, die sich mit Sicherheit, den Viren gelingt, be- und zwei, die sich vielleicht stimmte Eiweiße auf ihrer infiziert hatten. Kurz vor Hülle so zu verändern, Heiligabend erlag auf der daß die im Blut vorhande- Isolierstation des Prince-of- nen Antikörper sie nicht Wales-Hospitals die 13jäh- attackieren können. Nach rige Tse Man-see der Infek- dem Ersten Weltkrieg ge- tion, dann starb eine 60jäh- lang dies dem H1N1-Virus, rige Frau, eine 24jährige benannt nach der Ausprä- Kranke schwebte in Le- gung der Hämagglutinin- bensgefahr. und Neuraminidase-Protei- Als die Seuche wieder ne auf seiner Oberfläche. aufflackerte, kehrten die Ein H2N2-Virus wütete in CDC-Spezialisten – fünf den fünfziger Jahren. Die Ärzte und ein Mathemati- „Hongkong-Grippe“ von ker – über Weihnachten ins 1968 ging auf ein Virus vom Hongkonger Hotel Empire Typ H3N2 zurück. zurück, bei diesigem Wet- Das kugelig-stachelige ter und mit einem Schrek- Virus, dem die Experten kensszenario vor Augen: ei- jetzt in Hongkong nach- ner Grippe-Pandemie. spüren, paßt genau in die- Robert Webster, einer ses Muster von Killerkei- der führenden Influenza- men. Wie Forscher in den

experten aus den USA, der REUTERS Niederlanden und den gleichfalls zu einer Stipp- Geflügelhändler, tote Hühner in Hongkong: Über Nacht verendet USA herausfanden, han-

36 der spiegel 1/1998 delt es sich um ein H5N1-Virus. Bislang Das Virus könnte aber auch verschwin- kam es ausschließlich bei Vögeln vor, im den. Aus Antikörperanalysen von chine- Vogelreich ist es über weite Teile der Welt sischen Bauern wissen die Forscher, daß verbreitet. Niemand weiß, weshalb dem die Menschen dort wegen ihrer engen Virus in Hongkong der Sprung aus dem Lebensgemeinschaft mit Hühnern und Federvieh zur Attacke auf den Menschen Schweinen häufiger mit seltsamen Grippe- gelang. viren in Kontakt kommen – ohne daß je- Ist dies der Beginn der lange befürchte- desmal eine Epidemie daraus entsteht. ten Pandemie? Zumindest für Vögel hat Auch 1976 erwies sich ein Viren- sich das Virus als potenter Killer entpuppt. Großalarm als verfrüht. Damals hatten Me- Viele hunderttausend Hühner im Süden diziner im Körper eines toten amerikani- Chinas sind ihm seit letztem April erlegen. schen Soldaten in Fort Dix das H1N1-Virus Marktverkäufer in Hongkong mußten in gefunden – genau jenen Stamm, der von den vergangenen Wochen mitansehen, wie 1917 bis 1919 die Welt verheerte. Panikar- jedes dritte Federvieh in seinen Verschlä- tig begannen die Amerikaner mit Massen- gen über Nacht verendete. impfungen, Schulen wurden geschlossen – Zahllose Menschen in Hongkong sind ohne Grund, wie sich herausstellte: Das bereits psychologisch vom Grippefieber er- Virus verschwand von selbst, ebenso rät- faßt. Virginia Sondia, Hausmädchen aus selhaft, wie es aufgetaucht war. den Philippinen, hustet und hat Hals- In Hongkong jedoch kann niemand aus- schmerzen. Sie will sich testen lassen auf schließen, daß H5N1 von Mensch zu

H5N1, denn der Nachbar besitzt einen Vo- AP Mensch übertragbar ist. Vor allem der Fall gel, „ich habe Angst“, sagt sie. Schnupfenkranke in Hongkong der vier Kinder beunruhigt die Forscher: Die Hongkonger Tourismusbehörde Meldepflicht für Tropfnasen Chan Man-kei, 5, hat die Hühnergrippe warnt vor Panik, Besucher hätten nur ein und liegt im Krankenhaus. Ihr Cousin, 2, ist „geringes Risiko“, sich anzustecken. In ebenfalls infiziert, ihre dreijährige Schwe- Kindergärten und Schulen hängen Warn- ster vielleicht, ebenso wie ein Sechsjähri- schilder. Kinder sollen keine Tiere und vor ger aus dem größeren Familienkreis. allem kein Geflügel anfassen. Lehrer, die Haben die Kinder einander beim Spielen Kinder mit Tropfnasen oder Fieber ent- angesteckt oder sich das Virus allesamt von decken, müssen sie den Behörden melden. der gleichen Quelle eingefangen? Die Fa- In vielen Spitälern nähern sich Ärzte milie wohnt zusammengepfercht in einem und Pfleger echten oder vermeintlichen tristen Betonghetto, nur wenige Meter vom Grippekranken mit Maske und Handschu- Haus verkaufen Händler Geflügel. Die hen. Isolierstationen sind für die Kranken Großmutter, erzählen Nachbarn, habe im- hergerichtet. In den Laboren arbeiten die mer tote Hühner aus dem Müll geklaubt Mediziner bis spät in die Nacht. Experten und daraus Suppe gekocht. der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Auch Eltern, Schulklassen und Freunde

haben mit den Vorarbeiten zur Herstellung DPA der Kranken wurden auf das Hühnervirus eines Impfstoffs begonnen. Erste Chargen Grippe-Virus H5N1 untersucht. Einige zeigen in der Tat Grip- sind frühestens in Monaten verfügbar. „Es gibt keinen Schutz“ pesymptome, was den Verdacht einer „Es gibt viele unbekannte Faktoren bei Mensch-zu-Mensch-Infektion nahelegt. diesem Virus“, sagt Damon Choy,Arzt am Opfer und Angehörige, um herauszufin- Ebenso sind neun Ärzte und Pfleger be- Queen Mary Hospital. Noch seien nur we- den, ob und in welcher Weise die Infizier- troffen; sie hatten in dem Hospital gear- nige Fälle von Hühnergrippe nachgewie- ten mit Geflügel in Kontakt waren. beitet, in dem die 13jährige Tse Man-see ge- sen. „Aber der Wind kann sich sehr schnell So wollen die Forscher die alles ent- storben war. Ob all diese Kontaktpersonen drehen.“ Es könnten, fürchtet Choy, be- scheidende Frage klären: Ist das Virus nur an H5N1 leiden oder an einer Erkältung, reits Tausende an dem tödlichen Virus er- von Geflügel auf den Menschen oder ist es stand vergangene Woche noch nicht fest. krankt sein, „ohne daß wir es wissen“. von Mensch zu Mensch übertragbar? Margaret Chan, die Chefin der Gesund- Für neue Grippeviren gilt China als idea- Sollte sich erweisen, daß nur die Vögel heitsbehörde, geht davon aus, daß Mensch- le Brutstätte; schon lange glauben die For- als Ansteckungsquelle in Frage kommen, zu-Mensch-Übertragungen von H5N1 prin- scher, daß eine Pandemie von dort ihren wäre dies fürs erste das kleinere Übel. In zipiell möglich sind. „Aber sehr effizient Anfang nehmen würde. Die Menschen le- diesem Fall, so vermutet Daniel Lavanchy, scheint dieser Weg nicht zu sein“, sagt sie. ben auf engstem Raum beisammen, dicht der nach Hongkong entsandte Chef des Andernfalls, das belegen die explosiven bei sich halten sie Enten, Hühner und WHO-Grippeprogramms, hätten sich die Krankheitsausbrüche früherer Epidemien, Schweine. Opfer wahrscheinlich „über Mikrotropfen „hätten wir zu diesem Zeitpunkt bereits Die Schweine galten bisher als lebender von Hühnerspeichel“ infiziert, möglicher- viele Tausende Kranke zählen müssen“. Bioreaktor für Influenzakeime, in dem Vo- weise über die Lunge. Die Gefahr einer Pandemie, so scheint gelviren und Menschenviren neue, tödli- Ein solcher Befund erlaubte es, zunächst es, ist zunächst aufgeschoben, doch H5N1 che Verbindungen eingehen. Überrascht Entwarnung zu geben, wäre aber immer ist in Hongkong etabliert. Der hannover- stellen die Mediziner fest, daß H5N1 den noch beunruhigend. Hat sich das wand- sche Seuchenmediziner Rolf Heckler sieht üblichen Umweg über die Sauen nicht ge- lungsfreudige Grippevirus erst einmal im darin zugleich Risiko und Chance. nommen zu haben scheint.Wieder hat sich menschlichen Wirt eingenistet, kann es sich Erstmals können die Forscher in der Mil- das trickreiche Virus allen Forscher-Mo- auf längere Sicht an den Menschen adap- lionenstadt anhand des Keims untersuchen, dellen widersetzt. tieren – und damit später doch noch eine wie sich das Virus über Mutationen und Die CDC-Experten sowie Epidemiolo- Pandemie entfachen. Wenn das passiert, Formveränderungen langsam an den Men- gen der WHO und der chinesischen Behör- mahnt auch Lavanchy, „dann gibt es kei- schen adaptiert. „Das“, so der Seuchen- den versuchen jetzt, den Geflügelkeim in nen Schutz“. Weltweit „kann sich jeder fachmann Heckler, „ist ein riesiges Expe- Detektivarbeit einzukreisen. Sie besuchen einzelne anstecken“. riment.“ ™

der spiegel 1/1998 37 Deutschland

Glos: Im Gegenteil, nach den vorliegenden Zahlen wissen wir, daß Deutschland CSU wohl dabeisein wird. Die Daten anderer Länder deuten darauf hin, daß eine Reihe wichtiger Partner ebenfalls dabeisein „D-Mark unter werden. SPIEGEL: Gilt unverändert, daß kein Teil- nehmer sich in diesem Jahr mit mehr als anderem Namen“ 3,0 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verschulden darf? Glos: 3,0 als Richtmarke bleibt. Der Bonner Landesgruppenchef Michael Glos will die CSU SPIEGEL: Der bayerische Ministerpräsident in Kreuth am 7. Januar auf einen Euro-freundlichen argumentiert, eine Währungsunion könne dauerhaft nur in einer politischen Europäi- Kurs einstimmen – anders als Euro-Skeptiker Edmund Stoiber. schen Union funktionieren; das eine sei die Bedingung für das andere. Kanzler Kohl – SPIEGEL: Herr Glos, in einem internen Po- Tricksen bis auf den letzten Prozentpunkt und nun auch die Bonner CSU-Schar – sei- sitionspapier schlagen Sie die Werbetrom- erfüllt.Aber wir wollen die Chancen stärker en dagegen mit der vorzeitigen Währungs- mel für die Währungsunion. Das wird vie- in den Vordergrund stellen als die Risiken. union bereit, die D-Mark als „Morgengabe“ len Ihrer Parteifreunde in Bayern nicht ge- SPIEGEL: Edmund Stoiber kritisiert, von für eine politische Vision preiszugeben. fallen. Wollen Sie den Streit um den Euro nachhaltiger erwiesener Stabilität, wie es Glos: Das Wort „Morgengabe“ halte ich für neu entfachen? der Maastricht-Vertrag fordert, könne bei unglücklich. Eine politische Union, auch Glos: Das Papier der Bonner CSU-Lan- vielen Euro-Partnern bis heute keine Rede wenn sie erst am Horizont steht, bedeutet desgruppe ist eine Diskussionsgrundla- sein. für Deutschland mehr Chancen als Risi- ge für die Klausurtagung ken und ist etwas Erstre- in Kreuth. Wir wollen benswertes. Der Weg da- keinen Streit entfachen, hin führt nicht zuletzt aber wir müssen zu ei- auch über eine gemeinsa- ner klaren, eindeutigen me Wirtschafts- und Wäh- und gemeinsamen Haltung rungsunion. kommen. SPIEGEL: Glauben Sie, daß SPIEGEL: Und die Haltung Sie davon auch Edmund soll künftig weniger von Stoiber überzeugen wer- der Euro-Skepsis des den? Der hat sich doch bayerischen Ministerpräsi- auf einen Euro-skeptischen denten Edmund Stoiber Kurs festgelegt, weil er un- und mehr von der Euro- mittelbar vor der Bundes- Begeisterung des Kanzlers tagswahl eine Landtags- geprägt sein? wahl bestehen muß. Und Glos: Sie bauen einen der Euro ist nun mal nicht künstlichen Gegensatz auf. populär, in Bayern schon SPIEGEL: Der Euro sei die gar nicht. „Fortsetzung der D-Mark Glos: Stoiber versucht, und auf breiterer Basis“, das ist zu begrüßen, auch schreiben Sie in Ihrem die Skeptiker auf den Weg Papier. Das sieht Stoiber zum Euro mitzunehmen. anders. Und ein „Ja“ der bayeri-

Glos: Natürlich gibt es M. DARCHINGER schen Staatsregierung zum unterschiedliche Einschät- Parteifreunde Glos, Stoiber: „Für die Vorteile des Euro werben“ Euro bedeutet dann einen zungen. Deshalb wollen zusätzlichen Vertrauensbe- wir ja in Kreuth gemeinsam diskutieren Glos: Stoiber sagt, nicht alle Länder seien weis für diejenigen in der bayerischen und und uns – so haben wir es in der CSU im- fit für die Währungsunion; das sehen wir auch in der deutschen Bevölkerung, die mer gehalten – dann auf eine Linie ver- genauso. Auch die CSU-Landesgruppe in jetzt noch skeptisch sind. Ich gehe davon ständigen. Bonn geht nicht davon aus, daß alle 15 aus, daß dieses Ja in Kreuth deutlich for- SPIEGEL: Die Bonner CSU-Landesgruppe EU-Partner im ersten Anlauf bei der muliert wird. Die CSU will das gemeinsa- fordert ein klares „Ja“ zum Euro, ohne Währungsunion teilnehmen. Auch wir me Europa. Das ist das Erbe von Strauß. Mäkeleien und Angstmache. sind der Meinung: Klasse statt Masse, SPIEGEL: Eine „So nicht“-Position in Bayern Glos: Wir stehen am Beginn des Jahres, in Qualität statt Quantität. Richtig ist, daß und eine Euro-Zustimmung in Bonn wür- dem die Einführung des Euro mit großer wir eine optimistischere Interpretation de die CSU-Klientel nicht verstehen? Wahrscheinlichkeit beschlossen wird. Des- und eine optimistischere Sicht der Dinge Glos: Jedenfalls nur sehr schwer. halb muß man aufhören, den Leuten unbe- empfehlen. SPIEGEL: Ist die Entscheidung über den gründet Angst vor der Währungsunion zu SPIEGEL: Schönfärben statt Schwarzmalen Euro-Start schon gefallen, oder ist sie, wor- machen. Wir glauben, daß die CSU ganz – der neue Euro-Kurs der CSU? auf Stoiber beharrt, noch offen? klar zeigen muß, daß sie die Vorteile des Glos: Wir werben für „mehr Euro-Realis- Glos: Ich gehe davon aus, daß die Ent- Euro erkannt hat und für ihn werben will. mus“. Unser Papier ist nicht ohne Grund scheidung für den Euro de jure offen, aber Wir wollen nichts verwässern, nichts auf- gekennzeichnet als „ein Beitrag zur Ver- – ausgehend von den sich abzeichnenden weichen, sondern in der Sache bei der har- sachlichung“. Daten – de facto gefallen ist. Und das ist ten CSU-Linie bleiben – mitmachen darf SPIEGEL: Schließen sich Realismus und Op- gut so. Denn für mich ist der Euro die nur, wer die Kriterien ohne Mogeln und timismus in Sachen Euro nicht aus? D-Mark unter einem anderen Namen. ™

38 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

PARLAMENT Phosphor vom Himmel Genscher und Dregger, Lambsdorff und Stoltenberg: Die letzten Abgeordneten aus der Generation der Wehrmachtsoffiziere und Flakhelfer nehmen Abschied von der Politik.

on seinem Büro im Erdgeschoß des offiziere und Flakhelfer nimmt Abschied Bonner Bundeshauses kann Alfred von Bonn. VDregger, 77, direkt ins Grüne sehen Mit dem viermal verwundeten Ex- ULLSTEIN und gehen. Die Glastür zum Park ist ein Hauptmann Dregger ziehen in den Ruhe- Regierungserklärung von Bundeskanzler Adenauer Privileg, das sonst keiner hat. stand: der Ex-Soldat Doch Dregger schaut nicht hinaus. Er (FDP), der in den letzten Kriegstagen ein siedler, kommt nicht mehr zurück nach sitzt kerzengrade mit dem Rücken zum Fen- Bein verlor; der Marine-Flakhelfer Gerhard Bonn. , 67, der liberale Bür- ster und horcht in sich hinein. Worüber er Stoltenberg (CDU), der schon zu Adenau- gerrechtler, hört ebenfalls auf. Denn inzwi- gern geredet hätte als Alterspräsident des ers Kanzlerzeit als junger Abgeordneter in schen ist auch die Generation der Hitlerju- nächsten Bundestages? Je länger er darüber Bonn einrückte; der Soldat Dionys Jobst gend pensionsreif, deren prominentester nachdenkt, desto entschiedener weiß er es. (CSU), der schon mit 16 Jahren in den Krieg Vertreter Helmut Kohl, Jahrgang 1930, ist. Die Ausstellung des Hamburger Instituts ziehen mußte; der Flakhelfer und Pionier Am stärksten betroffen vom Wechsel der für Sozialforschung über die Verbrechen Hans-Dietrich Genscher (FDP), der sich als Generationen ist die FDP.Wenn Genscher der Wehrmacht, „diese Show“, wie er sie Reserveoffiziersbewerber beim Heer mel- und Lambsdorff fehlen, wird Detlef Klei- verächtlich nennt, wäre sein Thema gewe- dete, um nicht zur Waffen-SS zu müssen. nert (Jahrgang 1932), der Rechtsexperte sen. Über die besudelte Ehre seiner Gene- Dazu gehen etliche Abgeordnete aufs und berüchtigte Strippenzieher, dienstäl- ration hätte der Wehrmachtsoffizier Dreg- Altenteil, die gerade ihr silbernes Parla- tester Liberaler in der Bundestagsfraktion ger „gern geredet“. mentsjubiläum gefeiert haben. Peter Con- sein, vorausgesetzt, die FDP schafft mehr Er darf aber nicht. Der letzte Repräsen- radi, 65, gehört dazu. Der SPD-Baumei- als 5 Prozent. Kleinert ist seit 1969 im Par- tant des national-konservativen CDU-Flü- ster mit der Fliege, ohne den der schöne lament. Zum zweiten Veteranen unter den gels, von Joschka Fischer als „Stahlhel- Plenarsaal des Architekten Günter Beh- FDP-Abgeordneten rückt dann Jürgen W. mer“ verspottet, wird nicht in den Bun- nisch wahrscheinlich nie gebaut worden Möllemann, 52, auf.Anfang Dezember be- destag zurückkehren. Seine Partei hat ei- wäre, verläßt das Parlament „ohne Groll ging er im Düsseldorfer Hilton-Hotel ge- nen anderen für „seinen“ Wahlkreis in und Bitternis“, wie er sagt. Horst Waffen- meinsam mit Lambsdorff das 25jährige Par- Fulda nominiert. schmidt, 64, Kohls Beauftragter für die Aus- lamentsjubiläum. Dreggers Abgang ist eine Zäsur. Im kom- 33 Jahre wird Genscher Abgeordneter menden Herbst treten die letzten aktiven gewesen sein, wenn er im Herbst nächsten * Mit Redner Jürgen Möllemann bei einer Feier zum Kriegsteilnehmer den Rückzug aus der Po- 25jährigen Bundestagsjubiläum von Möllemann und Jahres den Bundestag verläßt. Nur wenige litik an. Die Generation der Wehrmachts- Lambsdorff am 4. Dezember in Düsseldorf. blieben länger im Bonner Parlament. Ri- J. H. DARCHINGER J. Parlamentsaussteiger Genscher, Lambsdorff*: „Der Krieg hat unsere Generation geprägt“

40 der spiegel 1/1998 im Oktober 1949 im Bundestag: „Was nicht sein darf, war klar; was sein darf, darüber gingen die Meinungen auseinander“

chard Stücklen (CSU) zum Beispiel, der es Voraussicht nach der Älteste im Parlament hart, „ich gönne diesem Menschen diese auf 41 Jahre brachte, sein. Er dürfte dann jene Eröffnungsrede Chance nicht. Der ist nie für die Einheit (SPD) und Wolfgang Mischnick (FDP) (je halten, die Dregger so gern gehalten hätte. Deutschlands eingetreten.“ Auch mehr als 37 Jahre) und (34 Jahre). Stramm und erzürnt richtet sich der Eh- ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende So unterschiedlich die Schicksale dieser renvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion in sind die Wunden nicht verheilt, die Krieg Langzeit-Parlamentarier waren und so ge- seinem Ledersessel auf. „Nein“, sagt er und Faschismus gerissen haben.Was in der gensätzlich ihre politischen Meinungen auf- einanderprallten – in einem Punkt, so Gen- scher rückblickend, herrschte Einigkeit: Die Sterne der Abgeordneten Abgeordnete, die nicht mehr für den Bundestag kandidieren Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur. Kürschners „Volkshandbuch“, das „Das war“, erinnert sich der FDP-Eh- Standardnachschlagewerk über den 9 Sterne seit 1965 im Bundestag renvorsitzende, „für uns, die wir den Krieg Deutschen Bundestag, kennzeichnet überstanden hatten, eine Art kategorischer die Dauer der Zugehörigkeit eines Imperativ: Was nicht sein darf, war klar; Abgeordneten zum Parlament mit was sein darf, darüber gingen die Meinun- Hans-Dietrich Genscher einem Stern pro Legislaturperiode. (FDP) 70 gen auseinander.“ Die Altgedienten: Im Gespräch untereinander blieben die Rekordhalter mit der Fronterlebnisse seltsamerweise ausgespart. längsten Zugehörigkeit „Es gab im Bundeshaus keinen Traditions- zum Bundestag verein Wehrmacht“, wehrt Genscher ab. Abgeordnete, die auch in der „Abwegig“ nennt Dregger „die Vorstel- nächsten Legislaturperiode dem 8 Sterne lung, wir hätten uns viel Zeit geleistet, dar- Bundestag angehören wollen seit 1969 im Bundestag über zu sprechen oder auch nur das Be- 8 Sterne dürfnis gehabt, uns auszutauschen.“ seit 1969 im Bundestag Nie wäre Dregger auf die Idee gekom- (CDU) 69 men, mit dem fast gleichaltrigen Ex-Jagd- wäre der dienstälteste Politiker flieger Heinrich Graf von Einsiedel, der (CDU) 60 im Bundestag (erstmals 1957), wäre er nicht von 1971 bis 1994 als Parteiloser von der PDS für den vom 26.11.1991 bis 7.7.1993 1982 Ministerpräsident in Kiel Bundestag nominiert wurde, über das Bundesminister des Inneren gewesen Kriegsinferno zu reden, dem beide ent- kommen sind. Und auch der Graf, ein Ur- Erwin Horn (SPD) 68 – Dionys Jobst enkel des Reichsgründers Otto von Bis- (CSU) 70 – Christian Lenzer (CDU) 64 – marck, sähe darin wenig Sinn. Detlef Kleinert (FDP) 65 (CSU) 66 – Dregger „hielt die Front“ bis zum letz- (CDU) 60 (CDU) 56 – Dietrich Sperling (SPD) 64 – ten Kriegstag. Der 1942 in russische Ge- Egon Susset (CDU) 68 – Wolfgang Vogt (CDU) 68 – Jürgen Warnke (CSU) 65 fangenschaft geratene Einsiedel schloß sich 7 Sterne in Moskau dem „Nationalkomitee Freies seit 1972 im Bundestag Deutschland“ an und rief die deutsche Ar- 7 Sterne seit 1972 im Bundestag mee zur Meuterei gegen Hitler auf. Für Dregger war es eine „Ehrenpflicht“, unter Herta Däubler-Gmelin Einsatz seines Lebens den Rückzug zu si- (SPD) 54 Otto Graf Lambsdorff chern. Für Einsiedel war die Wehrmacht (FDP) 71 eine „tragende Säule des NS-Staates“; er von 1977 bis 1984 fühlt sich heute noch schuldig, „weil ich um Bundesminister für Wirtschaft die Verbrechen wußte und trotzdem in Hit- lers Luftwaffe weitergeflogen bin“. Norbert Blüm (CDU) 62 – Manfred Der parteilose Graf will wieder für die Carstens (CDU) 54 – Karl-Heinz Hornhues Peter Conradi (SPD) 65 – PDS kandidieren. Wenn die ihn aufstellt, (CDU) 58 – Jürgen W. Möllemann (FDP) 52 – (CDU) 77 – Uwe Jens (SPD) 62 – Karl-Hans was keineswegs sicher ist, da sie dem Anti- Willfried Penner (SPD) 61 – Wolfgang Laermann (FDP) 68 – Günter Schluckebier stalinisten und DDR-Kritiker mißtraut. Schäuble (CDU) 55 – Carl-Dieter Spranger (SPD) 64 – Hans Peter Schmitz (CDU) 60 – (CSU) 58 – Theo Waigel (CSU) 58 Wenn die Gysi-Truppe mit ihm erneut in Horst Waffenschmidt (CDU) 64 den Bundestag einzieht, wird Einsiedel aller

der spiegel 1/1998 41 Deutschland Zeit der Hitler-Diktatur „Verrat“ und was Hirsch wird „das Bild nicht los“, wie ei- „Verbrechen“ war, darüber wird vermut- ner seiner Klassenkameraden, der von ei- lich auch künftig im Bundestag gestritten. nem Splitter erwischt worden war, „auf Aber anders. Wie kann Betroffenheit einer Bahre tot an mir vorbeigetragen wur- entstehen, wenn die Betroffenen nicht de, mit herunterhängendem Arm“. Und er mehr im Saal sind, wie Anteilnahme ohne sieht vor sich die jüdische Frau mit dem die Beteiligten? Eine Debatte wie jene über gelben Stern, die sich an der Straße an ihm die umstrittene Wehrmachts-Ausstellung, vorbeidrückt. Als der Krieg zu Ende war bei der sogar die Zuschauer am Fernseh- und die ersten Augenzeugen heimkehrten, schirm merken konnten, daß es den Red- die von Massakern an den Juden hinter nern um ihre eigene Geschichte ging, ist der Ostfront berichteten, fühlte er sich „be- kaum noch vorstellbar. troffen, verschmutzt, verachtet“. Gewiß wird die Debatte über Schuld Nach diesen Erfahrungen erschienen der und Mitschuld der Deutschen an Holocaust Frieden und die solide Nachkriegsrepublik und Kriegsverbrechen auch dann noch tatsächlich wie ein Geschenk. Haben wir fortgesetzt werden, wenn die letzten Zeit- nicht „fast die beste aller Zeiten gehabt“? zeugen verschwunden sind. Aber vermut- fragt der gerade 65 gewordene Conradi. lich geschäftsmäßiger, emotionsloser, ab- „Ich bin aufgewachsen in den goldenen strakter – und langweiliger. Jahren und habe den miefigen Staat Persönliche Erfahrungen bekämpft“, erinnert sich der mit der Nazi-Diktatur an der SPD-Linke. Welche andere Front und daheim in den ver- „Wir Älteren Generation in diesem Jahr- wüsteten Städten haben die hundert konnte sich das lei- Alten geformt. Genscher ist haben die sten? Und zu alledem „jede überzeugt, daß die Vereini- Teilung erlebt, Menge Jobs, die man sich aus- gung Europas ohne diese Er- die Jüngeren nur suchen konnte“ – das klingt fahrungen niemals so beharr- das geteilte für die Generation seiner Kin- lich vorangetrieben worden der wie ein Märchen aus der wäre: „Mein ganzes politi- Land. Das ist ein guten alten Zeit. sches Engagement hing ir- Unterschied“ Fast alle Altgedienten tun gendwie damit zusammen.“ sich schwer, nach so vielen Er glaubt auch, daß die Wie- Jahren in Pension zu gehen. dervereinigung am entschiedensten von „Wer so lange engagiert in der Politik ge- denen ins Werk gesetzt wurde, die in den arbeitet hat“, gestand Conradi den „lie- Zwanzigern und Dreißigern aufgewachsen ben Genossinnen und Genossen“ in sei- waren. „Wir Älteren haben die Teilung er- nem Stuttgarter Wahlkreis, dem falle das lebt, die Jüngeren nur noch das geteilte Loslassen schwer. Jeder von uns möchte Land. Das ist ein großer Unterschied.“ unersetzlich sein. Aber: „Es gibt ein Le- Sein drei Jahre jüngerer Parteifreund ben vor dem Tod.“ Hirsch, der in Halle aufgewachsen war, fuhr Hirsch hält dazu einen Satz parat, den 1977 zum erstenmal privat mit seiner Fami- ihm der israelische Präsident Eser Weizman lie in die DDR. Auf die Frage, was ihn dort mit auf den Weg gab: „Unsere Friedhöfe am meisten beeindruckt habe, antwortete sind voll von unersetzlichen Männern.“ sein damals siebenjähriger Sohn: „Daß die Vom fehlenden „Streuselkuchen“, der alle deutsch sprechen.“ Daß man die Wie- ja „bekanntlich der Beerdigungskuchen“ dervereinigung als „Geschenk“ begreift, ist, ist, scherzte Otto Graf Lambsdorff, als ihn so glaubt Hirsch, „in unserer Generation Duzfreund Genscher zum 25jährigen Par- viel mehr verankert als bei den Jüngeren“. lamentsjubiläum mit Lobeshymnen über- „Der Krieg“, sagt Genscher, „hat unse- schüttete. Knurrig gestand der Graf der re Generation geprägt.“ Aber auch den et- Festgemeinde, es sei ihm lieber, selbst über was jüngeren Parlamentskollegen, die zu den Rückzug zu entscheiden, als zu war- Hause bleiben durften, während ihre älte- ten, „bis mir einige Leute in die Kniekeh- ren Brüder und Väter an die Front mußten, len treten“. steckt die Nazizeit noch in den Knochen. Doch keiner der Aussteiger hat fertig- „Wer glaubt, daß er das einfach aus den gebracht, was dem 57jährigen CDU-Abge- Kleidern schütteln kann“, sagt der Sozial- ordneten Werner Dörflinger gelingen dürf- demokrat Helmut Wieczorek, Jahrgang te: einen wirklichen „Generationenwech- 1934, „der lügt sich in die Tasche.“ sel“ vom Vater zum Sohn. Der ehemalige Christdemokrat Waffenschmidt, dessen Journalist und langjährige Kommunalpoli- Vater in der Kriegszeit in Düsseldorf ar- tiker aus Waldshut-Tiengen geht nach 18 beitete, erinnert sich noch, „wie das war, Bundestagsjahren in den Ruhestand. Sein wenn der Phosphor vom Himmel fiel: So- Nachfolger wird sein 32jähriger Sohn Tho- bald er an die Kleider kam, da brannten die mas sein. Wenn der Wähler mitmacht und Leute wie Fackeln, lichterloh“. Wie in ei- den CDU-Direktkandidaten bestätigt – nem Stummfilm laufen bei ihm die Szenen und daran besteht in Tiengen kein Zwei- aus dem Luftschutzkeller ab: „Da saßen fel –, wird er der erste Abgeordnete in der Leute, da dachte man, die leben noch, aber Geschichte des Deutschen Bundestags sein, die waren schon tot, weil ihnen die Luft- der in direkter Erbfolge den Wahlkreis des minen die Lungen zerrissen hatten.“ Vaters übernimmt. ™

42 der spiegel 1/1998 Deutsche Soldaten im griechischen Kalavrita (1943): Grausige Metzeleien als Vergeltung für Partisanenangriffe

ZEITGESCHICHTE Blutbad im Bergstädtchen Zum erstenmal hat ein ausländisches Gericht die Bundesregierung zu Wiedergutmachung verurteilt – für NS-Greuel 1944 in Griechenland, die bislang kaum zur Kenntnis genommen worden waren. 50000 weitere Klagen stehen noch aus.

ls die Erinnerung kommt, hält es zige Wort, das sie aus seinem Mund ver- nes Breis aus Blut und Wein, der sich aus Pagona Skouta, 66, nicht auf ihrem nahm, sprach er auf der Straße: „Kaputt.“ leckgeschossenen Fässern in den Raum er- AStuhl. Gebeugt steht die Griechin in Pagonas Vater Spiros Malamo, 67, ihre goß, dickflüssig „wie Creme“, so Skouta, ihrem Wohnzimmer und schwenkt den Schwester Loukia, 8, Neffe Joannis, 9, und und am Ende fast 20 Zentimeter hoch. Arm wie eine Sichel auf dem Feld, dazu sieben andere Verwandte und Bekannte Im Juni 1944 brachten deutsche Soldaten gibt sie ein knarrendes „Brrr“ von sich. waren auf der Stelle tot. Das Mädchen in Distomo 228 Menschen um. Auf dem Dann sinkt sie wieder auf ihren Stuhl. „Ka- überlebte, weil es hinter die geöffnete Tür Rückweg von einer erfolglosen Jagd auf putt“, sagt sie und wiederholt noch einmal stürzte. Dort blieb es liegen, bis die Solda- Partisanen in einem Nachbardorf, bei der „Kapuuuht“, mit langem Dehnungsvokal. ten das Dorf verlassen hatten – inmitten ei- die Widerständler drei Deutsche getötet Pagona Skouta war 13 Jahre alt, als deut- und 18 verletzt hatten, rächte sich die 2. sche Soldaten am 10. Juni 1944 ihr Dorf Kompanie des SS-Panzergrenadier-Regi- Distomo heimsuchten. So waren sie schon ments 7 mit einem Blutbad an der Zivil- oft gekommen, seit sie Griechenland be- bevölkerung. Das älteste Opfer war 85, das setzt hielten; die Truppen der Wehrmacht jüngste zwei Monate alt. machten in dem Bergstädtchen nahe Del- Panajotis Sfontouris überlebte, weil ihn phi gelegentlich halt, um frische Lebens- seine Großmutter in einem rund 60 Zenti- mittel, Obst und Wein zu beschlagnahmen. meter tiefen Kellerloch für Vorräte unter Manchmal spielten die Besatzer sogar in den Dielenbrettern ihres Wohnraumes ver- der Sonne mit kleinen Kindern. steckte. Nachdem die Deutschen das Dorf Also schleppte Pagonas Vater wie üb- wegen der hereinbrechenden Dämmerung lich Wein und Gläser herbei, als sich ein verlassen hatten, rannte der Sechsjährige Uniformierter mit SS-Runen am Kragen mit seiner kleinen Schwester nach Hause. dem Haus näherte. Sie selbst hielt ein Ta- Als er das Zimmer betrat, kniete seine blett mit Eiern, Schafskäse und Oliven be- Mutter vor dem Kamin, den Kopf mit gro- reit, wie um einen Gast zu empfangen. ßen Augen an die Wand gelehnt. „Ich habe Doch diesmal blieb der Deutsche in der nicht geglaubt, daß sie tot war“, sagt Sfon- Tür des Raumes stehen, in dem sich 15 touris.Als er sie anfaßte, kippte sie um. Im Menschen befanden, die Familie, Freunde, Bett lag der Vater, die Schädeldecke weg- Nachbarn. Wortlos hob er seine Maschi- geschossen. Er hatte gehofft, als simulieren- nenpistole und feuerte mit einem Schwenk der Kranker verschont zu bleiben. An ei-

„von rechts nach links“ in die Runde. Dann ARIS ner Hand fehlten die Finger, samt Ehering. malte er mit weißer Kreide ein Kreuz an Massaker-Überlebende Skouta Im Kinderbett gegenüber fand Panajotis die Tür, drehte sich um und ging. Das ein- Brei aus Blut und Wein seinen kleinen, nicht einmal zwei Jahre al-

der spiegel 1/1998 43 Deutschland ten Bruder Nikolaos. Ihn hatten die Sol- Greuel wurde, sind die grausigen Metze- „objektiver Wert“ glaubhaft gemacht wer- daten nicht erschossen. Er war, offenbar leien in Griechenland kaum in die Ge- den konnten. mit dem Bajonett, aufgeschlitzt worden, schichtsbücher eingegangen. Einen Anspruch auf Schmerzensgeld für von oben bis unten. „Als ich ihn hochhe- Distomo und auch das Massaker von die Hinterbliebenen der Opfer hingegen ben wollte, fiel er richtig auseinander“, er- Kalavrita auf dem Peleponnes (511 Tote), fanden die Richter zulässig und berechtigt. zählt Sfontouris, mittlerweile 59 und Be- das sich am 13. Dezember jährte, finden Der Schaden der Bewohner sei „auf Hand- sitzer einer Tankstelle. „Wir konnten ihn selbst in gängigen Nachschlagewerken al- lungen von Organen des deutschen Staates nur in eine Decke gewickelt aus dem Haus lenfalls am Rande Erwähnung. Dabei kom- zurückzuführen“ und unter grober „Ver- bringen.“ me ihnen „in der Essenz derselbe Sym- letzung von völkergewohnheitsrechtlichen Nüchtern sind die Namen und das Alter bolwert“ zu wie Oradour oder Lidice, Zwangsnormen“ entstanden. der Opfer von Distomo in die Marmor- meint der Berliner Historiker und Südost- Der Richterspruch aus Livadia bleibt für platten eines Mahnmals graviert, das sich europa-Experte Holm Sundhaussen. Bonn zunächst noch ohne praktische Fol- auf einem Hügel über dem Dorf erhebt: Das Versäumnis wird jetzt nachgeholt. gen. Die Bundesregierung lehnt jede Zu- „Es war ein Inferno in Blut“, sagt der Dafür sorgt vor allem ein Gericht in der ständigkeit eines ausländischen Gerichtes Professor für neuere europäische Ge- griechischen Provinzhaupstadt Livadia, für sich ab. Zudem bezweifelt die Bundes- schichte an der Athener Universität, Ha- rund 20 Kilomter von Distomo entfernt. regierung aber auch jede sachliche Vor- gen Fleischer, „es gab geradezu sadistische Die Kammerrichter verurteilten die Bun- aussetzung für einen Anspruch der Hin- Exzesse.“ desregierung, fast 60 Millionen Mark terbliebenen von Distomo. Männer wie Kinder wurden wahllos er- „Schmerzensgeld für den immateriellen Das Auswärtige Amt ließ das Massaker schossen, Frauen vergewaltigt und nieder- Schaden“ an die Hinterbliebenen der Op- in Distomo durch den deutschen Bot- gemetzelt, vielen schnitten Soldaten die fer von Distomo zu zahlen. Die Klage war schafter in Griechenland gegenüber den Brüste ab. Schwangere wurden aufge- von 296 Überlebenden und Nachkommen Opfern als normale „Maßnahme im Rah- schlitzt, manche Opfer bei lebendigem angestrengt worden, die über 50 Jahre nach men der Kriegsführung“ rechtfertigen. Sie Leib mit dem Bajonett gemeuchelt. Ande- Kriegsende „Schadensersatz und Geld- sei „nicht als NS-Tat“ im Sinne national- ren wurden Köpfe abgetrennt oder Augen buße für den gleichhohen materiellen und sozialistischer Verfolgung zu bewerten, ausgestochen. immateriellen Schaden“ begehren. sondern als „Vergeltungsaktion“ und Re- Das Blutbad von Distomo geschah am Das Gericht lehnte zwar einen Ausgleich aktion auf Partisanenangriffe. An dieser selben Tag wie das Massaker im französi- für zerstörte Häuser, verschwundenen Einschätzung hat sich bis heute nichts schen Oradour, bei dem 642 Menschen von Hausrat oder vernichtete Höfe ab. In der geändert. einer Kompanie der SS-Panzer-Division schriftlichen Urteilsbegründung, die jetzt Auch die Absicht der griechischen Klä- „Das Reich“ hingemordet wurden. Wäh- vorliegt, kommen die Richter zu dem ger, notfalls vor den Europäischen Ge- rend Oradour aber in der Enzyklopädie Ergebnis, daß die „zerstörten Gebäude richtshof für Menschenrechte zu ziehen, des Schreckens zum Symbol der Nazi- weder genau beschrieben“ noch deren muß die Bundesregierung wohl nicht son- Rund 50000 Klagen griechischer NS-Op- fer sind nach offiziellen Angaben vor grie- chischen Gerichten anhängig. Hintergrund der Klagewelle zum jetzigen Zeitpunkt ist die Sorge örtlicher Juristen, daß die deut- sche Wiedervereinigung eine neue Rechts- lage begründe und Wiedergutmachungs- ansprüche womöglich verjähren könnten. In Kalavrita, am Fuße des Chelmos-Ge- birgsmassivs im Norden des Peleponnes, gingen allein rund 1000 Kläger vor Gericht. Sie verlangen zumindest eine symbolische Zahlung für ihre Leiden. „Gerechtigkeit muß sein“, verlangt Vassilios Karkoulias, 55, einer der Kläger, das sei doch „ein rich-

ARIS tig deutscher Ausdruck“. Massaker-Überlebender Pavlopoulos*: 16000 Drachmen für den ermordeten Vater Karkoulias war anderthalb, als die „Katastrofi“, wie es die Griechen nennen, derlich schrecken. Denn dessen Zustän- Gericht ziehen, wie es ausländische ehe- über seinen Heimatort hereinbrach. Zur digkeit leitet sich aus der Europäischen malige Zwangsarbeiter im Kampf um Wie- Vergeltung für Partisanenangriffe auf deut- Menschenrechtskonvention von 1950 ab. dergutmachung mit Aussicht auf Erfolg be- sche Truppen trieb die 117. Jägerdivision Gemessen daran seien die Massaker ein treiben (SPIEGEL 48/1997). der Wehrmacht am 13. Dezember 1943 in quasi „vor-menschenrechtlicher Tatbe- Doch wie auch immer das juristische Kalavrita alle Zivilisten vor der Schule stand“ und die Europa-Richter kaum zu- Tauziehen um die Klage von Distomo aus- zusammen. Männer und männliche Ju- ständig, urteilt der Hamburger Völker- geht: Der Richterspruch aus den griechi- gendliche wurden aussortiert und auf einen rechtler Norman Paech. schen Bergen ist politisch und diploma- nahe gelegenen Hügel am Waldrand ge- Erfolgversprechender wäre da schon der tisch brisant. Denn er bereichert die De- führt. Dort, wo sich heute ein großes Weg vor den Internationalen Gerichtshof batte über ausstehende Wiedergutma- weißes Kreuz über den Ort erhebt, wurden in Den Haag. Das ginge aber nur auf offi- chungsleistungen Deutschlands an bisher die Männer mit Maschinengewehren er- ziellen Antrag der griechischen Regierung. nicht entschädigte NS-Opfer um ein ganz schossen. Bilanz: 511 Tote, der jüngste war Oder die Kläger müßten vor ein deutsches neues Kapitel.Außerdem ist das Urteil nur 13, der älteste 77. Insgesamt forderte das das erste in einer wahren Prozeßflut, die in „Unternehmen Kalavrita“, das sich laut * Vor der Gedenkstätte von Kalavrita. den nächsten Monaten zu erwarten ist. Wehrmachtsbefehl auch auf benachbarte Dörfer und Klöster bezog, mindestens 1200 Opfer. Die Aktion wurde mit solcher Gründ- lichkeit ausgeführt, daß es in der Gegend keine Männer mehr gab. In dem Ort „konnte man nur noch schwarze Kleider sehen“, sagt Karkoulias. Der Ingenieur, Vize-Vorsitzender eines „Vereins der Op- fer des Holocaust in Kalavrita“, verlor sei- nen Vater, einen Onkel, drei Schwager und „viele Cousins“. Zusätzlich brannten die Soldaten der Wehrmacht alle Häuser nieder und plün- derten die Bank. Das Vieh wurde beschlag- nahmt, Vorräte und Wertsachen mitge- nommen. „Wir sind froh, daß wir damals nicht verrückt geworden sind“, erinnert sich der Bürgermeister Panos Polkas, 77, der zu jener Zeit als Partisan in den Ber- gen gegen die Deutschen kämpfte. Der Schadensersatz, den manche im Ort erhielten, ist ähnlich wie in Distomo für die Nachkommen der Opfer nicht der Rede wert. Andreas Pavlopoulos, 54, Stadtdi- rektor und Vorsitzender des Holocaust- Vereins, bekam von der griechischen Re- gierung 16000 Drachmen für den getöteten Vater, an den er, damals sechs Monate alt, keinerlei Erinnerung hat. „Selbst für einen kriegsbedingt beschlagnahmten Maulesel gab es mit 20000 Drachmen mehr“, empört sich Bürgermeister Polkas. Die Summe war das Ergebnis einer bi- lateralen Vereinbarung zwischen den Re- gierungen in Athen und Bonn. Ähnlich wie auch bei elf anderen westlichen Regierun- gen stimmte Kanzler Konrad Adenauer 1960 Reparationen an den Verbündeten zu. Athen erhielt zunächst 115 Millionen Mark. Weitergehende Forderungen, die von griechischer Seite auf mehrere Milliarden Dollar beziffert werden, wurden – wie in anderen Fällen auch – aufgrund des Lon- doner Schuldenabkommens erst einmal ge- stundet, bis zum Abschluß eines endgülti- gen Friedensvertrages. Eines Friedensvertrages bedarf es nach vorherrschender Meinung der Völker- rechtler aufgrund des Zwei-plus-Vier-Ver- trages und der Deutschen Einheit nun nicht mehr. Aber die Bundesregierung zeigt für die griechischen Ansprüche, symbolisch oder nicht, wenig Verständnis. 50 Jahre nach Kriegsende habe „die Reparations- frage ihre Berechtigung verloren“, läßt das Auswärtige Amt erklären. Die Zusammen- arbeit zwischen beiden Ländern müsse „zukunftsorientiert“ gestaltet werden. Zugleich fehlt es auch nicht an Hinwei- sen auf deutsche Zahlungen an die Eu- ropäische Union, von denen Griechenland schließlich in erheblichem Maße profitiere. Man möge das Thema doch besser ruhen- lassen. Zeit, zu vergessen? Ein finanziell ver- ständlicher, menschlich verwegener Wunsch. „Kann ich vergessen, daß ich Eltern hatte?“ fragt die Distomo-Überle- bende Pagona Skouta. ™

der spiegel 1/1998 Deutschland gen möglicher Kunststoffbeschichtungen In der Praxis gehen Schornsteinfeger, BÜROKRATIE „streng verboten“. Ausnahme: das Anzün- via Computer als „Schorni goes to inter- deln. „Wir kennen unsere Pappenheimer“, net“ erreichbar, bislang nur gegen die Schuß in sagt ein Hamburger Schornsteinfegermei- schlimmsten Kaminsünder vor. In ländli- ster, „man sieht ja, wo es in der Straße chen Siedlungen mit waldreicher Umge- qualmt.“ Gegen passionierte Feuermacher bung wie in Bayern oder Niedersachsen den Ofen mußten die Umweltämter der Hansestadt herrscht der schon vom Koblenzer Gericht auch schon mal Bußgelder androhen. vorausgeahnte Vollstreckungsnotstand: Offene Kamine und Kachelöfen Bundesweit definiert seit 1988 eine „Die Verpflichtung des Kaminbesitzers läßt 18seitige und inzwischen viermal überar- sich kaum kontrollieren.“ sind bei den Bundesbürgern beitete „Verordnung über Kleinfeuerungs- Wo es „raucht, stinkt und qualmt“, will wieder in Mode. Jetzt heizt ihnen anlagen“, wie „handbeschickte Feuerungs- der Kachelofenverband jetzt in voraus- die Öko-Bürokratie mit anlagen“ gesetzeskonform zu betreiben eilender deutscher Gründlichkeit Abhilfe unsinnigen Verordnungen ein. sind. Besonders brenzlig ist die Lage für In- schaffen. Mit einem neuen Zertifikat zur haber von „offenen Kaminen“, die nach Pa- „schadstoffarmen Holzfeuerung“ soll das enn der erste Schnee fällt und die ragraph 4 Absatz 3 nur „gelegentlich“ be- Kaminwesen in der Bundesrepublik auf Tage kurz sind, macht es sich trieben werden dürfen. Linie gebracht werden – Öfen „made in WNorbert Blüm gern gemütlich. 1991 hatte der 7. Senat des Koblenzer “ als Vorbilder für den Rest der Trotz Rentenchaos und Sozialstaatskrise Oberverwaltungsgerichts nach Nachbar- Welt. So sollen „spanische Wellblechdo- entspannt sich der Arbeits- und Sozialmi- schaftsklagen wegen „Rauch- und Ge- sen oder abenteuerliche Konstruktionen nister dann mit Pfeife und Frau vor dem of- ruchsemissionen“ ein denkwürdiges Kamin- aus Südostasien“ (Zentralverband Sanitär fenen Kamin. Urteil gesprochen: Demzufolge kann ein Heizung Klima), die in den Baumärk- „Lustheizer“ nennt die Energieberatung Kamin im Monat höchstens an „acht Tagen ten als Mitnahmeartikel zu haben sind, Berlin jene Zeitgenossen, die sich niedrigen für jeweils fünf Stunden“ – Abklingphase in- bei der Zertifizierung durch den Rost Temperaturen und sozialer Kälte mit offe- klusive – betrieben werden. Ein Kamin sei, fallen. nen Feuerstellen und Öfen im Dänendesign so die rheinland-pfälzischen Richter, nicht Geregelt werden soll nach dem Wil- entgegenstemmen. „Unsere Kundschaft“, „in erster Linie“ als Wärmeerzeuger ge- len der Funktionäre auch, welches Holz sagt Manfred Vohs von der Arbeitsgemeinschaft der Deut- schen Kachelofenwirtschaft (AdK) im nordrhein-westfäli- schen St. Augustin, „entdeckt wieder den Vorzug von Groß- mutters Ofen.“ Die Jahrtausende alte „Fas- zination des offenen Feuers“, das „Knistern und Lodern“, so die Kachelofenlobbyisten, sei- en dank modernster Technik umweltkonform und sicherheits- technisch gefahrlos ins Haus zu holen. Den Beamten im Bun- desumweltministerium ist das „archaische Element“ (AdK) des offenen Feuers eher su- spekt. Von Beginn des Jahres 1998 an können sogenannte Klein- feuerungsanlagen für Gas oder Öl, die bestimmte Emissions-

werte nicht einhalten, einfach L. CHAPERON / LASA stillgelegt werden. Auch Kami- Kaminfreund Blüm*: „Wir kennen unsere Pappenheimer“ ne, die mehr als einen Raum mit Abwärme versorgen, sind von der Verord- dacht, sondern solle bei „besonderen An- sich vor der Hütte türmen darf. Erlaubt nung betroffen. Jede Feuerstätte muß vom lässen typischerweise Stimmung und Be- sein soll nur ökologisch korrektes Brenn- Schornsteinfeger abgenommen werden. haglichkeit erzeugen“. Ein in westlichen material mit einer „Restfeuchte von „Wir sprechen natürlich erst mal mit Industrienationen wohl einzigartiges Urteil. weniger als 20 Prozent“. Die Edelscheite dem Hausbesitzer, bevor wir den Ofen aus- Verworfen wurde auch der Einwand des können über 260 verbandsgeprüfte bun- machen“, beruhigt Andreas Klein vom auf seine verfassungsmäßigen Eigentums- desweite „Brennholzdepots“ des Bayeri- Zentralverband Deutscher Schornsteinfe- rechte pochenden Feuermachers. Der hat- schen Waldbesitzerverbandes bezogen ger, „denn es gelten Übergangsfristen.“ te argumentiert, ein Kamin, den er nicht werden. Die Energieberater der Hauptstadt neh- bestücken dürfe, wann er wolle, sei eigent- Durch gesetzestreue Holzheizer, die im- men Feuerteufel schon mal vorsorglich fest lich nicht mehr der seine. Eine „Enteig- merhin schädliche Abgase und zusätzliche an die Hand. In der Broschüre „Richtig hei- nung“, so das Oberverwaltungsgericht, läge Kohlendioxid-Emissionen vermeiden hel- zen“ erfahren die Berliner, was nicht in nicht vor, da durch die Emissionen die „Be- fen, erhofft sich der Kachelofenverband Ofen und Kamin gehört – „Folien, Tetra- lange Dritter“ berührt seien. Schlechte Zei- auch schon öffentliche Förderung: In Neu- pack-Behälter, Verbundverpackungen und ten für lange Kaminabende. baugebieten sollen, so fordern die Her- ähnliche Haushaltsabfälle“. Auch das Ver- steller, nur noch zertifizierte Öfen und Ka- brennen von „Pappe und Papier“ ist we- * Mit Ehefrau Marita in Bonn. mine zugelassen werden. ™

der spiegel 1/1998 47 Deutschland de ein politisches Betätigungsverbot ver- ordnet. Das Verdikt gilt vor allem als ISLAMISTEN diplomatische Geste gegenüber den Fran- zosen, die das Militärregime in Algier stützen. Afghanische Bedrohung Eine siebenköpfige Auslandsführung der FIS betreut die islamischen Brüder im eu- ropäischen Exil. Von einem konspirativen Führungskader der Islamischen Heilsfront aus Algerien Büro in Brüssel aus reist Ghemati zu formieren sich im deutschen Exil. Jetzt fürchten Gesinnungsfreunden, die überwiegend in sie Anschläge von Hardlinern aus den eigenen Reihen. , Köln und Frankfurt leben. Ghemati, wie Kebir Physiker, wechselt bdelkrim Ghemati, stellvertreten- lution. Der Anlaß: Die FIS und ihr be- ständig die Handys, um den Abhörexper- der Chef der „Exekutivinstanz“ waffneter Arm, die Armee des Islamischen ten der Geheimdienste die Arbeit zu er- Ader algerischen Islamischen Heils- Heils (AIS), haben am 1. Oktober einen schweren. Neben dem deutschen Verfas- front (FIS) im Exil, ist ein Charmeur, der Waffenstillstand verkündet. Sie wollen gern lächelt. Dabei bietet die Lage des Exil- mit dem Militärregime in Algier verhan- politikers, der sich im Schatten des Kölner deln, um in Algerien freie Wahlen zu er- Doms konspirativ mit Gesinnungsgenos- möglichen. „Wir wollen“, beteuert Ghe- sen trifft, kaum Anlaß zur Freude. mati, „zum demokratischen Prozeß Der Bürgerkrieg, der in den letzten fünf zurückkehren.“ Jahren rund 80000 Menschen das Leben Gemeinsam mit dem Physiker Rabah kostete, könnte Ghemati, 36, jetzt auch in Kebir, 40, lenkt er die Auslandsorganisati- der Bundesrepublik erreichen. Ihm und an- on der algerischen Islamisten und ihre rund deren FIS-Funktionären im Exil drohen 200 Mitglieder und Funktionäre in der Anschläge militanter Dissidenten. Bundesrepublik. Die meisten von ihnen Ähnlich wie in Algerien sind auch in sind wie Kebir 1992 nach dem Putsch, mit Deutschland etliche FIS-Anhänger zur dem die Armee den Sieg der FIS in den extrem gewaltorientierten „Bewaffneten Parlamentswahlen konterte, nach Deutsch- Islamischen Gruppe“ (GIA) übergelaufen. land geflohen und haben politisches Asyl Mehrfach haben GIA-Kämpfer Todes- beantragt.

drohungen gegen Ghemati und Gleichge- Kebir, der im Raum Köln lebt, ist seit S. BALBACH sinnte ausgestoßen wegen deren angebli- 1994 als Asylbewerber anerkannt. Im FIS-Funktionär Ghemati chem „Verrat“ an der islamischen Revo- gleichen Jahr hat ihm die Ausländerbehör- Konspiratives Büro in Brüssel SYGMA Anschlag fundamentalistischer Terroristen in Algier: „Bornierte Leute, die nur Kampf kennen“

48 der spiegel 1/1998 sungsschutz und französischen Agenten Solche Appelle verschärfen den Haß der verfolgen auch die amerikanische CIA und GIA-Kämpfer, die Ghemati als „Radikal- natürlich der algerische Geheimdienst auf- Extremisten mit meist sehr niedriger Bil- merksam das Treiben der Islamisten. dung“ einstuft. Sorgen bereiten ihm vor FIS-Funktionäre scheuen deshalb öf- allem die insgesamt 300 ehemaligen Af- fentliche Auftritte und treffen sich fast aus- ghanistankrieger in der GIA. Einige von schließlich mit Gleichgesinnten wie türki- ihnen sollen sich derzeit in der Bundesre- schen Moslem-Fundamentalisten der Or- publik aufhalten. ganisation „Milli Görüs“. Verfassungs- Die einstigen Frontkämpfer waren am schützer behaupten, Milli Görüs habe Hindukusch zunächst gegen die sowje- FIS-Auslandschef Kebir zeitweise als Re- tische Armee, dann gegen afghanische ligionslehrer beschäftigt. Milli-Görüs-Ge- Sozialisten und schließlich gegen isla- neralsekretär Mehmet Erbakan bestreitet mistische Rivalen im Einsatz. Sie sind, dies. Erbakan, Neffe des türkischen Ex- so Ghemati, „bornierte Leute, die nur Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, Kampf kennen und sonst nichts gelernt haben“. Aus ihren Reihen rekrutieren sich die Killerkommandos der GIA, meist Rambos im Alter zwischen 25 und 30 Jahren. In der FIS-Exilführung hat jetzt ein Mann mit dem Decknamen „Abu Yussuf“, als eine Art Verantwortlicher für Schulung und Sicherheit, die Beobachtung der mili- tanten Dissidenten übernommen. In näch- telangen Diskussionen versuchen FIS-Mit- glieder in seinem Auftrag etwa in Frankfurt GIA-Anhänger davon zu überzeugen, daß der bewaffnete Kampf gescheitert ist. Dabei kommt es, aller Feindschaft zum Trotz, mitunter zu Formen der Zusam- menarbeit, die deutsche Behörden alar-

LAIF mieren. So kooperierten FIS-und GIA-Leu- Bilal-Moschee in Aachen te gelegentlich bei der Beschaffung falscher Kontaktbörse für Islamisten Pässe für die Untergrundarbeit. Bei Razzien nahmen Beamte des Bun- räumt ein, daß Kebir ihn „gelegentlich be- deskriminalamtes im September 17 Mit- sucht“ habe. „Ich hätte kein Problem da- glieder einer mutmaßlichen Paßfälscher- mit“, so Erbakan, „Kebir zu unterstützen, bande fest, als deren Kopf ein 31jähriger wenn er bedürftig wäre.“ Exil-Algerier aus dem hessischen Dietzen- Für die religiösen Bedürfnisse der alge- bach gilt. Ermittler verdächtigen ihn, Mit- rischen Gotteskrieger sorgt die Bilal- glieder der FIS und der GIA mit falschen Moschee in der Professor-Pirlet-Straße in Papieren versorgt zu haben. Aachen. Dort versammeln sich beim Frei- Bereits im Juni hatte das Oberlandes- tagsgebet neben anderen Muslimen immer gericht Düsseldorf zwei Söhne des in wieder auch FIS-Anhänger. Das Gottes- Algerien lebenden FIS-Führers Abassi Ma- haus dient den Islamisten als Kontaktbör- dani wegen Urkundenfälschung und der se, bei der sie sich ungestört über religiöse Beschaffung falscher Ausweise zu mehr als und weltliche Fragen austauschen können. zwei Jahren Haft verurteilt. Die beiden Denn die Sorge vor den Nachstellungen Islamistenfunktionäre hatten in einem von Nachrichtendiensten beschäftigt die Haus in Alsdorf-Hoengen bei Aachen ein FIS-Leute ständig. Um das Eindringen von geheimes Zwischenlager für falsche Pässe Geheimdienstagenten in ihre Organisati- angelegt. on zu verhindern, verzichten die FIS- In allen Bekundungen nach außen geben Kämpfer bislang auf Mitgliederwerbung sich die FIS-Exilführer indessen derzeit so, unter den etwa 18000 in Deutschland le- als sei Kreide ihr Hauptnahrungsmittel. benden Algeriern. Kebir und der kluge Taktiker Ghemati Der zweite Grund: Angst vor der Un- schwören, anders als früher, auf den terwanderung durch Killerkommandos der Rechtsstaat, die Volkssouveränität und das GIA. Die Sorge der algerischen Exil-FIS Mehrparteiensystem, das sie in Algerien vor möglichen Anschlägen halten Verfas- einzuführen versprechen. sungsschützer in Nordrhein-Westfalen für „Wir möchten“, beteuert Ghemati, „die „durchaus real“. Sensibilitäten anderer berücksichtigen.“ In Denn in einem unter FIS-Anhängern in Deutschland, lobt Kebir artig, hätten seine Deutschland verbreiteten Strategiepapier Leute schon einiges dazugelernt: „In den warnt die Organisation vor „Extremismus, Bereichen Technologie und Industrie ist Fanatismus und Gewalt“, verurteilt die von Deutschland ein Modell für uns.“ Wenn der GIA in Algerien begangenen Massa- sie in Algier an die Macht wolle, weiß Ke- ker an Zivilisten und lehnt jegliche Form bir, brauche die FIS „zukünftig Intellek- von Anschlägen gegen „Unschuldige“ ab. tuelle, die deutsch sprechen“. ™

der spiegel 1/1998 49 Deutschland

SPIEGEL-GESPRÄCH „Der Staat wird zum Vater“ Winfried Hassemer über den Ruf der Bürger nach Sicherheit und die veränderte Rolle des Bundesverfassungsgerichts

Hassemer, 57, ist seit Mai 1996 Verfassungs- Hassemer: Ich würde Ihnen vor- richter im Zweiten Karlsruher Senat und schlagen, es bei der deutschen lehrt Jura an der Universität in Frankfurt. Gerichtsbarkeit zu versuchen, wenn Sie sich beschwert fühlen. SPIEGEL: Herr Hassemer, Bonner Politiker Dann wird man ja sehen. wie der Unionsfraktionschef Wolfgang SPIEGEL: Im nächsten Jahr wird Schäuble reden offen über die schwinden- es um die Einführung des Euro de Bedeutung des Bundesverfassungsge- gehen, das Bundesverfassungs- richts. Können Sie sich vorstellen, daß es ei- gericht gerät zwischen die Fron- nes Tages abgeschafft wird? ten: Einerseits hat es sich das Ge- Hassemer: Vorstellen kann ich mir das rein richt im Maastricht-Urteil vorbe- theoretisch schon. Soweit könnte es kom- halten, die Vereinbarkeit des Eu- men, wenn das Gericht sich von den Mei- ropageldes mit dem Grundgesetz nungen der Bürger so weit entfernt, daß es einer unabhängigen Prüfung zu sie nicht mehr erreicht und deshalb seine unterziehen. Andererseits weiß Autorität verliert. jeder, daß die Richter sich der SPIEGEL: Ist es nicht schon fast so weit? Weil Politik fügen werden, wenn es so- sich der Erste Senat weigerte, das Plenum weit ist, weil alles andere zum des Gerichts anzurufen, gab es nun ein Ge- Hochverrat erklärt würde. zerre um die Entscheidung zum Schadens- Hassemer: Das ist Unsinn. Das ersatz für ungewollte Kinder. So etwas läßt Gericht ist in keiner Weise prä- an der Kompetenz Ihres Hauses zweifeln, disponiert. Ich freue mich schon weiterhin das letzte Wort im Staat zu be- auf die Beratungen. anspruchen. SPIEGEL: Das können wir uns vor- Hassemer: Sie übertreiben. Juristisch war stellen. Beratungen sind ja ge- der Weg am Plenum vorbei makellos. Prak- heim, aber wie wollen Sie öf- tisch könnte man überlegen, ob das Plenum fentlich darstellen, daß es mitt- auch über die Voraussetzungen seiner Zu- lerweile Mächte gibt, denen ständigkeit sollte entscheiden dürfen, weil gegenüber Sie sich nicht mehr sonst Fragen in der Schwebe bleiben, die durchsetzen können? verbindlich beantwortet werden müssen. Hassemer: Es ist ein offenes Pro- SPIEGEL: Selbst wenn es sich im Lande be- blem, wenn wir gewissermaßen hauptet, könnte es dem Gericht so gehen die Grenzen der Bundesrepublik wie der zweitmächtigsten Institution im nicht mehr als unsere Grenzen

Staate, der Deutschen Bundesbank. Die / GRAFFITIG. STOPPEL haben. Da stellt sich eine ganze wird demnächst im vereinten Europa als Karlsruher Richter Hassemer Menge normativer Probleme neu. Notenbank überflüssig. „Eine Verfassung muß kurz und dunkel sein“ SPIEGEL: Die Regierung, die Sie ja Hassemer: Der Parallele würde ich nicht kontrollieren sollen, wird immer von vornherein widersprechen. Aber auch nicht mehr verfügen kann. Das stellt seine öfter auf Sachzwänge, auf internationale im vereinten Europa werden wir nicht Autorität in Frage. Übereinkommen, globale Verflechtungen überflüssig. Hassemer: Es kann jedenfalls dazu kommen, in der Wirtschafts- oder Sozialpolitik oder SPIEGEL: Das letzte Wort über das, was im daß das Gericht als Folge der europäischen in der Bekämpfung des Verbrechens Staate Recht sein soll, liegt immer öfter Einigung gezwungen ist, kleinere Brötchen verweisen. bei der Europäischen Kommission und zu backen. Ob diese Entwicklung zu einem Hassemer: Ein Bundesverfassungsgericht, beim Europäischen Gerichtshof – zum Bei- Autoritätsverlust führen wird, hängt ganz das der Exekutive nicht auch in den Arm fal- spiel jetzt im Streit um die Rechtmäßig- davon ab, was das Gericht daraus macht. len kann, sollte abdanken.Aber ich sehe die keit der Bananenmarktordnung. SPIEGEL: Künftig soll beispielsweise Europol Folgen von Globalisierung und Internatio- Hassemer: Eine Relativierung des letzten in Den Haag die Daten deutscher Bürger nalisierung nicht so dramatisch wie Sie. Ich Wortes, eine Ergänzung des letzten Wortes speichern dürfen, ohne daß die Betroffenen glaube, das Gericht ist normativ gut ausge- durch ein allerletztes Wort, das kann es ge- dagegen anrufen können. stattet, um Hüter der Verfassung zu bleiben. ben. Das gibt es jetzt schon in gewissen Hassemer: Darüber ist noch nicht entschie- SPIEGEL: Vielleicht hat ja die Verfassung Bereichen. den. Ich bin sicher, daß Grundrechtsbeein- selbst, die Sie hüten sollen, deutlich an Be- SPIEGEL: Es haben Mächte im Lande das trächtigungen auf dem Gebiet der Bundes- deutung verloren. Ist nicht an die Stelle Sagen, über die das Verfassungsgericht republik weiterhin vor das Bundesverfas- des Verfassungspatriotismus das Standort- sungsgericht gebracht werden können. bewußtsein getreten? Das Gespräch führten die Redakteure Thomas Darn- SPIEGEL: Der Super-Computer steht aber Hassemer: Ich glaube nicht, daß das Grund- städt und Gerhard Spörl. nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik. gesetz seinen Charakter als grundlegendes

50 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Deutschland ten, wenn der Schlüssel nicht irgendwo hin- terlegt wird, wo er herankommt. Hassemer: So riskiert man, das Vertrauen des Geschäftsverkehrs auf die Vertraulich- keit der Kommunikation zu zerstören. SPIEGEL: Ist der Staat gegenüber dem In- ternet machtlos? Hassemer: Die Technologie hat ihre Tücken. Es kommt so weit, daß der Staat seine ihm gesetzlich eingeräumten Mög- lichkeiten der Ermittlung und Kontrolle nicht mehr wahrnehmen kann. Hier liegen die wirklichen Probleme. Der Streit um den Lauschangriff wäre dann von gestern. SPIEGEL: Wie wird der Streit um die Schlüs- sel fürs Internet ausgehen? Hassemer: Ich weiß es nicht.Aber die Tech- nik darf am Ende nicht der Grund dafür sein, daß der Staat Kontrollbefugnisse ver- liert, die ihm ja schließlich von einem de- mokratisch gewählten Parlament gesetzlich eingeräumt worden sind. Und ich habe die

S. ENDERS / BILDERBERG Hoffnung, daß die Technik auch dieses Pro- Privater Wachdienst im U-Bahnhof: „Tausche Freiheit gegen Sicherheit“ blem lösen wird. Eine intelligente Art, den Geschäftsverkehr im Internet zu schützen, Kompendium verloren hat oder verlieren die gleichwohl ermöglicht, gegen Kriminel- wird. Es muß freilich in Bestand und Ver- le im Netz vorzugehen, muß zu finden sein. ständnis den Veränderungen unserer Welt SPIEGEL: Man muß auf die Technik hoffen, angepaßt werden. weil der Staat nicht mehr weiter weiß. Ei- SPIEGEL: Muß man befürchten, daß das nen Schritt weiter, und Sie haben eine pri- Grundgesetz nun standorttauglich gemacht vate Firma, die dem Staat mit großen Com- wird? putern die Kontrolle des Internet besorgt. Hassemer: So sehe ich das nicht. Aber ich Hassemer: Einerseits weitet der Staat seine sehe, daß der Staat schon jetzt aus der Rol- Ermittlungs- und Kontrollbefugnisse aus. le herausgetreten ist, die er im klassischen Andererseits zieht er sich aus bestimm- Verständnis des Grundgesetzes besaß: als ten Bereichen zurück, macht sich sel- zentrales Gegenüber der Bürger, das deren ber schwach, gibt Funktionen und Res- Freiheitsrechte, die Grundrechte, zu achten sourcen ab. hat. Die Bürger richten heute zunehmend SPIEGEL: Muß er abgeben oder will er? ihre Erwartungen auf den Staat und räu- Hassemer: Mal so, mal so. Der Staat gibt men ihm dafür immer weitere Machtposi- seine Macht ab in Bereichen, wo er sich tionen ein. Da gilt: „Tausche Freiheit gegen überfordert fühlt, zum Beispiel bei der Pri- Sicherheit.“ vatisierung der Ordnungskräfte in den Kom-

SPIEGEL: In der Not sind den Bürgern ihre AP munen – das ist für die öffentliche Gewalt Grundrechte egal? Innenminister Kanther (in Karlsruhe) ein Ressourcenproblem. Man gibt sie ab in Hassemer: Wo alltägliche Sicherheiten und „Vorgehen gegen Kriminelle im Internet“ der Annahme, der Markt mache das besser. soziale Normen wegbrechen, wird vom SPIEGEL: Eine Reaktion auf die gestiegenen Staat erwartet, daß er ergänzend reguliert. auf die er sich einläßt, nicht einlösen. Doch Erwartungen der Bürger? Er soll fertig werden mit den Gefahren, de- er nutzt die Erwartungen, um sich neue Hassemer: Ja, auch. Der Staat gibt Mittel nen sich die „Risikogesellschaft“ ausge- Befugnisse zu verschaffen. der Herstellung von Sicherheit und Wohl- setzt sieht: Organisierte Kriminalität, Kor- SPIEGEL: Die autoritäre Versuchung à la ergehen der Bürger ab – und das ist mehr ruption, Umweltzerstörung, Drogen, So- Singapur – ein Standort mit beschränkten als eine Auslagerung. Denn damit einher zialmißbrauch, Wirtschaftskriminalität. In Menschenrechten? geht nicht nur ein Verlust an Lösungs- allen Bereichen, die als nicht mehr be- Hassemer: Nein. Die Versuchung liegt in kompetenz, sondern auch an Kontroll- herrschbar erscheinen, steigt die Bereit- den enormen technischen Möglichkeiten, möglichkeit. schaft, Grundrechtspositionen aufzugeben. die sich eröffnen. Der Staat muß nicht SPIEGEL: Das klingt, als ob Grundrechte zur SPIEGEL: Die Bürger wünschen sich einen mehr zu den brachialen Mitteln der klas- Regelung des Verhältnisses von Bürger und starken Staat, einen, der ihre Wohnungen sischen Ermittlung greifen, er verfügt nun Staat bald keine Rolle mehr spielen. verwanzt, um mit großen Lauschangriffen über die sanften, heimlichen Methoden der Hassemer: Auch die Grundrechte müssen das international organisierte Verbrechen technischen Ausforschung – Telefonüber- auf Entwicklungsprozesse antworten, aber von ihnen abzuwehren? wachung, Rasterfahndung, Großrechner für deshalb verschwinden sie nicht. Es ver- Hassemer: Die Menschen verlangen vom ganz Europa. Aber die List der Entwick- schwinden einige Lesarten der Grund- Staat Sicherheit in einem Umfang, wie ich lung besteht darin, daß gerade die moder- rechte, sie werden überlagert durch ande- ihn als zeitungslesender und radiohörender nen Möglichkeiten der vertraulichen Kom- re Lesarten. Bürger vorher nicht erlebt habe. Der Staat munikation dem Staat neue Grenzen set- SPIEGEL: Wie müssen wir uns die Umdeu- wird in diesen Erwartungen zum Vater. zen. Verschlüsselte Internet-Botschaften tung der Grundrechte im Zeitalter der Glo- SPIEGEL: Ist das zuviel von ihm verlangt? etwa kann er nicht mehr belauschen. balisierung vorstellen? Hassemer: In der Tat, ich finde das zuviel SPIEGEL: Der Bundesinnenminister will ja Hassemer: Es ist immer noch nötig, die Pri- verlangt. Der Staat kann die Versprechen, verschlüsselte Internetbotschaften verbie- vatsphäre der Bürger zu verteidigen, auch

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Werbeseite Deutschland W. BAUER W. Beratungszimmer beim Bundesverfassungsgericht: „Man muß die Grundrechte neu denken“ gegenüber einem noch immer informa- das Gericht unter den kritischen Augen der SPIEGEL: Aber Karlsruhe wird doch pau- tionshungrigen Staat. Diese Interpretation Öffentlichkeit mit der Verfassung, wie sie senlos angerufen: Die Rentenreform, Steu- der Grundrechte als Abwehrrechte gegen ist, umgehen muß. Die zeitgerechte Neuin- erreform, vielleicht ja sogar die Recht- staatliche Übergriffe bleibt richtig. Aber terpretation der Grundrechte liegt in der schreibreform landen bei Ihnen. nicht nur der Staat kann die Grundrechte Tat in der Zuständigkeit des Gerichts. Hassemer: Schon wahr, aber es gibt beeinträchtigen, sondern auch private SPIEGEL: Eigentlich wäre es uns ja lieber, Lagen, aus denen die Politik ohne einen Mächte können das. wenn in die Verfassung einige klare Wor- Dritten, eben das Gericht, nicht hinaus- SPIEGEL: Grundrechte als Schutzinstrument te hineingeschrieben würden. Bei allem findet, und im übrigen arbeitet es ja schwacher Bürger gegen starke Bürger – Respekt mögen wir nicht alles der Inter- langsam. etwa gegen die Unternehmer? pretationsmacht Ihres Gerichtes anver- SPIEGEL: Einigen zu langsam. Eine Re- Hassemer: Ein Verständnis von Privatheit, trauen. formkommission hat gerade rabiate Vor- das nur den Staat im Auge hat, ist von ge- Hassemer: Es gibt das berühme Wort: Eine schläge zur Entlastung und Beschleunigung stern. Die Gefährdung von Freiheiten geht Verfassung muß kurz und dunkel sein. Eine des Verfahrens in Karlsruhe vorgelegt. Da- heute ebenso von gesellschaftlichen Mäch- nach soll es den Richtern erlaubt sein, per ten aus: von großen Datenverarbeitern, „Es gibt Lagen, aus denen die Abstimmung zu entscheiden, ob sie Ver- Wirtschaftsunternehmen, Vereinigungen. Politik ohne das fassungsbeschwerden überhaupt anneh- Man muß die Grundrechte angesichts neu- Gericht nicht herausfindet“ men wollen. Sind Sie damit einverstanden? er Problemlagen neu denken und weiter- Hassemer: Wenn es keine inhaltlichen Kri- entwickeln. terien der Annahme gibt, könnten die Bür- SPIEGEL: Wenn die Grundrechte zuneh- Verfassung kann noch weniger als irgend- ger den Eindruck haben, sie hätten es mit mend zur Privatangelegenheit der Bürger ein anderes Gesetz die Hoffnung auf was- einem Zufallsgenerator zu tun, nicht mit werden, wird das Bundesverfassungsge- serdichte Rechtssicherheit erfüllen. einem Gericht. Deshalb bin ich auch gegen richt zu einer Art oberstem Zivilgericht, SPIEGEL: Was Sie in Karlsruhe machen, ist jede Form der begründungslosen Ent- das Streitigkeiten zwischen Bürgern zu dann endgültig nicht mehr Rechtspre- scheidung. Dem Beschwerdeführer muß schlichten hat. Ganz was Neues. chung, sondern Politik. ein Grund mitgeteilt werden, warum seine Hassemer: Es geht nicht um Streitigkeiten Hassemer: Das ist die absurde Formulie- Sache keinen Erfolg hat. zwischen Bürgern, sondern um ein altes rung eines bekannten Problems. Es gab SPIEGEL: Wie wollen Sie die Arbeitsfähig- Ziel angesichts neuer Herausforderungen: schon immer Konflikte, über die in Karls- keit des Gerichtes erhalten? den Schutz der Privatheit in den Zeiten ruhe zu entscheiden war, ohne daß das Re- Hassemer: Man könnte zum Beispiel eine von Globalisierung und elektronischer In- sultat von vornherein klar war. Das liegt größere Zahl hoher Richter einstellen, die formationsverarbeitung. aber nicht an der Dunkelheit des Grund- zwar keine Bundesverfassungsrichter sind, SPIEGEL: Für Sie und Ihre Kollegen bringt gesetzes oder an der handwerklichen Kunst aber die Zuarbeit übernehmen und auch diese Umdeutung der Grundrechte einen der Richter. Es liegt daran, daß es eben ge- die Begründungen vorbereiten – eine Art gewaltigen Machtzuwachs: Das Verfas- sellschaftliche Entwicklungen gibt, für die Verfassungsanwaltschaft. sungsgericht wird zum Oberschiedsrichter eine Verfassungsdogmatik erst noch ge- SPIEGEL: Warum nicht einfach weitere Se- der Bürgergesellschaft. Schöne Aussichten, funden werden muß. Es gibt bei der Aus- nate mit Verfassungsrichtern einrichten? wo doch eben noch die Abdankung des legung der Grundrechte nie nur eine ein- Hassemer: Ein Dritter Senat wäre allemal Verfassungsgerichts drohte. zige Möglichkeit des Verstehens. besser, als die Aufgaben zu reduzieren.Wir Hassemer: Für diese Aussichten gibt es kei- SPIEGEL: Für neue Situationen Maßstäbe sollten nicht vorschnell unter Berufung auf nen Anlaß. Das Gericht steht weiterhin un- zu setzen ist Aufgabe der Politik, der de- Überlast dem Gericht Aufgaben beschnei- ter heilsamen Restriktionen; es kann etwa mokratisch gewählten Regierung. den, auf die sich die Gerechtigkeitserwar- Probleme nicht an sich ziehen. Das ist eine Hassemer: Parlament und Regierung sind tungen der Bürger richten. sehr wichtige Einschränkung der Macht. bei rechtlichen Problemen auf die inter- SPIEGEL: Professor Hassemer, wir danken Es wird sich auch nichts daran ändern, daß pretierende Justiz immer angewiesen. Ihnen für dieses Gespräch.

