Der Arabische Frühling Auslöser, Verlauf, Ausblick

Studie des Deutschen Orient-Instituts September 2011

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 2

Maghreb

Tunesien...... 5

Ägypten ...... 18

Libyen ...... 34

Algerien ...... 60

Marokko ...... 67

Mashrek

Syrien ...... 74

Libanon ...... 84

Jordanien ...... 92

Irak ...... 102

Palästinensische Autonomiegebiete ...... 115

Golfstaaten

Saudi-Arabien ...... 126

Jemen ...... 141

Vereinigte Arabische Emirate ...... 151

Katar ...... 160

Bahrain ...... 168

Oman ...... 180

Kuwait ...... 187

Externe Akteure

Türkei ...... 194

Deutschland, die Europäische Union und der „Arabische Frühling” ...... 208

Vorstand und Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung...... 221

Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins- NUMOV...... 222

Impressum...... 224

Deutsches Orient-Institut DER GRÖßTE SIEG DES ARABISCHEN FRÜHLINGS LIEGT IN SEINER REIFE; SEIT LANGEM HÄUFEN SICH DIE DEMÜTIGUNGEN, WIRD DIE VERACHTUNG IMMER UNERTRÄGLICHER, IST DAS FASS AM ÜBERLAUFEN UND DROHT SOGAR IN TAUSEND TEILE ZU ZERBERSTEN. DOCH DIE GESCHICHTE HAT IHREN EIGENEN RHYTHMUS UND IHRE EIGENE LOGIK, DIE NICHT IMMER DENEN DER HISTORIKER ENTSPRECHEN.

Taher Ben Jalloun, in: Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde, Bonn 2011, S. 11.

DIE REVOLUTION IST DIE ERFOLGREICHE ANSTRENGUNG, EINE SCHLECHTE REGIERUNG LOSZUWERDEN UND EINE SCHLECHTERE ZU ERRICHTEN.

Oscar Wilde

MAN KANN NIEMALS EINE REVOLUTION MACHEN, UM DAMIT EINE DEMOKRATIE ZU GRÜNDEN. MAN MUSS EINE DEMOKRATIE HABEN, UM EINE REVOLUTION HERBEIFÜHREN ZU KÖNNEN.

Gilbert Keith Chesterton

WER MIT 19 KEIN REVOLUTIONÄR IST, HAT KEIN HERZ. WER MIT 40 IMMER NOCH EIN REVOLUTIONÄR IST, HAT KEINEN VERSTAND.

Theodor Fontane

Deutsches Orient-Institut Vorwort

Vorwort nen, für diese offen gezeigte Überraschung, war die als pauschalisierendes Mantra ge- brauchte Formel, die Araber seien träge, un- er Mann, der zu einem der wichtigsten politisch und genügsam, was in der Gesichter des „Arabischen Frühlings“ Konsequenz mündete, sie seien zu weit rei- Dwerden sollte, war bei seinem Tod am chenden Veränderungen im politischen Sys- 4. Januar 2011 gerade einmal 26 Jahre alt – tem nicht fähig. Dies war ein Trugschluss. im März hätte er Geburtstag gefeiert. Der tu- Dass nun der Widerstand aus der Mitte der je- nesische Gemüsehändler Muhammad Bou- weiligen Gesellschaften kam, verursachte azizi, geohrfeigt und entehrt von einer gravierende Argumentationslücken und zeigte tunesischen Polizistin, verbrannte sich aus auf, wie fremd „uns“ die „anderen“ arabischen Verzweiflung über die Korruption einer elitä- Gesellschaften bis heute sind. ren Bürokratie, über die Willkürherrschaft eines tunesischen Staates, der sich selbst viel Denn die plötzlich sichtbare Dynamik der Ju- näher war als seinem Volk. gend ist nur das letzte Fanal einer sich seit Langem wandelnden islamischen Welt. In fast Der Tod dieses jungen Tunesiers wurde der allen arabischen Ländern beträgt der Anteil Funke, der die Zündschnur entflammte. Mitt- der Menschen unter 25 Jahren mindestens lerweile gehen in vielen Ländern der arabi- ein Drittel. In Algerien, Ägypten, Libyen und schen Welt Menschen auf die Straße, Marokko sind weit über 60% unter 35, in Jor- demonstrieren für Würde, Teilhabe, Respekt, danien und Saudi-Arabien gar über 70%. gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption. Ebenso hoch ist die Arbeitslosigkeit, die z.B. Bouazizi wurde, ebenso wie später der Blog- in Algerien, Ägypten, Jordanien, Marokko, Sy- ger Khaled Said in Ägypten, in diesem „Arabi- rien und Saudi-Arabien offiziell ca. 10% be- schen Frühling” zum Symbol für viele andere trägt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt weitaus jungen Menschen einer entrechteten Genera- höher; so konstatieren Experten für das ölrei- tion, deren Wut, Zorn und Perspektivlosigkeit che Saudi-Arabien eine Arbeitslosigkeit bei erst das Regime von Ben Ali in Tunesien, spä- Saudi-Arabern unter 25 von etwa 30%.1 ter das von Hosni Mubarak in Ägypten stür- zen sollte und in anderen arabischen Ländern Gleichzeitig übersteigt das Bildungsniveau wie Syrien oder Jemen Triebfedern des Auf- zumindest das der Eltern bei Weitem. Dies stands sind. belegen auch statistische Einschätzungen des United Nation Development Programme Viel ist geschrieben und gesagt worden über (UNDP): So erreichten Länder wie Algerien „die arabische Jugend“, die mit ihrem Enthu- (Koeffizient: 0,708), Jordanien (0,797), Libyen siasmus, politischen Willen, Mut und ihrer Mo- (0,859), Tunesien (0,739), Libanon (0,797) bilität die „jungen Gesichter“ dieses oder Saudi-Arabien (0,779) verhältnismäßig „Arabischen Frühlings” geworden sind. Wäh- gute Bewertungen2 . Beispielsweise rangieren rend in der Vergangenheit ihre Bedeutung Saudi-Arabien, Jordanien, Libyen oder der Li- marginalisiert oder nicht selten negiert wurde, banon vor Ländern wie Türkei, Malaysia oder bilden sie nun die Speerspitze des erhofften China. Bahrain nimmt unter den arabischen Wandels – so stellt sich zumindest die verän- Ländern auf Platz 54 den Spitzenplatz ein, ge- derte Breitenperzeption in der medialen Öf- folgt von Jordanien und dem Libanon auf den fentlichkeit dar. Rängen 67 und 68. Schlusslicht auf Platz 171 von 177 ist der Jemen. Auch Marokko und Die Dynamik und die Wucht, mit der die tune- Irak bewegen sich auf Platz 139 und 144 im sischen, libyschen, jemenitischen oder syri- unteren Drittel. Bemerkenswert ist allerdings schen Jugendlichen auf die Straße gehen, in allen arabischen Ländern der Entwick- ihre Rechte einfordern und sich einem seit lungsfortschritt, der sich in den letzten 40 Jah- Jahrzehnten etablierten Repressions- und ren beim Bildungsniveau vollzogen hat. So Verfolgungsstaat entgegenstellen, haben in stieg in Libyen der Bildungsindex von 0,383 der internationalen Beobachtung zu Staunen (1970) auf 0,859 im letzten Jahr. Ähnlich ra- und Respekt geführt. Grund für dieses Stau- sante Entwicklungen vollzogen sich in Bah-

1 Die Diskrepanz zu den offiziellen Statistiken rührt auch daher, dass Frauen nicht aufgeführt werden, aller- dings häufig keine Anstellung finden, da die patriarchalische Geschlechterordnung in Saudi-Arabien den Frauen nur wenige Berufsperspektiven bietet. 2 Bei der Kategorisierung des UNDP beschreibt der Wert „1“ das höchste, die „0“ das niedrigste Bildungs- niveau. Spitzenreiter ist Australien mit einem Wert von 0,993. Deutschland rangiert auf Platz 28 (0,878).

Deutsches Orient-Institut 2 Vorwort

rain (0,511 auf 0,817), in Ägypten (0,333 auf gen standen im Vordergrund, keine Vision 0,647), in Saudi-Arabien (0,267 auf 0,779), in eines islamischen Kalifats, einer islamisti- Tunesien (0,346 auf 0,739) oder in Oman schen Herrschaft oder einer einenden (0,172 auf 0,706). ummah. Das Schreckensszenario neuer Got- tesstaaten erfüllte sich bisher nirgends. Auch Doch trotz all dieser Positiventwicklungen ist dies war überraschend und augenöffnend für die Qualität der jeweiligen Bildungssysteme „uns“, „den Westen“ – für die jungen Muslime international nach wie vor nicht konkurrenzfä- aber bereits lange Teil ihrer Identität und ihrer hig. Noch immer bestimmen Auswendiglernen Realität. Die letzten Monate bewirkten daher und Frontalunterricht den Schul- und Univer- nicht nur einen fundamentalen Wandel in der sitätsalltag, eigenständiges, kreatives Den- politischen Landschaft im Nahen und Mittle- ken, das Stärken des Problembewusstseins ren Osten, sie modifizierten auch die Sicht ex- sowie eine breite geisteswissenschaftliche terner Akteure auf die jungen Gesellschaften Bildung sind die Rarität an arabischen Univer- in der arabischen Welt. So bleibt der Islam mit sitäten. In Libyen war es bis vor einigen Jah- Sicherheit ein wichtiger Anker, ein spiritueller ren verboten, eine Fremdsprache zu erlernen. Halt und eine traditionelle Konstante für junge Hinzu kommt die oftmals besser ausgebildete Muslime, aber sollte längst nicht als der wich- Konkurrenz aus dem Ausland: Facharbeiter tigste identitätsstiftende Faktor gesehen wer- aus Europa sind nach wie vor begehrter als den. einheimische Arbeitskräfte. Dies gilt insbeson- dere für die Golfstaaten. Zwar verfolgt fast Hinzu kommt, dass es keine einheitliche ara- jedes Land mittlerweile eine Nationalisie- bische Jugend gibt, so wie es nicht eine isla- rungspolitik des einheimischen Arbeitsmark- mische Welt gibt. Die islamisch geprägten tes, aber neben der besseren Qualifikation, Gesellschaften sind so heterogen, dass jede die sie mitbringen, fordern die ausländischen Pauschalisierung von der Realität binnen Gastarbeiter häufig weniger Gehalt. Die Tagen überholt werden kann. Der „Arabische Folge: Die Arbeitslosigkeit bei den Einheimi- Frühling” zeigt demnach „die islamischen schen steigt, während das Anspruchsdenken Welten“, wie sie auch sind: Bunt, dynamisch, auf hohem Niveau stagniert. Hier erscheint änderungswillig, kämpferisch, hoffnungsfroh, der soziale und finanzielle Druck noch gerin- ambivalent, konflikt- und komplexbeladen, un- ger als in anderen arabischen Staaten wie sicher, auf der Suche nach Identität. Die Ju- Ägypten und Tunesien. Doch sollten die Allo- gend, ihr Aufschrei und die Mittel, die sie kationsmechanismen der Golfstaaten mittel- nutzen, zeigen andere Facetten dieser multi- fristig versagen und die sozialen bzw. dimensionalen Welt mit ihren heterogenen familiären Netzwerke junge Arbeitslose nicht Gesellschaften. Sie ringen um ihre Rechte mehr auffangen können, könnte dies zu weit und ihre Freiheit und fordern Pluralismus im reichenden Protesten aus sozioökonomi- System. In der innergesellschaftlichen Struk- schen Motiven führen. tur herrschte diese stets. Die heutige Gene- ration der arabischen Jugend wuchs auf in Eines zumindest scheint sich zu bewahrhei- repressiven Systemen, viele kennen nur ten: Die arabische Jugend besteht keines- einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah wegs aus willfährigen Untertanen. Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Stattdessen ist sie längst Teil der globalisier- Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre ten Welt. Vernetzt über Internet, Facebook Ägyptens Präsident war, oder Vater Hafiz und oder Satellitenfernsehen wie al-Jazeera parti- Sohn Bashar al-Asad, die Syrien insgesamt zipieren sie viel stärker an den Entwicklungen 40 Jahre lang regieren. Verkrustete, korrupte der Postmoderne, als es von Seiten einer und repressive Regime bestimmten den Alltag westlichen Öffentlichkeit wahrgenommen vieler junger Menschen. Sie arrangierten sich wurde. Dabei spielen Entwicklungschancen, mit dem Nepotismus, den Patronage- und Bildungsaufstieg, Karriere, Selbstverwirkli- Klientelnetzwerken. Sie wuchsen auf mit der chung und Teilhabe an der kapitalistischen ideologisch verbrämten sozialistischen, natio- Konsumgesellschaft eine viel größere Rolle nalistischen oder royalistischen Propaganda als beispielsweise die Religion. Dass der der diversen Regimes. Doch sie gewöhnten „Islam als die Lösung“ keine besonders hohe sich nicht an die Unterdrückung der indivi- Attraktivität mehr für viele junge Muslime be- duellen Freiheit, der Presse und der Mei- sitzt, zeigte sich auf den Straßen in Kairo oder nungsvielfalt. Stattdessen schufen sie Tunis. Individuelle, pragmatische Forderun- Gegengesellschaften, individuelle Netzwerke,