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PROZESSE Der Professor und das „Dummenrecht“ Die Verfahren gegen den Immobilienkaufmann Schneider und den Konzertunternehmer Avram endeten mit einleuchtenden Urteilen. In beiden Hauptverhandlungen hatte der Verteidiger Salditt Anteil daran. Von Gisela Friedrichsen

r geriet zwangsläufig auf die grell ke, ebenfalls 58, erklärte, daß der Haupt- die Gespräche mit Ihnen, sehr geehrter ausgeleuchtete Bühne des öffentli- kreditgeber, die Deutsche Bank, „fast Herr Vorsitzender, haben mich zutiefst be- Echen Interesses. Denn er verteidigte unfaßbar fahrlässig“ gehandelt habe. Mit eindruckt für mein ganzes Leben.Vor aller 1996/97 in Peter Graf. Er ver- „unglaublichem Leichtsinn“ hätten die Öffentlichkeit habe ich mit Ihnen ausge- teidigte ihn nicht allein. Aber er war spür- Banken Jürgen Schneider „die Türen ein- macht: Ich werde die Strafe unumwunden bar der Kopf, das Herz und die Stimme gerannt“. Sie hätten den Angeklagten akzeptieren. Punkt, aus, basta.“ der Verteidigung. Drei Jahre und neun Mo- „fahrlässig provoziert“ und ihm so den Der Vorsitzende Gehrke befaßte sich nate waren das angemessene Ergebnis.Auf Betrug erleichtert. eingehend mit dem Angeklagten. Er deu- dem Weg zu ihm hatten alle Beteiligten Zunächst hatte man den Eindruck, daß tete die Beziehung zu seinem Vater, die ihre ursprünglichen Vorstellungen korri- dem Gericht – und der Staatsanwaltschaft Schneider erst mit 47 Jahren löste.Auch be- gieren müssen. Franz Salditt geht der Öffentlichkeit nicht aus dem Weg. Doch er sucht sie nicht, was ihn Mißgünstigen verdächtig macht. Er ist ein großer, schlanker Mann. 58 Jah- re alt, das Haar ist weiß. Sein Humor, in dem stets Verwunderung über die Tragi- komödie der menschlichen Existenz anklingt, läßt ihn sagen, er habe den Ein- druck, daß man ihm aufmerksamer zuhö- re, seit er weiße Haare hat. Er ist Dr. jur., hat einen Lehrauftrag und ist Professor. Das Land Rheinland-Pfalz hat ihm den Titel Justizrat verliehen. Er mag auf all das nicht angesprochen wer- den. Nicht, weil ihn das verlegen macht. Nein, das rührt an die freundliche Distanz, die ihn kennzeichnet. Nachdem nun die Prozesse gegen Jürgen Schneider (in Frankfurt am Main) und ge- W. M. WEBER W. gen Marcel Avram (in München) zu Ende AP gegangen sind, wird Franz Salditt noch Marcel Avram Jürgen Schneider, Ehefrau Claudia größerem öffentlichen Interesse gelassen Salditt-Mandanten: Ihr Verteidiger hat sich als ein Mann erwiesen, der mit schwierigsten und distanziert begegnen. In seinem Plä- doyer für Jürgen Schneider etwa beschrieb – die Rolle der Banken nicht wichtig antwortete er die Frage, ob Schneider ein er die Rolle der Banken, die seinem Man- sei. Daß die Verteidigung das Interesse über alle Maßen raffinierter Großbetrüger danten Kredite nahezu blindlings gewähr- für diesen Gesichtspunkt weckte, hat sei oder ein Robin Hood des Immobilien- ten, so: ihrem Mandanten Schuldminderung ein- handels: „Nein, keineswegs.“ Schneider „Ich muß einen Vergleich aus dem Alltag gebracht. Die Verteidigung mußte nicht habe geschickt und planvoll betrogen. zitieren, entschuldigen Sie das Beispiel, Herr versuchen, die Herren der Millionen in Doch er sei ein „durch und durch schlich- Vorsitzender: Wenn sich ein Ehemann dar- die Enge zu treiben. Das besorgte das ter Mann“, ein „Frankfurter Bub“. an gewöhnen muß, daß seine Frau jeden Gericht selbst. Über seine Verteidiger äußerte sich zweiten Abend erst nach elf Uhr heim- Am letzten Sitzungstag vor der Urteils- Schneider auch in seinem Schlußwort. Er kommt, nach Tabak riechend und mit ver- verkündung hatte Schneider in einem sehr sagte, „alle drei Herren waren nötig, mich rutschtem Hut, und er nicht fragt, wo sie war persönlichen Schlußwort einen „dicken, diesseits des dicken, fetten Strichs zu brin- – dann will er gar nicht wissen, wo sie war.“ fetten Strich“ unter das Gewesene gezo- gen“. Rechtsanwalt Christoph Rückel, ein Den Banken hätte ins Auge springen gen. Er muß, als er es abfaßte, gerührt ge- Hüne von einem bayerischen Mannsbild, müssen, was für ein Kunde dieser Jürgen wesen sein von sich selbst. Nichts war ab- Kanzleiniederlassungen in München, Schneider war. Aber das wollten sie gar gestimmt mit den Verteidigern. Er hatte Frankfurt, Dresden, Leipzig, Berlin und At- nicht wissen. Franz Salditt bedient sich sich nichts sagen lassen, „obwohl alle drei lanta, rund 100 Mitarbeiter, habe ihn in gern anschaulicher Bilder, wo andere Ver- Herren das gern gelesen hätten! Aber ich Miami „in einem Husarenstück aus den teidiger sich heftig, angriffig, und darum wollte es so“. Eine Rede, ähnlich den wil- Klauen amerikanischer Anwälte gerissen“. leicht angreifbar, äußern würden. Er traf helminischen Hausfassaden, an denen sein Rechtsanwalt Eckart Hild, alteingeses- genau, was in der mündlichen Urteilsbe- Herz hängt: überladen, ein bißchen sener Frankfurter, „kam zum Team, als ich gründung unmißverständlich gesagt wurde. kitschig und zu echt, um absichtsvoll zu hilflos, frisch operiert dalag und Dinge in Der Vorsitzende Richter, Heinrich Gehr- sein. „Die Offenheit und Direktheit und Frankfurt geregelt werden mußten“.

58 der spiegel 1/1998 F. HELLER / ARGUM F. Verteidiger Salditt bei Pressekonferenz in München: Er bevorzugt im Strafverfahren die Annäherung, er tritt für Kommunikation ein

würden ausgerechnet in Steuerstrafsachen rühmte das Verhalten der Anklage und der so viele Deals ausgehandelt: „93 Prozent Verteidigung, das geprägt gewesen sei von der Leute haben Mitleid mit dem, der beim Fairness, Verständnis, Verzicht auf Tricks Steuerschummeln erwischt wird. Die und prozessualen Verzögerungsmöglich- Mehrheit würde, wenn sie es könnte, auch keiten. „Staatsanwaltschaft und Verteidi- die Steuer beschummeln. Und im Namen gung haben in vorbildlicher Weise am Zu- dieser Mehrheit wird dann ein Urteil standekommen eines gerechten Ergebnis- gesprochen!“ Da zeige sich die ganze ses mitgewirkt. Das Gericht bedankt sich. Brüchigkeit des Strafrechts. Dieser Prozeß hatte Vorbildcharakter.“ Salditt, nie taktlos, selbst wenn er scharf In Frankfurt, sechs Jahre, neun Monate, wird, nie verletzend, immer werbend und war kein Deal nötig, genau wie weiland zugleich die Distanz wahrend, hat sich als bei Graf in Mannheim. In München, drei ein Mann erwiesen, dessen Integrität selbst Jahre, sechs Monate, kam es zu einem.Vor auf Mandanten wie Peter Graf oder Jürgen dem Landgericht hatte Franz Salditt zu- Schneider ausstrahlt. Er kommt mit den sammen mit zwei Münchner Kollegen den schwierigsten Menschen zurecht – viel- Konzertveranstalter Marcel Avram, 59, zu leicht, weil er ihnen gegenübertritt, als verteidigen. Von den angeklagten 9,3 Mil- wären sie so, wie sie sein sollten. lionen Mark Steuerhinterziehung blieben Im Strafverfahren bevorzugt Salditt die zuletzt knapp 5 Millionen. Der Betrag wur-

ACTION PRESS ACTION Annäherung. Er tritt für ein kommunikati- de gezahlt. Franz Salditt erklärte, der Man- Peter Graf ves Verfahren ein, durch das man manchen dant habe den Rechtsfrieden wiederher- Menschen zurechtkommt Deal vermeiden könnte. In der „Deutschen stellen wollen, und dem habe sich die Ver- Richterzeitung“ legten im Dezember der teidigung gebeugt. Der Mandant ist sehr „Für Rechtsanwalt Salditt war ich ein Deutsche Richterbund und der Deutsche krank. Er nahm das Urteil, das ihn vorerst verbohrter Mandant. Er hat mich mit Di- Anwaltverein ein gemeinsames Papier vor. von der Haft verschont, sofort an, um wie- stanz und Disziplin, Härte und Klugheit Sie treten „für mehr Offenheit im Umgang der gesund und arbeitsfähig zu werden. auf den rechten Weg zur Einsicht geführt.“ der Verfahrensbeteiligten untereinander Hätte Salditt noch mehr Zeit gehabt, um Hier wurde spürbar, daß Schneider, meist ein“. Es heißt da auch: „Sachliche Vorein- gegenseitiges Verständnis zu werben, wäre unverbesserlich er selbst, doch eine Strecke genommenheit und persönliches Mißtrau- wohl ein geringeres Strafmaß möglich ge- zurückgelegt hat. en auf allen Seiten sind dem Ziel des Straf- wesen. Der Vorsitzende der Steuerge- Salditt, geboren in , in Neuwied verfahrens abträglich.“ Diese „Streitkul- werkschaft, Dieter Ondracek, sagte in ei- aufgewachsen, wo er eine Ein-Mann-Kanz- tur im Strafverfahren“, die hier empfohlen nem „SZ“-Interview, daß Unwissenheit lei mit Halbtagskraft betreibt, hat die er- wird, praktiziert Salditt, der auch den Aus- nicht vor Strafe schütze – daß aber „die sten Jahre nach dem Studium in der Fi- schüssen Justizreform und Strafrecht im Komplexität des deutschen Steuerrechts“ nanzverwaltung gearbeitet, „weil ich das Anwaltverein angehört. bei der Strafzumessung berücksichtigt wer- Gefühl hatte, noch etwas lernen zu müs- Nur in zwei von fünf Fällen wurde Jür- den müsse.Auch die Strafrichter selbst hät- sen“. Heute gehört Salditt zu den renom- gen Schneider in Frankfurt des besonders ten Mühe durchzublicken, und angesichts miertesten Anwälten in der Bundesrepu- schweren Betruges für schuldig befunden. des Geständnisses Avrams und der Rück- blik, wenn es um Steuern und Betrug geht. Er kam auf freien Fuß. Über die sofortige zahlung der Steuerschuld sei das Strafmaß Ein Viertel der Bevölkerung, so Salditt, Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird „in der Tat hoch“. hinterzieht Einkommensteuern; ein wei- erst nach den Feiertagen entschieden Schneiders Verteidiger setzten in Frank- teres Viertel ist willkürlich davon freige- werden. furt einen Schlußpunkt in Salditts Stil, in- stellt. Der Rest? Widerfährt ihm etwa Ge- Mit vier Jahren Verfahrensdauer wurde dem sie ankündigten, Schneider und seine rechtigkeit? Steuerrecht, das ist für den am Anfang gerechnet. Nun hat man nur 41 Anwälte würden sich ab sofort nicht mehr Kenner „Dummenrecht“. Nicht zufällig Tage gebraucht. Der Vorsitzende Gehrke zur Rolle der Banken äußern. ™

der spiegel 1/1998 59 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

EUROPÄISCHE NOTENBANK Deal mit Paris m Streit um die Erstbesetzung des Präsidentenpostens bei der Ifür die „Euro“-Stabilität verantwortlichen Europäischen Zen- tralbank (EZB) hat Kanzler Helmut Kohl den Franzosen „eine ver- nünftige Ausgleichslösung“ in Aussicht gestellt. Zugleich ver- wahrte sich der Kanzler bei einer internen Besprechung im Kanz- leramt gegen die Behauptung des französischen Präsidenten Jacques Chirac, seinem Vorgänger François Mitterrand sei vom Bonner Regierungschef zugesagt worden, im Gegenzug für die Vergabe des Sitzes der Bank nach Frankfurt solle Frankreich den

ersten EZB-Präsidenten stellen. Kohl: „Reine Erfindung, das ist CHAMUSSY / SIPA schlicht falsch.“ Wie der Kompromiß aussehen könnte, hat Bun- Trichet desfinanzminister Theo Waigel gestreut: Der französische Kandi- dat Jean-Claude Trichet, derzeit Chef der Pariser Notenbank, Der derzeitige Präsident des EZB-Vorläufers Europäisches könne Nachfolger des im Januar ausscheidenden Präsidenten der Währungsinstitut soll – so der zwischen Bonn und Paris erörter- Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, des Fran- te Deal – nach vier Jahren zurücktreten, obwohl er für acht Jah- zosen Jacques de Larosière, werden. Nach vierjähriger Parkzeit re berufen wird. Ein fauler Kompromiß: Der Maastrichter Vertrag solle Trichet dann nach Frankfurt an die Spitze der EZB wechseln, sieht die besonders lange Amtszeit von acht Jahren ohne Wie- so Waigel weiter, „wenn der andere keine Lust mehr hat“. Der derwahlmöglichkeit für den EZB-Präsidenten vor, um dessen Un- „andere“ ist Bonns Favorit, der Niederländer Willem Duisenberg. abhängigkeit zu sichern.

TELEKOMMUNIKATION zeptieren. So soll Bell South langfristig (in AUTOMOBILINDUSTRIE mehreren Schritten) einen Anteil von 25 Heiße Phase Prozent an Otelo erhalten. Außerdem will Schlechte Plätze Hartmann auf die Forderung eingehen, im ie Verhandlungen über einen Ein- glücklosen Otelo-Management gründlich für die Deutschen Dstieg der US-Telefongesellschaft Bell aufzuräumen und mindestens zwei Bell- South bei der RWE/Veba-Telekommunika- South-Manager zu installieren. Strittig hin- n einem weltweiten Renditevergleich der tionstochter Otelo gehen in die heiße Pha- gegen ist der Preis. Veba-Experten haben IAutomobilhersteller schneiden die mei- se. Vergangene Woche haben RWE-Chef ausgerechnet, daß der 22,5-prozentige An- sten deutschen Produzenten schlecht ab. Dietmar Kuhnt und Veba-Chef Ulrich teil an E-Plus, den Bell South im Tausch an- Dies ist das Ergebnis einer „Geheimstu- Hartmann einen festen Termin für Mitte bietet, lediglich 15 Prozent an Otelo aus- die“, in der der Vorstand eines europäi- Januar mit der Bell-South-Führung verein- macht. Der Rest soll nach Hartmanns schen Automobilunternehmens alle im bart, um die letzten Hürden zu beseitigen. Vorstellungen in bar bezahlt werden. Die Jahr 1997 vorgelegten Konzernbilanzen Die Chancen stehen gut. Hartmann will Amerikaner gingen bisher davon aus, kei- zwei Hauptforderungen von Bell South ak- ne zusätzlichen Gelder zahlen zu müssen.

VOLKSWAGEN Unter Beschuß olkswagen-Produktionschef Folker Weißgerber ist

Vbei Ferdinand Piëch in Ungnade gefallen. Der VW- GAMMA / STUDIO X Vorsitzende macht ihn mitverantwortlich für das Pro- Porsche 911 duktionschaos beim neuen Golf. Statt der für 1997 ge- planten 136000 Fahrzeuge konnten nur gut 70000 her- von Finanzexperten analysieren ließ. Bei gestellt werden. Piëch hatte kurz vor Serienanlauf ver- der wichtigsten Kennzahl, der Eigenkapi- fügt, daß die B-Säule zwischen Vorder- und Hintertür talrendite, liegt Chrysler auf Platz 1, vor verstärkt wurde, was erhebliche Verzögerungen beim dem wieder genesenen Sportwagenher- Golf-Anlauf auslöste. Weit schlimmer jedoch wirkten steller Porsche, vor Volvo, General Motors sich Organisationsfehler und technische Pannen im und dem Ford-Konzern. Mercedes-Benz Stammwerk in Wolfsburg aus. Der unter Beschuß ge- folgt auf Rang 8, der BMW-Konzern ratene Weißgerber lenkt intern die Verantwortung auf (einschließlich der Marke Rover) auf Platz seinen Werksleiter Gerald Weber. Doch das wird Weiß- 10 und Volkswagen auf Rang 15. Bei einem gerber, der im Management seit Jahren als Fehlbeset- weiteren Bewertungsmaßstab, der Um- zung gilt und dessen Rausschmiß mehrfach vom Be- satzrendite nach Steuern, führt Volvo triebsrat verhindert wurde, wohl nicht viel nützen. Bis (8 Prozent) vor Chrysler ( 6,1), Honda (4,2) zum Frühjahr soll er die Golf-Produktion von 1100 auf und Porsche (3,4). Mercedes-Benz (2 Pro- 3300 Fahrzeuge pro Tag hochschrauben, was nach Ein- zent) steht erst auf dem 10., der BMW- schätzung von VW-Managern nicht zu schaffen ist. Dann Konzern (1,6) auf dem 12. und Volkswagen

P. FRISCHMUTH / ARGUS P. allerdings werden auch die Betriebsräte Weißgerber vor (0,7) auf dem 15. Platz in der Rangliste der VW-Zentrale in Wolfsburg dem Sturz nicht mehr bewahren können. Weltautomobilindustrie.

der spiegel 1/1998 61 Medien

KONZERNE RTL und Premiere unter einem Dach ertelsmann will mit einer medienpolitisch heiklen Rechts- Bkonstruktion bei seinen Fernsehsendern Steuern sparen. Ber- telsmann-Vorstand Michael Dornemann plant eine Hamburger Dachgesellschaft für die Deutschland-Geschäfte des Konzernab- legers CLT-Ufa, der durch aufwendige Investitionen in die roten Zahlen geraten ist. Der neuen Firma sollen zunächst der Kölner Sender RTL und die 50-Prozent-Beteiligung am Pay-TV-Sender Premiere zugeordnet werden. Der Gewinn von RTL (1997: 170 Mil- lionen Mark) wird damit gegen den Verlustanteil bei Premiere ge-

gengerechnet, der in diesem Jahr bei rund 100 Millionen Mark lie- FRANK BY FACES gen dürfte. Ergebnis: Die Steuern auf den RTL-Gewinn ließen sich Bertelsmann-Manager Dornemann, Schmidt-Holtz um rund 30 Millionen Mark reduzieren. Geschäftsführer der Dach- firma wird der CLT-Ufa-Chef Rolf Schmidt-Holtz, der auch in es gäbe keine Verbindung zwischen Pay-TV und freifinanzierten den Aufsichtsgremien von RTL und Premiere eine dominierende Bertelsmann-Sendern wie RTL. Das seien getrennte Geschäfts- Rolle spielt. Bei der beantragten Pay-TV-Fusion mit dem Münch- felder. Ein Bertelsmann-Sprecher bestätigte, es gehe darum, die ner TV-Unternehmer Leo Kirch rund um Premiere argumentieren deutschen CLT-Ufa-Geschäfte in eine „neue Organschaft zu über- die Bertelsmänner freilich gegenüber der EU-Kommission damit, führen“; das Modell sei in der „Endkonstruktion“.

BAUERNLOBBY wurde auf Februar verschoben. Berichte RADIO über die milliardenschweren Schiebereien Unverständnis, Neid ostdeutscher Agrarbonzen seien von „Un- Protest aus Paris verständnis, Neid und Mißgunst“ geprägt, und Mißgunst klagte das Verbandsblatt „Thüringer ie Geschäfte des Pariser Radiokon- Agrar-Journal“. Wegen einer Sendung des Dzerns Nouvelle Radio Jeunesse (NRJ) it massivem Druck versucht der Deut- Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) wurde in Deutschland werden zum Politikum. In Msche Bauernverband kritische Sen- sogar das Dresdner Landwirtschaftsmini- einem Brief an den Mainzer Ministerprä- dungen über ostdeutsche Großbauern zu sterium aktiv. Der MDR hatte über eine sidenten Kurt Beck zeigte sich der Chef verhindern. Nach heftigen Protesten von privatrechtliche Auseinandersetzung zwi- der obersten französischen Medienbehör- Gerd Sonnleitner, dem Präsidenten des schen einem Kleinbauern und dem Groß- de, Hervé Bourges, besorgt, daß der NRJ- Deutschen Bauernverbands, und von Vik- agrarier Richard Ladenberger berichtet, Radiosender Energy in Rheinland-Pfalz tor Klein, dem Präsidenten des Bauernver- dem früheren SED-Chef der LPG Ruppen- zum Jahresende wichtige Frequenzen ver- bands Saar und Mitglied des ZDF-Verwal- dorf und heutigem Vorstandsmitglied des lieren soll. Das hatten tungsrats, setzte das ZDF die Ausstrahlung Sächsischen Landesbauernverbands. Der die Medienwächter in der Dokumentation „Fette Beute – Betrug Pressesprecher des Ministeriums kritisier- Becks Bundesland be- in der Landwirtschaft der Ex-DDR“ ab. te in einem Brief an MDR-Chefredakteur schlossen; im Januar Der Film beschäftigt sich mit den unsau- Wolfgang Kenntemich den Beitrag („platt, wollen die Rheinland- beren und teilweise kriminellen Praktiken durchsichtig“) und empfahl dem Chef- Pfälzer entscheiden, ehemaliger LPG-Vorsitzender. Die überar- redakteur eine andere Personalpolitik: wer neuer Lizenzin- beitete Fassung mit dem abgemilderten Un- „Lassen Sie dort, wo Sie mitreden können, haber wird. Frankreichs tertitel „Aus roten Socken werden Junker“ Profis ran.“ Medienhüter erinnern Beck jetzt daran, daß sie für die luxemburgisch- Die Absteiger Ende 1997 abgesetzte Fernsehsendungen, Marktanteile in Prozent deutsche CLT-Bertels- mann jüngst wichti-

ge Radiofrequenzen in DARCHINGER F. 25 Frankreich vorgesehen Beck Schreinemakers TV haben. Die endgültige RTL Entscheidung falle Anfang 1998. Ihm gehe 20 es, so Bourges, um eine „gleichwertige Entwicklung“ europäischer Medienunter- nehmen. NRJ ist in Städten wie Hamburg, 15 Berlin und München mit Radio Energy bei Hauser & Kienzle jungen Zuhörern beliebt. Ein Rauswurf in und die Meinungs- Rheinland-Pfalz bedroht die Pläne der 10 macher ZDF hochrentablen, börsennotierten Firma (Umsatz: 230 Millionen Mark), die mehr- Spot – heitlich dem Unternehmer Jean-Paul das Magazin Baudecroux gehört. Wegen „Ungleich- 5 mit Dieter Kronzucker Sat 1 behandlung von Interessen ausländischer Privatfernsehen ARD Investoren in Europa“ hat NRJ bereits mit Friedrich Küppersbusch bei Frankreichs Staatspräsident Jacques 0 Chirac und bei der EU-Kommission inter- März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. veniert.

62 der spiegel 1/1998 Geld

DPA Börse Frankfurt

GELDANLAGE Prognosen für den Goldpreis je Feinunze Ende 1998 in Dollar

Die Prognose der Profis Stand am 330 Deutsche Morgan Grenfell 23.12.1997 300 Morgan Stanley Wohin steuert der Dax 1998, wie wirkt sich die Asien-Krise auf deutsche Aktien aus, in 292,90 welche Länder sollten Anleger investieren, welche Spezialwerte der Telekommunika- Dollar k. A. Goldman, Sachs tion sind empfehlenswert? Bei einer SPIEGEL-Umfrage gaben die Investmentbanken Deutsche Morgan Grenfell, Salomon Smith Barney, Morgan Stanley, Dresdner Klein- 340 Kleinwort Benson wort Benson und Goldman, Sachs Einblick in ihre Analysen. 300 Salomon Smith Barney Prognosen für den Stand tische Börsen seien erst im weiteren Ver- des Dax Ende 1998 lauf des nächsten Jahres wieder interes- schwächeres Wachstum in allen Branchen. sant, Mexiko dagegen schon heute „un- Da Unternehmen der Investitionsgüter-, Stand am 4500 Deutsche Morgan Grenfell terbewertet“. Für Kleinwort Benson ist in Grundstoff- und Autoindustrie 45 Prozent 23.12.1997 Osteuropa insbesondere Ungarn als Ein- der gesamten deutschen Börsenkapitali- 4000 Morgan Stanley zelmarkt „mit moderater Bewertung und sierung ausmachten, „ist der deutsche 4121 4300 Goldman, Sachs solidem Ertragswachstum attraktiv“. Gold- Aktienmarkt für eine Abwärtsbewegung man, Sachs rät angesichts weltweiter Un- in Asien anfälliger als die meisten an- 4500 Kleinwort Benson sicherheiten zu europäischen, risikoarmen deren Märkte“. Lediglich „leicht ver- Aktien und empfiehlt im Portfolio „eine schlechtert“ haben sich die Ertragsper- 4500 Salomon Smith Barney Übergewichtung der Schweiz und Groß- spektiven deutscher Unternehmen dage- britanniens“. Auch deutsche Aktien seien gen nach Ansicht der Deutschen Morgan durchaus attraktiv. Goldman, Sachs er- Grenfell. Salomon Smith Barney und Deutsche Aktien wartet einen Anstieg der Unternehmens- Kleinwort Benson sind ebenfalls optimi- uf dem deutschen Markt raten die gewinne um durchschnittlich 14 Prozent. stischer: Die Probleme in Asien werden AAnalysten zu einer grundsätzlich eher ihrer Ansicht nach „die exportierende defensiven Strategie. Empfehlenswert sei- deutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit en in erster Linie Anlagen bei den Versor- Asienkrise direkt kaum beeinträchtigen“. gungsunternehmen, die „großes Umstruk- ie Krise in Asien wird nach Ansicht turierungspotential“ haben, wie es Mor- Dder Analysten weiter Druck auf die gan Stanley etwa bei RWE ausmacht. Auch Aktien exportorientierter deutscher Un- Telekommunikation die Deutsche Morgan Grenfell sieht bei ternehmen ausüben. Für Morgan Stanley rotz des in 1998 einsetzenden Wettbe- RWE und Veba „höhere Prognosesicher- sind Investitionsgüterhersteller, Automo- Twerbs auf dem europäischen Markt der heit bei den Unternehmensgewinnen“. bilwerte und Stahlproduzenten besonders Telekommunikation raten die meisten Kleinwort Benson bevorzugt aufgrund gefährdet. Goldman, Sachs erwartet ein Analysten zur Anlage bei den ehemaligen „anhaltender Übernahmephantasie“ Pa- Monopolunternehmen. Kleinwort Benson piere der drei Großbanken und der Alli- Prognosen für den Stand sieht in Europa die spanische Telefonica anz. Auch zu SAP und Siemens rät die des Dollar Ende 1998 in Mark vorn. Deren Südamerika-Engagement Dresdner-Bank-Tochter. werde „trotz Wettbewerbsdrucks in den Stand am 1,78 Deutsche Morgan Grenfell nächsten drei Jahren zu mittleren Ge- 23.12.1997 winnwachstumsraten von jeweils rund 20 Weltbörsen 1,80 Morgan Stanley 1,77 Prozent“ führen. Die Deutsche Morgan isikofreudigen Anlegern empfiehlt DM 1,60 Goldman, Sachs Grenfell spricht sich für France Telecom RMorgan Stanley in Europa den italie- und Deutsche Telekom aus. Lediglich Mor- nischen Markt, der „unter anderem von 1,65 Kleinwort Benson gan Stanley rät zu einem Newcomer: massiven Zinssenkungen im Vorfeld der Mannesmann sei „für die Liberalisierung Währungsunion profitieren sollte“. Asia- 1,82 Salomon Smith Barney am besten positioniert“.

der spiegel 1/1998 63 Wirtschaft

TELEKOMMUNIKATION „Worauf warten Sie noch?“ Deutschland in Aufbruchstimmung: Am 1. Januar beginnt ein neues Telefonzeitalter. Die Telekom verliert ihre Monopolstellung, Dutzende von Privatfirmen wollen die Kunden in ihr Netz locken. Die Preise kennen derzeit nur eine Richtung: steil abwärts.

llmählich verliert selbst Martin steigen. „Zwischen 7000 und 9000 Leute“, Stöber. „Keiner kann mit Sicherheit sagen, Furuseth den Überblick. „Manch- rechnet Furuseth, „werden wir brauchen.“ was ab Januar auf uns zukommen wird – Amal habe ich das Gefühl, ich bin im Rund 1700 sind bisher eingestellt. 100, 1000, 10000 oder 100000 Kunden. Al- falschen Unternehmen“, wundert sich der Harald Stöber im 400 Kilometer ent- les ist möglich.“ Geschäftsführer der Münchener Viag In- fernten Frankfurt am Main hat ganz ande- Solche Fragen muß sich Ulf Bohla gar terkom. re Probleme. Der Chef der Telefongesell- nicht erst stellen. In einem verzweifelten Immer häufiger trifft der 44jährige Nor- schaft Mannesmann Arcor, dem derzeit Wettlauf gegen die Zeit hat der Otelo-Chef weger auf den Fluren des kargen Büroge- rund 7000 Mitarbeiter unterstehen, küm- mit seinen 3000 Mitarbeitern versucht, bäudes am Rande der bayerischen Haupt- mert sich bereits um Technik und Feinhei- Technik und Netze pünktlich aufzustellen stadt auf Mitarbeiter, die er noch nie zuvor ten des Vermarktungskonzepts: Stehen die – vergebens. gesehen hat. Zwischen 100 und 150 neue Netze? Stimmt die Vertriebsstrategie? Pas- Erst im März oder April kann Otelo den Leute stellt Furuseth Monat für Monat ein. sen die Tarife? Kommen die Werbekampa- Kunden wesentlich mehr anbieten als eine Arbeitsämter und Headhunter kommen gnen bei den Kunden an? schlichte Telefonkarte. Dennoch gibt sich mit der Vermittlung qualifizierter Kräfte Im ganzen Haus herrscht seit Wochen Bohla optimistisch.„Jeder einzelne Mitar- kaum nach, obwohl die angebotenen Ge- große Hektik. Ein Meeting jagt das beiter“, behauptet er, „ist bis in die Fuß- hälter oft Spitzenniveau erreichen. nächste, Tausende Kleinigkeiten müssen spitzen motiviert.“ Damit das so bleibt, Viag Interkom will zu einer der größten noch schnellstens geregelt werden. „Das tickt auf den Internet-Seiten der Telefon- Telefongesellschaften Deutschlands auf- Schlimmste ist die Ungewißheit“, stöhnt tochter von RWE und Veba unaufhaltsam

Handy-Nutzer: Neue Dienstleistungsangebote werden das Telefonieren so komfortabel und preiswert wie noch nie machen

64 ein Zähler, der die Frist bis zum Beginn der neuen Ära anzeigt: „Noch 3 Tage, noch 2 Tarif-Dschungel Preise ausgewählter Telefongesellschaften ab Januar 1998 in Mark Tage, noch 1 Tag ...“ Aufbruchstimmung in Deutschland. Die Inlandsgespräch Auslandsgespräch Vorwahl Mitarbeiter bei Arcor, Otelo und Viag so- München–Hamburg Deutschland–USA des Netz- Anbieter, Sitz 9–18 Uhr pro Minute: ab 21 Uhr für 3 Minuten: anbieters* wie bei Dutzenden von anderen Firmen haben nur noch ein Datum im Sinn: den Deutsche Telekom, 0,60 2,52 ab März, 01033 1. Januar 1998. Zwei Jahre vor dem Jahr- Bonn bisher 4,32 hundertwechsel beginnt ein neues Tele- Arcor, 0,52 + 6 Pfennig 3,12 + 6 Pfennig 01070 fonzeitalter. Eschborn pro Gespräch pro Gespräch Wenn zum Jahreswechsel die Böller CNS, 0,38 2,40 01023 knallen, verliert die Telekom ihr letztes Stuttgart Monopol und damit eine krisensichere Esprit, 0,49 2,25 01055 Einnahmequelle. Die seit mehr als hundert Düsseldorf Jahren staatlich verordnete Gängelei Isis, 0,41 2,33 01020 beim Telefonieren gehört dann der Ver- Düsseldorf gangenheit an. Was bisher nur für große Firmen und MobilCom, 0,42 3,02 01019 Schleswig für Handy-Telefonierer möglich war, gilt von Donnerstag dieser Woche an für Otelo, ab März/April ab März/April 01011 Rufnummer *gefolgt von der kompletten jedermann: die freie Wahl der Telefon- Düsseldorf gesellschaft. Talkline, 0,44 2,37 01050 Wettbewerb, fast pur, herrscht dann in Elmshorn der Telekommunikation. Jede Firma, die Viag Interkom, ab März ab März 01090 eine entsprechende Lizenz besitzt, kann München den Privatkunden eigene Telefondienstlei- WestCom, 0,33 ab März1,89 ab März 01085 stungen und Preise anbieten. Quasi über Heidelberg Nacht bekommt Deutschland einen der Bei fast allen Gesellschaften sind Mengenrabatte möglich Quelle: Unternehmensangaben, Stand: 23. 12. 97 freiesten Telefonmärkte der Welt. Die größte Herausforderung muß Tele- kom-Chef Ron Sommer bestehen. Sein Un- lichst viele der daran angeschlossenen Kun- der Telekommunikation mit solcher Hef- ternehmen ist Herr über 44 Millionen Te- den möchten ihm die privaten Konkurren- tigkeit. „Wenn die Deutschen etwas ma- lefonanschlüsse in Deutschland – und mög- ten in möglichst kurzer Zeit abjagen. chen“, staunt Lauri Kivinen, Manager beim Noch gibt sich der frühere Sony-Mana- finnischen Telefonkonzern Nokia, „dann ger gelassen. „Wir werden weiterhin der machen sie es gründlich.“ entscheidende Motor der Entwicklung in Schon jetzt haben rund 40 Firmen eine Deutschland sein“, behauptet er tapfer. Lizenz erhalten, weitere stehen in den Doch auch der smarte Telekom-Chef weiß, Startlöchern und wollen bis Ende 1998 an- daß nach dem erfolgreichen Börsengang treten. Sehr viel mehr werden folgen. Bis im vergangenen Jahr nun die weit größere zum Jahre 2002, so schätzt die US-Bera- Bewährungsprobe bevorsteht. „Der Wett- tungsfirma Gartner Group, könnten auf bewerb auf dem deutschen Markt“, mahnt dem europäischen Binnenmarkt mehr als er deshalb seine knapp 200000 Mitarbeiter, tausend Telefonfirmen vertreten sein. Min- „wird gnadenlos hart werden.“ destens ein Drittel von ihnen wird dann Alle Vergleiche mit Amerika oder Eng- auch in Deutschland mitmischen. land, wo die ehemaligen Monopolisten im- Eine ganz neue Industrie entsteht. Das mer noch rund 80 Prozent des Marktes be- Telefon soll nicht länger nur ein – oft lä- herrschen, ziehen nicht. Denn dort ent- stiges – Alltagsgerät sein. Neue und unge- wickelte sich der Wettbewerb erst langsam, wohnte Dienstleistungsangebote werden zunächst mußten sich die Ex-Staatskon- das Telefonieren in Deutschland so kom- zerne nur sehr weniger Angreifer erwehren. fortabel und gleichzeitig so preiswert wie Hierzulande ist alles anders: Nirgend- noch nie machen.

P. FRISCHMUTH / ARGUS P. wo auf der Welt begann der Wettbewerb in Hinzu kommen neue Anwendungen wie Internet, E-Mail, Bildtelefone, Videokon- ferenzen oder Mobilfunk. „Der Telekom- Deutschland privat munikationsmarkt“, schwärmen die Un- Gebühren für eine Gesprächsminute vormittags ternehmensberater von Arthur D. Little, in Mark, ausgewählte Anbieter „wird zum zentralen Wachstumsmarkt der Industrieländer werden.“ Nahtarif Ferntarif Gewaltige Investitionen sind bei den Te- bis 50 Kilometer ab 50 Kilometer lefongesellschaften notwendig, um die steil wachsende Nachfrage zu erfüllen. Allein die Telekom will bis zum Jahre 2000 rund Telekom ...... 0,36...... 0,60 50 Milliarden Mark in den zusätzlichen Aus- Arcor...... 0,16...... 0,51 bau der Netze stecken. Weitere 25 Milliar- den haben die drei größten privaten Kon- Mobilcom...... 0,32...... 0,42 kurrenten in ihren Budgets vorgesehen. Talkline...... 0,44...... 0,44 In den Chefetagen herrscht Goldgräber- stimmung. Innerhalb der nächsten fünf Jah-

der spiegel 1/1998 65 W. P. PRANGE / ARGUS P. W. S. WARTER / AGENTUR FOCUS / AGENTUR S. WARTER Otelo-Zentrale in Köln, Telekom-Chef Sommer: Die staatlich verordnete Gängelei beim Telefonieren gehört der Vergangenheit an re, so schätzen Experten, wird der Markt fontarife verkündet.Wer bietet mehr Tele- mer des jeweiligen Anbieters gewählt von heute rund 70 Milliarden Mark Um- fon fürs Geld? Bei Ferngesprächen ver- werden. satz auf mehr als 120 Milliarden Mark spricht Mobilcom-Chef Gerhard Schmid π Der Kunde kann einen festen Vertrag wachsen. Und alle, von Arcor bis „30 Prozent Preisnachlaß“, Telepassport- mit einem alternativen Anbieter ab- Worldcom, vom US-Riesen AT&T bis Chef Georg Hofer lockt mit 39 Prozent, schließen. Dann werden automatisch alle zum Lokalanbieter Lausitz Net, wollen und „mit Esprit“, behauptet stolz eine eng- Fern- und Auslandsgespräche über sich ein Stück aus dem deutschen lische Telefongesellschaft, könnten die dessen Netz geleitet, nur Ortsgespräche Markt rund ums Telefon herausschneiden. Deutschen sogar „bis zu 65 Prozent Tele- erledigt weiterhin die Telekom. Zusätz- „Ich wette“, sagt Mannesmann-Vorstand fonkosten sparen“. liche Grundgebühren fallen für dieses Peter Mihatsch, „daß wir in schon we- Und das ist erst der Anfang. In Berlin sogenannte Preselection-Verfahren, das nigen Jahren mehr als eine Million Kunden kann man mit Otelo im Rahmen eines bisher nur Arcor anbietet, nicht an. haben.“ Feldversuchs sogar schon völlig gratis te- Doch der Ex-Monopolist hat sich weni- In der Werbung ist der Kampf um König lefonieren – wenn man die Gespräche mit- ge Tage vor dem Start in den Wettbe- Kunde schon entbrannt, noch ehe das Ren- tendrin durch Werbung unterbrechen läßt. werb eine neue Variante einfallen las- nen richtig begonnen hat. „Jetzt winkt die Profitieren werden nun endlich die Kun- sen. Er will dem Kunden für die Um- große Freiheit“, trommelt die Firma Colt den. Zwar bleibt bei den Ortsgesprächen in stellung eine einmalige Bearbeitungsge- Telecom. „Mehr Telefon fürs Geld“ ver- den meisten Regionen zunächst alles beim bühr von 85 Mark in Rechnung stellen. spricht der Konkurrent Talkline, wenn man alten, aber bei Fern- und Auslandsge- Dagegen wollen die Konkurrenten bei seine fünfstellige Nummer „auswendig sprächen gibt es jetzt schon vier Möglich- der Regulierungsbehörde Beschwerde lernt“. keiten: einlegen. „Worauf warten Sie noch?“ lockt ver- π Der Kunde bleibt der Telekom treu, π Oder der Kunde wechselt mit seinem Te- heißungsvoll eine rothaarige Schöne im nutzt die neuen Billigtarife des Ex-Mo- lefonanschluß komplett zu einem Alter- Auftrag von Arcor, während der Gegen- nopolisten. nativanbieter. Die bestehende Telefon- spieler Viag Interkom ganz verbraucher- π Er meldet sich bei einer oder mehreren nummer bleibt auch in diesem Fall er- nah verspricht, „Licht in den Tarifdschun- Privatfirmen als Interessent an und ent- halten. Allerdings ist diese Möglichkeit gel“ zu bringen. Schon nebenan erübrigen scheidet bei jedem Gespräch aufs neue, zum 1. Januar erst in wenigen Groß- sich scheinbar wieder alle Fragen und welchen der angebotenen Spartarife er städten wie Köln oder Düsseldorf mög- Zweifel: Otelo – „Ihre günstige Telefon- nutzen will. Bei diesem sogenannten lich, wo City-Carrier wie Net verbindung überallhin!“ Call-by-Call-Verfahren muß dann vor und Isis neben Firmenkunden auch Pri- Es geht zu wie auf dem Basar. Fast täg- der eigentlich gewünschten Rufnummer vatleute bedienen – mit Fern- und Orts- lich werden mit großem Getöse neue Tele- noch die fünfstellige Netzzugangsnum- gesprächen.

Große Freiheit Call by call Preselect Künftige Möglichkeiten des Telefonierens Der Kunde ist bei vielen Anbietern angemeldet Der Kunde hat einen Vertrag mit einer Telefon- und wählt jeweils das billigste Angebot aus. gesellschaft über die Abwicklung der Fernge- spräche. Direktanschluß Der Kunde bindet sich vertraglich an einen Anbieter A Ferngespräch Anbieter Anbieter und führt sämtliche Telefonate über Kunde Anbieter B dessen Netz. Kunde Anbieter C Anbieter A Ortsgespräch Telekom Anbieter D Kunde Anbieter B VERBINDUNG VERBINDUNG ÜBER Anbieter C •Vorwahl des Netzanbieters •Rufnummer •komplette Rufnummer •Ferngespräche laufen automatisch über VERBINDUNG ÜBER Anbieter D das Netz des Vertragspartners. RECHNUNG VON Rufnummer • •Telekom RECHNUNG VON RECHNUNG VON •jedem Anbieter, bei dem ein Gespräch •Telekom •Vertragspartner geführt wurde •Vertragspartner

66 der spiegel 1/1998 Wirtschaft Erst im Laufe des Jahres können Firmen nur der Wettbewerb der privaten Telefon- wie Otelo oder Viag die völlige Trennung firmen, auch neue Techniken setzen die von der Telekom auch in anderen Groß- Anbieter unter Druck. städten anbieten. In Kleinstädten und auf Die größte Schubkraft kommt dabei dem Land werden die Kunden allerdings vom Internet. Über das World Wide Web noch sehr lange ihre Ortsgespräche über läßt sich inzwischen auch telefonieren – die Telekom abwickeln müssen. auch mit dem ganz normalen Telefon. Da alle neuen Anbieter ihre Tarife frei Mit dieser Technik will zum Beispiel der kalkulieren können, müssen die Kunden Medienkonzern Bertelsmann als Überra- künftig rechnen. Wer da jeweils am gün- schungsgegner antreten. Nachdem ein Mo- dellversuch mit 1500 Teil- Preissturz nehmern zur Zufriedenheit Wer spart wieviel des designierten Firmen- gegenüber den chefs Thomas Middelhoff bisherigen Tarifen verlaufen ist, glaubt er: „Wir werden schon 1998 nach der Telefonverhalten Kunde A Kunde B Telekom der größte und bil- ligste Telefonanbieter in Deutschland sein.“ Orts-Gespräche 50% 30% Um das Internet und sei- regionaler Bereich ne Möglichkeiten für jeder- bis 50 km 20% 20% mann populär zu machen, im Fernverkehr 20% 40% überlegt Bertelsmann, das Auslands-Gespräche 10% 10% Angebot mit einem speziel- len Endgerät zu koppeln. Veränderungen gegenüber den bisher geltenden Tarifen* der Telekom „Das könnten wir“, sagt Middelhoff, „ähnlich wie im Mobilfunkbereich praktisch Arcor** – 10,5 % – 13,2 % umsonst abgeben.“ CNS –9,5 % –21,0% Und dann ist es nicht mehr weit, bis für das Tele- Isis – 16,5 % – 20,0 % fonieren nur noch eine mo- Mobilcom – 15,0 % – 20,0 % natliche Pauschale fällig ist. „Ich persönlich“, sagt Tho- Talkline 0 – 4,9 % mas Middelhoff, „hielte eine Flat Fee von 50 Mark pro *ohne Berücksichtigung von Mengenrabatten **bei 100 Gesprächen Monat für ideal, aber das wird sich wohl nicht machen stigsten ist, läßt sich oft nicht auf den ersten lassen.“ Noch nicht. Doch Forscherteams Blick erkennen. Denn außer Entfernungs- in der ganzen Welt und große High-Tech- stufen und Taktraten, die von Anbieter zu Firmen basteln an Zukunftsvisionen, die Anbieter je nach Tageszeit wechseln, gibt das Telefon noch billiger und leistungs- es häufig auch noch Rabatte für Vieltele- fähiger machen sollen. fonierer. An Risikobereitschaft und Pioniergeist „Da kommt ein undurchsichtiger mangelt es derzeit nicht. So hoffen einige Tarifdschungel auf uns zu, gegen den die Stromkonzerne, schon bald Telefonate heutigen Tarife beim Mobiltelefon noch über jede Stromleitung abwickeln zu kön- kinderleicht zu vergleichen sind“, sagt der nen. Die Vision: Kleine Geräte, die einge- Hamburger Telekommunikationsexperte klinkt in die herkömmliche Steckdose zum Winfried Piezonka. Doch das, meint Man- Telefonieren benutzt werden können, er- nesmann-Vorstand Mihatsch, sei „eben der setzen schließlich das Telefon. Preis der Freiheit“. Gewaltige Anstrengungen unternehmen Große Firmen, für die es sich lohnt, ei- auch die Handy-Hersteller, um ihre nen sogenannten Least Cost Router anzu- Technik zu revolutionieren. Das Mobilte- schaffen, können allerdings systematisch lefon von morgen taugt zu erheblich die neuen Vorteile nutzen. Ein spezieller mehr, als lediglich zum Sprechen. Auch Computer in der Telefonanlage sorgt dafür, E-Mails, Faxe, Internet-Daten, ja, sogar daß automatisch der jeweils günstigste An- Bilder des Gesprächspartners werden im bieter für die gerade gewünschte Verbin- Display der Allround-Winzlinge zu be- dung gewählt wird. Privatkunden müssen trachten sein. sich auf Berater verlassen, die ebenfalls Technisch funktioniert das schon. In ei- eine neue Chance wittern. So bietet zum nem Versuchslabor im Norden Finnlands Beispiel die Firma MPC-Service in Hei- haben die Nokia-Techniker vor einigen delberg kostenlos eine „computergestütz- Wochen die Bildübertragung per Funk- te, anbieterübergreifende Telefonkosten- technik demonstriert. „Das Handy hatte analyse“ an. nur einen Nachteil“, bremst Nokia-Mana- Auf dem Zukunftsmarkt Telekommuni- ger Kivinen allzu kühne Erwartungen, „die kation kennen die Preise vorerst nur eine erforderliche Elektronik hat noch die Richtung: steil abwärts. Dafür sorgt nicht Größe eines Kühlschranks.“ ™

der spiegel 1/1998 67 ASIEN Erst Seoul, dann Stuttgart? Die Wirtschafts- und Währungs- turbulenzen in Südostasien weiten sich dramatisch aus. Eine neue Weltwirtschaftskrise ist nicht mehr auszuschließen. undeswirtschaftsminister Günter Rexrodt ist ein notorischer Opti- Bmist. Im jüngsten Monatsbericht des Ministeriums über „Die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland“ verkaufte der Liberale die Finanz- und Währungskrise als eine gute Nachricht für die Deutschen. Was derzeit in Japan und den Tigerstaa- ten vor sich gehe, so der Minister, sei nichts anderes als eine Berichtigung von Fehl- entwicklungen: „Die Korrektur“, frohlock- te Rexrodt, „wird sich schließlich auch po- sitiv auf die Weltwirtschaft auswirken.“ Das ist Wunschdenken. Zwar sind die Folgen der anhaltenden Turbulenzen an den fernöstlichen Finanzmärkten für die Weltwirtschaft schwer abzuschätzen, si- Aktienindizes in Fernost cher ist aber, daß auch die USA und Euro- Die asiatische Schwindsucht 21 17 Tausend 800 pa in Mitleidenschaft gezogen werden. Of- Tokio Hongkong Südkorea 750 fen ist nur wie stark. 20 NIKKEI 16 HANG SENG KOSPI Unter dem Eindruck der jüngsten Er- 15 700 eignisse korrigierten jetzt auch die Exper- 19 Tausend 650 14 ten des Internationalen Währungsfonds 600 18 13 (IWF) ihre globale Wachstumsprognose für 550 das kommende Jahr deutlich nach unten. 12 17 500 Die Krise habe sich „vertieft und erwei- 11 tert“, die bisherigen Einschätzungen seien 16 450 „zu optimistisch“ gewesen. 10 400 15 Das könnte auch für die neue Prognose 9 350 23. Dezember 14 799,4 23. Dezember10 368,1 23. Dezember 366,4 gelten. Sie basiert nämlich auf der Annah- 14 8 300 me, daß es den Regierungen in Südostasi- Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. en gelingt, das Vertrauen der internationa- len Investoren schnell zurückzugewinnen. gen oder übermorgen“ pleite gehe. Die Zu- An der Tokioter Börse fielen die Akti- Doch davon kann keine Rede sein. Im- sage des IWF und anderer Stellen, Süd- enkurse am Montag vergangener Woche mer neue Erschütterungen erfassen die korea mit einem Kreditpaket von 57 Milli- auf ein Zwei-Jahres-Tief. Eine „Todesspi- asiatischen Volkswirtschaften. Im Zentrum arden Dollar zu helfen, hat die Situation rale“ („Financial Times“) zeichnet sich ab: des Taifuns steht derzeit Südkorea.An der bislang nicht stabilisiert. Der Wertverlust ihrer Aktienbestände Börse in Seoul fielen die Aktienkurse am Die anhaltende Korea-Krise verschärft zwingt die japanischen Finanzhäuser zu Dienstag vergangener Woche um weitere wiederum die Probleme Japans. Gut ein Notverkäufen, die die Börse abermals un- sieben Prozent. Drittel der japanischen Ausfuhren geht in ter Druck setzen werden. Zudem müssen Noch schlimmer erwischte es die die Nachbarländer. Der Verfall der süd- die Banken ihre Kreditvergabe einschrän- Währung der elftgrößten Industrienation. koreanischen Währung verschlechtert die ken, eine Welle weiterer Firmenpleiten ist Der Won, der in den vergangenen Monaten Wettbewerbssituation japanischer Unter- damit absehbar. bereits mehr als die Hälfte seines Wertes nehmen in der Region. Experten schließen „Das ganze japanische Finanzsystem eingebüßt hatte, sackte binnen Stunden um mittlerweile nicht mehr aus, daß die zweit- wird zusammenbrechen“, prognostiziert weitere 14 Prozent gegenüber dem Dollar größte Volkswirtschaft der Welt 1998 in der frühere Tokioter McKinsey-Chef Ke- ab. Zuvor hatten Rating-Agenturen die eine Rezession schlittert. nichi Ohmae. „Die gesamte Weltwirtschaft Schuldverschreibungen des Landes als Die japanischen Banken sitzen seit Jah- wird darunter leiden.“ Schrott-Anleihen klassifiziert. ren auf einem riesigen Berg fauler Kredi- Japan ist der größte Gläubiger der USA, Die Lage sei so dramatisch, daß er nicht te, doch jetzt spitzt sich die Situation ge- die Banken halten rund 350 Milliarden mehr schlafen könne, erklärte der neuge- fährlich zu. Der Einbruch in Südkorea be- Dollar in amerikanischen Staatspapieren. wählte Präsident Kim Dae Jung (siehe Sei- schert den angeschlagenen japanischen Wenn sie dieses Geld abziehen, um heimi- te120). Er wisse nicht, ob sein Land „mor- Banken weitere Kreditausfälle. sche Verluste auszugleichen, geriete das

68 der spiegel 1/1998 tienkurse in den USA und an den eu- ropäischen Börsen noch höher steigen. „Zu einseitig“, nennt Johannes Reich vom Bankhaus Metzler diese Wahrneh- mung seiner Kollegen. Die Gefahr, daß sich das asiatische Feuer zu einem globalen Flächenbrand entwickelt, hält er für kei- neswegs gebannt. Immer noch mogelt sich die japanische Regierung durch die Bankenkrise. Notlei- dende Institute erhalten Haushaltsmittel, Geldspritzen bewahren die Tokioter Börse vor dem Kollaps. Reich: „Die Frage ist, wie lange dieses Spiel noch gutgehen wird.“ Schon jetzt sind die japanischen Zinsen extrem niedrig, und die Währung ist schwach. Die Regierung hat kaum noch Spielraum zu reagieren, wenn sich die Kri- se verschärft. Japan und die Tigerstaaten müssen alles auf die Export-Karte setzen. „Der beste Weg, um die koreanische Wirtschaft zu beleben“, sagt Hyundai-Boß Chung Mong Koo, „führt über eine dra- matische Erhöhung der Exporte.“ Auf die- se Weise will der koreanische Autokonzern seine Dollar-Einnahmen 1998 um 40 Pro- zent steigern. Die Schwäche der Währungen werde ei- nen asiatischen Exportboom entfachen, prognostiziert auch Florian Schuffner von der Koreanisch-Deutschen Handelskam-

AFP / DPA mer in Seoul. Auf den Märkten in Japan, Börsianer in Hongkong: „Dann macht es peng“ Europa und den USA kommt es zu massi- ven Preisstürzen für koreanische Autos, 1200 Kuala Lumpur Unterhaltungselektronik, Computerteile 1100 KLSE Comp. und Textilien. Entsprechend erhöht sich der Rationalisierungsdruck der heimischen 1000 Produzenten. Die Tigerstaaten haben in den Boom- 900 jahren gewaltige Produktionskapazitäten 800 aufgebaut. Bei schwacher Inlandsnachfra- ge durch die stark verunsicherten Ver- 700 23. Dezember braucher bleibt ihnen kein anderer Aus- 556,4 weg, als sich aus der Krise zu exportieren 600 – auf Kosten der anderen. Handelskonflik- 500 te mit den USA und Europa sind pro- Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. grammiert. Neue Gefahr droht auch aus China. Ex- Weltfinanzsystem fast automatisch aus den perten wie der Tokioter Deutsche-Bank- Fugen. Die US-Notenbank müßte die Zin- Chefökonom Kenneth Courtis befürchten, sen erhöhen, ein Crash an der Wall Street daß Peking bald die Landeswährung ge- wäre die wahrscheinliche Folge. zielt nach unten schleusen wird: „Drasti- Trotz der wachsenden Gefahr geben sich sche Einbußen beim Wirtschaftswachstum die meisten Experten immer noch zuver- und den Exporten dürften China im Früh- sichtlich, daß die Krise nicht von Südost- jahr 1998 zu einer massiven Abwertung asien auf andere Teile der Weltwirtschaft zwingen.“ überspringt. Auch die Berufsoptimisten in Ein solcher Schritt könnte den Abwer- den Analyse-Abteilungen der deutschen tungswettlauf in der Region abermals ver- Banken spielen die Gefahr herunter. schärfen und auch den Hongkong-Dollar Ihr Hauptargument: Nur rund sechs Pro- erneut in die Schußlinie bringen. zent der deutschen Ausfuhren geht in die Je länger die Turbulenzen in Asien an- asiatischen Schwellenländer, kaum ein halten, desto größer wird die Nervosität deutsches Unternehmen mache dort mehr an den internationalen Finanzmärkten. Die als ein Zehntel seines Gewinns. Angst wächst und damit auch die Gefahr Die asiatische Krise habe sogar ihr Gu- irrationaler Kettenreaktionen. tes, meinen die Experten, denn sie dämp- „Wir gehen durch ein Minenfeld“, be- fe das Wachstum der Weltwirtschaft und schreibt Ex-McKinsey-Chef Ohmae die den Preisauftrieb. Damit könnten die Zin- Lage, „und es wird nicht mehr lange dau- sen weiterhin niedrig bleiben und die Ak- ern, dann macht es peng.“ ™

der spiegel 1/1998 69 Wirtschaft

FILMINDUSTRIE Kopf auf dem Block Starproduzent Dieter Geissler („Die unendliche Geschichte“) steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Zwei Geschäftsbanken fordern ihr Geld zurück.

sofortiger Wirkung“, die Geschäftsbezie- hung zu Geissler. Den Schuldbetrag von 8913046,80 Mark solle Geissler „innerhalb der nächsten zehn Tage ausgleichen“. Doch der Produzent kann offenbar nicht. Geissler sei „aus eigenen Mitteln nicht in der Lage, die gewaltigen finanziel- len Verbindlichkeiten zurückzuführen“, schrieb sein Anwalt schon Anfang August der Hypo-Bank. Eine Firma aus Geisslers Verbund, die Cine Vox Worldsales KG, ist seit Wochen mehr oder minder hand- lungsunfähig. Der Gerichtsvollzieher stell- te am 24. November ein „vorläufiges Zah- lungsverbot“ zu – vom Konto der World- sales KG können keine Zahlungen mehr vorgenommen werden. Überall wird Geissler von Gläubigern bedrängt. So streitet er sich mit der Nord-

BLACK STAR BLACK stern-Versicherung über eine Million Mark, Filmunternehmer Geissler: „Fristen für Zahlungen lassen sich verlängern“ für die er laut Aussagen der Assekuranz- Manager gebürgt habe. m Filmgeschäft hat sich Dieter Geissler, zurückgezahlt werden müssen. Seine Cine Die Hamburger Firma Videal, die sich 58, viel Ruhm erworben. Der ehemali- Magic Animation Studio GmbH & Co Di- mit zwei Millionen Mark an „Die unendli- Ige Schauspieler produzierte Kinoerfol- gital Effects KG in Babelsberg hat er als Si- che Geschichte III“ beteiligt hat, will eben- ge wie „Ludwig II.“, „Die flambierte Frau“ cherheit bereits der Commerzbank über- falls Geld. Sie fordert Zinsen von der Cine und „Die unendliche Geschichte“. lassen. Vox Filmproduktion GmbH & Co TV KG. In Hollywood wollte der Träger des Ausgerechnet sein Hauptfinanzier, die Ein Hamburger Anwaltsbüro schrieb Ende Bayerischen Filmpreises vor vier Jahren Hypo-Bank in München, hat Geissler am November an Geisslers Rechtsbeistand, sogar ein „Mini Major Studio“ entwickeln 11. Dezember alle 14 Konten gekündigt. Videal könne „einen Konkursantrag nur – eine kleine unter den großen Traumfa- Die dort ausgewiesenen Schulden von über zurückstellen, wenn tätsächlich kurzfristig briken, mit jährlich drei Spielfilmen und 19 Millionen Mark stellte das Institut „zur Zahlungen geleistet werden und so der Ein- einem Dutzend weiterer Produktionen. sofortigen Rückzahlung fällig“. druck der Zahlungsunfähigkeit Ihrer Man- Begeistert schrieb das Fachblatt „Film- Fünf Tage später forderte die Hypo- dantin widerlegt wird“. dienst“ von seinen „europäischen Erfolgs- Bank noch einmal 1062500 Mark aus zwei Schriftlich hatte Geissler bereits vorher filmen“. Und die „Berliner Zeitung“ ur- Bürgschaften. Die Münchner Kreditgeber gegenüber Videal ein „Liquiditätsproblem“ teilte, Geissler sei „einer der wenigen deut- sind verärgert, da Geissler auch nach einem eingeräumt und gebeten, vom geplanten schen Produzenten, die Filme für den Vergleich Ratenzahlungen schuldig blieb. Konkursantrag abzusehen. Denn in diesem internationalen Markt und in Hollywood- Die Berliner Bank machte ebenfalls Falle könnten Gelder der staatlichen För- Dimensionen herstellen“. Ernst.Am 25. November kündigte sie, „mit deranstalt Medienboard Berlin-Branden- Von dem Glamour ist wenig ge- blieben. Die Geschäfte der frühe- ren Vorzeigefigur des deutschen Films laufen offenbar schlecht. Geisslers Entertainment-Konglo- merat Cine Vox, zu dem 15 Firmen gehören, ist in eine Schieflage ge- raten, die Gläubiger sitzen ihm im Nacken. Die Saga von der unend- lichen Geschichte des erfolgreichen Aufsteigers muß womöglich umge- schrieben werden. Interne Unterlagen, die dem SPIEGEL vorliegen, belegen, daß der kreative Filmmann in seinen WARNER BROS. WARNER Firmen über 30 Millionen Mark CINEVOX Schulden angehäuft hat, die nun Geissler-Filme „Die flambierte Frau“, „Die Legende von Pinocchio“: Künftig weniger Firmen

70 der spiegel 1/1998 burg in Höhe von 350000 Mark ausbleiben, „was dann tatsächlich zu einem Konkurs der Gesellschaft führen würde“. Als Si- cherheit offerierte Geissler 125000 Mark aus einer Förderrate des Medienboards für eine andere Produktion, eine Zeichen- trickserie im Auftrag von Pro Sieben. So geht das laufend in seinem Unter- nehmen. Seit Monaten ist der Mann vom Film damit beschäftigt, immer neue Fi- nanzlöcher zu stopfen, Krisenmanagement zu betreiben und Gläubiger zu vertrösten. Er habe „stark investiert“, beschreibt Geiss- ler die Misere, natürlich seien dabei auch „Bankverbindlichkeiten aufgelaufen“. Augenscheinlich hat sich der Unterneh- mer, der schon immer als rühriger Kreati- ver, weniger als penibler Kaufmann galt, gründlich verzettelt. Auf seinen Reisen zwischen dem Stammsitz auf dem Bavaria- Gelände in Grünwald und Dependancen in London, Paris und Los Angeles verlor er of- fenbar den Überblick. Vielversprechende Projekte scheiterten, weil es mal an einem zugkräftigen Schauspieler, mal am schlüs- sigen Konzept fehlte – und zuweilen hatte Geissler einfach Pech. Nicht immer trafen seine Filmprojekte den Publikumsgeschmack. So enttäuschte sein Werk „Die Legende von Pinocchio“ in den USA. Auch sein Fantasy-Hit „Die un- endliche Geschichte“ hat Geissler am Ende viele Probleme gebracht. Die dritte Folge spielte an der Kinokasse und auf interna- tionalen Filmmärkten weniger ein als ge- dacht. Das Thema war „ausgelaugt“, er- kennt Geissler heute. Ans Aufgeben mag der Produzent je- doch nicht denken. Für die Zukunft hat er sich „weniger Firmen“ und „neue Part- nerschaften“ mit Amerikanern, Franzosen und Briten vorgenommen. Die Gruppe sol- le „schlank gefahren werden“, Mitarbei- tern wurde gekündigt. Nun wird der eigene Verleih und Ver- trieb aufgelöst sowie das Management von München nach Luxemburg verlagert. Dort fand Geissler im Produzenten Nicolas Steil, 36, einen neuen Freund. Für ihn sei es jetzt eine „große Entlastung“, daß er sich nicht mehr um die Organisation und die Finan- zierung kümmern müsse. In der Produktion will sich Geissler auf Zeichentrick und Filme mit Spezialeffekten konzentrieren, so wie bei seinem neuesten Werk „Tarzan & Jane“, das in den USA jetzt in die Kinos kommt. Auch das Schuldenproblem hofft Geiss- ler in den Griff zu bekommen. Seine An- wälte verhandelten mit den Banken über Lösungen. „Fristen für Zahlungen lassen sich verlängern“, sagt der Produzent. Und: Es gehe bei allen Gesprächen nur um ein- zelne Firmen, nie um die gesamte Gruppe. Dank seines neuen Partners in Luxem- burg sieht Geissler auch wieder die Chance, neue große Projekte anzuschie- ben – „ohne daß ich immer selber den Kopf auf den Block legen muß“. ™

der spiegel 1/1998 Wirtschaft

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH „Nicht alles, was Sie sagen, ist falsch“ Der mögliche SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder und Industriepräsident Hans-Olaf Henkel diskutieren über die Wirtschaftspolitik der Sozialdemokraten, die Schwäche der Gewerkschaften und das Vorbild USA.

SPIEGEL: Herr Schröder, für Sie gibt es kei- ne linke oder rechte, sondern nur moder- ne oder unmoderne Wirtschaftspolitik.Wie modern sind die Ansichten von Industrie- präsident Hans-Olaf Henkel? Schröder: Manchmal sagt Herr Henkel ja ganz vernünftige Dinge. Sein Hinweis, daß man Arbeitszeit flexibler organisieren muß, ist zum Beispiel erstens richtig, zwei- tens verstanden und drittens umgesetzt worden. Falsch finde ich das ewige Ge- jammer über den angeblich schlechten Standort Deutschland. Das stimmt so ein- fach nicht. SPIEGEL: Herr Henkel, wie modern sind die Ansichten Schröders? Henkel: Auf einer Skala von eins bis zehn für moderne Wirtschaftspolitik würde ich das Programm von Herrn Schröder bei sechs einsortieren. Zehn Punkte ist das Konzept des BDI wert und neun das der FDP. Was die Bundesregierung versprochen hat, liegt bei acht, was die Bundesregierung getan hat, bei sechs Punkten. Die Beschlüsse des SPD-Parteitages kämen nur noch auf vier

Punkte, die Grünen auf null und Rot-Grün M. DARCHINGER FOTOS: irgendwo zwischen null und vier. Ministerpräsident Schröder Schröder: Immerhin taxieren Sie mich auf der positiven Seite der Skala. Das hätte „Das Elend der deutschen Standortdiskussion ist ich nicht erwartet. Henkel: Diese Skala endet bei Null. doch, daß alle immer nur über Kosten reden wollen“ SPIEGEL: Bundesarbeitsminister Norbert Blüm wirft Ihnen, Herr Henkel, vor, Sie würden den Standort in Grund und Bo- Henkel: Klar, wenn Sie in China etwas ver- feststellen, daß im letzten Jahr 1,8 Prozent den reden. kaufen wollen, müssen Sie es auch dort nach Steuern verdient wurden. Das ist ein Henkel: Dieser Vorwurf ist absurd.Wir zah- bauen. Aber das Gros der deutschen Inve- Drittel von dem, was in Holland verdient len Abgaben in Rekordhöhe, haben zu stitionen geht in Industrieländer, die man wird. Das zeigt doch ganz klar: Zuerst müs- hohe Lohnkosten, eine hohe Arbeitslosig- auch von Deutschland aus beliefern könn- sen die Unternehmen entlastet werden. keit, einen neuen Pleiterekord. Ausländi- te. Allein in Großbritannien haben Aus- Schröder: Das ist doch Allgemeingut. Ich sche Investoren wissen genau, was hier los länder in den letzten zehn Jahren sieben- bin wie Sie dafür, vor allem den Mittel- ist, sie kommen immer seltener, und gleich- mal soviel investiert wie in Deutschland, stand zu entlasten.Aber neue Forderungen zeitig gehen immer mehr deutsche Unter- obwohl der Markt viel kleiner ist. bringen uns nicht weiter. Ich plädiere dafür, nehmen ins Ausland. Schröder: Das Elend der deutschen Stand- daß sich zunächst die beiden großen poli- Schröder: Sie wissen doch genau, wor- ortdiskussion ist doch, daß alle immer nur tischen Kräfte darüber verständigen, an das liegt; ich kenne das aus der Au- über Kosten reden wollen. Dabei haben welche Steuersubventionen mit welchen toindustrie. Sie können in China oder wir zum Beispiel bei den Lohnstückkosten finanziellen Folgen abgeschafft werden. Brasilien heute kein Auto mehr verkaufen, keine Probleme. Die sind nach dem jüng- SPIEGEL: Wäre dann auch eine Nettoentla- bei dem nicht zwei Drittel des Wagens sten Bundesbankbericht in den letzten Jah- stung der Steuerzahler akzeptabel? dort produziert werden. Außerdem ist es ren deutlich zurückgegangen ... Schröder: Ja, natürlich. Aber erst müssen für Investoren schwieriger, in einem gut Henkel: ... aber immer noch viel höher als wir doch wissen, wieviel wir zurückgeben entwickelten Markt wie bei uns Fuß zu bei der Konkurrenz. Bei aller Notwendig- können, ohne den Staat zu ruinieren. fassen als in Ländern mit weniger Kon- keit, über Innovationen und mehr Flexibi- Henkel: Das zeigt wieder, daß die Proble- kurrenz. lität zu reden, kommen wir um das Ko- me von Ihnen nicht erkannt werden. stenproblem nicht herum. Wenn Sie die Schröder: Also bitte, wir sind hier doch Das Streitgespräch moderierten die Redakteure Durchschnittsrendite des deutschen indu- nicht in der Schulklasse! Wenn Sie ober- Elisabeth Niejahr und Ulrich Schäfer. striellen Mittelstandes nehmen, werden Sie lehrerhaft sein wollen, hören wir besser

72 der spiegel 1/1998 gleich auf. Ich werfe Ihnen ja auch nicht Einkünfte dürfen mit 35 Prozent belastet Schröder: Da müssen Sie schon ein bißchen Ignoranz vor. werden, wie es die Koalition in ihren Pe- genauer werden. In Niedersachsen haben Henkel: Moment mal. Es ist ignorant, wenn tersberger Beschlüssen vorgeschlagen hat. wir seit Übernahme der Regierung absolut Sie verkennen, daß Unternehmen in Investoren beurteilen den Standort wie ein Personal verloren, aber 8000 Leute zu- Deutschland stärker belastet werden als Aktionär die VW-Aktie. Es geht um die sätzlich eingestellt, alles in den Bereichen sonst irgendwo. Ihr Vorbild, der britische Bedingungen von morgen, nicht von heu- Schule, Polizei, Hochschule. Das sind in Premier Tony Blair, hat das übrigens be- te. Auch wenn die Steuersätze erst 2001 fast allen Ländern die größten Ausgaben- griffen. Eine seiner ersten Amtshandlun- sinken, tut sich schon heute was, wenn wir blöcke. Sie reden doch auch ständig da- gen war, die Unternehmensteuersätze von dran glauben können. von, daß wir unsere Position im Bereich 33 auf 31 Prozent zu senken. Schröder: Gegen ein schrittweises Vorge- von Bildung, von Forschung und Entwick- Schröder: Vergessen Sie nicht die letzten hen habe ich nichts.Wichtig für Investoren lung im internationalen Vergleich eher ver- Steuerschätzungen bei uns in Deutschland. ist eine gewisse Stetigkeit im Steuerrecht. lieren. Wie sollen wir denn da sparen? Henkel: Es gibt hunderttausend Unterneh- men im Besitz der Kommunen, davon kann bestimmt die Hälfte privatisiert werden. Schröder: Da erzählen Sie mir aber nichts Neues. Bei uns in Niedersachsen stehen fast alle öffentlichen Beteiligungen auf dem Prüfstand. Wir haben schon etliche ver- kauft, als nächstes werden wir Anteile am Flughafen Hannover abgeben. Ich räume ein: Das machen wir alles auch unter dem Druck der Haushaltsmisere. Die Staats- quote ist sicher zu hoch – aber das hat auch mit der deutschen Einheit zu tun. Dagegen wären fast alle Politiker machtlos. Sie kön- nen einfach nur fordern, wir müssen es ma- chen. Das ist schon ein Unterschied. SPIEGEL: Herr Schröder, was fordern Sie denn Ihrerseits von der Wirtschaft? Schröder: Mehr Innovationsfreude. Die Un- ternehmen müssen einfach noch schneller aus Erfindungen neue Produkte machen, da sind wir langsamer als die USA, langsa- mer als Japan. Auch bei den Dienstlei- stungen gibt es Nachholbedarf. Henkel: Die Unternehmerschaft hört im- mer wieder, daß sie nicht innovativ sei. Das stimmt aber nicht. Industriepräsident Henkel Schröder: Es gibt gewiß Unterschiede zwi- schen den Unternehmern. „Wir haben in Deutschland zu viele Runde Tische und Henkel: Wie in der Politik, bloß auf anderem Niveau. Wir sind innovativ, wir sind gut – zu wenig eckige und kantige Entscheidungen“ ganz besonders, wenn Steuern und Kosten niedrig sind, sprich: im Ausland. Das heißt doch, daß wir in Deutschland ein Stan- Solche Einnahmeausfälle begrenzen die Durch ständige Änderungen ist die steuer- dortproblem haben, kein Unternehmer- Möglichkeiten, die Politik hat. Und trotz- liche Belastung in Deutschland kaum noch problem. Der Chef von Volkswagen weiß, dem haben wir die Unternehmensteuern kalkulierbar. Ich bin allerdings nicht sehr wo die besten Autos gebaut werden ... mehrfach gesenkt. optimistisch, daß uns ein gemeinsames Schröder: ... in Wolfsburg natürlich ... Henkel: Stimmt nicht. Sie sind immer wie- Konzept mit der Koalition für ein Stufen- Henkel: ... und wenn er das nicht wüßte, der von der Wirtschaft selbst gegenfinan- modell noch vor der Wahl gelingt. würde er nicht so gute Autos bauen. Die- ziert worden. Das Wort „Gegenfinanzie- Henkel: Auf jeden Fall können wir keinen ses Verständnis, daß man sich ununterbro- rung“ ist sowieso das Unwort des Jahres. faulen Kompromiß gebrauchen. Wenn wir chen am Besten in der Branche messen Wenn eine Steuerreform von Anfang an irgendwo zwischen Petersberg und Lafon- muß, ist in der deutschen Industrie voll da. voll gegenfinanziert wird, hat sie ihr Ziel taine landen, wäre das ein verheerendes SPIEGEL: Sollten die Deutschen auch, wie verfehlt. Sie soll die Wirtschaft entlasten Signal für Investoren. Aber die Politiker bei VW, ihre Wertarbeit generell mit einer und so in Schwung bringen, dadurch wer- würden sich wieder auf die Schulter klop- kürzeren Wochenarbeitszeit herstellen? den am Ende mehr Steuern in die Kassen fen und sagen: Wir haben großartige Re- Schröder: Das kommt auf den Einzelfall gespült und nicht etwa weniger. formen gemacht. Dabei müßten eigentlich an. Der Reifenhersteller Continental zum SPIEGEL: Ist denn so eine Reform vor der die Ausgaben des Staates auf den Prüf- Beispiel läßt, anders als VW, sehr viel län- Wahl noch möglich? stand. Aber da traut sich keiner heran. ger arbeiten, wenn Aufträge da sind, und Henkel: Die Steuerentlastung muß ja nicht Schröder: Dann sagen Sie mir doch mal gleicht das über Jahresarbeitszeitkonten heute oder morgen in Gänze kommen. Das konkret, worauf der Staat verzichten soll. aus. Was für diese Großen gilt, gilt für den geht auch stufenweise. Von vornherein Henkel: 1960 waren erst 10 Prozent der Be- Schlosser noch lange nicht. muß klar sein: Am Schluß steht ein Kör- schäftigten beim Öffentlichen Dienst. Heu- Henkel: Stimmt.Arbeitszeit und Lohnhöhe perschaftsteuersatz von maximal 35 Pro- te sind es über 17 Prozent. Da hat sich doch sollten sowieso viel stärker auf der Ebene zent auf einbehaltene und von 25 Prozent etwas aufgebaut, das wir uns heute nicht der Betriebe vereinbart werden. Hier auf ausgeschüttete Gewinne. Gewerbliche mehr leisten können. könnte die SPD mal segensreich ihren Ein-

der spiegel 1/1998 73 Wirtschaft fluß bei der IG Metall nutzen – denn die Henkel: Das ist ja schon mal ein Fortschritt. gramm. Ihre eigenen wirtschaftspolitischen haben das noch nicht begriffen. Schröder: Ja eben. Thesen kann man noch mit einem schicken Schröder: Sie sollten fairer mit den Ge- Henkel: (zum SPIEGEL) Das müssen Sie Golf vergleichen. Ihre Partei hat aber klar- werkschaften umgehen. Wenn der Holz- unbedingt drucken. gemacht, was davon unter einem SPD-Kanz- hammer regiert, werden sich diejenigen in Schröder: Das können Sie zweimal drucken! ler übrigbleibt. Das Steuer befände sich vor den Verbänden durchsetzen, die lieber in Aber Herr Henkel, in den meisten ande- dem Rücksitz, die Bremse vor dem Beifah- den Schützengräben liegen als aufeinander ren Punkten sind Sie auf dem falschen rersitz, und die Vorderräder wären abgebaut. zuzugehen. Dampfer. Schröder: Da sieht man, daß der Mann vom SPIEGEL: Herr Henkel, Sie haben bei einer Henkel: Herr Schröder, dann ist die gesam- Automobilbau keine Ahnung hat – und von Tagung mit amerikanischen Investoren in te Welt auf dem falschen Dampfer. der Politik auch nur begrenzt. Dessau die Schwäche der Gewerk- Henkel: Aber von Wirtschaft um so schaften im Osten sogar als Standort- mehr. Und zur Politik: Wenn man da vorteil begrüßt. Deutsches Dilemma liest, was von der SPD offiziell verab- 105 Henkel: Nehmen Sie bitte zur Kennt- 1955 = 100 schiedet wird, wenn man sieht, wie nis: Der Gouverneur des US-Bundes- 100 Sie sich im Bundesrat bei Abstim- staats South Carolina umwarb deut- ERWERBS- mungen verhalten, entsteht der Ein- PERSONEN 95 sche Investoren jüngst mit der Aussa- druck: Der Schröder sagt oft richtige ge, daß nirgendwo in den USA der 90 Dinge, aber er tut etwas ganz anderes. Einfluß der Gewerkschaften geringer Erwerbspersonen und 85 Schröder: In einer großen Organisa- ist als in seinem Staat. Arbeitsvolumen pro tion wie der SPD können Sie Verän- 80 Schröder: So eine Haltung geht völlig Kopf der Bevölkerung derungen nicht über Nacht her- an der Kultur in Deutschland vorbei. ARBEITS- in Westdeutschland 75 beiführen. Wenn ich das Programm VOLUMEN Wir brauchen starke Sozialpartner, 70 hätte allein schreiben können, hätte und zwar auf beiden Seiten.Wer bloß ich es in manchen Punkten anders ge- Amerika kopieren will, ruiniert damit 65 schrieben. Dennoch stehen dort wich- die Kraft, die in der deutschen Volks- 60 tige Veränderungen, was die SPD-Po- wirtschaft steckt und die immer von 55 sition zum Wachstum angeht, zu In- der Fähigkeit zum Konsens gelebt hat. novationen oder zur Biotechnologie. 1955 60 65 70 75 80 85 90 95 97* Diesen Konsens werden wir nach der Das ist eine ganze Menge für eine Par- nächsten Wahl wiederherstellen. 5,5 tei, die zu Recht stolz darauf ist, Henkel: Das ist doch ein Modell von grundsätzlich zu diskutieren. Mit die- Monatseinkommen gestern. Überall in der Welt erkennt Arbeigeber- 5,0 sem Programm kann ich gut leben. in Tausend Mark man, daß das Prinzip der Subsidiarität beiträge zur Henkel: Dann muß ich aber feststel- Einkommensdurchschnitt Sozialversicherung 4,5 auch innerhalb der Wirtschaft gelten in Westdeutschland len, daß Herr Schröder letzten Endes soll. In Ostdeutschland wird flächen- zu Preisen von 1996 Arbeit- 4,0 hinter dem offiziellen Parteipro- deckend gegen die Flächentarife ver- nehmerbeiträge gramm steht ... stoßen. Ohne diesen Verstoß wäre die zur Sozialversicherung Schröder: ... auf ihm! BRUTTO- 3,5 Situation im Osten noch viel schlim- Henkel: ... und daß das die Grundlage ARBEITS- Lohnsteuer mer. Ich halte das nicht für verhee- EINKOMMEN 3,0 seines Handelns sein wird. Das kann rend, sondern für vorbildlich. man mit vielen Dingen, die wir hier Schröder: Das hat nichts mit Subsi- BRUTTO- 2,5 diskutiert haben, nicht in Einklang diarität zu tun. Wir brauchen auch LOHN bringen. Verläßlichkeit. Deswegen sage ich Ih- 2,0 SPIEGEL: Würden Sie sich trotz Ihrer nen: Korrigieren Sie Ihre Dessauer Differenzen nach der Wahl für ein 1,5 Rede hier im SPIEGEL. NETTO- neues Bündnis für Arbeit im Kanzler- Henkel: Im Gegenteil. Ich hoffe, daß amt treffen? LOHN 1,0 der Westen von der ostdeutschen Be- Henkel: Wir haben in Deutschland zu weglichkeit lernt. 0,5 viele Runde Tische und zu wenig ecki- Schröder: Was wir brauchen, ist nicht *geschätzt ge und kantige Entscheidungen. Aber Quelle: Institut für Wirtschaft und Gesellschaft, Bonn die Zerschlagung dieser Systeme, son- 0 wir wollen nicht den Teufel an die dern ihre Anpassung an radikal ver- Wand malen und hoffen, daß es zu die- änderte Gegebenheiten. ser Situation überhaupt nicht kommt. Henkel: Jetzt können wir uns vielleicht ei- SPIEGEL: Herr Schröder, wie weit werden Schröder: Teuflisch wird es weder mit dem nigen. Ich habe mich jedenfalls nie für die Sie denn der Wirtschaft beim Umbau des einen Kandidaten noch mit dem anderen. komplette Abschaffung der Flächentarif- Sozialstaats entgegenkommen? Im Gegenteil, Henkel wird nach drei Mo- verträge ausgesprochen. Schröder: Mittel- und langfristig müssen naten sagen: Das hätten wir nicht gedacht. Schröder: Das klingt aber so. wir da echte Reformen realisieren; aber Henkel: Nach drei Monaten wird es Ihnen Henkel: Nein, die Flächentarife brauchen wir wollen den Umbau, nicht den Abbau. so gehen wie am Ende den Wettbewerb betrieblicher Abschlüsse. Bei den Leuten um die 30 glaubt doch kei- seiner Kanzlerschaft. Sie werden feststel- Es muß einem Unternehmen und seinem ner mehr, daß mit der beitragsfinanzier- len, daß Ihre Positionen in der SPD nicht Betriebsrat gestattet sein, einem Kartell ten Rente allein vernünftige Alterssiche- mehrheitsfähig sind. Sie fangen da an, wo nicht beitreten zu müssen. Die Leute wol- rung zu betreiben wäre. Die Zukunft Schmidt aufhören mußte. len ja auch auf dem Bodensee segeln kön- gehört einem Dreisäulenmodell: eine bei- Schröder: Seit Schmidt ist die Zahl der Ar- nen, ohne daß sie in einem Segelclub sind. tragsfinanzierte Grundversorgung; mehr beitslosen allein in Westdeutschland um 50 Ohne die Diskussion, die von uns ange- Eigenvorsorge; und die Beteiligung am Ka- Prozent gestiegen. Wenn wir wieder bei zettelt wurde, wäre das Thema Flexibilität pitalstock der Volkswirtschaft. den alten Zahlen wären, hätten wir ver- noch nicht soweit. Henkel: Ich stimme Ihnen zu, was den Um- gleichsweise paradiesische Zustände. Schröder: Ich habe ja schon gesagt, daß bau der sozialen Sicherungssysteme angeht; SPIEGEL: Herr Henkel, Herr Schröder, wir nicht alles, was Sie sagen, falsch ist. nur finde ich das in keinem SPD-Parteipro- danken Ihnen für dieses Gespräch.

74 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

BÖRSE Die Weltmeister des schnellen Profits Der russische Aktienmarkt hat sich zum Paradies für Zocker entwickelt. An kaum einer Börse sind die Kurse in diesem Jahr stärker gestiegen. Doch die Rechtsunsicherheit hält viele seriöse Investoren auf Distanz. Von Erich Wiedemann

champanskoje?“ Jelena Alexejewa, Séparée, zu dem die Steuer und die Mafia die Kantinenwirtin, greift ins Regal keinen Zutritt haben. Sund schaut fragend den Mann mit Die Zentrale Wertpapierbörse RTSB Glatze am Tresen über die Schulter an. (Rossiiskaja towarno-syrjewaja birscha) in „Coca-Cola“, antwortet der Mann, „und der alten Post der Kitai-Stadt hat nichts von eine Wurst mit Kraut.“ „Die Aktien stehen dem brüllenden Ambiente der westlichen wohl schlecht“, sagt Jelena Alexejewa. Der Aktienmarktplätze. Der Kapitalismus hat – Zentrale Moskauer Wertpapierbörse: Fabrik mit Glatzenmann gibt keine Antwort. Man soweit das mit der neuen Funktion der al- kann ihm ansehen, daß er den Scherz miß- ten Post zu vereinbaren war – die Zeichen Die Trader und Broker machen zwischen lungen findet. Jelena faßt ihn sanft bei der der alten Zeiten nicht verwischt. Über dem 2000 und 3000 Dollar im Monat. Das ist un- Schulter und lächelt ihn mütterlich an. Das Hauptportal steht noch immer in kyrilli- anständig viel Geld für russische Verhält- heißt: Iswinitje – Entschuldigung, es war schen Buchstaben „Potschtamt“. Den Gips- nisse. Dazu kommt noch die Provision. Hat doch bloß ein Scherz. Lenin von damals haben sie in einer Nische denn keiner ein schlechtes Gewissen da- Auch wenn die Aktien gut stehen, knal- zwischen den Leuchtbändern stehenlassen, bei? Es gibt soviel Elend in Rußland. len hier keine Champagnerkorken.An der auf denen die Kurse angezeigt werden. Nein, sagten die Optionshändler Jelena Moskauer Börse gilt noch die alte stalini- Der schöne alte Jugendstilsaal mit den Siniza und Jurij Lebedjenko. Jelena sei vor stische Überlebensweisheit: Den Grashalm, hundert Ploschtschatki, den Händlerkojen, fünf Jahren als erste Frau in die Moskauer der die anderen überragt, erwischt als er- die man für 500 Dollar mieten kann, hat Börse eingestiegen, das sei ein verdammt sten die Sense. Die Mafia kassiert überall die unaufgeregte Atmosphäre eines Kata- harter Job gewesen. Jetzt will sie die Früch- mit. Um keine Begehrlichkeiten zu steramts. Keine Hektik, kein lautes Wort, es te ernten. wecken, üben sie hier instrumentelle Be- riecht nach Kaffee, Bohnerwachs und Her- Jelena Siniza war früher Ärztin und scheidenheit. renparfum. An der Decke pendelt schlapp selbstverständlich auch Sozialistin. Sie fin- Gewiß, an guten Tagen werden nach- ein hellblauer Luftballon, der von der Fei- det trotzdem nichts Unreelles an der „Spe- börslich auch mal ein paar gute Flaschen er zum siebten Jubiläum übriggeblieben kulazija“. Karl Marx war ja zeitweilig aufgemacht. Aber nur hinten in Jelena ist. Auf der Galerie stakst eine graue Kat- selbst ein Börsenzocker. Und vielleicht Alexejewas fensterlosem, schalldichtem ze über das Geländer. wäre es mit dem Marxismus nicht zum äußersten gekommen, wenn er sich an der Lon- don Stock Exchange nicht ständig verspeku- liert hätte. An der RTSB werden hauptsächlich Standard- werte gehandelt: Öl, Gas, Strom, Telekom. Börsia- ner nennen sie auch „ak- zija kapusti i kartoschki“, die Kohl- und Kartof- felwerte. Die anderen Papiere kann man fast nur da kaufen, wo sie herausgegeben werden. Wer etwa Anteile der Nachodkischen Hafen- gesellschaft zeichnen will, der muß sich mit einem Koffer voll Bar- geld nach Nachodka

FOTOS: E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL FOTOS: begeben, sechs Zeit- Moskauer Aktienhändler Siniza, Lebedjenko: Auch Karl Marx war mal Börsenzocker zonen nach Osten. Und

76 der spiegel 1/1998 meter von Moskau vor einem sibirischen Amtsrichter erst das Stimmrecht einkla- gen muß? Die Gesetze zum Schutze der Investoren sind soweit schon in Ordnung. Aber dem System fehlen die Richter, die mit den Ge- setzen auch umgehen können. Das Börsenzeitalter begann 1992 in Moskau mit der Ausgabe der „Wautsche- ri“ (von englisch „voucher“). Sie wurden vorwiegend an den Würstchenbuden und Zeitungskiosken im Umfeld der Wertpa- pierbörse vertrieben oder gegen Fressalien und Elektroniktinnef eingetauscht. Das war die Zeit, in der man eine Fabrik mit tau- send Mann Belegschaft für den Gegenwert von tausend Kisten Westbier kaufen konn- te. Die Kautschukfabrik in Jaroslawl nord- östlich von Moskau mit ihren 4000 Mitar- beitern ging für den Preis eines Einfamili- enhauses weg. In den 5 Jahren danach stieg ihr Wert auf das Hundertfache. Seitdem hat sich der Aktienhandel ver- feinert. An der Moskauer Börse wird heu- te nur noch per Mausklick gedealt. Sein tausend Mann Belegschaft für den Gegenwert von tausend Kisten Westbier Computer-Network, sagt Vizedirektor Ma- xim Beloussow, sei eines der modernsten die Leibwächter darf er auch nicht ver- der Welt. Das mag wohl sein, doch die gessen. Das neue Broker-Paradies schöne Technik hat den Nachteil, daß sie Börsen im westlichen Sinne sind in Ruß- nicht viel bewegt. Erst 5 Prozent der russi- 600 land die Ausnahmen: Moskau, St. Peters- Aktienkurse in Rußland schen Wertpapierverkäufe werden an der burg, Jekaterinburg,Wladiwostok – Schluß. Wert Mai 1996 = 100 Börse abgewickelt. Die anderen 95 Pro- Die Barackenbörsen hinter dem Ural wer- zent gehen über private Schreibtische. 500 den nicht dazugerechnet, weil es da zu- Viele tausend privatisierte Mittel- und geht wie im Basar von Taschkent. Die Moskau Times-Index Großbetriebe, die überwiegend im Besitz fernöstlichen Exoten geben oft wesentlich 400 ihrer Mitarbeiter sind, warten noch auf den mehr neue Anteile aus, als dem Wert der Einstieg in die Börse. Aber sie müssen erst alten guttut. mal ihre betriebswirtschaftliche Unwucht Wohin der Wildwuchs führen kann, das 300 überwinden, um börsenfähig zu werden. hat im Sommer 1994 der Zusammenbruch Die wenigsten Finanzbuchhalter wissen, des Investmentfonds MMM gezeigt. Das wie man einen ordentlichen Jahresab- MMM-Management hatte den Wertpapier- 200 zum Vergleich schluß für die Hauptversammlung macht. markt mit zehn Millionen fauler Aktien Dow-Jones-Index Die meisten wissen aber aus der Zeit der überschwemmt. Die Ausschüttungen wur- sozialistischen Kommandowirtschaft noch den jeweils mit den Einlagen der Neuanle- 100 ganz gut, wie man Verluste in Gewinne ger finanziert – so wie beim Pyramiden- 1996 1997 umfälscht, wie man Bilanzen so frisiert, spiel in Albanien. Der Bankrott riß zahllo- daß unabhängig von der Ertragslage ein se Anleger in den Abgrund. Es war die fol- Börsenplätze 1997 Gewinn ausgewiesen wird.Weil es in Ruß- genreichste Pleite seit der Wende. Veränderungen seit Jahresbeginn in Prozent land keine Wirtschaftsprüfer im westlichen Es wird wohl nicht die letzte gewesen Moskau +108,0 Sinne gibt und weil deshalb die Ermittlung sein. Denn die Kontrollmechanismen sind Budapest +81,7 von Gewinn und Verlust für Uneingeweih- leicht zu manipulieren. Im Eisen- und Mailand +54,2 te nicht nachzuvollziehen ist, sind hier die Stahlkombinat Nowolipetzk sperrten die Zürich +53,5 Grenzen zwischen Investieren und Zocken Einheimischen im Aufsichtsrat kritische Mexiko City +47,2 so fließend. Aktionäre, die über 40 Prozent der Antei- Frankfurt +41,9 Der große Umbau der Werte hat der le verfügten, einfach aus – mit der Be- Madrid +41,7 gleichmacherischen Neidkultur eine Men- gründung, die Werktätigen seien „nicht be- Amsterdam +39,5 ge zugemutet. Früher war „Profit“ eine reit, sich dem Diktat des fremden Kapitals São Paulo +31,4 Totschlagsvokabel aus dem Glossar des zu beugen“. Brüssel +31,2 Klassenfeindes, mit der man jede wirt- Noch schlimmer erging es der britischen Paris +27,2 schaftliche Initiative ersticken konnte. Metallhandelsgesellschaft „Transworld“, London +23,7 Nun ist Profit der wichtigste Eckpfeiler die 1994 ein Fünftel der Anteile der Alu- New York +20,5 der neuen Ordnung. Kapital und der Ka- miniumfabrik von Krasnojarsk für 300 Mil- Bombay +9,8 pitalismus sind im Prinzip akzeptiert, nur lionen Dollar erworben hatte. Sie wurde Prag –11,1 die Kapitalisten kämpfen noch um Ak- ohne Angabe von Gründen von der Ak- Hongkong –23,0 zeptanz. tionärsliste gestrichen. Transworld könnte Tokio –23,6 Der Umstieg von der Planwirtschaft auf das ganze Aluminiumpaket natürlich wie- Seoul –39,2 die Marktwirtschaft war grausam. Aber es der verkaufen. Aber wer kauft schon In- Bangkok –53,1 mehren sich die Zeichen, daß das Schlimm- dustrieanteile, für die er über 3000 Kilo- ste überstanden ist. Die großen internatio-

der spiegel 1/1998 77 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft BILDERBERG Erdölförderung in Sibirien: „Viele Milliarden warten nur darauf, hier den Markt zu überschwemmen“ nalen Brokerfirmen – Deutsche Morgan ternationalen Börsen-Profithitliste (nach „Ja sicher, wie sah es denn in Italien Grenfell, Merill Lynch, Salomon Brothers Istanbul) noch immer die Nummer zwei. vor 20 und in Portugal vor 10 Jahren aus?“ – haben sich mit sibirischen Blue Chips Zur Zeit sieht es so aus, als bewegten sich begründet Wermuth seine gewagte Pro- eingedeckt. Und von den 40, 50 Milliarden die Kurse langsam wieder boomwärts. „Aus gnose. „Da ging es auch von Zero steil Dollar Fluchtgeld, die die Verchuschka, die Rußland kommt eine Menge guter Nach- nach oben. Rußland wird es erheblich oberen Zehntausend, in der Schweiz und richten“, sagt Igor Grischkow von der Lon- schneller schaffen.“ auf Zypern geparkt haben, sind riesige doner Filiale der japanischen Broker-Firma Wermuth sagt für nächstes Jahr ein Wirt- Summen zurückgeflutet. Nun muß die Daiwa, „die Reise geht weiter bergauf.“ schaftswachstum von zwei und für das Jahr breite Masse der Sparer noch begreifen, Wenn Aktienkurse weniger mit Psycho- 2000 von sieben Prozent voraus – wenn daß ihr Geld auf Bankkonten und vor al- logie und mehr mit Sachstandsbewertun- die Lage stabil bleibt. Das heißt, wenn Prä- lem an der Börse besser angelegt ist als im gen zu tun hätten, dann wäre das Gros der sident Jelzin der Versuchung des Wodkas Wäscheschrank oder in einem Erdloch hin- russischen Aktien – unabhängig von der und die Russen der Versuchung des politi- ter der Datscha. jeweiligen Ertragslage – maßlos unterbe- schen Extremismus widerstehen. Wenn die Rechtsunsicherheit erst mal wertet. Um auch im Ausland dem Vertrauen in beseitigt sei, würden Dollar und Rubel Die noch unerschlossenen Reserven des die russische Wirtschaft auf die Sprünge noch schneller rollen, meint der Londo- amerikanischen Mineralölkonzerns Exxon zu helfen, will Präsident Boris Jelzin ei- ner Investmentbanker Christopher Wood. werden zum Beispiel sechs- bis achtmal so nen namhaften Betrag zur Tilgung von rus- „Viele Milliarden warten nur darauf, hier sischen Altschulden nach Frankreich über- den Markt zu überschwemmen.“ „Bis zum Jahr 2000 weisen. Es handelt sich dabei um staatli- Der Rückfluß der Dollar-Milliarden in hat Rußland die Maastricht- chen Schuldverschreibungen aus der Za- den russischen Geldkreislauf hat der Wirt- renzeit, mit deren Hilfe seinerzeit die schaft tüchtig Schub gegeben. Die Kon- Kriterien erfüllt“ Bahnlinie Moskau–Kiew gebaut und die junktur nimmt nach langem Siechtum Ölquellen im Kaukasus erschlossen wur- Fahrt auf. Die Jahresinflationsrate ist hoch bewertet wie eine Tonne Öl bei den. Französische Sparer hatten 1917 viele von über 2000 auf 14 Prozent gesunken. Lukoil. Schon daraus ergibt sich ein enor- Milliarden Francs verloren, weil die Bol- Zum erstenmal seit der Wende hat das mer Nachholbedarf. schewiken nach der Oktoberrevolution Bruttoinlandsprodukt 1997 wieder zuge- Die Analysten sagen, es müsse vor allem nicht für die Schulden des Zaren aufkom- nommen. gelingen, die verwahrloste buchhalterische men wollten. Der Aktienindex der „Moscow Times“, Moral wieder ins Lot zu bringen, dann wer- Die Sympathiewerbeaktion der Mos- der 50 Blue Chips bewertet, tobte in 15 de Lukoil an der Börse einen Sprung nach kauer Regierung ist gar nicht mal so Monaten um animalische 500 Prozent- oben tun wie der Spiralenkerl aus der Ki- teuer. Denn von den alten Aktien haben punkte nach oben. Allerdings wurde auch ste, wenn man den Deckel abnimmt. die wenigsten das vergangene Dreiviertel- der sogenannte Daudschonski, wie Börsi- Dieser Aufschwung Ost sei – im Gegen- jahrhundert überlebt. Zu den mutmaß- aner ihn nach dem US-Vorbild Dow Jones satz zu dem deutschen – greifbar nahe, lichen Gewinnern gehört der amerikani- nennen, Mitte Oktober tüchtig durchge- sagt Jochen Wermuth, der Chef der inter- sche Börsenfuchs André Kostolany. Er hat schüttelt. Die Ausschläge nach oben und nationalen Beraterequipe beim Moskauer sich auf Flohmärkten und in Antiquariaten unten waren in Moskau sogar noch hefti- Finanzministerium. „In drei Jahren haben mit über 25 000 alten russischen Eisen- ger als an den Wertpapiermärkten im We- wir sechs Prozent Wachstum, und in den bahnanleihen eingedeckt, für durch- sten. Am 28. Oktober fiel der Index um nächsten fünf Jahren wird sich das Sozial- schnittlich fünf Francs (1,50 Mark) das knapp 21 Prozent zurück, tags drauf schoß produkt verdoppeln.“ Bis zum Jahr 2002 Stück. Wenn Moskau die alten Forde- er dann wieder um gut 22 Prozent nach habe Rußland sogar die Maastricht-Krite- rungen honoriert, macht er 2000 bis 3000 oben. Trotzdem ist Moskau auf der in- rien erfüllt. Prozent Gewinn. ™

80 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

KARRIERE Segensreicher Pop-Irrtum ber eine halbe Million mal verkaufte Üsich die Single, und seit Monaten geht „Rescue Me“, der Platin-Hit der Band Bell, Book & Candle, bei allen Radiosta- tionen auf Sendung. Nun ist die Erfolgs- gruppe auf Deutschlandtour, und die Fans, die einen Import von den Britischen Inseln erwartet hatten, müssen umdenken. Denn Jana, die Sängerin, berlinert zwischen den englischsprachigen Songs munter drauf- los: „Det is wirklich ganz doll, bei euch zu sein.“ Denn hinter der Gruppe stecken die Ost-Berliner Andy Birr, 29, Hendrik

Röder, 31, und Jana Groß, 28. Schon in DPA der DDR hatten Birr und Röder mit einer Jogger mit Walkman Rock-Combo Erfolge gefeiert. In soziali- stischen Bruderländern stießen sie mit FREIZEIT von der US-University of North Carolina in ihren deutschen Songs allerdings auf Un- Chapel Hill haben jetzt untersucht, ob der verständnis. Damals lernten sie: „Die Nur die Ruhe Klangteppich tatsächlich einen leichteren Mucke geht nur ab, wenn auf englisch Fuß macht. Überraschendes Resultat: Die gesungen wird.“ Deswegen haben Bell, ogger, die mehrmals wöchentlich einsam Freizeit-Athleten sollten in aller Ruhe auf Book & Candle für ihr neues Album Jihre Runden drehen, untermalen ihr Er- die Piste gehen. Musikgenuß beim Joggen „Read My Sign“ nun sogar einen engli- tüchtigungsprogramm häufig mit Musik. Mit sei eher schädlich, weil er sowohl den Kor- schen Co-Songwriter engagiert. dem Walkman am Leib rennen die Sportler tisonspiegel als auch die Hauttemperatur beschwingt durchs Großstadtrevier und fin- erhöhe und für psychosomatische Strapazen den das womöglich streßmindernd. Forscher sorge – etwa Magen- und Darmprobleme.

EMANZIPATION male Millionaires“ (FFM) nennt. 17 Speku- lantinnen zwischen 25 und 60 Jahren sind Frauen im Börsenfieber darin aktiv, etwa 30 ähnlicher Anlage-Clubs haben sich in Deutschland etabliert. Ge- oom und Baisse sind eine männliche lernt hat die neue Frauen-Bewegung von ei- BDomäne, die Frauen sind auf dem ner Riege reger amerikanischer Kleinstadt- Gemüse-, nicht auf dem Aktienmarkt zu Rentnerinnen, die nach dem Tod ihrer Haus – ein hartnäckiges Vorurteil, sagt die Ehemänner eine anregende Beschäftigung Hobby-Börsianerin Sara Tsudome: „Män- suchten und ihre Erfahrungen in einem ner protzen oft mit ihrem Börsen-Halb- Sachbuch-Bestseller dokumentierten. Die wissen herum, auch wenn Frauen dabei munteren Witwen gründeten einen Invest- sind, die sich besser auskennen.“ Tsu- ment-Zirkel und spekulierten nach der De- dome, 32, ist Mitinitiatorin eines Frankfur- vise, die auch ihre deutsche Gefolgschaft

H. SHERONAS ter Investmentclubs für Frauen, der sich beherzigt: Vorsicht ist die Mutter der Divi- Groß mit ironischem Optimismus „Future Fe- dende.

INTERNATE Kleine Fluchten ie nennt sich eine Menschenhorde, in der Leitgestalten mit WSchlüsselgewalt ganze „Kohorten“ von Jüngeren umher- scheuchen, wo nachmittags eine „Arbeitsstunde“ unter Aufsicht stattfindet, Strafaktionen „Maßnahme“ heißen und ein Mädchen sich auf dem Jungenflur besser nicht erwischen läßt? Na klar: ein Internat.Abenteuerlustig ist der Soziologe Herbert Kalthoff in die eigentümlich „treibhausförmige“ Welt der Erziehungsheime vor-

gedrungen – und zieht nun in einer Studie („Wohlerzogenheit“, M. WOLF / VISUM Campus Verlag, 68 Mark) Bilanz: Die „massiv zeitstrukturierende Internatsschüler in Großbritannien Lebensweise“ der geschlossenen Lernanstalt zwingt zu „kleinen Fluchten“ – vom Sex im Wald bis zum „Schwarzgeld“ im Porte- nach Klingelzeichen abläuft. Wer die Privatsphäre schützen will, monnaie. Manche Pädagogen erfassen Missetäter mit „luchsarti- simuliert daher „ein temporäres Selbst“. Fazit des Feldforschers: gen Augen in Bruchteilen von Sekunden“ und verdonnern sie Die entscheidenden Dinge passieren hinter der Fassade von Fleiß zum „Strafnachholen“ am Mittagstisch, der wie ein Hochamt und Ordnung – fast wie im richtigen Leben.

der spiegel 1/1998 83 BOCCON-CIBOD / GAMMA STUDIO X Ballon über dem Atlas-Gebirge*: „Abenteuer ist die Essenz des Lebens, und was du träumen kannst, das kannst du auch schaffen“

ABENTEUER „Geiseln des Windes“ Drei Amerikaner, ein Schweizer und ein Brite starten beim Rennen um die letzte große Ehre der Fliegerei: Wer schafft es als erster nonstop im Ballon um die Erde? enn der Abenteurer und Testpilot Derzeit träumt Rutan, 59, wieder be- Dick Rutan über die gewöhnli- sonders heftig. In einem Hangar in der ka- Wchen Erdlinge lästert, dann tanzt lifornischen Mojave-Wüste schrauben der sein ganzes Gesicht – aber in Einzelteilen, Flugnarr und eine Handvoll Helfer eine wie eine Balletttruppe, deren Choreograph zweieinhalb Meter hohe High-Tech-Kapsel hingeschmissen hat. Die beträchtliche Nase zusammen. Anfang Januar soll sie mit ei- dreht Pirouetten, die buschigen Brauen nem Schlitten unter einen Spezialballon versuchen einen Walzer. Er redet schnell, geschoben werden; der sogenannte Jet- wie nervös, dabei hat er es einfach nur ei- stream, der Höhenwind am Rand der Erd- lig. Er muß es doch wieder einmal all den atmosphäre, soll Rutan dann mit rund 400 Bedenkenträgern und Geht-nicht-Men- Stundenkilometern einmal um die Welt schen zeigen. blasen, in bis zu 15000 Meter Höhe. Auch als Rutan das letztemal einen Welt- Doch diesmal ist Rutan nicht wie mit rekord brach, vor elf Jahren, hatten fast der „Voyager“ allein am Start. Die erste alle gesagt, es gehe nicht. „Wir hatten ja Weltumsegelung im Ballon, den letzten keinen Cent, ich konnte mir keine neuen großen Meilenstein der Luftfahrtgeschich- Schuhe mehr kaufen und hatte nur eine te, wollen in den kommenden Wochen ins- alte Levis-Jeans.“ Und doch hat sich Rutan gesamt fünf Teams schaffen. Versucht ha- mit seiner damaligen Geliebten zusammen ben es schon viele Amateure, doch bislang in das Experimental-Flugzeug „Voyager“ sind alle abgeschmiert, was Flieger-Profi gezwängt, das sein Bruder gebaut hatte. Rutan nicht weiter irritiert. Er startet ohne Dann sind sie als erste nonstop um die Welt Fallschirm. Dabei warten Gefahren genug. geflogen, in 216 Stunden, 3 Minuten und 44 Der Ballon kann reißen, ein Blitz kann ein- Sekunden. „Abenteuer ist die Essenz des schlagen. Propangas kann explodieren. Lebens“, sagt Rutan, „und was du träu- Doch immerhin gebe es „diesmal die

men kannst, das kannst du auch schaffen.“ M. B. AZIMI echte Chance, daß es einer packt“, sagt Luftfahrer Rutan der Brite Donald Cameron. Alles andere * Branson-Ballon im Januar 1997. „Wir hatten keinen Cent“ wäre auch schlechte Werbung, Camerons

84 der spiegel 1/1998 Heliumgefüllter Hilfsballon Gesellschaft Sonnenschutzzelt Ventilator Windgetriebene Weltumsegler Aufbau moderner Langstreckenballons Druckventil Die eigens für die Erdumrundung konzipierten Beobachtungs- Ballons von Fossett, Piccard, Branson und kuppeln Rutan sind sogenannte Hybridkonstruktio- nen: Für den Auftrieb sorgt eine Helium- Navigation Gaszelle, für die Höhen-Feinregulierung Hauptgaszelle während des Fluges ein darunter ange- Propan- brachter Heißluftteil, der mit Propangas- gas- brennern beheizt wird. Der Rutan-Ballon Ruhe- tank (links) ist an der Spitze zusätzlich mit ei- raum nem Helium-Hilfsballon ausgestattet, der ein Sonnenschutzzelt spannt; es soll den Ballon vor Überhitzung bewahren. Stauraum In der Gondel (rechts), die einen Durchmesser von etwa drei Metern hat, finden die Naviga- Heißluft- tionsinstrumente Platz. Durch einen Vorhang ab- ballonhülle getrennt ist eine Schlafmöglichkeit. Außenhülle aus Mylar möglicher Flugkorridor von Dick Rutan 50° Überdruck- schlauch Start: Albuquerque, New Mexico 30° Brenner Gondel Äquator

Ballonfirma hat vier der fünf Spezialhüllen te auf die Erde zu. Um zu bremsen, warf des Windes.“ Rutan startet bei Albuquer- im Rennen genäht. Zudem sind die Flug- Branson alles ab, „Essen, Wasser – sogar que in New Mexico, auf rund 107 Grad geräte jetzt nicht nur raffinierter als je zu- Geld“. 2000 Dollar in bar, klagt er, müßten West, irgendwo zwischen Alaska und vor, auch Geld ist reichlich im Spiel. immer noch „irgendwo in der algerischen Mexiko könnte er landen. Die Brauerei Anheuser-Busch („Bud- Wüste“ herumliegen. Jeder darf losfahren, wann er will. Al- weiser“) hat eine Million Dollar als Sieg- Auch Bransons Gegner sind erfahrene lerdings bläst der Jetstream nur rund um prämie ausgesetzt, die Hälfte soll allerdings Bruchpiloten. Psychiater Piccard mußte Neujahr gleichmäßig und kräftig, meistens für wohltätige Zwecke gespendet werden. seinen „Breitling Orbiter“ letztes Mal im zumindest. Im Sommer könnten unbere- Abenteurer Rutans Spesen (ebenfalls rund Mittelmeer wassern. Der Kerosintank leck- chenbare Stürme die Ballons zerfetzen. eine Million) teilen sich Pepsi-Cola und vor te, der Schweizer hatte die Wahl zwischen Rutan wird sein Gefährt am 5. Januar ein- allem der flugnärrische Hotelerbe Barron giftigen Dämpfen und den Wellen. satzklar haben: „Im Luftfahrtmuseum ist Hilton. Deshalb heißt der Ballon auch Zur gleichen Zeit rammte der Multimil- nur noch ein Platz frei“, sagt er, „erster zu „Global Hilton“, beabsichtigter Werbeslo- lionär Steve Fossett, jetzt ebenfalls unver- sein ist alles, was zählt. Der zweite wird gan: „Ein Zimmer mit Aussicht“. drossen wieder dabei, seine Kapsel in ein vergessen in alle Ewigkeit.“ Im Namen der Uhrenmarke Breitling indisches Senffeld, nachdem ihm der 15 Stunden pro Tag schraubt er jetzt mit startet der Schweizer Psychiater Bertrand Brennstoff ausgegangen war. Immerhin seinen Leuten an der Kapsel herum. Noch Piccard. Der Unternehmer Richard Bran- hatte der Börsenmakler aus Colorado vor- hängen überall Kabel aus der Kreuzung son („Virgin Records“, „Virgin Cola“, „Vir- von Spaceshuttle und Seifenkiste: Ein gin Atlantic“) riskiert nicht nur britische „Wenn du den Brenner hochmodernes Satelliten-Funksystem, so- Pfunde, wovon er über eine Milliarde hat, anwirfst, hast du keine Ahnung, largespeist, wird den Kontakt zur Boden- sondern auch sein eigenes Genick: Anfang station in Albuquerque halten, wo Exper- des Monats versuchte er, die Konkurrenten wo du runterkommen wirst“ ten anhand von Wetterdaten die optimale schon mal mit einem Frühstart auszu- Flughöhe ausrechnen und durchgeben sol- tricksen. Doch als er seinen Ballon, höher her zwei Ballonrekorde gebrochen – den len. Zugleich aber werden etwa die 18 als die Freiheitsstatue, in der marokkani- für die längste Zeit in der Luft (sechs Tage, mannshohen Gastanks, die wie ein Patro- schen Wüste aufblasen ließ, packte eine zwei Stunden, 54 Minuten) und die weite- nengurt um die „Global Hilton“ hängen Böe zu. ste Strecke (16670 Kilometer). sollen, mit zweckentfremdeten Seilzügen Herrenlos schoß die „Virgin Global Die Bedingungen für das Rennen sind von Autos ausgeklinkt, sobald sie leer sind. Challenger“ gen Algerien, Branson rief die schlicht. Jeder darf zwar starten, wo er will, Die Kapsel selbst ist hermetisch abge- marokkanische Luftwaffe zu Hilfe. „Was muß aber mindestens eine Strecke von schlossen, sonst könnten Rutan und Ko- wir brauchen, sind rund hundert hübsche zwei Dritteln des Erdumfangs am Äquator pilot Dave Melton, 39, ohne Atemmasken Einschußlöcher im oberen Teil des Bal- zurücklegen. So kann niemand eine kurze nicht überleben. Um mit wenig Sauerstoff lons“, bellte er ins Telefon, „genug, um ihn Ehrenrunde um den Nordpol drehen.Auch auszukommen, wird ihre Luft recycelt. Die runterzuholen, aber nicht zu viel, damit muß jeder wieder denselben Längengrad Raumfahrtbehörde Nasa empfahl eine wir das Ding flicken und es in ein paar erreichen, von dem er abgehoben hat – auf Chemikalie, die aussieht wie Streu im Kat- Wochen noch mal versuchen können.“ welcher Breite auch immer. zenklo, aber Kohlendioxid aus der Luft Vor genau einem Jahr hatte Branson es „Das ist das Vertrackte beim Ballonfah- filtert. Ein geschlossenes Metallrohr führt schon einmal probiert. Damals riß nach ein ren“, sagt Rutan, „wenn du den Brenner zudem die Kälte des Alls durch die enge paar Stunden Luftreise die Ballonhülle, der anwirfst, hast du keine Ahnung, wo du wie- Kabine, daran soll die Feuchtigkeit des Brite sauste mit gut 600 Metern pro Minu- der runterkommen wirst.Wir sind Geiseln Atems kondensieren. Die Flüssigkeit fan-

der spiegel 1/1998 85 ken ein, dann fauchen Gasflammen in die und bahnbrechende Kleinflugzeuge kon- äußere Hülle. struiert. Bruder Dick wurde derweil erst Das Doppelprinzip ist bewährt: Erfin- mal dort Pilot, wo es die schnellsten Flie- der Pilâtre de Rozier stieg schon 1783 zum ger gab: 325 Kampfeinsätze flog er allein erstenmal auf, sprengte sich freilich wenig über Vietnam, bis Bodenkanoniere des später über dem Ärmelkanal selbst in die Vietcong ihn schließlich trafen. Über 20 Luft. Er hatte damals noch Wasserstoff be- Orden hat der Oberstleutnant sich geholt, nutzt statt des unbrennbaren Heliums, das darunter das Purple Heart. nun alle Rekordjäger hebt. „Der einzige Atombomber flog er später, „Ost- Sinn des Ganzen ist die Herausforderung“, deutschland war mein Zielgebiet“. Auch räumt Rutan ein. Seit seinem „Voyager“- jetzt im Ballon bei der Landung wird er sei- Flug predigt er bei Vorträgen immer wie- nen alten Helm tragen, noch immer mit der: „Wenn euch jemand sagt, es gibt eine dem goldbeschichteten Spezialvisier, das Grenze des Machbaren, egal wo, dann stellt den Lichtblitz der Bombe abhalten sollte. sie in Frage.“ Er flog und flog, besessen, denn die Erde Ihn selbst treibe zudem eine „abnorma- ist „langweilig“ und oft unangenehm dazu, le Faszination“ am Fliegen: „Ich kam schon da scheitern zum Beispiel Ehen wie die aus dem Bauch meiner Mutter geflogen.“ Als der Junge wenig später zäh genug ge- Abenteurer Rutan sollte für quengelt hatte, nahm sie ihn mit zu einem die Republikaner in Rollfeld in Südkalifornien. Sie setzten sich in eine klapprige Propellermaschine, und den Kongreß nach Washington als die noch über die Grasbahn holperte, stand Dick Rutan schon auf und klammer- seine. Er drehte Loopings in einem Luft- te sich hinter dem Piloten fest. Dort blieb zirkus („Ein paar Trottel auf der Tribüne, er den ganzen Flug über, gebannt, eigent- ein paar Verrückte oben, das ist alles“) und lich bis heute: „Es gibt zwei Dinge im Le- testete Prototypen – „immer auf der Suche ben, die man nie vergißt. Und das andere nach Ruhm und Reichtum in der Luft“. ist der erste Flug.“ Ehre brachte ihm der „Voyager“-Flug: Auch seinen kleinen Bruder Burt hatte Die Maschine hängt nun im Luft- und es erwischt. Der zerrte Mama allerdings in Raumfahrtmuseum in Washington, nicht einen Spielzeugladen. Als sie ihm dort ei- weit von der „Spirit of St. Louis“, mit der nen Flugzeug-Modellbaukit kaufen woll- sein Vorbild Charles Lindbergh als erster

AFP / DPA te, jammerte er: „Ich will keinen Kit. Ich über den Atlantik flog. Der Reichtum frei- Herrenloser Branson-Ballon* will nur das Holz. Ich bau’ meine eigenen lich blieb aus. Nach der Landung mußte er „Wir brauchen hundert Einschußlöcher“ Flugzeuge.“ Bald drauf sah man die Rutans anderthalb Jahre mit seiner Freundin und durch die Wüste brausen. Die Mutter am Kopilotin, der Abenteurerin Jeana Yeager, gen die beiden dann auf, um sie an- Steuer des Familienkombis, die Brüder auf über die Dörfer ziehen, um mit Vorträgen schließend wieder zu trinken. Nicht gera- dem Dach mit Flugzeugmodellen – ihr er- sein Konto so etwa auszugleichen. de Hilton-like, spart aber Gewicht. „Wir ster Windkanal. „So ist das immer noch“, Die Republikaner nominierten den haben überlegt, ob wir nicht irgendwelche sagt Dick Rutan, „Burt baut die Flugzeu- Prominenten als Kandidaten für den Körperteile auf dem Boden lassen“, grinst ge, und ich mache sie wieder kaputt.“ Washingtoner Kongreß. Seine These: „Po- Rutan, „braucht man eigentlich soviel Burt Rutan gründete eine Firma, die litiker sind korrupt und ohne Visionen.“ Nase, wie ich habe?“ Essen werden Rutan Sonderaufträge für die Air Force erledigt Seine Forderung: „Warum unternehmen und Melton vor allem wir nichts, um nach Alpha Cracker und Äpfel. Eine Centauri zu fliegen? Ich Toilette gibt es nicht, nur mag die Idee nicht, daß wir den Hocker des Piloten für immer in unserem win- und Plastiktüten. Einmal zigen Sonnensystem ein- am Tag wollen sie die gesperrt sein sollen. Das ist durch eine Luftschleuse wie in einer Telefonzelle abwerfen: „Das haben die ohne Telefon.“ Ende des Deppen davon, wenn sie Programms. Das war den am Boden bleiben“, frot- Wählern offenbar ein we- zelt Rutan. nig zu abgedriftet – er Sein Gefährt ist eine scheiterte. sogenannte Rozière, ein Wenn Rutan das Ballon- Zwitter aus Gas- und rennen gewinnt, will er Heißluftballon: Eine inne- noch mal als Politiker kan- re Zelle faßt knapp 12000 didieren, vielleicht. Oder Kubikmeter Helium. Tags- lieber doch mit einem über erwärmt die Sonne Segelflieger die Welt um- das Gas, so daß der Ballon runden, „aber kopfüber“. steigt. Nachts schaltet Ru- Und wenn er es nicht tan die Zünder von aus- schafft? „Dann werden wir rangierten Jet-Triebwer- es wieder und wieder versuchen. Bis uns je-

* Am 9. Dezember in Marokko, als REUTERS mand schlägt oder wir da- Windböen den Ballon losrissen. Ballonfahrer Branson beim Training in Marokko: „Noch einmal versuchen“ bei sterben.“ ™

86 der spiegel 1/1998 Gesellschaft berte oder sich über Beamte, Mönche und schutz“, der vergangenen September in AFFÄREN Gangster lustig machte. „Niemand bringt Tokio herauskam und japanische Terrori- heilige Kühe schneller auf Trab“, schrieb sten karikieren sollte, konnte kein Kino Wie ein Samurai ein Kritiker. auch nur für eine Vorstellung füllen. „Das Doch Itami war wohl auch selbst diesen Thema hat ebenso an Attraktivität verloren Traditionen unrettbar verhaftet. Der Regis- wie der Regisseur“, lautete ein lakonisch Ein japanischer Filmemacher seur spielte schon früher mit der dunklen böses Kritikerurteil. beging Selbstmord – getrieben von Faszination, die viele Japaner verbindet: In „Es bleiben Fragen zu seinem Motiv“, der Sensationspresse? Nippon gilt das Ritual der Selbstentleibung schrieb nach Itamis Selbstmord das Tokio- nicht als Ausdruck von Hilflosigkeit, son- ter Massenblatt „Asahi Shimbun“ und er- rei Fotos, zu einer faktenarmen dern, wie Itami vor Jahren schrieb, als höch- innerte an das „Kawabata-Syndrom“ – Story gestellt, sollten dem Tokio- ste Vollendung der „Ästhetik des Todes“. Burnout, das Phänomen des Ausgebrannt- Dter Skandal-Bilderblatt „Flash“ den Wer sich als Angehöriger der Krieger- seins. Scoop des Jahres bescheren: kaste des feudalen Japan gegenüber sei- An seinen internationalen Hit von 1986 Die Bilder zeigen den Filmregisseur Juzo nem Lehnsherrn in der Schuld fühlte, konnte Itami nie mehr heranreichen. Mit Itami, 64, verheiratet, Vater zweier er- schlitzte sich mit dem Schwert den Bauch der Imbißbuden-Betreiberin Tampopo, die wachsener Kinder, in scheinbar verfäng- auf (Seppuku, außerhalb Japans meist Ha- auf der Suche nach dem endgültigen Nu- licher Zweisamkeit mit einer jungen Schö- rakiri genannt) – so verlieh der Samurai delrezept ist, schuf Itami eine internatio- nen. Hatten Nippons Paparazzi, oft viel seiner unverbrüchlichen Treue finalen nale Kultfigur. Die Hauptrolle spielte, wie skrupelloser als die in den Vereinigten Nachdruck. so oft in seinen Filmen, seine Frau Nobu- Staaten und Europa, wieder mal einen Pro- Die Selbstmordrate bei Japans Künst- ko Miyamoto. minenten zur Strecke gebracht? Hatten sie lern ist bis in die Neuzeit hoch, so kraß un- Der Film „Kunst der Erpressung“, wie- den streitbaren Moralisten auf Abwegen terschiedlich die Motive und Vorgehens- der mit Miyamoto, sorgte 1992 durch seine ertappt? weisen auch sind: Folgen für Aufregung. Der Streifen war REUTERS CINETEXT Regisseur Itami, Ehefrau Miyamoto im Erfolgsfilm „Tampopo“ (1986): Erbarmungslose Attacke auf Traditionen

Sensationslust schlug in Tragik um. „Ich π Ryunosuke Akutagawa, moderner Lite- eine satirische Abrechnung mit den Yaku- werde durch meinen Tod beweisen, daß ich raturklassiker („Rashomon“), brachte za, den japanischen Gangstern, die sich unschuldig bin“, schrieb Itami, der vor der sich 1927, im Alter von 35 Jahren um, selbst als heldenhafte Nachfahren der drohenden Veröffentlichung gewarnt wor- nachdem er sein „Leben eines Narren“ Samurai verstehen – Itami schilderte sie den war, in einem Abschiedsbrief. „Es gibt in Buchform beklagt und seinen Exitus als aufgeblasene, ganz gewöhnliche Krimi- keinen anderen Weg.“ Dann stieg Itami angekündigt hatte – aus einer vagen Zu- nelle. aufs ungesicherte Flachdach des acht- kunftsangst heraus; Nur wenige Tage nach der Premiere stöckigen Gebäudes, in dem sein Büro sich π Yukio Mishima, begnadeter Schriftsteller wurde der Regisseur nachts auf offener befand – und sprang in die Tiefe. Wenige und nationalistisch-extremer Phantast, Straße von fünf Gangstern angefallen und Stunden später starb er im Krankenhaus. beging 1970 mit dem Schwert grausames durch Rasiermesserschnitte an Kopf und Der Suizid mit seinen Anspielungen auf Harakiri, als es ihm nicht gelungen war, Hals furchtbar entstellt. Aus dem Kran- Ehre und Traditionen der Samurai-Krie- Japans Streitkräfte zum Staatsstreich kenhaus schrieb er einen offenen Brief an gerkaste provozierte in der japanischen aufzustacheln; alle Japaner: „Ich hoffe, wir können diesen Presse auch Erinnerungen an den Tod π Yasunari Kawabata, Literaturnobelpreis- Kampf gemeinsam bestehen“– das Unrecht Dianas: Skrupellose Sensationsgeier hätten träger von 1968, war 72 Jahre alt, als er zu schlagen. Er versprach: „Ich werde nicht wieder einmal einen beliebten Menschen sich 1972 in seiner häuslichen Wohn- aufgeben.“ zu Tode gehetzt. Doch was in Paris so nicht küche vergaste – aus Furcht, dem ho- Jetzt reichte die Kraft des Juzo Itami stimmte, trifft auch in Tokio nicht zu. hen Anspruch an sich selbst nicht mehr nicht mehr. Itami war wirklich Abkömmling eines genügen zu können. Im Abschiedsbrief bat er den Freund Samurai-Geschlechts. Er hatte sich einen Der Regisseur Yoshihiro Ikeuchi, der sich Yasushi Tamaoki, den Präsidenten seiner Namen gemacht durch erbarmungslos sa- den Künstlernamen Juzo Itami gab, hatte Filmfirma, sich künftig um die Kinder zu tirische Attacken auf die japanische Ge- seinen größten Erfolg 1986 mit der turbu- kümmern und für seine Gattin zu sorgen: sellschaft und ihre altehrwürdigen Über- lenten Komödie „Tampopo“; sein zehnter „Sie ist Japans beste Ehefrau, Mutter und lieferungen – ob er Bestattungsriten veral- und letzter Film „Frau unter Polizei- Schauspielerin.“ ™

der spiegel 1/1998 87 WUNDERKINDER Ganz gute Lauscher Rubina König, zehnjährige Ber- liner Göre mit japanischer Mutter, erobert das Schlagergeschäft.

er Mutter ist die Tochter manch- mal unheimlich. Sie wundert sich, Dwas aus ihrem quasselnden Kind so herauskommt. „Der Kindergarten“, er- zählt Rubina und zieht mit der flachen Hand scharf am Hals vorbei, „hätte mich fast den Kopf gekostet.“ „Warum?“ fragt Mitsuko König erstaunt. Sie sei „einfach von den Kindern nicht gut aufgenommen“ worden, erklärt das Mädchen. Die anderen seien neidisch gewesen, weil sie singen kann. Die mandeläugige Rubina, die am 25. Dezember zum erstenmal beim „Weih- nachtsfest der Volksmusik“ in der ARD auftrat, ist mit ihren gerade zehn Jahren der jüngste Star im deutschen Schlager- geschäft.Aber wenn sie von ihrer Bühnen- erfahrung erzählt, glaubt man Evelyn Künnecke zu hören. „Die Bühne gibt mir Sicherheit“, sagt Rubina, „wenn der Ap- plaus kommt, empfinde ich mich als grenzenlos.“ Sie genießt es, wenn der Ablauf nicht haar- scharf funktioniert –

dann fühlt sie sich erst STUDIO SCHORR richtig gefordert. Wenn Schlagersternchen Rubina mit Eltern: „Ich bin ein alter Fuchs“ es etwa in der Tontech- nik hapert und sie die stert. Otfried Laur, Chef des Theater Clubs sikshow des MDR, einen Preis gewann, gab Leute bei Laune hal- Berlin, übernahm nach ein paar Gesangs- die Mutter ihren Widerstand auf. Kurz dar- ten muß. Dann erzählt einlagen der Kleinen beim Künstler- auf nahm Heino – beeindruckt von der

ACTION PRESS ACTION die Kleine mit den stammtisch das Management und produ- „verblüffenden Professionalität des Kin- Heino schwarzen Zöpfen, was zierte die ersten CDs. „Wir konnten nichts des“ – die Karriere des Mädchens unter ihr so gerade einfällt, von machen“, erinnert sich Mitsuko König bei- seine Fittiche. Er hält Rubinas Organ für Schneewittchen, ihrem Vater oder von nahe entschuldigend, „wo immer Rubina eine der größten Kinderstimmen des Lan- ihrem Hündchen Rosi. Nur wenn ihr die auftrat, räumte sie ab.“ Erst recht, als die des. Bei Aufnahmen in seinem Studio hat nächste Strophe eines Lieds nicht einfällt, Kleine mit bayrischer Sepplhose und Jä- er festgestellt, daß Rubina auch da den Ton rieselt es ihr „so kalt und heiß und wieder gerhut über dem fernöstlichen Kinderge- auf Anhieb findet, wo erwachsene Profis kalt“ den Rücken herunter. „Aber das liegt sicht berlinische Ohrwürmer wie „Mein zwei bis drei Anläufe brauchen. Daß die wohl in der Familie“, erklärt sie ernst, kleiner grüner Kaktus“ oder „Kauf dir ei- Zusammenarbeit auf gemeinsame Auftrit- ihrem Vater gehe es genauso. nen bunten Luftballon“ jubilierte, gewann te hinausläuft, hält er für möglich. Als ihr Knapp fünf Jahre war Rubina, als sie sie das Publikum im Sturm. Manager entschied er auch, welchen Nach- zum erstenmal mit Nachdruck forderte, Ihr Repertoire erweiterte Rubina selb- namen sie demnächst tragen wird: Hayato auftreten zu dürfen. Bühnen hatte sie früh ständig. Sie setzte sich zu Hause vor den – so hieß ihr Großvater. Heino hat für Ru- kennengelernt. Wenn der Vater, Tenor des Plattenspieler und hörte Marilyn Monroes bina einen Auftrittsstopp bei kleinen Ver- Berliner Salon-Orchesters, auftrat, saß sie „I wanna be loved by you“ so oft, bis sie anstaltungen erlassen und filtert auch ihre meistens auf dem Schoß der Mutter im Pu- den Schmachter vollständig nachsingen Kontakte zu Medien. Das Kind soll auf kei- blikum. Und wenn die Mutter zu Hause konnte. Da war sie, wie sie es selbst nennt, nen Fall verheizt werden und die Lust ver- Klavierunterricht gab, blieb Rubina immer „ein ganz kleines Körnchen“ von sieben lieren. Er hat Großes mit ihr vor. dabei und summte die Melodien mit. Beim Jahren. „Ein guter Gag“, sagt sie heute Weil Heino gegen Sepplhose und Hut 1000jährigen Potsdam-Geburtstag 1993 hob lässig. ist – „zu deutsch“ –, trägt Rubina neuer- der Vater seine Tochter schließlich auf die Mitsuko König hätte den Schwung ihrer dings ein mit Straß besticktes Satinkleid. Bühne. „Veronika, der Lenz ist da“ träl- Tochter gern gebremst und sie noch eine „Ein bißchen chinesisch“, lacht die japani- lerte das eurasische Rubinchen im Duett Weile in der Kindheit bewahrt, aber als sche Mutter. Rubina selbst hält west-östli- mit dem Papa, die Zuhörer waren begei- Rubina in „Achims Hitparade“, der Mu- che Verwirrung von sich fern. Sie hat acht

88 der spiegel 1/1998 Gesellschaft Monate in Japan gelebt, als die Mutter sich dort von einer Krankheit erholte; sie ver- steht japanisch, aber sie ist strikt dagegen, ihre Kenntnisse über das ferne Land zu Hause in Berlin zu erweitern: „Japanisch spricht man in Japan, hier spricht man deutsch, und das ist richtig so.“ Es gibt Themen, von denen das Mädchen nicht gern reden hört. Die schwierige Pha- se der Entscheidung etwa, ob die Familie nach Zwickau gehen sollte, wo dem Vater ein Engagement als Tenor angeboten wur- de. Sie habe Angst vor der Ausländer- feindlichkeit dort gehabt, erzählt die Mut- ter und sei froh, daß sie in Berlin geblieben seien. Weil sie von der Musik nicht leben konnten, eröffnete Vater König eine Im- bißbude in Berlin-Tegel. Die läuft gut, weil das Angebot groß ist und „alles immer ganz frisch gemacht“ wird. Rubina findet, die Imbißbude sei jetzt oft genug erwähnt worden. „Mama“, unter- bricht sie herrisch, „jetzt erzähl mal was Witziges!“ Die Mutter seufzt: „Das kannst du besser, Binchen.“ Die Zehnjährige hat eine präzise Vorstellung, was ihre Fans von ihr erfahren sollen. Mit der Schnelligkeit von Dieter Thomas Heck rasselt sie her- unter, welche Kinderbücher sie „liebend gern“ gelesen hat. „Urmel aus dem Eis“, und das Kinderbuch mit dem „Sams“, das sei, sagt sie und reckt den Zeigefinger wie- derholt in die Luft, „vermutlich die größ- te Aufmunterung des Jahrhunderts“. Lie- ber noch sieht sie Filme mit Robin Wil- liams, Dustin Hoffman oder Barbra Streisand.Wenn sie denen zuschaue, lerne sie, wie Komik hergestellt wird. Rubinas Berufsziel ist Komikerin, falls das Singen sie irgendwann langweilen sollte: „Der Mensch braucht doch Abwechslung.“ Im Moment hält sie die Ausbildung ihres Gehörs für das Wichtigste. Zum Glück habe sie ja „ganz gute Lauscher“. Sie erforscht, welcher Sänger sich eines Vibratos bedient – „das ist ein wackelnder Ton“ – und wer eine „musikalische Verzierung“ à la Whit- ney Houston probiert.Wenn man sich sehr konzentriere, könne man allerdings fest- stellen, daß auch bei Whitney Houston ein kleines Vibrato mitschwinge. „Wirklich?“ zweifelt die Mutter. „Du mußt ihre Musik aufmerksamer hören, Mama“, tadelt Ru- bina. Die Mutter verspricht es eilig, schon um das Hündchen zu schonen. Wenn Ru- bina ungnädig wird, knuddelt sie ihren Malteser Rosi, bis der Winzling quiekt. Manchmal scheint das Mädchen plötzlich besorgt. Man müsse ungeheuer aufpassen, daß man „seine Fans auch behält“, erklärt sie, man dürfe keine Schwächen zeigen, nicht den Fehler begehen, dem die Mädchen-Band „Tic Tac Toe“ zum Opfer gefallen ist. Heino mache das richtig, der zeige nie vor dem Publikum, wenn er ver- ärgert sei. Hier spricht ein Profi, die Mutter schweigt und läßt sich belehren. „Ich bin ein alter Fuchs“, sagt Rubina und zuckt mit den Achseln, „ich habe alles erlebt.“ ™

der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel

Die Entmachtung der Uhren Sind Zeitreisen doch möglich? Forscher experimentieren mit Teilchen, schneller als das Licht, sie entdeckten genetisch programmierte Uhren, die dem Leben den Takt vorgeben, und zerstören eine Illusion: Eine absolute Zeit gibt es nicht, die Zeit entsteht im Kopf.

ie Sonne senkte sich über die Bar- sich seiner angenommen. Kurz vor der Jahr- mos hatte Albert Einstein solches Treiben rikaden. Der König war gestürzt, tausendwende beschäftigen sich Forscher mit gutem Grund für unmöglich erklärt: Dder Pulverdampf verflogen. Da aller Disziplinen mit dem Phänomen Wer es fertigbrächte, mit überlichtschnel- richteten die Aufständischen ihre Vorder- „Zeit“. Auf der Jahrestagung der American len Strahlen in die Welt zu leuchten, der lader auf ein neues Ziel: Sie beschossen Association for the Advancement of Science, könnte theoretisch die Zukunft erblicken. die Turmuhren. der weltgrößten Wissenschaftskonferenz in Dennoch, ohne letzten Endes zu verste- Ein blindwütiger Elan hatte an diesem Seattle, waren die Vorträge und Diskussi- hen, was sie tun, vermessen die Physiker ersten Abend der französischen Julirevo- onsrunden zu diesem Thema dermaßen plötzlich Erscheinungen, die alle Züge des lution von 1830 die Rebellen erfaßt: Gleich- überlaufen, daß die Veranstalter sie in einen Paranormalen tragen: Laserlicht, das sich zeitig, aber ohne voneinander zu wissen, turnhallengroßen Ballsaal verlegten. überlichtschnell ausbreitet; Partikel, für waren mehrere Gruppen in den Pariser Die Aufregung entzündet sich an Expe- welche die Zeit bei bloßem Hingucken Kleinbürgervierteln erneut ausgezogen. rimenten, von denen viele erstaunlich sim- gleichsam einfriert; Teilchen, die den Aus- Diesmal galt ihr Angriff einem unsichtba- pel sind. Aber seit Jahrzehnten war nie- gang einer Röhre verlassen, bevor sie am ren und allmächtigen Feind. mand auf die Idee gekommen, sie auszu- Eingang hineinfliegen. Die Rebellen hatten ein Lied auf den führen. Wozu auch hätte man das Unvor- An die Stelle der alten Gewißheiten sind Lippen. Sie sangen von „Schüssen auf die stellbare versuchen sollen? Fragen getreten: Sind die Schranken der Zahnräder, um den Tag anzuhalten“: Erst mußten ein paar deutsche Physiker Zeit überwindbar? Ist die Relativitäts- Nichts geringeres als das „Kontinuum mit Rohrstücken Furore machen, die aus- theorie, wie der Astrophysiker Joseph Silk der Geschichte“, schrieb der Essayist Wal- sehen, als hätte ein Klempner sie im Labor behauptet, nur noch ein „wunderschönes ter Benjamin, wollten die Revolutionäre vergessen. Durch diese Stutzen wollen die Fossil“? Sind gar manche Science-fiction- sprengen, alle Last der Vergangenheit ab- Forscher, gestandene Professoren, im ver- Phantasien weniger abwegig, als gedacht: FOCUS / AGENTUR / MAGNUM E. HAAS (s/w) FOTOARCHIV; / DAS (kl.) M. MATZEL BAVARIA; (gr.) streifen. Das alte Regime hatten sie schon gangenen Jahr Mikrowellen-Signale mit Könnten Zeitreisen dereinst so alltäglich hinweggefegt. Nun sollte auch die äußer- Überlichtgeschwindigkeit gefunkt und da- werden wie das Fahren mit der U-Bahn? steTyrannei fallen: die Herrschaft der Zeit. mit die Relativitätstheorie überlistet haben. Seherisch wähnte der amerikanische 167 Jahre später ist dieser Traum wieder In seiner großen Lehre von der Allmacht Astrophysiker Carl Sagan kurz vor seinem auf der Tagesordnung. Die Wissenschaft hat der Lichtgeschwindigkeit über den Kos- Tod im vorigen Jahr die Wissenschaft „an

92 der spiegel 1/1998 Physiker Einstein (1951)

Zeitgebern im Kopf das Erleben, das Den- ken und das Fühlen bestimmt. „Die Zeit ist die Hintertür zum mensch- lichen Geist“, behauptet der australische Physiker Nimtz, Mikrowellen-Experiment: „Der Hürdenläufer ist schneller als der Sprinter“ Astrophysiker Paul Davies; die Ergebnisse der Hirnforscher zeigen, daß er mit seiner einem dieser raren, klassischen Wende- nen, die Astrophysiker, fangen mit Rönt- Einschätzung so falsch nicht liegt. punkte“ angelangt, an denen sich die gensatelliten die Signale von Pulsaren auf, So treffen sich die Erkunder von toter Menschheitsvorstellung über die tiefsten von Sternen, die genauer ticken als die und beseelter Materie in einem neuen Ver- Mysterien grundlegend umwälzt. meisten irdischen Uhren. Sie vermessen in ständnis des Phänomens „Zeit“, das aller Tatsächlich haben die Forscher in den der kosmischen Strahlung Runzelungen gewohnten Auffassung zuwiderläuft: Die letzten Jahren in einem Maße Einsich- der Zeit. Aus solchen winzigen Uneben- Wissenschaft hat Abschied genommen vom ten über die Zeit gewonnen, wie man heiten des Weltenlaufs glauben sie die Ge- jahrtausendealten Bild eines Zeitstroms, es bei einem scheinbar so esoterischen schichte der ersten drei Minuten des Uni- der ebenmäßig und womöglich gottgege- Gegenstand für unerreichbar halten mußte. versums lesen zu können. ben dahinzieht. In den Berichten der Wis- Dabei sind die neuen Erkenntnisse eher Ab- Die anderen, die Biologen, verfolgen die senschaftler entpuppt sich die Zeit als We- fallprodukte anderer Disziplinen. Sie ent- Winkelzüge der Zeitwahrnehmung im sen von dieser Welt. Sie wird erkennbar als springen dem beispiellosen Forscher-An- menschlichen Gehirn. In den USA wurde Folge und nicht als Urgrund allen Weltge- sturm, der sich seit Beginn dieses Jahrzehnts ein „Clock Genome Project“ aufgelegt: schehens. Sie erinnert an einen Wildbach, auf die letzten beiden großen Geheimnisse Forscher haben genetisch programmierte der unter manchen Umständen wild auf- der Wissenschaft richtet: auf den Kosmos Uhren entdeckt, natürliche Chronometer, schäumt und manchmal stillsteht. Und sie und auf das menschliche Gehirn. die jedem Wesen und sogar jeder einzelnen scheint formbar wie Knetmasse. Wie Tunnelbauer auf beiden Seiten eines Zelle den Lebenstakt schlagen. Neurobio- Solche Bilder drängen sich auf, wenn die Bergmassivs nähern sich zwei Forscherge- logen erkennen aus Nervenströmen, die Forscher nun über Rätsel debattieren, wel- meinden dem Phänomen „Zeit“ von ent- sie Patienten bei Gehirnoperationen ablei- che die Naturwissenschaft längst als hoff- gegengesetzten Ausgangspunkten. Die ei- ten, wie ein kompliziertes Geflecht von nungslos unlösbar beiseite gelegt hatte: Gab

der spiegel 1/1998 93 Titel es je einen Anbeginn der Zeit? Könnte ihr sprechen: Sie ist ohne Körper und Form, Christus läßt den Erhabenen erklären: „Ich Fluß dereinst versiegen? Wie wirkt der Zeit- aber unüberwindlich; meßbar, aber mit bin die Zeit.“ strom auf das Bewußtsein? Und: Was ei- Menschenorganen nicht spürbar; allem An- Unter dem Zugriff der Naturwissen- gentlich ist Gegenwart? schein nach ewig, aber unumkehrbar. schaften beginnt sich der Nebel um dieses Es sind Fragen, über welche die Mensch- Nur wenige vermochten ihr Erschauern Mysterium nun zu lichten. Denn indem die heit sinniert, spätestens seit sie in der Stein- über den Sog der Geschichte so blumig Biologen in Genen und Gehirnen nach in- zeit ihre ersten Experimente mit dem und zugleich schlicht auf den Punkt zu neren Uhrwerken fahnden, entzaubern sie Schattenlauf der Sonne begann. Denn wie bringen wie der unterkühlte Mister Spock auch die Zeit. Vielen Forschern gilt das kaum ein anderes Phänomen bringt der im Raumepos „Star Trek“: „Zeit ist das Zeitgefühl nur als das Bewußtseins-Korre- ständig erfahrbare Zeitlauf den menschli- Feuer, in dem wir brennen.“ lat von chemischen Gleichgewichten in den chen Geist an die Grenzen seines Fas- Vieles läßt sich wegdenken, die Zeit Nervenzellen. Und was berechtigt eigent- sungsvermögens. Ratlos bekannte Augu- nicht. Eine Ohnmacht versetzt den Men- lich zu glauben, der scheinbar allgegen- stinus von Hippo, einer der größten Den- schen in einen Zustand ohne Bewußtsein. wärtige Zeitfluß sei mehr als nur ein neu- ker der Kirchengeschichte, er sehe sich Über das Leben ohne Körper spekulieren ronales Schattenspiel, das Taktgeber im außerstande zu erklären, was das Wesen immerhin religiöse Seelenlehren. Eine Exi- Kopf dem Menschen vorgaukeln? der Zeit sei: Wenn ihn niemand frage, wis- stenz außerhalb der Zeit aber scheint Solche Fragen muß sich stellen, wer den se er es wohl. Doch wenn ihn jemand fra- außerhalb allen Vorstellungsvermögens. So belgischen Physikochemiker Ilya Prigogine ge, könne er es nicht sagen. firmiert das Sein jenseits der Zeit in den ernst nimmt. Jedes Wesen, behauptet der Allenfalls scheint es möglich, in Vernei- Weltreligionen als Attribut des Uner- Nobelpreisträger, lebe nach einer „Eigen- nungen und Paradoxien über die Zeit zu gründbaren, Göttlichen. Die indische Bha- zeit“, es folge einem inneren Rhythmus, gavadgita setzt Gott und die Zeit sogar den es in sich erzeugt. Kein ferner Gott, gleich – das heilige Buch sondern ein jeder Erdenwurm sei Schöpfer aus dem ersten der Zeit. Als Prigogine vor einigen Jahren Jahrhundert mit seinen Thesen, damals noch kaum nach durch experimentelle Befunde untermau- ert, die Biologen provozierte, hatten sich die Physiker schon verabschiedet von ei- nem anderen beliebten Konstrukt der Re- ligionen: der Ewigkeit. Diese ist im Standardmodell von Teil- chen und Kosmos, der inzwischen gängigen Vorstellung von der Welt- entstehung, nicht mehr vorgesehen: Schleichwege Wie alle Materie und alle Natur- ins Gestern gesetze, so müsse auch die Zeit Wie die Gesetze der Physik eine einstmals entstanden sein, be- Zeitreise ermöglichen könnten haupten die Kosmologen. Sie berufen sich auf Daten, die von Die Einsteinsche Relativitätstheorie be- Röntgensatelliten zur Erde ge- schreibt Raum und Zeit als ein zusammen- funkt, und auf Meßwerte, die gehöriges, gekrümmtes Gebilde. Astrophysiker in riesigen Teilchenbeschleu- halten es jedoch für denkbar, daß es im „Raum- nigern gewonnen wurden – Zeit-Kontinuum“ Abkürzungen gibt: Durch tunnelartige und bestätigen damit auf er- „Wurmlöcher“ im kosmischen Gefüge könnten Licht staunliche Weise, worüber oder Materie dringen. Indem sie gleichsam die Welt über- Augustinus schon im vierten holen, die sich entlang der gekrümmten Zeit entwickelt, Jahrhundert spekuliert hatte. würden sie im Morgen ankommen. In umgekehrter Richtung Gott, so glaubte der Kirchen- wären auch Reisen ins Gestern möglich. heilige, habe nicht die Welt in die Zeit gesetzt, er habe viel- mehr Zeit und Welt zusam- In ferner Zukunft könnten Ingenieure Wurmlöcher künstlich men erschaffen. erzeugen und so eine Zeitmaschine konstruieren: In solch enger Geschwi- Wie einen Spinnenfaden schleppt ein Raumschiff, das mit sehr sterschaft von Zeit und Mate- hoher Geschwindigkeit die Erde verläßt, ein Wurmloch hinter sich her. rie erblicken manche Kosmo- Beispiel logen eine phantastische Mög- lichkeit: den Strom der Zeit Erdzeit: 1. Januar 2200

Raumschiffzeit: 1. Januar 2200 Wenn das Raumschiff den Umkehrpunkt seiner Reise erreicht, Erdzeit: 1. Januar 2205 sind auf der Erde fünf Jahre vergangen – im Raumschiff aber, in dem die Zeit durch die schnelle Bewegung gerafft ist, nur fünf Tage.