3 Deutsches Orient-Institut Vorwort

die flexibel und chamäleonartig den Fängen tungslosigkeit gesehen werden. Dies er- der Sicherheitsapparate entflohen, die sich zeugte soziales Sprengpotenzial, schuf radi- interaktiv austauschten und sich über das kalisierte, desillusionierte und staatsfeindliche Internet internationalisierten. In diesen Tagen Gruppen, die mit zur instabilen Lage des Iraks scheint es, als hätten immer mehr ihre Angst in der Post-Saddam-Ära beitrugen. Hier gilt es vor den Repressionsmaschinerien der Regi- vor allem in den Ländern Ägypten und Tune- mes verloren. Die einstmaligen postkolonialen sien abzuwägen ohne abzuschwächen, natio- Befreier haben längst Ansehen, Akzeptanz, nalen Dialog herzustellen ohne zu Autorität und Unterstützung weiter Teile der verharmlosen, zu integrieren ohne zu ver- jungen Menschen verloren. Heute spielen drängen, zu verändern ohne massiv zu spal- Ideologien oder Führeridole keine Rolle mehr ten. bei der Jugend. Die säkularen Ideologien haben ebenso wie der Islamismus den jungen Hierbei muss die Jugend ebenso einbezogen Frauen und Männern keinen wirtschaftlichen werden wie islamitische Gruppierungen, z.B. Fortschritt und individuelle Verwirklichungs- die ägyptischen Muslimbrüder oder die tune- möglichkeiten gebracht. Es scheint so, als be- sische An-Nahda-Partei. Eines jedoch scheint freiten sie sich aus der Illusion, ihr Schicksal sicher: Die arabische Welt durchläuft einen könne von anderen Akteuren zum Besseren fundamentalen, historischen Wandel und die gewendet werden. Der „Arabische Frühling” Jugend ist eine wichtige, wenn nicht sogar die beweist, dass die arabische Jugend ihren ei- wichtigste Triebfeder dieses Wandels. Es genen Weg suchen will. bleibt abzuwarten, ob sie auch eine tragende Rolle in der postrevolutionären Ära erhalten Doch wohin führen die Revolutionen? Welche wird, wann immer diese beginnt, oder ob sie Rolle wird die Jugend mittelfristig einnehmen zwischen den einzelnen nach Macht und Ein- können? Kann sie wirklich ein einflussreicher fluss strebenden Akteuren an Einfluss und und von den alten Eliten respektierter und ak- Bedeutung verliert. Zu hoffen bleibt, dass die zeptierter change agent werden? Viele der „Jasminrevolution“ nicht verwelkt. politischen Strukturen, in denen sie soziali- siert wurden, werden durch den Sturz eines Die Publikation „Der Arabische Frühling: Aus- Regimes nicht obsolet. Die alten Eliten wer- löser, Verlauf, Ausblick” des Deutschen den weiter über Einfluss verfügen. Sie konn- Orient-Instituts analysiert die Ereignisse der ten Netzwerke aufbauen und auf ihnen beruht letzten Monate in den Ländern des Nahen die politische und administrative Infrastruktur. und Mittleren Ostens, stellt diese in den histo- Die Transition dieser Systeme wird Zeit brau- rischen, sozioökonomischen und gesell- chen und sie wird von vielen Kräften vorange- schaftlichen Kontext und untersucht den trieben werden, von Kräften, deren Wille nach Wandel in der arabischen Welt. Veränderung der bestehenden Verhältnisse deutlich schwächer ausfallen dürfte als bei Hierbei werden nicht allein Staaten wie Tune- den jungen Demonstranten: Traditionelle Ak- sien, Ägypten oder Libyen in den Blick ge- teure des autoritären Staates, die fürchten, nommen, die als Hot Spots des „Arabischen ihre Pfründe zu verlieren. Wenn Systeme fal- Frühlings” gelten, sondern auch die vermeint- len, kippen auch die Patronage- und Kliente- lichen „Horte der Stabilität” wie Saudi-Ara- lismusnetzwerke. Dies führt zu Verlierern in bien oder andere ressourcenreiche den Reihen der alten Eliten. Das gilt vor allem Golfstaaten. Auch vor diesen Ländern macht für die Wirtschaftsmagnaten und das Militär. der Wandel in der Region nicht Halt. Er ve- Ob sie gewillt sind, als Relikte einer negativ deutlicht sich aber in jedem Land auf unter- wahrgenommenen Vergangenheit ihren Ein- schiedliche Weise. So möchte die Publikation fluss aufzugeben, muss bezweifelt werden. auf Tendenzen, Perspektiven, Brüche und Viele Akteure der alten politischen und wirt- Herausforderungen in allen arabischen Län- schaftlichen Strukturen werden sich transfor- dern aufmerksam machen und in einem Ex- mieren, um zu reüssieren. Die Jugend muss kurs auch die Rolle von Deutschland, der EU Geduld haben. Ein radikaler Wandel, eine Ex- und der Türkei beleuchten. klusion der alten Machteliten erscheint un- wahrscheinlich und vielleicht auch unklug. Als Sebastian Sons Beispiel kann die Verbannung der alten Baath-Kader und Militärs im Irak nach dem Wissenschaftlicher Abteilungsleiter Sturz von Saddam Hussein in die Bedeu- des Deutschen Orient-Instituts

Deutsches Orient-Institut 4 Tunesien

Landesdaten Tunesien Fläche1 2011 163.610 km² Bevölkerung2 2010 10.400.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 67,81 98% Araber, 1% Europäer und andere Ethnische Gruppen4 2010

Religionszugehörigkeit 2010 98% Muslime, 1% Christen, 1% Juden

Durchschnittsalter5 2010 30 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren6 2011 24% Bevölkerung über 65 Jahren7 2011 7% Lebenserwartung8 2010 74,3 Jahre Bevölkerungsprognose bis 20509 2011 12.700.000 Geburten pro Frau10 2009 2,1 Alphabetisierungsrate11 2010 74,3% Nutzer Mobiltelefone12 2009 9.754.000 Nutzer Internet13 2011 3.600.000 Nutzer Facebook14 2011 2.602.640 Wachstum BIP15 2010 3,7% BIP pro Kopf 16 2010 7.979 USD Arbeitslosigkeit17 2010 14% Inflation18 2011 4,0% S&PRating19 2011 BBB Human Development Index20 2010 Rang 81(von 169) Bildungsniveau21 2010 Rang 90 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 33,5% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre22 Politische Teilhabe23 2009 11,4% Korruptionsindex24 2010 Rang 59 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 http://www.tradingeconomics.com/tunisia/populationdensitypeoplepersqkmwbdata.html. 4 https://www.cia.gov/library/publications/theworldfactbook/geos/ts.html. 5 CIA – The World Factbook. 6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://hdr.undp.org/en/data/profiles. 9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 10 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 11 CIA – The World Factbook. 12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 16 United Nationas Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratingsactions/en/us. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf, abgerufen am 29.08.2011. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 5 Tunesien

Tunesien gung, die sich in den 1930er Jahren zuneh mend radikalisierte. Unter der Führung Habib unesien ist das Land, in dem der Bourguibas konnte Tunesien 1956 die staatli „Arabische Frühling“ seinen Anfang che Unabhängigkeit wiedererlangen. 1957 Tnahm. Die Akteure der Proteste setzte die verfassungsgebende Versammlung waren dabei ebenso heterogen wie die Ak- den letzten HusainidenBey ab und prokla teure der Transitionsbewegung. Die Stärke mierte die Republik. des politischen Aktivismus und das Aus- maß der sozialen Mobilisierung hatten Bourguiba wurde der erste Staatspräsident schließlich, für viele überraschend, zum der Republik Tunesien. Er verfolgte einen Sturz des Regimes von Zine el-Din Ben Ali autoritären Regierungsstil und ließ sich 1975 geführt. Nun wird der Erfolg der Revolu- in seinem Amt auf Lebenszeit bestätigen. Er tion durch den schwierigen Transitions- orientierte sich an der westlichen Welt, indem prozess gebremst: Ein neues politisches er enge diplomatische Beziehungen zu den System muss aufgebaut und Stabilität er- USA und Europa unterhielt. Sein Ziel war es, reicht werden, gleichzeitig fordert die Be- Zugang zu den europäischen Märkten zu er völkerung einen umfassenden Bruch mit langen. Unter seiner Herrschaft wurden eine der alten Ordnung. Die Bekämpfung der Reihe sozialer und wirtschaftlicher Reformen wirtschaftlichen und sozialen Probleme durchgeführt, welche den Einfluss der Reli genießt oberste Priorität. Die sozialen gion auf das öffentliche Leben stark ein Missstände hatten die Aufstände ausge- schränkten. Islamistischen Gruppen wurde löst und sorgen weiterhin für Unruhen im der Zugang zum politischen System verwei Land und wachsende Unzufriedenheit mit gert. Im Zuge der Säkularisierung wurden der derzeitigen Übergangsregierung. Koranschulen verstaatlicht und der Kompe tenzbereich der Gelehrten eingeschränkt. Ein I. Politisches System und gesellschaftli- säkulares Rechtssystem und ein für arabi che Entwicklungen sche Staaten revolutionäres Familienrecht, das die Frau dem Mann gleichstellte, wurden Das heutige Gebiet Tunesiens wurde 1574 erlassen. Bourguibas Amtszeit stützte sich auf von den Osmanen erobert. Unter den Husai drei Pfeiler: die Dominanz des Präsidenten, niden, die von Beginn des 18. Jahrhunderts die Übermacht der Staats und Einheitspartei bis zur Ausrufung der Republik 1957 als re Destour1 sowie eine moderne staatliche Ver gionale Dynastie herrschten, erlangte Tune waltung. Als Opposition zur fast uneinge sien einen hohen Grad an Selbstständigkeit, schränkten Machtfülle des Präsidenten blieb aber offiziell osmanische Provinz. Die im entwickelten sich zwei politische Gegenkräfte: 19. Jahrhundert von der staatlichen Führung Zum einen die Gewerkschaften2, zum ande initiierten Reformmaßnahmen konnten den ren die islamistische Bewegung, die sich 1981 zunehmenden Einfluss europäischer Mächte unter der Führung Rachid Ghannouchis3 als nicht zurückdrängen. Wirtschaftliche Schwie Mouvement de la Tendance Islamique (MTI) rigkeiten hatten die Regierung dazu gezwun zu organisieren begann. gen, außerdem lenkte Tunesien aufgrund seiner strategischen Lage schnell das Inter Nach einer erfolglosen sozialistischen Phase esse Frankreichs und Italiens auf sich. 1881 orientierte sich die Wirtschaft bald an markt wurde Tunesien zum französischen Protekto wirtschaftlichen Prinzipien. Dennoch blieb sie ratsgebiet erklärt. Unmittelbar nach dem Er vom öffentlichen Sektor beherrscht und von sten Weltkrieg entstand eine gegen äußerer Konkurrenz isoliert. Der instabilste Frankreich gerichtete nationale Protestbewe Faktor der tunesischen Wirtschaft blieb die in

1 Die Destour-Partei wurde 1920 von der einheimischen tunesischen Führungsschicht mit dem Ziel ge gründet, Tunesien von der französischen Kolonialkontrolle zu befreien. Der Begriff „Destour“ stammt aus dem Persischen und wird auch heute im Hocharabischen als Bezeichnung für „Verfassung“ verwendet. Die Neo-DestourPartei wurde 1934 von Habib Bourguiba gegründet, nachdem es zur Spaltung der Des- tourPartei gekommen war. Sie war nach der Unabhängigkeit jahrelang die allein regierende Partei Tu nesiens. 2 Beim Kampf für die Unabhängigkeit hatte Bourguiba eng mit der Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) zusammen gearbeitet, deren Führer Ferhat Hachad war. Die UGTT wurde 1946 gegründet. Spä ter kam es zu Konflikten mit dem BourguibaRegime, das den Einfluss des Gewerkschaftsverbandes teils mit Gewalt zurück drängte. Die UGTT war im Verlauf der Revolution 2011 eine treibende Kraft während der Proteste. 3 Der PhilosophieLehrer Rachid Ghannouchi wurde 1987 zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Seit den 1970er Jahren propagierte er eine Rückkehr zu islamischen Werten in der tunesischen Gesellschaft. Auf die Gründung seiner Bewegung der islamischen Orientierung (MTI) reagierte der Staat repressiv und förderte letztendlich radikale Tendenzen innerhalb der islamistischen Bewegungen Tunesiens. 6 Deutsches Orient-Institut Tunesien