Bei seiner Rückkehr nach zehn Jahren Erdzeit bringt das Raum- Erdzeit: 1. Januar 2210 schiff ein Wurmloch mit, in dem nur zehn Tage vergangen sind. Raumschiffzeit: 10. Januar 2200 Zeittouristen könnten diesen Tunnel benutzen, um durch das Wurm- loch zwischen den Jahren 2200 und 2210 hin- und herzureisen.

94 der spiegel 1/1998 anhängen: die Wiedergeburt des Individu- ums in immer neuen Körpern. Die Ägypter kamen erstmals auf die Idee, die Vergangenheit könne auf immer verloren sein: Die Zeit wird von einer Schlange geboren; gefräßige Stundengöt- tinnen, zwölf an der Zahl, verschlingen sie. Doch mehr noch als die Mythologie hat eine Erfindung aus dem alten Ägypten das westliche Zeiterleben geprägt – die Uhr. Die Grabinschrift eines im 15. Jahrhundert vor Christus verstorbenen Gerichtsdieners namens Amenemhet beschreibt ein Wasser- Chronometer, das dieser Mann ersonnen haben soll: Durch eine senkrechte Reihe von kleinen Löchern spritzt Wasser aus ei- nem Toneimer. Bei Sonnenuntergang wird das Gefäß gefüllt; am Sinken des Pegels läßt sich die Tageszeit ablesen. Die Scherben eines solches Geräts aus dem 14. Jahrhundert vor Christus fanden Archäologen im Tempel des Pharaos Amun-Re. Elf Jahrhunderte später hatte das antike Uhrmacherhandwerk schon große Fortschritte gemacht: Ctesibius, ein Tüftler in Alexandria, ersann ein Chrono- meter, in welchem der Wasserfluß allerlei Glocken, bewegliche Puppen und singende Tonvögel antrieb – gleichsam die erste Kuckucksuhr der Menschheit. Aber erst mechanische Uhren, die im 12. Jahrhundert nach Christus in den eu- ropäischen Klöstern auftauchten, verhalfen

M. ZUCHT / DER SPIEGEL der Zeitmessung zum Durchbruch. Etwa Kosmologe Hawking: Im Höllenfeuer des Urknalls wurde die Zeit geboren 150 Jahre danach begann Papst Johannes XXII. zu ahnen, in welchem Maße der Takt zu überholen oder in ihm rückwärts zu rei- Keine Errungenschaft hat die Phantasie der Chronometer das Leben der Menschen sen. Für durchaus denkbar halten es nam- der Science-fiction-Autoren derart beflü- verändern würde. Er sprach den Bann aus hafte Astrophysiker, daß sich kosmische gelt wie diese Maschine, ein Gerät, das H. über alle, die sich „mit der Ermittlung von Pfade pflastern ließen, auf denen künftige G. Wells im Jahr 1895 in die Literatur ein- Zeiteinheiten“ beschäftigen. Generationen in ihre Vergangenheit und in führte. In dem berühmten Roman des Johannes hatte erkannt, daß Herrschaft die Zukunft wandeln werden. Engländers unternimmt ein namenloser über die Zeit Herrschaft über Menschen Zwar geben die ernstzunehmenden Ver- künder solcher Visionen zu, noch habe nie- Einstein räumte auf mit dem Glauben an eine kosmische Hauptuhr mand die angeblichen Überhol- und Rück- wärtsspuren im Universum angetroffen; Tourist einen Ausflug in das Jahr 802701, bedeutet – eine Einsicht, die Revolutionä- erst recht stehe deren technische Erzeu- berichtet nach seiner Rückkehr seinen al- re aller Couleur fortan auszunutzen ver- gung im Moment noch nicht in Aussicht. ten Freunden von kommenden Zeiten – suchten. In der französischen Revolution Dennoch sind solche Denkmodelle dazu und bleibt bei einer zweiten Reise in ferne hofften die Jakobiner, ihr Kalender mit ei- angetan, alle Illusionen von der Unverän- Epochen auf immer verschollen. ner Zehn-Tage-Woche könnte den Beginn derlichkeit der Zeit zu erschüttern, die vor- Das Film-Epos „2001“, ebenfalls ein einer neuen Zeit markieren und das Chri- dem heiligster Glaubenssatz der Wissen- Höhepunkt seines Genres, verlegt die Zeit- stentum endgültig aus den Köpfen des schaft waren. „Die Physiker“, kommen- reise dagegen ins Innere einer Person: Der Volkes radieren. Und als die Bolschewiken tierte das Wissenschaftsblatt „New Scien- Held Bowman begegnet bei seiner Welt- im Oktober 1917 im heutigen Sankt Pe- tist“, „beginnen sich daran zu gewöhnen, raum Odyssee einem schwarzen Stein, der tersburg die Macht übernahmen, schafften daß es Zeitmaschinen doch geben könnte.“ ihn in seine eigene Vergangenheit zurück- sie alsbald die julianische Zeitrechnung des versetzt. Zarenreichs ab und installierten den gre- Mit solchen Erzählungen aus der Zu- gorianischen Kalender. kunft haben die Science-fiction-Poeten nur Die nachhaltigste Umwälzung der Neu- eine Vorstellungswelt wiederaufgenom- zeit, die industrielle Revolution, wäre ohne men, die in alten Kulturen überall auf der einen technischen Durchbruch bei der Welt lebendig war. In ihrem Drang, dem Zeitmessung undenkbar gewesen: Nicht Raumschiffzeit: Sog der Geschichte zu entfliehen, haben Dampfmaschinen, sondern Uhren in der 5. Januar 2200 sich die Menschen ein Ideenreich geschaf- Tasche jedes Arbeiters waren „die Schlüs- fen, welches die Allmacht der Zeit wenig- selmaschinen für das Industriezeitalter“, stens in der Phantasie aufhebt. schreibt der amerikanische Sozialforscher So entstanden die Mythen der ewigen Lewis Mumford. Erst sie erlaubten es, die Wiederkehr – und mit ihnen Vorstellun- Menschenscharen in den immer größeren gen, denen etwa die Hindus noch heute Fabriken der Gründerzeit zu koordinieren;

der spiegel 1/1998 95 ohne die Uhr am Fabriktor hätten die Ge- burtsstätten des Massenwohlstandes, die Fließbänder, nie funktioniert. Als die ersten Bänder 1910 in den Schlachthöfen von anliefen, waren die Menschen bereits an jenen Minutentakt gewöhnt, nach dem die industrialisierte Erde tickt. Denn Eisenbahn, Seefahrt und Telegraph hatten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Feinabstimmung der Zeit erfordert, schon 1905 sandten Küstenfunk- stellen die ersten Zeitzeichen in den Äther. Und während Satellitenhandys, Hochge- schwindigkeitszüge und Computernetze in- zwischen den Glauben nähren, der Planet sei zu einem globalen Dorf zusammenge- schmolzen, scheint die ständige Beschleu- nigung des Lebens die Gewichte der Welt- koordinaten zu verschieben: Die Zeit ent- machtet den Raum. Nicht mehr Entfernun- gen, argumentiert etwa der Philosoph Paul Virilio, entscheiden über Wohl und Wehe ei- nes Vorhabens. Die Schicksalsdimension der Geschichte sei nunmehr die Zeit, die zwischen Geschehnissen verrinnt. Solche Bemerkungen gründen sich auf den populären Glauben an eine Zeit, die ungerührt vom Weltenlauf vor sich hin strömt oder rast. Es ist eine Vor- stellung, welche die moderne Physik als Schichtwechsel in Singer-Nähmaschinenfabrik (um 1900): Ohne die Uhr am Fabriktor hätten Irrtum entlarvt hat, obwohl sie ihr selbst jahrhundertelang aufgesessen war. Die Masse schwerer Körper zum Beispiel Nimtz, versucht, solchen Häresien am Idol „Gleichförmig und ohne Beziehung auf ir- verlangsame den Zeitfluß und verbeule der modernen Physik den Boden zu be- gendeinen äußeren Gegenstand“, hatte den umgebenden Raum; ähnliches ge- reiten. Mit simplen Experimenten glaubt er Isaac Newton im Jahr 1687 geschrieben, schehe in einem Raumschiff, das sehr beweisen zu können, daß sich die Lichtge- fließe die „absolute, wahre und mathema- schnell fliegt. schwindigkeit durchaus überschreiten läßt: tische Zeit“. Nur eine einzige Größe im Kosmos er- Nimtz vollführt in seinem Labor Wettren- Albert Einstein war es, der aufräumte klärte Einstein für unantastbar: die Licht- nen zwischen einem gewöhnlichen Licht- mit dem Glauben, irgendwo müsse es ge- geschwindigkeit. Sie sei das letztgültige strahl und Mikrowellen, die er durch ein wissermaßen eine Hauptuhr geben, die den Tempolimit – schneller könnten sich weder Hindernis, einen engen Metall-Hohlleiter, Herzschlag des Kosmos angibt. Er hob Zeit Dinge bewegen noch Strahlung oder Si- funkt (siehe Grafik Seite 100). und Raum vom Sockel der Absolutheit und gnale ausbreiten. Um zu zeigen, daß sich auch sinnvolle preßte sie in sein Lehrgebäude der Allge- Astronomische Messungen bestätigten Signale auf diese Weise übertragen lassen, meinen Relativitätstheorie, das sich bis die Relativitätstheorie. Und doch keimen prägt Nimtz den Mikrowellen wie bei einer heute aller Anschauung sperrt: Die Zeit seit ein paar Jahren wieder Zweifel daran, Radioübertragung die Klänge von Mozart- bilde mit dem Raum eine untrennbare Ein- daß Einsteins Ideen allgültig seien. Sinfonien auf. Das Ergebnis: Die Musik, heit, die Raumzeit; und beide, Zeit und Ein Kölner Phy- die per Mikrowelle durch das Nadelöhr des Raum, könnten sich strecken und stauchen. sikprofessor, Günter Hohlleiters muß, überholt das Licht, das

Von der Sonnenuhr zum globalen Gleichtakt Chronik der Zeitmessung

12. Jahrhundert Mechanische Uhren erlauben die Feineinteilung des Tages, zuerst in den Klöstern: Mönche richten ihre Gebete nach dem Stundenschlag. 15. Jahrhundert Taschenuhren machen die Griechische Sonnenuhr um 300 v. Chr. Ägyptische Wasseruhr um 100 v. Chr. Zeitmessung 14. Jahrhundert v. Chr. allgegenwärtig – Die Uhren der Antike machen das Verrinnen der Zeit und mit immer am Stand der Sonne oder am sinkenden Wasserspiegel besserer Mechanik minutengenau. in einem Tongefäß sichtbar: Erstmals erscheint Zeit als Glockenturm in Vaison-la-Romaine, „Nürnberger Ei“, objektive, meßbare Größe. Frankreich, aus dem 14. Jahrhundert Taschenuhr um 1560

96 der spiegel 1/1998 Titel Die Tragweite der Relativitätstheorie sei Solches Wissen – und Erstaunen – dar- noch gar nicht ausgelotet, denn selbst Ein- über, in welchem Maß der Zeitlauf selbst stein sei gefangen gewesen in den Irrtü- nur eine Folge der kosmischen Ereignisse mern des vergangenen Jahrhunderts. So ist, läßt die phantastische Vermutung nicht habe er die entscheidende Frage gar nicht mehr so unplausibel erscheinen, auch der erst formuliert: Wie entstand die Zeit? Mensch könne die Zeit manipulieren. Die Tatsächlich besaß erst der Engländer Zeitreise, die größenwahnsinnigste aller Stephen Hawking die Kühnheit, Zeit und menschlichen Machtphantasien, ist in den Schöpfung zu einem Ganzen zu ver- Bereich des Denkbaren gerückt. schmelzen – und sie alsgleich zu ver- Kip Thorne heißt der Mann, der diese markten. Kopfgeburt zum Gegenstand ernsthafter Der Kosmologe und Bestsellerautor, von Wissenschaft erhoben hat. Dabei tut Astro- seinen Kollegen als „König der vierdimen- physiker Thorne, der zurückgezogen am sionalen Raumzeit“ gerühmt, ging mit California Institute of Technology forscht scharfer Logik ans Werk: Wenn Zeit, Raum und sich mit der Vorhersage von Schwer-

Die Raumzeit – buckelig wie ein deutsches Mittelgebirge und Materie so innig miteinander verwo- kraftwellen einen Namen gemacht hat, al- ben sind, wie Einstein behauptet, dann sei les, um Aufsehen seiner Theorien zu ver- es sinnlos, sich einen Zeitfluß dort vorzu- meiden. Seine Veröffentlichungen in phy- stellen, wo noch keine Materie war. Es kön- sikalischen Fachblättern überschrieb er mit ne also nur so gewesen sein: Mit der kos- bewußt unverständlichen Titeln, damit die mischen Materie wurde im Höllenfeuer des Öffentlichkeit nicht auf den wahren Ge- Urknalls, bei mehr als 10 000 Billionen halt seiner Arbeit aufmerksam würde. Grad, die Zeit geboren. Thornes Forschungen begannen, als im Was war vorher? Sinnlose Grübelei, er- Jahr 1985 der ihm befreundete Autor Carl klärt der gelähmte Hawking, der sich nur Sagan anfragte, ob sich überlichtschnelle

MARY EVANS PICTURE LIBRARY EVANS MARY mittels eines Sprachcomputers verständlich Weltraumreisen, die nach der Relativitäts- die Fließbänder nie funktioniert machen kann. „Genausogut kann man nach theorie scheinbar verboten sind, nicht doch den Ländern nördlich des Nordpols fragen.“ machen ließen. Er, Sagan, brauche so etwas sich ungehindert ausbreiten konnte, um ei- Die Geburt der Zeit vor mindestens 15 für den Plot eines Science-fiction-Romans. nige Milliardstel Sekunden. „Komischer- Milliarden Jahren hat ihre unauslöschli- Thorne löste ein paar Einsteinsche Glei- weise“, sagt Nimtz, „ist der Hürdenläufer chen Spuren hinterlassen. Bis heute wet- chungen und fand unverhofft galaktische schneller als der Sprinter.“ terleuchtet im Weltall eine Hintergrund- Schleichwege, auf denen Überlichtge- Damit hat Nimtz eine subtile Debatte strahlung, die wie ein Echo des Urknalls schwindigkeit gar nicht nötig wäre, um die entfacht. Denn einerseits sind sich die Wis- von den ersten drei Minuten kündet. Zeit zu überholen. Für diese Gebilde ver- senschaftler einig, daß Einsteins Formel- Aus leichten Kräuselungen dieser elek- wendete Thorne einen griffigen Namen: werk die Natur im allgemeinen zutreffend tromagnetischen Wellen, 1992 von dem kosmische Wurmlöcher. beschreibt. Andererseits geben auch Forschungssatelliten „Cobe“ aufgenom- Ein Wurmloch ist so etwas wie ein Nimtz’ Gegner zu, daß der Kölner Profes- men, lasen Kosmologen eine glanzvolle Be- Schwarzes Loch mit Hinterausgang – und sor richtig gemessen hat. Doch darüber, ob stätigung der Theorien von der Urknallge- damit die wohl sonderbarste Ausgeburt der seine Ergebnisse wirklich als Phänomene burt der Zeit. Eine Nachfolgemission, ge- Relativitätstheorie. Zwar zweifelt niemand jenseits der Relativitätstheorie zu deuten plant für das Jahr 2005, soll diesen Teil der mehr daran, daß es Schwarze Löcher, nach sind, scheiden sich die Geister. Schöpfungsgeschichte mit neuen Details dem Astrophysiker John Taylor „die un- „Einsteins Revolution ist unvollendet“, anreichern; manche Forscher hoffen sogar heimlichsten Objekte, die der Mensch bemerkt der Astrophysiker Paul Davies. zu erfahren, wie sich der Urknall allmäh- kennt“, wirklich gibt – die Messungen der lich anbahnte. Röntgensatelliten belegen es. Unstrittig ist

1844 Die Längengrade mit Nullpunkt Greenwich werden Bezugssystem für den Gang der Uhren weltweit: Die Erde wird auf Gleichtakt geeicht.

Atomuhr PTB in Braunschweig Mechanische Stempeluhr 1949 Die Atomuhr macht die Zeit auf 19. Jahrhundert milliardstel Sekunden genau Im Zeitalter der Industrialisierung wachen meßbar. Unterdessen hat Einsteins Stempeluhren über die Arbeitermassen in Relativitätstheorie die Vorstellung einer objektiven Zeit widerlegt. den Fabriken: Die Zeit wird zum Maß für Royal Observatory auf dem Nullmeridian geleistete Arbeit. in Greenwich bei London

der spiegel 1/1998 97 Titel ebenfalls, daß in Schwarzen Löchern die Die noch nicht Geborenen würden Immanuel Kant hat die Zusammenhän- Zeit stillsteht, weil ihre Masse so extrem stumm unter den Heutigen wandeln – es ge, die die Physiker jetzt aufdecken, schon groß ist.Aber das Wesen dieser Toteninseln wäre ein Besuch staunender Geisterwesen, 1770 geahnt. Die Zeit sei „nichts Objekti- im All besteht gerade darin, daß sie nichts der an Szenen erinnert, wie sie sich der ves und Reales“, schrieb der Königsberger mehr von dem hergeben, was sie einmal französische Schriftsteller Jean-Paul Sartre Philosoph, sondern die „Form des inneren verschlangen. ausmalte: In seinem Film „Das Spiel ist aus“ Sinnes“ – eine Achse der Anschauung also, Wurmlöcher hingegen, das legen Thornes mischen sich die Toten unter die Lebenden, auf welcher der Mensch seine Erfahrun- Berechnungen nahe, sollen so transparent ohne daß diese es wahrnehmen. Machtlos gen ordne. Die Zeit entstehe im Kopf. sein, daß man hindurchgucken kann – und stolpern Zeitgenossen Napoleons durch das Wie dies geschieht, darüber haben Bio- daß sie den Zeitreisenden, der sich ihnen Paris des 20. Jahrhunderts, von den Leben- logen neuerdings eine Fülle von Erkennt- anvertraut hat, am anderen Ende ihres den gleichsam durch eine unsichtbare Wand nissen zutage gefördert; das amerikani- Schlundes bereitwillig ausspucken. getrennt, die ihrem Tun alle Wirkung nimmt. sche Fachblatt „Science“ feierte die Ent- Denn die kosmische Raumzeit ist bucke- Mit seinen Rechnungen hat Novikov ei- schlüsselung der körpereigenen Zeitgeber lig wie ein deutsches Mittelgebirge; ein nen der stärksten Einwände gegen Ausflü- als einen der „großen wissenschaftlichen Wurmloch ist eine Art Tunnel darin. ge in andere Epochen aus dem Weg Durchbrüche“. Genmanipulationen, Hirn- Während Materie und Menschheit heute geräumt: Indem der Exilrusse zeigte, daß durchleuchtungen und Ableitungen von noch den mühevollen Weg über die Erhe- auch eine Zeitmaschine den Kanon von Nervenströmen verschafften den Forschern bungen nehmen müssen, könnten perfek- Ursache und Wirkung nicht durcheinan- Zugang zu den inneren Taktgebern des Le- tere Zivilisationen einfach untendurch- derbrächte, lieferte er das letzte Argument bens. sausen – und unbehelligt vom gewöhnlichen in einer Gedankenkette, welche die Sicher ist nun, daß biologische Stun- Gang der Dinge an ganz anderen Punkten menschliche Vorstellung vom Wesen der dengläser existieren und daß sie nicht nur des Raum-Zeit-Kontinuums wieder auftau- Zeit von Grund auf verändert hat. das Erleben der Zeit steuern, sondern fast chen (siehe Grafik Seite 94). Problemlos alle Regungen zwischen Geburt und Tod. könnte sich dann ein künftiger Erdenbe- Nach Ansicht vieler Hirnforscher sind man- wohner etwa in seine Jugendzeit versetzen. che der pulsierenden Nervenzentren im Nicht einmal Wurmloch-Forscher Thorne Kopf möglicherweise sogar der Schlüssel jedoch sieht die reale Zeitmaschine auch zum Verständnis des Bewußtseins. nur im entferntesten am Horizont herauf- Solche Einschätzung kommt einem Pa- dämmern. Auch ihm ist unklar, wo die ge- radigmenwechsel der Biologie gleich. Denn waltigen Mengen „exotischer Materie“ zu die Forschergemeinde, fest im Glauben an besorgen wären, die allein die Raumzeit eine äußere, objektive Zeit, belächelte jene derart verbeulen könnten, daß Wurmlöcher wenigen Kollegen, die nach inneren Uh- darin wüchsen. ren suchten, jahrzehntelang als hoffnungs- Trotzdem zeigt die Forschergemeinde los verblendete Esoteriker. alle Zeichen der Verunsicherung – wie Dabei gab es seit langem Hinweise auf stets, wenn ein Weltbild ins Wanken gerät. biologische Zeitgeber bei Pflanzen, Tieren

Heftig streiten Physiker und Philosophen M. H. SIMON und Menschen. Schon 1729 berichtete der über die Schwierigkeiten, welche sich be- Chronobiologe Block Astronom Jean-Jacques d’Ortous de Mai- reits aus der Denkbarkeit einer Zeitma- Stoppuhr zwischen den Ohren ran von einer seltsamen Beobachtung bei schine ergeben. Auf dem Spiel steht das gesamte kosmi- sche Getriebe von Ursache und Wirkung, denn eine funktionierende Zeitmaschine könnte paradoxe Folgen haben. Theore- tisch denkbar ist nun,was es bisher nur in Science-fiction Filmen gab: die seelen- kranke Zeitreisende, die sich dermaßen in das Jugendbild ihres Vaters verliebt, daß sie in die Vergangenheit fährt und eifer- suchtstrunken ihre Mutter noch vor deren erstem Geschlechtsakt erschießt. Keineswegs läßt sich die Aussicht auf solche Elektra-Raserei mit Stephen Haw- kings populärem Einwand abtun, eine Zeit- maschine könne es nicht geben, denn sonst wären die Heutigen längst von Besuchern aus der Zukunft überrannt. Zumindest dar- über nämlich sind sich die Forscher einig: Selbst die beste Zeitmaschine erlaubte Rückwärtsreisen nur bis zu jenem Tag, an dem sie erbaut wurde. Igor Novikov, von Moskau nach Kopen- hagen emigrierter Physiker, hat weiter ge- dacht. Ihm gelang 1996 ein mathematischer Nachweis, daß es grundsätzlich unmöglich ist, per Zeitreise die Vergangenheit zu än- dern.Allenfalls als stille Beobachter könn-

ten die Ankömmlinge aus fernen Epochen / THE SCRIPPS RESEARCH INSTITUTE D. PLAUTZ UND S. A. KAY J. auftreten. Fruchtfliege mit leuchtenden Uhrwerk-Genen: Morgens erwachen „per“ und „tim“

98 der spiegel 1/1998 seinen Spaziergängen in den Pariser Bota- benstempo und Lebensspanne der Tiere π Ein Hirnareal zwischen den Ohren ar- nischen Gärten. Ihm war aufgefallen, daß auf ihre Größe, so stelle sich heraus, daß beitet wie eine natürliche Eieruhr, mit Mimosen ihre Blätter exakt im 24-Stun- die Kreaturen nahezu nach einem Eben- welcher das Gehirn Sekunden- und Mi- den-Rhythmus auf- und zuklappen. Eine maß existierten: Je gewaltiger ein Tier, um nutenspannen mißt. Wirkung des Sonnenlichts? Mairan setzte so langsamer verrinnt seine Zeit. Auf dem Campus einer Universität im die Sträucher in einen dunklen Raum – Ethnologen entdeckten eine solche Zeit- amerikanischen Südstaat Virginia laufen auch dort vollführten die Mimosen den Relativität auch beim Menschen: Bei Ver- die Fäden all jener Forscher zusammen, seltsamen Tanz ihrer Fiedern. gleichsuntersuchungen zeigte sich, wie we- die auf der Suche nach der Körperzeit Alsbald soll sich der Naturforscher Carl nig die äußerlich ablaufende Zeit für das sind. Von dort aus dirigiert der Chrono- von Linné, der ähnliches von anderen Ge- Lebenstempo bedeutet. Bewohner von biologe Gene Block das Clock Genome wächsen wußte, eine Blumen-Uhr in den Millionenstädten wie Tokio oder München Project. Ausgestattet mit einem Millionen- Garten gepflanzt haben. Zwölf verschie- dene Blüten zeigten mit ihrem Öffnen und Hirnexperimente zeigen: Das Ich lebt niemals im Jetzt Schließen die Zeit angeblich auf eine hal- be Stunde genau an. bewegen sich, reden und reagieren im etat, soll das Programm aufdecken, wie das Auch im Tierreich gibt es Anzeichen Durchschnitt mehr als doppelt so schnell Erbgut den Rhythmus aller Kreaturen be- dafür, daß jede Kreatur, von einer inneren wie griechische Bauern. stimmt. Uhr gesteuert, nach ihrem eigenen Zeit- Doch erst in den letzten Jahren ent- Nicht einmal stecknadelgroß ist der Ner- maß lebt: Die Maus huscht dahin, der Löwe deckten Gehirnforscher und Molekular- venknoten, den Block aus dem Großhirn- schreitet gemessen, das Nilpferd watet wie biologen schrittweise Organe, die tatsäch- boden eines Hamsters herauspräpariert in Zeitlupe. lich steuern, in welchem Tempo die innere hat. Tagelang liegt das Gebilde, von einer Derart unterschiedliche Geschwindig- Zeit verrinnt. Zwei Zentren im Kopf schla- Nährlösung umströmt, in völliger Dunkel- keiten, so schreibt der Biologe Stephen Jay gen demnach den Takt des Lebens: heit. Und doch sendet es elektrische Strö- Gould, verblüffen aber nur, wenn man sie π Ein Knoten von Nervenzellen hinter me durch haarfeine Elektroden, die Block von außen mißt, an der Fiktion einer ab- dem Auge dient als Steuerzentrale für in die weiche Gehirnmasse gebohrt hat.

JAN THORBECKE VERLAG JAN soluten Zeit. Beziehe man dagegen Le- den Tagesrhythmus. Wie Ebbe und Flut schwellen die winzigen Impulse an und ab – genau im Rhythmus 1 Blumenuhr nach Linné von 24 /2 Stunden. Zwölf verschiedene „Es ist ein autonomes Hirnzentrum, Blüten zeigten die Zeit das den Tagesrhythmus steuert“, erklärt auf eine Block. Offenbar dient das Organ, Supra- halbe Stunde ge- chiasmatischer Nukleus genannt, als kör- nau an pereigener Wecker: Am frühen Morgen, noch während des Schlafes, facht er die Körpertemperatur an und stimuliert die Hormone. Eine Nervenleitung zur Netz- haut synchronisiert die Bio-Uhr mit dem Sonnenaufgang. Am stärksten spricht das System auf das schwache Licht der Däm- merung an. Dieser natürliche Zeitgeber arbeitet bis auf ein Prozent genau: Während einer Nacht beträgt die Gangabweichung we- niger als fünf Minuten. So erklärt es sich, daß viele Menschen gerade auf- wachen, bevor ihr Wecker klingelt. Mit Luciferin, einem natürlichen Leuchtstoff, wollen Blocks Kollegen herausfinden, wie die Körperuhr funktioniert. Sie haben ein Gen, das Luciferin aktiviert, aus Glühwürm- chen ausgebaut, in Fruchtfliegen- Embryos eingeschleust und dort an die Uhrwerk-Gene „per“ und „tim“ geheftet. In den umgebauten Fliegen leuchten „per“ und „tim“ wie Si- gnallämpchen auf, wenn sie aktiv sind und das zelluläre Stundenglas in Gang setzen. Tagsüber produzieren sie zwei Proteine, die sich in der Zelle ansammeln und bei schwindendem Ta- geslicht die Aktivität von „per“ und „tim“ hemmen. Nachts baut die Zelle die Proteine ab; morgens kommen „per“ und „tim“ wieder in Gang – der Kreislauf be- ginnt von vorne. Doch nicht nur im Hirn der „Leucht- fliegen“ glitzerten die Zeitgene. Sie fun- 99 Titel Schneller als das Licht? nen zu experimentieren. Computertomo- Das Radio-Experiment des Kölner Physikers Günter Nimtz graphien des Gehirns sollen den Gang der Uhr im Kopf aufzeichnen und detailliert Wer überlichtschnell reist, kommt in der Zukunft Mikrowellen, die Musik übertragen, gleichzeitig zeigen, wozu sie dient. an. An diesem Zusammenhang von Zeit und auf zwei verschiedenen Pfaden. Gemessen wird Sicher ist jetzt schon: Wie kaum ein an- Licht, von Einstein entdeckt, entzündet sich der die Zeit bis zum Eintreffen der Wellen bei den deres Organ scheint das Gehirn auf präzi- Streit um den Kölner Versuch: Ein Sender funkt Empfängern. ses Timing angewiesen. Erst durch eine mil- Den ersten Empfänger erreichen die Signale auf direktem Weg. lisekundengenaue Zeitsteuerung kann das Sie legen die Strecke mit der üblichen Lichtgeschwindigkeit zurück Großhirn aus dem ständigen Gewitter von und kommen unverzerrt an. Nervenimpulsen im Kopf Bilder, Gedan- ken und Erinnerungen zusammenfügen. erster Empfänger Das geschehe in regelmäßigen Rhyth- men, die wie Buschtrommellaute durch das Sender Bewußtsein donnern, glaubt der Münchner Neuropsychologe Ernst Pöppel. Die Wahr- nehmung der fließenden Zeit sei eine Illu- sion. Denn von Trommelschlag zu Trom- melschlag zerhacke das Gehirn die Zeit in zweiter Empfänger Häppchen von dreißigtausendstel Sekun- den Dauer. Auf dem Weg zum zweiten Empfänger durchlaufen die Signale ein enges „Das Jetzt ist kein Punkt, sondern eine Metallrohr. Durch dieses Hindernis treffen die Wellen verzerrt ein. Der Wel- lengipfel erreicht das Ziel ein paar milliardstel Sekunden zu früh. Laut Nimtz bedeutet Ausdehnung“, behauptet Pöppel. Er beruft diese Versetzung, daß das Signal überlichtschnell gelaufen ist. Viele Experten bestreiten sich auf Experimente, in denen er Ver- dies: Entscheidend sei nicht die Fortbewegung des Gipfels, sondern die des Wellen- suchspersonen Klicklaute und Lichtblitze anfangs – und dieser läuft mit der üblichen Lichtgeschwindigkeit. vorspielen ließ.War der Abstand zwischen zwei Reizen kürzer als dreißigtausendstel Sekunden, konnten die Versuchspersonen kelten auch in den Fühlern und sogar im Um diese Vermutung zu beweisen, ope- nicht mehr erkennen, welcher der beiden Darm. Sitzen dort Nebenuhren? rierten US-Biologen einmal den Behälter, Impulse zuerst kam. „Überall finden wir Rhythmen“, wun- ein andermal die Nervenleitung aus den Dieses Unvermögen, meint Pöppel, sei in dert sich Block. „Aber warum?“ Sind die Gehirnen von Ratten heraus. In beiden Fäl- Wahrheit ein genialer Datenverarbei- versprengten Oszillatoren ein längst über- len verloren die Tiere die Fähigkeit, Zeit- tungstrick: So überwinde das Gehirn die flüssig gewordenes Relikt der Evolution – abstände zu unterscheiden. Schwierigkeit, Eindrücke zu verbinden, die wie der menschliche Blinddarm? Stammen Für Ratten hingegen, die eine Überdosis zwar zusammengehören, aber etwas ver- sie aus einer Zeit, als das Gehirn noch nicht Dopamin bekommen hatten, begann die setzt voneinander im Kopf eintreffen – erfunden war und jede Zelle für ihr Ruhen Lebenszeit zu rasen: Sie flitzten wie über- zum Beispiel die Worte und den Anblick ei- und Wachen selbst sorgen mußte? Dafür dreht durch ihre Käfige, reagierten über- nes Gegenübers. spricht, daß derartige Zeitgeber selbst in schnell auf Versuchsaufgaben und paarten Signale werden laut Pöppel in einem Pilzen und Algen gefunden wurden. sich unablässig. „Gegenwartsfenster“, einer 30-Millisekun- Das zweite innere Chronometer hinge- Ein Pariser Psychiater, Chara Malapani, den-Zeitinsel zwischen Vergangenheit und gen, die Stoppuhr zwischen den Ohren, ist glaubt mit Dopamin auch das menschliche Zukunft, gesammelt, bis das Gehirn sie nur in höheren Tieren eingebaut. Ein Neu- Zeiterleben verzerren zu können. Parkin- weiterverarbeitet – der Bewußtseinsstrom rotransmitter, Dopamin, erzeugt in diesem son-Patienten, deren Hirne diesen Stoff bestehe wie ein Kinofilm aus dem Vor- Kurzzeit-Timer offenbar das Gefühl für das nicht mehr geregelt produzieren, können beiflimmern von Einzelbildern. Fließen der Zeit. Wie in einer Sanduhr Zeitintervalle weder unterscheiden noch Tatsächlich haben Neurowissenschaftler tropft aus einer Hirnstruktur Dopamin in erinnern. Sie lernten beides wieder, als Ma- in Hirnströmen ein Geknatter mit einen Zell-Behälter; über eine Nervenlei- lapani ihnen dopaminsteigernde Drogen gerade jener Frequenz ge- tung zum Großhirn wird der jeweilige Pe- gab. Nun beginnen Malapanis Kolle- messen, wie sie Pöppel gel abgelesen. gen, mit gesunden Versuchsperso- für seine Gegenwarts-

An der Uhr gedreht 1. Signale breiten Das Bewußtsein sich im Körper nur verschiebt die Zeit mit Verzögerung aus: Die Meldung von einem Stich in den Finger erreicht ver- spätet das Gehirn.

2. Damit jedoch die 3. Die Illusion wird deutlich, wenn die Schmerzempfindung betreffenden Hirnzentren mit einer mit dem früher ankom- Sonde direkt gereizt werden. Auch menden optischen Reiz dann kalkuliert das Bewußtsein die vom Stich zusammen- übliche Verzögerung ein – es ordnet trifft, datiert das Be- den Schmerz einem Zeitpunkt zu, wußtsein die Schmerz- an dem die Sonde die Nerven noch empfindung zurück. gar nicht berührt hatte.

100 der spiegel 1/1998 JAUCH UND SCHEIKOWSKI JAUCH Science-fiction-Film „2001 – Odyssee im Weltraum“: Auf dem Spiel steht das gesamte kosmische Getriebe von Ursache und Wirkung

fenster annimmt. Geradezu als einen Ge- Bewußtsein. Um dem Menschen jedoch die Innenwelt einhergeht mit dem, was die neralbaß des Geistes betrachten manche Verwirrung zu ersparen, daß er der Wirk- Armbanduhr zeigt. Forscher diese Impulse, seit sie nicht nur an lichkeit hinterherlaufe, datiere das Hirn die Libets Einsichten – und die Experimen- Menschen festgestellt wurden, sondern Ereignisse zurück. te jener Biologen, die nach der inneren auch in den Köpfen von Affen, Katzen und Indem Libet das Großhirn direkt anreg- Uhr suchen – sind die Wegpfähle, an denen Fliegen. te, hatte er die Langsamkeit des Geistes sich das menschliche Verständnis der Zeit Trotzdem sind die Zeitläufe im Gehirn umgangen. Dennoch kalkulierten die Ge- künftig orientieren wird. Mit ihnen wird mit Sicherheit weit komplizierter, als es hirne der Probanden die normale Verspä- sich die Philosophie des Bewußtseins aus- die unterhaltsamen – und eher schlichten tung ein und gaben an, die Hand sei eine einandersetzen müssen; und das mensch- – Spekulationen des Psychologen Pöppel halbe Sekunde früher berührt worden. liche Selbstverständnis wird an der Essenz nahelegen. In welchem Ausmaß das Ge- Demselben verwirrenden Illusionsspiel solcher Laborberichte kaum vorbeikom- hirn die Zeit manipuliert, bewies der US- begegnete Libet, als er sich auf die Suche men. Neurophysiologe Benjamin Libet mit Ex- nach dem Ursprung des Willens machte. Er So treiben die Beobachtung von Fliegen mit leuchtenden Uhrgenen und die Kur- Sinnlos ist es, über Zeit jenseits des Lebens auch nur zu reden ven menschlicher Hirnströme auf den La- borbildschirmen die Abkehr vom Glauben perimenten, die ebenso spektakulär sind forderte die Patienten auf, die Hand zu he- an die allmächtige Zeit voran. wie der Schluß, den er daraus zog: „Das ben; dabei sollten sie die Uhr im Blick be- Denn paßgenau decken sich die Nach- Ich lebt niemals im Jetzt.“ halten und hinterher sagen, wann sie ihren richten von den Seziertischen der Hirnfor- Libet hatte ausgenutzt, daß es möglich Entschluß, die Hand zu heben, gefaßt hat- scher mit dem, was die Kosmologen längst ist, dem Patienten vor einer Hirnoperation ten. Währenddessen zeichnete Libet die ahnten: Nichtig sind alle Fragen nach dem bei vollem Bewußtsein die Schädeldecke Hirnströme auf. Wesen der Zeit. Sinnlos ist es, über eine zu öffnen und auf diese Weise dem Gehirn Wieder registrierte er eine Verzögerung: Zeit jenseits der Dinge und damit jenseits bei der Arbeit zuzusehen. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Versuchs- des Lebens auch nur zu reden. Erst aus Er setzte seine Probanden einer Uhr ge- personen ihren Entschluß bemerkten, waren den Ereignissen erwächst die Zeit. genüber und reizte einige ihrer offenlie- ihre Neuronen längst aktiv.Mindestens eine Von der Steinzeit bis in die Gegenwart genden Nervenbahnen durch elektrische drittel Sekunde vorher zeigten die Hirn- führte der Weg – vom ersten Staunen über Impulse. Damit spiegelte er ihnen vor, et- ströme an, daß die Nervenzellen schon die den regelmäßigen Lauf der Sonne bis zur was berühre ihre Hand. Dann bat er die Pa- Befehle für die Bewegung gaben. Offenbar Eichung der Welt auf eine Einheitszeit. tienten um Auskunft, wann sie etwas ge- hatte das Gehirn eine Entscheidung getrof- 5000 Jahre brauchte die Menschheit, um spürt hatten. fen, bevor diese ins Bewußtsein gelangt war. sich an die Abstraktion einer allumfassen- Zu Libets Überraschung behaupteten Ist der menschliche Geist demnach un- den Zeit zu gewöhnen. In kaum einem die Versuchspersonen, sie hätten den Reiz rettbar verspätet, der freie Wille nur eine Jahrzehnt haben Physiker und Biologen fast eine halbe Sekunde früher wahrge- Illusion? Libet bestreitet solche defätisti- nunmehr dieses Bild von der Zeit zerstört. nommen, als er ihn ausgelöst hatte (siehe schen Schlußfolgerungen aus seinen Expe- Albert Einstein, der große Visionär der Grafik Seite 100). rimenten. „Wir haben immer noch Zeit, Physik, mag eine solche Entwicklung schon Dieses scheinbar paradoxe Phänomen die Planungen des Unbewußten vor ihrer 1955 im Sinn gehabt haben. „Die Schei- erklärte Libet als Trick des Gehirns, seine Ausführung zu stoppen.“ dung zwischen Vergangenheit, Gegenwart eigene Trägheit unbemerkt zu machen: Ein schwacher Trost – es bleibt das Er- und Zukunft“, schrieb der Nobelpreisträ- Normalerweise gelangen Nervenerregun- schrecken über das trügerische Wesen der ger damals, hat „nur die Bedeutung einer gen erst mit einiger Verspätung über das Zeit. Nicht mehr wegdeuten läßt sich die wenngleich hartnäckigen Illusion“. Kleinhirn zur Großhirnrinde und damit ins Irritation darüber, wie wenig die Zeit der Stefan Klein

der spiegel 1/1998 101 Werbeseite

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LEICHTATHLETIK Einblick ins Gruselkabinett Kaum sind Schwimmtrainer der ehemaligen DDR wegen Körperverletzung unter Anklage gestellt, müssen nun auch Leichtathletik-Betreuer um ihre Jobs fürchten. Berliner Kripo-Beamte haben erdrückendes Beweismaterial gesammelt.

n den Tagen vor Weihnachten arbeite- Zwei Betreuer werden womöglich vor ten Kripo-Beamte am Berliner Colum- Gericht zur Verantwortung gezogen, beide Ibiadamm 4 bis tief in die Nacht. Grund haben nach der Wende Karriere gemacht: der Betriebsamkeit in der Zentralen Er- Trainer Lutz Kühl, der sich heute unter an- mittlungsstelle für Regierungs- und Verei- deren um die Speerwurfmeisterin Tanja nigungskriminalität (Zerv), die auch Un- Damaske kümmert, und Sportarzt Joachim rechtstaten des DDR-Sports aufzuklären Wendler, dessen Vertrag am Berliner Olym- versucht, war einerseits das Jahresende: piastützpunkt Anfang des Jahres erneut Die Behörde befürchtet, daß nach dem 31. verlängert wurde. Dezember viele Delikte verjährt sind. Die Zerv hat ihre Ermittlungen auf wei- Auf der anderen Seite hatten die emsi- tere prominente DLV-Trainer ausgedehnt: gen Staatsdiener in den vergangenen Mo- π Maria Ritschel, Trainerin von Speerwurf- naten durch Zeugenaussagen und das Auf- Olympiasiegerin Silke Renk, wird von tauchen neuer Dokumente eine gewaltige ehemaligen Schützlingen belastet; Informationsmenge zu verarbeiten, die tie- π Werner Goldmann, Trainer des Kugel- fe Einblicke in das Gruselkabinett des stoß-Olympiasiegers Ulf Timmermann, DDR-Sports erlaubten. Ermittelt wird nun war auch für die Diskus-Weltrekordlerin unter anderem wegen Todesfällen, lebens- Irina Meszynski verantwortlich, die eine bedrohlichen Lebererkrankungen, hor- Jahresdosis von 3190 Milligramm Ana- monabhängigem Brustkrebs, Sterilisation. bolika schluckte; Nachdem vor einigen Wochen die Zerv- π Gerhard Böttcher, Trainer von Diskus- Recherchen dazu geführt hatten, daß der Olympiasiegerin Ilke Wyludda, war für Schwimm-Verband Bundestrainer wegen die hochgedopte Kugelstoßerin Helma ihrer Doping-Vergangenheit entließ, wird Knorscheid zuständig. nun vor allem der Deutsche Leichtathletik- Bei ihrer Recherche stieß die Kripo Verband (DLV) mit skrupellosen Taten jüngst auf eine unermeßliche Fundgrube: seines Personals konfrontiert. zehn Bände mit detaillierten Protokollen Die bizarrste Geschichte erzählte den aus dem Forschungsbereich einer hoch- Ermittlern der Berliner Andreas Krieger, karätigen Kommission, die direkt vom Zen- der 1986 als Heidi Krieger Europameisterin tralkomitee der SED zur Medaillenpro- geworden war. Jetzt prüft die Zerv, in- duktion eingesetzt worden war. In den Ak- wieweit die Geschlechtsumwandlung von ten fanden sich Beweise für Dopingfälle, einer muskelbepackten Werferin zu einem besonders aber auch Belege für Verant- ansehnlichen Mannsbild mit den extrem wortlichkeiten auf Verbandsebene, in For- hohen Dosen Anabolika in Zusammen- schung und Politik.

hang steht, die Krieger als Kugelstoße- / SPORTIMAGE PRESSE SPORTS Bei der Fahndung nach Leitungskräften rin beim SC Dynamo Berlin bekommen Kugelstoßerin Krieger (1984) für das Staatsdoping stießen die Ermittler hatte. „Irreversible Schäden bei Frauen“ auf das Protokoll einer Sitzung zur „The-

Doping-Geißel belastete Leichtathletik-Betreuer

Wendler Kühl Schubert (li.) DIRECT-TV; (Mi.) CAMERA 4; (re.) BONGARTS 4; (re.) (li.) DIRECT-TV; (Mi.) CAMERA

104 der spiegel 1/1998 mennomenklatur u.M./ Staatsplanthema Reiß, der heute die deutschen Ausdauer- gegen die Dopingenthüllerin Brigitte Be- 14.25“ am 6. Februar 1986: Als Verantwort- sportler berät. rendonk hatte er erklärt, „niemals Doping- licher für „bestehende Gruppen“ in die- Für den DLV ist besonders schmerzlich, Konzepte“ erstellt zu haben. Das Gericht sem Forschungsbereich taucht dort etwa daß ausgerechnet Bernd Schubert, zur hielt das für „völlig unglaubwürdig“ und Günter Baumgart auf, ein Trainingsmetho- DDR-Zeit zuständiger Trainer für den Be- verurteilte ihn wegen Abgabe einer diker, der nun sein Auskommen beim Würt- reich „Leichtathletik Sprung“, auf der Li- falschen eidesstattlichen Versicherung zu tembergischen Schwimm-Verband genießt. ste der Dopingspezialisten steht. Der lei- einer Strafe von 9000 Mark. Die Ärztin Gudrun Fröhner, die jetzt tende DLV-Trainer aus Chemnitz gilt den Wegen ähnlicher Vorwürfe, wie sie Schu- für den Deutschen Turner-Bund tätig ist, Funktionären wegen seines Organisa- bert nun gemacht werden, hatte sein Kol- muß wegen der aufgetauchten Organi- tionstalents als unverzichtbar. lege Ekkart Arbeit – zuständig für „Leicht- gramme ebenso mit einem Ermittlungs- Schon einmal war Schubert knapp ei- athletik Wurf/Stoß“ – jüngst in Australien verfahren rechnen wie Professor Manfred ner Entlassung entgangen. In einem Prozeß seinen Job als Landestrainer verloren. M. TRIPPEL / IMAGES. DE / IMAGES. M. TRIPPEL Transsexueller Krieger: „Der Muskelzuwachs hat mich unglaublich zufrieden gemacht“

Fünf Jahre lang quälte sich Heidi Krieger in diesem geschlechtsneutralen Zustand. Warum mußte ausgerechnet sie „eine Gör Die Macht der blauen Pillen sein“ und durfte nicht – so wie ihre drei Brüder – ein normales Leben führen? War- Heidi Krieger stieß die Kugel über 20 Meter um mußte sie sich ständig verteidigen, weil sie partout keine Röcke tragen wollte? weit. Doch die Dopingmittel brachten Körper und Seele Mehr als andere Transsexuelle beschäf- in Schieflage. Aus Heidi wurde Andreas. tigte sich Heidi Krieger mit der Frage nach den Ursachen. Trug wirklich nur sie selbst igentlich ist Andreas mit seinem Kör- als jede andere in ihrem Alter. Bei den Eu- Verantwortung für ihren Seelennotstand? per jetzt ganz zufrieden. Schwarze, ropameisterschaften 1986 in Stuttgart ge- War es das burschikose Leben im Sport- E„wenn auch sehr zarte Bartstoppeln“ wann sie gar die Goldmedaille. club? Oder waren es etwa die blauen Pil- schmücken Kinn und Oberlippe. Die Schul- Doch lange vor den Erfolgen waren len, von denen sie erst sehr viel später er- terpartien sind kräftig, selbst der Ober- schon die Pillen gekommen. Wie jede bes- fahren sollte, daß es Muskelmacher mit vi- körper ist passabel. Als Beweis kramt der sere Kugelstoßerin der DDR wurde Heidi rilisierender Wirkung waren? Berliner ein „richtig starkes“ Urlaubsfoto Krieger mit Anabolika vollgestopft – nur Als sie gerade 17 Jahre alt war, hatte sich hervor, das ihn ohne T-Shirt zeigt. Unter daß sie die Staatsdoper vom SC Dynamo der Experte vom DDR-Fachblatt „Der den Brustwarzen sind leicht gerötete, zehn Berlin viel früher in die Hände bekamen Leichtathlet“ noch zufrieden geäußert. Zentimeter lange Narben zu sehen. und weitaus mehr männliche Sexualhor- Heidi Krieger hatte die Kugel 16,82 Meter Nur „hier drunter“, sagt Andreas und mone in sie hineinpumpten als in den mei- weit gestoßen. Trotz ihrer Größe, notierte zieht mit seiner Hand einen Strich in Höhe sten anderen Sportclubs. der Kritiker, „erscheint sie uns als ange- des Bauchnabels, sehe er aus wie früher. Als Heidi Krieger nach fast zehn Jahren nehm proportioniertes Mädchen“. Über 30 Jahre lang war Andreas eine Hormondoping ihre Sportkarriere been- Den Medaillenplanern der DDR war das Frau, sie hieß Heidi Krieger und war an- dete, war sie weder Mann noch Frau. Sie Mädchen aus Berlin-Niederschönhausen fangs stolz auf ihre stattliche Statur. Mit fühlte sich als Mann und haßte ihren weib- früh aufgefallen: Die kräftige Heidi traf ihren mächtigen Muskeln konnte sie Freun- lichen Körper dermaßen, daß sie „am lieb- beim Völkerballspiel mit dem rechten Arm den und Verwandten imponieren; als sten mit dem Auto gegen einen Baum ge- derart scharf, daß ihr der Sportlehrer aus Leichtathletin stieß Heidi die Kugel weiter fahren wäre“. Angst um die Mitschüler befahl, mit links

der spiegel 1/1998 105 Sport zu werfen. Gerade mal 13 Jahre alt, emp- den befohlenen Zeiten zu schlucken. We- zu ihren Betreuern, die gynäkologischen fand sie es als „wahnsinnige Auszeich- der Trainer noch Ärzte klärten sie jemals Untersuchungen blieben ohne Befund, und nung“, in die Wurfklasse der Kinder- und über deren Wirkungen auf. die Menstruation kam so pünktlich und Jugendsportschule „Werner Seelenbin- Heidi Krieger konnte nun noch härter selbstverständlich wie bei Gleichaltrigen. der“, der Schmiede des Dynamo-Nach- trainieren. Der hormonell gesteuerte Mus- Nur einmal kam sie kurzzeitig ins Grü- wuchses, aufgenommen zu werden. Alle kelzuwachs, so Krieger, „hat mich un- beln: Als ihr die Ärzte auftrugen, die Anti- ihre Kumpel waren nun Sportler und die glaublich zufrieden gemacht“. Es stellten babypille einzunehmen. „Was soll icke da- Betreuer eine Art Ersatzeltern. sich internationale Erfolge ein: Sie wurde mit?“ fragte sie. Jungs waren für sie nur Und so kamen der 16jährigen Teenage- 1983 in Wien Junioren-Europameisterin. dufte Kumpel, der einzige sexuelle Kontakt rin auch keinerlei argwöhnische Gedan- Im ersten Jahr schluckte Heidi Krieger bestand in einem flüchtigen Kuß im Haus- ken, als ihr Trainer – es war in der 15. Wo- 885 Milligramm Oral Turinabol, ein Jahr flur. Sie wußte nicht, daß Kontrazeptiva che des Jahres 1982 – sie geheimnisvoll zur später waren es schon 1820, im Olympia- Bestandteil des Dopingprogramms waren. Seite nahm. Er habe hier ein „unterstüt- jahr 1984 gar 2590. Parallel verbesserten Die Mediziner fürchteten ungewollte zendes Mittel“, erklärte der väterliche Wil- sich die Leistungen. Erstmals stieß sie die Schwangerschaften und Mißgeburten, weil li Kühl, „mit dem kannst du mehr trainie- Kugel über 20 Meter; sie war in der Welt- Anabolika die sexuelle Stimulanz erhöhen ren“ – und genau darauf kam es dem ehr- spitze angelangt, „ein Klasse-Erlebnis“. und Föten schädigen können. geizigen Mädchen an. Bereitwillig steckte Um ihre Gesundheit machte sich die 1,87 Während die Berliner Trainer an ihrem es die blauen Tabletten ein, die sorgfältig in Meter große Kugelstoßerin keine Gedan- neuen Star bastelten, machten sich im fer- Silberpapier eingewickelt waren, um sie zu ken, sie hatte ein „grenzenloses Vertrauen“ nen Leipzig Experten Sorgen um die früh angefixte Heidi Krieger, deren Anabolika- konsum als „Sportler 54“ in den Akten stand. Da es keinen Sinn macht, Athleten zu dopen, deren Körper noch nicht ent- sprechend ausgebildet ist, erschien dem Trainingswissenschaftler Lothar Hinz die „vorzeitige Anwendung“ unbegründet: „Das Ausgangsleistungsniveau liegt deut- lich unter den empfohlenen Vorgabenwer- ten.“ Auch die extrem hohen Dosen der Dynamo-Sportlerinnen paßten den Leip- ziger Kollegen nicht. Eigentlich dürfte die Grenze von 1000 Milligramm Anabolika im Jahr „in keinem Anwendungsfall über- schritten werden“, schrieb Hinz in einer vertraulichen Expertise, „der härtere Kampf um die Nominierung“ dränge die Trainer aber „zu langen Einsatzzeiträumen und hohen Jahressummen“. So verloren auch die Betreuer in Berlin jeden Skrupel. 1986 war für die DDR ein

PATZER besonderes Jahr, weil die Europameister- Sportschülerin Krieger (1987) schaft im Lande des Klassenfeindes statt- fand und Ilona Slupianek, die Olympiasie- Das Hormonpräparat Testosteron gerin, ausfiel. Um für Stuttgart gerüstet zu war in der DDR ein gängiges Dopingmittel, das vor allem Werferinnen verabreicht sein, steigerten sie die Dosis bis auf 25 Mil- wurde. Manfred Höppner, als stellvertretender Leiter des Sportmedizinischen Dien- ligramm täglich. Im Kraftraum imponierte stes nicht zimperlich, wußte um „unverantwortlich“ hohe Dosierungen beim SC Heidi sogar Männern, wenn sie beim Bank- Dynamo Berlin. Seinem Stasi-Führungsoffizier offenbarte er angewidert: „Adam, drücken 150 Kilo in die Höhe wuchtete. Slupianek und Wujak waren regelrecht voll mit Testosteron.“ Höppner mahnte, „daß Einige Tage vor dem entscheidenden anabole Hormone bei zahlreichen Frauen zu irreversiblen Schäden geführt hatten“. Wettkampf setzte der Verbandsarzt noch Als Beispiele nannte er Vermännlichungserscheinungen wie Zunahme der Körper- eine „Überbrückungsspritze“ mit Testo- behaarung, Stimmveränderungen und Triebstörungen. steron ins Gesäß, die Androgene sollten In der Medizin gibt es nur eine Situation, in der die Verabreichung androgener Hor- die aufgebaute Kraft konservieren und die mone an gesunde Frauen weitgehend anerkannt ist: bei Transsexuellen, die vom Aggressivität steigern. Honeckers Doping- weiblichen in das männliche Geschlecht wechseln wollen. Alle paar Wochen wer- experten hatten wieder einmal ganze Ar- den diesen Patienten Verbindungen des männlichen Keimdrüsenhormons Testo- beit geleistet: Überraschend gewann die steron als Depotpräparat gespritzt. Damit wird das von der Natur vorgegebene Ver- 21jährige mit 21,10 Metern; sie lag vor der hältnis von weiblichen zu männlichen Hormonen manipuliert. Fortan erhält der Kör- ebenfalls hochgedopten Kollegin Ines per den Befehl zu vermännlichen. Müller aus Rostock, und sie bezwang so- Neben den äußerlich sichtbaren Veränderungen verkümmern dabei meist auch die wohl die Weltrekordlerin, die amtierende weiblichen Geschlechtsorgane. In der Regel gilt dieser mindestens einjährige Zeit- Weltmeisterin als auch die mitfavorisierte raum der Androgenisierung als Prüfungsphase, bevor die Geschlechtsorgane schließ- Münchnerin Claudia Losch. lich operativ entfernt werden. Doch so sehr ihr die Erfolge Genugtuung Die Organentnahmen bei Transsexuellen erbrachten wichtige Beweise für die Wir- schenkten, ihr Seelenleben war längst in kung von Anabolika auf ansonsten gesunde Körper. In der Fachzeitschrift „Histo- eine Schieflage geraten. Äußerlich war sie pathology“ berichteten Wissenschaftler, daß das entnommene Gewebe gravieren- eine Frau mit „stinknormalen Brüsten, je- de Schäden zeigte – etwa Wucherungen in den Eierstöcken. Zudem wurden bei weils eine gute Hand voll“. Auf der ande- Transsexuellen Zysten und Tumore in der Leber festgestellt. ren Seite fühlte sie sich dem eigenen Ge- schlecht nicht mehr zugehörig. Sie hätte

106 der spiegel 1/1998 ihre Freundin „sofort geheiratet, wenn ich Sie wirft alle Röcke und Blusen in den und Brüste werden entfernt. Aus der Nar- ein Mann gewesen wäre“. Müll, trägt nur noch weite Kleidung, damit kose erwacht Andreas Krieger. Derzeit So mühte sich Heidi Krieger, ihre frau- niemand denken könne, sie sei eine Frau. läuft der Antrag auf die Änderung des Per- lichen Reize zu verstecken. Sie schminkte Einige Male fühlt sie „sich angemacht von sonenstands. sich nie, und als vor einem Fernsehauftritt Leuten, die glauben, ich sei ein Kerl“. Sie Zehn Monate nach der Operation ge- in Stuttgart eine Maskenbildnerin mit ei- geht nicht mehr ins Schwimmbad, meidet nießt Andreas heute „das Kribbeln im nem schwarzen Kajalstift auf sie zukam, öffentliche Verkehrsmittel und schämt sich, Bauch, wenn er mit Frauen flirtet“, und fragte sie sich: „Will die mich erstechen?“ die Damentoilette aufzusuchen. die Blicke, „wenn sich die Damenwelt nach Heidi Krieger führte ein anstrengendes Eines Tages bekommt sie von ihrer Mut- mir umschaut“. Doppelleben.Als „Der Leichtathlet“ frag- ter das Doping-Enthüllungsbuch der Hei- Der Einzelhandelsverkäufer ist von sei- te, ob sie lieber Hose oder Rock trage, ant- delbergerin Brigitte Berendonk geschenkt, ner inneren Zerrissenheit geheilt. Doch er wortete sie: „80 Prozent der Frauen be- in dem sie als „Hormon-Heidi“ beschrie- weiß auch, daß er nie „ganz normal“ sein antworten Ihnen diese Frage: mit Rock. ben wird. Erst jetzt wird ihr bewußt, daß wird. Das Geschlechtsleben wird immer Dazu gehöre ich.“ In Wahrheit zwängte ihr Wunsch, ein Mann zu sein, womöglich eingeschränkt bleiben. Er kann sich zwar sie sich nur zu offiziellen Anlässen in Da- mit den blauen Pillen, den irrsinnigen aus körpereigener Haut in vier Operatio- menkleidung. Sie hatte Angst, „daß mir Mengen virilisierender Medikamente, zu- nen Penis und Hodensack annähen lassen. der Wind unter den Rock pfeift“. sammenhängt. Doch der Vorgang ist kostspielig und da- Sport wurde für Heidi immer wichtiger, Der Sport ist zu diesem Zeitpunkt für nach, weiß Andreas, „sehe ich zwar wie je- er bedeutete nicht Trainingsqual und Lei- Heidi Krieger schon ferne Vergangenheit. der andere Mann aus, habe aber nur eine

Hormonbehandelte Leichtathletinnen Mit hohen Dosen in die Weltspitze

Meszynski Slupianek Müller (li. u. re.) W. SCHULZE / SPORTIMAGE; (Mi.) BONGARTS SCHULZE / SPORTIMAGE; W. (li. u. re.) stungsdruck, sondern Befreiung: „Hier Seit 1991 hat sie keine Trainingshalle Attrappe“. Er hat Angst vor diesem letzten konnte ich kräftig sein, ohne mich recht- betreten. Ihre zwischenzeitlichen Trainer Schritt, auch weil es womöglich Kompli- fertigen zu müssen.“ Sie ahnte noch nicht, Willi Kühl und Jochen Spenke sind ge- kationen mit dem Harnleiter geben kann. daß ihr auf 103 Kilogramm hochgezüchte- storben, ihrem ersten und letzten Betreu- Andreas Krieger fühlt sich in einer Art ter Körper, dessen sich die DDR zur Pro- er Lutz Kühl hatte sie auf dessen „Schwebezustand“. Mal könnte er „kot- duktion von Medaillen bemächtigt hatte, Wunsch einen Gefälligkeits-Persilschein zen vor Ärger“ – etwa wenn er wegen sei- zur seelischen Last werden würde. ausgeschrieben. ner Vergangenheit von anonymen Anru- Zunächst machten sich infolge des har- Heidi Krieger reagiert enttäuscht über fen belästigt oder von „Stern“-Paparazzi ten und schnellen Aufbautrainings or- ihre Peiniger, die „mein Vertrauensver- „heimlich und hinterlistig wie ein Verbre- thopädische Schäden bemerkbar: Der hältnis ausgenutzt haben“, sie empfindet cher“ abgeschossen wird. Doch im näch- Rücken tat unaufhörlich weh, sie wurde an „Mitleid für Menschen, die sich haben hin- sten Augenblick fühlt er sich „himmel- der Hüfte und am Knie operiert, für Olym- reißen lassen, so etwas zu tun“. Nachdem hochjauchzend – weil ich mich jetzt nicht pische Spiele und Weltmeisterschaften ihr bei einer psychiatrischen Behandlung mehr verstecken muß“. konnte sie sich nicht qualifizieren. eine Suizidgefährdung attestiert wird, lernt Udo Ludwig Als sie 1987 nur mit einem vierten Platz Heidi Krieger 1994 einen von den Hallen-Weltmeisterschaften in In- Transsexuellen kennen, mit dianapolis zurückkam, wurde sie von Chef- dem sie in langen Gesprächen trainer Ekkart Arbeit zusammengestaucht. ihre durcheinandergewirbelte Auch mehr als fünf blaue Tabletten täglich Gefühlswelt ordnet. Sie be- brachten sie nicht mehr voran. Im Kopf ver- schließt, die ungewollt einge- festigte sich eine Blockade: In Wettkämpfen leitete Umwandlung zum erreichte sie niemals mehr die Ergebnisse, Mann zu forcieren. Ein Arzt zu denen sie in der Lage gewesen wäre. verschreibt ihr genau diese Nach der Wende versucht Heidi Krieger Art von Hormonpräparaten, einen neuen Anlauf, doch Muskeln und die sie früher im Sport be- Knochen können nicht mehr, sie trainiert kommen hat. nur noch unter Schmerzen. 1991 muß sie Anfang dieses Jahres läßt ihre Sportkarriere beenden – und verliert sich die ehemalige Europa- damit ihren letzten Halt. Die chemisch auf- meisterin Heidi Krieger in ei- getrimmten Muskeln werden zur Bela- ner vierstündigen Operation

stung, sie findet „keine Beziehung mehr endgültig „umbauen“, wie sie / IMAGES.DE M. TRIPPEL zu meinem Körper“. sagt. Gebärmutter, Eierstöcke Sportopfer Krieger: Mitleid für die Peiniger

der spiegel 1/1998 107 Sport

SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich hatte immer Angst“ Torsten May sollte die Rolle Henry Maskes als Held im Millionenspektakel Profiboxen übernehmen. Doch im Ring waren seine Selbstzweifel größer als die Schlagkraft. May beschreibt seine Existenzsorgen und den Druck durch die Veranstalter.