effiziente Landwirtschaft. So wuchs die Ab mistischen Opposition beauftragt war, wieder hängigkeit Tunesiens von ausländischen hart gegen jene Gruppen vor. Der Ausbruch Märkten stetig. Das BourguibaRegime wurde des Bürgerkrieges in Algerien nach dem auch mit einem zunehmenden Entwicklungs Wahlsieg der islamistischen FIS förderte in gefälle zwischen dem vernachlässigten Lan Tunesien die Entstehung eines allmächtigen, desinneren und den Küstengebieten mit strenger Zensur und Polizeigewalt herr konfrontiert. Ebenso wuchs die Bevölkerung schenden Staates. Dadurch wurde die Ent um 2,5% jährlich, die Arbeitslosigkeit betrug wicklung einer starken Zivilgesellschaft um die 20%. Mitte der 1980er Jahre spitzte behindert. Ben Ali verfolgte die Strategie, das sich die wirtschaftliche Lage zu: Auslöser System soweit zu reformieren, dass es leis waren zwei aufeinander folgende Missernten tungsfähiger wurde, ohne jedoch den neuen sowie die kollabierenden Ölpreise bei gleich Akteuren zu viel Macht zukommen zu lassen. zeitig explodierenden Auslandsschulden. Die Die DestourPartei benannte er in Rassem- Aufstände wurden durch eine Brotpreiserhö blement constitutionnel démocratique (RCD) hung aufgrund des Wegfalls staatlicher Sub um. Die RCDPartei hatte sowohl programm ventionen entfacht. Zur Beruhigung der Lage als auch machtpolitisch ein geringeres Ge wurden die Preiserhöhungen teilweise zurück wicht als unter Bourguiba, sie wurde lediglich genommen und soziale Zugeständnisse wie zur Umsetzung der Regierungspolitik beauf die Schwächung der Einparteienherrschaft tragt. Es wurden nur Oppositionsparteien zu und die Zulassung einzelner Oppositionspar gelassen, die dem Regime loyal gegenüber teien erlassen. Bourguiba war zu diesem Zeit eingestellt waren. Ben Ali stützte seine Herr punkt schon gesundheitlich geschwächt, schaft auf einen ausgebauten Sicherheitsap seine zweite Ehefrau Wassila Ben Ammar soll parat sowie einen inneren Zirkel von im Hintergrund die Amtsgeschäfte geführt persönlichen Beratern. Diese entstammten haben. 1987 kam Zine elAbidin Ben Ali4 früheren politischen Führungspositionen oder durch einen unblutigen Putsch an die Macht banden strategisch wichtige Bevölkerungs und löste den altersschwachen Bourguiba als gruppen mit ein. Staatspräsidenten ab. Es wurde bekannt ge geben, dass Bourguiba mit zunehmender Tunesien erhielt finanzielle Zuwendungen der Krankheit nicht mehr im Stande sei, die Re EU und der Weltbank. Der politische Liberali gierungsgeschäfte zu führen. Die Übernahme sierungskurs wandelte den tunesischen Markt der Macht durch Ben Ali war mit Artikel 57 der in eine marktwirtschaftliche und exportorien Verfassung vereinbar, da danach der Pre tierte Wirtschaft (v.a. Textilien und Handwerk). mierminister Präsident wird, sobald dieser Ein wichtiger Schritt war die Unterzeichnung nicht mehr fähig ist, die Regierungsgeschäfte des Euromediterranen Assoziierungsabkom zu führen. mens von 1995, das Tunesien den Zugang zum europäischen Markt ermöglichte. Die EU Ben Ali sicherte sich seinen Führungsan wurde mit 96% zum Hauptabnehmer aller tu spruch durch ein mehrgleisiges Vorgehen: nesischen Produkte. Die wirtschaftliche Ent Zum einen musste er das Vertrauen der Be wicklung unter Ben Ali muss so auch als völkerung für sich gewinnen, zum anderen die Erfolg bewertet werden. So stieg die Export wirtschaftlichen Probleme des Landes be rate um 5% jährlich, das Bruttoinlandsprodukt kämpfen. 1988 wurden zahlreiche Parteien verzeichnete zeitweise ein Wachstum von fast zugelassen5, und die Amtszeit des Präsiden 5%. Die Geburtenrate sank6 und die Armut ten wurde auf 15 Jahre beschränkt. Anfangs ging zurück7. Demnach wurde Tunesien im machte die Freilassung oppositioneller Ge Human Development Index zwischen 1980 fangener der Bevölkerung Hoffnung auf ein und 1999 der größte Fortschritt in der Region weniger autoritäres Regime unter Ben Ali. Seit des Nahen und Mittleren Ostens bescheinigt. 1992 ging Ben Ali, der als Innenminister be Doch die soziale Entwicklung blieb hinter den reits seit 1984 mit der Bekämpfung der isla ökonomischen Fortschritten zurück, was sich

4 Ben Ali war unter Bourguiba von 19581974 zunächst Chef des militärischen Sicherheitsdienstes. 1978 wurde er als Sicherheitschef in die Regierung berufen, 1980 ernannte ihn Bourguiba zum Leiter des na tionalen Sicherheitsdienstes, 1984 wurde er Innenminister. 5 Darunter: Demokratische Sozialistische Bewegung (MDS), Kommunistische Partei Tunis (PCT), Volks einheitspartei (PUP), Fortschrittliche Sozialistische Vereinigung (RSP), Liberale Sozialpartei (PSL) und die Vereinigte Demokratische Union (UDU). Religiös orientierte Parteien waren verboten. 6 Geburtenrate pro Frau im Vergleich: Zwischen 1970 und 1975 lag diese bei 6,2, zwischen 2000 und 2005nur noch bei 2,0. Tunesien hat heute die niedrigste Geburtenrate der ganzen arabischen Welt und ein Bevölkerungswachstum von etwa 1%. 7 Verbreitung von Armut in Prozent: 1995 lag diese bei 8,1%, im Jahr 2000 nur noch bei 4,1%.

Deutsches Orient-Institut 7 Tunesien

in hohen Arbeitslosenraten (14%) und einem gebauten Sicherheitsapparat. Eine Aussöh hohen Grad an Analphabetismus (25%) aus nung mit den islamistischen Parteien hätte drückte. Viele Tunesier waren von dem folglich kontraproduktiv gewirkt, so die ein Widerspruch zwischen hohem Ausbildungsni hellige Haltung des Regimes. Zur Stärkung veau und der Realität auf dem Arbeitsmarkt des Sicherheitsapparates setzte Ben Ali Si betroffen. cherheitsoffiziere in hohe Regierungsposten ein. Die Hoffnung in der Bevölkerung, dass mit der wirtschaftlichen Liberalisierung zwangsläufig Vetternwirtschaft war ein weiteres wesentli auch eine politische Öffnung erfolgen würde, ches Merkmal aus Ben Alis Regierungszeit. wurde somit enttäuscht. Während Bourguiba So besetzten die Familie Ben Ali und die Fa seinen Machtanspruch politisch legitimierte milie seiner Frau wichtige Schlüsselpositionen (Erreichen der Unabhängigkeit, Formierung in Politik und Verwaltung, Korruption war weit einer modernen säkularen tunesischen Na verbreitet. Die politische Macht verlagerte sich tion), legte Ben Ali seinem Machtanspruch von der offiziellen Hauptstadt Tunis hin zum eine ökonomische Basis zugrunde. Der bes Präsidentenpalast in Karthago. Die Partei sere Zugang zu Ressourcen sollte die Bevöl spielte kaum mehr eine Rolle, vielmehr blieb kerung die fehlenden politischen Freiheiten die Entscheidungsgewalt dem Präsidenten vergessen lassen. und seiner Entourage vorbehalten. Somit wur den klientelistische Netzwerke weiter ge Ben Ali baute eine neue Herrschaftselite aus stärkt. der einheimischen Wirtschaftselite auf. Ziel der neuen Eliten war jedoch nur, das System Außenpolitisch unterhielt Ben Ali gute Bezie zu reformieren, um es zu stabilisieren – nicht, hungen zum Westen. Er unterzeichnete 1988 es wesentlich zu verändern. Diese neue Ge als erster aller arabischen Staatschefs die neration der Eliten wurde oftmals durch Heirat AntiTerrorKonvention der Vereinten Natio untereinander zusätzlich verbunden. Diese nen. Auch mit den arabischen Staaten, be kleine Zahl mächtiger Familien stand in enger sonders mit Libyen und Ägypten, leitete er Beziehung zur Familie Ben Alis oder der sei Beziehungen ein. 1988 wurde die ArabMagh ner Ehefrau Leila Trabelsi. Tunesien wurde rebUnion9 gegründet, um gesicherte Wirt damit zum Prototyp eines „autoritären Refor schaftsverbindungen nach dem Vorbild der mers”. Die selektive Umgestaltung der Ge EU zu entwickeln. Die Terroranschläge vom sellschaft durch die Liberalisierung der 11. September 2001 gaben Ben Ali die Recht Wirtschaft bei gleich bleibend restriktivem po fertigung, noch härter gegen die Opposition litischen System führten dazu, dass das alte vorzugehen und seine Alleinherrschaft aus System trotz Erneuerung der Eliten bestehen zuweiten. bleiben konnte. So gelang es Ben Ali, das autoritäre Regime Bourguibas zu modernisie Die Geschichte Tunesiens zeigt auf, dass ein ren und durch einen neue Form des „pluralis Wechsel der Eilten nicht zwangsweise mit tischen Autoritarismus“ zu ersetzen: Einzelne einem Wechsel des Systems verbunden sein Oppositionsparteien wurden zugelassen, muss. Ben Ali verstand es, den Übergang doch der Ausgang der Wahlen soll regelmä vom Regime Bourguibas zu seinem Regime ßig zugunsten Ben Alis manipuliert worden fließend erfolgen zu lassen. So band er vorher sein8. Es wurden scheindemokratische Insti marginalisierte Provinzen sowie (staatstreue) tutionen gebildet. Nur wer die Regeln des Re säkulare Oppositionsgruppen mit ein und ver gimes akzeptierte, konnte am politischen knüpfte beim Aufbau der neuen Herrschafts Leben teilhaben, was mit persönlichen Vor eliten alte und neue einflussreiche teilen verbunden war. Die Methoden des Persönlichkeiten miteinander. Machterhalts schwankten zwischen Tolerie rung und Repression, der Sicherheitsapparat Zentrale Probleme, die sich unter Ben Ali wei diente als Mittel zur Machtsicherung. ter verschärften, waren zum einen die Spal tung der Bevölkerung entlang regionaler Die Bedrohung durch ein Erstarken islamisti (Küstengebiete und Landesinnere) sowie scher Gruppen und bürgerkriegsähnlicher Zu sprachlicher (Frankophone vor Arabophonen stände wie in Algerien nahm das Regime als bevorzugt) Linien. Diese Spaltung hatte sich Begründung und Rechtfertigung für den aus bereits im 19. Jahrhundert herauskristallisiert.

8 Obwohl es verfassungsrechtlich nicht möglich war, kandidierte Ben Ali im Oktober 2004 nochmals als Präsident und gewann die Wahlen offiziell mit 99,44% aller Stimmen. 9 Mitgliedsstaaten waren bei der Unterzeichnung des Vertrages die fünf Maghrebstaaten Tunesien, Alge rien, Libyen, Mauretanien und Marokko. Generalsekretär wurde zunächst Mohamed Amamou (Tunesien).

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Hinzu kamen externe Faktoren: Die EU mittelpreise verschärft. Diese Faktoren führ stützte das autoritäre Regime in Tunesien in ten so zu wachsenden Klassenunterschieden direkt durch ihre Konzentration auf die wirt in der Bevölkerung: Tunesien war nicht so schaftlichen Aspekte der Zusammenarbeit. stark von extremer Armut betroffen, wohl aber Innenpolitisch zeigt die Entwicklung unter Ben von einer großen Diskrepanz bezüglich der Ali, dass der Einfluss der Partei abgenommen Einkommensverteilung, wobei auch regionale hat, dafür aber die herrschenden Eliten an Faktoren eine Rolle spielten. Einfluss zugenommen haben. Der autoritäre Führungsstil des Regimes II. Voraussetzungen für den Willen nach zeigte sich auch an den Einschränkungen in Wandel der Presse und Meinungsfreiheit, die zwar in der Verfassung garantiert werden, in der Die Proteste in Tunesien Ende 2010/ Anfang Realität jedoch keinerlei Kritik am Präsiden 2011, die innerhalb kürzester Zeit zum Sturz ten zuließen. Der Missmut über die politi von Ben Alis 23jähriger Herrschaft führten schen und wirtschaftlichen Missstände führte und als Initial für andere Protestbewegungen besonders unter den Jugendlichen zu einer in der arabischen Welt gelten, wurden be wachsenden Entfremdung von den einheimi sonders von der Jugend und den Hochgebil schen Eliten. Das Bedürfnis nach einem deten getragen. Schon 2008 gab es in der Leben in Würde, in Freiheit, das Gefühl von Provinz Gafsa im Südwesten des Landes Erniedrigung durch und Machtlosigkeit Proteste gegen die hohe Arbeitslosigkeit und gegenüber den Autoritäten veranlassten die die steigenden Lebensmittelpreise. Bis 2010 Tunesier dazu, Ende 2010 landesweit auf die kam es zu vereinzelten lokalen Aufständen im Straße zu gehen. Süden gegen die sozioökonomische Lage. Besonders die südlichen Regionen des Lan III. Akteure des Wandels und konkrete des stehen in Kontrast zu den Küstengebie Auslöser ten und sind stark unterentwickelt; Es mangelt an Infrastruktur, Arbeit und Ausbildungsmög Als konkreter Auslöser für die Proteste gilt der lichkeiten. Selbstverbrennungsakt des arbeitslosen Stu denten Muhammad Bouazizi aus Sidi Bouzid, Der Anteil der jungen Generation unter 15 der sich nach Schikanen durch die örtliche Jahren betrug Anfang 2011 24%, über 25% Polizei aus Hilflosigkeit selbst anzündete. der Jugendlichen war von Arbeitslosigkeit be Bouazizi war nach dem Tod seines Vaters für troffen10. Auf die wirtschaftlichen Erfolge der sich, seine Mutter und seine fünf Geschwister 1980er und 1990er Jahre folgten keine sozia verantwortlich. Er finanzierte seinen Ge len Reformen, so dass die Jugend zwar gut schwistern die Schulbildung durch den Ver ausgebildet war, parallel aber nicht genügend kauf von Gemüse. Da er keine Genehmigung neue Arbeitsplätze zum Beispiel in der Indus dafür hatte, geriet er mehrmals mit der Poli trie geschaffen wurden. Aufgrund des kliente zei aneinander. Als er am 17. Dezember 2010 listischen Netzwerkes war es dem Großteil wiederum keine Lizenz für den Straßenver der Bevölkerung verwehrt, adäquate Jobs zu kauf vorweisen konnte, wurde seine Ware be finden. Der Transparency International Index schlagnahmt. Auf der Polizeiwache kam es zu 2010 bewertete die Verbreitung von Korrup Misshandlungen, eine Polizistin soll ihn ge tion in Tunesien mit 4,311, damit belegt Tune ohrfeigt haben. Diese Demütigung, von einer sien Rang 59 von 178 Ländern weltweit. Die Frau in der Öffentlichkeit geschlagen und zwei Herrscherfamilien Ben Ali und Trabelsi damit entehrt worden zu sein, sowie die Ver besetzten alle Spitzenpositionen in Wirtschaft zweiflung darüber, durch die Beschlagnah und Politik. So floss auch ein Großteil der wirt mungen den einzigen Lebensunterhalt zu schaftlichen Einnahmen in die Hände der verlieren, veranlassten ihn zu seiner Tat12. Am Machthaber. Der steigende Wohlstand kam 4. Januar 2011 erlag er im Krankenhaus sei nur in der Hauptstadt Tunis und den touristi nen Verletzungen. schen Küstengebieten an, die ländlichen Re gionen hatten kein Wirtschaftswachstum zu In den darauf folgenden Tagen organisierte verzeichnen. Die schlechte soziale Lage sich die Jugend über soziale Netzwerke, die wurde durch die stetig steigenden Lebens entscheidend zum Erfolg der Revolution bei

10 Arab League, UNDP Development Challenges for the Arab Region, 2009. 11 1 = höchste Korruptionsrate, 10 = niedrigste Korruptionsrate. 12 Im Islam gilt Selbstmord als große Sünde. Die Familie Bouazizis rechtfertigte seine Tat als politische Re bellion.

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tragen sollten: Facebook, Twitter und Co. Regierungsstil gegenüber der Opposition haben die Revolutionsbewegung für andere durchsetzte, zählte ungefähr 120.000 Mann. weltweit sichtbar gemacht. Auf Youtube wur Den Demonstranten versprach General Ra den LiveVideos von den Demonstrationen chid Ammar, die Sicherheit während der Über gezeigt. Somit trugen die sozialen Netzwerke gangsregierung und den Wahlen zu zu einer Politisierung der tunesischen Ju gewährleisten. gendlichen bei. Das Lied Rais lebled („Der Präsident meines Landes“) des 20jährigen Mit der regionalen Ausweitung der Proteste Rappers Hamada Ben Amour, genannt El Gé- kamen andere Akteure hinzu: Rechtsanwälte, nérale, wurde zur Hymne der Protestbewe Journalisten und andere Personengruppen gungen. In seinem Songtext beklagt er die aus der gehobenen Mittelschicht protestierten Probleme der Jugendgeneration und die weit gegen die erlebten Unfreiheiten unter dem verbreitete Korruption im Land. Er war mehr Regime und forderten offen den Rücktritt Ben mals aufgrund seiner regimekritischen Texte Alis. Damit bekamen die Proteste, die sich an verhaftet worden, nach dem Sturz Ben Alis fangs aufgrund der sozialen Spannungen wird sein kommendes Album nun sogar offi unter den Jugendlichen entluden, eine stär ziell vom Kulturministerium gefördert. kere politische Dimension.

Einer der wichtigsten Akteure der Revolution, Politische Parteien spielten keine ausschlag der sich von Anfang an auf die Seite der De gebende Rolle während der Revolution. Ob monstranten stellte, war der Gewerkschafts wohl es unter den Demonstranten mit der verband Union Générale Tunisienne du regionalen Ausweitung zu einer Politisierung Travail (UGTT). Die UGTT hatte seit seiner kam, hatten die Aufstände keine gemeinsame Gründung 1946 bereits mehrmals eine ent politische Richtung. Die politischen Parteien scheidende Rolle bei Unruhen gespielt und nahmen zunächst nur indirekt an den De war unter Bourguiba immer eine wichtige Op monstrationen teil, viele Aktivisten unter ihnen position gegenüber dem Einparteienstaat ge wurden verhaftet. Die Rassemblement Con- wesen. Unter Ben Ali hatte sich der Einfluss stitutionnel Démocratique (RCD) blieb passiv der UGGT jedoch drastisch reduziert. Der und organisierte keine einzige regimeunter Präsident hatte die Führung der UGTT mit re stützende Kundgebung. Selbst die Partei An- gimetreuen Personen ersetzt. Bei der Revo Nahda13 („die Erneuerung“) wurde erst nach lution Ende 2010/ Anfang 2011 trugen die der Revolution aktiv. Da sie unter Ben Ali ver lokalen und regionalen Sektionen der UGTT boten war und ihr Führer Rachid Ghannouchi viel zur Verbreitung der Aufstände bei: Am 12. lange Zeit im Exil in London lebte, konnte sie Januar fand die bis dato größte Protestkund die Proteste kaum beeinflussen. gebung mit 30.000 Menschen statt, zu der die Gewerkschaften aufgerufen hatten. IV. Auswirkungen des “Arabischen Früh- lings” und bisherige Reaktion staatlicher Weiterer wichtiger, vielleicht sogar wichtigster Akteure change agent wurde die tunesische Armee, die Ben Ali ihre Unterstützung versagte. Ge Die Demonstrationen wandelten sich von neral Rachid Ammar weigerte sich, auf De einer spontanen, von der Wut auf das Schick monstranten zu schießen – ob aus sal Bouazizis getragenen Bewegung zu humanitären Gründen oder als kalkulierende einem nationalen Aufstand, zur viel zitierten Entscheidung bleibt ungewiss. Fakt ist je und als historisch zu bezeichnenden „Jas doch, dass das Militär unter Ben Ali nie eine minrevolution“. Durch die Repression des Re politische Rolle spielte. Die Truppe belief sich gimes in Form von Verhaftungen und auf 35.000 Mann, von denen nur 15.000 gewaltsamem Vorgehen der Polizei gegen 18.000 mobilisierungsfähig waren. Obwohl Demonstranten erfuhren die Proteste eine Ben Ali selbst eine militärische Karriere durch schnelle Politisierung. Die Verhängung von laufen hatte, war das Militär in den unblutigen Ausgangssperren und die Schließung der Palastcoup von 1987 kaum involviert gewe Universitäten und Schulen konnten die Pro sen. Die Staatsausgaben für das Militär be teste ebenfalls nicht eindämmen. liefen sich unter Ben Ali nur auf 1,4% des Bruttoinlandsproduktes (Vergleich Ägypten: Als die Aufstände schließlich Tunis erreichten, 3,4% in 2010). Die Präsidentengarde war als versuchte Ben Ali in einer Fernsehansprache einzige loyal gegenüber Ben Ali eingestellt. am 10. Januar 2011, die Bevölkerung zu be Der umfassende Sicherheitsapparat, den Ben ruhigen und versprach Reformen, darunter Ali aufbaute und mit dem er seinen autoritären die Schaffung von 300.000 neuen Arbeits

13 Die MTI wurde Ende der 1980er Jahre in An-Nahda umbenannt.

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plätzen und die Anhebung der Subventionen nächsten 60 Tage freie Präsidentschaftswah auf Lebensmittel. Seine Rede ließ zwar die len durchführen sollte. Der Artikel 57 besagt, Bedeutung der sozioökonomischen Kompo dass der amtierende Premierminister für 45 nente erkennen, die Zugeständnisse an das bis 60 Tage als Präsident eingesetzt werden, Volk kamen jedoch zu spät: Die Demonstran er aber den Übergang zu Neuwahlen ermög ten forderten mittlerweile nicht nur die Ver lichen muss. Nachdem Fuad Mebazaa und besserung der politischen, wirtschaftlichen der neu ernannte Premierminister Muham und sozialen Lage im Lande, sondern den mad Ghannouchi17 aus der RCD austraten, Rücktritt des Präsidenten, der seit 1987 auto wurde die Partei am 6. Februar 2011 für einen ritär den Staat regiert hatte. Auch die Ehefrau Monat außer Kraft gesetzt und nach einigen Ben Alis, Leila Trabelsi, und ihre Familie wur Wochen schließlich ganz demontiert. Ihre Po den für ihre quasimafiösen Machenschaften litbüros wurden geschlossen. Nach etlichen angeprangert. Am 28. Dezember 2010 be weiteren Protesten wurde entschieden, die suchte Ben Ali das Krankenbett von Bouazizi Verfassung von 1959 außer Kraft zu setzen. und bot der Familie eine beträchtliche Summe Anhänger des alten Regimes sollten sich Geld an, was diese jedoch ablehnte. Am 13. nicht mehr zur Wahl stellen können. Daher Januar 2011 kündigte er in einer weiteren wurde, zunächst für Juli 2011, eine Wahl für Fernsehansprache an, die Regierung aufzu eine verfassungsgebende Versammlung be lösen und sich selbst künftig nicht mehr zur schlossen, die eine neue Verfassung ausar Wahl zu stellen14. Nachdem die Unruhen nicht beiten sollte. Jedoch wurde diese auf den 26. mehr zu kontrollieren waren, flüchtete Ben Ali Oktober 2011 verschoben, um den neu ent am 14. Januar 2011 ins Exil nach SaudiAra standenen Parteien mehr Zeit für die Ausar bien. beitung eines politischen Programms und den Wahlkampf zu geben. Die Aufgabe der ver Somit lagen nur vier Wochen zwischen der fassungsgebenden Versammlung soll darin Selbstverbrennung Bouazizis und dem Sturz bestehen, das Regierungssystem so zu re des Regimes. Ben Ali verstand es im Gegen formieren, dass ein Gleichgewicht zwischen satz zu Bourguiba nicht, die Bevölkerung den einzelnen Akteuren entsteht. Erst 2012 durch Ansprachen für sich zu gewinnen und sollen Präsidentschaftswahlen durchgeführt in der Öffentlichkeit medienwirksam aufzutre werden, wie am 3. März 2011 entschieden ten. In seiner Rede vom 10. Januar 2011 wurde. Am 12. April 2011 wurde ein neues hatte er die Aufständischen noch als feindli Wahlrecht erlassen, welches die Gleichstel che Gruppen mit extremistischem und terro lung der Geschlechter beinhaltete. Ebenso ristischem Hintergrund bezeichnet, die sich wurde den schätzungsweise eine Million Tu die Arbeitslosigkeit nur als Mittel zur Massen nesiern, die im Ausland wohnen, das Wahl mobilisierung für ihre eigenen Zwecke zu recht zugesprochen. Eigen machten15. Die erste Übergangsperiode, die von Mitte Ja Die Medien benannten die Revolution in Tu nuar bis Ende Februar andauerte, war ge nesien indes „Jasminrevolution“ nach der Na prägt von der Angst vor einem Rückfall in die tionalblume Tunesiens. Interessant ist an Vergangenheit auf der einen und der Angst dieser Stelle, dass auch der unblutige Putsch vor einer „institutionellen Leere“ auf der an 1987, bei dem Bourguiba aufgrund seiner Al deren Seite. Die Übergangsregierung wurde tersschwäche durch Ben Ali entmachtet zum Teil aus Politikern des alten Regimes ge wurde, als „Jasminrevolution“ bezeichnet bildet. Die Bevölkerung befürchtete, dass das wurde. autoritäre System und die alten Eliten da durch erhalten blieben und der endgültige Als Präsident der neuen Übergangsregierung Bruch mit dem alten Regime nicht gelingen wurde Fouad Mebazaa16 gemäß der tunesi würde. Weitere Demonstrationen nach dem schen Verfassung ernannt, der innerhalb der Sturz Ben Alis erzwangen unter anderem den

14 Kalima: La "révolution du jasmin" a fleuri dans tout le pays, Courrier International, http://www.courrierinternational.com/article/2011/01/15/larevolutiondujasminafleuridanstoutlepays, abgerufen am 28.07.2011. 15 Le Temps : A l’écoute du peuple, Ben Ali annonce de grandes mesures, http://www.letemps.com.tn/arti cle51934.html, abgerufen am 28.07.2011. 16 Geboren wurde er 1933 in Tunis. Er blickt auf eine lange politische Karriere zurück, zuerst unter Bour guiba, später auch unter Ben Ali. Er war Bürgermeister von Tunis und Karthago und hatte zahlreiche Mi nisterämter während des Ben AliRegimes inne. 17 Geboren 1941 (nicht verwandt mit Rachid Ghannouchi, dem Führer der An-NahdaPartei). Er war seit 1989 Minister unter Ben Ali.