SPIEGEL: Herr May, gibt es etwas Schlim- SPIEGEL: War es Ihnen egal, daß der Spott May: Ich habe irgendwie am Mann gestan- meres, als einen Boxkampf durch Aufgabe nach einer freiwilligen Aufgabe womöglich den, auf einmal bewegte sich mein Mund, zu verlieren? noch ätzender ausfallen würde? und ich sagte: „Stefan, ich hör’auf.“ Es ist May: Nein. So wollte ich nie verlieren. Und May: Das ist ja das, was mich eigentlich einfach so passiert. als ich dann die Entscheidung getroffen am meisten erschreckt hat: Mir war in SPIEGEL: Wieviel bedeutet Ihnen Boxen? hatte aufzugeben und die Fäuste hochzu- diesem Kampf von einem bestimmten May: Ich mache Leistungssport, seit ich 14 nehmen, wußte ich: So, Junge, jetzt gehst Zeitpunkt an alles egal. Die Anweisun- bin. Ich war damals in der DDR auf der du zum Schafott. Jetzt wirst du in Sportschule und wollte auch unbe- der Luft zerrissen. dingt dahin. Ich hatte die Vorstel- SPIEGEL: Was muß passieren, damit lung: Du wirst mal ein großer Boxer ein Profiboxer soweit ist? werden. Aber als ich dann da war, May: Angefangen hat es damit, daß habe ich gedacht: Mein Gott.An den ich plötzlich mein eigenes Blut sah. Trainingsanforderungen hab’ ich erst Da habe ich gedacht: Jetzt geht das mal ein halbes Jahr zu knabbern ge- schon wieder los wie letztes Jahr auf habt. Wir haben mit vier Mann auf Mallorca. einem Zimmer gewohnt, und alle SPIEGEL: Da haben Sie den Weltmei- wollten dasselbe. Nach Hause ging sterschaftskampf gegen den Ameri- es nur alle drei, vier Wochen. Ande- kaner Adolpho Washington verloren re schwärmen heute noch von der und sahen anschließend so zerbeult Zeit. Für mich war es ein ganz schö- aus, daß ihr damals einjähriger Sohn ner Hieb. Da hat es Erlebnisse gege- Sie nicht wiedererkannte. ben, die bis in die heutige Zeit an- May: Der hat nur dieses Gesicht ge- gehalten haben. sehen und hat sich an meiner Frau SPIEGEL: Sie hatten schon damals festgeklammert. Der hat nicht mal Ängste? meine Stimme wiedererkannt. Da May: Ja. Ich hatte immer Angst, den habe ich mir zum erstenmal Vor- Anforderungen nicht gerecht zu würfe gemacht, daß ich es zugelas- werden, daß ich von der Schule ge- sen habe, so viele Schläge zu be- schmissen werde wegen unzurei- kommen. Ich hätte schon während chender Leistungen. Ich habe nur für dieses Kampfes sagen müssen: Geh den Sport gelebt; andere Bedürfnis- raus da. se, die man in dem Alter hat, konn- SPIEGEL: Damals haben Sie weitaus ten nicht ausgelebt werden. Es gab schlimmere Prügel bezogen als jetzt Kameraden, die sind einfach gegan- gegen Stefan Angehrn in Düsseldorf gen, weil es ihnen zuviel wurde. Ich – und dennoch nicht aufgegeben. habe versucht, mich durchzubeißen, May: Was passiert war, wurde mir aber ich war oft auch einfach nur erst im Krankenhaus klar. Da haben verzweifelt. Ich kannte ja welche, mir die Ärzte gesagt, daß ich knapp die haben sich da jahrelang ge- an einem Drama vorbeigeschlittert schunden, mußten dann gehen und sei. Ich hatte nicht nur eine schwere standen vor dem Nichts, die muß- Gehirnerschütterung, sondern auch ten sehen, wie sie klarkommen. ein Blutgerinnsel im Kopf. Da hab’ SPIEGEL: Ihr Vater hat früher auch ich mich gefragt: Was machst du hier geboxt. Wollte er, daß Sie weiter-

eigentlich? Vor dem Fenster meines ZB / DPA FOTOS: machen? Zimmers war zu allem Überfluß Verlierer May*: „Junge, jetzt gehst du zum Schafott“ May: Mein Vater war bestimmt nicht auch noch ein Baugerüst aufgestellt, das, was man im Sport unter einem und ich habe gehört, wie die Arbeiter gen, die aus meiner Ecke gekommen sind, Karrierevater versteht. Er war der einzige, draußen über mich hergezogen sind. Kurz- gingen mir am Hintern vorbei. Ich habe bei dem ich mich getraut habe, alles zu er- fristig habe ich gedacht: Jetzt gehst du raus einen Treffer nach dem anderen bekom- zählen. Er hat mir zwar meine Entschei- und schlägst denen ihr Werkzeug in die men, und dann dachte ich nur noch dar- dungsfreiheit gelassen, aber er hat immer Schnauze. an, was daraus werden kann. Ich durfte versucht, mich davon zu überzeugen, daß nicht schon wieder krank aus dem Ring ich durchhalten muß. Er hat gesagt, es wür- gehen. de vielleicht auch mal die Zeit kommen, in * Bei seiner Aufgabe im Kampf gegen Stefan Angehrn am 13. Dezember in Düsseldorf. SPIEGEL: Wußten Sie bei der Aufgabe noch, der ich für die ganze Schinderei die Ernte Das Gespräch führte Redakteur Matthias Geyer. was Sie tun? einfahren kann. Er hat mir klargemacht,

108 der spiegel 1/1998 Cruisergewichtler May im WM-Kampf gegen Washington in (1996): „Ein Blutgerinnsel im Kopf“ daß ich meine ganze Jugend für nichts und May: Mein Trainer hat mir zwar damals ge- Weltmeister war oder später Olympiasie- wieder nichts aufgegeben hätte, wenn ich sagt, wenn alles gutginge, könnte ich um die ger. Die einzigen, die kurzfristig darauf mit dem Sport aufhören würde. Und in Bronzemedaille boxen, aber so richtig über- eingestiegen sind, waren die Leute von der dem damaligen Gesellschaftssystem war zeugt war ich davon nicht. Als ich dann bei „Bild“-Zeitung. Die haben dann geschrie- Sport oder Kultur ja die einzige Möglich- dem WM-Turnier war, habe ich wie in ei- ben: „Der blonde Deutsche haut sie alle keit, sich zu etwas Besonderem zu ent- nem Rausch gelebt. Alles ging locker, kei- um“ oder so einen Scheiß. Ich habe dann wickeln. ner hatte etwas von mir erwartet. Wenn beschlossen, mir etwas anderes aufzu- SPIEGEL: Haben Sie selber daran geglaubt? man so will, war das traumhaft – das heißt bauen. May: Ich hatte Angst, es nicht zu schaffen. aber auch: irgendwie unwirklich. SPIEGEL: Der Versuch, auf der Abendschu- Die Zielstellung war: Medaillen holen. Ich SPIEGEL: Wie haben sich Ihre Versagens- le das Abitur nachzuholen, dauerte aber habe immer gedacht: Ich schaff’ das nie, ir- ängste ausgewirkt? nur drei Monate. gendwann mal Europameister zu werden May: Meine Zweifel an dem, was ich ma- May: Ich habe tagsüber trainiert, und oder Weltmeister. Das war für mich uner- che, sind immer stärker geworden. Ich habe abends war ich in der Schule. Das Ergeb- reichbar. Ich habe immer gedacht: Auf der mich gefragt: Was hast du persönlich da- nis war, daß meine Leistungen in der Schu- ganzen Welt springen Boxer rum, und aus- von, wenn du der Sieger bist? Ich hatte le nicht hinterherkamen, und die im Ring gerechnet ich soll derjenige sein, der die mich von meiner Jugend an gequält, aber ließen auch nach. Ich war vollkommen leer. alle besiegt? wenig Anerkennung dafür erfahren. Der Ich habe dann zwar weitergeboxt, aber der SPIEGEL: Hatten Sie Spaß am Boxen? Gesellschaft war es letztlich egal, ob ich Sport hat mir nicht immer das gegeben, May: Doch, schon. Ich habe was er einem Sportler eigentlich geben mich bloß immer gefragt: Was muß: Befriedigung und Zufriedenheit. bringt das Ganze? Und: Was SPIEGEL: War Ihnen die Bewunderung des bringt es dir? Was ist der Publikums nichts wert? Sinn? Das hat sich im Lauf May: Ich habe nie versucht, mich durch das der Jahre immer mehr gestei- Boxen zu profilieren oder ein Held zu gert. werden. SPIEGEL: Können Sie sich er- SPIEGEL: Ihr Kollege Graciano Rocchigiani klären, warum Sie trotzdem hat mal gesagt: „Mann am Boden – jutet Je- Amateur-Weltmeister gewor- fühl.“ Solche Empfindungen hatten Sie nie? den sind? May: Nein, überhaupt nicht. Für mich war der Gegner nie ein Feind oder gar Haßob- jekt. Ich wollte immer nur, daß die Punkt- * Mit Trainer Manfred Wolke (2. v. r.),

Schwergewichtler Axel Schulz und Halb- PRESS ACTION richter den Eindruck haben, daß ich der schwergewichtler Henry Maske. Profi May (r.), Trainingsgruppe*: „Was ist der Sinn?“ Bessere bin. Ich wollte nie verletzen oder

der spiegel 1/1998 109 Sport bestrafen oder was es da für Aus- die Substanz. Und mit der wenigen wüchse an Motivationen gibt. Das al- Substanz, die vorhanden ist, wird les erscheint mir lächerlich. Wahr- versucht, auf Teufel komm raus Geld scheinlich ist das auch mein Problem. zu verdienen. Am gefährlichsten ist SPIEGEL: Es ist jedenfalls ein gewisses das für den Sportler selbst. Der ist Handicap für einen Boxer. einfach nur Instrument, der hat seine May: Ich habe Sportler nie danach Rolle zu spielen. beurteilt, welchen Erfolg sie haben. SPIEGEL: Ihrem früheren Trainings- Ich muß Ihnen sagen: Mir sind viele freund Maske ist das vorzüglich ge- erfolgreiche Sportler begegnet, und lungen. es waren viele Arschlöcher dabei. May: Mir war das immer unheimlich. Wenn ich Leuten, über die ich Ich kenne ihn sehr lange und habe Wochen vorher noch irgendwelche gemerkt, wie er sich in seiner Per- Homestorys gelesen habe, persönlich sönlichkeit verändert hat. Er hat ja begegnet bin, war ich meistens er- letztlich daran geglaubt, daß er das schrocken. wirklich ist, was aus ihm gemacht SPIEGEL: Aber Sie sind vom Sport wurde. Er hat es widerstandslos über auch nicht losgekommen. sich ergehen lassen. Ich glaube, Mas- May: Die Mühle ist immer weiterge- ke hat sich eingebildet, daß er wirk- laufen. Und ich habe nicht die Kraft lich der Gentleman ist. In dem Mo- gehabt, die Notbremse zu ziehen. ment, wo er aufgehört hat, ist vieles Meine Existenzangst war zu groß. kaputtgegangen in ihm. SPIEGEL: Sind Sie nur Profi geworden, SPIEGEL: RTL hat Sie zu seinem Nach- um Ihre Familie ernähren zu können? folger aufbauen wollen. War Ihnen May: Ja, so kann man das teilweise sa- das auch unheimlich? gen. Und ich wollte mir auch noch May: Es hat mich angewidert. Bloß einmal die Frage beantworten, ob ich habe ich nicht die Kraft gehabt zu sa- wirklich da vorne mitboxen kann. Ich gen: Stopp, bis hierhin und nicht wei- hatte mir nie vorstellen können, Pro- ter. Ich hätte von Anfang an sagen fi zu werden. Ich bin da auch nie hin- sollen: Leute, das könnt ihr nicht mit

gegangen. Ich habe nur mit Leuten / PEOPLE IMAGE M. LUETTRINGHAUS mir machen, ihr könnt mich nicht in gesprochen, die bei den Veranstal- Ehepaar May: „Du wirst zum Produkt gemacht“ etwas reinpressen, wo ich nicht rein- tungen mit Henry Maske waren, und passe. Ich hätte meine Persönlichkeit die waren alle enttäuscht von dem, was da le. Ich habe dann auf eigene Faust beim mehr darstellen sollen, wußte aber nicht, abgegangen ist. Aber immerhin war der Münchner Arzt Müller-Wohlfahrt Hilfe ge- ob die Journalisten das hören wollen. Weltmeister, und auf einmal habe ich zu- sucht. Das hat Wolke mir übelgenommen SPIEGEL: Also haben Sie mitgespielt? sammen mit dem trainiert. und seinen Dampf dann an meinem Bruder May: Mir ist es fast hochgekommen, als zu SPIEGEL: Haben Sie gedacht: Eigentlich Rüdiger abgelassen. Der mußte den Prell- meinem WM-Kampf auf Mallorca die Vor- gehöre ich hier gar nicht hin? bock spielen und sich anhören, daß er wie- berichte gemacht wurden. Das lief unter May: Ja, am Anfang war das genau so. der zu den Amateuren gehen kann, wenn dem Motto: „Heute nacht wird er den Stier SPIEGEL: Und jedesmal, wenn Sie in den er so weiterboxt. bei den Hörnern packen“ oder so. Da Ring gestiegen sind, dachten Sie: Der an- SPIEGEL: Haben Sie mit Wolke oder Ihrem dachte ich, na toll, jetzt geht’s los bei dir. dere ist stärker? Promoter Wilfried Sauerland jemals über Jetzt wird langsam die Feile angesetzt, und May: Im Unterbewußtsein schon. Ich habe Ihre Ängste gesprochen? du wirst zum Produkt gemacht. allerdings weniger Angst davor gehabt, be- May: Nein, nie. SPIEGEL: Ihr Kampf gegen Stefan Angehrn siegt zu werden als vielmehr davor, daß SPIEGEL: Warum nicht? stand unter dem Motto: „Die letzte Chan- die Leute erkennen, daß ich hier ein Spiel May: Ich glaube, daß entscheidende Leute ce“. Hat Sie das unter Druck gesetzt? mitspiele, für das ich gar nicht der Typ bin. dann die Konsequenzen gezogen und ge- May: Das war zwar die Wahrheit, weil es Ich weiß nicht, ob ich dafür geschaffen bin, wirklich meine letzte Chance war, aber in- die Kohlen aus dem Feuer zu holen. „Ich glaube, Maske hat sich nerlich habe ich gemerkt: Jetzt wird dir SPIEGEL: Daran gemessen hatten Sie aller- eingebildet, daß er die Pistole auf die Brust gesetzt. dings erstaunlichen Erfolg. wirklich der Gentleman ist“ SPIEGEL: War Ihre Aufgabe von Düsseldorf May: Ich habe ziemlich schnell auch mal ge- eine Befreiung von solchen Zwängen? gen Maskes Sparringspartner boxen dürfen May: Ja, wahrscheinlich schon. Als es ge- und dabei festgestellt: Mensch, du kannst sagt hätten: Torsten, du mußt aufhören. schehen war, hatte ich keine Angst mehr. Es ja mithalten mit denen. Das hat mein Wolke hätte vermutlich versucht, mich war ganz eigenartig: Ich war sogar erleich- Selbstbewußtsein von Woche zu Woche zum Psychologen zu schicken. Ich habe tert. Ich habe damit mir und den Zuschau- mehr aufgebaut. immer gehofft, daß ich stark genug bin, die ern zum erstenmal eingestanden: Das, was SPIEGEL: Sie haben sich vor anderthalb Jah- Sachen alleine wegzudrücken. hier vor sich geht, das will ich eigentlich gar ren von Ihrem Trainer Manfred Wolke, der SPIEGEL: Der Fernsehsender RTL hat Sie nicht. Also stehe ich jetzt auch dazu. auch Maske betreute, getrennt.Viele haben dringend gebraucht, um das Geschäft in SPIEGEL: Werden Sie jemals wieder boxen? das so gewertet, als sei Ihnen der Erfolg zu Gang zu halten. May: Wenn ich mich selber so darüber re- Kopf gestiegen. War er das? May: Die Deutschen haben den Fehler ge- den höre, dann glaube ich, daß ich dazu May: Ich habe mich von ihm einfach nicht macht, daß sie tatsächlich geglaubt haben, nicht mehr die Kraft habe. Aber ich werde richtig betreut gefühlt. Eine Zeitlang habe ihr Boxen gehöre zur absoluten Weltspitze. mich jetzt nicht festlegen, denn mir würden ich unter Schmerzen geboxt, und sobald Das ist natürlich blanker Unsinn, denn Gründe einfallen, die dafür sprächen, wei- eine leichte Besserung eingetreten war, hat dazu ist einfach das Fundament nicht da. terzumachen. er mich gleich wieder mit Volldampf rein- Man kann nicht einfach herausposaunen, SPIEGEL: Herr May, wir danken Ihnen für geschickt ins Training. Ich trat auf der Stel- Deutschland sei eine Boxmacht. Dazu fehlt dieses Gespräch.

110 der spiegel 1/1998 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Ausland

PALÄSTINA ISRAEL Wie Gandhi Traurige Party ine Sachverständigen-Kommission des ünf Monate vor dem runden Jubiläum Epalästinensischen Parlaments und meh- Fam 14. Mai haben Abgeordnete der rerer PLO-Organe arbeitet an einem Stu- Knesset gefordert, die geplanten Feierlich- fenplan zur Ausrufung eines unabhängi- keiten zum 50. Gründungstag Israels besser gen Staates. Das Konzept, von Palästinen- ausfallen zu lassen. Ein eigens eingesetztes ser-Chef Jassir Arafat abgesegnet, geht da- Festkomitee hat immer noch keinen Ver- von aus, daß Israels Premier Benjamin Ne- anstaltungsplan vorlegen können, selbst die tanjahu auch im kommenden Jahr den 1993 Finanzierung des ursprünglich pompös an- in Oslo vereinbarten Verpflichtungen ge- gelegten Jubiläums ist bislang nicht gesi- genüber den Palästinensern nicht nach- chert. Die Unlust der Israelis spiegelt die kommen wird. Deshalb schlagen die Ex- tiefe Krise wider, in der der zionistische perten vor, nach einer Halbjahresfrist Staat steckt. Man könne die Menschen nicht Institutionen wie Gerichtsbarkeit sowie zur Freude zwingen, wenn sie unglücklich Erziehungs- und Finanzwesen auf alle seien, gab Nissim Zwili, Abgeordneter der palästinensischen Gebiete auszudehnen, Arbeitspartei, zu bedenken. Die Nation sei die Israel seit 1967 besetzt hält – einschließ- nicht zum Feiern aufgelegt, fand auch der lich Ost-Jerusalems. Falls Israel dies mit ultraorthodoxe Parlamentarier David Tal. Militärgewalt verhindern würde, sollen ein Der Friedensprozeß entzweit das Volk, und Streik und die Verweigerung jeglicher Zu- der Streit zwischen den religiösen und

sammenarbeit mit dem jüdischen Staat fol- PRESS CAMERA nichtreligiösen Juden hat sich längst zum gen. Ein Kommissionsmitglied: „Unser Staatsgründer Ben Gurion (1948) Kulturkampf ausgeweitet. Vorbild ist die Politik des friedlichen Wi- derstands von Mahatma Gandhi.“ FRANKREICH palästinensische Selbstverwaltung Dschenin Willige Strohmänner unter israelischer Tulkarm Kontrolle ine der wichtigsten Reformen, mit der Vorsitzenden Robert Hue (Montigny-lès- Kalkilja palästinensische Nablus EMinisterpräsident Lionel Jospin Frank- Cormeilles). Wie das Gesetz trickreich reich mehr Demokratie verpassen will, ist unterlaufen werden kann, demonstrierten Zivilverwaltung, WESTJORDANLAND israelische schon durchlöchert, bevor sie überhaupt jetzt ausgerechnet prominente Jospin-Mi- Sicherheits- Tel Aviv Ramallah Jericho dem Parlament vorgelegt wird. Der Pre- nister wie Catherine Trautmann (Kultur), hoheit mier will die geheiligte Institution des „dé- Jean-Pierre Chevènement (Inneres) und r JORDANIEN e puté-maire“ abschaffen, des Bürgermei- Dominique Strauss-Kahn (Wirtschaft), die e sters, der gleichzeitig Pariser Abgeordneter auf Geheiß des Regierungschefs als Kabi- m Jerusalem l e ist. Jospins Revolution schafft Aufruhr un- nettsangehörige ihre Bürgermeisterämter t Betlehem r t e ter den Volksvertretern: Nicht weniger als in Straßburg, Belfort und Sarcelles abgeben i Gaza-Streifen e M M 323 der 577 Parlamentarier sind nebenher mußten: Die Linken hievten einfach willi-

s Hebron e gutbesoldete Rathauschefs – von den rech- ge Strohmänner auf die Bürgermeister- t

30 km o ten Ex-Premiers Alain Juppé (Bordeaux) sessel, setzten sich selbst als deren Stell- T und Raymond Barre (Lyon) über den So- vertreter ein und behielten das Sagen in ISRAEL zialisten Jack Lang (Blois) bis zu dem KP- ihren Kommunen.

NIGERIA Diktator unter Druck eil er kaum öffentlich auftritt und bei wichtigen Anlässen – wie dem WTreffen der westafrikanischen Staatschefs in Togo – fehlt, ranken sich Gerüchte um Militärherrscher Sani Abacha: Der General soll an Malaria, Aids oder Leberzirrhose leiden. Doch der angeblich Kranke ist erstaunlich aktiv.Ver- gangene Woche ließ er die Nummer zwei seiner Regierung, Oladipo Diya, und zwei weitere hohe Offiziere als Verschwörer verhaften – die letzten Angehöri- gen des südwestnigerianischen Yoruba-Stammes in Abachas nördlich domi- nierter Führungsclique. Damit brachte er den einflußreichen Stamm endgültig gegen sich auf. Schon früher hatte er zwei führende Yoruba-Politiker eingeker- kert: den Sieger der Wahlen von 1993, Moshood Abiola, und Ex-Staatschef Olusegun Obasanjo. Gefährlicher für Abacha, daß er nun auch in seinem Hei- matgebiet nicht mehr unumstritten ist. Bei der Beerdigung des zur dortigen Ari- stokratie gehörenden früheren Generals Yar’adua kam es zum erstenmal im

Norden zu schweren Protesten. Der Diktator hatte den Rivalen wegen Ver- REUTERS schwörung zu 25 Jahren Haft verurteilen lassen; Yar’adua starb im Gefängnis. General Abacha (l.)

der spiegel 1/1998 113 Ausland

TÜRKEI „Europa hat uns betrogen“ Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Ecevit im SPIEGEL-Gespräch über die Zurückweisung seines Landes durch die EU und seine besonderen Erwartungen an die Deutschen

mehr oder weniger dau- EU hat es mißachtet und sich über unseren erhaft niedergelassen. Anspruch einfach hinweggesetzt. Diese Bindungen werden SPIEGEL: Ministerpräsident Mesut Yilmaz halten.Aber natürlich be- hatte bei seinem Besuch Ende September dauere ich außerordent- in Bonn offensichtlich den Eindruck ge- lich, daß die deutsche wonnen, daß Kanzler Kohl die türkische Regierung die türkische Bewerbung unterstützen werde.Wie konn- Kandidatur in keiner Wei- te es zu diesem Mißverständnis kommen? se unterstützt hat. Ecevit: Yilmaz war voll guter Absichten, SPIEGEL: Fühlen Sie sich und wir alle in der Regierung haben unser von Bundeskanzler Kohl Bestes getan, um den Weg für die Türkei zu im Stich gelassen? ebnen. Doch unsere Anstrengungen wur- Ecevit: Ich hatte keine all- den nicht gewürdigt. zu großen Erwartungen. SPIEGEL: Kanzler Kohl hat aus seiner Skep- Als Politiker bin ich lange sis nie ein Hehl gemacht. Nach seinem geo- genug im Geschäft, um graphischen Wissen liege Anatolien nicht in die Realität hinter den Europa, sagte er. Das hätte Sie warnen Deklamationen zu sehen. müssen. SPIEGEL: Warum dann die Ecevit: Zumindest im Unterbewußtsein der ganze Aufregung in der Europäer gibt es eine kulturell begründete Türkei über den angeb- Abneigung gegen die Aufnahme der Türkei. lichen Verrat der Deut- SPIEGEL: Kohl hat vor Parteifreunden das schen? Christentum als Fundament der europäi- Ecevit: Sicher sind wir ent- schen Zivilisation gepriesen. täuscht, daß ein großer Ecevit: Das war eine sehr unglückliche Be- Teil der europäischen Län- merkung von Kohl; später hat er versucht, der – auch Deutschland – sich davon zu distanzieren. Unterschwellig auf unabsehbare Zeit ist diese herabsetzende Haltung gegenüber nicht bereit ist, die Türkei der islamischen Türkei dennoch spürbar. als vollwertigen Partner zu Dabei sind wir ein einzigartiges Land in der akzeptieren. Wir haben muslimischen Welt: Seit 70 Jahren beweist ein Recht auf diese Mit- die Türkei, daß der islamische Glaube mit gliedschaft, das ergibt sich Laizismus und Modernität vereinbar ist. aus dem Assoziierungsab- Diese Pionierleistung hätte eigentlich ein

M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUSM. GÜLBIZ / AGENTUR kommen von 1963. Die starkes Argument für unsere Integration in Europa sein müssen. SPIEGEL: Manche türkische Kommentato- Bülent Ecevit ren haben die Niederlage von Luxemburg war Regierungschef, als am 15. Juli 1974 sogar mit der gescheiterten Belagerung von die griechisch-zypriotische National- Wien durch die Türken 1683 verglichen. garde gegen den Präsidenten und Erz- Ecevit: Solche Emotionen mag es unaus- bischof Makarios putschte. Um die Ver- gesprochen hier und da geben. Sie sind einigung Zyperns mit Griechenland zu sehr anachronistisch, auf beiden Seiten. SPIEGEL: Herr Ecevit, hat sich die vielbe- verhindern, befahl Ecevit damals die SPIEGEL: Kanzler Kohl erschiene dabei in schworene deutsch-türkische Freundschaft militärische Invasion und ließ den der Rolle des Prinzen Eugen. auf dem europäischen Gipfel in Luxem- Nordteil der Insel besetzen; seitdem Ecevit (lacht): Da haben Sie recht. Immer- burg als Fiktion erwiesen? ist Zypern faktisch geteilt. In seiner hin hat das Osmanische Reich einem heu- Ecevit: Interessen sind stärker als freund- Heimat zwischenzeitig zu Gefängnis- te unruhigen Teil Europas, dem Balkan, schaftliche Gefühle. Die Türkei unterhält strafen verurteilt – darunter 1982 für ei- eine lange Friedensperiode beschert. Die seit langem enge Beziehungen zu Deutsch- nen kritischen Beitrag im SPIEGEL –, Türken haben die Völker in ihrem Macht- land. Sie reichen noch in die Zeit vor der ist der Sozialdemokrat seit sechs Mo- bereich nicht zu Assimilation oder zum Jahrhundertwende zurück. Rund zwei Mil- naten Stellvertreter des konservativen Glaubensübertritt gezwungen. Die Ge- lionen Türken haben sich in Ihrem Land Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz. schichte gibt wenig rationale Gründe für Ecevit, 72, gilt als einer der bedeu- antitürkische Ressentiments her. Das Gespräch führten die Redakteure Dieter Bednarz tendsten Lyriker der Türkei. SPIEGEL: Der Gründer der Republik, Mu- und Romain Leick in Ankara. stafa Kemal Atatürk, hat der Türkei eine sä-

114 der spiegel 1/1998 A. GYORI / SYGMA A. GYORI Koranschule in Istanbul: „In vielen islamischen Ländern wird die Frömmigkeit zu politischen Zwecken mißbraucht“ kulare Staatsordnung gegeben. Ist sein Ver- stehen, auch ohne in die EU integriert zu Ecevit: Leider: Europa hat uns betrogen. mächtnis heute nicht durch den erstarken- werden. Die Türkei hat Interessen und Die Erklärung, daß allein die Griechen die den Islamismus gefährdet? Möglichkeiten, die tief nach Asien hinein- Auszahlung mit ihrem Einspruch verhin- Ecevit: Der Fundamentalismus kommt reichen. Denken Sie nur an die Ölvor- dert hätten, befriedigt mich nicht. nicht aus dem Inneren der türkischen kommen rund um das Kaspische Meer. Die SPIEGEL: Weit mehr als finanzielle Bela- Gesellschaft, diese Bewegung wird von USA haben unsere geostrategische Bedeu- stungen fürchten Deutsche und andere außen geschürt. Manche unserer Nachbarn tung viel besser erkannt als die Europäer. Europäer die Freizügigkeit für die Türken, wünschen nicht, daß der türkische Weg Es fällt Europa noch immer schwer, über sobald sie Vollmitglied der EU wären. zum Erfolg führt. Sie sehen in unserem den Tellerrand zu blicken. Ecevit: Darüber würden wir ja mit uns re- Beispiel eine Gefährdung ihrer eigenen SPIEGEL: Der Handel folgt nicht immer geo- den lassen. Wir haben schon Anfang der Stabilität. strategischen Planspielen. Die Hälfte der achtziger Jahre Beschränkungen zuge- SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht zu leicht, türkischen Exporte geht in Staaten der stimmt, übrigens ohne irgendeine Gegen- wenn Sie fundamentalistische Staaten wie Europäischen Union. leistung erhalten zu haben. Demgegenüber Iran als Unruhestifter verdächtigen? Ecevit: Vor allem nach Deutschland. Wir gewährt die EU den Beitrittskandidaten Ecevit: In vielen islamischen Ländern wird müssen allerdings auch sehen, daß die Zoll- bereits jetzt großzügige Subventionen, bis die Frömmigkeit zu politischen Zwecken union mit der EU uns viele Nachteile ge- zu 1000 Dollar pro Kopf und Jahr. mißbraucht. Religion kann sich aber nur bracht hat. Unser Handelsdefizit mit der SPIEGEL: Wäre es wirklich klug, Ihr Bei- frei entfalten, wenn sie von Staat und Po- EU hat sich in zwei Jahren verdoppelt. trittsgesuch zurückzuziehen, wie von litik getrennt wird. An diesem Grundsatz SPIEGEL: Dafür wurden der Türkei doch Ministerpräsident Yilmaz angedroht? lassen wir nicht rütteln. Kompensationen versprochen. Ecevit: Wir sollten es nicht zurückzie- SPIEGEL: Würde sich mit der Aufnahme in Ecevit: Aber nicht gegeben. Es wäre oh- hen, damit wir uns in den Augen der EU die EU die politische Vision Atatürks von nehin nur eine klägliche Summe gewesen, nicht selbst ins Abseits begeben. Aber der laizistischen, fest im Westen veranker- 3,5 Milliarden Dollar in fünf Jahren, davon ob der Antrag nun von uns zurückge- ten Türkei endgültig erfüllen? lediglich 450 Millionen frei verfügbar, der zogen oder von der EU suspendiert wird: Ecevit: Gewiß. Die Türkei war jahrhunder- Rest in Form von Krediten. Was macht das praktisch schon für ei- telang eine nach Europa ausgerichtete SPIEGEL: Fühlen Sie sich betrogen? nen Unterschied? Macht. Und obwohl sie sich SPIEGEL: Wenn die EU nicht nach dem Zusammenbruch einlenkt, wird die Türkei dann des Osmanischen Reiches nach wenigstens an der vorgeschla- Anatolien zurückzog, wurden genen Europäischen Konfe- ihre inneren Bindungen an Eu- renz teilnehmen? ropa nur noch stärker. Selbst Ecevit: Nein, denn diese Ver- als einige europäische Mächte anstaltung hat keine inhaltli- nach dem Ersten Weltkrieg che Bedeutung. Wir betrach- Teile der Türkei besetzten und ten sie als Täuschungsmanöver, die Griechen aufstachelten, als billigen Trost. uns zu überfallen, warnte Ke- SPIEGEL: Ist es besonders bitter mal Atatürk davor, diese Län- für Sie zu sehen, daß frühere der zu verunglimpfen. Sie soll- Warschauer-Pakt-Staaten jetzt ten schließlich unsere Vorbil- an der Türkei vorbei in die EU der und Lehrmeister sein … einziehen? SPIEGEL: … ganz besonders die Ecevit: Das ist schon paradox, Deutschen. Gibt es für die Tür- aber neidisch sind wir nicht, kei überhaupt eine Alternative die ostmitteleuropäischen Län- zu Europa? der haben die Aufnahme ver-

Ecevit: Wir sind nicht hilflos, PRESS / CAMERA AJANSI dient. Es kränkt uns allerdings, wir können auf eigenen Füßen Türkische Invasion Zyperns 1974: „Terroristische Gefahr“ daß wir als Erfüllungsgehilfen

der spiegel 1/1998 115 Ausland ein Verbot. Sie stellt im Parlament die Schwierige Ausgangslage Die Türkei im Vergleich mit den EU-Anwärtern 1998 stärkste Fraktion. Ecevit: Ihr Stimmenanteil beträgt nur we- INFLATIONSRATE in Prozent BRUTTOINLANDSPRODUKT nig mehr als 20 Prozent. Die Hälfte ihrer pro Kopf in US-Dollar Wähler haben sich nicht aus religiöser Tschechien 8,8 Slowenien 9307 Überzeugung für sie entschieden, sondern aus Gründen des sozialen Protests. Hier sind die anderen Parteien gefordert. Slowenien 9,7 Tschechien 5121 SPIEGEL: Selbst wenn Sie alle innenpoli- tischen Probleme zufriedenstellend lösen Polen 19,9 Ungarn 4275 könnten, bliebe auf dem Weg nach Europa noch ein Stolperstein, für den Sie persön- Estland 23,1 Polen 3494 lich verantwortlich sind: die Besetzung rund eines Drittels der Insel Zypern 1974. Ungarn 23,6 Türkei 2911 Ecevit: Den Begriff „Besetzung“ kann ich nicht hinnehmen. Die Türkei war Garan- Türkei 82,3 Estland 2880 tiemacht für Zyperns Unabhängigkeit. Mit unserer Intervention reagierten wir nur auf den Versuch Griechenlands, sich die ganze EU-Durchschnitt 2,5 EU-Durchschnitt 23000 Insel anzueignen. SPIEGEL: Jetzt gehört Zypern zum Kreis der ersten EU-Beitrittskandidaten.Werden Sie in der Nato willkommen sind, bei der po- Ecevit: Von dort geht eine große Gefahr versuchen, die Aufnahme der Insel zu litischen Beschlußfassung in der EU jedoch der Destabilisierung für unser Land aus. blockieren, indem Sie Ihre türkischen nicht. Leider versuchen einige Nachbarn, die Schutzbefohlenen von den Verhandlungen SPIEGEL: Müssen Sie nicht zugeben, daß es Konflikte weiter anzufachen, um die mit Brüssel fernhalten? der Türkei noch an politischer Reife für Türkei zu teilen und zu schwächen. Syrien, Ecevit: Wir sind strikt gegen den EU- die EU mangelt? Als Dichter und Humanist Iran, aber auch Griechenland sind dabei Beitritt Zyperns. Internationalen Ab- dürften Sie besonders empfindlich auf die sehr aktiv. Bedauerlicherweise hat die Sor- kommen zufolge darf Zypern keiner ständigen Verstöße gegen die Menschen- ge um die Menschenrechte einige westliche Organisation angehören, in der nicht rechte in Ihrer Heimat reagieren. Länder dazu verführt, Partei für separati- sowohl Griechenland als auch die Türkei Ecevit: Zugegeben, da haben wir viel ver- stische Terroristen zu ergreifen. vertreten sind. Leider mißachtet die Eu- säumt. Die jetzige Regierung arbeitet hart SPIEGEL: Das letzte Wort bei der Lösung ropäische Union diese Vertragsbestim- daran, die Defizite zu beseitigen. Das sind des Kurdenproblems hat ja wohl das mungen. wir nicht der EU, wohl aber der türkischen Militär. Für die EU ist der politische Ein- SPIEGEL: In einem Ihrer Gedichte haben Öffentlichkeit schuldig. fluß der Generäle eines der Hindernisse, Sie die Griechen als die verlorenen SPIEGEL: Schluß mit Folter und Polizeibru- die den Beitritt zur Union blockieren. Brüder der Türken bezeichnet. Sind Sie talität, Versöhnung mit den Kurden? Läßt sich das Primat der Politik in der bereit, Ihre territorialen Streitigkeiten mit Ecevit: Im Südosten sind wir noch immer Türkei überhaupt durchsetzen? Griechenland friedlich zu regeln? mit einer erheblichen terroristischen Ge- Ecevit: Seit 1960 hat das Militär Ecevit: Wir waren schon im- fahr konfrontiert. Es wird sicher nicht ganz die Demokratie in der Türkei mer zu bilateralen Verhand- einfach, die Achtung der Menschenrechte dreimal außer Kraft gesetzt. „Die Arroganz lungen bereit, aber die Grie- mit dem Sicherheitsbedürfnis des Staates Aber man muß ihm zugute chen verweisen uns ständig an in Einklang zu bringen. halten, daß es nie den Ehrgeiz nimmt zu, den Internationalen Gerichts- SPIEGEL: Mit militärischen Mitteln läßt sich hatte, das Land für längere sobald hof in Den Haag. Man sollte das Kurdengebiet nicht befrieden. Zeit zu regieren, so wie etwa Athen die uns beide am besten allein las- Ecevit: Unsere Regierung ergänzt die mi- die griechischen Obristen nach Unterstützung sen, dann würden wir uns litärischen Maßnahmen durch wirtschaft- ihrem Putsch 1967. Ich kann schon rasch einigen. liche, soziale und kulturelle Initiativen.Wir das guten Gewissens sagen, des Westens SPIEGEL: Weil Griechenland haben ein Entwicklungsprogramm mit denn ich habe mich jedesmal spürt“ sich dann der Türkei, dem großzügigen Investitionsanreizen verab- gegen die Intervention unse- Recht des Stärkeren, beugen schiedet. Für uns gibt es keinen ethnischen rer Streitkräfte gestellt. müßte? Konflikt. Jedem Türken kurdischer Ab- SPIEGEL: Auch wenn sie heute nicht mehr Ecevit: Unsere Überlegenheit haben wir stammung stehen die höchsten Staatsämter putschen, können die Generäle immer noch nie ausgenutzt. Wir haben gar keine terri- offen. eine ihnen unbequeme Regierung zu Fall torialen Ansprüche an Griechenland, wohl SPIEGEL: Vorausgesetzt, er bekennt sich bringen. So erging es vor gut sechs Mona- aber die Griechen an uns. Der panhelleni- nicht zu seiner kurdischen Identität. ten Necmettin Erbakan, dem ersten isla- sche Gedanke ist immer noch virulent, und Ecevit: Wir zwingen niemanden dazu, sei- mistischen Ministerpräsidenten der Türkei. die Arroganz nimmt zu, sobald Athen die ne Abstammung zu verleugnen. Jeder Nun soll seine Wohlfahrtspartei auch noch Unterstützung des Westens spürt. weiß, daß der Präsident unseres Parlaments verboten werden. Muß der laizistische Staat SPIEGEL: Werden Sie den Tag noch erleben, kurdischer Herkunft ist. Das eigentliche wirklich zu solch groben Mitteln greifen? an dem die Türkei Vollmitglied der Eu- Problem in Südostanatolien ist die archai- Ecevit: Als Demokrat würde ich es gewiß ropäischen Union wird? sche Feudalstruktur, die jeden Fortschritt vorziehen, die Wohlfahrtspartei in Wahlen Ecevit: Ich weiß nicht, wann, aber dieser verhindert. Dieses Hemmnis müssen wir zu bekämpfen. Aber ob die Europäer das Tag wird kommen. Die EU wird die Not- beseitigen. nun glauben oder nicht – unser Verfas- wendigkeit erkennen, die Türkei ohne Vor- SPIEGEL: Dafür müßten Sie nicht regel- sungsgericht ist völlig unabhängig. behalte in allen Ehren einzuladen. mäßig militärische Offensiven jenseits der SPIEGEL: Der Zuspruch für die Wohlfahrts- SPIEGEL: Herr Ecevit, wir danken Ihnen für Grenzen im Nordirak führen. partei verschwindet nicht einfach durch dieses Gespräch.

116 der spiegel 1/1998 RUSSLAND Der vegetarische Wolf In Kursk, am Schauplatz einer 1943 von den Deutschen verlorenen Schlacht, regiert heute ein General a. D., der auf die Deutschen hofft: Gouverneur Alexander Ruzkoi – der Mann, der 1993 gegen Jelzin putschte.

Schade, daß ich ihn damals nicht aufgehängt habe. Andererseits: ein mutiger Mensch. Obwohl ein Feind – solche Leute verdienen Achtung.

Der afghanische mudschahidin-führer gulbuddin hekmatjar 1991 über seinen ehemaligen gefangenen alexander ruzkoi

ann er den alten Titel nicht einmal weglassen?“ Alexander Ruzkoi, 50, Kleidet sichtlich unter dem Lob eines Veteranen, der vor lauter Ordensbehang leicht scheppert. „Muß er mich denn immer einen Helden der Sowjetunion nennen?“ Der russische General a. D. Ruzkoi, der im Afghanistan-Feldzug in moslemische und unter dem Präsidenten Boris Jelzin in russische Gefangenschaft geraten war, in- spiziert seinen neuen Herrschaftsbereich. Ruzkoi, in Kursk geboren, hat im Okto- ber 1996 ein erstaunliches Comeback ge- feiert: Er ist nun Gouverneur des Gebiets Kursk, das zwischen Charkow und Moskau liegt, nahe der ukrainischen Grenze; so nahe, daß als Folge des Reaktorunfalls von Tschernobyl der Boden immer noch ra- dioaktiv belastet ist. Die Stadt, in Sowjet- zeiten durchsetzt von Maschinenbaufabri-

ken und Chemiekombinaten, galt in ihrer KASSIN P. FOTOS: Geschichte nie als besonders schön – und Gouverneur Ruzkoi (r.), Bewunderer: „Zum Lieben wie zum Fürchten“ war doch immer begehrt: 1238 verwüsteten Tataren die Festung, Ende 1941 besetzten Demokratie, auf einem Panzer stehend holte er für einen kurzfristigen Triumph deutsche Truppen die Stadt 15 Monate vorm Weißen Haus in Moskau, August aus dem Urlaubs-Arrest von der Krim heim lang. Übriggeblieben ist die barocke 1991. – bald darauf war Gorbatschow nur noch Kathedrale. Übrig blieb auch die Lebens- Damals kämpfte der russische Vizeprä- Geschichte. Dem anderen, Rußland-Präsi- freude. sident Oberst Ruzkoi gegen die Kamera- dent Boris Jelzin, schwor er seine Loya- Oben auf der Bühne der Provinz-Phil- den-Putschisten und stellte sich vor seine lität. Im Gegenzug erhielt Ruzkoi noch ein harmonie feiern Aktivisten der 29000 Kurs- zwei Präsidenten. Den der Sowjetunion gutes Jahr freien Zutritt „zum Körper“, ker Hochschüler ihren In- wie in Rußland die Nähe zur Nummer eins ternationalen Studententag und ihrer Macht-Aura umschrieben wird. mit frühreifen Reden, Lai- Er wurde General. enspiel und viel Gaudeamus Dann versuchte Ruzkoi seinen eigenen igitur. Betagte Soldaten su- Putsch. Er verschanzte sich mit oppositio- chen den patriotischen nellen Abgeordneten im Obersten Sowjet, Schulterschluß mit der net- rief zum Sturm des Kreml auf. Er amtierte ten Jugend. Die besteht als Gegenpräsident für 13 Tage bis zum überwiegend aus knicksen- 4. Oktober 1993 – und fiel dann tief. Er- den Mädchen und entgleitet schießen, wie ihm ein Generalskollege ge- den Alten bald aufs Tanz- raten hatte, mochte er sich nicht. Ruzkoi parkett. ergab sich dem Sieger auf Gnade und Das neue Rußland Ungnade. schreibt sein verflixtes sieb- Das bewies Umsicht: Der Hochverräter tes Jahr. Alle Zeit- und verließ die U-Haft nach knapp einem hal- Erfolgsrechnung im Reich ben Jahr als freier Mann; die Genossen im beginnt mit Boris Jelzins neuen, kaum Jelzin-freundlicheren Par- Rede zur Verteidigung der Lebensmittelladen in Kursk: „Kein schöner Land“ lament sorgten rechtzeitig für eine Amne-

der spiegel 1/1998 117 Ausland Der Weg eines Hasardeurs stie. Das ist noch nicht lange her und doch Art, das Gebiet mit Ukasen zu regieren, die schon weit weg. In der russischen Zeitma- keinen Widerspruch dulden. schine verschmelzen Heldentaten und Ab- Einen „geborenen Führer“ nennt ihn stürze der jüngsten Vergangenheit gele- ehrfurchtsvoll ein Mitarbeiter – einen gentlich zu verblüffenden Lebensläufen. „zum Lieben wie zum Fürchten“. Da darf „Ein Staatskerl ganz großer Dimension ist die Tagespolitik ruhig einen Stich ins Ir- unser Alexander Ruzkoi“, lautet der Be- reale haben. fund einer regionalen TV-Korresponden- Der Vorwurf utopisch-hektischen Plä- tin, „vielleicht schon ein bißchen zu ge- neschmiedens an seine Adresse ist Ruzkoi waltig für unser kleines Kursk.“ ohnehin längst vertraut: Als er noch in der Damit der Herr über 1,4 Millionen Ge- KPdSU bei Michail Gorbatschow in die Pe- bietsbewohner und knapp 30000 Quadrat- restroika-Lehre ging und seine Fraktion

kilometer noch herausragt unter den 89 „Kommunisten für Demokratie“ gründete, SIPA Regionalchefs der Russischen Föderation, verspottete ein witziger Hauptstadt-Poli- Kriegsgegner Hekmatjar (1992) haben die lokalen Zeitungen ironisch den tologe die Ruzkisten als „Gesellschaft der Begriff des General-Gouverneurs geprägt. ,Wölfe für vegetarisches Leben‘“. Die Häme gilt Ruzkois vollmundigen Ver- Eine praktische Ideologie müsse her, sagt sprechen der ersten Stunde: etwa franzö- Ruzkoi jetzt, die „unsere Gesellschaft wie- sische Kühe ins Land zu holen, weil die der eint“ und „jedes Kind mit dem Gefühl Milchleistungen der heimischen kaum noch aufwachsen läßt, in einem schönen Land das Melken lohnten. Oder argentinische zu leben“. Also versprach der Gebiets- Traktoren im Kursker Gebiet montieren gouverneur, der und John zu lassen, obwohl vaterländische Landma- Maynard Keynes sowie die deutschen schinenhersteller wegen der Verarmung Dichter kennt: „Kein schöner Land in die- der Kolchosen bald nur noch Feierschich- ser Zeit“ und „Wohlstand für alle“. ten schieben. Das Aufpolieren der Stadt begann er mit In solchen Visionen, voller Wagemut und neuem Pflaster und Kandelabern auf der

mit beiden Beinen fest in den Wolken, wird Hauptstraße: Die führt – wohin sonst? – GAMMA / STUDIO X der rote Faden im Leben des Alexander zum ehemaligen Gebiets-Parteikomitee, in Präsident Jelzin, General Ruzkoi (1991) Wladimirowitsch Ruzkoi sichtbar. dem der Gouverneur residiert, welcher zu- Was den Kampfflieger in Afghanistan erst – was sonst? – die Chefetage renovie- (428 Feindflüge, zweimal abgeschossen, ren läßt. Und der Prachtboulevard heißt kow, ohne dessen Anteilnahme rund um Kriegsgefangener in Pakistan) und den immer noch Lenin-Straße. den Kreml kein Hamburger gebraten und russischen Vize-Präsidenten (812 Tage lang) Fürs Volk fiel ein nach deutschem kein Ziegel auf den anderen gelegt werden miteinander verbindet; den vom Endsieg- Supermarkt-Standard umgemodelter „Ga- kann, ist „ein guter Mann“. Von ihm kön- wahn ergriffenen Rebellen im Weißen Haus stronom“-Laden ab. Ein Fortschritt sei ne „man viel lernen“. mit dem Bauernfreund; den bärtigen das schon, zollt ein stoppelbärtiger Rent- In Moskau sind zwei Drittel des natio- Knastologen im Moskauer Staatsgefängnis ner dem wohlsortierten und blitzsaube- nalen Finanzkapitals konzentriert, bleiben „Matrosenruh“ mit dem Gouverneur: Im- ren Lebensmittelladen Anerkennung, nur die meisten ausländischen Investitionen mer sah und sieht sich Ruzkoi als einen, der leider könne er sich das meiste nicht hängen. In Kursk herrscht öffentliche wie die „Heidenarbeit“ auf sich nimmt, „Leu- leisten. private Armut. Wo andere Gebiete Sub- te auf eine Richtung festzulegen – und sie Ruzkoi macht kein Hehl daraus, woher ventionen erhielten, so hadert Ruzkoi mit dann voranmarschieren zu lassen“. er seine Vorbilder und Anregungen be- der Regierung, gehe Kursk leer aus.Wo für Ideologie bedeutet dem Offizierssohn zieht: aus dem Westen und aus dem mit andere Lizenzen abfielen zur Emission von Ruzkoi nichts, aber er ist bereit, Ideologen jedem Tag westlicher werdenden Moskau. Eurobonds, werde sein Sprengel von der jeder Couleur vor seinen Karren zu Hauptstadt-Oberbürgermeister Jurij Lusch- Liste gestrichen. Und das alles nur, arg- spannen. Seinen Frieden mit wöhnt Jelzins einstiger Stellver- Jelzin, den er einst aus dem Kreml treter, „weil die dort Angst haben, jagen wollte, hat er längst ge- Ruzkoi wolle sich mit Erfolgen in macht, und dabei notabene man- Kursk den Weg zur Präsident- ches verdrängt: „Boris Nikolaje- schaft pflastern“. witsch hat einen sehr schönen Ein leichter Schmerz klingt im- Charakterzug, er übt niemals mer noch mit über den Verlust des Druck aus auf Menschen mit eige- hohen Amtes, welches ihm 1991 ner Initiative.“ durch eine Konjunktur zufiel und Alexander Ruzkoi hat jedenfalls 1993 durch eine andere genommen den Segen seines heimischen wurde. Er preist seine Kontakte Bischofs Juwenalij: „Ein guter aus jener Zeit, die er als Kapital in Hausherr“, lobt der Hirte den um- Kursk einzubringen sucht: ein Ter- triebigen Sohn der Stadt Kursk. min beim spanischen König, beim Mit dem Takt des erfahrenen argentinischen Präsidenten, beim Geistlichen schweigt er darüber, deutschen Kanzler – angeblich was er mißbilligen müßte am kein Problem für den Staatskerl. Treiben seines weltlichen Fürsten: „Ganz wichtig“ sei, so der Kurs- dessen wilde Ehe mit einer ker Bürgermeister Sergej Malzew, 23jährigen Ortsschönen etwa oder „daß es jedenfalls nicht schlech- den Hang, Brüder und Söhne mit ter geworden ist“: daß kein Lehrer

einträglichen Pfründen zu be- KASSIN P. mehr vor Hunger im Dienst in denken. Und auch die soldatische Ruzkoi, Begleiterin in Kursk: „Ein Staatskerl“ Ohnmacht falle wie noch im letz-

118 der spiegel 1/1998 (gr.) G. MERILLON / GAMMA STUDIO X; (kl.) SHONE X G. MERILLON (gr.) Beschossener Parlamentssitz Weißes Haus in Moskau, verhafteter Putschist Ruzkoi 1993 ten Jahr, daß die Stadt keinem Bedienste- Siemens soll helfen, den Feldflugplatz ten das Gehalt schulde. zum internationalen Flughafen Kursk zu Eine Kugellagerfabrik hält sich mühsam erheben; bei Zeiss in Jena möchte Ruzkoi mit Exportaufträgen über Wasser, einem ein 350 Millionen Mark teures Chirurgie- Akkumulatorenwerk fehlen die Mittel zur Zentrum bestellen, auf Kredit, gegen lang- dringend erforderlichen Sanierung. Dage- fristige Lieferverpflichtungen von Kursker gen floriert die örtliche Brauerei: Ihr Pi- Metall-Halbfabrikaten. kur-Bier rinnt aus deutscher und tschechi- Ruzkois Stellvertreter Jurij Konontschuk sen muß“, lautet die Bilanz Nikolai Gre- scher Abfülltechnik, und längst nicht al- ist ein reicher Mann, in Moskau brachte er schilows, des erfolgreichsten Unternehmers lein mehr durch Kursker Kehlen. in den Perestroika-Jahren ein Handelsim- der Region. Seine Grinn-Corporation baut, Auf dem Lande ist der General-Gou- perium zusammen (2000 Mitarbeiter, Jah- wo immer sich ein Grundstück finden läßt, verneur der Held der kleinen Leute: Er hat resumsatz 200 Millionen Dollar). Er mach- und treibt Groß- und Einzelhandel mit Me- ihnen 1996 in einer militärischen Hau-ruck- te Kasse, um mit Ruzkoi zu gehen: „Ich tallen, Autos, Möbeln. Die Firma beschäf- Aktion Diesel bringen lassen, Saatgut und glaube an diesen Mann.“ Konontschuk traf tigt 1300 Menschen und zahlte dieses Jahr Dünger. Und wenn, wie dieses Jahr, die Rü- mit zwei Mercedes-Limousinen in Kursk 400 Milliarden Rubel (mehr als 100 Millio- ben nicht rechtzeitig aus der Erde sind, feu- ein. Sergej Maxatschow, erster Gehilfe des nen Mark) an Steuern. ert er die Schuldigen. So wünscht sich der Gouverneurs für Sonderaufträge, bereist Ein Mann nach Ruzkois Geschmack: Er Muschik seinen Gutsherrn: großzügig, aber per Grand-Cherokee-Jeep das Land und will keine Hilfe, aber verbittet sich Knüp- die Knute in Reichweite, ein kleiner Zar, der setzt mit Geschmeidigkeit und Härte den pel zwischen die Beine, wie er es von Gute belohnt und Böse straft. Willen seines Chefs durch. früheren Verwaltungen gewohnt war. Er Beim Militär hat Ruzkoi das Befehlen Die Keulenriege des russischen Frühka- freut sich, daß der Gouverneur sich von gelernt, vom Deutschen Friedrich Nietz- pitalismus hat sich mit barocken Provinz- seinem roten Anhang getrennt hat und sche das Weltbild. Respektiert werde nur fürsten wie Ruzkoi verbündet. In der ver- beim diesjährigen Revolutionsjubiläum nur der Starke; ein Schwacher errege allenfalls luderten Provinz mag kaum jemand mehr noch 900 Genossen in Kursk demonstrier- Mitleid, zitiert er diesen „genialen Gedan- zur Wahl gehen, niemand um Bürgerrech- ten statt der Zehntausend im Vorjahr. ken“ des Meisters aus Sachsen. te kämpfen – es ist die Stunde der kleinen In seinem Geburtsort Swoboda, wo 1943 Überhaupt – die Deutschen (die in die- Selbstherrscher, die sich nach dem Muster die kriegsentscheidende Panzerschlacht im ser Gegend 1943 eine schwere Niederlage des Moskauer Zaren Boris über alle Par- Kursker Bogen ihren Ausgang nahm, hat erlitten): Wie gern würde Ruzkoi Arm in teien und Bewegungen stellen. sich Greschilow einen stattlichen Gasthof Arm mit ihnen sein malades Territorium in Ruzkoi läßt sich denn auch von ideolo- errichtet. Fährt er aufs Grundstück, neh- Ordnung bringen. Seine fünf DDR-Jahre gischen Denkverboten nicht bremsen: men seine Leute die Mütze ab – so wie bei bei der Westgruppe der sowjetischen Streit- Grund und Boden würde er lieber heute Inspektionsreisen Ruzkois. kräfte nennt er die „schönste Zeit“ seines als morgen zur Sicherheit an ausländische Jedermann soll „in Ruhe seine Scheibe Lebens, schwärmt von Sauberkeit, Diszi- Investoren verkaufen. Für das vereinte pa- Brot verdienen können“, lautet das schlich- plin, Pflichterfüllung – und hat schon wie- triotisch-kommunistische Feldgeschrei hat te Wirtschaftscredo des Gouverneurs von der einen Plan: Rußlanddeutsche aus Zen- er nur Knurren übrig: „Dummes Zeug.“ Kursk. Schafft Ruzkoi das, ist er wirklich tralasien anzusiedeln und Bonn zur finan- „Der Gouverneur hat begriffen, daß ein Held des neuen Rußland. ziellen Förderung zu animieren. man Leute wie uns ungestört arbeiten las- Jörg R. Mettke

der spiegel 1/1998 119 Ausland überfluteten, hat sein Wirtschaftswunder auf Pump gebaut. SÜDKOREA Nach einer Kette von Firmen- und Ban- kenpleiten brach in den letzten Monaten das Kartenhaus zusammen: Ausländische Kim, der Comeback-Künstler Anleger zogen massenweise ihr Geld ab, die Landeswährung Won und die Aktien- Der Geheimdienst schickte ihm Killer, Diktatoren warfen ihn kurse fielen jeweils um mehr als 50 Pro- zent. Am 22. Dezember stufte die Rating- ins Gefängnis: Jetzt gewann Kim Dae Jung die agentur „Moody’s“ die Kreditwürdigkeit Wahlen – und ist konfrontiert mit einer Wirtschaftskatastrophe. Südkoreas dramatisch herab – für die Ban- ken, die kurzfristig 25 Milliarden Dollar ie nennen ihn den „Mandela Asiens“, antritt am 25. Februar als Versöhner, nicht zurückzahlen müssen und verzweifelt nach und seine erste politische Tat nach als Rächer. Kreditgebern suchen, eine Katastrophe. Sdem Triumph vor zwei Wochen ist Kim wird jede helfende Hand dringend Korea stehen extrem harte Einschnitte un- eine große Geste der Versöhnung, wie sie brauchen. Er hat sich seinen Lebenstraum ter IWF-Regie bevor, Millionen könnten vergleichbar wohl nur der südafrikanische erfüllt. Er hat es nun von der Gefängnis- ihre Jobs verlieren. Friedensnobelpreisträger fertigbringt: Kim zelle in den Regierungssitz, das „Blaue DJ ist für viele die letzte Hoffnung. Noch Dae Jung, 73, läßt seine Erzfeinde, die we- Haus“ geschafft – allerdings in einem Au- im Wahlkampf hatte er die nationale Em- gen Umsturz und Bestechung zu langjähri- genblick, da die Nation am Abgrund steht: pörung über den IWF-Deal geschürt und ei- gen Haftstrafen verurteilten Diktatoren – Der neue Präsident muß den elftgrößten nen „Tag der nationalen Schande“ ausge- Amtsvorgänger Chun Doo Hwan, 66, und Industriestaat auf einen ungeheuren Kraft- rufen. Als der langjährige Gewerkschafter Roh Tae Woo, 65 – begnadigen. akt einstimmen. Nur mit Hilfe eines 57- jedoch merkte, wie seine Attacke ausländi- Der vorweihnachtliche Gnadenakt kam Milliarden-Dollar-Kredits vom Internatio- sche Investoren verschreckte, lenkte er ein, bei der überwiegenden Mehrheit des nalen Währungsfonds (IWF) hält sich Süd- sprach zum erstenmal sogar von „unver- Volkes gut an. Die Amnestie fördere die korea derzeit so einigermaßen über Was- meidlichen Entlassungen“ und gelobte die „nationale Geschlossenheit“, lobte die ser. Aber selbst diese Gelder werden nicht Einhaltung der IWF-Bedingungen. Zeitung „Hankyoreh“. Aber vor allem die reichen, der Staatsbankrott droht (siehe Zum Beweis seiner Aufrichtigkeit plau- einstigen Peiniger des Ex-Dissidenten at- auch Seite 68). derte er per Satellit gar mit zwei der bei meten auf: „DJ“ Kim, wie er im Volks- Die Einsicht in den Ernst der Lage fällt konservativen Asiaten verpönten Idolen mund heißt, nach drei vergeblichen An- den stolzen Koreanern sichtbar schwer: der freien Marktwirtschaft – dem US-Mil- läufen und als erster Oppositioneller in der Seoul, dessen Industrie-Konglomerate – die liardär und Devisenspekulanten George Geschichte seines Landes zum Präsiden- Chaebol – die Welt mit ihren billigen Au- Soros und dem Popsänger Michael ten gewählt, agiert schon vor seinem Amts- tos, Schiffen und Computerchips geradezu Jackson. FOTOS: REUTERS FOTOS: Arbeiter in Seoul protestieren gegen das Diktat des Währungsfonds: Einen „Tag der nationalen Schande“ ausgerufen

120 der spiegel 1/1998 Es war nicht die erste – war die Provinz von der und wohl nicht die letzte – Regierung in Seoul stets Wende, die DJ in seiner benachteiligt worden. Be- über 40jährigen Politiker- sonders bei den Wählern in laufbahn vollzog. Vor eini- seiner Heimat, bei der klas- gen Monaten hatte er sich sischen Kim-Klientel der ausgerechnet mit Kim Jong Arbeiter, sind die Erwar- Pil verbündet. Der war 1961 tungen an den neuen Präsi- maßgeblich an dem Mili- denten hochgespannt. tärputsch von General Park Außer Zweifel steht Chung Hee beteiligt, auf Kims Kampf für die Demo- den drei Jahrzehnte Dikta- kratie. In einem Aufsatz für tur folgten. Kim Jong Pil „Foreign Affairs“ wider- gründete überdies den sprach er Versuchen, auto- Geheimdienst KCIA, der ritäre Regime mit dem Hin- mehrmals versuchte, Kim weis auf „asiatische Werte“ Dae Jung zu ermorden. zu rechtfertigen. Aber Kim Das Arrangement muß ist auch nicht der linke Re- DJ einiges abverlangt ha- volutionär, als den ihn sei- ben: Unter der Diktatur Wahlsieger Kim Dae Jung: Versöhner, nicht Rächer ne innenpolitischen Gegner verbrachte er sechs Jahre verteufeln oder als den ihn im Gefängnis, zehn Jahre unter Hausar- Auch später überlebte westeuropäische Studenten rest und drei Jahre im politischen Exil. Kim nur durch den Druck vereinnahmen. So war sich Nachdem er bei der Präsidentschaftswahl aus dem Ausland: Im Sep- DJ schon bei der Präsiden- 1971 gegen Diktator Park beachtliche 45 tember 1980 ließ ihn Dik- tenwahl 1992 nicht zu scha- Prozent der Stimmen – bei ehrlicher Aus- tator Chun in einem Schau- de, von Ex-Präsident Roh zählung womöglich sogar die Mehrheit – prozeß wegen angeblicher Spenden zu kassieren. errungen hatte, war er vor der Rache des Umsturzpläne zum Tod Es wird dem Neuen an gedemütigten Regimes nicht mehr sicher. durch Erhängen verurtei- der Macht schwerfallen, es Das erste Mal entkam Kim einige Mo- len. Das Regime warf Kim allen recht zu machen: Im nate später knapp einem Attentatsversuch: unter anderem vor, den Parlament fehlt ihm nach Ein Militärlastwagen rammte seinen Pkw – Aufstand von Kwangju an- seinem knappen Sieg mit nicht nur Kim vermutete den KCIA hinter gezettelt zu haben, obwohl 40,3 Prozent der Stimmen dem Anschlag; seither ist er gehbehindert. er sich damals in Gewalt die Mehrheit, und unter Er floh in die USA, nach Japan. Dort fuhr des KCIA befunden hatte. dem IWF-Regime, das in der begnadete Rhetoriker Kim fort, das au- Seine Verurteilung rief im Häftlinge Roh, Chun (1996) Wahrheit die Wirtschafts- toritäre Regime Park zu kritisieren. Doch Westen heftige Proteste politik diktiert, hat er nicht seines Lebens war er nie sicher.Aus Furcht hervor. Von Haft und Folter war Kim der- den geringsten Spielraum.Viele fragen sich vor den Häschern des Geheimdienstes art geschwächt, daß er das Urteil nur im nur noch, wen Kim zuerst gegen sich auf- wechselte er ständig Hotels und lebte un- Sitzen entgegennehmen konnte. bringen wird – seine konservativen Bun- ter falschen Namen. Am Ende mußte Diktator Chun dem desgenossen, die Chaebol oder die Ge- Der Arm des Regimes reichte länger: Druck der USA nachgeben und das To- werkschaften. Wird DJ womöglich, wie Am 8.August 1973 wollte sich Kim vor dem desurteil in lebenslängliche Haft umwan- sein Vorgänger, Tränengas gegen verbitter- Zimmer 2211 des Tokioter Hotels „Grand deln.Als Ausgleich für den Gesichtsverlust te Arbeiter versprühen, die gegen den Ver- Palace“ gerade von einem Freund verab- empfing der frischgewählte US-Präsident lust ihrer Jobs protestieren? Wird er prü- schieden, als sich auf dem Flur sechs Män- Ronald Reagan Chun als ersten ausländi- geln lassen auf die radikalen Studenten, ner auf ihn stürzten. Sie schlugen ihn und schen Staatschef im Weißen Haus. an deren Seite er immer war? stülpten ihm eine Äthermaske über das Ge- All das hat sich Kim Dae Jung ins Ge- Gegenüber dem kommunistischen Nor- sicht. Danach schleppten ihn die Angreifer dächtnis eingebrannt. Doch er unternahm den dürfte der Regierungschef nicht von in ein Auto und fuhren ihn nach Osaka, wo Anfang Dezember eine Wallfahrt zum seiner Linie des Kompromisses abweichen. sie ihn auf ein Motorboot verluden. Dort Geburtshaus des 1979 ermordeten Ge- Anders als seine Vorgänger ist er in Pjöng- erlitt Kim die entsetzlichsten Stunden sei- waltherrschers Park, verzieh postum sei- jang nicht verhaßt und trägt auch selbst nes Lebens: Die Kidnapper befestigten ihm nem einstigen Peiniger und versprach den kein ideologisches Gepäck mit sich herum, Gewichte an Armen und Beinen; Kim hör- Bürgern von Parks Heimatprovinz Kyong- das einer Annäherung im Wege stünde. Un- te seine Wärter beratschlagen, wie sie ihn sang gar ein Museum für den Diktator: mittelbar nach der Wahl ließ der Sieger im Meer versenken könnten, ohne daß sein Kim, der tiefgläubige Katholik – oder Kim, wissen, er sei auch zu einem Gipfeltreffen Körper wieder auftauchte. der berechnende Populist? mit dem „Kollegen“ Kim Jong Il aus dem Während der Gepeinigte gefesselt auf Vor allem war es ein geschickter Schach- Norden bereit. dem Motorboot lag, hörte er ein Flugzeug zug: Angesichts der Krise erinnern sich die DJ ist immer gut für Überraschungen. So kreisen, ein greller Blitz durchzuckte sei- Koreaner derzeit kaum an die brutalen hatte er sich nach seiner Wahlniederlage ne Augenbinde: Dabei habe es sich, so Kim Methoden Parks, dafür aber an die Erfol- 1992 „für immer“ aus der Politik zurück- später unwidersprochen, um eine Auf- ge des Diktators, der ihr Land in die indu- gezogen: „Jetzt gebe ich mein Mandat klärungsmaschine des amerikanischen CIA strielle Moderne katapultierte. zurück und werde wohl ein ganz normaler gehandelt. Die Entführer brachen ihre Ak- Wie nötig das Land Harmonie braucht, Bürger“, verkündete Kim damals. Das tion prompt ab.Anschließend schafften sie hat sich nach DJs Sieg gezeigt: In Kwang- wollte der Marathon-Mann dann doch Kim nach Seoul, wo ihn die Regierung un- ju tanzten die Menschen siegestrunken auf nicht und bewies langen Atem – nun be- ter Hausarrest stellte. Park hatte den Mord- jenem Marktplatz, wo die Militärs vor 17 kommt er seine große Chance gerade in ei- plan offenbar auf Druck des Bündnispart- Jahren das Massaker verübt hatten. Auch nem Augenblick, in dem sein Land kaum ners USA abbrechen müssen. zur Strafe für ihren aufmüpfigen Sohn Kim mehr Chancen besitzt. ™

der spiegel 1/1998 121 Ausland W. STEVENS / GAMMA STUDIO X W. Markt in der Elfenbeinküsten-Metropole Abidjan: „Auch südlich der Sahara gibt es Staaten, in denen nicht dauernd der Strom ausfällt“

stige Preise für die beiden wichtigsten Ex- AFRIKA portgüter Kakao und Kaffee bescherten dem Land in den vergangenen drei Jahren ein anhaltendes Wirtschaftswachstum von Starker Elefant annähernd sieben Prozent. Die Londoner „Financial Times“ entdeckte an der Elfen- Endlich einmal gute Nachrichten vom Kontinent beinküste „Afrikas Tiger-Ökonomie“. Das Land selbst nennt sich „Afrikas Elefant“. der Krisen: Mehrere afrikanische Länder entwickeln sich Die Elfenbeinküste ist kein Einzelfall. vom Hilfeempfänger zum Handelspartner. Zwar leben 45 Prozent der 600 Millionen Menschen südlich der Sahara mit Ein- er Präsident der Republik Elfen- Deren Spitzenmann gehört zur neuen künften von umgerechnet weniger als ei- beinküste leidet unter dem düste- Generation afrikanischer Führer, obwohl er nem Dollar täglich in schlimmer Armut; Dren Image des Schwarzen Konti- schon 63 ist – Bédié mußte auf die Präsi- zwar wütet die Aidsseuche in Afrika wie nents. „Das Bild der blutigen Unruhen in dentschaft warten; Staatsgründer Félix sonst nirgendwo auf der Welt; zwar zer- einigen Ländern“, bedauert Henri Konan Houphouët-Boigny hatte die Elfenbeinkü- störten Bürgerkriege ganze Staaten – wie Bédié, „wird einfach auf den gesamten ste von 1960 bis zu seinem Tod 1993 re- Somalia und Sierra Leone; die Bevölke- Kontinent übertragen – und die Welt auf giert. Sein Nachfolger studierte in Frank- rung weiter Regionen ist der Willkür loka- diese Weise getäuscht.“ reich Jura und Wirtschaftswissenschaften; ler Warlords ausgesetzt. Die Nachrichtenflut über Krisen und praktische Erfahrung sammelte Bédié als Doch Hiobsmeldungen über Schwarz- Kriege habe Menschen in aller Welt zu Finanzminister seines Landes und Mitar- afrikas Untergang waren verfrüht. Der „Afro-Pessimisten“ gemacht; Bédié will beiter der Weltbank und des Internationa- Weltbank-Bericht „Ein Kontinent im Wan- sie zu einem „Afro-Realismus“ bekehren: len Währungsfonds. del“ nennt sieben Länder mit Gesundungs- Auch südlich der Sahara gebe es Staaten, Nun umgibt sich der Präsident mit ähn- tendenz aufgrund gestiegener Investi- in denen die Telefone funktionierten, der lich geschulten Technokraten.Alle sind auf tionen und Wachstumsraten: Neben der Strom nicht dauernd ausfalle und die die Marktwirtschaft eingeschworen: Des- Elfenbeinküste waren das Äthiopien, Straßen keine Schlaglöcher hätten. halb privatisierte die Elfenbeinküste schon Ghana, Kenia, Mali, Senegal und Ugan- Das trifft etwa für die Elfenbeinküste zu. 44 von 60 öffentlichen Unternehmen, dar- da. Diese Länder hatten mehr oder we- In dem westafrikanischen 15-Millionen-Ein- unter die Telefongesellschaft, die Was- niger demokratische Wahlen abgehalten wohner-Land von der Größe Norwegens serwerke und die Eisenbahn. Auf der 1260 und die Verwaltung reformiert. Ihre Re- bietet die intakte Infrastruktur eine Vor- Kilometer langen Bahnstrecke von der gierungen schufen Anreize für die einhei- aussetzung für eine funktionierende Wirt- Hafenstadt Abidjan zur Hauptstadt des mischen Bauern. schaft. Die andere ist politische Stabilität: In benachbarten Burkina Faso, Wagadugu, „Eine neue Spezies von afrikanischen 37 Jahren Unabhängigkeit erlebte die El- stiegen daraufhin die Einnahmen inner- Führern versucht die Abhängigkeit von fenbeinküste keinen einzigen Militärputsch. halb von zwei Jahren um das Elffache. ausländischer Hilfe zu durchbrechen“, ur- Seit 1990 sind in dem einstigen Ein-Partei- Die weitgehend erfolgreiche Privatisie- teilt der britische „Economist“. Sie be- en-Staat Oppositionsparteien zugelassen, rung, die Anpassung der Währung an den trachteten ihre Länder „nicht mehr als Op- sie schauen der Regierung auf die Finger. französischen Franc und – vor allem – gün- fer des Kolonialismus, sondern als aufstre-

122 der spiegel 1/1998 bende Märkte, die aus eigener Kraft von die Minen kauft“, sagt Präsident Frederick der globalen Ökonomie profitieren kön- Chiluba, „wenn sie nur Geld abwerfen und nen“. Es sei „höchste Zeit“, fordert das zum Haushalt beitragen.“ Wirtschaftsmagazin, „daß auch die Aus- Afrikanische Länder laden Investoren länder Afrika so sehen“. zu regelrechten Bazaren ein – wie bei- Für das südliche Afrika trifft das schon spielsweise die Elfenbeinküste Ende No- zu. „Wir meinen, daß diese Region keine vember ins Kongreßzentrum des Nobel- gutgemeinten karitativen Handreichun- hotels „Ivoire“ in Abidjan: Da wurden gen braucht, sondern echte wirtschaftli- Staatsbetriebe zum Kauf angeboten; ein- che Partnerschaft“, sagt Jürgen Schrempp. heimische Privatunternehmen suchten aus- Der Daimler-Benz-Chef hat den Vorsitz ländische Partner. Ein Katalog listete rund der „Südliches Afrika Initiative der Deut- hundert Projekte auf. Ausländischen Ge- schen Wirtschaft“ übernommen, einer schäftsleuten versprachen die Organisato- Interessengemeinschaft des Bundesver- ren des Investment-Forums Hilfe beim bandes der Deutschen Industrie, des Deut- Abschluß von „maßgeschneiderten Ko- schen Industrie- und Handelstages und des operationsverträgen“. Afrika-Vereins. An der Elfenbeinküste kommen die mei- „Der Markt der Zukunft liegt im südli- sten Partner aus dem alten „Mutterland“: chen Afrika“, glaubt Schrempp. Die zwölf Französische Unternehmen bringen 35 Länder des regionalen Zusammenschlusses Prozent der ausländischen Investitionen Southern African Development Commu- auf; rund 20000 Franzosen leben in dem nity (SADC) mit 180 Millionen Einwoh- afrikanischen Land. Auf den Straßen von nern erwirtschaften zusammen ein Brut- Abidjan erregt ein weißer Fallschirmjäger- tosozialprodukt von 170 Milliarden Dollar, Offizier in Uniform nicht das geringste Auf- was etwa den Werten Indonesiens ent- sehen. Paris unterhält an der Elfenbein- spricht. Zum erstenmal seit vielen Jahren küste einen Militärstützpunkt mit einigen wuchs 1996 die Wirtschaft in allen SADC- hundert Soldaten – ununterbrochen seit Staaten, in acht Mitgliedsländern sogar um der Unabhängigkeit. mehr als fünf Prozent. Heute zählt Präsident Bédié die Diver- Als „Lokomotive“ soll die Republik sifizierung zu „unseren größten Heraus- Südafrika den Aufschwung in der Region forderungen“: Die Elfenbeinküste will langfristig sicherstellen. Dabei setzt der mit vielen Ländern intensive Verbin- einstmals sozialistische ANC von Nelson dungen pflegen. Vor allem soll ihr wirt- Mandela als Regierungspartei konsequent schaftliches Wohlergehen nicht mehr ein- auf die Privatisierung – wie alle anderen seitig vom Verkauf von Rohstoffen wie SADC-Staaten. So will das auf Kupfer-Ex- Kakao und Kaffee abhängen, der dem port angewiesene Sambia seine staatlichen Land derzeit 60 Prozent der Devisenein- Bergwerke loswerden. „Uns ist egal, wer nahmen bringt. „Innerhalb von einer Generation“ Kontinent im Wandel möchte Bédié sein Land in „eine neue In- Wirtschaftswachstum 1996 gegenüber dustrienation“ umwandeln. Das klingt ver- dem Vorjahr in Prozent messen. Doch immerhin wurden an der Elfenbeinküste schon Fabriken errichtet, die 15 Prozent der Kakaoernte zu Kakao- butter verarbeiten; im Jahr 2000 sollen es 4,0 50 Prozent sein. Es gibt Schokolade und 5,6 12,4 Kosmetika „Made in Côte d’Ivoire“. Auch ihr Tropenholz verarbeitet die Mali Elfenbeinküste überwiegend im Land; Senegal geschickte Tischler stellen un- ter anderem kunstvoll ver- 5,2 7,0 Äthiopien schnörkelte Barockmöbel her – 6,8 eine wachsende Mittelschicht schmückt damit ihre Häuser. Ghana 4,2 Uganda Solche Bürger haben erkannt, 12,5 Kenia Elfenbein- daß der Regenwald nicht mehr küste 4,3 wie einst abgeholzt werden 6,4 Tansania darf: Der Bestand im Land SADC- 9,7 Staaten schrumpfte von 15,6 Millionen 8,1 Angola Malawi Hektar 1960 auf knapp 1 Million Sambia 1990. Inzwischen gibt es Auffor- Simbabwe Mosambik stungsprogramme und zwei Na- Namibia 7,0 turschutzgebiete. Die wenigen Bots- 6,4 übriggebliebenen Elefanten be- wana 5,8 14,1 2,6 nötigen Lebensraum. „Wir können doch nicht zu- Lesotho Mauritius lassen“, findet ein Regierungs- 3,1 3,2 funktionär, „daß der Fortschritt Südafrika Swasiland unser Wappentier tötet.“ ™

der spiegel 1/1998 123 Ausland

SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir sind keine Anti-Europäer“ Der britische Europaminister Doug Henderson über die Währungsunion, die deutschen Interessen und die abwartende Haltung seines Landes

Ansturm auf die Union

Netto-Zahler der EU 1996 in Milliarden Ecu* Deutschland 10,9 Niederlande 2,4 Großbritannien 2,3 Italien 1,3 Schweden 0,7 Frankreich 0,4 Großbritannien Österreich 0,2 Niederlande Irland Netto-Empfänger Belgien 0,1 Finnland Lux. 0,2 Dänemark Frankreich 0,8 Luxemburg 1,9 Belgien 2,3 Irland Portugal 2,8 Portugal Spanien 4,1 Griechenland 6,1 Spanien *1 Ecu = 1,97 Mark P. MARLOW / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM MARLOW P.