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Rücktritt des Ministerpräsidenten Muhammad wachstum wichtigen Einnahmen durch private Ghannouchi. Nachfolger wurde Beji CaidEs Investitionen und Exporte gingen nach der sebsi, der bis heute dieses Amt bekleidet. Es Revolution entscheidend zurück. 55% der In wurden verschiedene Kommissionen ge vestitionen war auf den Energiesektor fokus schaffen, die den schrittweisen Übergang zur siert. Demokratie gewährleisten und die Übergriffe und Korruptionsfälle des alten Regimes näher Tunesien unterzeichnete viele Freihandels untersuchen sollen, darunter die Kommission abkommen, unter anderem mit der European für politische Reformen, die Kommission für Free Trade Association, der Türkei, der Ara Korruption und Repression sowie die Kom bischen Liga und das Agadir Agreement19. mission für Gelderveruntreuung. Die Über Ebenso schloss Tunesien mit Libyen unter gangsregierung wurde damit beauftragt, die ein Abkommen ab, wo Wahlen vorzubereiten, die Sicherheitslage zu durch die Handelsbeziehungen erleichtert stabilisieren und den Reformbedarf der Be wurden. Vor der Revolution war Libyen einer völkerung anzustoßen. Damit sollte ein tiefe der wichtigsten wirtschaftlichen Partner Tu res Vertrauen zwischen der Bevölkerung und nesiens im nordafrikanischen Raum. Obwohl der Übergangsregierung entwickelt werden. die ausländischen Investitionen sich mittler weile wieder gesteigert haben, wird es Zeit Die Wirtschaft ist durch die Revolution nega brauchen, bis ausländische Investoren wieder tiv beeinflusst worden. Der Tourismus brach Vertrauen in die tunesische Wirtschaft gewin zu Beginn des Jahres 2011 zusammen. In der nen. Erst mit der politischen Stabilität wird Regel generiert dieser Wirtschaftszweig über sich die Wirtschaft langfristig erholen können, 400.000 Stellen und bringt 2,5 Mrd. USD jähr viele politische Parteien haben sich mittler lich ein, was 6% des Bruttoinlandsproduktes weile des sozialen Themas bemächtigt. ausmacht. Jedoch standen in diesem Som mer über die Hälfte der Hotels leer, viele öff Ein weiteres Problem, das die Übergangsre neten erst gar nicht. Seit den Unruhen sank gierung angehen muss, besteht im großen der Umsatz des Tourismus um mehr als 50%. Entwicklungsgefälle zwischen den Provinzen Viele Läden mussten schließen und klagten und kleineren Städten auf der einen und Tunis über gravierende Einkommenseinbußen18, und den Küstengebieten auf der anderen weil die wenigen Touristen, die kamen, sich Seite. Sidi Bouzid, Kasserine und Tala sind nicht aus dem Hotel trauten. Die Unruhen in Hauptorte von SitIns, zu denen sich in den Libyen und die damit verbundene steigende letzten Monaten nach dem Sturz Ben Alis er Zahl der Flüchtlinge behinderte den Tou neut Tausende versammelten und gewaltfrei rismus zusätzlich, da ein Großteil der Touris für eine Verbesserung der wirtschaftlichen ten nicht nur aus dem nahen Europa, sondern und sozialen Lage protestierten. Das nach auch aus Libyen kam. Bis April 2011 flohen dem Sturz des Regimes entstandene Vakuum mehr als 10.000 Libyer über die Grenze nach in Verwaltung und Politik in den Provinzen Tunesien. wird nun von den Gewerkschaften ausgefüllt. In Städten wie Sidi Bouzid fehlt es an nen Die Ölpreise stiegen durch die Unruhen in Tu nenswerter Infrastruktur. Die Zukunft der Ju nesien und im gesamten arabischen Raum. gend sieht im Inneren des Landes deutlich Auch die Arbeitslosenrate erhöhte sich von schlechter aus als in den Küstenregionen. 14% auf 19%, wahrscheinlich dürfte sie noch Eine neue Verwaltung existiert zum Teil noch weitaus höher liegen. Eines der primären nicht. Die Präsenz der Polizei wurde durch Ziele der Übergangsregierung muss daher eine unorganisierte Miliz, basierend auf Loy darin bestehen, neue Arbeitsplätze zu schaf alisten Ben Alis, ersetzt, um Angst und Schre fen. Die wirtschaftlichen Probleme können je cken unter der Bevölkerung zu verbreiten. Die doch erst angepackt werden, wenn die Politiker sehen für ihren Wahlkampf ein gro grundlegenden politischen Aufgaben bewäl ßes Wählerpotential im Landesinneren, doch tigt wurden. Das Wirtschaftswachstum sank ist die Haltung der Bevölkerung eher resig seit den Unruhen in diesem Jahr um bis zu nierend. Sie wollen keine Vorschläge oder 5%, wobei hier der Libyenkonflikt eine große Ideen, sondern fordern konkrete Projekte. Rolle spielt. Die EU war bisher der größte wirt schaftliche Partner Tunesiens. Daneben spie Vor allem die gemäßigt islamistische Partei len China, Indien sowie die Türkei eine immer An-Nahda steht zurzeit im Fokus der interna wichtigere Rolle. Die für das Wirtschafts tionalen Aufmerksamkeit. Die Partei, die unter

18 Der Handel auf dem Schwarzmarkt boomt derweil, weil es kaum noch Kontrollen durch die Polizei gibt. 19 Das Agadir Agreement wurde 2005 auch von Marokko, Ägypten und Jordanien unterzeichnet und soll die Handelsbeziehungen zwischen den Mitgliedsländern vereinfachen.

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Ben Ali den stärksten Repressionen unterle Millionenhöhe verurteilt. Die Prozesse wurden gen war, wurde 1989 verboten, nachdem sie in Abwesenheit des ExPräsidenten durchge bei den Wahlen gute Ergebnisse erzielt hatte. führt. Die Übergangsregierung hatte Saudi Seitdem hat die Partei einen Wandel vollzo Arabien vergeblich um die Auslieferung Ben gen und präsentiert sich mittlerweile offen Alis ersucht. Der frühere Sicherheitschef Ali gegenüber anderen politischen Kulturen. Be Seriati wurde freigesprochen, obwohl ihm vor sonders in Bezug auf die Frauenrechte versi geworfen wurde, dass er Ben Ali die Flucht cherte Ghannouchi mehrmals, dass nach SaudiArabien durch gefälschte Papiere An-Nahda das Familienstandsgesetz von ermöglichte. Seriati gilt als Symbol des re 195620 nicht aufheben werde. Die Tatsache, pressiven Regimes des ExPräsidenten, die dass sich seit dem Sturz Ben Alis kein politi Bevölkerung reagierte mit Entrüstung auf sei scher Akteur gegen eine Mitbeteiligung An- nen Freispruch. Nahdas aussprach, ist auf deren zunehmende Dialogbereitschaft zurück zu Europa wird durch die Folgen der Revolution führen. Seit dem Sturz Ben Alis beteiligt sich unmittelbar beeinflusst. Die Konten der Fami An-Nahda nun stark am Demokratisierungs lie Ben Ali wurden, bis auf jene in der prozess. Manche Beobachter befürchteten Schweiz, auf unbestimmte Zeit eingefroren. zunächst, dass An-Nahda versuchen würde, Die Bevölkerung brachte der EU aufgrund der Tunesien in einen islamischen Staat umzu wirtschaftlich und diplomatisch guten Bezie wandeln. Allerdings betont Rachid Ghannou hungen mit dem ehemaligen Ben AliRegime chi immer wieder die liberale Einstellung kaum Vertrauen entgegen. Die bilateralen Be seiner Partei, die Trennung von Staat und Re ziehungen wurden durch die anhaltenden ligion im tunesischen Staat wird jedoch grund Flüchtlingsströme aus Nordafrika seit Beginn sätzlich abgelehnt. Seitdem Ghannouchi aus des Jahres 2011 erschwert. Als Folge der Un dem Exil zurückgekehrt war, bereiste er das ruhen kamen seit Januar über 30.000 Flücht gesamte Land und konnte viele Wählerstim linge nach Italien und Frankreich, die über die men für seinen moderaten islamischen Kurs italienische Insel Lampedusa nach Europa gewinnen. Besonders in den Provinzgegen gelangen wollten. Die französische und italie den Tunesiens ist die Partei sehr beliebt. nische Regierung waren mit den vielen Immi Ghannouchi gab jedoch bekannt, dass er sich granten überfordert und konnten nicht nicht als Präsidentschaftskandidat zur Wahl ausreichende Hilfe leisten. Mittlerweile wer aufstellen lassen wird. Am 1. März 2011 den die Küstenregionen von Lampedusa von wurde An-Nahda als Partei durch die Über der italienischen Küstenwache streng über gangsregierung zugelassen. Sie eröffnete wacht, um neue Flüchtlingsströme zu vermei Büros in den einzelnen Provinzen und führt den. Bei den meisten Flüchtlingen handelte aktiv Wahlkampagnen durch. Dennoch fehlt es sich um so genannte Wirtschaftsflücht es bis heute an einem Parteiprogramm, wel linge, die in Europa Arbeit suchen. Seit Jahren ches das Misstrauen der anderen Parteien bilden die Geldtransfers21 der im Ausland le entkräften könnte. Umfragen aus dem Juli benden Tunesier eine wichtige Einnahme 2011 bescheinigten der Partei einen Stim quelle für die einheimische Wirtschaft, ebenso menanteil von 30%, wobei anzumerken ist, gründen viele Tunesier nach ihrer Heimkehr dass sich ein Großteil der Bevölkerung noch eigene Geschäfte. Unmittelbar nach dem nicht endgültig für eine Partei entschieden hat Sturz Ben Alis versuchten aber auch zahlrei und sich zahlreiche neue Parteien erst eta che Anhänger des alten Regimes, das Land blieren müssen. unbemerkt Richtung Europa zu verlassen. Die anhaltende Migration stellt für die Über Im Juli 2011 wurden gerichtliche Verfahren gangsregierung ein weiteres ungelöstes Pro gegen Ben Ali und seinen Familienclan ein blem dar. geleitet. Ihm wurden unter anderem Drogen handel, Waffenschmuggel, Geldwäsche, V. Zukunftsszenarien Mord und Machtmissbrauch vorgeworfen. Viele Familienmitglieder des TrabelsiClans Die Protestbewegung in Tunesien, die inner sollen ebenfalls angeklagt werden. Noch am halb kürzester Zeit zum Sturz Ben Alis führte, 20. Januar 2011 wurden etwa 30 nähere An zeichnete sich durch eine große Heteroge gehörige bei dem Versuch, Tunesien zu ver nität aus: Unterschiedlichste Gruppen waren lassen, festgenommen. Ben Ali wurde bereits an den Kundgebungen beteiligt, darunter die zu 35 Jahren Haft und einer Geldstrafe in Jugend, Gewerkschaften, Vereine, politische

20 Dieses schaffte u. a. die Polygamie ab. 21 Allein in Deutschland arbeiten und wohnen rund 40.000 Tunesier und überweisen jährlich nach tunesi schen Schätzungen über 50 Mio. EUR.

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Kräfte und Institutionen. Auch die anschlie sozialen Zustände wie vor der Revolution. ßende Transitionsbewegung verläuft sehr Daher richteten sich die neuen Proteste heterogen: Die verschiedenen politischen und gegen die Unfähigkeit der Übergangsregie gesellschaftlichen Gruppen haben bisher eine rung, schnelle und effektive Reformen einzu hohe Kompromissbereitschaft gezeigt, die leiten. Die Gefahr, dass viele Initiatoren der Kommissionen zeigten sich sehr transparent. „Jasminrevolution” sich ihres Umsturzes be Die Ereignisse der ersten Monate gaben zu raubt fühlen, ist demnach groß. nächst Grund zur Hoffnung: Es bildeten sich zahlreiche neuer Gewerkschaften, Vereine Das wichtigste Datum in naher Zukunft für Tu und politischen Parteien22. Durch die Revolu nesien ist sicherlich die Wahl zur verfas tion war eine neue, politikbewusstere Gene sungsgebenden Versammlung am 26. ration entstanden. Die Integration der Oktober 2011. Es wird interessant sein zu Islamisten ließ auf eine friedliche Transition sehen, welche Parteien sich innerhalb der hoffen. wachsenden Parteienlandschaft durchsetzen können. Der Entschluss, die Wahlen von Juli Die Aufgaben der Übergangsregierung liegen auf Oktober zu verschieben, basierte auf dem nun, nach der Einrichtung transitioneller Insti Wunsch, den zahlreichen neu entstandenen tutionen, in der Vorbereitung der Wahlen zur Parteien mehr Zeit für die Ausarbeitung eines verfassungsgebenden Versammlung sowie in politischen Programms zu geben. Kritiker be der Überwindung der ökonomischen Pro werten dies hingegen als ein Zeichen der po bleme. Die unsichere politische Lage un litischen Stagnation: Die Bevölkerung mittelbar nach dem Sturz Ben Alis sowie die reagierte schon in den Sommermonaten un kriegerischen Auseinandersetzungen im geduldig auf die versprochenen Reformen. Nachbarland Libyen haben die wirtschaftliche Die Vorbereitung der Wahlen verläuft nicht Lage der Bevölkerung noch zusätzlich ver ohne Probleme: Bis Ende Juli hatten sich erst schlimmert: Der Umsatz im Tourismusbereich 1,35 Mio. Bürger für die Wahlen zur Verfas und ausländische Investitionen sind drastisch sungsgebenden Versammlung eingeschrie zurückgegangen. Die ökonomischen Pro ben. Angesichts dieser geringen Quote, die bleme sind besonders in den vernachlässig nur 16% der Wahlberechtigten entspricht, ten Regionen im Süden erdrückend. wurde die Registrierungsfrist bis Mitte August verlängert. Viele Tunesier waren schlecht in Der Erfolg der Revolution wird derweil durch formiert über den Inhalt der Wahlen und die den schwierigen Transitionsprozess ge Aufgaben der Verfassungsgebenden Ver bremst. Nach dem 14. Januar 2011 zeigte sammlung, es kam zu Verwechslungen zwi sich bald, dass der Kopf des alten Regimes schen Registrierungsvorgang und dem zwar entmachtet, die alten Institutionen und eigentlichen Wahlgang im Oktober. Die politi Eliten aber immer noch intakt waren. So ent schen Parteien unternehmen derweil zu stand in den darauf folgenden Monaten eine wenig, um die Bevölkerung aufzuklären, die neue Protestwelle, die den endgültigen Bruch Kompetenzen der Verfassungsgebenden Ver mit dem alten Regime forderte und unter an sammlung sind noch nicht genau geklärt. Soll derem den Rücktritt des Premierministers ten die Wahlen mit einer ähnlich geringen Ghannouchis erzwang. Viele Tunesier be Wahlbeteiligung wie zu Zeiten des Ben Ali fürchteten, dass ehemalige Mitglieder der Regimes (teils unter 30%) stattfinden, würde RCD erneut an die Macht gelangen könnten. die unzureichende Legitimität der gewählten Die anhaltende Unzufriedenheit der Bevölke Verfassungsgebenden Versammlung das rung mit der aktuellen Regierung hängt auch damit verbundene politische Patt der derzeiti damit zusammen, dass die Jugend, die die gen Übergangsregierung nicht beenden. treibende Kraft der Protestbewegung war, bis dato nicht an der Übergangsregierung betei Das politische Vakuum der letzten Monate be ligt wurde und sich um ihre „Revolutionsdivi wirkt gleichzeitig eine anhaltende wirtschaftli dende“ betrogen fühlt. Auch die Provinzen che Instabilität. Obwohl sich langfristig sind wieder unzulänglich repräsentiert. Teile gesehen die Wirtschaft stabilisieren wird, sind der Bevölkerung fühlen sich übergangen, in Experten der Meinung, dass Investoren zu der Provinz von Sidi Bouzid herrschen heute nächst die weitere politische Entwicklung Tu immer noch die gleichen wirtschaftlichen und nesiens abwarten werden. Sollte sich nach

22 Ende Juli hatte das Innenministerium weitere sechs politische Parteien registriert, womit sich die Ge samtzahl auf 100 Parteien erhöhte. Vor der Revolution am 14. Januar 2011 existierten lediglich acht Par teien. Bisher wurden 145 Anträge auf Registrierung einer politischen Partei verweigert, die meisten davon mit islamistischem Hintergrund.

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den Wahlen ein demokratischer Prozess er genden Schwerpunkten aufgelegt: folgreich entwickeln, gibt es Hoffnungen, dass ● Aufbau und Entwicklung demokrati auch die Investitionen wieder steigen werden. scher Strukturen (5,25 Mio. EUR): Be Das Beispiel Tuneisen zeigt, dass es viel Zeit ratung und Stärkung von politischen braucht, die politische Landschaft demokra Parteien, staatlichen Institutionen und tisch zu transformieren. Denn zunächst gilt Zivilgesellschaft; es, ein politisches Fundament zu schaffen und darauf basierend Wahlen durchzuführen. ● Schaffung von Arbeitsplätzen für die Jugend (8 Mio. EUR für den Zeitraum Die meisten Experten und auch viele Tunesier 20112014):Vermittlungsangebote, selbst sind sich einig, dass die Revolution Existenzgründungsprogramme; noch lange nicht zu Ende ist und erst die Wahlen im Oktober die zukünftige Richtung ● Förderung der wirtschaftlichen Ent aufzeigen werden. Die historische Entwick wicklung (20 Mio. EUR): Mikrokredite lung Tunesiens verdeutlicht, dass politische für kleine und mittelständische Unter Umbrüche nicht zwangsläufig eine vollkom nehmen. mene Zäsur darstellen müssen; oftmals blie ben die alten elitären Machtstrukturen Auch die EU erarbeitet derzeit ein Maßnah erhalten. Einige internationale Organisationen menpaket zur Unterstützung des Transforma haben schon finanzielle Hilfe in Reaktion auf tionsprozesses. die politischen Umbrüche in Tunesien und Ägypten in Aussicht gestellt. Der G8Gipfel Wie wird der zukünftige tunesische Staat also hat 20 Mrd. USD versprochen, der Internatio aussehen? Es gibt bisher zwei Modelle, die nale Währungsfonds (IWF) 35 Mrd. USD und für Tunesien vorstellbar sind: Entweder wird die Weltbank 6 Mrd. USD. Für die Förderung Tunesien sich zu einem islamischen modera der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ten Staat entwickeln, sollte An-Nahda laut hat die Europäische Investitionsbank im Juli Umfragen die Wahlen im Oktober dominieren. 2011 versprochen, ein Darlehen von 140 Mio. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Tunesien EUR zur Verfügung zu stellen. Die deutsche ein säkularer Staat bleibt, sich an dem west Bundesregierung hat durch das Bundesmi lichen Demokratiemodell orientiert und Staat nisterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Religion weitestgehend voneinander und Entwicklung (BMZ) zur kurzfristigen trennt. Unterstützung des Transformationsprozesses in Nordafrika und Nahost drei Fonds zu fol Samira Akrach und Tugrul von Mende

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Deutsches Orient-Institut 17 Ägypten

Landesdaten Ägypten Fläche1 2011 1.001.450 km² Bevölkerung2 2010 84.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 85 Ethnische Gruppen4 2010 Araber 99,6%, andere 0,4%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 90%, Kopten 9% andere Christen 1%

Durchschnittsalter6 2010 24,3 Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 31% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 5% Lebenserwartung9 2010 70,5 Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 129.500.000 Geburten pro Frau11 2009 2,8 Alphabetisierungsrate 2010 66,4% Mobiltelefone12 2009 55.352.000 Nutzer Internet13 2009 20.136.000 Nutzer Facebook14 2011 7.295.240 Wachstum BIP15 2010 5,2% BIP pro Kopf 16 2010 5.840 USD Arbeitslosigkeit17 2010 9% Inflation18 2011 11,8% S&P-Rating19 2011 BB Human Development Index Rang20 2010 Rang 101 (von 169) Bildungsniveau21 2010 Rang 120 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 43,4% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 Politische Teilhabe23 2010 15,2% Korruptionsindex24 2010 Rang 98 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf, abgerufen am 29.08.2011. 23 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http:www.//info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 18 Ägypten

Ägypten bische Republik Ägypten“ (arabisch: al-Jum- huriyya Misr al-Arabiyya) an.

achdem Ben Ali in Tunesien ge- Bekannte sich Präsident Nagib noch aus- stürzt worden war, erhofften sich schließlich zum Militär, so schuf Gamal Abdel Nauch die Ägypter den Sturz des Mu- Nasser zu Beginn seiner Amtszeit ab 1956 barak-Regimes. Nach 18 Tagen des Pro- eine neue, politische Bewegung des „arabi- tests im ganzen Land, vor allem auf dem schen Nationalismus und Sozialismus“, die Tahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo, sowie sich zur Partei der Arabischen Sozialistischen mehreren hundert Toten wurde diese Hoff- Union (arabisch: Al-Ittihad al-Ishtiraki al-Arabi, nung erfüllt. Die demographische und wirt- ASU) formierte. Aus ihr erwuchs noch zu Zei- schaftliche Realität im Land trieb die ten Sadats 1978 die Nationaldemokratische Massen an – denn von Wachstum und Li- Partei (NDP), die Einheitspartei, der seit ihrer beralisierung profitierten nur wenige. Das Gründung bis zur Revolution im Frühjahr 2011 Militär ließ sich nicht gegen die Demon- alle Präsidenten einschließlich Hosni Muba- stranten instrumentalisieren und trug rak angehörten. Mubarak machte nach sei- somit entscheidend zum Gelingen der Re- nem Eintritt in die ägyptische Armee Karriere volution bei. Der politische Umbruch wird bei der Luftwaffe, deren Oberbefehlshaber er jedoch trotz des bereits erfolgten Verfas- 1972 wurde. Im Jahr darauf befehligte Muba- sungsreferendums nicht innerhalb kurzer rak als Generalleutnant die Luftangriffe im Zeit zu vollziehen sein, denn Ägypten sieht Jom-Kippur-Krieg/ Oktoberkrieg1 und wurde sich vielen entscheidenden Herausforde- 1975 zum Vizepräsidenten ernannt. Sadat rungen gegenüber, darunter dem Prozess entsandte Mubarak 1979, um die Friedens- gegen die Mitglieder des alten Regimes gespräche mit Israel voranzubringen, womit sowie die Parlamentswahlen. dieser maßgeblich am Zustandekommen des israelisch-ägyptischen Friedensvertrags im I. Politisches System und gesellschaftli- gleichen Jahr beteiligt war. Nach dem An- che Entwicklungen schlag auf Sadat 1981 übernahm Hosni Mu- barak kurz darauf das Amt. Der Attentäter, der Nachdem Ägypten 1922 als Königreich Ägyp- Sadat während einer Militärparade in Kairo ten einen Teil seiner Souveränität von Groß- vor laufenden Kameras erschoss, bekannte britannien zurückgewinnen konnte, erhielt es sich zur islamistischen Gruppe Al-Jihad. In nach dem Tod von König Fuad I. 1936 seine der Zeit nach dem Anschlag kam es zu Mas- völlige Unabhängigkeit. senverhaftungen, ermöglicht durch die Ein- führung der Notstandsgesetze, auf Grundlage Nach schweren Rückschlägen im Palästina- derer Mubarak das Land bis zu seinem Rück- krieg 1947, die nur durch diplomatische Inter- tritt 2011 weitgehend uneingeschränkt re- ventionen von Seiten der Briten nicht in einer gierte. Die exekutive Gewalt setzte Mubarak israelischen Besetzung des Sinai endeten, mit Hilfe des staatlichen Sicherheitsapparates sowie massiven Vorwürfen der Korruption und durch, der aus einer 250.000 Mann starken Misswirtschaft gegen König Faruk, kam es am paramilitärischen Einheit bestand, die dem 23. Juli 1952 zu dessen Sturz durch einen Mi- Innenministerium unterstellt ist und zum Er- litärputsch. Die Initiatoren des Putsches halt der inneren Sicherheit dienen soll. Die waren die Anhänger der Bewegung der ägyptischen Streitkräfte sind gegenwärtig die „Freien Offiziere“, zu denen auch die späte- stärkste Militärmacht auf dem afrikanischen ren Präsidenten Ali Muhammad Nagib, Gamal Kontinent. Abdel Nasser und Muhammad Anwar as- Sadat gehörten. Nachdem König Faruk am Durch eine Truppenstärke von 450.000 Mann 18. Juni 1953 ins Exil gegangen war, wurde und ihrer zentralen, strategischen Lage ge- Nagib als Präsident der neu proklamierten nießen sie auch im Nahen und Mittleren Republik Ägypten vereidigt. Nachdem Ägyp- Osten eine Vormachtstellung. Jährlich fließen ten und Syrien sich kurzzeitig zur Vereinigten mehr als 2,5 Mrd. USD in den Erhalt und Auf- Arabischen Republik (1958-1961, arabisch: bau der ägyptischen Armee. Davon werden al-Jumhuriyya al-Arabiyya al-Muttahida) zu- 1,3 Mrd. USD durch die Militärhilfe der USA sammengeschlossen hatten, nahm Ägypten finanziert, die in Hurghada, als zentralen Kno- 1971 seinen bis heute offiziellen Namen „Ara- tenpunkt mit unmittelbarer Nähe des Suezka-

1 Um eine direkte Positionierung im Nahostkonflikt zu vermeiden, werden hier beide Schreibweisen wieder- gegeben.

19 Deutsches Orient-Institut Ägypten

nal, einen Marinestützpunkt unterhalten. Die sten des privatwirtschaftlichen Sektors, um Sicherheitskräfte des Innenministeriums die- den Vorgaben verschiedener internationaler nen in Ägypten nicht zur Ergänzung des Mili- Organisationen und Geldgebern zu entspre- tärs, sondern bilden vielmehr ein chen. Innerhalb Ägyptens profitierten davon Gegengewicht. Das wurde auch während der jedoch beinahe ausschließlich einige wenige Revolution deutlich, als die militärische Füh- Oligarchen. Ferner wuchs die Wirtschaft zwar, rung sich auf die Seite der Demonstranten jedoch nicht genug, um der großen Zahl jun- stellte, während sich die Sicherheitskräfte re- ger Ägypter, die jedes Jahr auf den Arbeits- gimetreu zeigten.2 markt strömten, gerecht zu werden.