SPIEGEL: Herr Minister, Höhepunkt der bri- Doug Henderson SPIEGEL: Dagegen hat der Brüsseler Kom- tischen EU-Präsidentschaft in den näch- arbeitete als Schlichter hinter den Par- missionspräsident Jacques Santer gerade sten sechs Monaten wird der Moment sein, teikulissen, bevor Tony Blair den ein- erst gesagt, niemand würde widersprechen, in dem die Staats- und Regierungschefs stigen Rolls-Royce-Lehrling, Gewerk- wenn Großbritannien sich entschiede, so- über die Teilnehmer der Europäischen schafter und Management-Berater fort mitzumachen. Währungsunion entscheiden. Warum will zum Europaminister berief. Der Pre- Henderson: Herr Santer spricht für die sich Ihre Regierung nicht gleich dem Euro mier war von dessen Fähigkeit beein- Kommission. Die französische oder auch anschließen? druckt, auch komplexe politische The- die deutsche Regierung haben erkennen Henderson: Als Schatzkanzler Gordon men wirkungsvoll darzustellen. In lassen, daß sie ähnlich handeln würden Brown vor wenigen Wochen im Parlament seinem Wahlkreis Newcastle erhielt wie wir, wenn sie in unserer Position ankündigte, daß es keine grundsätzlichen der gebürtige Schotte im Mai 62,2 Pro- wären. Einwände gegen Großbritanniens Beitritt zent der Wählerstimmen. Mit einer SPIEGEL: Bedrängen Sie die Banker der zur gemeinsamen Währung gebe, war das Marathon-Bestzeit von zwei Stunden Londoner City nicht, so schnell wie mög- ein großer Schritt vorwärts. Seither müssen und 46 Minuten ist Henderson, 48, lich beizutreten? wir nur noch die Frage beantworten: Liegt auch der leistungsstärkste Sportler im Henderson: Sicherlich hat die City die Re- es im wirtschaftlichen Interesse Groß- britischen Parlament. gierung gedrängt, sich schnellstens über britanniens, bereits zum mutmaßlichen das Problem klarzuwerden. Die Antwort Starttermin am 1. Januar 1999 mitzu- der Finanzmärkte auf unsere Politik war machen? trittsländern. Das hat beträchtliche Folgen aber sehr positiv. Wenn dann nach der SPIEGEL: Was spricht dagegen? für die Höhe der Zinsen und für die nächsten Wahl die Entscheidung getroffen Henderson: Der Wirtschaftszyklus in unse- Bekämpfung der Inflation bei uns. Wenn wird, daß der Beitritt in unserem wirt- rem Land befindet sich in einer ganz an- wir mit unserer Entscheidung drei bis fünf schaftlichen Interesse liegt, werden die deren Phase als in den wichtigsten Bei- Jahre abwarten, gibt uns das Gelegenheit, Finanzinstitute vorbereitet sein. die Wirtschaftszyklen in Europa einander SPIEGEL: Und wann wird das passieren? Das Gespräch führten die Redakteure Hans Hoyng und anzugleichen. Ein Beitritt vor der nächsten Noch vor 2002, wenn die neuen Euro- Dirk Koch in London. Wahl ist unwahrscheinlich. Banknoten in Umlauf gebracht werden?

124 der spiegel 1/1998 Henderson: Noch wissen wir nicht, wann teresse solcher Länder, die, wie wir selber, den und bei unseren Partnern einen Wan- die Wahlen wirklich stattfinden werden. möglicherweise erst zu einem späteren del durchsetzen können. Aber genausogut Theoretisch könnten sie sogar schon mor- Zeitpunkt dazustoßen.Wichtig ist, daß wir wird es Situationen geben, in denen wir gen ausgerufen werden. Sollten die Briten eine starke Währung etablieren. den Initiativen anderer Länder folgen. tatsächlich früher wählen, wird die nächste SPIEGEL: Kanzler Helmut Kohl hat seinem SPIEGEL: Der ehemalige amerikanische Si- Labour-Regierung auch in der Lage sein, Kabinett mitgeteilt, man wolle die Schwe- cherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat ohne große Verzögerung über den Beitritt den, die Dänen und die Briten nicht im jüngst in seinem Buch geklagt, es sei ein zu befinden. Euro-Rat. Sollten sie darauf bestehen, Jammer, daß London abseits stehe und die SPIEGEL: Dann wird also die nächste Wahl „dann treffen wir uns eben, wo wir wollen, Führungsrolle Paris und Bonn überlasse. für die Briten zur großen Entscheidung notfalls vor der Herrentoilette“. Henderson: Mit Sicherheit war das in den über Europa? Henderson: Natürlich kann man sich im- letzten 18 Jahren der Fall, in denen sich die mer irgendwo hinter den Fahrradschuppen treffen.Aber wenn der Euro-Rat einen Sinn haben soll, dann muß er sich auf eine Auf- gabe beschränken und sich mit den Wech- selkursen befassen. Wenn weitergehende Schweden Finnland Dinge erörtert werden, geht es eben auch mehr Länder an als nur die Mitglieder der Euro-Zone. SPIEGEL: Haben Sie nicht das Gefühl, nun einen historischen Durchbruch in Europa zu verpassen? EU-Mitglied- Henderson: Solche Bewertungen müssen staaten Estland wir wohl den Historikern überlassen.Aber Beitritts- wir haben seit unserer Regierungsüber- Lettland anwärter, nahme im Mai viel aufgeholt. Unsere Vor- Dänemark Verhandlungen ab April 1998 gänger waren feindlich eingestellt gegen- Litauen über der Einheitswährung, glaubten nicht Deutschland Beitritts- anwärter an ihre Verwirklichung und unternahmen Polen keinen Versuch, das Vereinigte Königreich Tschechien in irgendeiner Form daran zu beteiligen. Slowakei Das hat sich geändert. Österreich Ungarn SPIEGEL: Reicht das den Investoren, die sich nach Anlagemöglichkeiten in Großbritan- Rumänien nien umsehen? Für die verliert Ihr Land Slowenien Bulgarien doch an Attraktivität, wenn es nicht bald Italien zur Währungsunion gehört. Henderson: Die Investoren äußern sich zu- Türkei frieden über die konstruktive Beziehung, die Großbritannien derzeit mit der Union Griechenland unterhält. Sie nehmen zur Kenntnis, daß Zypern wir im Prinzip keine Hindernisse für ei- FOCUS / AGENTUR / MAGNUM I. BERRY nen Beitritt zur gemeinsamen Währung Bankenviertel in London Henderson: Ja, ich glaube, Europa wird ei- entdecken können. Noch vor kurzem sind „Die Antwort der City war positiv“ nes der zentralen Themen für die nächste neue Investitionen angekündigt worden. Wahl werden. SPIEGEL: Dagegen spricht Toyotas Ent- britische Regierung damit begnügt hat, ab- SPIEGEL: Und vorher wird es kein Referen- scheidung, ein neues Automobilwerk in seits zu stehen und das Vetorecht zu be- dum über den Euro geben? Frankreich und nicht in Großbritannien zu nutzen, wenn ihr etwas nicht gefiel. Auf Henderson: Wenn es nicht unvorhergese- bauen. diese Weise konnten wir keinen Einfluß hene Umstände gibt, nein. Henderson: Dennoch, nach wie vor wird auf die Europäische Union ausüben. Das SPIEGEL: Was könnten solche Umstände auch hier investiert. hat sich im letzten halben Jahr grundle- sein? SPIEGEL: Wenn wir behaupten, daß Groß- gend gewandelt. Henderson: Als Schatzkanzler Brown diese britannien am 1. Januar 2002 Mitglied der SPIEGEL: Wird Ihre Regierung auch in Zu- Frage gestellt wurde, antwortete er: „Sie Währungsunion sein wird, würden Sie da- kunft jene 66 Prozent Rabatt zurückfor- sind eben unvorhersehbar.“ gegen wetten? dern, die Margaret Thatcher so vehement SPIEGEL: Auf der einen Seite zögern Sie, Henderson: Ich bin ein Fan des Falkirk Foot- auf den britischen Beitragssatz erstritten dem Euro beizutreten, auf der anderen ball Clubs aus der schottischen Liga. Das hat? Oder sind Sie bereit, mit den anderen Seite haben Sie auf dem Gipfel von Lu- hat mich gelehrt, niemals Ergebnisse vor- Führungsmächten in Europa über eine xemburg erbittert dafür gekämpft, Mitglied herzusagen. Wenn ich ein Fan von Bayern neue, gerechtere Aufteilung der Kosten zu im Euro-Rat zu werden. Wie paßt das zu- München wäre, würde ich das gleiche emp- reden? sammen? fehlen. Henderson: Letztlich zahlen wir einen ver- Henderson: Das ist sehr wohl konsistent. SPIEGEL: Wenn Sie an der Währungsunion nünftigen Anteil.Vielleicht denkt Deutsch- Wir sind Mitglied in der Europäischen Uni- nicht teilnehmen, wie wollen Sie dann eine land ja, daß es ein bißchen mehr bezahlt, on, wir arbeiten aktiv mit – in einem posi- Führungsrolle in Europa ausüben? als es eigentlich zahlen sollte … tiven, konstruktiven Sinn, wie ich hoffe. Henderson: Politische Führung bedeutet vor SPIEGEL: … Großbritannien finanziert der- Während unserer Ratspräsidentschaft wol- allem, seinen Beitrag zu einer anhalten- zeit etwa 11,6 Prozent des EU-Budgets, len wir eine feste Währung für diejenigen den Diskussion zu leisten. Es wird Gele- Deutschland 28,7 Prozent. Seit der Wie- Länder etablieren, die in der ersten Welle genheiten geben, in denen wir unsere ei- dervereinigung haben sich die deutschen mitmachen. Das ist natürlich auch im In- gene Überzeugung herausstreichen wer- Kassen geleert.

der spiegel 1/1998 125 Ausland

Henderson: Wir zahlen ja nicht nur viel ein. Henderson: Wo es Sinn ergibt und wo sich an die künftigen neuen Mitglieder in Ost- Wir alle, auch Deutschland, erhalten viel der Zwang zur Harmonisierung zeigt, ist europa denkt. Doch gleichzeitig müssen zurück.Wenn Deutschland dennoch meint, der gemeinsame Markt jetzt schon am wir auch die Unterschiedlichkeit der ein- daß es im Endeffekt weniger zahlen müß- Werk, und dieser Prozeß wird sich auch zelnen Teile Europas anerkennen. te, dann muß es auch jemanden ausgucken, weiterhin fortsetzen. SPIEGEL: Großbritannien pflegt über Euro- der mehr bezahlen soll. SPIEGEL: Dennoch scheint es in Großbri- pa hinaus seine Beziehungen zum Com- SPIEGEL: Großbritannien zum Beispiel? tannien größere Vorbehalte gegen ein en- monwealth, seine besondere Verbindung Henderson: Ganz bestimmt nicht. geres Zusammenarbeiten in Europa zu ge- zu den Vereinigten Staaten. Ist auch des- SPIEGEL: Welche politischen Veränderun- ben als anderswo. Besteht wirklich ein halb das Ansehen der Europäischen Union gen erwarten Sie durch den Euro? Wird grundsätzlicher Unterschied zwischen dem bei Ihnen in Umfragen so niedrig? die Währungsunion, wie von Deutschland Inselstaat und dem kontinentalen Europa? Henderson: Ich kann die Prämisse nicht hin- und Frankreich gewünscht, automatisch zu Henderson: Das kann ich nicht so sehen. nehmen, daß die Briten Anti-Europäer einer größeren Integration führen? Aber natürlich gibt es unterschiedliche Er- sind. Wenn Sie mit Arbeitern der Autofa- brik von Nissan in Nordostengland spre- chen, dann wissen die, daß Europa ihnen Arbeit verschafft hat. Nissan hat sich nur deshalb hier angesiedelt, weil die Firma ei- nen Standort in der Europäischen Union suchte.Wenn diese Arbeiter in die Zukunft blicken, wissen sie auch, daß Großbritan- nien weiterhin innerhalb der Europäischen Union eine positive Rolle spielen muß. SPIEGEL: In Luxemburg wurde die Erwei- terung der Gemeinschaft beschlossen.Wird sich das größere Europa nur zu einer größeren Freihandelszone entwickeln, oder müssen auch die europäischen Institu- tionen gestärkt werden? Henderson: Wir setzen uns sehr für die Ver- größerung Europas ein, obwohl diese Ver- größerung in rein wirtschaftlicher Hinsicht vielleicht stärker im Interesse Deutschlands als im Interesse Großbritanniens liegt. Selbstverständlich bewirkt die Erweiterung einerseits eine Vergrößerung der Freihan- delszone, andererseits bringt sie aber auch politische Sicherheit, die mit der wirt- schaftlichen Verflechtung in einem größe- ren Raum einhergeht. Inwieweit allerdings die Institutionen der EU gestärkt werden müssen, ob die Politik vereinheitlicht wer- den muß – das wird von Fall zu Fall zu entscheiden sein. SPIEGEL: Wie ihre Vorgänger scheint auch die Regierung Blair eine Europapolitik à la

F. DARCHINGER F. carte zu bevorzugen, bei der man sich nur Europa-Partner Blair, Kohl: „Natürlich kann man sich hinter den Fahrradschuppen treffen“ das Angenehme herauspickt. Henderson: Ich glaube nicht, daß irgendein Henderson: Sie wollen mich hier zwingen, fahrungen in Europa. Nehmen wir einmal Land heute einen europäischen Bundes- die Zukunft aus einer Kristallkugel her- an, Sie lebten im Herzen Europas, würden staat anstrebt. auszulesen. Eine solche Entwicklung ist in Frankreich wohnen, in Luxemburg ar- SPIEGEL: Bundeskanzler Kohl wünscht sich möglich, aber keineswegs zwingend. Es beiten, abends in Deutschland Fußball spie- sehr wohl ein Vereintes Europa. gibt zum Beispiel keinen Grund, warum len und später noch eine Kneipe in Belgi- Henderson: Da bin ich gar nicht so sicher. es unter den Mitgliedsländern der ge- en aufsuchen – alles am selben Tag. Jemand Die deutsche Regierung geht sehr prak- meinsamen Währung auch eine gemeinsa- im Herzen Europas sieht die Union mit an- tisch an Europa heran und kämpft hart für me Steuerpolitik geben müßte. deren Augen als einer, der auf den Shetland das deutsche Interesse. Und das liegt nicht SPIEGEL: Es gibt sogar schon Überlegun- Inseln oder in Nordfinnland wohnt. Wenn immer in einem Bundesstaat Europa. gen, ob die EU nicht selber Steuern erhe- die Europäische Union eine Zukunft ha- SPIEGEL: Könnte das neue, größere Europa ben sollte. ben soll, und ich hoffe inständig, daß sie die auch ein deutscheres Europa sein? Henderson: Das halte ich nicht für wün- hat, dann müssen wir diese beiden Lebens- Henderson: Es wird sicher einfacher für die schenswert. Jedes Land sollte auch weiter- erfahrungen in Einklang bringen. deutsche Industrie und für deutsche Han- hin in der Lage sein, seine eigenen Steuern SPIEGEL: Also ist eine Vertiefung der Union delsfirmen sein, ihre Waren in den neuen zu erheben. unausweichlich? Beitrittsländern zu verkaufen, ganz ein- SPIEGEL: Darüber hinaus wird es zusätz- Henderson: Natürlich muß die Union über fach weil diese näher an Deutschland lie- lichen Druck geben, die Sozialpolitik zu ein ausreichendes Maß an gemeinsamer Si- gen. Aber ich hoffe, daß unsere britischen harmonisieren, das Erziehungswesen zu cherheitspolitik verfügen, über eine ge- Unternehmen ihre Chancen erkennen und vereinheitlichen, alles einander anzuglei- meinsame Stabilität und über ein gemein- wahrnehmen. chen, was den gemeinsamen Markt be- sames Wirtschaftssystem, das ganz Europa SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen hindert. umfaßt. Das gilt vor allem auch, wenn man für dieses Gespräch.

126 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Ausland des jugoslawischen Erbfolgekrieges schon nahezu alle Serben – mit Ausnahme der BALKAN bosnischen – in einem Staat. Nur nicht im erträumten Großserbien, sondern in einem zusammengeschrumpften Rest-Jugosla- „Unser Jerusalem“ wien, in dem immer noch fast jeder dritte Einwohner einer Minderheit angehört: In Rest-Jugoslawien droht ein neuer Krieg. Radikale Albaner, Ungarn und andere Volksgrup- pen. Sie leben in einem Staatsgebilde ohne Serben und Albaner streiten um das föderative Rechtsstrukturen und Minder- Kosovo – mit Hetzparolen, Terror und Gegenterror. heitenschutz. In Serbiens Provinz Kosovo aber sind 90 Prozent der Bewohner keine Serben, sondern – Albanien benachbart – Skipe- taren. Dort lautet der jüngste Schlacht- ruf einer dubiosen Befreiungsarmee- Kosovo (UCK) „Schluß mit der Besat- zung!“ Aktivisten haben in den vergange- nen eineinhalb Jahren sporadisch Polizei- stationen und Kasernen überfallen, nun möchten sie zum „Volksbefreiungskampf mit allen Mitteln“ schreiten, zur „militäri- schen Konfrontation mit den Besatzungs- truppen“. In ihrem neuesten Kampfkommuniqué Nr. 40, aufgenommen auf Video, behaupten die Untergrundkämpfer, sie hätten allein in einer Woche die Polizeiwachen mehrerer Dörfer nach stundenlangen Gefechten in die Flucht geschlagen. Für die mysteriöse Ermordung eines albanischen Politikers zeichnen sie ebenfalls verantwortlich, er- schossen wegen „Kollaboration mit dem Feind“, und prahlen mit dem Abschuß ei- ner einmotorigen Cessna. Dabei sind an- geblich fünf serbische Agenten gestorben.

G. MENN / AGENTUR FOCUSG. MENN / AGENTUR „Wir machen den Besatzern unseres Mahnwache für den ermordeten Albaner Gecaj: „Vereint im Kampf“ Landes noch einmal deutlich“, heißt es zur Begründung, „solange ihr mit unserem n düsteren Vorzeichen fehlt es Diesmal sind es serbische Bürgerweh- Volk in der Sprache der Gewalt und des nicht. Wer will, kann sie sehen, die ren und Polizei-Sondereinheiten, die sich Verbrechens kommuniziert, antworten wir ASchrift an der Wand. Überall im al- mit schwerbewaffneten Albaner-Komman- darauf mit noch stärkeren Waffen.“ banischen Siedlungsgebiet Serbiens, dem dos nächtliche Scharmützel liefern – und Nach dem Muster militanter Nordiren Kosovo, sprühen Unbekannte seit kurzem sich öffentlich ihrer Morde brüsten. Auf wollen die UCK-Partisanen ihre Provinz auf Häuserwände, Ortstafeln und Ver- beiden Seiten übernehmen fanatische Na- im Süden Serbiens mit dem „Mutterland“ kehrsschilder Parolen wie „Albaner ver- tionalisten in wirren Erklärungen die Ver- Albanien vereinen. Nach dem Zerfall des schwindet, Kosovo den Serben“. antwortung für die Anschläge. Vielvölkerstaats Jugoslawien fordern sie Zwei Jahre nach der Unterzeichnung Serbische Freischärlerverbände, die einst nun auch für die zwei Millionen Kosovo- des bosnischen Friedensabkommens von in Kroatien und Bosnien Vertreibungen Albaner das Recht auf Selbstbestimmung Dayton ist der Balkan nur durch die Feu- und Pogrome als legitimes Mittel zur „Si- wie vor ihnen Kroaten und Bosnier. Sie erwehr-Diplomatie der Großmächte und cherung serbischen Lebensraumes“ pro- scheuen nicht davor zurück, militärische die Präsenz von Nato-Truppen befriedet. pagierten, fordern nun ein „albanerfreies Mittel zur Erreichung ihrer Ziele einzu- Jetzt könnte ein Funkenschlag das nächste Kosovo“. Um diesem Ziel Nachdruck setzen. Pulverfaß ethnischer Zwietracht hochja- zu verleihen, zögern sie Auf friedliche Protest- UNGARN gen – es droht ein Krieg zwischen Serben nicht, auf offenem Feld 100 km kundgebungen der Koso- und Albanern. albanische Bauern nie- vo-Albaner hatte Belgrad Im Kosovo, jener einst autonomen Pro- derzustechen oder zu KROA- Vojvodina bislang stets mit Polizei- RUMÄNIEN vinz des untergegangenen kommunisti- lynchen. Die Regierung in TIEN terror und der Schließung schen Jugoslawien, brachen die Narben der Belgrad läßt die Extremi- albanischer Kulturhäuser Geschichte in diesem Dezember in einer sten gewähren, die Zei- BOSNIEN- Belgrad und Schulen reagiert, de- Folge auf, die fatal an die ersten bewaffne- tungen verschweigen sol- HERZE- mokratische Parteien und ten Auseinandersetzungen zwischen Kroa- che Greueltaten, und die GOWINA SERBIEN Bürgerbewegungen in die ten und Serben im Sommer 1991 erinnert. orthodoxe Kirche gibt Sarajevo Illegalität gedrängt. In Rest-Jugoslawien BULGA- Damals führte als Auftakt eine Serie von indirekt ihren Segen, RIEN Behörden fanden fast Morden serbischer Freischärler an kroati- wenn sie die Maxime aus- ausschließlich Serben ei- schen Nationalgardisten in den gemisch- gibt „Ein Staat für alle MONTENEGRO Pri∆tina ne Stellung, Zehntausen- ten Siedlungsgebieten des dalmatinischen Serben“. Kosovo de Albaner hingegen, die Hinterlandes der Krajina zum südslawi- Dabei leben sechsein- als politisch unzuverläs- schen Bruderkrieg. halb Jahre nach Ausbruch Adria ALBANIEN MAZEDONIEN sig galten, verloren ihren

128 der spiegel 1/1998 Job. Das Regime verurteilte Oppositionel- le meist in Schnellverfahren zu mehrjähri- gen Haftstrafen wegen „staatsfeindlicher Propaganda“ oder „separatistischer Um- triebe“. Wohl dadurch eingeschüchtert, hielten sich die Wortführer der Kosovo-Albaner zurück – bis jetzt. Die pazifistische Haltung der albanischen Elite sei ein historischer Fehler gewesen, heißt es in den neuesten Untergrundschriften. Nicht an Runden Ti- VREME Propaganda-Video der UCK-Partisanen „Schluß mit der Besatzung“ schen werde sich die Kosovo-Frage ent- scheiden, die wahre Macht komme aus den Gewehrläufen. Zur Beerdigung des von serbischen Po- lizisten erschossenen Lehrers Halit Gecaj traten erstmals drei UCK-Kämpfer öffent- lich auf. Sie verlasen eine Erklärung: „Das Blut der Gefallenen möge für uns zu einer Brücke werden, die uns alle vereint im Kampf für die Befreiung des Kosovo.“ Die Trauernden applaudierten stürmisch am offenen Grab. Der Chauvinismus schaukelt wechsel- seitig die Gefühle hoch. Dem obsessiven Nationalstolz vieler Serben, ihrem Selbst- verständnis als Opfernation – umringt von Feinden – kommt die Radikalisierung der Albaner gelegen: Bei den Serben wabert noch immer die Legende vom gedemütigten und von aller Welt mißverstandenen Heldenvolk, als sei ihnen das historische Unrecht gestern erst widerfahren. Doch das Epos, das die serbi- sche Seele niederdrückt, ist die Geschichte einer verheerenden Niederlage gegen die Türken, die mehr als 600 Jahre zurückliegt. Das Stalingrad des späten Mittelalters ereignete sich auf dem Amselfeld, im Ko- sovo. Die geschichtsbewußten Serben se- hen bis heute an diesem Ort ihren histori- schen Boden, die Wiege der Nation und ihr Stammland, obwohl zwischen ihren mittelalterlichen Klöstern und den Grä- bern ihrer Helden längst Albaner siedeln. „Das spielt keine Rolle“, meint Belgrads frischgekürter Präsident Milan Miluti- noviƒ. Erfolgreich machte er sich im Wahlkampf die Wandparolen in der Al- baner-Provinz zu eigen: „Das Kosovo ist unser serbisches Jerusalem.“ Und: „Hier siedeln wir Serben in großer Zahl wieder zurück.“ ™

der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland G. SMITH / SABA Texas-Gouverneur George Walker Bush (r.), Ehefrau Laura, Vater George: „Jeder liebt ihn in diesem Staat“

USA „Die Kennedys der Rechten“ In den Vereinigten Staaten drängt eine zweite Dynastie an die Macht: Die Söhne des Ex-Präsidenten Bush gehören zu den einflußreichsten US-Politikern – der älteste könnte Clinton ablösen.

eorge Walker Bush haßt es, wenn rufen. Anfang des Monats hat der älteste eine machtbewußte Polit-Dynastie, schwer- Gegner ihn „Junior“ nennen. Er Sohn des ehemaligen US-Präsidenten reich und auf dem Weg, die „Kennedys der Ghat es doch wirklich nicht nötig, George Bush zwar einstweilen nur ver- Rechten“ zu werden, so „Newsweek“. sich so herabwürdigen zu lassen: Während kündet, daß er bei der nächsten Gouver- Während George Walker Bush (von seine Frau Laura neben ihm in einem Ka- neurswahl in Texas wieder antreten wird. Freunden „GW“ genannt) Texas fest im talog Weihnachtsgeschenke aussucht, knab- Aber in Wahrheit dürfte es Bush Jr. darauf Griff hat, schickt sich sein kleiner Bruder bert er selbstzufrieden Popcorn, trinkt eine anlegen, nach Bill Clinton ins Weiße Haus John Ellis Bush (Spitzname: „Jeb“) an, bei Diet Coke. Unter dem Paar in der kleinen einzuziehen. der nächsten Gouverneurswahl die Macht Düsenmaschine ziehen die Weiten des US- Und dafür hat er die besten Chancen. in Florida zu übernehmen. Werden GW Bundesstaates Texas vorbei – Bushs Reich: Nach einer Umfrage des Nachrichten- und Jeb nach ihren Vorbildern gefragt, ant- Öl, Rinder, High-Tech. Wäre Texas ein ei- senders CNN würde Bush als Kandidat der worten sie unisono: „Winston Churchill, gener Staat, es wäre die Wirtschaftsmacht Republikaner jetzt Clintons Schützling, mein Vater und meine Mutter.“ Nummer elf auf der Welt. den Vize Al Gore, schlagen – mit 44 gegen Das Jahr, in dem Clinton seinen Vater „Ich habe keine Angst zu führen“, sagt 43 Prozent der Stimmen. Bush sei derzeit aus dem Amt gedrängt hat, sei für ihn Texas-Gouverneur Bush, 51: „Ich habe eine die „heißeste Figur“ für das Rennen im deshalb „das miserabelste Jahr meines Le- klare Vision der Zukunft. Ich weiß, wie die Jahr 2000, schreibt die „New York Times“. bens gewesen“, sagt Texas-Gouverneur Welt aussehen sollte.“ Dann stutzt er über Er wäre nach John Quincy Adams (1825 Bush. „Er nimmt alles so schrecklich per- seine eigenen Worte: „Texas. Pardon. Texas bis 1829) erst der zweite Präsidentensohn, sönlich, was gegen Papa gesagt wird“, so meine ich.“ der es ins Weiße Haus schaffte. Charles Younger, ein Arzt und Bush- Der Versprecher belegt, was unter US- Der Gouverneur gilt als Musterknabe Freund, „paranoid ist vielleicht ein zu star- Politikern und Journalisten als ausgemacht der Familie Bush, deren Einfluß unter den kes Wort, aber GW hat stark ausgeprägte gilt: Der Mann fühlt sich zu Höherem be- Konservativen im Lande rapide wächst – Beschützerinstinkte.“

132 der spiegel 1/1998 Die Texas-Wahl im Herbst Wirtschaftsabschluß in Har- kommenden Jahres könnte der vard, heute ist er mehrfacher Beginn einer Revanche gegen Millionär – vor allem dank sei- Clinton werden. Bush wird sei- ner Parteifreunde. Als Bushs nen demokratischen Gegner, private Ölfirma ins Trudeln ge- den Clinton-Vertrauten Garry riet, eilten Getreue zu Hilfe. Sie Mauro, nach den jüngsten Um- kauften das Unternehmen des fragen vernichtend schlagen. erfolglosen Geschäftsmannes, Bush liegt derzeit bei 68 Pro- engagierten ihn zudem als zent der Stimmen, Mauro bei ihren Berater. 16 Prozent. Ein Berater der Re- Seine Tips waren offenbar publikaner höhnte bereits, die nützlich. Für Branchenkenner Demokraten könnten ihn nur völlig überraschend erhielten noch schlagen, wenn sie Bushs dieselben Bush-Freunde gegen Mutter Barbara als Spitzen- weit erfahrenere Konkurrenz kandidatin gegen ihren Sohn eine Ölbohr-Lizenz des Golf- gewännen. staates Bahrein. Zu der Zeit Selbst der höchste gewählte war Papa Präsident in Wa- Demokrat in Texas, Vize-Gou- shington. verneur Bob Bullock, empfiehlt Ein Freund guter Beziehun- öffentlich, den Republikaner gen ist auch George Bushs Bru- zu unterstützen. Er hat 2300 der Neil, 42. Als er einer der Dollar für Bushs mit 13 Millio- Direktoren der „Silverado“- nen Dollar schon übervolle Sparkasse in Denver war, för- Wahlkampfkasse gespendet. derte die Bank zwei zweifel- Sein Parteifreund Mauro, so hafte Geschäftsleute mit unge- Bullock, sei nur noch auf einer sicherten Krediten in dreistel- „Kamikaze-Mission“. liger Millionenhöhe. Prakti- Mauro will sich von Hecken- scherweise waren die beiden schützen aus den eigenen Rei- nebenbei Neil Bushs Partner in hen nicht irritieren lassen, einer gemeinsamen Ölfirma. schließlich können auch Kami- Den späteren Silverado-Kon-

kaze-Flieger Schiffe versenken. S. SHERBELL / SABA kurs mußten US-Steuerzahler Der Demokraten-Kandidat Bush-Sohn Jeb in Florida: „Wir wurden zu Machern erzogen“ mit rund einer Milliarde Dollar möchte den Wahlkampf nut- auffangen. zen, um Bush ein paar blaue Flecken zu GW ist in Texas groß geworden, war Ma- Auch Bruder Jebs Geschäfte haben die schlagen – das wird ihm selber zwar kaum nager und Miteigentümer des Baseball- öffentlichen Kassen schon mehr Geld ge- helfen, vielleicht aber später Al Gore: Teams Texas Rangers. „Jeder liebt ihn in kostet als ein ganzes Heer von jenen So- „George Bush hat ein Glas-Kinn – und ich diesem Staat“, meint Molly Ivins, Polit-Ko- zialhilfeempfängern, gegen die alle Bush- bin Rocky“, tönt Mauro tapfer. lumnistin etlicher Zeitungen und Zeit- Brüder gern vom Leder ziehen. Der Im- Politisch ist gegen den Konservativen schriften. Er ist ein Populist mit kräftigem mobilien-Mann aus Miami bewegt sich Bush wenig auszurichten. Seit er das Amt Händedruck und breitem Texas-Slang – häufig im Kreis der ebenso konservativen übernommen hat, ist die Zahl der Gewalt- ganz anders als sein elitär wirkender Vater, wie reichen Exil-Kubaner in Florida. Bei ei- verbrechen in Texas um 10 Prozent zurück- der vielen als Zweifler, als Grübler galt. nem Großdeal mit einem von Jebs kuba- gegangen, die Arbeitslosenrate um 12 Pro- Sohn George ähnele da „eher Reagan“, nischen Freunden platzte ein Riesenkre- zent und die Zahl der Sozialhilfeempfän- meint ein ehemaliger Berater. dit, den die Spekulanten über einen Mit- ger um 29 Prozent. Aber es gibt ein paar Flecken in seinem telsmann an Land gezogen hatten. Er sei Die Erfolge hat der Gouverneur zu ei- Lebenslauf. „Ich habe eine Menge Fehler ein „Opfer der Umstände“ geworden, klag- nem großen Teil dem Aufschwung in Nord- gemacht“, gibt Bush zu, „aber darüber te Jeb Bush, 44. Kosten für die Steuerzah- amerika und Gesetzen der Clinton-Regie- möchte ich nicht reden.“ Das werden wohl ler: rund vier Millionen Dollar. rung zu verdanken – seine politischen andere gern für ihn übernehmen, vor allem Unbeirrt durch derartige Pannen poliert Grundsätze unterscheiden sich kaum von seine politischen Gegner – spätestens Jeb nun an seinem Image. Der Republika- denen der Demokraten; bessere Schulen wenn George Bush Jr. fürs Weiße Haus ner hat sich eine Stiftung zugelegt, die un- sind sein Credo ebenso wie das von Bill kandidiert. ter anderem eine Schule in einem der ärm- Clinton.Weitere Prinzipien: weniger Staat, In seinen wilden Jahren hat GW nicht sten Bezirke Miamis fördert. Die Schüler Stärkung der Familien, mehr Eigenverant- nur heftig getrunken und mit seinem Tri- sind allesamt schwarz. Nützen dürfte Jeb wortung. Dazu hat Bush Steuern gesenkt umph-Roadster die Gegend unsicher ge- Bush auch, daß seine Frau Columba aus und will High-Tech-Unternehmen fördern. macht. Er hat sich auch um den Krieg in Mexiko stammt und er selber fließend Spa- Die konventionelle Mixtur garniert Bush Vietnam gedrückt. GW schaffte es, bei ei- nisch spricht – für Floridas zahlreiche mit ein paar erzkonservativen Gewürzen, ner Einheit der Nationalgarde anzukom- Hispanics ein gewichtiges Argument. die bei Amerikas weißer Mittelschicht gut men, in der auffallend viele Prominen- Das und der Familienname Bush könn- ankommen. So hat er die Strafen für kri- tensöhne Dienst taten; in dieser Zeit war ten schon reichen: Während der Ge- minelle Jugendliche verschärft und es Hin- sein Vater Kongreßabgeordneter. Als Al- schäftsmann bei seiner ersten Kandidatur richtungskandidaten erschwert, ihren Tod tersgenossen im Reisfeld starben, schob 1994 noch haarscharf unterlag, führt er jetzt mit Einsprüchen hinauszuzögern. In kei- Junior in Texas eine ruhige Kugel. in Umfragen um zehn Prozent vor seinem nem anderen US-Bundesstaat sind die Während die Affären der Kennedys für demokratischen Konkurrenten. Henker so fleißig: Allein in den letzten gewöhnlich im Bett spielen, ist der Haupt- „Wir wurden eben zu Machern erzo- zwölf Monaten wurden in Texas 37 Straf- schwachpunkt der Bush-Söhne ihr Ge- gen“, brüstet sich Jeb Bush im Namen der gefangene hingerichtet. schäftsgebaren. Mit 28 machte GW seinen Bush-Boys. ™

der spiegel 1/1998 133 Werbeseite

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ATOMREAKTOREN Fragwürdige Exporte ls Indien 1974 einen atomaren Sprengsatz zündete, war Aschnell klar, woher der Bombenrohstoff stammte: aus ei- nem Reaktor kanadischer Bauart. Bei diesen mit Schwerem Wasser moderierten „Candu“-Reaktoren können die abge- brannten plutoniumhaltigen Brennstäbe während des laufenden Betriebs und damit relativ unbeobachtet gegen frische Natur- uran-Brennstäbe getauscht werden. Trotz dieses Mißbrauch- potentials sind die Kanadier weiterhin eifrig bemüht, diesen „Reaktortyp weltweit zu verhökern“, wie die „New York Times“ jetzt meldete. Derzeit bewerben sich die Kanadier dar- um, Candu-Reaktoren an die Türkei, Ungarn, Indonesien, Thai- land und die Philippinen loszuschlagen, aber auch in China, Süd-Korea und Rumänien, wo schon Candu-Reaktoren im Bau oder in Betrieb sind, erhoffen sich die Kanadier neue Aufträ- ge. Dabei gelten die potentiellen Bombenstoff-Brüter, zu deren Entwicklung Kanadas Regierung 10 Milliarden Dollar beige- tragen hat, im Betrieb als problematisch. So ist jetzt der kana- dische Stromriese „Ontario Hydro“ dabei, 7 seiner insgesamt 19 Candu-Reaktoren stillzulegen, weil er, wie die „New York Times“ berichtet, „weder das Geld noch das Management“ habe, sie „sicher zu betreiben“. Eine lange Kette von Proble- men mit Leckagen, Abschaltungen, aber auch Bedienungs-

personal, das im Kontrollraum Bier trank und Marihuana SUN GOODWIN / TORONTO W. rauchte, führte zu der Entscheidung. Atomkraftwerk der „Ontario Hydro“

MEDIZIN Die aus einem biegsamen Polyäthylen- ASTRONOMIE mantel und einer Füllung aus Kunststoff- Federndes Gel Gel („Hypan“) bestehenden Kissen waren Weißt du wieviel in den USA schon neun Jahre lang auf Be- n einer Pilotstudie mit elf Patienten lastbarkeit und Verträglichkeit mit mensch- Sternlein… Ihaben Wiesbadener Neurochirurgen erst- lichem Gewebe getestet worden. Von den mals in Deutschland eine aus Amerika elf in Wiesbaden operierten Patienten sind er eine Ant- importierte künstliche Bandscheibe erfolg- neun seit mehr als einem Jahr beschwer- Wwort auf diese reich erprobt. Wie die „Medical Tribune“ defrei und üben ihren Beruf wieder aus. Frage sucht, kann berichtet, litten alle Patienten unter chro- Eine Patientin leidet noch unter leichteren sich nun ans Zäh- nischen Rückenschmerzen aufgrund einer Rückenbeschwerden. Bei einem der Ope- len machen – im degenerativen Bandscheibenerkrankung, rierten mußten die Kunstkissen wegen an- neuen, dreibändigen bei der jeweils nur ein Segment betroffen haltender Schmerzen nach sechs Monaten „Millennium-Stern- war. Die Mediziner der Dr.-Horst-Schmidt- wieder entfernt und die betroffenen Wir- atlas“, der in Zusam- Kliniken unter Leitung von Professor belkörper versteift werden. Zusammen mit menarbeit zwischen Robert Schönmayr implantierten anstelle fünf anderen deutschen Kliniken wollen der Europäischen der Bandscheiben, die ohnehin entfernt die Wiesbadener nun das Verfahren in einer Weltraumorganisati-

werden mußten, zwei der Kunstkissen. größeren Studie erproben. on Esa und dem Sky- ESA Publishing-Verlag in Satellit „Hipparcos“ Einsatz von Bandscheibenprothesen Cambridge, Massa- chusetts, hergestellt wurde. Die 1548 Him- Strecken der Wirbelsäule Beugen der Wirbelsäule melskarten in dem Atlas sind das Produkt Die daumennagelgroßen der 1989 mit dem Start des Satelliten Kunstkissen passen sich den Bewegungen der Wir- „Hipparcos“ begonnenen Astrometriemis- belsäule an und verhin- sion der Esa, deren Ergebnisse „mindestens dern das schmerzhafte zehnmal genauer“ seien als „sämtliche vor- Aneinanderscheuern der ausgegangenen Himmelsvermessungen“, Wirbelkörper. so die Organisatoren. Erfaßt wurden mehr als eine Million Sterne. Über 10000 in der näheren Umgebung der Erde sind mit der von „Hipparcos“ neu vermessenen Entfer- nung in Lichtjahren angegeben. Doch die Karten zeigen auch die Position und unge- Wirbel Wirbel fähre Gestalt von 8000 fernen Galaxien und enthüllen noch Sterne, die rund 100mal schwächer leuchten, als Objekte, die das menschliche Auge noch warnehmen kann. Quelle: „Medical Tribune“ der spiegel 1/1998 135 Technik

COMPUTER „Der Rest bleibt draußen vor“ SPIEGEL-Gespräch mit Marc Andreessen, Mitbegründer der Softwarefirma Netscape, über die Zukunft des Internet, das Ende des PC und den Alltag in der vernetzten Gesellschaft.

SPIEGEL: Herr Andreessen, Sie gelten als Internet. Man spricht sogar vom „Browser Computer bei größeren Firmen installiert. der ärgste Feind von Bill Gates beim War“, dem Kampf zwischen Ihrem „Navi- Danach wuchs der Markt nicht mehr. Ge- Kampf um die Vorherrschaft im Internet. gator“ und Microsofts „Explorer“. nauso lief es bei den sogenannten Mini- Es scheint, als wolle der Softwaregigant Andreessen: Dieser „Browser War“ inter- computern. Man konnte etwa 150000 bis Microsoft Ihre Firma vernichten.War Ihnen essiert mich eigentlich gar nicht mehr. Der 200 000 Maschinen absetzen, dann blieb klar, worauf Sie sich einlassen? „Navigator“ ist ja inzwischen nur noch ein der Markt Anfang der achtziger Jahre ein- Andreessen: Ja, natürlich. Eigentlich hat winziger Teil unseres Geschäfts. Ich finde fach stehen. Jetzt scheint dem PC ein ähn- mich nur gewundert, wie lange es gedau- im übrigen nicht, daß sich bei Microsoft liches Schicksal zu blühen. Er findet wenig ert hat, bis die wirklich gemerkt haben, Grundlegendes geändert hätte.Auch wenn neue Interessenten, weil er potentiellen was vor sich ging. Ich habe noch ein Ex- die Presse Gates dauernd die Füße für sei- Kunden zu teuer und zu kompliziert er- emplar der ersten Auflage von Bill Gates’ ne Internet-Visionen küßt, macht Micro- scheint. Buch „Der Weg nach vorn“ zu Hause, ge- soft im Grunde immer noch das, was es SPIEGEL: Der PC als Auslaufmodell? Was schrieben 1995. Darin kommt das Wort In- von Anfang an getan hat: seinen Markt bei kommt als nächstes? Der sogenannte Netz- ternet so gut wie gar nicht vor. Er hat das den Betriebssystemen zu verteidigen und computer, ein Billiggerät, das die einfache Phänomen schlichtweg verschlafen. Geld mit Updates zu verdienen. Nutzung des Internets ermöglichen soll, SPIEGEL: Auch die anderen Großen der SPIEGEL: Teilen Sie Gates’ Vision vom PC in hat außer in großen Ankündigungen bis- Branche hatten das Internet zunächst nicht jedem Haus? lang wenig von sich reden gemacht. auf der Rechnung. Können Sie sich er- Andreessen: Das ist zu einfach gedacht. Andreessen: Noch nicht. Der Netzcompu- klären, warum? Man darf nicht übersehen, daß heute nur ter ist der Vorbote eines breiten Konzepts, Andreessen: Ich glaube, wenn eine Firma etwa drei Prozent der Weltbevölkerung Zu- das sich erst allmählich abzeichnet. Sehen eine gewisse Größe erreicht hat und so gang zu einem PC haben. Der Anteil von Sie sich an, wofür die Leute ihren Compu- hierarchisch organisiert ist, wie es solche Privathaushalten mit PC hat in den USA ter benutzen. Das sind ganz praktische Firmen eben sind, kann man von ihnen bei 40 Prozent ein Plateau erreicht. Zwei Dinge: Sie wollen ihren Kontostand online keine echten Innovationen mehr erwarten. Drittel aller PC werden an Kunden ver- abfragen, sie wollen im Fernsehprogramm Ich bin mir sicher, daß es bei Microsoft ei- kauft, die sich ein Zweitgerät anschaffen nachschlagen, eine Nachricht an ihre Enkel nige Leute gegeben hat, die genauso wie oder ein altes ersetzen. schreiben, Fußballergebnisse wissen, Flug- wir wußten, daß das Internet wichtig ist. SPIEGEL: Trotzdem erlebt die PC-Industrie tickets buchen.All dies macht das Internet Aber auf die hat eben niemand gehört. ein Rekordjahr nach dem anderen. möglich. Was für Hardware oder welches Man hat ihnen gesagt: Haltet die Klappe Andreessen: Aber das Interesse an PC Betriebssystem Sie verwenden, ist dabei und macht eure Arbeit. scheint an seine Grenzen zu stoßen. Das völlig egal. In den nächsten Jahren wird SPIEGEL: Nun hat Gates seinen Kurs um 180 passiert in der Geschichte des Computers sich eine ganze Reihe neuer Geräte ent- Grad geändert und redet fast nur noch vom schon zum drittenmal, etwa im Abstand wickeln, die den Internet-Zugang für ein- von 15 Jahren: Zu Zeiten der Großrechner zelne oder verschiedene Funktionen her- Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Jürgen Scriba. waren irgendwann weltweit etwa 8000 stellen. Das können Zusatzgeräte zum

IBM-Großrechner Aufbruch in die Datenwelt 1972 Chronik der Computerentwicklung Intel stellt den Mikroprozessor 8080 vor. 1946 1975 Eniac, der erste elektronische Universalrechner, wird In den USA wird der erste an der University of Pennsylvania im Auftrag der U.S.- Bausatz eines Heimcompu- Army entwickelt. Er arbeitet mit 18 000 Röhren. ters verkauft, der Altair 8800.

60er Jahre Altair 8800 Elektronische Großrechner ersetzen 1975 mechanische Rechenmaschinen Gründung von Microsoft. Erstes Produkt und Belegsortiermaschinen. ist die Programmiersprache Basic. 1969 1981 Die Entwicklung des Arpanet, dem IBM bringt seinen ersten Vorläufer des Internet, beginnt. Personal Computer auf Das erste funktionierende Daten- den Markt. Bill Gates netz verbindet amerikanische For- liefert das zugehörige schungszentren. Zahl der vernetzten Betriebssystem: MS-Dos. Computer: Damit legt Microsoft den 70er Jahre Grundstein für ein „Minicomputer“ weltumspannendes verbreiten sich 4 Software-Imperium. IBM Personal Computer Eniac Minicomputer PDP-11

136 der spiegel 1/1998 Fernseher sein, sogenannte Set- Top-Boxen, aber auch Telefone, Ta- Marc Andreessen schencomputer oder Bordcompu- eröffnete Millionen von Menschen den ter von Autos. Zugang zum Internet. Vor fünf Jahren SPIEGEL: Welcher Anteil der Welt- schrieb er, als Student an der University bevölkerung wird in zehn Jahren of Illinois, das Programm „Mosaic“. Dieser Zugang zum Intenet haben? sogenannte Browser stellt die Inhalte des Andreessen: Vielleicht fünf bis zehn World Wide Web grafisch dar und ermög- Prozent. Das Mobiltelefon ist ein licht die Navigation in Datenbanken mit gutes Beispiel. Lange Zeit war mo- einfachen Mausklicks. Damit wurde das biles Telefonieren nur wenig ver- Datennetz, jahrzehntelang fast ausschließ- breitet. Dann kamen die Netzbe- lich von Wissenschaftlern genutzt, schlag- treiber auf die geniale Idee, die artig populär. Nach seinem Studium baute Geräte an Neukunden ganz billig Andreessen mit Jim Clark, einem Mit- oder sogar umsonst abzugeben. begründer der Computerfirma Silicon Etwas ähnliches wird mit dem In- Graphics, die Internet-Softwarefirma Net- ternet geschehen. Die Zugangs- scape auf. Die ersten Angestellten waren geräte wird es umsonst dazugeben. eine Handvoll von Andreessens Kommili- Die Betreiber werden das Geld tonen. Heute beschäftigt die Firma rund durch kostenpflichtigen Service 2700 Mitarbeiter. Netscapes Börsengang oder elektronische Werbung wie- machte den Mitbegründer Andreessen, 26, der hereinholen. Die großen On- zum Multimillionär.

line-Dienste geben heute 200 bis A. LEVENSON 300 Dollar aus, um einen neuen Kunden zu gewinnen. Dieses Geld könnten ben und viele Zahlen in Tabellen tippen matisch. Die PC-Preise fallen wie Steine, sie auch verwenden, um Geräte zu sub- will, möchte wie bisher am Schreibtisch und die PC-Industrie ist ziemlich beunru- ventionieren. Das werden sicher keine PC vor einem Monitor sitzen … higt. Bisher funktionierte das alte Spiel: für 3000 Mark sein, sondern so etwas ähn- SPIEGEL: … und das scheinen nur einige Intel entwickelte einen neuen Prozessor, liches wie Spielekonsolen. Prozent der Bevölkerung zu sein. und Microsoft schrieb Software, die all die SPIEGEL: Noch vor kurzem hat die PC-In- Andreessen: Richtig. Und der große Rest Rechenleistung mit neuen Features wieder dustrie über Set-Top-Boxen gelacht. Intel- will aktuelle Informationen zum Fernseh- auffrißt. Jetzt aber, glaube ich, sind wir an Chef Andy Grove meinte, jeder, der das programm oder möchte Spiele über das einem Punkt, wo Programme wie Textver- mal ausprobiert hat, wolle bald einen rich- Internet spielen. Die Computerindustrie arbeitung oder Tabellenkalkulation ihre tigen PC. ist die ganze Zeit auf den PC als Univer- maximale Komplexität erreicht haben. Andreessen: Andy ist eben der Ober-Inge- salmaschine für das Büro fixiert gewesen, Ein moderner PC für 1000 Dollar kann die- nieur. Intel hat immer die Ansicht vertre- die aber für vieles, was Menschen mit ei- se Aufgaben problemlos erledigen. Auch ten, man brauche den neuesten Pentium- nem Computer tun wollen, zu kompliziert grafikintensive Spiele laufen prima auf so Prozessor, damit etwas richtig funktioniert. und zu teuer ist. einem Gerät. Zum erstenmal muß man sich Doch gerade jetzt ist Intel dabei, sich kom- SPIEGEL: Jahrelang sah es so aus, als würden fragen: Und was nun? Wir wollen ja immer plett umzustrukturieren.Andy hat erkannt: PC nicht billiger. Man bekam zwar immer mehr, und dieses Mehr kommt in Zukunft Der Markt zerfällt in mehrere Teile. Es gibt mehr Leistung für sein Geld, aber die Ma- aus dem Internet: Informationen, Einkau- Interesse an teuren leistungsfähigen PC, schine, die man brauchte, um aktuelle Soft- fen, Spiele. Die Grenzen des Internets lie- wie sie Grafiker und Techniker benutzen, ware zu benutzen, kostete immer 2000 bis gen in der Geschwindigkeit der Daten- und einen immer größeren Markt für Com- 3000 Mark. übertragung, aber nicht mehr in der Ge- puter unter 1000 Dollar. Der mittlere Be- Andreessen: Ja, erst dieses Jahr hat es an- schwindigkeit des Rechners. Es gibt ein- reich verschwindet.Wer lange Texte schrei- gefangen, sich zu ändern, und zwar dra- fach derzeit keine neuen Anwendungen,

1984 1994 Apple stellt den Macintosh-Computer vor, Marc Andreessen gründet der mit seiner grafischen Benutzerober- Netscape. Die auf Internet-Software fläche und Mausbedienung zum spezialisierte Firma entwickelt Maßstab für künftige Systeme wird. mit dem „Navigator“ den Zahl der vernetzten Rechner: führenden Browser für das WWW.

90er Jahre 1996 1000 Indische Programmierer liefern per Der Nokia Communicator, das Datennetz Software in alle Welt. elektronische Pendant zum Schweizer 1990 Firmen erproben Telearbeit mit Taschenmesser, vereinigt Handy, Organizer, Microsoft führt das Betriebssystem Online-Arbeitsplätzen im Heimbüro. Taschencomputer und Internet-Terminal. Windows 3.0 ein und begründet damit den Standard für PC-Systeme. 1997 1992 Zahl der vernetzten Internet- Verabschiedung des World-Wide- Rechner: Web-Standard (WWW). Zahl der vernetzten Internet-Rechner: 20000000 1000000 Computer-Heimarbeitsplatz Software-Firma in Bangalore, Indien

der spiegel 1/1998 137 Technik G. RAPHAEL / GAMMA STUDIO X Internet-Surfer im Cyber-Café: „Gruppen kommunizieren lieber untereinander, statt mit ihren Nachbarn zu reden“ für die man einen noch leistungsfähigeren Jahr. Darüber hinaus schätzen Fachleute, die globale Kommunikation würden die PC brauchen würde. daß wir in 10 bis 15 Jahren 25mal soviel Da- Kulturen miteinander verschmelzen und SPIEGEL: Wie wär’s mit natürlicher tenverkehr haben werden wie heute. Das Unterschiede einebnen.Aber es zeigt sich, Spracheingabe? Telefon wird ein Nebenprodukt der Da- daß das Netz genausogut den Zusammen- Andreessen: Davon redet Bill Gates der- tennetze sein. halt kleiner ethnischer, politischer oder re- zeit viel. Aber auch Software, die Sprache SPIEGEL: Was passiert mit dem Fernsehen? ligiöser Gruppen verstärken kann. erkennt, kommt mit einem Pentium-Rech- Andreessen: Es wird sicher nicht ver- Das Internet gibt diesen Gruppen einen ner aus. Es gibt keinen Grund mehr für schwinden. Das ist ja bisher noch bei kei- Ort, an dem sie zusammenkommen kön- das bisherige Hardware-Wettrüsten, und nem Medium passiert. Es gibt schließlich nen. Geographische Grenzen, die bisher das macht viele Firmen ganz schön ver- noch Zeitungen, obwohl das Radio erfun- einen Staat zusammengehalten haben, rückt. Der Fortschritt findet heute im In- den wurde. Es gibt heute mehr Radiosen- werden immer unwichtiger. Die Mitglieder ternet statt. Es gibt ständig neue Angebo- der denn je, obwohl das Fernsehen eine einzelner Gruppen kommunizieren lieber te, und jeder, der jetzt ins Netz geht, kann übermächtige Konkurrenz zu sein schien. untereinander, statt mit ihren Nachbarn zu auch in Zukunft davon profitieren, dafür SPIEGEL: Doch mit jedem neuen Medium reden. Wir werden uns noch damit befas- muß er sich nicht jedes Jahr einen neuen haben die alten an Einfluß verloren. Heu- sen müssen, was das für unsere Gesell- Rechner kaufen. te sitzt keine Familie mehr gebannt vor schaft heißt. SPIEGEL: Wie wird der Alltag eines ver- dem Radio, und die Zeiten, da ein ganzes SPIEGEL: Wer sich im Datennetz bewegt, netzten Menschen in zehn Jahren ausse- Land tagelang über eine Magazin-Story hinterläßt elektronische Spuren. Technisch hen? diskutierte, sind auch vorbei. ist es kein Problem, zu speichern, wer Andreessen: Geräte, die mit dem Netz ver- Andreessen: In einem unterscheidet sich wann welche Internet-Seite angesehen hat bunden sind, werden ganz schlicht Werk- das Internet grundlegend von den klassi- und welche Nachricht in welches Diskus- zeuge sein, die uns helfen, das zu tun, was schen Medien: Es ist praktisch unendlich sionsforum geschickt hat. Teilen Sie die wir tun möchten. Wenn wir zum Beispiel groß. Bisher gab es immer Beschränkun- Angst vor diesem Orwell-Szenario? online einkaufen, werden wir Angebote gen, zum Beispiel in der Anzahl von Sen- Andreessen: Auch hier gibt es gute und finden, die individuell auf uns zugeschnit- dern in einem festgelegten Frequenzbe- schlechte Nachrichten. Die schlechte Nach- ten sind. Das Internet wird Teil unseres Le- reich. Im Internet ist Platz für beliebig vie- richt: Wir können im Internet praktisch al- bens sein, so wie das Telefon. le Angebote. les realisieren, was wir uns vorstellen kön- SPIEGEL: Kann das Internet nicht sogar das SPIEGEL: Jeder kann der Welt mitteilen, was nen.Wer Menschen überwachen will, kann Telefon ersetzen? er zu sagen hat. Das führt zu einer un- auch dies tun. Die gute Nachricht: Wer sei- Andreessen: Sicher. Das Telefonnetz ist sehr glaublichen Flut von Info-Müll. Wie kann ne Privatsphäre schützen will, hat durch unflexibel. Im Internet dagegen ist es letzt- man sich darin zurechtfinden? entsprechende Software die Möglichkeit lich nur eine Frage der Software, was man Andreessen: Interessanterweise halten die dazu. Er kann zum Beispiel durch Ver- damit machen kann.Anfang letzten Jahres Produzenten von Info-Müll ihre Erzeug- schlüsselung seine Daten und Nachrichten hat das Volumen an Datenverkehr auf Lei- nisse nicht für Müll. Sie glauben, daß sie et- perfekt schützen. tungen die Kapazität der Telefonverbin- was Interessantes mitzuteilen haben. Hier SPIEGEL: Interessanterweise sehen Regie- dungen übertroffen. Der Telefonverkehr findet etwas sehr Bemerkenswertes statt: rungen ausgerechnet da Regulierungsbe- wächst nur mit zwei bis drei Prozent im Ursprünglich dachte man, das Internet und darf. Die USA verbieten den Export von

138 der spiegel 1/1998 leistungsfähiger Verschlüsselungssoftware Informationstechnik zu teuer ist oder eine fähig zu bleiben. Sehen Sie sich den Inter- als „Kriegswaffe“, in Frankreich dürfen Pri- bessere Bildung voraussetzt. net-Buchhandel „Amazon.com“ an. Der vatleute Kryptographie gar nicht benutzen. SPIEGEL: Von der angeblichen demokrati- ist aus dem Nichts aufgetaucht – kein Fällt Regierungen nichts ein, wie man die- sierenden Wirkung des Internet ist in der großes Lagerhaus, kein Geschäft aus Zie- se Technik zum allgemeinen Nutzen ein- Tat nicht viel zu spüren. gelsteinen und Mörtel –, und innerhalb von setzen könnte, statt sie zu reglementieren? Andreessen: Das liegt aber nicht am Inter- zweieinhalb Jahren ist die Firma 1,3 Milli- Andreessen: Solche Zielvorstellungen zu net selbst. In der Informationstechnik spie- arden Dollar wert. Sie ist damit ähnlich entwickeln, erfordert eine hellsichtige po- gelt sich das tiefe gesellschaftliche Problem groß wie die alteingesessene Firma litische Führung, die den meisten Ländern wider – die wirtschaftliche Spaltung der „Barnes & Noble“, die seit Jahrzehnten nicht vergönnt ist. Ich weiß nicht, ob es ir- Gesellschaft und die immer breiter wer- ihr Geld in Ladenfilialen investiert. gendwo so eine Regierung gibt, das Duo dende Kluft zwischen Arm und Reich. SPIEGEL: Was bedeutet die elektronische Clinton/Gore ist es sicher nicht. Die De- Theoretisch könnte die Technik helfen, sol- Vernetzung einer Firma für deren Ange- batte um Kryptographie zeigt deutlich: Um che Unterschiede zu überwinden, aber in stellte? eine politische Debatte über Nutzen und der Praxis ist das nicht so einfach. Zum Andreessen: Das kann eine ganze Reihe Gefahren der Informationstechnik in Gang Beispiel scheitert schon der Versuch, von Konsequenzen haben – ein faszinie- zu bringen, brauchte man eine Lobby, die Schülern den Zugang zum In- rendes Thema. Die Trennung entsprechenden Druck ausübt, und die gibt ternet zu ermöglichen, häufig zwischen Arbeit und Freizeit es noch nicht. an der schlechten Ausbildung verschwindet. Angestellte ar- SPIEGEL: Wenn das Internet unverzichtbarer der Lehrer. beiten mehr zu Hause, und sie Bestandteil des täglichen Lebens wird – Vi- SPIEGEL: In Deutschland wird, tun mehr private Dinge im sionäre glauben an eine Art elektronischer anders als in den USA, dar- Büro, zum Beispiel fragen sie Regierung –, besteht dann nicht die Gefahr über diskutiert, ob Internet- online ihren Kontostand ab. einer Spaltung der Gesellschaft in Infor- Zugänge in der Schule über- Oder die Website des „Play- mationsbesitzer und Habenichtse, die vom haupt pädagogisch sinnvoll boy“ – die meisten Abfragen öffentlichen Leben ausgeschlossen sind? sind. Ist solche Technik-Skep- dort werden während der Mit- Andreessen: Diese beunruhigende Ent- sis typisch europäisch? tagszeit registriert. wicklung geht mit der wirtschaftlichen Andreessen: Nein, finde ich SPIEGEL: Ist das schlimm? Spaltung der Gesellschaft Hand in Hand. nicht. Ich halte sie in vielen Andreessen: Nein, das ist gar Schon heute können wir beobachten, wie Fälle für berechtigt. Ich weiß nicht schlimm. Dieselben Leu-

die Mittelschicht ausstirbt. Die Welt spaltet nicht, wie das in Deutschland AFP / DPA te die so das Netz ihres Ar- sich in eine Klasse von gutverdienenden aufgenommen wurde, als vor Microsoft-Chef Gates beitgebers „mißbrauchen“, Professionals, die Häuser, Computer und ungefähr einem Jahr Bill Gates klinken sich nachts von zu Geländewagen besitzen, und eine Unter- und Andy Grove kamen und den Eu- Hause in die Firmenrechner ein und ar- klasse, die von der Hand in den Mund lebt. ropäern erklärten, wie rückständig sie sind beiten noch ein bißchen. So wie sich die Diese Unterklasse hat keinerlei Verhand- und daß sie sich mehr anstrengen müßten, Zeitgrenzen der Arbeit auflösen, werden lungsposition gegenüber den Arbeitgebern, um den Anschluß an die technische Ent- auch die geographischen Grenzen von in den USA noch nicht mal eine Kranken- wicklung zu erreichen. Ich finde das er- Staaten und Märkten immer unwichtiger. versicherung, keine Sicherheit, auch mor- staunlich arrogant. Ich glaube, Technolo- Es spielt keine Rolle mehr, wo etwas gen noch einen Job zu haben. Immer häu- giefirmen haben die Verantwortung, Pro- produziert und verkauft wird. Der Wert figer sind sie nicht mal echte Angestellte, dukte und Service zu entwickeln, die den des eigentlichen Herstellungsprozesses ei- sondern Aushilfskräfte oder Pseudoselb- Kunden wirklich helfen. nes Produktes geht immer weiter gegen ständige. SPIEGEL: Welche Lösungen haben Sie an- Null.Wertvoll sind einzig Ideen und Know- SPIEGEL: Diese Menschen interessiert es zubieten? how. Diese Entwicklung beginnt jetzt erst, vermutlich herzlich wenig, ob Sie sich Ge- Andreessen: Wir beraten Firmen beim Auf- ihre Auswirkungen werden dramatisch danken über neue Märkte und Servicean- bau einer neuen Kommunikationsinfra- sein. gebote im Internet machen. Beunruhigt struktur: interne Netze, sogenannte Intra- SPIEGEL: Verstärkt sich dadurch noch die Sie das? nets, Sicherheitssysteme für elektronischen Zersplitterung der Gesellschaft? Andreessen: Aber sicher. Wahrscheinlich Zahlungsverkehr, Planungssysteme, Onli- Andreessen: Das ist wahr, und das ist ein interessieren sie sich sogar dafür.Aber eine ne-Läden im Internet. Das sind strategi- enormes Problem. Auf der einen Seite gibt breite Bevölkerungsschicht bleibt trotzdem sche Entscheidungen, die große Firmen es Menschen, deren Arbeit im Austausch draußen vor. Sie hat keinen Zugang, weil heute treffen müssen, um wettbewerbs- von Informationen besteht, und sie neh- men an der Entwicklung teil. Dann gibt es den Rest der Menschheit, und der hat nichts davon. Ihre Arbeitskraft wird immer weni- ger wert, daran ist wenig zu ändern. Derzeit sind diese Veränderungen noch sehr subtil. Aber wenn man die Mehrheit der Bevölkerung auf diese Weise entrech- tet, besteht auf lange Sicht die Gefahr ei- ner Revolte gegen die privilegierte Ober- Die Internet-Welt schicht. Wenn es andererseits gelänge, die Host-Computer je Technik billig und allgemein verfügbar zu 10000 Einwohner machen, wenn es gelingt, das Bildungsni- veau weltweit anzuheben und so mehr über 200 Menschen in den Prozeß mit einzubezie- 10 bis 200 hen, würde die Informationstechnik unser

bis 10 Stand: Jan. 1997 Leben gewaltig verbessern. Quelle: Matrix Information Directory Services Inc., SPIEGEL: Herr Andreessen, wir danken Ih- kein Host-Computer Network Wizards http://www.nw.com nen für dieses Gespräch.

der spiegel 1/1998 139 FOTOS: M. MACLEOD FOTOS: Schottische Atomfabrik Dounreay: „Wir haben Dinge getan, die wir nicht hätten tun dürfen“

Bauarbeiter hatten den Schacht 1955 beim in Schnellen Brütern zirkulieren, reagie- UMWELT Verlegen eines Abwasserrohrs in die Klip- ren heftig mit Wasser, wobei leicht ent- pen getrieben, um Schutt vom Meeresbo- zündlicher Wasserstoff entsteht. Gewagte Mixtur den abzutransportieren. Als Lager für ra- Der Knall beendete die Karriere des un- dioaktive Abfälle war die Konstruktion nie konventionellen Atommüllagers, von des- Jahrzehntelang kippten briti- geplant, dafür geeignet ohnehin nicht: Wel- sen Existenz die Öffentlichkeit nun erstmals len spülten in den Felskamin, die bröseln- erfuhr. Doch auch weiterhin verharmlosten sche Atomtechniker radioaktive den Klippen Zentimeter um Zentimeter die Dounreay-Manager das Ausmaß der Abfälle in einen Felsschacht. verzehrend. Eines Tages würden sie ihn Umweltbelastung. Der Meeresgrund und Die Sanierung der Müllgrube wird zum Einsturz bringen. die Strände in der Umgebung sind mit mehr Milliarden kosten. Diese Aussicht schreckte die Atom- als 100 „hot spots“, radioaktiv verseuchten manager von Dounreay nicht. 1959 ließen Flecken, übersät. In der Region erkranken uf seinen Nachbarn ist George sie den Schacht mit einem Stahlbeton- dreimal so viele Kinder an Leukämie wie im MacKay nicht gut zu sprechen. Nur pfropfen gegen das Meer abdichten und Landesdurchschnitt. Erst Ende Oktober die- Awenige hundert Meter trennen das kippten fortan alles hinein, was in den La- ses Jahres verbot die schottische Umwelt- Haus des 82jährigen Kleinbauern vom bors anfiel – von verstrahlten Kitteln über behörde den Fischfang vor der Atomfabrik. Zaun der Atomfabrik Dounreay an der ausrangierte Zentrifugen bis hin zu Büch- Vermutlich sickert schon seit einiger Zeit Nordspitze Schottlands, „und trotzdem ha- sen mit radioaktivem Strontium. radioaktives Abwasser durch das spröde Ge- ben die mich nie vor der radioaktiven Ver- Mitunter schleppte das Personal strah- stein ins Meer. Die Sanierung der Deponie seuchung gewarnt“, klagt MacKay, der an lende Abfälle in offenen Pappkartons oder ist überfällig, aber nicht ohne Risiko. „Das Krebs leidet und die verstrahlte Umwelt leeren Farbeimern über das wird heikel“, fürchtet Nelson, für seine Krankheit verantwortlich macht. Gelände. Schwamm der Müll „weil wir möglicherweise ein Dounreay – das sind die britischen Re- in der noch immer wasser- instabiles chemisches Gleichge- likte des Traums vom unerschöpflichen führenden Felsröhre auf, wicht stören.“ Was genau im Stromquell: zwei 1994 endgültig abge- schossen Arbeiter mit Luftpi- Schacht schwimmt, ist nirgend- schaltete Schnelle Brüter, dazu zwei Wie- stolen auf die Behälter, um sie wo verzeichnet; möglicherwei- deraufarbeitungsanlagen (WAA), von de- zu versenken. se enthält die Strahlensuppe nen eine stillsteht, während die andere Schottischen Zeitungen zu- noch immer explosive Zutaten. noch immer Atommüll – auch deutscher folge landeten neben schwach Deshalb gilt als aussichts- Herkunft – schluckt. strahlenden Substanzen auch reichste Sanierungstechnik der Dazu gehört ein Schacht. Er ist 65 Me- 147 Kilogramm hochangerei- Vorschlag, flüssiges Kältemittel ter tief, undicht, enthält mehr als 1000 Ton- chertes Uran und 2,2 Kilo- in den Fels zu pumpen, um den nen Atommüll unbekannter Zusammen- gramm Plutonium in dem Schachtinhalt einzufrieren. setzung und wird die britischen Steuer- Schacht. 1967 beschlich die Dounreay-Chef Nelson Anschließend sollen Robo- zahler bis zu einer Milliarde Pfund (rund Atommüllwerker offenbar ein ter den Atommüll scheibchen- drei Milliarden Mark) kosten. Kürzlich leg- mulmiges Gefühl: Sie schütteten tonnen- weise an die Erdoberfläche holen, wo er bis te die Atomenergiebehörde UKAEA der weise mit Bor versetztes Glas auf die ge- auf weiteres zwischenzulagern wäre. Der Regierung zwei Konzepte zur Auswahl vor, wagte Mixtur, um eine nukleare Kettenre- leere Felskamin soll sodann gereinigt und wie die Zeitbombe in der Tiefe entschärft aktion zu verhindern. mit Beton ausgegossen werden. Mehr als 20 werden könnte. Die Entscheidung soll in Zehn Jahre später sprengte eine Explo- Jahre wird die Operation voraussichtlich den nächsten Wochen fallen. sion den zwölf Tonnen schweren Beton- dauern und, wie UKAEA-Sprecher An- Anfang Dezember bekundete Dounreay- deckel des Schachts in die Luft und ver- drew Munn mitteilte, „einige hundert Mil- Chef Roy Nelson öffentlich Reue für die streute radioaktive Partikel weiträumig lionen Pfund“ kosten. Sünden der Vergangenheit. Frühere, „arro- über die Strände der Umgebung. „Ein klei- Währenddessen pumpt die veraltete gante“ Leiter der UKAEA hätten „der Öf- nerer Knall“, wiegelte Clifford Blumfield Wiederaufarbeitungsanlage nebenan wei- fentlichkeit wichtige Informationen vor- ab, damals Leiter der Anlage, „der nie- ter hochbelastetes Abwasser ins Meer. Ge- enthalten“, so Nelson in der Zeitung „The manden verletzt hätte, selbst wenn jemand plant ist sogar, die zweite WAA, den der- Guardian“. Die Selbstkritik gipfelte in dem in der Nähe gewesen wäre.“ zeit eingemotteten Material Test Reactor, Eingeständnis: „Wir haben Dinge getan, die Ungewiß ist bis heute, ob eine nukleare wieder in Betrieb zu nehmen. wir nicht hätten tun dürfen.“ oder aber eine chemische Reaktion den Am Montag blockierten Greenpeace- Das Beispiel des Müllschachts an der Strahlenmüll explodieren ließ. Nach Aus- Aktivisten in Bremerhaven den Frachter schottischen Küste zeigt in der Tat, wie sagen eines ehemaligen Dounreay-Ange- „Arneb“. Das Schiff transportiert 59 Kilo- hemdsärmelig und verantwortungslos sich stellten entsorgten die Anlagenbetreiber gramm Plutonium zur Weiterverarbeitung britische Atomingenieure jahrzehntelang auch flüssiges Natrium und Kalium in die nach Dounreay – Abfall aus dem Kernfor- ihrer gefährlichen Abfälle entledigt haben. Tiefe. Diese Substanzen, die als Kühlmittel schungszentrum in Karlsruhe. ™