Das gesellschaftliche Zusammenleben von Die Bevölkerung Ägyptens hat in den letzten Christen und Muslimen in Ägypten3 ist in den 25 Jahren einen enormen demographischen letzten Jahren zunehmend konfliktreicher ge- Wandel vollzogen. Ägypten ist von einem ra- worden. In den 1950er und 1960er Jahren, piden Bevölkerungswachstum (1,9% p.a.) ge- die stark von nasseristischen Ideologien4 und prägt und gegenwärtig das westlichen Einflüssen geprägt waren, traten bevölkerungsreichste Land in der arabischen religiös bedingte Differenzen vermehrt hinter Welt. Seit 1985 ist die Einwohnerzahl von 50 dem einenden, arabischen Nationalstolz zu- auf rund 85 Mio. gestiegen, in dessen Folge rück. Vor allem aber auch die lange Zeit sehr sich eine Reihe von problematischen Ent- restriktive Handhabe des Staatsapparates wicklungen vollzogen, die Nährboden für die gegenüber der Muslimbruderschaft drängte Revolution im Februar 2011 waren. So führte diese zurück. Die verschiedenen religiösen der demographische Wandel in den letzten Gruppierungen wurden als Konkurrenz staat- Jahren zu einer hohen Arbeitslosigkeit von of- lichen Herrschaftsanspruchs angesehen. fiziell 9%, von denen jedoch fast 90% auf die Eine wieder aufflammende Religiosität seit unter 30-Jährigen entfällt. Vor allem die breite den 1980er Jahren verstärkte die Ausgren- Masse der jungen Bevölkerung übt einen star- zung von Christen im öffentlichen Leben und ken Druck auf den Arbeitsmarkt aus.6 Im führte vor allem in der jüngsten Vergangen- wachsenden Maße sind auch Akademiker be- heit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. troffen, die unter zunehmender Perspektivlo- Die zunehmende Islamisierung der muslimi- sigkeit leiden und nach dem Studium keine schen Mehrheitsgesellschaft entstand in Re- qualifizierte Arbeit finden. Viele haben meh- aktion auf das Scheitern der nationalistischen, rere Arbeitsplätze, um ihre Familie finanziell panarabistischen Identität, welche mit dem zu unterstützen und ihre Existenz zu sichern. starken Einfluss konservativer, wahhabiti- Diese Entwicklung verschärfte sich über die scher5 Ideologien zusammenfiel, die sich im letzten Jahre, sodass in Ägypten gegenwär- Zuge der Arbeitsmigration nach Saudi-Ara- tig mehr als 40% der Bevölkerung unter der bien auch in Ägypten verbreiteten. Armutsgrenze leben. Die Menschen leiden immer mehr unter den steigenden Energie- Während der Regierungszeit Mubaraks öff- und Lebensmittelpreisen, und die regionale nete sich die ägyptische Wirtschaft partiell. Lebensmittelproduktion wird immer stärker an Zunächst profitierte das Land vom internatio- ihre Grenzen gebracht. Die große Abhängig- nalen Wohlwollen durch seine Opposition zur keit vom Weizenimport führte zu einer Stei- irakischen Invasion in Kuwait. Danach be- gerung des Brotpreises von über 30% gann eine sukzessive Liberalisierung zugun- innerhalb eines Jahres (2010-2011). In einem

2 Das ägyptische Militär genießt im Volk hohes Ansehen und ist eng mit ihm verbunden. Dies kommt zum einen durch die dreijährige Wehrpflicht, die von allen ägyptischen Männern ab 18 Jahren absolviert wer- den muss. Zum anderen haben viele Männer der Eltern- und Großelterngeneration in den arabisch-is- raelischen Kriegen gekämpft und fühlen sich immer noch eng verbunden mit der Armee. Besonders der Krieg 1973 war für Ägypten trotz der militärischen Niederlage, ein Sieg auf politischer Ebene, da man die Rückgabe der Sinai-Halbinsel erwirken konnte. 3 In Ägypten gehören 6-10% der Gesamtbevölkerung der christlichen Religion an. Die Mehrheit ist Mitglied der koptischen Kirche, daneben gibt es kleinere Gemeinschaften von Griechisch-Orthodoxen, Griechisch- Katholischen oder Protestanten. 4 Diese beziehen sich auf den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und seine Politik des arabi- schen Nationalismus beziehungsweise Panarabismus. Hierbei wird die Einheit aller arabischsprachigen Völker betont und deren Vereinigung favorisiert. Ägypten soll dabei die Führungsrolle einnehmen. Unter Abdel Nasser genossen auch die beiden Orientierungen des Panislamismus sowie des Panafrikanismus Zuspruch, der Panarabismus besaß jedoch die Priorität. 5 Siehe Beitrag zum Königreich Saudi-Arabien in dieser Publikation. 6 Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offiziell bei über 30%. Das Durchschnittsalter in Ägypten liegt bei 24,3 Jahren. (z. Vgl. Deutschland: 44 Jahre).

Deutsches Orient-Institut 20 Ägypten

Land wie Ägypten, in dem durchschnittlich nach Wandel auf der anderen Seite stieg und 60% des Einkommens für Nahrungsmittel schließlich eine kritische Masse erreichte. ausgegeben werden7, stellt dies eine so be- unruhigende Entwicklung dar, dass es schon II. Vorraussetzungen für den Willen nach von Seiten der Regierung zu Brotsubventio- Wandel nierungen kam. Im Vorfeld der Revolution verschärfte sich die Was die finanziellen Ressourcen der ärmeren Situation aufgrund verschiedener Faktoren. Bevölkerungsschichten noch zusätzlich be- Nach einer Reform des Wahlrechts im Fe- lastet, ist die allgegenwärtige Korruption im bruar 2005 wurden bei den Präsidentschafts- Land. Im Alltag durchzieht sie alle staatlichen wahlen im gleichen Jahr zum ersten Mal Institutionen, auch Schulen und Universitäten Gegenkandidaten zugelassen. Im September sind betroffen. Besonders die Polizei macht 2005 gelang es daraufhin dem Kandidaten den Ägyptern mit willkürlichen Geldbußen zu und Gründer der Ghad-Partei, Aiman Nur, schaffen. Auch die Familie Mubaraks und An- 7,8% der Stimmen auf sich zu vereinen, was hänger seiner Regierung agierten im großen einen Teilerfolg für die Opposition darstellte. Maße korrupt. Wiederholt wurden Staatsauf- Kurz darauf wurde er wegen Urkundenfäl- träge an Angehörige der Familie Mubarak ver- schung angeklagt und zu fünf Jahren Haft geben, auch bereicherte sich diese durch ein verurteilt, von denen er drei Jahre verbüßen von Privatisierung und den Verkauf von staat- musste. Hosni Mubarak blieb mit 88,5% der lichen Grundstücken geprägtes System. Dar- Stimmen Präsident Ägyptens. Bei den Parla- aus hervor ging eine milliardenschwere mentswahlen im Dezember 2005 konnten die Familie Mubarak8 sowie deren Freundes- und Muslimbrüder als unabhängige Kandidaten Familienkreis, auf Kosten einer immer stärker erstmals 20% der Sitze erringen und wurden verarmenden Bevölkerung. Der Internationale somit stärkste Opposition.9 Die Muslimbru- Korruptionsindex bewertet Ägypten als „über- derschaft genießt in Ägypten eine große Po- durchschnittlich korrupt“ und stufte das Land pularität in weiten Teilen der Gesellschaft. auf Platz 98 ein, weit hinter anderen Ländern Obwohl sich die Organisation in den 1970er der Region wie Katar (22), Jordanien (49) Jahren von militanten Ablegern wie Jihad al- oder Marokko (89). Islam distanziert hatte, ist sie bis heute offi- ziell verboten. In anderen Ländern wie Diese Ausgangslage war entscheidend für Algerien, Tunesien, Syrien und Palästina das Verlangen des Volkes nach einem Um- haben sich seit der Gründung der Muslimbru- sturz. Vom Wirtschaftswachstum und der zu- derschaft 1928 mehrere „Ableger“ gegründet. nehmenden Einbindung der Privatwirtschaft Diese haben jedoch nicht alle gleichermaßen profitierte beinahe ausschließlich eine kleine der Gewalt abgeschworen, so beispielsweise Elite, die zum engen Netzwerk des Präsiden- die Hamas. Der gesellschaftliche Rückhalt ten gehörte. Die fehlende Teilhabe der meis- der Muslimbruderschaft in Ägypten basiert vor ten Ägypter am politischen Prozess und der allem auf ihrem karitativen Engagement, mit Entscheidungsfindung führte dazu, dass der dem sie die Lücken im sozialen und gesell- Willen auf der einen sowie die Bereitschaft schaftlichen Leben füllt, die von der Regie-

7 z. Vgl. Deutschland: 12%. 8 Das Vermögen der Familie Mubarak wird auf insgesamt 40 Mrd. USD geschätzt. Die gegenwärtige Staats- verschuldung beläuft sich auf 30,61 Mrd. USD. Es besteht die Hoffnung, dass man Teile des Vermögens der Familie Mubarak an den Staat zurückfließen lassen könne. Die Schweiz und die USA haben bereits Konten eingefroren. Eine Auszahlung des Geldes wird sich jedoch rechtlich schwierig gestalten. 9 Die Bewegung der Muslimbruderschaft entstand 1928 durch Hassan al-Banna in Ägypten. Ihre Zielset- zung beinhaltet die Einführung und Durchsetzung islamischer Moral- und Verhaltensregeln und beruft sich auf den Panislamismus. Anfangs gegen die britische Kolonialherrschaft gerichtet, gehörten bald auch die Wahrung der muslimischen Identität Ägyptens und der Kampf gegen den Säkularismus zu den Zie- len. Neben einer politischen Aktivität – die jedoch zumeist Opfer von Unterdrückung wurde – zeichnet sich die Bewegung vor allem durch soziales und karitatives Engagement aus. In der Ära Gamal Abdel Nas- sers sah sie sich starker Unterdrückung ausgesetzt; einer ihrer wichtigsten Vordenker – Sayyid Qutb – wurde hingerichtet. Nach diesem war die derzeitige Situation in Ägypten mit der Zeit vor dem Islam gleich- zusetzen, der heidnischen jahiliyya, da sämtliche Regeln unbeachtet blieben. In den 1970er Jahren spal- teten sich dann die beiden militanten Bewegungen Takfir wa-l-Higra sowie Al-Jihad Al-Islami ab. Damit gewannen die gemäßigten Kreise die Oberhand. Die MB schwor der Gewalt ab, beteiligte sich am poli- tischen Geschehen und wurde vor allem bei den Parlamentswahlen 2005 als stärkste Oppositionskraft bestätigt. Sie verfügt heute über eine sehr breite Verankerung in der ägyptischen Gesellschaft und be- sitzt wohl das größte Mobilisierungspotential. In anderen Ländern der Region wurde sie ferner häufig zum Vorbild genommen – auf sie führt sich beispielsweise die Hamas zurück.

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rung vernachlässigt wurden.10 Bei den Parla- aktion auf die Zweite Intifada in Palästina und mentswahlen 2010 kam es zu massiven Ma- gewann an Unterstützung durch ihre Demon- nipulationen. So wurden Menschen mit strationen gegen den Irakkrieg 2003. Gewalt daran gehindert, die Wahllokale zu betreten, woraufhin es zu Zusammenstößen Eine weitere Bewegung gründete sich 2008 mit den Sicherheitskräften kam, bei denen auf Facebook aus Solidarität mit den Mas- vier Menschen starben. Darüber hinaus senprotesten in der Stadt Mahalla al-Kubra, wurde vermehrt über Stimmenkauf berichtet.11 bei denen am 6. April 2008 mehr als 27.000 Im Vorfeld war es außerdem zu Boykottaufru- Arbeiter der größten Textilfabrik Ägyptens auf fen von Seiten der Oppositionsparteien ge- die Straße gingen um gegen ihren geringen kommen, die eben diese Wahlmanipulation Lohn und die steigenden Lebensmittelpreise erwarteten. zu demonstrieren. Zwei Mitglieder der Ghad- Partei gründeten daraufhin als Zeichen der Der Boykott, die Resignation innerhalb der Unterstützung die „Bewegung 6. April“, die Wählerschaft und die Manipulation des Wahl- bald mehr als 87.000 Anhänger auf Facebook vorgangs führten zu einer Wahlbeteiligung zu verzeichnen hatte. In den Monaten vor der von nur 25% und einem Erdrutschsieg der Revolution kam es wiederholt zu einer lan- Nationaldemokratischen Partei. Die Muslim- desweiten Streikwelle, die diesmal auch das brüder kamen auf nur noch einen Sitz, auch Bau-, Lebensmittel- und Transportwesen andere Oppositionsparteien hatten schwere sowie verschiedene Ministerien betraf. Wo- Verluste zu verzeichnen.12 Die Regierung Mu- chenlang campierten die Betroffenen vor dem baraks erreichte eine Zweidrittelmehrheit, die Parlamentsgebäude, um auf ihre Situation ihr die volle Kontrolle über zukünftige Verfas- aufmerksam zu machen – ohne Erfolg. sungsänderungen zurückbrachte. In Erwar- tung dessen hatte sich 2010 im Vorfeld der Eine der treibenden Kräfte der Revolution Wahlen die Bewegung Jamiat al-Taghyir gründete sich in Reaktion auf die brutale Tö- („Union des Wandels“) um den ägyptischen tung des 28-jährigen Khaled Said im Juni Nobelpreisträger Mohammed ElBaradei ge- 2010 in der Hafenstadt Alexandria. Der junge gründet, die eine Unterschriftensammlung mit Blogger Khaled Said hatte sich in einem Inter- dem Ziel organisierte, eine Wahlrechtsreform netcafé aufgehalten, als zwei Polizisten hin- zu erwirken und ElBaradei als Gegenkandi- einstürmten und seine Papiere forderten. daten aufstellen zu können. Kurz darauf packten sie ihn und zerrten ihn in einen nahe gelegenen Hauseingang, wo sie In den letzten Jahren trat auch der Sohn des ihn zu Tode prügelten. Danach wurde sein bis Präsidenten, Gamal Mubarak, in den Vorder- zur Unkenntlichkeit entstellter Leichnam wie- grund des politischen Geschehens und über- der vor dem Internetcafé abgelegt. Das Foto nahm 2002 den Posten des Generalsekretärs von Saids Leiche wurde über das Internet ver- der NDP. Als Reaktion darauf wurden erste breitet und schuf eine weltweite Öffentlich- Stimmen in der Bevölkerung laut, die be- keit.13 Aufgrund des internationalen Drucks fürchteten, Mubarak würde das Amt des Prä- wurden die beiden Polizisten am 27. Juli 2010 sidenten nach syrischem Vorbild an seinen verhaftet und angeklagt. Der Prozess wurde Sohn weitervererben wollen. Dies war einer seitdem wiederholt vertagt. Die Anklage lautet der Gründe für die erste Anti-Mubarak- „unrechtmäßige Verhaftung unter Einsatz Demonstration der Kifaya-Bewegung („Es ist physischer Gewalt und Brutalität“, worauf die genug“) im Jahr 2004. Die pazifistische Be- Höchststrafe ein Jahr Haft beträgt. Als Zei- wegung formierte sich im Jahr 2000 als Re- chen des Protests gegen die Willkür der Poli-

10 Sie bietet kostenlose medizinische Dienste an, organisiert Armenspeisungen und unterstützt Kinder armer Familien mit zusätzlichen Schulangeboten. Die Bewegung besitzt darüber hinaus eigene Moscheen, Krankenhäuser, Schulen und Unternehmen, die sie in den Dienst der Allgemeinheit stellen. 11 So wurden auf Twitter tagsüber die Preise für die Stimmen der einzelnen Wahlbezirke ausgetauscht. 12 Die Sitzverteilung bei den Parlamentswahlen veränderte sich von 2005 bis 2010 wie folgt: NDP von 330 auf 420 Sitze; Wafd-Partei von fünf auf sechs Sitze; Partei der Union für nationalen Fortschritt von ein auf fünf Sitze; Ghad-Partei behält einen Sitz; Unabhängige der Muslimbruderschaft von 88 auf einen Sitz. Die Partei für soziale Gerechtigkeit, die Demokratische Generationspartei und die Demokratische Friedens- partei ziehen mit jeweils einem Sitz ins Parlament ein. 13 Als Ergebnis der Ermittlungen erklärte die Staatsanwaltschaft, Khaled Said sei von den beiden Polizisten beim Handel mit Drogen aufgegriffen worden, woraufhin er ein Päckchen verschluckt hätte, an dem er dar- aufhin erstickt sei. Die Anwälte der Familie, die von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ge- stellt wurden, forderten eine unabhängige Untersuchung und erwirkten eine Wiederaufnahme der Ermittlungen, die jedoch zu dem gleichen Ergebnis führten wie die vorangegangene.