140 der spiegel 1/1998 Werbeseite

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Werbeseite ASTRONOMIE Glühender Showdown Aufnahmen des Hubble-Teleskops erlauben einen Blick in die Zukunft der Erde: eine Apokalypse, begleitet von einer schillernden Light-Show. m Jahresende haben die Auguren Konjunktur. Da wollte auch die ANasa nicht nachstehen: Die US- Raumfahrtbehörde wartete mit düsteren Prognosen und prächtigen Bildern auf. „Mittags wird eine gewaltige rote Sonne die Hälfte des Himmels bedecken. Die Ozeane werden kochen und ins All ver- dampfen“, so kündigten es die Sternen- gucker aus Washington an. Zur Vorschau auf die Apokalypse fühlten sich die Astronomen durch Fotos inspiriert, die das Hubble-Weltraumteleskop zur Erde gefunkt hatte. Sie zeigen eine Kollektion

kosmischer Gebilde, die meisten von ih- PANDIS nen rund 2000 Lichtjahre von der Erde ent- Hubble-Aufnahme des „Saturn-Nebels“: Rätselhafte kosmische Leuchtfeuer fernt, die unter dem Namen „planetari- sche Nebel“ bekannt sind. Feuer fängt. Dann bläht er sich zum „Roten Einzelheiten die Forscher vor Rätsel stellen: Dereinst, das gilt unter Forschern als ge- Riesen“ auf. Hell wie tausend Sonnen wird Warum etwa bilden einige Nebel, wie wiß, wird auch die Erde samt ihrer plane- dieser Glutball leuchten; die Erde kreist nun der „Twinjet-Nebel“ oder der „Hubble’s taren Geschwister in einem derartigen Ne- dicht über der brodelnden Hölle. Double Bubble“, gewaltige Schmetterlings- bel enden. Die Astronomen feiern die neu- Wenige hundert Millionen Jahre wird flügel? Und welche Rolle spielen die roten en Bilder deshalb als Schnappschüsse der dies Spektakel währen, dann kollabiert der Flecke, die wie kosmische Leuchtfeuer den Zukunft, auf denen sie Details hundert- Riese erneut und beendet sein Dasein als „Saturn-Nebel“ oder den Nebel „NGC fach präziser studieren können, als es mit erdkleiner „Weißer Zwerg“. Dabei hustet 6826“ im Sternbild Schwan begrenzen? irdischen Sternwarten möglich ist. er seine Hülle als fluoreszierendes Gas ins Einige Forscher sehen in ihnen mon- Fünf Milliarden Jahre, so sagt es die Wis- All: Ein „planetarischer Nebel“ entsteht. ströse Düsen, die Gas aus dem Nebel ins senschaft vorher, wird das Feuer der Sonne Die Astronomen erwarteten, am Firma- All sprühen. Endgültige Antworten kön- noch brennen, dann ist ihr Brennstoff auf- ment langweilige Gasblasen als Überbleib- nen nur die langfristigen Beobachtungen gebraucht. Es folgt ein feuriger Todeskampf: sel erloschener Sterne zu finden. Doch auf des fernen Lichtspektakels liefern, die dann Erst schrumpft der verglühte Stern, bis er, den Hubble-Aufnahmen erweisen sich die auch Aufschluß gäben über die Details des durch Kompression aufgeheizt, aufs neue Nebel nun als vielfarbige Light-Show, deren irdischen Showdowns. ™ AFP / DPA NASA NASA PANDIS „Hubble’s Double Bubble“, „Twinjet-Nebel“, Nebel „NGC 6826“: Farbenfrohe Überbleibsel eines feurigen Todeskampfs

der spiegel 1/1998 143 Wissenschaft gen. Zwischen den beiden Stationen wer- PHYSIK den auch keine Baupläne ausgetauscht, mit deren Hilfe sich das vernichtete Partikel Spukhafte neu zusammensetzen ließe. „Stellen Sie sich einfach zwei Faxgerä- te vor, die weder über Telefonleitung noch Wirkung durch Funkwellen miteinander verbunden sind“, erklärt Teamleiter Anton Zeilinger. Hunderte Male wurde „Dennoch lassen sich Texte ohne Zeitver- zug von A nach B übertragen – allerdings „Enterprise“-Captain Kirk durchs wird die Originalschrift, beim Einschieben All „gebeamt“. Physiker in die Faxmaschine, vollständig ausra- fanden jetzt heraus: Im Kleinen diert.“ funktioniert das wirklich. Und es kommt noch verrückter: Die Di- stanz zwischen Sender und Empfänger rohend richteten die reptilienhaf- spielt dabei keine Rolle. Der mysteriöse ten Außerirdischen ihre Strahlen- Teilchen-Transport gelänge selbst dann, Dwaffen auf den Erdling. „Scotty, wenn sich der Sender auf der Erde und der hol mich rauf!“ funkte Captain James T. Empfänger am anderen Ende der Milch- Kirk um Hilfe. Einen Atemzug später wur- straße befände. „Ein faszinierender Vor- de sein Körper auch schon gang“, sagt Zeilinger. „Was „Beamen“ im TV-Raumschiff „Enterprise“: Was sagt durchsichtig, kurz glitzerten dabei im Detail abläuft, ver- noch seine Moleküle – dann stehen wir allerdings selber Weise miteinander in Verbindung bleiben. „beamte“ er zurück an Bord nicht so genau.“ Was auch immer fortan mit dem einen Teil- des Raumschiffs Enterprise. Für ihre Versuche nutzten chen geschieht – es scheint mittels einer Die Aliens tobten vor Wut; die Innsbrucker Forscher ei- Form von Telepathie das andere direkt zu wie ein Geist war ihnen der nen höchst sonderbaren Ef- beeinflussen. Fremde entwischt. fekt aus, wie er nur im Mi- Nach ihrer Teilchenhochzeit verhalten Hunderte Male wurde krokosmos in Erscheinung sich die Partikel gleichsam wie zwei in ei- Captain Kirk vom Transpor- tritt. Wenn zwei Elementar- ner bestimmten Weise gezinkte Würfel: terstrahl der Enterprise er- teilchen nach Art von Bil- Fällt der eine auf die 6, so zeigt automa- faßt und so aus brenzligen Si- lardkugeln zusammenstoßen tisch auch der andere diese Punktzahl; die tuationen gerettet. Doch wie und danach in unterschiedli- Art der Kopplung ist beliebig. Sie funktio- das ungemein praktische che Richtungen davonflie- niert selbst dann, wenn die beiden Wür-

Fortbewegungsmittel funk- ANZENBERGER / AGENTUR M. HORVATH gen, kann es passieren, daß fel Millionen Lichtjahre voneinander ent- tioniert, wurde in der Physiker Zeilinger sie dauerhaft in rätselhafter fernt sind. Science-fiction-Kultserie nie richtig erklärt. Nur aus Geld- Gleichklang der Teilchen Das „Beam“-Experiment von Innsbruck not war Produzent Gene Roddenberry vor über 30 Über einen Spezialkristall werden zwei Licht- Jahren überhaupt auf die blitze abgefeuert. Auf rätselhafte Weise können Idee gekommen, die Enter- sich die beiden Lichtteilchen (Photonen) gegen- prise-Besatzung quer durchs seitig beeinflussen. Weltall zu beamen: Aufgrund Sende- Empfänger- des knappen Budgets für die photon photon Fernsehfolgen war es nicht Eines der möglich, die Landung des beiden Lichtteilchen dient als Sende-, das Raumschiffs auf einem frem- andere als Empfängerpho- den Planeten effektvoll in ton. Zunächst haben beide noch Szene zu setzen. keinen festgelegten Schwingungszu- Doch nun stellt sich her- stand. Sobald aber eines von ihnen in eine aus: Wenigstens im Prinzip bestimmte Richtung zu schwingen beginnt, könnten Kirk und seine Crew schwingt das andere genau in die entgegengesetz- tatsächlich koboldhaft riesige te Richtung. Auf diese Weise bleiben die beiden Licht- Distanzen überwinden. Phy- teilchen dauerhaft aneinandergekoppelt. sikern der Universität Inns- „Passagier“- bruck ist es gelungen, in einer Photon Art Sender ein Lichtteilchen Um einen Teilchentransport in Gang zu auszulöschen, um es im sel- setzen, lassen die Wissenschaftler das Sende- Im selben Augenblick, in ben Augenblick im wenige photon auf ein abwärts schwingendes Licht- dem das Sendephoton auf- Meter entfernten Empfänger teilchen – den „Passagier“ – treffen. Bei dem wärts schwingt, beginnt das Zusammenstoß nimmt das Sendephoton den mit ihm verkoppelte, einige wiederauferstehen zu lassen. spiegelbildlichen Zustand des „Passagier“- Meter entfernte Empfänger- Fast wirkt das Beamen im Photons an – es schwingt aufwärts. photon abwärts zu schwingen Laborversuch sogar noch – es wird zur Kopie des hexenhafter als das, was sich Nach ihrer Überlagerung „Passagier“-Photons. Damit auf der Enterprise abspielt: löschen die beiden Teilchen ist der „Beam“-Vorgang (Tele- Von dem Sendegerät werden einander aus. portation) abgeschlossen. weder Materie noch Energie auf den Empfänger übertra-

144 der spiegel 1/1998 Dem Genie Albert Einstein war das alles unheimlich; er glaubte nicht, daß eine solch „spukhafte Fernwirkung“ möglich sei. Doch Anfang der achtziger Jahre haben fran- zösische Teilchen-Forscher nachgewiesen, daß zwischen manchen Partikeln tatsäch- lich solche unsichtbaren Drähte gespannt sind. Bei ihren Beam-Versuchen, über die sie jetzt im Wis- senschaftsmagzin „Nature“ berichteten, gingen die Inns- brucker Physiker noch ei- nen Schritt weiter: Sie brach- ten paarweise verkettete Lichtteilchen (Photonen)

EVERETT COLLECTION dazu, andere Partikel quer Einstein dazu? durch den Raum zu beför- dern. „Es wäre sicher span- nend, was Einstein dazu gesagt hätte“, meint Zeilinger. Jeweils eines von zwei miteinander verkuppelten Photonen dient dabei als Empfänger, das andere leitet den Trans- portvorgang ein. Und das geht so: Das Sen- dephoton tastet den Schwingungszustand jenes dritten Lichtteilchens ab, das als „Passagier“ befördert werden soll. Sofort werden diese Eigenschaften auf das ein paar Schritte entfernte Empfängerphoton übertragen. Wie von Zauberhand berührt, schwingt es plötzlich in genau der gleichen Weise wie das Passagier-Photon – was nichts an- deres bedeutet, als daß von diesem, Sim- salabim, eine exakte Kopie entstanden ist. Sende- und Passagier-Photon vergehen derweil in einem grellen Lichtblitz (siehe Grafik). Bislang glückte den Innsbrucker For- schern die trickreiche „Quantentelepor- tation“ von einzelnen Photonen höchstens hundertmal in der Stunde. „Doch die Ausbeute ist noch beträchtlich steigerbar“, glaubt Zeilinger. „Und irgendwann wer- den wir vielleicht sogar ganze Atome teleportieren können.“ Wenn dies gelänge, so hofft der Physiker, ließen sich später einmal superschnelle Quantencomputer bauen. Nur eines wird auch in einer noch so fernen Zukunft kaum möglich sein: einen Menschen von einem Ort zum anderen zu beamen. „Das ist völlig aussichtslos“, kon- statiert Zeilinger, „darüber brauchen wir gar nicht erst nachzudenken.“ Ein Apparat, der alle zehn Billionen Billiarden Atome eines Menschen samt ihrer Lage erfassen könnte, wird wohl niemals erfunden. Um diese gigantische Datenmenge aufzuzeichnen, brauchten etwa die schnellsten heutigen Computer rund 20 000mal so lange, wie das Uni- versum alt ist – da bliebe den zornigen Extraterrestriern genügend Zeit, Captain Kirk zu rösten. ™

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Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Schlauer Götterknabe esorgen Sie irgendwie die Geschichte, Bauch wenn Sie sie erfinden müssen“, befiehlt der Zeitungsboß und setzt Mona auf die Spur eines Engels, der angeblich in Galiläa, einem Armenviertel Bogotás, sein heiliges Wesen treibt. Wie die Journalistin ihn erkennt? „Wenn Sie einen mit Flügeln sehen, das ist der Engel.“ Mona findet zwar keinen Geflügelten, aber dem Engel begegnet sie doch. Steinig und schlammig ist der Weg zu ihm. Die Recherche führt durch sintflutartige Regenfälle in unheim- liche Höhlen und erfordert das Absingen heiliger Lieder. Der Engel macht alles wie- der gut – groß, schön und erotisch er- scheint er, mit jenem gleichermaßen klar- sichtigen wie abwesenden Blick, den Engel so an sich haben. Geschlechtslos ist er je- doch keineswegs – die blonde Journalistin K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Regisseur Wernicke vielmehr ein wahres Himmelsgeschenk für ihn. Als sie ihm mit ge- SPLEENS striegelter Mähne und gesalbtem Body zuge- führt wird, kommt er Tod dem Tigerfell „mit animalischem In- stinkt, menschlicher s gehört zu Silvester wie Konfetti, Blei- pe, den die Fernsehzuschauer nie zu sehen Leidenschaft und gött- Egießen und die Ansprache des Bundes- bekommen. In „Beauty Retire“, wie Wer- licher Raserei“ über kanzlers: Ohne das „Dinner for one“ wäre nicke seine dramatische Fortsetzung nennt, sie. Da aber natürlich der Jahreswechsel in Deutschland nur halb steht dort ein Harmonium: Butler James niemand daran denkt, so lustig. Nur eine Frage ist seit fast 30 Jah- verbringt die Nacht nicht im Liebesdienst „einen Engel darauf ren ungeklärt: Was tut der Butler, nachdem an seiner einsamen Herrin, sondern kehrt aufmerksam zu ma- er Miss Sophie schwungvoll die Treppe hin- in den Salon zurück. Dort singt er Lieder chen, er solle sich ein aufgetragen hat? „Same procedure as every von Henry Purcell, liest aus den Notizen Kondom überziehen“, year“– schlichte Gemüter kommen da nur des spleenigen Briten Samuel Pepys und bleibt diese Begegnung der dritten Art auf eine Idee. „Nein, das wäre doch viel zu schießt auf das Tigerfell. Der Butler wird nicht folgenlos. Doch der Erzeuger ist unbritisch“, sagt der Bühnenbildner und zum Künstler und feiert eine musikalische längst über alle Berge, von Anhängern um- „Opernregisseur des Jahres“, Herbert Wer- Geisterstunde. Mit dem Original-Sketch geben und völlig vergeistigt. nicke, der am Basler Theater den Silvester- habe „Beauty Retire“ nur wenig gemein- Die Kolumbianerin Laura Restrepo, 47, Klassiker weiterspinnt. Er baut Miss So- sam, sagt der Regisseur. Wer hätte auch je hat mit ihrem Engel-Roman einen schwie- phies Salon für die Bühne originalgetreu vermutet, daß der volltrunkene James noch rigen Balanceakt bravourös gemeistert. Mit nach und lüftet dabei endlich das Geheim- britischen Barockgesang zum besten geben Humor und Poesie schildert sie jenen at- nis des toten Winkels rechts vor der Trep- würde? traktiven Zwitter aus Gottheit und Pracht- kerl, der nicht nur gottesfürchtige Frauen- herzen verzückt.Vergnügt lästert Restrepo SCHRIFTSTELLER über den Wunderglauben ihrer Landsleute – und scheint doch selbst nicht frei davon. Kafka in Scheiben Nie ist die Heldin sicher, ob ihr namenlo- ser, meist stummer Engel ein schöner Au- ie Post aus dem Sanatorium klang erfreulich: „Heute lag tist, ein armer Irrer oder doch ein aus luf- Dich schon im Schatten auf dem Balkon fast halbnackt, das tigen Gefilden herabgestiegener Götter- war sehr angenehm“, schrieb der tuberkulosekranke Franz Kaf- knabe ist.Auf dem jenseitigen Tableau malt ka seinen Eltern aus der Heilanstalt Kierling bei Wien. Ein paar die Autorin ein unsentimentales Bild ko- Wochen später war er tot. Die österreichische Kafka-Gesell- lumbianischer Wirklichkeit, in der Engel schaft, inzwischen Mieterin im Haus, versucht jetzt, mit dem und Dämonen dicht beieinanderhausen Sterbebalkon etwas fürs Überleben zu tun: Norbert Winkler, und die Unterprivilegierten lieben, leiden Sekretär der Gesellschaft, ließ die Bohlen demontieren, in zen- und hassen wie alle Menschen – vielleicht timeterdicke Scheiben schneiden und mit dem Schriftzug nur etwas intensiver. Der Engel ist einer von „Franz Kafka Sterbehaus Kierling“ versehen. Für umgerechnet ihnen, einer von uns, seine Geschichte ein 70 Mark sind die Memorabilien zu haben; 70 Stück sind bislang wehmütig-amüsantes modernes Märchen. verkauft. Die Kafka-Gesellschaft hat Geldsorgen. „Das Kul- turministerium zahlt der tschechischen Kafka-Gesellschaft mehr Laura Restrepo: „Der Engel an meiner Seite“. Aus dem als uns“, so Winkler. „Bei Kafka denkt halt jeder an Prag und SÜDD. VERLAG Spanischen von Ilse Layer. Krüger Verlag, Frankfurt am keiner an Österreich.“ Kafka (um 1923) Main; 240 Seiten; 34 Mark.

der spiegel 1/1998 147 Szene M. POLÁK „Bohemian Forest“ von ípek (1997)

KUNST ar). Um aber seinen ausgeprägten Spieltrieb noch weiter zu rei- zen, hat parallel dazu der Prager Galerist Ji≤í vestka den Künst- ler animiert, ihm einen effektvollen „Böhmerwald“ in den Schau- Schönes Waldsterben raum zu pflanzen (bis 24. Januar). Die 22 Bäume, deren Äste aus Messingrohren gläserne Blätter tragen, könnten einem modischen enn der tschechische Designer Bo≤ek ípek, 58, Möbel, Weihnachtsmärchen als Kulisse dienen, sie sollen aber unter an- WLampen oder Vasen entwirft, dann läßt er seiner Phantasie derem die traditionelle Heimatseligkeit der Tschechen ironisieren gern freien Lauf, greift auch ungeniert in die Schatzkiste histori- und das Waldsterben in den Gebirgen des Landes schön ver- scher Stile und treibt den Dekor zuweilen absichtlich bis hart an fremden. In Shakespeares „Wintermärchen“ liegt ein wildes, den Rand des Kitschs. Seinem Schaffen widmet das Nationalmu- waldreiches Böhmen am Meer, in ípeks Wald glitzert vor allem seum in Prag derzeit eine Retrospektivausstellung (bis 2. Febru- die Boheme.

TITANIC HUMOR Untergangsnavigator Tippfehler im Mund üdafrika hat einen, und in den USA o richtig gelacht wurde selten Sgibt es ihn doppelt. Jetzt läuft auch ein Sbei Wolfgang Neuss, und deutscher „Titanic“-Verein vom Stapel: wenn, dann erleichtert. Kein das „Titanic Informations Center Deutsch- Wunder: Die atemlosen Wort- land“. Krönender Abschluß eines Jahres, spiele, die Neuss, das Kabarett- das im Banne des Desaster-Dampfers Enfant-terrible aus Berlin, bei je- stand, der vor 85 Jahren sank. Damals dem Auftritt bot, überforderten wandte sich Kaiser-Gattin Auguste Victoria die meisten Zuhörer. „Neuss setzt per Telegramm an einen deutschen Ka- furchtbar viel voraus. Er ist be- pitän, um Näheres zu erfahren. Bürgerliche schlagen und belesen wie kei- von heute wenden sich an den neuen Ver- ner“, schrieb der Kritiker Fried-

ein, Postfach 1214, 87618 Füssen. rich Luft. Das belegen jetzt auch / IMAGES.DE A. PACZENSKY zwei neue CDs (Conträr Musik) Kabarettist Neuss (1984) Zitat mit alten Aufnahmen des 1989 verstorbenen Sprach-Meisters: „Live im lich machte, statt sie zu ignorieren. Neuss Amor soziologicus Domizil“ enthält die drei Solo-Program- tat dies auf seine Art: Er habe, sagte er, me „Das jüngste Gerücht“, „Marxmen- einfach „eine Unmenge Tippfehler im „Die Liebe des Paares bemißt sich daran, schen“ und „Asyl im Domizil“, entstan- Mund“, die er nur ins Publikum rotzen daß sich die Paare der Dyade – gegenge- den zwischen 1964 und ’68; in „Neuss Te- müsse. Nicht nur Kritiker Luft war begei- steuert durch die Differenzkommunikati- stament – Die Villon Show“ von 1966 folgt stert von dieser frechen Spuckerei: „Man er seinem französischen Bruder im Geiste, muß höllisch aufpassen, um auch nur die on – auf eine von den Personen selbst zu dem Sudel-Satiriker François Villon. Neuss’ Hälfte der Pointen mitzukriegen.“ Damit füllende Ergänzung ihrer Einzigartigkeits- Stakkato-Humor, Motto: „Höchst beliebt – hat man es heute leichter als der Zuschau- entwürfe beziehen.“ verschrien bei jedermann“, führt zurück er damals im Saal – am CD-Spieler, in klei- in eine Zeit, als Kabarett noch nicht Co- nen Dosen. Und immer mit einem Finger Tilman Allert in dem Buch „Die Familie – Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform“ medy hieß, als man Politiker noch lächer- auf der Rücklauftaste.

148 der spiegel 1/1998 Kultur

THEATER Kortner oder Else Heims dominierten die Am Rande Szene an den staatlichen Häusern. Doch Bühnenblüte im Abseits neben den großen Bühnen hatte sich in Berlin seit der Jahrhundertwende auch ein So super wird 1998! as Berliner Theater war – wenigstens rein jüdisches Theaterleben im Abseits eta- Dzwischen dem Ersten Weltkrieg und bliert. Da spielten Juden für Juden: meist Lähmender Stillstand, der Machtergreifung der Nationalsoziali- Schwänke und Komödien. Der Berliner Li- mieses Wetter und sten – ohne seine jüdischen Schauspieler, teraturprofessor Peter Sprengel, 48, hat schlechte Laune bei der Regisseure und Kritiker keinen Eintritts- jetzt diesem Aspekt des hauptstädtischen alltäglichen Wiederver- Pfifferling wert. Überragende Künstler wie Kulturlebens ein informatives Buch gewid- einigung – das waren Max Reinhardt, Elisabeth Bergner, Fritz met: „Populäres jüdisches Theater“ (Verlag die prägenden Momente Haude & Spener, 39,80 1997. Im kommenden Jahr Mark). Ein besonderes ist Schluß damit. Ein neuer Kapitel stellt die Ent- frischer Wind weht durch wicklung des beliebten Deutschland.Alles wird besser. Theaters der Gebrüder Alles wird gut. Margarethe Herrnfeld in der Kom- Schreinemakers übernimmt die mandantenstraße dar. Geschäftsführung von „Mise- Das einst glorreiche Haus reor“ und verlegt den Hauptsitz wurde von den Nazis als der Organisation umgehend Theater des Jüdischen nach Santa Lucia in der Karibik. Kulturbundes von 1935 Frank Castorf, siegreich aus dem bis 1939 geduldet. Da Kampf gegen die bürgerliche

LANDESARCHIV BERLIN mußten dann Juden für „Fledermaus“ hervorgegangener Jüdisches Stück „Es lebe das Nachtleben“ (1907) Juden Theater spielen. Intendant der Berliner Volksbühne, wird Chef der politischen Avant- gardeformation „Graue Panther“. Ge- KINO meinsam mit seinem Schatzmeister aus der Parteijugend, Christoph Schlin- Spicy Girls im Zeitgeistschrott gensief („48 Stunden überleben für Deutschland“), vertreibt er die Kinkel- s gibt Spice-Girls-Deos, Spice-Girls-Puppen und Spice-Girls-Kaffeetassen. Vom Solms-Bande (früher FDP) aus dem E1. Januar an gibt es „Spiceworld – Der Film“, das Universum der erfolgreichsten Gir- Deutschen Bundestag und bildet mit lie-Band der Welt, endlich kompakt in Wort, Ton und Bild. Mit 560 Kopien in England Kanzler Schröder und Vizekanzler Fi- gestartet, soll nun auch Kontinentaleuropa und der Rest des Globus mit dem cineasti- scher die erste Bundesregierung seit schen Werk der fünf Sängerinnen beglückt werden, die inzwischen selbst Prinz Charles Menschengedenken, in der niemand zu ihren Verehrern zählen dürfen. Zwar ist von einer echten Story keine Spur – den lo- mehr auf den Namen Kohl hört. Erste sen Rahmen bilden fiktive Dreharbeiten zu einer Dokumentation über die „wirklichen“ Maßnahme: Neben Schnitzel mit Pom- Spice Girls –, doch immerhin spiegelt die Abfolge von Live-Auftritten, Backstage-Sze- mes müssen Autobahnraststätten obli- nen, Fotosessions und Pressekonferenzen eine Art audiovisuellen Themenpark der neun- gatorisch auch Tofubällchen an Ki- ziger Jahre. Unterwegs im Union-Jack-geschmückten Londoner Doppeldeckerbus feiern chererbsenmus bereithalten. Johannes Mel C, Mel B, Geri, Victoria und Emma die neue britische Kultur zwischen Tony Blair, B. Kerner wird zum Ersten Regie- Prinzessin Diana und dem märchenhaften Britpop-Wunder, also sich selbst. Das im ver- rungssprecher ernannt, und schon we- gangenen Sommer innerhalb von sechs Wochen abgedrehte Pop-Opus mit Cameo-Auf- nige Wochen später urteilt Sigrid Löff- tritten von Elton John, Stephen Fry und Elvis Costello ist ein wahres Produkt der Glo- ler im „Zeit“-Feuilleton: „Ein schlech- balisierung: ein ebenso virtueller wie authentischer Heimatfilm für die weltweite Fan- tes Omen des Neuanfangs. Die Spaß- gemeinde bis 16 Jahre. Die Älteren müssen auf „Patrick Lindner – Der Film“ warten. generation entfaltet ihren Terror der Nettigkeit.“ Roger Willemsen zieht sich angewidert aus dem Medienzirkus zurück und arbeitet zusammen mit sei- nem privaten Fernsehfreund Friedrich Küppersbusch an einer 16bändigen hi- storisch-kritischen Gesamtausgabe der besten TV-Moderationen aller Zeiten. Titel: „Die Schönheit des Scheiterns“. Verona Feldbusch, inzwischen zur San- ta Maria Schell der Vorabend-Soaps gekürt, verfilmt ihre Autobiographie „Erfolg macht schön“ und heiratet da- nach Fernsehpastor Jürgen – „Er ver- steht mich“ – Fliege. NRW-Minister- präsident Johannes Rau bewirbt sich zum zweitenmal um das Amt des Bun- despräsidenten. Grund: Die vorliegen- den Reden über die schwierige Zukunft Deutschlands im Konzert der Völker der Welt reichen mindestens noch für

POLYGRAM fünf weitere, wunderbare Jahre. Szene aus „Spiceworld – Der Film“

der spiegel 1/1998 149 Kultur

SCHRIFTSTELLER „Sieh an, das Scheusal hat Talent!“ Bertolt Brecht gilt rund um die Welt als erfolgreichster Dramatiker dieses Jahrhunderts. Deutschland hat ihn verjagt, Deutschland hat ihn zerrissen – zum 100. Geburtstag streiten die Deutschen nun um seine „schweinischen Methoden“ in Vertragsdingen wie Liebesbeziehungen. Von Urs Jenny

ein Herz schlug immer zu schnell, schnell und schrecklich auch das ersehnte und sein Leben war eine Hetze, auch andere Deutschland mißriet, hat an ihm Swenn er wohl nie so ganz mittellos gefressen; von seinem vorzeitigen Tod, war, wie er sich gern gab. „Ohne Hitler Folge eines Infarkts mit erst 58 Jahren, wäre aus Brecht nicht Brecht geworden“, läßt sich angemessen pathetisch sagen: hat sein Nachfahr Heiner Müller gesagt. Deutschland hat ihm das Herz gebrochen. Als er eben im Licht seines ersten wirkli- Er war ein großer Dichter, und er war ein chen, riesigen Erfolgs, der „Dreigroschen- armer Hund. oper“, hätte durchatmen können, mußte Wenn er vor das Totengericht tritt, wie er aus dem Land fliehen, 1933, gleich er sich das in einer späten Oper für den am Morgen nach dem Reichstagsbrand: römischen Kriegsherrn Lukullus ausgemalt Deutschland hat ihn die produktivsten an- hat, wird für ihn ein Lebenswerk von derthalb Lebensjahrzehnte lang, vom 35. durchaus einzigartiger Kraft, Fülle und bis in das 50. Jahr, seiner Wirkungsmit- Wirksamkeit sprechen. Die andere Waag- tel und Möglichkeiten und schale wird die brutale seines Publikums beraubt. Egomanie belasten, mit der Dies, mehr als jeder andere er – besonders gegenüber Umstand, begründet die ei- den ihn liebenden Näch- gentümliche Unfertigkeit sten – dieses Werk einer seines Werks. widrigen Zeit abtrotzte, die 1935 wurde er ausgebür- doch nicht für alles ein gert, und als er heimkehr- mildernder Umstand sein te, hat er die Staatsbür- kann. gerschaft nicht zurückver- Und am schwersten wird langt, vielmehr mit List letztlich vielleicht – da er 1950 die österreichische er- seine Stimme so leiden- gattert. Im Westen waren, schaftlich gegen Hitler was den Kulturbetrieb an- erhob – sein Schweigen geht, die Mitläufer längst wiegen, sein Schweigen wieder obenauf und stifte- vor Stalin. Ins Tagebuch ten Kontinuität; im Osten schrieb er 1943: „Im Fa- gaben die überlebenden schismus erblickt der So- Emigranten aus Moskau zialismus sein verzerrtes mit ihren Kunst-Dogmen Spiegelbild. Mit keiner sei- des „Sozialistischen Rea- ner Tugenden, aber allen lismus“ den Ton an. Den- seinen Lastern.“ Doch das

noch bot man Brecht im SUHRKAMP VERLAG behielt er für sich, und Osten die Chance, seine Sohn, Mutter Brecht (1908) auch als längst keine Illu- Vorstellungen von einem sion mehr möglich war, neuen Theater, sein „Berliner Ensemble“ nannte er Stalin nur im Freundeszirkel den in Wirklichkeit umzusetzen. „verdienten Mörder des Volkes“. Im Bonner Bundestag wurde er von ei- Das Brecht-Jahr kommt! Wach auf, du nem Minister mit dem SA-Barden Horst Christ! Der Schnee schmilzt weg. Die To- Wessel verglichen, in der DDR ließ er sich ten ruhn. Und was noch nicht gestorben ist, widerwillig zu einer Art Staatskünstler das macht sich auf die Socken nun! hochfeiern. Deutschland hat ihn erschöpft; Die beispiellose multimediale Brecht- die insgeheime Enttäuschung darüber, wie Großoffensive auf dem öffentlich-rechtli-

150 der spiegel 1/1998 chen 3Sat-Kanal ist längst in Gang; der Suhrkamp Verlag meldet die Vollendung der 30 Schwarten schweren „Großen kom- mentierten Berliner und Frankfurter Aus- gabe“; die Brecht-Erben fahren ein letztes Mal eine Rekordernte in ihre Tantiemen- Scheunen ein; und die vorlaute Frage „Welcher Brecht ist denn heute zu feiern?“ wird in Jubelwogen ersäuft. Naturgemäß tun sich besonders die Brecht-Städte Augs- burg und Berlin durch Aufwand hervor. Bei der Totenfeier vor 42 Jahren sprach Walter Ulbricht, beim Geburtstagsfest nun am 10. Februar in der Akademie der Kün- ste gibt sich Roman Herzog die Ehre. Im schwäbischen Pfullingen jedoch hat man listigerweise das Brecht-Jubiläum schon 1997 gefeiert. Die Eheleute Berthold und Sofie Brecht nämlich, so die Begrün- dung, hätten sich gleich nach ihrer Trauung am 15. Mai 1897 nach Pfullingen begeben; folglich dürfe das Städtchen sich rühmen, der Ort zu sein, wo der Dichter gezeugt wurde, der dann am 10. Februar 1898 in Augsburg das Licht der Welt erblickte. „Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern“, bestätigt ja ein berühmtes Ge- dicht diese Genesis: „Meine Mutter trug mich in die Städte hinein / Als ich in ihrem Leibe lag.“ Getauft wurde er (evangelisch, wie die Mutter) auf die Namen Eugen Berthold Friedrich, hieß aber im Familien-, Mit- schüler- und Freundeskreis immer nur Eu- gen (der Wohlgeborene). Seine erste Pennä- lerlyrik veröffentlichte der 15jährige als Berthold Eugen in einer selbstgegründeten Schülerzeitschrift (deren Hefte nun als Jubi- läumsdevotionale faksimiliert wiederer- scheinen).Als 18jähriger dann zeichnete er seine Gedichte mit dem schnittigen „Bert Brecht“. Da war der Tonfall schon unver- kennbar, diese raffinierte Naivität, diese ganz eigene Frechheit, diese farbige, satte, aus Volkslied und Lutherbibel, aus Gassen- hauer und Rimbaud-Pathos genährte Ex- pressivität. Die Frühreife ist grandios, mit unwiderstehlichem Schwung hatte Brecht schon, als er Mitte 20 war, ein gut Teil des- sen hervorgebracht, was ihn zu einem der vitalsten und sprachmächtigsten deutschen Lyriker dieses Jahrhunderts macht. Die Stadt Augsburg hat bereits 1995 durch Ausrufung eines Brecht-Festjahres kundgetan, daß alle Verfemung vergessen sei, die man auch dort lange gegen den mißratenen großen Sohn – Nestbeschmut- zer! Kommunist! Vaterlandsloser Geselle! – gehegt und durch einen Boykott seiner Stücke bekundet hatte. Augsburg läutet natürlich nun abermals ein Bertolt-Brecht- Jahr mit gut hundert Veranstaltungen ein, zu dessen Höhepunkten gewiß die Verlei- hung des Bertolt-Brecht-Preises zu zählen sein wird. Das Jahr 2000 will die Stadt im

K. RESSLER / AFFOLDERBACH & STROHMANN Zeichen Goethes feiern, doch für 2001 ist

Dichter Brecht in Proletenpose (1928) „Große Appetite gefielen mir sehr“ 151 (li. u. re.) SUHRKAMP VERLAG (li. u. re.) (M.) D. KONNERTH / LICHTBLICK (M.) D. KONNERTH Paula Banholzer Marianne Zoff Helene Weigel Autor Brecht, Lebensgefährtinnen: „Die Frau muß ungeheuer viel zugeben“ abermals ein Brecht-Jahr angesagt. Er sel- schaffte er standesgemäß für die beiden ter Courage“ vorneweg, nicht nur Gebäre- ber hat ja in frühem Augsburger Über- Söhne ein Klavier an und verfolgte die li- rinnen, sondern ebenso Vernichterinnen schwang prophezeit: „Mein Werk ist der terarischen Ambitionen des Älteren mit ihrer Kinder. Und die Vielfraß- und Kraft- Abgesang des Jahrtausends“ – das wird Nachsicht, auch wenn er sie nicht verstand. meier-Figuren wiederum, die sich mit ihren dann retrospektiv zu überprüfen sein. Die Mutter hingegen scheint sich nie aus oralen Riesenbedürfnissen auf seiner Büh- Ein durch Zufall erhaltenes Tagebuch den engen Verhältnissen ihrer Schwarz- ne plustern – vom ersten Dramenhelden des 15jährigen, von ihm als „Tagebuch wälder Herkunftswelt befreit zu haben; Baal bis zum kapitalistischen Nimmersatt No. 10“ etikettiert, meldet schon am er- auch in den liebevollen Memoiren des jün- Mauler, dem Genußmenschen Galileo und sten Tag: „Habe wieder Herzbeschwer- geren Sohns Walter bleibt sie eine passive, dem Mords-Saufkopf Puntila –, sind kei- den!“ Das Leiden kannte man; er wurde blasse Figur. Sie kränkelte früh und so stän- neswegs Selbstbildnisse, vielmehr Wunsch- deshalb mehrfach zur Kur geschickt; auch dig, daß schon 1910 eine Haushälterin das körper. „Große Appetite gefielen mir spätere Bettgefährtinnen haben die Krämp- Regime übernahm; sie siechte, zunehmend sehr“, hat er einmal gestanden – doch er fe und das panische Herzrasen beschrie- mit Morphium versehen, ein Jahrzehnt selber hatte keinen, „da mein Magen zu ben, das ihn manchmal mitten in der Nacht lang an Krebs dahin. Am Abend nach klein war“. Immerhin: Den Urwunsch des überfiel. Ob jedoch dieses „nervöse Lei- ihrem Tod soll der Sohn Eugen, 22, der sich im Stich gelassenen Kindes, das sich in all- den“ (so der Hausarzt) organischer Art nun Bert nannte, in seiner Bude unter dem mächtiger Rachsucht einfach alle Welt tot war, ist ungewiß. Es könnte ebensogut die Dach wie so oft mit Freunden gezecht ha- wünscht, hat niemand wie er in einen Urangst eines verlassenen Kindes gewesen ben; vor der Beerdigung machte er sich Schlagertext zu verwandeln gewußt – in sein, die da aus Alptraum-Abgründen her- mit seinen Gefühlen spurlos davon. Er er- die Ballade von der Seeräuber-Jenny, die vorbrach; jedenfalls half lindernd am ehe- trug und verzieh es schwer, verlassen zu bekanntlich auf die Frage „Welchen sollen sten körperwarme Zuwendung. werden. Später schrieb er über die Mutter: wir töten?“ eiskalt antwortet: „Alle.“ Sonst war er berührungsscheu. Den Tod „Ich liebte sie auf meine Weise, aber sie Seiner großen Gymnasiastenliebe Pau- hat er nicht einmal auf der Bühne gern ge- wollte auf die ihre geliebt sein.“ la, genannt Bi, hat er ein gutes Jahr lang sehen, und wie die Herz-Obses- mit Handküssen und Galanterien sion ihn das Leben lang festhielt, hartnäckig den Hof gemacht, bis bezeugt ein letzter Wunsch: Man Bücher zum Brecht-Jubiläum sie sich verführen ließ. Doch da- solle ihm im Sarg das Herz mit ei- Bertolt Brecht: „Werke“. Sechs Bände. Suhrkamp Verlag, nach waren die Fortschritte rasch. nem Stilett durchstoßen, damit er Frankfurt am Main; 3992 Seiten; 128 Mark. Er eroberte 1919 (als Bi ihm gera- ganz bestimmt nicht lebendig be- John Fuegi: „Brecht & Co.“ Deutsch von Sebastian Wohlfeil. de seinen ersten, zu Wedekinds graben werde.Alles spricht dafür, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg; 1088 Seiten; 88 Mark. Ehren Frank getauften Sohn ge- daß (zumindest in diesem Punkt) boren hatte) die glamouröse jun- sein Wille geschah. Werner Hecht: „Brecht Chronik 1898–1956“. ge Sängerin Marianne Zoff vom Ein literarisches Lebenswerk, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 1316 Seiten; 98 Mark. Augsburger Stadttheater, genannt in dem es an Vaterbildern man- Sabine Kebir: „Ich fragte nicht nach meinem Anteil“. Mar. Und bald entwickelte er mit gelt, dafür imposante Mutterfigu- Aufbau Verlag, Berlin; 292 Seiten; 39,80 Mark. der Gerissenheit eines triebhaf- ren (von der „Mutter“, der „Mut- ten Heiratsschwindlers sein Sy- ter Courage“ und dem „Kauka- stem, in wackligem Gleichgewicht sischen Kreidekreis“ bis zur Bearbeitung Der Literaturwissenschaftler Jürgen stets mehrere Affären nebeneinander in von Shakespeares Mutter-Sohn-Drama Manthey hat in sein jüngstes, erkenntnis- Gang zu halten und dabei die diversen Ge- „Coriolan“) die Szene beherrschen, lenkt reiches Buch „Die Unsterblichkeit Achills“ liebten auch noch mit rasender Eifersucht Interesse auch auf die Eltern des Autors. ein Brecht-Kapitel eingefügt: Da wird der zu tyrannisieren. Er nahm gern und gab Der Vater, ein Gründerzeit-Aufsteiger, wie schreckliche Vereinfacher Brecht schreck- wenig. Wenn er sehr verliebt war, schenk- er im Buche steht, arbeitete sich im Gang lich vereinfacht auf die Figur eines Mut- te er der Frau ein Ringlein sowie sehr fei- zweier Jahrzehnte vom Kommis zum kauf- tersöhnchens, das untröstlich aller Welt nur erlich ein Stück vom Himmel – einer den männischen Direktor einer Papierfabrik immer vorwirft, daß es an der Brust seiner Orion, einer anderen die Kassiopeia. empor. Bücher (außer der Bibel) gab es Mutter nie satt geworden sei. Der junge, programmatisch verwahr- wohl dennoch nicht im Haus. Seinem Kul- In der Tat sind Brechts überlebensgroße lost auftretende Brecht war „weder fesch turbedarf genügte der Gesangverein, doch Muttergestalten, die sprichwörtliche „Mut- noch gutaussehend“ (so Paula Banholzer),

152 der spiegel 1/1998 (li.)ULLSTEIN (M.) LUCHTERHAND; (re.) SUHRKAMP VERLAG (M.) LUCHTERHAND; (re.) Elisabeth Hauptmann Ruth Berlau Margarete Steffin vielmehr ein „überaus ungepflegtes“ und auch Jähzorn und Rücksichtslosigkeit des versicherte er der ersten schriftlich, er wer- „spindeldürres Männlein“ (so Marianne Vaters nicht unterschlägt, diesen Zauber de sich gleich wieder scheiden lassen und Zoff), dabei einerseits unendlich bemutte- liebevoll in ein Bild gebracht: „Der konn- dann sie heiraten. rungsbedürftig, andererseits ein Draufgän- te die Vögel von den Bäumen charmieren.“ Ein halbes Jahr nach der Geburt von ger, der in seiner Eroberungsgier „unver- Als ihn endlich einmal Bi und Mar ge- Mariannes Tochter Hanne tat er sich in sehens ohne Vorwarnung einfach auf ei- meinsam zur Rede stellten, welche er denn Berlin mit Helene Weigel zusammen, ge- nen einhieb“. Doch er besaß, trotz der rau- nun wirklich zu heiraten gedenke, erklärte nannt Helli, wollte auf die beiden anderen hen Stimme und dem knarrenden R, eine er kaltblütig: „Beide!“, worauf ihn beide aber keineswegs verzichten. Als Bi doch hypnotische Verführungs- und Verzaube- sitzenließen. Natürlich gewann er beide zu rebellieren begann, schickte er Helli rungsmacht. Frauen wie Männer erlagen zurück, und als er dann doch nicht die er- nach Augsburg mit dem Auftrag, die ewige ihm, wenn er wirklich wollte. Die Tochter ste heiratete, die schon ein Kind hatte, son- Braut sofort und ultimativ zur Übersied- Barbara hat in einem späten Interview, das dern die zweite, die nun schwanger war, lung nach Berlin zu bewegen. Er selber, mit seiner magnetischen Unwiderstehlich- keit, hätte wohl auch dieses Kunststück ge- schafft – Helli jedoch gelang es nicht (im- merhin war sie da selber schon schwan- ger), und auch die Ehe-Liaison mit der schönen Mar ging irgendwann (nach einer weiteren Schwangerschaft) entzwei. Auch eine lange Liste von Abtreibungen gehört in eine Brecht-Biographie. Als er dann 1929, ohne Vorwarnung der anderen Bräute, Helene Weigel heiratete, reagierten Elisabeth Hauptmann und die Schriftstellerin Marieluise Fleißer mit je einem Selbstmordversuch, und die schöne Schauspielerin Carola Neher knallte den Blumenstrauß, der sie versöhnen sollte, dem Treulosen um die Ohren. Die Mann- Frau-Beziehung sei, so dozierte Brecht, ein Vertrag, wo meistens der Mann „ungeheu- er viel verlangen kann und die Frau unge- heuer viel zugeben muß“. Weil Helene Weigel so ungleiche Verhältnisse hinzu- nehmen verstand, blieb sie trotz schwerer Krisen lebenslang die Hauptfrau. Eine neue Favoritin, Margarete Steffin, die 1931 die Szene betrat, hieß die Weigel im Club der Brecht-Gefallenen mit dem Satz willkom- men: „Du tust mir leid, mein liebes Kind.“ Gedichte schrieb der junge Brecht mit so leichter Emphase, als würden sie ihm zu- fliegen; und wenn der Schwung nicht bis ins Ziel reichte, blieben sie oft für immer

B. MAYER unfertig liegen. Ausdauer für planmäßige

Martin Wuttke als Arturo Ui in Berlin (1995) Nach der „Wende“ die Brecht-Wende 153 Kultur Schreibarbeit jedoch brachte er schwer auf: marktgängigeren Projekten, indem sie Sein empfindliches Dichter-Ego brauchte ihm ihre Übersetzung der „Beggar’s Ope- Stimulans und Resonanz, am besten von ra“ des englischen Satirikers John Gay Zeile zu Zeile, um sich in produktiver Lau- zuschob, woraus die „Dreigroschenoper“ ne zu halten. So scharte er schon früh in entstand. Elisabeth Hauptmann wies auch seiner Augsburger Mansarde einen Kreis der Entwicklung seiner Ästhetik einen anfeuernder Mitarbeiter um sich. Sie hat- neuen Weg, indem sie ihn (wieder durch ten durchaus kreativen Anteil an jenen er- Übersetzungen aus dem Englischen) sten ungebärdig-genialischen Bühnen- stücken, mit denen der junge Draufgänger im schick-schäbigen Proletenlook Anfang Bestseller der zwanziger Jahre Aufsehen erregte. Als sich die Freundesclique jedoch auf- Belletristik löste und Brecht an die Eroberung Berlins 1 (1) Marianne Fredriksson ging, geriet die Produktion ins Stocken: Er hatte die Pranke zum grandiosen ersten Hannas Töchter W. Krüger; 39,80 Mark Wurf, nicht jedoch das Sitzfleisch zur Aus- arbeitung und Vollendung. Das Dilemma 2 (2) Ken Follett Der dritte Zwilling war so offenbar, daß sein Verleger 1924 eine Lübbe; 46 Mark junge Lektorin mit dem einzigen Auftrag 3 (3) Arundhati Roy Der Gott der anheuerte, den sich verzettelnden Brecht anzutreiben und seine Energien zu bün- kleinen Dinge deln: Elisabeth Hauptmann. Blessing; 42,90 Mark Erst die allmähliche Publikation des Nachlasses hat sichtbar gemacht, welch ge- 4 (5) Donna Leon Acqua alta waltige Masse an Fragmenten, Entwürfen, Diogenes; 39 Mark Varianten die Brecht-Werkstatt hervor- brachte. Damals begann Elisabeth Haupt- 5 (4) Elizabeth George Denn sie betrügt mann als erstes, aus einem Wust von man nicht Blanvalet; 46,90 Mark Versionen das „Hauptmannuskript“ (so Brecht) der Komödie „Mann ist Mann“ 6 (6) Frank McCourt Die Asche herauszuschälen und zu collagieren. meiner Mutter Luchterhand; 48 Mark Er machte sie rasch zu seiner Geliebten, 7 (9) Stephen King Glas und sie machte sich rasch zur – neben Helene Weigel – wichtigsten Frau in seinem Heyne; 48 Mark Leben: als Stofflieferantin, Ko-Autorin und 8 (8) Christian Jacq Ramses – Der konstante Kraft im fluktuierenden Mitar- beiter-Kollektiv, als Organisatorin aller An- Tempel der Ewigkeit Wunderlich; 42 Mark gelegenheiten, um die er sich aus Unlust 9 (7) John le Carré nicht kümmern mochte (in Berlin wie im amerikanischen Exil), schließlich, lang über Der Schneider von Panama seinen Tod hinaus, in Ost-Berlin als Her- Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark ausgeberin der „Gesammelten Werke“. Aus dem Augsburger Vaterhaus hatte 10 (13) Peter Høeg Die Frau und Brecht zu seiner Bequemlichkeit ein jun- der Affe Hanser; 39,80 Mark ges Dienstmädchen mitgenommen: Es 11 (11) Charlotte Link machte Frühstück, hielt das Wohnatelier in Ordnung (und ging 1933 mit der Brecht- Das Haus der Schwestern Familie ins dänische Exil). Im Atelier Blanvalet; 44,90 Mark schrieb Brecht vormittags mit Elisabeth Hauptmann zusammen und ließ sie dann 12 (10) John Grisham Das Urteil selbständig weiterarbeiten. Er selbst ging Hoffmann und Campe; 48 Mark zu Mittagessen und Siesta zu Helene Wei- gel, deren Wiener Mehlspeisen-Küche ihm 13 (12) Jean-Dominique Bauby die liebste war, und widmete den Rest des Schmetterling und Taucherglocke Tages (von den üblichen Nebenaffären ab- Zsolnay; 24 Mark gesehen) der Reklame für sich selbst. Sein heiratsschwindlerisches Überre- 14 (14) Arno Surminski Sommer dungstalent nutzte er nicht nur als Schür- vierundvierzig Ullstein; 44 Mark zenjäger, sondern ebenso im Umgang mit Agenten und Verlegern: Auch sie spielte er 15 (–) Herbert gerissen gegeneinander aus. So lebte er pri- Rosendorfer ma auf Pump von erschnorrten Vorschüs- Die große Umwendung sen auf ungeschriebene Werke und war Kiepenheuer & Witsch; 36 Mark bald, wenn schon nicht kommerziell erfolg- reich, so doch durch Premierenskandale Briefträger: Chinesi- sches aus dem und provokante Auftritte berühmt. wiedervereinigten Elisabeth Hauptmann,von ihrem Verlag Deutschland inzwischen entlassen, drängte Brecht zu

154 der spiegel 1/1998 mit dem japanischen No-Spiel bekannt meinsamem Interesse zustimmen müsse, machte. von den anderen getötet zu werden. In ei- Anfangs schattenhaft, in „Mann ist nem No-Spiel (dort sakral begründet) fand Mann“ und im fragmentarischen Riesen- Brecht nicht nur dieses Tötungsmotiv wie- drama „Fatzer“ erstmals erkennbar, zieht der, sondern auch die angemessen über- sich durch Brechts frühes Werk zentral ein höhte, ritualisierte Darstellungsform, die Menschenopfer-Motiv: die Idee, daß in ei- er übernahm – so bekam nach mehreren ner kleinen Gruppe ein einzelner in ge- Vorstufen das Menschenopfer-Thema seine große, schreckliche, ultimative Form in der Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich „Maßnahme“: 1929 geschrieben, noch im ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Stande der Unschuld, was Stalin betrifft, Brechts einzige Tragödie. Sachbücher Natürlich füllt das Jubiläum die Regale der Buchhandlungen mit frischem Stoff, 1 (1) Richard von Weizsäcker auch mit einer handlichen sechsbändigen Vier Zeiten Siedler; 49,90 Mark Volksausgabe der „Werke“ und einem Pa- ket von 20 Brecht-CDs. Aus dem Angebot 2 (2) Andrew Morton Diana ragen übergewichtig zwei Wälzer hervor, in Droemer; 29,90 Mark denen zwei führende Brechtologen die Bi- lanz von Jahrzehnten der Forschung gezo- 3 (4) Monty Roberts Der mit gen haben. den Pferden spricht Lübbe; 44 Mark Das eine Buch, die „Brecht Chronik 1898–1956“ von Werner Hecht, vermeldet 4 (5) Dale Carnegie Sorge dich auf 1300 Seiten in minutiöser Nahsicht und nicht, lebe! Scherz; 46 Mark bewußt wertfrei, was von Tag zu Tag über den Gang der Brechtschen Dinge bekannt 5 (3) Ute Ehrhardt Gute Mädchen ist. Das andere Buch, die Biographie kommen in den Himmel, böse überall hin „Brecht & Co.“ von John Fuegi, zeichnet auf gut 1000 vollgepackten Seiten partei- W. Krüger; 32 Mark isch und temperamentvoll ein Porträt des Autors und richtet, wie schon der Titel si- 6 (6) Guido Knopp Vatikan gnalisiert, besondere Aufmerksamkeit auf C. Bertelsmann; 46,90 Mark seine Ko-Autoren, vor allem auf Elisabeth Hauptmann, doch auch auf die beiden Lie- 7 (8) Gunter Sachs Die Akte Astrologie bes- und Arbeitspartnerinnen des Exils, Goldmann; 29,90 Mark Margarete Steffin und Ruth Berlau. Als Fuegi sein Buch 1994 in den USA 8 (9) Marion Gräfin Dönhoff Zivilisiert veröffentlichte, rief er – wie das Renegaten den Kapitalismus DVA; 36 Mark so geht – bei der linientreuen Forschung wilden Protest hervor, selbst seine man- 9 (7) Arnulf Baring Scheitert gelnden Geographiekenntnisse wurden als Deutschland? DVA; 39,80 Mark Beweis für die Nichtigkeit seiner Thesen genutzt. Auch die deutsche Ausgabe nun, 10 (11) Michael Drosnin Der Bibel Code überdacht, überprüft, durch Belege erwei- Heyne; 38 Mark tert, wird von den Nachlaßhütern und Gruftwärtern verdammt. 11 (10) Viviane Forrester Der Terror der Niemand bestreitet, daß die „Dreigro- schenoper“ nur Brecht als Autor berühmt Ökonomie Zsolnay; 36 Mark gemacht hat, obwohl auf dem Programm- zettel der Uraufführung zutreffend der alte 12 (13) Franca Magnani Mein Italien Verfasser John Gay stand und darunter: Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark „Übersetzung: Elisabeth Hauptmann, Be- arbeitung: Brecht“.Von den Tantiemen ge- 13 (15) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ stand er ihr ein Achtel zu, dem Komponi- Integral; 22 Mark sten Kurt Weill zwei Achtel, fünf Achtel behielt er für sich. Schon in Klaus Völkers 14 (12) Lea Rabin Ich gehe weiter auf Brecht-Biographie von 1976 stand jedoch, seinem Weg Droemer; 44 Mark daß der deutsche Stücktext „bis zu achtzig oder sogar neunzig Prozent“ von Elisabeth 15 (–) Kitty Kelley Hauptmann stamme, und die eben er- Die Royals – Glanz schienene Elisabeth-Hauptmann-Biogra- und Elend einer phie mit dem Titel „Ich fragte nicht nach meinem Anteil“ von Sabine Kebir liefert, englischen Familie auch zu anderen Stücken, noch über Fue- M. v. Schröder; 46 Mark gis Quellen hinaus neue Belege. Fuegi wird weiter verketzert. Doch die Hoflieferantin: Skandalöses aus der Zeit arbeitet nicht mehr nur insgeheim für bewährten Enthüllungs- die Brecht-Frauen. Selbst in der Geburts- maschinerie tags-„Werke“-Ausgabe steht beispielswei-

der spiegel 1/1998 155 Kultur se, als sei das eine Bagatelle, in den klein- so treuen, tapferen, aufopferungsberei- gedruckten Anmerkungen zu dem Stück ten Heldinnen der letzten großen Stük- „Der Jasager“, Brecht habe dafür ein Ma- ke, „Der gute Mensch von Sezuan“ und nuskript von Elisabeth Hauptmann zu „Der kaukasische Kreidekreis“, gezeich- „rund 90 Prozent bis auf Ausnahmen wort- net haben. wörtlich“ übernommen. Das hieße alles in allem vielleicht: So un- Die Kontroverse um Prozentanteile wird entbehrlich die Auseinandersetzung mit sich noch lange nicht erschöpfen, und erst dem Marxismus war, um dem egomanen recht nicht die um unerfüllte Tantie- Genie Distanz und den Blick für gesell- menansprüche. Denn Brecht – das Kind, schaftliche Zusammenhänge zu geben, so das immer lieber den ganzen Kuchen für unentbehrlich waren die Ko-Autorinnen, sich behielt – liebte auch in Geld- und Ver- um sein strenges Werk durch Mitgefühl zu tragsdingen diffuse Verhältnisse, und nicht wärmen, ihr Werkanteil wäre die berühm- nur den Frauen gegenüber. Kurt Weill, des- te Brechtsche Humanität. Wer weiß. Mar- sen Musik der „Dreigroschenoper“ erst garete Steffin starb 1941 unterwegs in Mos- den Welthit-Kick gegeben hatte, fand sich kau, als Brecht und die Seinen quer durch beim Tantiemen-Gemauschel fast jedesmal die Sowjetunion nach Wladiwostok flohen, übervorteilt, weshalb es zum Bruch kam; um das auf lange Zeit letzte Schiff zu er- er nannte das später „die gute alte schwei- wischen, das nach Amerika ging. nische Brecht-Methode“. Er ist in den USA – pendelnd zwischen John Fuegis wirkliches, fern aller Recht- der Familie in Los Angeles und New York, haberei ernsthaftes Thema heißt: In wel- wo Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau, chem Maß haben die mitarbeitenden die ewige Steffin-Rivalin, mit kümmerli- Brecht-Frauen die großen Brecht-Frauen- chen Jobs ihr Leben fristeten – nicht glück- figuren erst ermöglicht und ihnen Substanz lich geworden. Die dänische Autorin und gegeben? In seinen frühen machohaft-an- Regisseurin Ruth Berlau, die Brecht zulie- archischen Werken fielen Huren und will- be ihren reichen Mann verlassen hatte, war fährige Jungfrauen auf. Eine kämpferisch willig, doch wegen ihres mangelhaften selbstbewußte Mädchengestalt wie die Deutschs nur begrenzt als Mitautorin von „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ war Nutzen. Brecht hat in Hollywood Brotar- da nirgends vorgeprägt – und die literari- beit gesucht, weiter gegen Hitler agitiert,

sche Vorlage für diese Johanna, kein Zwei- doch als Theaterautor nichts bedeutendes SUHRKAMP VERLAG fel, lieferte Elisabeth Hauptmann mit ihrem Neues mehr hervorgebracht. Urlauber Brecht in Buckow (1954) eigenen Stück „Happy End“. Helene Weigel und Elisabeth Haupt- Drei Nebenfrauen am Sterbebett Könnte der kreative Anteil der Exil-Ge- mann waren 1929 in die KP eingetreten, fährtin Margarete Steffin nicht ähnlich ge- um sich zur Linken zu bekennen; Marga- deren waren es für ihn. Doch so ent- wesen sein, von deren Sonetten manche rete Steffin und Ruth Berlau waren mit schlossen, wie er am Tag nach dem Reichs- früher als Brechtsche galten? Die viel- Leidenschaft in der Parteiarbeit aktiv; tagsbrand aus Hitler-Deutschland geflo- sprachig begabte junge Berliner Proleta- auch die Brecht-Komponisten Hanns Eis- hen war, verließ er mit Helene Weigel am riertochter war, wie niemand sonst, mit ler und Paul Dessau (zeitweise mit Tag nach dem Komitee-Verhör für immer geradezu selbstmörderischer Hingabe Elisabeth Hauptmann verheiratet) gehör- McCarthys Amerika. Elisabeth Haupt- (schon früh schwer lungenkrank) auf ten prominent dazu. Dennoch konnte mann und Ruth Berlau folgten nach; bei- den Stationen des skandinavischen Exils Brecht im Herbst 1947 dem Komitee für de fanden – die eine als Dramaturgin, die von Dänemark über Schweden nach Finn- unamerikanische Umtriebe ehrlich er- andere als Fotografin – im „Berliner En- land an Brechts Arbeit beteiligt. Sie könn- klären, er sei niemals Mitglied der kom- semble“ wieder zu ihm. te durchaus den Grundentwurf zu den munistischen Partei gewesen: All die an- Natürlich stehen in der „Großen kom- mentierten Berliner und Frankfurter Aus- gabe“ nach wie vor manche Texte, die so nicht von Brecht geschrieben, sondern nur von ihm abgesegnet und als „Brecht“ auf den Markt gebracht worden sind, und natürlich taucht aus dem immensen Nach- laß immer noch Unbekanntes auf – vor kurzem zum Beispiel ein Manuskript zur Poetik des Aristoteles. Es steckte, unbe- merkt wohl seit den frühen fünfziger Jah- ren, in einem Aristoteles-Band in Brechts Bibliothek im (heute so genannten) Brecht- Haus an der Chausseestraße, wo er die letzten drei Jahre gelebt hat. Der späte Fund erinnert an Brechts merkwürdigste Fehl-Selbsteinschätzung, an seinen Ehrgeiz, sich auch als bedeuten- der Theoretiker hervorzutun. Aus Abnei- gung gegen das bürgerliche Gefühlstheater, gegen Stanislawskis Psycho-Schauspiele- rei wie gegen den „sozialistischen Realis-

R. BERLAU mus“ einerseits und andererseits aus In- Brechts „Mutter Courage“ in Berlin (1949): Gebärerin und Vernichterin teresse an „epischen“ Zwanziger-Jahre-

156 der spiegel 1/1998 Stilmitteln wie an Darstellungsformen des alten ostasiatischen Theaters, hatte sich sei- ne unverwechselbar individuelle Theater- praxis entwickelt – und um herauszustel- len, daß er dies für das Großartigste seit Er- findung der Griechischen Tragödie hielt, nannte er sein wackliges Theoriegerüst die „nichtaristotelische Dramatik“. Sie gilt so- gar im eigenen Haus inzwischen als obso- let, im Theater am Schiffbauerdamm also, das der schon kränkelnde Meister endlich, zwei Jahre vor seinem Tod, mit dem „Ber- liner Ensemble“ als wohlsubventioniertes eigenes Haus beziehen konnte. Die tüchtige Witwe Weigel – erst sie kam in den Genuß des rasch wachsenden, riesi- gen Weltruhms – hat als Intendantin dieses Theater zum Welt-Tempel der ordnungs- gemäßen Brechtpflege hochgebracht, aber auch schon die Stil-Erstarrung im Mauso- leumsmäßigen eingeleitet. Seit der „Wen- de“, die zwangsläufig auch eine Brecht- Wende war, ist das „Berliner Ensemble“ in anfangs schleichender, nun schon galop- pierender Selbstauflösung vorangeschrit- ten. Wer weiß, wenn die Jubelfeiern über- standen sind, wird es sich vielleicht zur wohlverdienten Ruhe betten dürfen. Das bescheidene Berliner Brecht-Haus, zu Fuß nur fünf Minuten vom Theater ent- fernt, ist rechtzeitig zum Jubiläum reno- viert worden: zwei lichte Arbeitsräume, daneben Brechts schmales Schlafzimmer- chen mit dem schmalen Bett, von dem die Weigel, als es ans Sterben ging, drei Ne- benfrauen wegscheuchen mußte, um einen letzten Augenblick mit ihm allein zu sein. An einem Haken Stock und Mütze, über dem Bett eine Chagall-Miniatur, Geschenk der ersten Zürcher und Münchner „Mutter Courage“ Therese Giehse. Die Giehse hat Brecht in den frühen zwanziger Jahren auch Thomas Manns Be- merkung hinterbracht, nachdem der erst- mals etwas von Brecht gelesen hatte: „Sieh mal einer an, das Scheusal hat Talent!“ Der bourgeoise Großdichter Thomas Mann ist über die zwanziger Jahre und das gemein- same kalifornische Exil hinaus Brechts lieb- ster Lieblingsfeind geblieben. Seine letzte und größte Ehrung, den Stalin-Friedens- preis, erhielt Brecht 1955 – und er erhielt ihn als Lückenbüßer, weil der Wunschkan- didat der Russen dankend abgelehnt hatte: Thomas Mann. Auf dem Bertolt-Brecht-Platz setzen sich noch immer Touristen auf die bronzene Bank neben den überlebensgroßen bron- zenen Denkmals-Brecht und lassen sich fo- tografieren. Die Theaterfassade dahinter schmückt das „Berliner Ensemble“ mit wechselnden Brecht-Sprüchen, zum Bei- spiel mit einem von 1922, der wie ein ak- tueller Gruß klingt: „Ich bin überzeugt, daß die Brechthausse ebenso auf einem Mißverständnis beruht wie die Brecht- baisse, die ihr folgen wird. Inzwischen lie- ge ich in der Horizontalen, rauche und ver- halte mich ruhig.“ ™

der spiegel 1/1998 Kultur Überlebenden. Die zwei Brüder dieser ver- Blue ist nur ein letzter Verzweiflungsangriff THEATER beulten Gestalt wurden 1886 erschossen, der Vergangenheit auf die Gegenwart. Für seitdem weht durch die kalifornische Wü- so einen bremst niemand. Erlösung ste der Soundtrack einer Sehnsucht – be- Sam Shepard, heute 54, ist berühmt ge- stückt wird er bei Kruse durch Young, Dy- worden als Schriftsteller und Kinoheld, als lan, Johnny Cash und all die anderen. Cowboy der staubigen Sätze und Ex- im Schrott Wie fast alle von Kruses Theaterabenden Freund von Patti Smith. Ende der Sechzi- ist auch dieser eine düstere Messe. Der ger und Anfang der Siebziger aber war er Jürgen Kruse feiert an der Berliner Regisseur, ein grimmig musikbesessener auch Aushilfsschlagzeuger bei den Rolling Irrläufer des deutschen Theaterbetriebs Stones, bei der britischen Rockband The Volksbühne Sam Shepards (SPIEGEL 39/1994), ist ein Schamane, der Who und bei Bob Dylan. Aus dieser Zeit Sechziger-Jahre-Abgesang „Die wieder und wieder seine Erlösungsvisionen stammt das Stück „The Unseen Hand“, unsichtbare Hand“ – als beschwört. Im Auswurf der Zivilisation, in das all das durchbuchstabiert, was zum finstere Rock’n’Roll-Messe. Staub, Schutt und Schrott sucht Kruse amerikanischen Wahnwitz gehört: Shepard Trost und Stärkung, und wohl deshalb beschreibt eine wüste Männerwelt voll as ist das Schicksal der Revoluzzer: inszeniert er nun schon zum drittenmal Sam Brudertreue,Verschwörungsparanoia, Out- Wer nicht rechtzeitig abtritt, wird Shepards uramerikanisches Wüstendrama law-Herrlichkeit und marsianischen Heils- Dsanft und weise. Bob Dylan singt „The Unseen Hand“: Die Wüste ist ein Kin- projektionen. Vor allem aber geht es um jetzt für den Papst, Patti Smith zieht Kin- derspielplatz für rauhe Männer, eine Müll- die Bedrohung, die ein paar Hippie-Drifter der groß und schlürft Milchkaffee, und Jür- halde verbrauchter Träume – und Kruse für Amerikas brave Bürger darstellen. gen Kruse, der wilde Theatermann aus spielt nun mal sehr gern im Müll. Willie, ein Weltraum-Renegat aus einer Deutschlands bewegteren Bühnenprovin- „Wenn ich nicht soviel gesoffen hätte, fernen Affenwelt, will Blue und seine zum zen in Freiburg, Stuttgart und Bochum, würde ich jetzt in den Geschichtsbüchern Leben erweckten Brüder anheuern, um je- kehrt nun endlich nach Berlin zurück. stehen“, sagt der müde Zugräuber Blue. ne Herrschaft zu brechen, welche „die Stummen“ mittels Gedanken- kontrolle errichtet haben. Und weil Kruse eher zu den Lauten zählt, setzt die Rettungsaktion als Rock’n’Roll-Offensive an; doch die zerrupften Trash-Hei- ligen enden in der glücklichen Tristesse der Mittelklasse. Der Pepsi-Boy Blue und das rothaa- rige Kleinstadtflittchen Willie verbrennen nicht,sie verlöschen langsam. Bye-bye, hey hey. Jürgen Kruses Inszenierung besteht auch diesmal aus vielen grandiosen Kopfgeburten, aus Initiationsriten für Eingeweih- te. Man muß ihm dieses Sek- tierertum nicht vorwerfen: Es ist die Quelle jener obsessiven Kraft, die sein Theater treibt. In diesem Fall jedoch zerfällt die Inszenierung mehr und mehr in Posen und Sprech-

D. BALTZER blasen. Was an der schlichten Volksbühnen-Darsteller Fritsch (r.), Mitspieler: Die Wüste ist ein Kinderspielplatz für rauhe Männer Comicstrip-Dramaturgie der Vorlage liegen mag, aber auch In Berlin hat Kruse, 38, einst bei Peter Herbert Fritsch spielt dieses daran, daß im merkwürdigen Stein seine Lehrjahre absolviert, und an Auslaufmodell aus einer Zeit, Energiefeld der Berliner Volks- der Schaubühne, damals noch ein heiliger als es noch Züge auszurauben bühne bereits einigen Regis- Ort, hat Kruse 1987 erstmals versucht, Sam gab, und wenn er einen Schluck seuren der Saft ausgegangen ist, Shepards Space-Western von der „Un- aus der braunen Papiertüte die andernorts Beachtliches sichtbaren Hand“ auf den Bühnenbrettern nimmt („One for the road“), er- liefern: Andreas Kriegenburg, zu landen. Alles verdammt lang her – aber weist er sich einmal mehr als Martin Ku∆ej oder dem Inten- was sind schon zehn Jahre gegen die Ewig- begnadeter Amokläufer – mit danten Frank Castorf selbst. keit? Rock’n’Roll is here to stay. manchmal nervtötender Kon- Insofern ist Kruses Heim- Ebendies behauptet Neil Youngs Hymne, sequenz macht er aus Blue ei- kehr nach Berlin nur ein halber

und als sie verklingt, schält sich – raunzend nen rhabarbernden Einsiedler. K. HOLZNER / ZEITENSPIEGEL Sieg. Immerhin wirkt der Sog und munter delirierend – ein Westernheld Blue Morphan hat sein Le- Regisseur Kruse seines Wehmutsirrsinns auch in mit Zottelbart und langen Haaren aus den ben in der Nähe des Wüsten- der Volksbühnen-Aufführung – Überresten eines 51er Chevy-Cabrios. Blue städtchens Azusa in den Graben gefahren, wenn der Mond über dem Wüstenhimmel Morphan heißt er, umgeben ist er von der und wenn die Lichter der Laster über untergeht, die Sehnsucht verblaßt und das Weite einer wolkenverhangenen Voll- die Leitplanken streichen, hebt er bloß Mittelmaß siegt, dann tönt es kratzig aus mondnacht. Vor sich sieht er einen Rinder- schwach die Hand. Hitchhiking ist zwar dem Radiorecorder: Rock’n’Roll is here to schädel und plattgerollte Cola-Dosen, in die zeitgemäße Form der Fortbewegung stay. Demnächst in einer Kruse-Inszenie- seinem Inneren spürt er die Leere des für die Trittbrettfahrer des Lebens – doch rung in Ihrer Nähe. Georg Diez

158 der spiegel 1/1998 FOTOS: TOBIS FOTOS: Lolita-Darstellerin Swain, Humbert-Darsteller Irons: Die Schauplätze wechseln, Lolitas Seelenlage nicht

Tatsächlich ist der Anspruch, den Nabo- tuierten. Während Humbert im Roman KINO kovs Klassiker vorgibt, enorm: Das Buch, nicht nur ein heiliger Narr, sondern auch 1955 veröffentlicht, ist das halb burleske, ein psychisch deformiertes Monster ist, Alles Banane halb bedrängende Psychogramm eines wird er von Lyne zum weidwund blicken- französischen Gelehrten, genannt Hum- den Schmerzensmann verklärt: Der Film Viel Aufregung um Adrian Lynes bert Humbert, dessen gleichaltrige Ju- beginnt mit seiner Ur-Erfahrung, dem gendliebe 13jährig stirbt. Humbert sucht frühen Tod der Jugendliebe, und Jeremy Neuverfilmung von „Lolita“– doch noch als erwachsener Mann nach einer Irons, der Humbert spielt, schickt sich brav abermals scheitert Hollywood Wiederholung, stellt den „Nymphchen“ – ins zweieinviertelstündige Dauerleid. Er an der großartigen Romanvorlage. wie er die begehrten Mädchen nennt – auf rührt gar nicht erst an die dämonische Sei- Spielplätzen nach. te der Figur. in seltsamer Skandal ist das. Da In Amerika verfällt er Lolita, der Toch- Statt dessen hat das Drehbuch (ein De- kommt diese Woche eine bonbon- ter seiner Zimmerwirtin, heiratet die Wir- büt des New Yorker Journalisten Stephen Ebunte, nervtötend durchgestylte Um- tin, um der Tochter näher zu sein, treibt Schiff) alles Satanische jemand anderem setzung des Literatur-Klassikers „Lolita“ die Wirtin in den Tod, schnappt sich die zugeschoben: Frank Langella, der Clare von Vladimir Nabokov in die Kinos, ver- Tochter, macht sie zu seiner Dauer-Ge- Quilty darstellt. Quilty ist Gegenspieler bockt vom ehemaligen Werbefilmer Adrian liebten. Nabokov gelingt es glaubhaft, ei- und Alter ego Humberts – ebenso scharf Lyne, 56, der mit seichten Filmen wie „Ein nen Pädophilen als hingebungsvoll Lie- auf Nymphchen im allgemeinen und Loli- unmoralisches Angebot“ so reich geworden benden darzustellen – ohne zu verhehlen, ta im besonderen. Neben Quilty, der wie ist, daß sich keiner Sorgen um ihn machen daß der Held durch den Vollzug seiner ein Fürst der Finsternis meist nur im Schat- muß – und seit Monaten schreiben sich Jour- Liebe zwangsläufig zum Seelen-Zerstörer ten zu sehen ist, wirkt Humbert wie der nalisten die Finger wund, um Lyne und sei- wird. Vertreter eines gerechteren Prinzips. ne „Lolita“-Verfilmung zu verteidigen. Das Dieser Komplexität sind beide „Lolita“- Nun kann man einem vergleichsweise schönste daran ist: Im Land, wo der Film am Verfilmungen nicht gewachsen. Kubricks rechtschaffenen Gesellen nicht wirklich heftigsten für Kontroversen sorgt, hat ihn Version, die sich ohnehin erheblich von abnehmen, daß seine Liebe vernichtend noch kaum jemand gesehen – in den USA der Romanvorlage löst, ist besonders feige: sein soll. Schon gar nicht, wenn vom Leid findet der Film keinen Verleih. Die Lolita-Darstellerin sieht aus wie eine Lolitas nicht viel zu sehen ist. Die meiste Das also ist der Skandal: In Zeiten hit- erwachsene Frau, und so wirken Humberts Zeit läßt sie sich von Humbert durch die ziger Mißbrauch-Diskussionen ist den US- libidinöse Umtriebe gar nicht anstößig. Gegend kutschieren, die Schauplätze Verleihern die berühmte Geschichte über Lynes neue Lolita-Version hält sich en- wechseln – Lolitas Seelenlage nicht. Ihre das Verhältnis eines 40jährigen Mannes zu ger an Vorgaben des Romans. Das beginnt Zerrüttung wird nur signalisiert. Symbo- seiner 12jährigen Stieftochter Lolita zu hei- schon bei der Einrichtung des Hauses von lisch. Mit einer Banane zum Beispiel, an kel, zu unmoralisch. Dabei will Lynes „Lo- Humberts Wirtin und späterer Frau (ge- der Lolita aggressiv-lasziv mit ihren Zäh- lita“-Verfilmung gerade das nicht: heikel spielt von Melanie Griffith), die man eins nen entlangschrappt, bevor sie abbeißt. sein oder unmoralisch. Sie mogelt sich viel- zu eins wiederfindet; etliche Dialoge sind Doch leider ist es mit der Symbolik ver- mehr vorauseilend gehorsam um so ziem- unverändert übernommen, und die weibli- trackt: Sie ist auslegbar. Sichtbare Zer- lich alles herum, was mit Sex zu tun hat. che Hauptrolle spielt ein wirklich junges störung nicht. Schon die erste Verfilmung von Nabo- Mädchen: die 15jährige Dominique Swain, Es ist also zum zweitenmal schiefgegan- kovs Roman 1962 ist verdruckst und keusch. die zwar wenig facettenreich, dafür aber gen mit Lolita im Film. Schamlos ist nicht Damals führte Film-Legende Stanley Ku- erfrischend energiegeladen spielt. Lynes Adaption (der ein wenig mehr Un- brick Regie, der später selber zugab, daß Doch auch die vermeintlich werkgetreue verschämtheit nicht geschadet hätte); ihm seine Adaption nicht sonderlich gelun- Annäherung lügt: Wie Kubrick blendet schamlos ist allein die Dreistigkeit, mit der gen sei. „Wäre ,Lolita‘ von einem schlechte- Lyne das trübe Vorleben Humberts aus. das belanglose Machwerk zum Skandal ren Schriftsteller geschrieben worden, wäre Kein Herumlungern auf Spielplätzen, kei- hochgeredet wurde – und damit zum selt- vielleicht der Film besser“, bekannte er. ne käufliche Liebe mit blutjungen Prosti- samsten Kinoereignis der Saison. ™

der spiegel 1/1998 159 Kultur einmillionenmal verkauft und wurde viel- fach übersetzt. Es gab eine Verfilmung, ein LITERATUR Ballett nach dem Roman und sogar eine Oper – selten ist einem jungen Autor, ge- wissermaßen aus dem Nichts, ein solcher Schlurf heimwärts, Engel Start gelungen. Schneider, der als Adoptivkind einer Seit seinem Erfolg mit „Schlafes Bruder“ gilt der Österreicher Bauernfamilie in Vorarlberg aufwuchs und danach ein paar Jahre lang in Wien Musik- Robert Schneider als Wunderkind der Gegenwartsliteratur – nun und Theaterwissenschaft studierte, ist da- schickt er eine „Luftgängerin“ auf Irrfahrt. mit in einsame Höhe katapultiert worden. Hat ihn das überfordert? Schon im Vorfeld er mit Abstand beste Satz fällt nach des Erscheinens wurde von ungewöhnli- wenigen Seiten. Im Zug von Land- chen Forderungen des Autors gemunkelt: Dquart nach St. Gallen begegnet dem Den Proben seines zweiten Romans hatte jungen Ambros Bauermeister im Herbst er selbstbewußt einen mehrseitigen Ver- 1969 die Liebe seines Lebens. Im Speise- tragsentwurf beigelegt, der bis zum Chauf- wagen sitzt sie, Amrei, mit marineblauem feur und der Hotelklasse auf Lesereisen Pullover und „vollendeten, seedunklen“ („Fünf-Stern-Klasse, in einer Suite mittle- Augen. Für Ambros ist die Sache auf den rer Größe“) alles regeln sollte. ersten Blick klar, er stürzt sich auf das ver- Doch aus den Lektoraten, denen die dutzte Mädchen und küßt es. Da sagt die Proben vorlagen, drang kaum etwas nach Überrumpelte mit österreichischem Ak- außen – zu lebendig war noch die Erinne- zent: „Finden Sie nicht, daß Ihnen etwas rung an die Blamage mit dem Manuskript die Nuancen fehlen?“ von Schneiders Erstling: Mehr als 20 Ver- Leider geht schon der Antwort jeder lage hatten den späteren Millionenseller Charme ab. „Sie sind der schönste Mensch, abgewiesen (freilich, das wird gern ver- der mir jemals in meinem Leben begegnet schwiegen, mit zum Teil aufrichtigem Be- ist“, sagt der Verliebte. Sagt er? Nein, die- dauern und durchaus positiver Beurtei- se Worte „bebte er unverständlich, und lung). Am Ende machte Karl Blessing das sein Herzklopfen übertönte die Rennen um die „Luftgängerin“, Gedanken“. Und wer das noch ein Verleger, der das finanzstar- für ein vom Autor augenzwin- ke Bertelsmann-Imperium im kernd inszeniertes Liebesge- Rücken hat: Er bot Schneider stammel hält, wird schnell eines knapp eine Million Mark als Ga- Schlimmeren belehrt. rantiehonorar und ließ auch Mit der Liebe wird in diesem über den Forderungskatalog mit Roman nicht gespaßt. Denn sie sich reden. „geschieht nur ein einziges Mal“. Warum soll ein Schriftsteller Und sie soll heilig gehalten wer- nicht die Gunst der Stunde und den. Zwar sinkt Amrei ihrer Zug- seinen Marktwert nutzen? War- bekanntschaft Ambros – der um soll ein Verlag nicht auf den Mann wollte eigentlich nur sei- Schneider-Buch Bestsellerruhm eines Autors set- nen Vater besuchen – noch in zen? Was im amerikanischen Ge- derselben Nacht in ihrem Haus in Vorarl- schäft gang und gäbe ist, setzt sich allmäh- berg „auf die Brust“, doch erst im Januar lich auch in Deutschland durch: Autoren 1970 (mit Daten nimmt der Erzähler es ge- pokern, einige haben mittlerweile Agen- nau), „erkannten sie einander“. Das aber ten; dagegen läßt sich wenig einwenden. dann richtig: „Sie fielen ineinander wie die Was zählt, ist allein die literarische Qua- Wolken des Himmel, türmten ihre Körper lität. Der Zauber von Schneiders erstem auf, rissen sich fort und vergingen am Ho- Buch bestand in der Beschränkung auf ein rizont der Lust.“ zentrales Motiv, das schon im ersten Satz Es fehlen die Nuancen: Besser als mit anklang: „Das ist die Geschichte des Mu- diesem ersten Satz von Amrei läßt sich das sikers Johannes Elias Alder, der zweiund- Unglück des Romans „Die Luftgängerin“, zwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, des zweiten von Robert Schneider, kaum nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr beschreiben*. Die Erwartungen an das zu schlafen.“ Der altertümelnde Ton, das Buch waren enorm, das Ergebnis ist nie- Auftreten eines allwissenden Erzählers, ei- derschmetternd. Das ist ein trauriger Fall – nige ausgefallene Wörter – das mochte zum und ein tiefer. Ambiente eines Bergbauerndorfs zu Be- Schneider, 36, gilt – neben Patrick Süs- ginn des 19. Jahrhunderts passen und konn- kind („Das Parfum“) – als Wunderkind der te zudem als postmodernes Spiel verstan- Gegenwartsliteratur in deutscher Sprache: den werden. ein Publikumsliebling. Sein Debüt „Schla- „Wir schließen die Blätter unseres fes Bruder“, 1992 erschienen, hat sich bis Büchleins über Johannes Elias Alder“, hat- heute allein in deutscher Sprache mehr als te Schneider damals, noch ohne jede Aus-

K. BOSSE / BILDERBERG sicht auf Ruhm und Prominenz, gegen Autor Schneider in New York * Robert Schneider: „Die Luftgängerin“. Karl Blessing Ende von „Schlafes Bruder“ geschrieben. „Herzklopfen übertönte die Gedanken“ Verlag, München; 352 Seiten; 42,90 Mark. „Was kommt, ist von Unerheblichkeit.“

160 der spiegel 1/1998 Vorerst leider wahr. Der neue Roman hat keinen erzählerischen Fluß und keine wirklich überzeugende Hauptfigur. Statt des genialen Musikers Alder, der mit ei- nem übersinnlichen Gehör, einer unerwi- derten Liebe und einer tumben Umgebung geschlagen war, kommt nun der Engel Maudi ins Spiel, die im September 1970 geborene Tochter von Ambros und Amrei, eine „Luftgängerin“. Das Mädchen leidet, wie ein Arzt feststellt, unter dem „Syn- drom der testikulären Feminisierung“, ein Wesen also mit dem Aussehen einer Frau und dem Chromosomensatz des Mannes. Wunderwesen oder medizinischer Fall? Schon der Vater mag Maudi nicht, der Au- tor kaum mehr. Lieblos durchstreift er mit ihr die siebziger, die achtziger, die neunzi- ger Jahre. Statt der Luftgängerin Farbe zu geben (aber eben: „Engel haben keine We- senheit“), wird vom „Magischwerden“ und vom „Wunder“ bloß geredet. Zu oft wird in diesem Roman das „Un- faßbare“ angekündigt, „das noch nie Da- gewesene“, doch die erwartete „Katastro- phe“, das „Unsägliche“, die „Ungeheuer- lichkeiten ohne Ende“ treten nicht ein – am Schluß reicht es gerade mal zu einem raschen Blick in die nahe Zukunft, wo idiotische Skinheads in der fiktiven Stadt Jacobsroth einen Panzer klauen und ei- nen Minibürgerkrieg provozieren. Auch ein Feuer muß her (und ist doch nur ein Abklatsch der Dorfbrände in „Schlafes Bruder“). Was könnte Schneider im Sinn gehabt haben? Ein Gesellschaftspanorama? Eine Vorarlberg-Satire? Eine Liebesgeschichte? Der Roman hat von allem etwas, doch nichts löst er wirklich ein. Die reichlich lahme Luftgängerei kommt auch durch die – zahlreichen – Nebenfiguren des Romans nicht in Schwung; sie alle sind kaum mehr als ihre drolligen Namen (vom Russen und Engeljäger Izjumov über die Buchhändle- rin Nagg und den Journalisten Nigg bis zum Verleger Sot). Ihre Lebensweisheiten klingen wie aus Dale Carnegies Longseller „Sorge dich nicht, lebe!“: „Aus Lebens- angst folgt das Versäumnis, und aus dem Versäumnis der lebenslange Tod.“ Da darf dann auch der Rilke-Ton nicht fehlen: „Ist Irrfahren nur im Weglosen?“ Es ist ein Graus.Aber lassen wir die „be- anzugten und beabendkleideten Gäste“, mögen die Helden sich „zungig“ und we- nige Seiten später auch „tiefzungig“ küs- sen, soll sich die Ampel „röten“ und dann „grünen“, eine Parklampe ins Zimmer „stauben“ – solch kleine Schnitzer, die ge- wöhnlich Anfänger unter den Autoren für besonders literarisch halten, hätte ein Lek- tor leicht entfernen können. Der aber durf- te oder konnte hier offensichtlich nicht je- nes starke Gegenüber spielen, das jeder Schriftsteller braucht. „Die Luftgängerin“ ist das Desaster eines Unberatenen. Mag sein, auch das Drama eines Unbelehrbaren. Volker Hage

der spiegel 1/1998 Kultur

SCHAUSPIELER Schattenmann und Kanalratte Jürgen Vogel, der schnoddrige Anti-Star des neuen deutschen Films, will in der Pennerballade „Fette Welt“ beweisen: Schauspielerei ist eigentlich Politik.

erlin, Bahnhof Zoo, am hintersten kein Zuhause und kein Ziel hat. Genau da- erwachsen, häufig mit kriminellen Zügen. Bahnsteigende von Gleis vier. Ein von handelt „Fette Welt“, die Verfilmung Ein Schattenmann und Schmerzensmann. Bmilchiggrauer Frühwintertag.Außer- eines Romans von Helmut Krausser. In „Das Leben ist eine Baustelle“ lag er halb der Bahnhofshalle fegt ein lausig kal- Sein alter Freund Richy frotzele immer, als Jan Nebel, ein vom Pech verfolgter Ber- ter Wind in Richtung Gedächtniskirche. wenn er ihn sehe: „Ah, da kommt ja unser liner Jobber, ziemlich neben der Spur; und Die Film-Crew von „Fette Welt“ bibbert Elendsdarsteller“, erzählt Jürgen Vogel ein in „Die Apothekerin“ becircte er die phar- und bläst Atemwolken in die Luft. paar Tage danach in einem Berliner Café – mazeutisch bewandte Hella, die ihn wenig „Totale auf Jürgen!“ ruft der Regisseur und lacht dazu. Der „Fette Welt“-Dreh ist später unter die Erde brachte. Bald wird Jan Schütte. Hauptdarsteller Jürgen Vogel überstanden; Vogel hat sich die filzige brau- Vogel im TV-Drama „Der Pirat“ als Junkie nimmt hastig einen letzten Zug von seiner ne Matte, die er für seinen Penner-Part zu sehen sein, der „vom Großkotzdealer Zigarette, zupft seinen schäbigen Mantel trug, ratzekahl geschoren. Jetzt macht er zur abgefuckten Kanalratte“ absteigt – ein zurecht und stellt sich an der Bahnsteig- erst mal Pause, der Elendsdarsteller. Film nach einem authentischen Fall, von kante auf. Dann wird gedreht, nur eine ein- Freund Richy hat recht: Vogel, 29, hat in Stefan Aust aufgezeichnet und als Buch fache Einstellung: Mann wartet auf Zug. den letzten Jahren das große Los als Loser veröffentlicht (Ausstrahlung im Februar). Aber wie Vogel da wartet, gedanken- gezogen. Er ist der Anti-Held des neuen Mit seiner Filmauswahl hat sich Vogel, verloren ins Nirgendwo starrt und von ei- deutschen Films, ein schnoddriger, prole- der bislang zweimal den Bundesfilmpreis nem Fuß auf den anderen tritt, um die Käl- tarischer Narziß.Vogels Figuren tragen Na- gewann, inzwischen weit mehr als nur Dar- te zu vertreiben – das ist Schauspielkunst. men wie Ingo,Andy, Dieter, Pit oder Char- stellerruhm erarbeitet. Sein Name steht für Innerhalb von Sekunden läßt er den ange- ly – Namen, die nach Berufsschule und den Traum von einem anderen neuen deut- spannten Trupp vergessen, der sich ein Dosenbier vom Kiosk riechen. Vogel hat schen Film: einem, der nicht nur verbisse- paar Meter weiter hinter der Kamera drän- Muskeln wie einer von der Straße und ei- nen Willen zur Unterhaltung zeigt, son- gelt, und auch die Fahrgäste, die auffällig nen Gang, der wirkt, als hätte er vier Ma- dern auch das Verlangen, reale Geschichten unauffällig den Hals recken, um einen Blick trosen im Stammbaum. Sein Image: ag- aus der Kohl-Ära zu erzählen. Es ist der zu erhaschen. Vogel, der blasse, ärmliche, gressiv, flegelhaft und zugleich unwider- alte, idealistische Traum von der Filmema- geduckte Mann an Gleis vier, wirkt furcht- stehlich.Ätzend und verletzend, aber auch cherei, die etwas bewirken will. „Schau- bar allein auf dieser Welt: ein Penner, der verletzlich. Ein Verweigerer, selten ganz spielerei ist Politik“, glaubt Vogel, „die Art, MTM CINETEVE Vogel mit Filmpartnerin Filimonow bei Dreharbeiten zu „Fette Welt“: Das große Los als Loser gezogen

162 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Kultur wie ich Menschen zeige, denen was ich verstehe“. Einen wie Ha- es schlechtgeht, wie ich ihnen gen, der freiwillig auf der Stra- Respekt erweise – das ist eine ße lebt, kann Vogel verstehen. politische Haltung.“ „Zwischen Hagen und mir gibt Beharrlich hat sich Vogel dar- es keinen großen Abstand.“ um dem Beziehungsklamauk Nur den, daß Vogel den Ab- verweigert; statt dessen hat er sprung aus Hamburg-Schnelsen sein Schicksal an begeisterungs- geschafft hat. Vater Vogel war fähige Autorenfilmer wie Mat- Kellner, die Mutter Hausfrau; vier thias Glasner („Sexy Sadie“), Kinder, 1600 Mark im Monat, Dani Levy („Stille Nacht“) oder sozialer Wohnungsbau. Vogel Wolfgang Becker („Das Leben machte die Mittlere Reife und ist eine Baustelle“) gekettet. ergatterte als Jugendlicher erste Auch „Fette Welt“ ist der Rollen in dem Zeitgeist-Drama vielversprechende Versuch, Bo- „Kinder aus Stein“ und in der denhaftung in den in Yuppie-Ge- Familiengeschichte „November- filden schwebenden Deutschfilm katzen“.An der Schauspielschu- zu bringen: nicht zuletzt darum, le, die ihn einige Jahre danach weil in der Geschichte des Ob- aufnahm, hielt er es nur einen

dachlosen Hagen Trinker, der ZDF Tag aus. Statt dessen drehte der seinem Namen hochprozentige Vogel im Fernsehfilm „Der Pirat“: Kein Feind von Traurigkeit autodidaktische Malocher Film Ehre macht, etliche echte Ber- nach Film, fast 50 an der Zahl. ber auftreten. Als Vogel während einer auf Bahnhofsklos, im Knast, unter Brük- Das ist Vogels Lebensgeschichte – und es Drehpause in voller Penner-Montur durch ken, in Drogenquartieren, Leichenhallen ist auch seine Story. Ungefragt redet er da- den Münchner Hauptbahnhof stapfte, woll- und zugigen Rohbauten zugebracht. Der von, daß er es nicht leiden könne, „wenn ten Polizisten seine Papiere sehen; andere Mann ist kein Feind von Traurigkeit. die Leute sich dafür schämen, wo sie her- Darsteller wurden vom Fleck weg festge- Warum tut er sich, Idealismus hin oder kommen“. Nur „kein Klodeckel drauf“ auf nommen. Andernorts probte ein Akteur her, dauernd die Typen mit den ange- die Vergangenheit. Dieses Beharren auf sei- die Flucht durch einen Bahnhofstunnel – knacksten Lebensläufen an? „Mir macht es ner Herkunft paßt, na klar, zum Image des prompt rissen ihn Beamte zu Boden. Es Spaß“, sagt Vogel. „Schauspielerei heißt für unverfälschten Gossenhauers. hätte ja was Kriminelles vorliegen können. mich, ich selbst zu sein, nur mit einer an- Vogels große Klappe, gepaart mit seiner Für „Fette Welt“ und „Der Pirat“ hat deren Geschichte. Die ziehe ich mir an wie Erfahrung, hat bei Dreharbeiten Folgen: Vogel das vergangene Jahr überwiegend einen Anzug.“ Darum kann er „nur spielen, Er mischt sich ein. Hagen in „Fette Welt“ etwa war Vogel anfangs „zu passiv“. Er kennen. Aber Berlin ist groß und kalt und vermißte im Drehbuch die Straßenhärte feindselig, und irgendwann gibt Hagen sei- und auch die knalligen Dialoge, die der ne Suche auf.Ausgerechnet dann, beim War- Vorlage ihren Jungmannen-Charme gaben. ten am Bahnhof Zoo, sieht er Judith wieder. „Was ist dein Hobby?“ wird Hagen da ge- Auch das Zufallstreffen des Pärchens fragt. „Wichsen“, antwortet der. steht an diesem Drehtag auf dem Pro- „Das ist doch Klasse“, findet Vogel, gramm. Die Positionsmarken der Darstel- schaltet sein schiefes, spitzzähniges Grin- ler kleben auf dem Bahnsteig. Sie kommt sen an und läßt sich von der Kellnerin eine langsam auf ihn zu, Umarmung, Kuß, „gut Packung Zigaretten kommen. siehst du aus“, sagt er. Sie lächelt. Der ab- Roman und Verfilmung wird dennoch gerissene Wicht und das frisch gewaschene nicht allzuviel verbinden. Denn zwischen Mädchen: Werden sie wieder ein Paar? dem Sprachberserker Helmut Krausser Wie auch immer „Fette Welt“ ausgehen („Thanatos“), 33, und dem Menschenkal- wird: Hagen, der Säufer, der Träumer, der ligraphen Jan Schütte („Auf Wiedersehen, Dieb, ist einer von denen, die Vogel vor Amerika“), 40, liegen Welten. sich sieht, wenn er sagt, Schauspielerei sei Kraussers pathetischer Roman stimmt Politik. einen Rattengesang der Großstadt an, eine Im Café, er will gerade gehen, kommt alkoholgeschwängerte Verherrlichung von Vogel auf einmal die Galle hoch: „Wir ha-

Dreck und Chaos. Sein Hagen ist ein un- A. KARSTEN ben jetzt fast fünf Millionen Arbeitslose, gewaschener, selbstverliebter, klassisch Vogel in „Novemberkatzen“ (1985) und die Zahl wird weiter raufgehen. Ir- gebildeter Dichter in der Gosse, der mit „Ich kann nur spielen, was ich verstehe“ gendwann ist dieser Staat nur noch eine exaltiertem Weltekel auf das etablierte Farce. So wie die Leute selbst mit dem Deutschland blickt, auf all die „sinnlos tären Jüngelchens degradieren dürfe. Da Hammer die Mauer eingehauen haben, so durch die Gegend hopsenden Organsamm- ist Schütte ganz Sozialrealist. werden sie irgendwann den Bundestag ein- lungen“. Zwischen Brillanz und Unerträg- Darum läßt sein Film nur die Brandmau- hauen. Sie werden hingehen, die Typen an lichkeit irrlichtert der Roman, 1989/90 ver- ern der Handlung stehen: Hagen, der mit ei- die Luft setzen, die Konten sperren und faßt, über das literarische Terrain. ner Pennerclique in München haust, trifft selbst die Regierung übernehmen. Das ist „So kann man die Geschichte heute die Ausreißerin Judith (Julia Filimonow) das einzige, was ich mir vorstellen kann.“ nicht mehr erzählen“, findet Jan Schütte. und verliebt sich in sie. Als Judith von der Und dann zieht Jürgen Vogel, der Revo- Zu viele Leute landen wirklich auf der Polizei geschnappt und zu ihren Eltern nach luzzer vor der Kamera, sein Wollkäppi auf, Straße, als daß man das Berberleben zur Berlin verfrachtet wird, fährt Hagen hin- schnappt sich seine Zigaretten und geht. Selbsterfahrungsnummer eines spätpuber- terher, ohne auch nur ihren Nachnamen zu Susanne Weingarten Kultur Diese ebenso kühne wie banale These daß es in Indonesien sogar geschlechtsspe- AUSSTELLUNGEN allerdings gehört spätestens seit den sieb- zifische Reistruhen gibt – häßliche, runde ziger Jahren in feministischen Kreisen zum für die Frauen und schmale, aufwendig ver- Global fatal Allgemeingut, ähnlich wie das Buch „Fe- zierte für die Männer. Doch all diese Bei- male Power and Male Dominance“ der spiele wirken oft willkürlich nebeneinan- Was treibt Männer zum Fußball Amerikanerin Peggy Sanday, das der Aus- dergestellt. Mitunter erinnert die Kölner stellung den Titel lieferte. In dem Stan- Schau an gutgemeinte Schaufensterdeko- und Frauen an die dardwerk beschrieb die Autorin vor fast 20 rationen sogenannter Dritte-Welt-Läden – Töpferscheibe? Eine Kölner Jahren die fundamentale Zerrissenheit ih- auch dort stellt man manchmal Horrorbil- Schau bestaunt den res Geschlechts: Frauen seien wahre Mei- der von beschnittenen Mädchen neben al- weltweiten Geschlechterkampf. sterinnen in der Ausübung informeller lerlei ethnologischen Krimskrams. Macht, und trotzdem könnten sie nicht Die zweite These der Ausstellung macht ie Vertreibung aus dem Paradies herrschen. „Die Gesellschaft war damals sich Sigmund Freuds Theorie zu eigen, Män- liegt schon geraume Zeit zurück, noch nicht soweit, daß ein breites Publi- ner empfänden einen „Gebärneid“, weil Ddie Menschen haben viel dazuge- kum eine Ausstellung zum Geschlechter- der Nachwuchs nach wie vor nur von Frau- lernt, aber zwischen Mann und Frau will es verhältnis akzeptiert hätte“, erklärt Völ- en in die Welt gesetzt werden kann. Ob- immer noch nicht richtig klappen. Warum ger die Verspätung. wohl die Existenz des „Gebärneids“ heute nur? Und was eigentlich ist bloß aus der Vi- Nun ist die Zeit offenbar reif für einen selbst von Freud-Schülern angezweifelt sion eines Matriarchats geworden? tiefen Einblick in das komplizierte Kon- wird, erklären die Kölner Organisatorinnen Solch bedeutende Fragen hat sich Gisela strukt der Geschlechter, das überall auf der dessen Kompensation zum Grundantrieb Völger, Direktorin des Kölner Rauten- Welt Geltung zu haben scheint. Dafür ha- männlicher Verhaltensweisen. Jeder Mann, strauch-Joest-Museums für Völkerkunde, ben die Kölner Ausstellungsmacher unter so die Behauptung, übe sich schon früh in vorgenommen – und das in Zeiten, in de- anderem eine deutsche Puppenstube auf- kompensatorischen Spielchen. nen, so behauptet sie, der Frauenanteil an gestellt und daneben, ordentlich aufgereiht, Ob neuguineische Kopfjäger, afrikani- Topjobs in der Wirtschaft stagniere und an Puppenspielzeug aus japanischen Kinder- sche Krieger oder Dortmunder Väter den Universitäten sogar rückläufig sei; zimmern – so plump wird belegt, daß rol- Sonntag nachmittags beim Kicken auf dem „obwohl viele Männer“, so Völger, „ganz lenprägende Erziehungsmuster in Tokio Bolzplatz: Männer zelebrieren Initiations- gern ein bißchen Verantwortung abgeben sich wenig von denen in unter- riten. Sind die Jungs erst mal drin in Papas würden“. scheiden. Club, übernehmen sie seine kulturellen Antworten auf das Chaos im jahrtau- Auch erfahren die Besucher, daß auf Muster im Nu; so wird das Rollenverhalten sendealten Geschlechterkampf soll die afrikanischen Märkten Mädchen aus wei- des Mannes – wie die Ausstellungsmache- jüngste Ausstellung ihres Museums „Sie chem Ton Behälter formen, während die rinnen meinen: global fatal – von Genera- und Er – Frauenmacht und Männerherr- Jungs ihre Waffen aus Stahl fertigen; und tion zu Generation gesichert. schaft im Kulturvergleich“ ge- Kann ja sein, daß die Männer- ben*. Sie vereint 1000 Objekte, welt in nah und fern die immer- die die Ausstellungsmacher aus gleichen Riten exerziert – aber allen Ecken der Erde und Win- ist auch in allen anderen Fragen keln des Alltags zusammenge- der staunende Ethnoblick der Er- tragen haben. kenntnis letzter Schluß? Dazu gehören Öfen aus Bur- Direktorin Völger, die so viele kina Faso, bunte Zeremonienge- Antworten geben wollte, wäre wänder aus Indien und eine schon froh, wenn die Ausstellung Bronzefigur des expressionisti- wenigstens Diskussionen entfa- schen Künstlers Max Beckmann chen würde. Das klingt pädago- über die Vertreibung aus dem Pa- gisch, aber auch überraschend radies genauso wie die Nachbil- zahm für ein Projekt, das eigent- dung der Hochzeitskrone von lich „feministisch und kämpfe- Königin Sylvia oder Penisfutte- risch“ wirken will und die All- rale aus Neuguinea, die ein tagssorgen moderner Frauen Model namens Sly stundenweise als Alleinerziehende, Entschei- vorführt. dungsträgerinnen oder Partne- Aus Indonesien karrten die rinnen nicht berücksichtigt. Kölner Intimschmuck heran, und Gut möglich, daß wieder ein- irgendwo haben sie sogar die mal die Männer schuld haben. gliedverstärkende Strickhose des Denn anders als die thematisch Kurfürsten August von Sachsen verwandten Vorgänger-Ausstel- gefunden. Gesammelt wurden lungen vom selben Haus (1985 die Fundstücke als Beleg für die „Die Braut – geliebt, getauscht, Ausstellungsthese, daß sich das geraubt, gekauft“ und 1990 „Män- Geschlechterverhalten weniger nerbünde – Männerbande. Zur biologisch als gesellschaftlich be- Rolle des Mannes im Kulturver- gründet. Denn, glaubt Direkto- gleich“), die von Frauen für Frau- rin Völger, „das Geschlecht ist en gemacht wurden und Män- überall zu mehr als 80 Prozent nerschelte betrieben, sollte dies- ein soziales Konstrukt“. mal dem Geschlechterfeind die Hand der Versöhnung entgegen- gestreckt werden – und ein paar * Die Ausstellung in der Josef-Haubrich-

Kunsthalle in Köln ist geöffnet bis zum 8. N. ENKER von ihnen durften sogar im Aus- März 1998. Model Sly mit Penisfutteral, Betrachter: Spielchen in Papas Club stellungsteam mitmachen. ™

166 der spiegel 1/1998 POP Autogramme in der Wall Street Jay-Z alias Shawn Carter erobert auch die deutschen Hitparaden – zu Hause in den USA wird er vor allem wegen seiner trüben Vergangenheit verehrt. anchmal, wenn er in Brooklyn auf der Straße angesprochen wird und Mden Fans seine Unterschrift auf T-Shirts und Karten kritzelt, wenn er abends in einem Club über Lautsprecher angekündigt wird, verspürt Shawn Carter etwas, das er noch nicht lange kennt: ein schlechtes Gewissen. Shawn Carter ist Rapper, er nennt sich Jay-Z, und er gilt als jüngster Aufsteiger im amerikanischen HipHop-Geschäft. Sein Al- bum „In My Lifetime,Volume 1“ ist in den

USA ein Bestseller, ein Duett mit Foxy / BMG ARIOLA KNOTT P. Brown („Ain’t No Nigga“) hatte ihm auch Rapper Jay-Z: In zehn Sekunden vom Angeber zum nachdenklichen Geschäftsmann in Deutschland Erfolg gebracht. Geholfen haben Carter, 28, so gut wie schlechten Gewissens. „Wenn Puff Daddy Wall Street residiert. In den nächsten Wo- alle, die einen guten Namen in der Soul- einen Hit aus den Achtzigern sampelt, wie chen werden dort zwei Alben veröffent- und HipHop-Branche haben: Die Band ,Let’s Dance‘ von David Bowie, finden das licht, die Carter endgültig zum reichen Blackstreet etwa, die Rapperinnen Lil’ Kim viele schmierig“, sagt Carter. „Wenn ich Mann machen dürften: das der wunder- und Foxy Brown, Babyface und auch der aber ,You Belong To The City‘ von Glenn baren Soulband Christión und das des im März ermordete Rapstar Notorious Frey sample, muß ich lesen: ,Das ist zwar Rappers Sauce Money, der für Puff Dad- B.I.G. – auf deren Platten nämlich absol- hart an der Grenze, aber Jay-Z erzählt von dys „I’ll Be Missing You“ den Text ge- vierte er Gastauftritte, die ihn bekannter seinem harten Leben als Dealer, also darf schrieben hat. machten als sein eigenes, vor zwei Jahren er das‘ – totaler Quatsch.“ Schon sein eigenes Album „In My erschienenes Debütalbum. Carters wich- Carter beendete seine Drogendealer- Lifetime, Volume 1“ gibt Einblick in die tigster Förderer aber ist wohl der Produ- Karriere 1989. Ein Musikproduzent lud ihn beiden Welten, zwischen denen sich Carter zent und Rapper Puff Daddy – und eben nach London ein, um ein paar Songs auf- mittlerweile bewegt: zwischen den Hits diesem großen Mann der New Yorker Hip- zunehmen. Carter merkte, daß er sein Geld für die Hitparade und HipHop für die Hop-Szene gegenüber plagt ihn mitunter auf diese Weise leichter und vor allem un- Clubs. ein schlechtes Gewissen. gefährlicher verdienen konnte. Er war da- „Sunshine“ beispielsweise ist eine ge- Puff Daddy nämlich muß trotz des Welt- mals 20 Jahre alt. lungene Neuaufnahme des fast zwei Jahr- erfolgs seines Songs „I’ll Be Missing You“ Seiner Ghetto-Erfahrung verdankt er Er- zehnte alten HipHop-Klassikers „Rockin’ und jeder Menge Kritikerlob mit dem Ma- kenntnisse wie diese: „Wenn du dich mit It“ und beruht auf dem Puff-Daddy-Prin- kel leben, daß er im sicheren New Yorker einer Gesellschaft herumschlägst, die dich zip: Man nehme einen Erfolgssong der Vorort Mount Vernon aufgewachsen ist – verarschen will, dann mußt du alles dar- achtziger Jahre, lege einen frischen Break- für viele HipHop-Fans ein Grund, ihm die ansetzen, daß du sie verarschst und dieses beat darunter, drehe ein spektakuläres Vi- Anerkennung als authentischer Ghetto- Spiel gewinnst.“ Authentizität, der An- deo mit spektakulären Mädchen, und fer- Künstler zu versagen. schein, vom wahren Leben auf den Straßen tig ist der Hit. Carter dagegen war in seinem ersten Le- der Ghettos zu erzählen, spielt immer noch „A Million And One Questions/Rhyme ben, das er in den Mercy Housing Projects eine große Rolle in jenem Musikgenre, das No More“ hingegen wechselt einfach nach in Brooklyn verbrachte, ein ziemlich er- irgendwer mal das „CNN der Schwarzen“ zwei Minuten komplett die Samples, und folgreicher Drogendealer – und gerade das genannt hat. schon ändert sich die Stimmung des Rap- verschafft ihm heute den Respekt der Fans. „Ich will bloß gute Geschichten er- pers – vom Angeber zum nachdenklichen Wenn er mit Freunden durch Brooklyn zählen“, schränkt Carter ein, „Geschich- Geschäftsmann in zehn Sekunden. zieht, verehren ihn die Jungs auf den ten, die von Freundschaft handeln, von Wenn er die Büroräume seiner Platten- Straßen und in den Clubs dafür, daß er Partys und von Liebe; und ich erzähle firma für ein Mittagessen verläßt und nun weiß, wie es ist, kein Geld, viele Probleme die Geschichte, so wie ich sie erlebt ha- auch in Manhattan Autogramme geben und nur falsche Freunde zu haben. be und erlebe: auf der Straße, wenn Waf- muß, dann merkt Carter, daß er längst an „Sie sagen“, berichtet Carter, „daß ich fen im Spiel sind und Kokain. Ich kann beiden Orten zu Hause ist, in den Housing durch die Hölle gegangen bin und daß sie nicht anders, aber das heißt nicht, daß mei- Projects von Brooklyn und in den Restau- sich deshalb für mich mehr freuen als für ne Platten automatisch authentischer sind rants Manhattans. „Es ist ein seltsames Ge- Puff Daddy, wenn mich meine Platten reich als andere.“ fühl“, sagt er, „komischerweise fühle ich machen – so ein Bullshit!“ Sie, das sind Mittlerweile hat Carter ein Plattenlabel mich an beiden Orten wohl. Damit muß ich seine Fans, und sie sind die Ursache seines namens Roc-A-Fella, das in der Nähe der erst noch zurechtkommen.“ ™

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168 der spiegel 1/1998 Werbeseite

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werden. Drei Jahre später mußte sie wegen des Verkaufs der Firma an die japanische Sony Corporation ihren Chefsessel räu- men. Selbstbewußt kommentierte die zier- liche Frau mit der Löwenmähne diesen Karriereknick: „Ich hoffe, auf meinem Grabstein wird die Inschrift stehen: Sie hat das Beste aus ihrem Job gemacht in der Zeit, die ihr zur Verfügung stand“ – und

AP gründete eine eigene Produktionsfirma. Dawn Steel starb am 20. Dezember in Los Gestorben Angeles an den Folgen eines Gehirn- tumors. Ralph Fasanella, 83. Zu Pinsel und Spach- tel griff der Sohn eines New Yorker Eis- Masaru Ibuka, 89. Der Schlüssel zum Er- stangenlieferanten, um seine arthritischen folg sei es, so formulierte er schon vor gut Fingergelenke beweglich zu halten.Auf den einem halben Jahrhun- detailreichen Ölgemälden des Tankwarts dert, niemals den an- aus der Bronx konnte der Betrachter deren zu folgen. Da- gleichsam spazierengehen. Fasanellas Mo- mals, im Jahr 1946, hat- tive von streikenden Textilarbeitern, Zu- te er gerade mit seinem schauern in engbesetzten Baseballstadien Kompagnon Akio Mo- oder Kirmesbesuchern in Coney Island rito in einem aus- zeigten Menschendichte und Aggressivität gebombten Kaufhaus des amerikanischen Alltags. Daß die Wer- eine kleine Werkstatt ke des „besten primitiven Malers seit eingerichtet, in der

Grandma Moses“ (so das Magazin „New sie Radios reparierten. REUTERS York“) einer breiten Öffentlichkeit zu- Entstanden ist daraus gänglich sind, ist ein Verdienst der US-Ge- der Weltkonzern Sony. Ibuka hatte sich an werkschaften: Mit den Spenden ihrer die frühe Devise gehalten und mit seinen Mitglieder wurden viele Gemälde des Erfindungen Maßstäbe gesetzt. Das Tran- langjährigen Arbeiteraktivisten, der bei der sistorradio, die Trinitron-Bildröhre, vor Kommunistenhatz des Senators McCarthy allem aber der Walkman: Seine Pionierlei- auf die schwarze Liste gesetzt wurde, pri- stungen haben die Entwicklung der Un- vaten Sammlern abgekauft. Ralph Fasa- terhaltungselektronik seit Kriegsende ent- nella, dessen Bild von heimfahrenden scheidend geprägt. Trotz seiner Ideen stand Pendlern in überfüllten U-Bahn-Zügen aus der Tüftler meist im Schatten von Morito dem Jahre 1950 seit vorletztem Jahr im („Mr. Sony“), der die wirtschaftlichen Ge- Zentrum New Yorks in einer Subway-Sta- schicke des Unternehmens lenkte. Masaru tion der Fifth Avenue hängt, starb am 16. Ibuka starb am 19. Dezember in Tokio an Dezember in Yonkers bei New York. Herzversagen.

Dawn Steel, 51. Ehrgeizig, durchset- David Schramm, 52. Am College glänzte zungsfähig und hart gegen sich selbst und er als Ringer-Champion im griechisch-rö- andere (Spitzname: mischen Stil, dann stieg der massige Mann „Hell on Heels“, „Höl- zum „Giganten der modernen Kosmolo- le auf hohen Hacken“) gie auf“. „Mit immenser Dynamik“, so als avancierte die aus ei- würde er „mit doppelter Geschwindigkeit ner armen jüdischen leben“ (der britische Astronom Sir Martin Familie stammende Rees), brachte der Urknalltheoretiker im- und in der Bronx auf- mer wieder Astro-Nuklear- und Teilchen- gewachsene Steel als physiker an einen Tisch und koordinierte Filmproduzentin zu ei- die einzelnen Wissensgebiete zur Erfor- ner der mächtigsten schung des frühen Universums. Schramms

GLOBE PHOTO GLOBE Frauen in Hollywood. Großwerk „Die Schatten der Schöpfung“ Zunächst, 1978, in der (1991) weist ihn als exzellenten Partikel- Verkaufsabteilung bei Paramount ange- physiker aus. Noch im April machte das stellt, fiel sie, die aus Geldmangel ihr Stu- Mitglied der National dium nicht beenden konnte, mit ihrem Ge- Academy of Sciences spür für Themen auf, die beim Publikum seiner Zunft Mut: Die ankamen. Sie wechselte auf die kreative Big-Bang-Theorie wer- Seite und produzierte mit Leidenschaft de „zunehmend von und Verve so erfolgreiche Filme wie „Star Daten gestützt“. David Trek“, „Flashdance“, „Top Gun“, „Eine Schramm kam am 19. verhängnisvolle Affäre“. 1987 erreichte Dezember bei einem ihre Karriere den Höhepunkt mit dem An- Absturz mit seinem gebot, Chefin bei Columbia Pictures Sportflugzeug nahe

(„Harry und Sally“, „Ghostbusters II“) zu Denver ums Leben. M. POLÁK

170 der spiegel 1/1998 Werbeseite

Werbeseite Personalien

MILADINOVIC / SYGMA Aung San Suu Kyi in Rangun

Aung San Suu Kyi, 51, burmesische Op- Oskar Lafontaine, 54, SPD-Vorsitzender, positionsführerin, hatte Mitleid mit ihren Ministerpräsident des Saarlands und Möch- Gegnern. Als die Polizei sie und ihre An- tegern-Kanzlerkandidat, schreibt derzeit hänger jüngst in Rangun dreieinhalb Stun- zusammen mit seiner Frau Christa an ei- den in glühender Hitze daran hinderte, zu nem Buch zum Thema Chancen und Risi- einem ihrer Parteibüros zu gelangen, fiel ken der Globalisierung. Nicht ohne ihr das Schuhwerk der weiblichen Ord- Chancen auf gutes Gelingen, wie der nungshüterinnen auf: dicke Treter mit „Ökonom an Oskars Seite“ („Wirtschafts- schwarzen Socken. „Ich fühlte geradezu, woche“), der oberste Konjunkturtheoreti- wie die Füße der Polizistinnen anschwol- ker des Deutschen Instituts für Wirt- len, während die Temperatur unerbittlich schaftsforschung, Heiner Flassbeck, findet. stieg“, erinnert sich die Friedensnobel- Der gelernte Physiker Lafontaine sei als preisträgerin, die selbst luftige Ledersan- Naturwissenschaftler genau wie die Wirt- dalen trug. Als die Uniformierten ihre schaftstheoretiker daran gewöhnt, in Sy- Blockade aufgaben, so die Dissidentin, stemzusammenhängen zu denken. „Mit Ju- BONGARTS muß es für die Polizistinnen „paradiesisch Merle risten“, so der parteilose Flassbeck, „ist gewesen sein, ihre Füße endlich von dem das völlig hoffnungslos.“ Lafontaine-Kon- Gewicht zu befreien“. Carole Merle, 33, französische Riesensla- kurrent Gerhard Schröder ist gelernter lomweltmeisterin 1993 und Silbermedail- Rechtsanwalt.Wen wundert’s, daß der Nie- Keith Richards, 54, briti- len-Gewinnerin, stellte nach Ende ihrer dersachse nach Ansicht Flassbecks, was ge- scher Uralt-Rocker, macht Karriere als Slalomspezialistin noch einen samtwirtschaftliche Strategie betrifft, „eine sich aus moderner Kom- einzigartigen Abfahrtrekord auf: Die schö- Leerstelle“ aufweist. munikationstechnik we- ne Pistenkünstlerin raste von einem durch nig. Befragt, was er von Prämien und Werbeverträge angehäuften Nicholas Royle, 34, britischer Schriftstel- dem Sponsor der Rolling- Guthaben von 23,5 Millionen Francs (über ler, hat dieses Jahr den „Bad Sex in Fiction Stones-Tour „Bridges to 7 Millionen Mark) talwärts in 70 Millionen Prize“ gewonnen, die Auszeichnung für die Babylon“ halte, der ame- Francs Schulden. Die Verantwortung für peinlichste und abgedroschenste Sexszene rikanischen Telefongesell- das Desaster schiebt die fünffache Welt- in einem Roman. Die Redaktion des Lon- schaft Sprint, knurrte der cup-Siegerin ihrem Onkel zu, der – Notar doner „Literary Review“, die den Preis

L. GOLDSMITH / CORBIS Gitarrist: „Ich benutze von Beruf – das stolze Vermögen durch In- seit 1993 vergibt, entschied sich für eine Richards keine Handys. Da kannst vestitionen in marode Firmen und Riviera- Passage aus Royles Roman „The Matter of du deinen Kopf gleich in Immobilien ins Dunkelrote gewirtschaftet the Heart“ („Die Herzensangelegenheit“). einen Mikrowellenherd stecken.“ Telefone haben soll. Die noch immer populäre Ex- Sie schildert, wie eine Anhalterin namens dienten ihm allenfalls als Mittel der Infor- Rennläuferin nach ihrem schweren Ziel- Yasmin sich einem Australier namens Am- mation: „Ich quatsche nicht.“ So oder so: sturz reuevoll über den Rechts-Verwand- brose hingibt: „Yasmin lächelte verschmitzt „Telefone sind der Fluch meines Lebens. ten: „Ich habe mich nur auf die Wett- und räkelte sich auf dem Bett, bog ihren Diesen Alexander Graham Bell, den wür- kämpfe konzentriert und ihn machen Rücken zu einem Katzenbuckel auf und de ich erschießen.“ lassen.“ gab ein Geräusch von sich, das irgendwo

172 der spiegel 1/1998 zwischen einer gestrandeten Robbe und schon mal in dem Film „In the Goldmine“ einer Polizeisirene lag.“ Für den weiteren eine Rolle hatte, „ich bin sehr glücklich Verlauf des erotischen Beisammenseins damit.“ Sprach’s und brauste im ge- wählt Royle Metaphern aus dem Feld der schenkten Auto davon. Fein- und Grobmechanik, unter anderem das „stanzende Hin und Her einer Näh- Tessa Jowell, 50, britische Gesundheits- maschine“ und, rätselhaft, das „sich vom ministerin, ließ nach Mütter-Protest ein Wer- Bug eines großen weißen U-Bootes lösen- beplakat als „zu sexy“ einstampfen. Ge- de Tauwerk“. Royle freut sich über die Aus- zeichnung, sieht aber noch einen weiteren Preis auf sein Buch zukommen – den für die Romanfigur mit dem albernsten Beruf: Der Liebhaber Ambrose ist gelernter „road deaths’ patroller“; er zählt und katalogi- siert die totgefahrenen Känguruhs auf Aus- traliens Straßen.

Ines Misan, 20, Model aus Lettland, setz- te sich gegen die Raffgier eines millionen- schweren Wall-Street-Händlers erfolgreich

zur Wehr – mit Raffgier. Während einer TELEGRAPH THE SUNDAY zwei Jahre dauernden Affäre mit Misan Werbeposter für das Stillen von Säuglingen hatte der Börsianer seine Freundin mit Ge- schenken überhäuft, geschätzter Wert: an worben werden sollte mit dem Poster für die drei Millionen Dollar. Nachdem die das Stillen britischer Babys. Trotz der wis- Freundschaft in die Brüche ging, klagte der senschaftlich belegten Erkenntnis „Brust ist Trader auf Rückgabe all der schönen Din- das Beste“ für den Säugling nähren nur 44 ge, mit denen er seine Geliebte erfreut hat- Prozent von Großbritanniens Mütter ihr te. Begründung: Sie habe ihm die Ehe ver- Neugeborenes auf die natürlichste Weise. sprochen. Vor Gericht einigte man sich Unter der Zeile „Free fast food for babies“ jetzt auf die Rückgabe eines neunkarätigen (etwa: Kostenloser Schnellimbiß für Babys) Brillantrings im Wert von 289275 Dollar, ist auf dem Poster nichts weiter zu sehen als alle anderen Präsente einschließlich einer ein lächelnder Säugling nahe einer weibli- Mercedeslimousine, diverser Diamantkol- chen Brust. Doch Mütter klagten, das Pla- liers und weiterer -ringe von Cartier sowie kat sei zu provokativ. Überdies wirke die die Nutznießung eines Appartements blei- Brust unrealistisch, so die mißtrauischen ben der Schönen. „Ich habe einen guten Frauen, gerade so, als sei damit noch nie Deal gemacht“, freute sich die Blonde, die ein Baby gestillt worden.

Bill Gates, 42, Chef des Software-Riesen Microsoft, mußte sich von einem Compu- ter-Laien schlagen lassen. Microsoft war auf Antrag des Justizministeriums von ei- nem Gericht angewiesen worden, die jüng- ste Version von Windows 95 ohne den sonst mitgelieferten Internet Explorer anzubie- ten. Damit sollten auch andere Software- Firmen eine Marktchance für ihre Pro- gramme zum Navigieren im Internet er- halten. Doch Microsoft hatte die Anwei- sung mit der Behauptung zu kontern versucht, daß ihre neueste Version von Windows 95 nur zusammen mit dem mit- gelieferten Internet Explorer störungsfrei funktioniert. Richter Thomas Jackson, der die Anweisung ausgesprochen hatte, mach- te sich vergangene Woche selbst daran, die Microsoft Behauptung zu überprüfen. Der Jurist besorgte sich einen Computer mit bereits installiertem Windows 95 inklusive Explorer. Jackson brauchte nur 90 Sekun- den, dann hatte er das Explorer-Programm entfernt. Windows 95, freute sich Jackson, „arbeitete wunderbar“. „Mit wenigen Maus-Klicks“, so die „New York Times“, habe der Computer-Amateur in die

T. BECKWITH / NY POST CORBIS T. Microsoft-Verteidigung „eine volle Salve Misan gefeuert“.

der spiegel 1/1998 173 Fernsehen

Montag, 29. Dezember der Regisseur machte sich mit solchem Schwung an 14.45 – 15.30 UHR ARD die Sache, daß ihm – mit Tina Kellegher (Sharon), Aus lauter Leidenschaft Colm Meaney (Daddy) Die englische Modejournalistin Sally und einer köstlichen Dar- Brampton führt in dieser vierteiligen Rei- stellerschar – ein Meister- he durch die Fetischwelt des Fashionablen. streich gelang: Sharons Ge- Models, Modemacher und Make-up- schichte gewinnt so vitale Spezialisten kommen zu Wort. Die Titel Unmittelbarkeit, als wür- der vier Episoden stehen für die Kräfte, de sie sie selbst vor der Ka- welche nach Ansicht der Autorin die Mode mera erzählen. antreiben: Sex, Macht, Phantasie und Rebellion. Was ist mit Geld? 22.15 – 23.45 UHR ZDF

18.55 – 19.50 UHR ARD Stadtgespräch Eine Hamburger Privat- Die Schule am See funk-Plaudertasche na-

„Unser Lehrer Doktor Specht“ klopfte be- CONCORDE FILM mens Monika (Katja Rie- reits erfolgreich auf dem Sujet herum, nun Szene aus „The Snapper“ mann) erteilt allmorgend- begibt sich auch die ARD in die Schule: 18 lich Anrufern naßforschen Folgen lang kann der Zuschauer vor der ist so platt, daß er gar nicht explodiert wie Rat in allen Lebenslagen. Dabei ist sie sel- Schloßkulisse des Plöner Internats sehen, erwartet. Aber dann kommt die wirklich ber bedürftig: Solo und von einer vorzei- wie Mareike Carrière als Lehrerin Herzog gefürchtete Frage: Wer war es? Und Sha- tigen Midlife-Krise geschüttelt, sucht sie zwischen intriganten Kollegen und schel- rons schamvolle Antwort: Das kann ich einen Partner. Eine Kontaktanzeige bringt mischen Schülern auf dem Meer der TV- nicht sagen. Warum nicht? Weil ich zu be- einen Zufallstreffer: Erik (August Zirner) Gefühle surft. Wer es nicht tut, versäumt soffen war. Ist dieses Malheur Stoff für eine ist graumeliert und Zahnarzt, Monika ist nicht allzuviel. Komödie? Die große Unverschämtheit von hin und weg, ihre Mutter (Karin Rasenack) „The Snapper“ (das Slangwort bedeutet ebenfalls und sogar ihr schwules Bruder- 20.15 – 21.45 UHR 3SAT unter anderem Bastard) besteht darin, die herz (Kai Wiesinger). Dumm nur, daß der Geschichte von Sharons Schwangerschaft, Schönling mit Monikas bester Freundin The Snapper – Hilfe, ein Baby! von Daddy und Mama und den Geschwi- (Martina Gedeck) verheiratet ist. Man Der Schauplatz ist Dublin, eine Arbeiter- stern und ihrem ewig kläffenden kleinen kann gegen Rainer Kaufmanns Film (1995) vorstadt mit geduckten Reihenhauszeilen. Hund als Lustspiel zu erzählen, mit allem alle Vorbehalte gegenüber neuen deut- Da verehrt man den Papst, hat Kinder wie an Sentimentalität und wildem Witz. Ste- schen Komödien ins Feld führen (flach, Orgelpfeifen und denkt nicht an Abtrei- phen Frears Film (Großbritannien/Irland künstlich), man kann sich das Stück aber bung.Wie sollte man auch. Ich bin schwan- 1993) ist eine Billigproduktion mit knapper auch einfach ansehen und sich sagen, was ger, gesteht Sharon ihrem Daddy, und der Drehzeit, vom Fernsehen finanziert, doch Light-Produkte empfehlen: Du darfst.

Dienstag, 30. Dezember Hannelore Fischer sind handfest und rei- kanische Traum mit dem Mythos von Sisy- chen vom Oder-Hochwasser bis zu Prin- phos. Die Mischung ist hochexplosiv: Man 20.15 – 22.00 UHR 3SAT zessin Di’s Tod. Interviewgäste: Wolfgang könnte platzen vor Lachen.“ Zach Hutton Schäuble, Jan Ullrich. (John Ritter) ist erfolgreicher Drehbuchau- Die tödliche Maria tor, der sich nach Ruhe und einer festen Um sechs Uhr in der Frühe rappelt der 22.45 – 0.25 UHR ZDF Bindung zu einer Frau sehnt. „Aber ande- Wecker, jeden Morgen. Die Hausfrau kocht rerseits“, gesteht er, „will ich nichts als Lie- Kaffee, legt den Anzug des Gatten heraus, Skin Deep – be machen mit jedem langbeinigen jungen versorgt dann den bettlägerigen Vater. Männer haben’s auch nicht leicht Ding, das mir über den Weg läuft.“ Und so Kleinbürgertrott. Doch nebenan wohnt ein „In Blake Edwards’ Filmen“, schrieb die hat er, wie diese Komödie (USA 1989) zeigt, Mann mit kindlich braunen Augen, der auf „Zeit“ begeistert, „mischt sich der ameri- reichlich Ärger mit den Damen. seinem Weg zur Arbeit zum Küchenfen- ster hochschaut, jeden Morgen. Ein son- 23.00 – 24.00 UHR ARD derbar versponnenes Debüt lieferte 1994 der Berliner Filmemacher Tom Tykwer ab. Boulevard Bio Die Geschichte der an ihrem trostlosen Zum Thema „Abschied nehmen“: Leben schier erstickenden Maria, gespielt der israelische Botschafter Avi von Nina Petri, pendelt zwischen Alltag Primor, dessen deutsche Mutter und Alptraum, in klaustrophobischen In- gerade noch vor dem Holocaust terieurs: sehr schwer, sehr ernst – und doch nach Palästina entkommen konnte. überzeugend in Szene gesetzt. Außerdem Otto Graf Lambsdorff, der nicht mehr für den Bundes- 21.00 – 23.00 UHR ARD tag kandidiert. Schließlich Har- ry Wijnvoord, dessen Kommerz- 1997 – Das Jahr live Show „Der Preis ist heiß“ nach Der Titel klingt nach den Zeit-Paradoxien über acht Jahren und 1873 Fol-

der modernen Physik, die Themen dieses HIPP FOTO gen dankenswerterweise entsorgt Jahresrückblicks mit Ulrich Wickert und John Ritter in „Skin Deep“ wurde.

174 der spiegel 1/1998 29. Dezember 1997 bis 4. Januar 1998

Mittwoch, 31. Dezember 20.15 – 22.20 UHR PRO SIEBEN besonders ein junges Publikum begeistert. Bei Kinoaufführungen regnet es regel- 18.50/19.00/19.10/19.40 UHR WEST III/ Zwei hinreißend mäßig Reis. MDR/BAYERN III/HESSEN III/NORD III verdorbene Schurken Wer betrügt an der französischen Riviera Dinner for one besser: der aristokratisch wirkende Eng- Vor dir, Herr des Fernsehens, sind tausend länder (Michael Caine) oder der vulgäre Silvester wie ein Stolperstein aus Tigerfell. Amerikaner (Steve Martin)? Frank Oz Ein Skol für alle Miss-ionare und Sophie- führte in dieser Komödie (USA 1988) Re- sten. gie, einem Remake eines früheren Films mit Marlon Brando und David Niven. 19.30 – 20.00 UHR WEST III Die Fußbroichs 1.05 – 2.40 UHR ZDF Die Geröllheimer haben ihren Fred Feuer- Die Rocky Horror Picture Show stein, die Kölner ihren Fred Fußbroich. Seit Was „Dinner for one“ als TV-Ritual ver- Jahren berichtet Uta Diehl vom Leben der mag, das kann dieses erfolgreichste Kult- Sippe des Vorarbeiters – eine Kultsendung. stück aller Zeiten (USA 1975, Regie: Jim Heute gibt es eine Hitparade. Unsterblich Sharman) schon lange: Mehr als 150 Mil- Freds Frage an seine Frau: „Watt willste lionen Dollar hat die Verfilmung des Mu- mit Englisch, Annemie. Sprisch mal ne sicals weltweit eingespielt. Wenn das Pär-

Satz!“ Und sie: „Me name is Annemie.“ Us chen Janet und Brad in einem Spukschloß LINA-CINE name is: gucken. transsylvanischen Gestalten begegnet, ist Szene aus „Die Rocky Horror PictureShow“

Donnerstag, 1. Januar sich in den Sohn. Daraufhin ist der Rück- zug in die Gegenwart angesagt, um die 11.15 – 13.30 UHR ZDF Zeugungsordnung nicht durcheinanderzu- Neujahrskonzert 1998 bringen. Live aus Wien: Die Philharmoniker legen 21.45 – 23.25 UHR ZDF ihre bekannten Straußeneier. Gehört zum Neujahrsmorgen wie Aspirin und … Für alle Fälle Fitz: Weiße Teufel Letzte Produktion mit dem bulligen Rob- 13.15 – 15.55 UHR ARD bie Coltrane als Polizeipsychologen Fitz. Vierschanzentournee Diesmal ein Auswärtsspiel: Der wegen sei- DOMINO ner Spielleidenschaft ewig klamme Poli- Skispringen aus Garmisch-Partenkirchen. Fox (r.) in „Zurück in die Zukunft“ zeiberater ermittelt an der Seite einer Hongkonger Kommissarin gegen einen Se- 16.45 – 18.45 UHR RTL Plot lebt der Science-fiction-Film (USA rienmörder. Fern den heimatlichen Slums 1985) des Spielberg-Eleven Robert Ze- von Manchester erreicht dieser Film nicht Zurück in die Zukunft meckis. Der junge Marty McFly (Michael J. die atmosphärische Dichte der anderen 18 Was passiert, wenn einer in die Vergan- Fox) versetzt sich mit einer Zeitmaschine Coltrane-Spiele, die vom nächsten Diens- genheit reist und dort etwas tut, was seine in die fünfziger Jahre, begegnet seiner Mut- tag an – ohne verkürzende Schnitte – im Zukunft beeinflußt? Von diesem paradoxen ti als flottem Teenie. Prompt verliebt sie Zweiten wiederholt werden.

Freitag, 2. Januar men zwei dicke Kinder und beziehen ein Scheidungsschlacht. Das Aufteilen des Hab schönes Haus. Nach 17 Jahren entdeckt die und Gutes nehmen die beiden allzu wört- 13.00 – 14.00 UHR SAT 1 Frau, daß sie ihren Mann lieber tot als le- lich, das Haus wird regelrecht entzweit: Am bendig sähe, und beginnt eine grausame Ende kommt es zu einem Todesritt auf Sonja dem Kronleuchter. In einer „Mach hin! Ich will Enkelkinder.“ Ach, Rahmenhandlung erzählt Großmutter, deshalb hast du so große ein Scheidungsanwalt (Dan- Augen. ny DeVito) diese schaurige Geschichte einem Ehemü- 15.00 – 16.00 UHR RTL den als Warnung vor der Ilona Christen Trennung. „Männer mit Nebenwirkungen“. Beach- 23.45 – 3.00 UHR WEST III ten Sie bitte deren Verpackungsbeilagen. Die 70er-Jahre-Maus 20.15 – 22.30 UHR PRO SIEBEN Die ersten Jahre mit dem WDR-Nager, als der noch, Der Rosenkrieg von wegen der damaligen Barbara (Kathleen Turner) und Oliver Mode, Schlag in der Hose

(Michael Douglas) lernen sich auf einer UND SCHEIKOWSKI JAUCH hatte. Auch geeignet für Kunstauktion kennen, heiraten, bekom- Turner, Douglas in „Der Rosenkrieg“ Kinder über 50.

der spiegel 1/1998 175 Fernsehen

Samstag, 3. Januar den alten Helden reanimiert und präsen- SPIEGEL TV tiert einen „gereiften Winnetou, der nicht 20.15 – 21.45 UHR ZDF durch Jugend und Kraft gewinnt, sondern MITTWOCH durch Weisheit Sieger bleibt“ (Pressetext). 12.50 – 13.50 UHR VOX Winnetous Rückkehr Ganz tot war er nämlich nicht, sondern Viele Monde sind vergangen.Winnetou ist hatte sich nur als Öko-Aussteiger für ein SPIEGEL TV REPORTAGE inzwischen 68 und blickt auf ein hartes In- paar Jahrzehnte der Einsiedelei hingege- Jahresrückblick dianer-Leben zurück: „Ich war ein Lebe- ben. Dort hat er wohl gegrübelt über Wie Autoren, Cutter und Kameraleute mann. Nachtclubs. Wenig Schlaf. Viel Al- das Drehbuch, über die verblichenen Old von SPIEGEL TV 1997 erlebt haben. kohol. Die schönsten Frauen. Vorbei.“ So Shatter- respektive Firehands, über das ei- stand es im großen Blatt des weißen Man- gene Alter. Egal! Winnetou hat schon ganz DONNERSTAG nes, der „Bild“-Zeitung. Doch jetzt ist Win- andere Probleme gemeistert: 1963 etwa, 22.15 – 23.00 UHR VOX netou zurück aus den ewigen Jagdgrün- als „Winnetou II“ gedreht werden sollte, den: Das ZDF hat für eine neue Pferde- hatte sich der schwarze Hengst Iltschi SPIEGEL TV EXTRA Oper (zweiter Teil: Sonntag, 20.15 Uhr) aus „Winnetou I“ zwischenzeitlich in den Ein Tag in der Hölle Pferdehimmel verabschiedet. Als Film über das Leben in einem texani- brauchbarer Ersatz stand nur ein schen Jugendstraflager zwischen Drill Schimmel zur Verfügung. Den und Gehirnwäsche. hat man dann eben ein bißchen schwarz angepinselt. Nach diesem FREITAG Prinzip ist nun auch „Winnetous AB 19.30 UHR VOX Rückkehr“ entstanden, nur daß jetzt Bleichgesicht Pierre Brice SPIEGEL TV THEMENABEND „braungebrannt bis auf die Kno- Titanic – der Tod in der Tiefe chen“ („Frankfurter Rundschau“) Das berühmteste Schiffsunglück der wirkt und auch sonst wie ein jun- Geschichte – Vorlage für den teuer- ger Gott – der ewige Winnetou sten Film aller Zeiten. Dokumentation eben. Bis ihm irgendwann der zum Start von „Titanic“. Moderati-

KINDERMANN Ölprinz die letzte Salbung gibt. on: Claudia Kratochvil und Henning „Winnetou“-Star Brice Hugh! Quanz.

SAMSTAG Sonntag, 4. Januar 22.00 – 24.00 UHR VOX

20.15 – 21.45 UHR ARD SPIEGEL TV SPECIAL Polizeiruf 110: Jahresrückblick 1997 Das Wunder von Wustermark SONNTAG Vor den blühenden erst mal die blödelnden 22.10 – 23.00 UHR RTL Landschaften: Das Fernsehen errichtet im deutschen Osten neuerdings gern Komö- SPIEGEL TV MAGAZIN dienstadel. Leo P. Ard, Michael Illner Von Affenmenschen, Riesenkraken (Buch) sowie Bernd Böhlich (Regie) er- und tasmanischen Teufeln zählen eine vollkommen überdrehte Ge- Mit Krypto-Zoologen auf der Suche schichte von einem betrügerischen Speku- nach legendären Kreaturen. lanten, seinem Helfer und leichtgläubigen Landbewohnern samt dickem Dorfpolizi- 23.00 – 23.40 UHR SAT 1 sten (Horst Krause). Bis die Kommissarin SPIEGEL TV REPORTAGE (Katrin Saß) die Schurken als harmlose IMPRESS Schalke enttarnt hat, erlebt der Zuschau- Martin, Rachel Ward in „Tote tragen …“ „Traumstraße der Welt“ er neben Leerlauf auch amüsante Szenen. SPIEGEL-TV-Autor Thomas Schaefer Letztere dann, wenn der Film die Ver- 1.40 – 3.05 UHR WEST III folgte den Spuren von Hans Domnick – stocktheit des Provinzpersonals zeigt. Otto der 1958 und 1961 zwei gleichnamige Sander und Ben Becker, die als Strecken- Tote tragen keine Karos Kinofilme produzierte – und drehte wärter im Polizeiruf „Totes Gleis“ melan- Bei der Aufklärung des Mordes an einem eine mehrteilige Reportage: Auf der cholisch-listig brillierten (Adolf-Grimme- reichen Käse-Erfinder kann sich der Pri- Panamericana vom Eismeer bis nach Preis), wirken hier blaß. vatschnüffler Rigby Reardon (Steve Martin) Feuerland. Teil 1: Alaska. auf prominente Helfer stützen: Regisseur 21.45 – 22.45 UHR ARD Carl Reiner hat in seine Detektivfilm-Par- odie (USA 1982) Szenen aus alten Filmen Sabine Christiansen so geschickt eingefügt, daß es scheint, als Die Kultur („ttt“, „Kulturreport“) muß auf spielten Humphrey Bogart, Ingrid Berg- einen späteren Sendeplatz weichen, Sabi- man, Cary Grant und viele andere tatsäch- ne Christiansen kommt mit einer neuen lich mit. Die Veteranen der „Schwarzen Talkshow. In der „Blauen Kugel“, einem Serie“ sorgen allerdings für ein gehöriges

ehemaligen 3-D-Kino in der Nähe der Ber- Maß an Verwirrung. Der einzige, der am SCHÄFER / SPIEGEL TV T. liner Gedächtniskirche, tritt die ehemalige Ende noch durchblickt, ist Reardon – aber Panamericana Anchorfrau der „Tagesthemen“ auf. der ist ja auch Detektiv.

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Werbeseite Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Ein Zitat mysteriöser Mord auf der Veddel beschäf- tigt die Polizei seit Sonnabend abend. In ei- Das „Handelsblatt“ zum SPIEGEL-Titel ner Wohnung an der Straße Am Gleise er- „Die Liechtenstein Connection – schossen Unbekannte einen Unbekannten, Wie die reichen Deutschen ihr Geld vor der angeblich Carlos heißen soll.“ der Steuer verstecken“ (Nr. 51/1997):

„Liechtenstein kommt etwas ins Zielfeuer durch die dort verbreiteten Stiftungen“, bestätigte Oberstaatsanwalt Johannes Pütz, Leiter der Schwerpunktabteilung Wirt- schaftskriminalität bei der Staatsanwalt- schaft Düsseldorf, am Mittwoch dem „Han- delsblatt“. Bis jetzt handele es sich noch um Einzelfälle. Liechtenstein werde nicht gezielt ins Visier genommen, doch steige- Aus der „Augsburger Allgemeinen“ re ein Bericht wie die Titelgeschichte des SPIEGEL die Aufmerksamkeit für Kon- tenverbindungen in das Fürstentum. Aus den „Westfälischen Nachrichten“: „Nach Informationen der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren trinken die, die viel trinken, mehr.“ Der SPIEGEL berichtete…

… in Nr. 20/1997 „Im Interesse der Man- neszucht“ über den Marinesoldaten Rai- ner Beck, der fünf Tage nach der Kapitu- lation Deutschlands wegen Fahnenflucht hingerichtet worden war. Die Staatsan- Aus dem Reinheimer „Sonntagsmorgen- waltschaft Köln hatte 1973 ein Ermitt- magazin“ lungsverfahren gegen den Kriegsrichter, der das Terrorurteil aussprach, mit fadenscheiniger Begründung eingestellt. Aus dem „Mannheimer Morgen“ über ei- nen Gefängnisausbruch: „Ehe noch der Das Landgericht Köln hat jetzt das Urteil Warnschuß der Wachen verhallt war, sah gegen Beck vom 13. Mai 1945 aufgehoben man von den dreien nur noch Kondens- und ihn postum freigesprochen. Beck habe, streifen.“ weil er „Halbjude“ war, jederzeit mit sei- ner Verhaftung rechnen müssen. „Diese Gefahr für sein Leben“ habe er „aus- schließlich durch seine Flucht aus der Ma- rine und sein Verstecken abwenden kön- nen“, argumentierten die Richter weiter. Aus der „Leipziger Volkszeitung“ Die Rehabilitierung des vermutlich letzten Opfers der NS-Militärjustiz hatten Stu- denten und Professoren der Evangelischen Aus dem Marburger Magazin „Express“ Fachhochschule Hannover angeregt. über das Gießener Kinderherzzentrum: „Bis in die siebziger Jahre starben 20 Pro- zent der herzkranken Kinder in den ersten … in Nr. 52/1997 „Massiv abgeblockt“ Lebenstagen. Fast jede größere Familie hat über Strahlenopfer Hanauer Atomfirmen. so ein Kind auf dem Friedhof: Babys, die blau auf die Welt kamen, ein paar Tage Einen Tag nach Erscheinen des SPIEGEL- nach Luft rangen und dann im Arm der Berichts erstatteten Kernkraftgegner ver- Mutter starben. ‚Heute überleben 80 Pro- gangene Woche bei der Staatsanwaltschaft zent‘, sagt Bauer mit leichtem Stolz.“ Hanau Strafanzeige gegen Verantwortliche der Hanauer Nuklearfirma Nukem, Mit- verantwortliche der zuständigen Behörden Überschrift einer dpa-Meldung: „Stein auf und der Berufsgenossenschaft. Nach An- Stein: Holzbaukästen aus Blumenau ge- sicht des Bundesverbandes Bürgerinitiati- hen wieder in alle Welt“. ven Umweltschutz (BBU), der Initiativ- gruppe Umweltschutz Hanau (IUH) und des Bund Naturschutz besteht der Verdacht auf Verstoß gegen gesetzliche Bestimmung der Strahlenschutzverordnung und des Atomgesetzes. Die im SPIEGEL beschrie- benen Mißstände seien „dringend unter- Aus dem „Osterholzer Kreisblatt“ suchungsbedürftig“.

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