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zei und den Staat, der sich schützend vor die bildet sind. Diese Symbolik setzte sich auch Täter stellte, gründete sich eine Solidaritäts- während der Revolution fort, als Demon- bewegung von jungen Ägyptern auf Face- stranten mit ineinander verschränktem Kreuz book, die sich mit dem Schicksal Khaled und Halbmond auf ihren Plakaten gegen die Saids identifizieren konnten und den Namen Regierung Mubaraks demonstrierten. Die Re- We are all Khaled Said trägt. Khaled Said volution in Ägypten war daher keineswegs wurde zur Symbolfigur der arabischen Revo- gänzlich unvorhersehbar. Schon häufig hatte lution. Bis heute unterstützen mehr als es Demonstrationen gegeben, die jedoch 146.000 Menschen die Bewegung auf Face- immer stark lokal oder auf eine bestimmte book.14 Interessengruppe beschränkt blieben und nicht auf die breite Bevölkerung übergreifen Das angespannte Verhältnis von Christen und konnten. Die Regierung Mubarak verstand Muslimen wurde in den letzten Jahren immer sich darauf, weite Teile der Bevölkerung so konfliktreicher. Im Jahr 2010 wurden im ober- am Existenzminimum zu halten, dass es ge- ägyptischen Nag Hamadi acht Kopten beim rade noch zum Überleben reichte. Die Angst, Verlassen der Kirche als Rache für die Ver- sich durch ein Aufbegehren gegen das Re- gewaltigung eines muslimischen Mädchens gime die eigene Lebensgrundlage zu entzie- durch einen Christen im Vorjahr erschossen. hen und seine Familie mit ins Unglück zu Als Folge kam es zu Übergriffen und Aus- reißen, lähmte die Menschen über Jahr- schreitungen zwischen den beiden Religions- zehnte. Vor allem durch die demographischen gruppen. Am 1. Januar 2011 ereignete sich im Faktoren verschlechterten sich die Lebens- Anschluss an den Neujahrgottesdienst ein umstände jedoch rapide über die letzten schwerer Anschlag auf die koptische Kirche Jahre und ließen jene Stimmen immer lauter „Zwei Heiligen“ in Alexandria, als eine Auto- werden, die ein Ende der Mubarak-Ära for- bombe vor dem Eingang der Kirche explo- derten. dierte. Der Anschlag galt den koptischen Gläubigen, die nach dem Ende des Gottes- Schon eine Woche vor Beginn der ersten Pro- dienstes das Gebäude verließen.15 Die Kirche teste warnte die Muslimbruderschaft vor und die angrenzende Moschee wurden einem möglichen Überspringen des revolutio- schwer beschädigt.16 Unmittelbar nach dem nären Funkens aus Tunesien und forderte die Anschlag kam es zu Zusammenstößen zwi- Regierung mit einem Zehn-Punkte Plan zu schen anwesenden Muslimen und Christen, substantiellen Reformen auf, was jedoch un- die von der Polizei mit Tränengas getrennt gehört blieb.17 wurden. III. Akteure des Wandels und konkreter Am nächsten Tag hatte sich die Lage jedoch Auslöser dahingehend gewandelt, dass sich Muslime solidarisch mit ihren koptischen Mitbürgen Der unmittelbare Auslöser der ägyptischen zeigten und geschlossen mit ihnen unter der Revolution waren die Geschehnisse in Tune- Flagge der Revolution von 1919 demonstrier- sien, die den Protesten in Ägypten voraus- ten, auf der Kreuz und Halbmond zusammen gingen. Den Tunesiern war es gelungen, nach für die Einheit des ägyptischen Volkes abge- Wochen des Protests, ihren Präsidenten Zine

14 Es ist jedoch hervorzuheben, dass dies keineswegs einen aktivistischen Einsatz beinhalten muss. Durch das Anklicken des Like-Buttons wird zwar eine generelle Unterstützung ausgedrückt. Aktives Engagement ist damit jedoch nicht verbunden. Die Anzahl an Unterstützern bei Facebook lässt somit keine Rück- schlüsse auf das Mobilisierungspotential zu. Es handelt sich viel eher um ein Stimmungsbild. 15 Insgesamt kamen 23 Menschen ums Leben und 97 wurden verletzt. 16 Die Attentäter wurden zunächst einer lokalen, Al-Qaida nahe stehenden Terrorgruppe zugeordnet. Spä- ter hieß es, die Attentäter kämen aus dem Ausland. Inzwischen gibt es Hinweise des britischen Ge- heimdienstes, nachdem der ehemalige Innenminister Habib al-Adly selbst in den Anschlag verwickelt gewesen sei soll, um das repressive Vorgehen der Regierung gegen die Opposition zu rechtfertigen. 17 Darin wurden zunächst die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Auflösung des Parlaments im Zu- sammenhang mit Verfassungsänderungen für demokratische Wahlen, die Gewährleistung von Organi- sations- und Pressefreiheit und die Freilassung politischer Gefangener gefordert. Weiterhin sollten die Verantwortlichen für die Veruntreuung des Volksvermögens zur Rechenschaft gezogen werden.

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el-Abidine Ben Ali zum Rücktritt zu zwingen.18 Städten auf die Straße und forderten den Der Erfolg der tunesischen Revolution war Rücktritt des Präsidenten. Die Polizei rea- wohl der Funke, der das Pulverfass Ägypten gierte mit äußerster Härte gegen die Demon- zur Explosion brachte. Die Angst, die die stranten. Es wurde versucht, die Massen mit Ägypter über Jahrzehnte in ihrer sich ständig Tränengas und Wasserwerfern zu trennen, verschlechternden Lebenssituation hatte aus- wiederholt drangsalierten Polizisten die Auf- harren lassen, fiel von ihnen ab. Tunesien ständischen mit Schlagstöcken und Gummi- hatte gezeigt, dass sich der Umsturz eines al- geschossen. Am Abend des 28. Januar und teingesessenen Regimes nicht über Nacht er- der folgenden Nacht eskalierte die Gewalt: reichen ließ und gab den ägyptischen Die Proteste gingen ungeachtet der verhäng- Demonstranten die Kraft, trotz aller Rück- ten Ausgangssperre weiter. Einigen Demon- schläge an ihren Zielsetzungen festzuhalten. stranten gelang es, bis zur Parteizentrale der NDP vorzudringen und diese in Brand zu set- Der Beginn der Revolution in Ägypten war der zen. Mubarak entschied daraufhin, die Polizei 25. Januar 2011, als ein Bündnis aus der „Be- weitgehend abzuziehen und ließ an deren wegung 6. April“, We are all Khaled Said, Ki- Stelle das Militär mit Panzern nach Kairo ein- faya, der „Union für den Wandel“ und der rücken. Ob sich das Militär auf die Seite der Unterstützung der Jugend der Muslimbruder- Demonstranten stellen oder es sich doch loyal schaft gemeinsam auf Facebook zum „Tag zum Präsidenten, dem Oberbefehlshaber der des Zorns“ aufriefen. Anders als erwartet folg- Streitkräfte, bekennen würde, blieb für die fol- ten dem Aufruf mehrere zehntausend Men- genden Tage ungewiss. schen; allein 15.000 Demonstranten besetzten an diesem Tag den Tahrir-Platz in Am nächsten Tag waren weder Polizei noch Kairo, der sich zum Zentrum der Revolution Sicherheitskräfte auf den Straßen präsent. entwickeln sollte. Die Polizei ging mit Was- Übergriffe von Banden auf Geschäfte und Pri- serwerfern und Tränengas gegen die De- vatpersonen häuften sich, auch Krankenhäu- monstranten vor. Drei Menschen wurden bei ser wurden Opfer solcher Raubzüge. Bei den Unruhen des ersten Tages getötet. Trotz Plünderungen im Ägyptischen Museum in eines Demonstrationsverbots kam es wäh- Kairo wurden wertvolle altägyptische Expo- rend der beiden folgenden Tage wiederholt zu nate zerstört. Gerüchte kamen auf, die Plün- Zusammenstößen mit der Polizei. In der Stadt derer seien Polizisten und Sicherheitsleute, Suez wurde als Reaktion auf das Verbot der die vom Innenministerium angewiesen wor- Trauerfeier für die am Vortag getöteten De- den wären, die Bevölkerung durch Angst vor monstranten die Polizeistation in Brand ge- anarchischen Zuständen in die Knie zu zwin- setzt. gen. Nachdem die Armee sich weiterhin zu keinem aktiven Eingreifen entschied, formier- Über Facebook und Twitter wurde zu weite- ten sich Nachbarschaftswehren, die in ihren ren Massenprotesten im Anschluss an das Stadtteilen patrouillierten und Straßenkontrol- Freitagsgebet aufgerufen. Um der Organisa- len errichteten. tion und Vernetzung entgegenzuwirken, ließ die Regierung das Internet sowie weite Teile Eine Reaktion Mubaraks auf diese Entwick- des Mobilfunknetzes kappen19 und verbot die lungen blieb zu diesem Zeitpunkt weitgehend Versammlung zum Freitagsgebet in den grö- aus. Weder versuchte er, durch schnell und ßeren Städten. Trotzdem gingen zur Mittags- ernsthaft implementierte Reformvorhaben die zeit Hunderttausende in Kairo und anderen wirtschaftlichen Forderungen der Demon-

18 Dieser verließ daraufhin am 14. Januar 2011 das Land und hält sich gegenwärtig in Saudi-Arabien auf. Ben Alis Frau, Leila Trabelsï, sowie weitere Mitglieder seiner Familie werden inzwischen mit internatio- nalem Haftbefehl gesucht, er selbst ist auf die Gunst der saudischen Herrscher angewiesen, die seine Auslieferung bisher verweigert haben. Der erste Prozess gegen Ben Ali und seine Frau fand bereits in deren Abwesenheit statt. Beide wurden zu einer Haftstrafe von 35 Jahren und einer Geldstrafe in Milli- onenhöhe verurteilt. Weitere Verfahren aufgrund des Vorwurfs des Mordes und der Folter sollen vor dem Militärgericht verhandelt werden, Ben Ali droht hier die Todesstrafe. Nach der Einschätzung von Beob- achtern wird es jedoch – nachdem das erste Urteil bekannt wurde – nicht zu einer Auslieferung von Sei- ten Saudi-Arabiens kommen. Ben Ali selbst ließ durch seine Anwälte verlauten, die Vorwürfe wären haltlos und er habe nicht die Absicht, den Prozess ernst zu nehmen. 19 Die sozialen Netzwerke im Internet waren vor allem während der Anfänge der Revolution ein wichtiges Medium für die Organisation und Verständigung der jugendlichen Demonstranten. Im Vergleich zu an- deren arabischen Ländern und vor allem Europa ist das Internet in Ägypten noch vergleichsweise wenig verbreitet, doch ist es insbesondere in den Großstädten und innerhalb der jungen Mittel- und Oberschicht, die maßgeblich die Revolution initiiert und getragen hat, sehr präsent und ein wichtiges Kommunika- tionsmittel. Die Internetverbreitung in Ägypten beträgt 24,5% (z. Vgl. Deutschland: 67,1%).

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stranten zu erfüllen, noch kam er der Haupt- würde und zu Gesprächen mit der Opposition forderung nach, selbst zurückzutreten. Statt- bereit sei. Als Folge dieser Erklärung kippte dessen ernannte er zum ersten Mal während die hoffnungsvolle Stimmung unter den De- seiner Regentschaft einen Vizepräsidenten. monstranten augenblicklich. Trotz des Drän- Seine Wahl fiel auf Omar Suleiman20, den gens von Seiten des Militärs, die Forderungen Chef des ägyptischen Geheimdienstes, der seien gehört worden und es müsse zu einem bis zum Rücktritt Mubaraks erste Verhand- Ende der Demonstrationen kommen, verblie- lungen mit der Opposition führte und die Re- ben die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz. gierung Mubaraks in den Medien vertrat. Die Sie beharrten auf ihren Forderungen, Muba- unvorhersehbaren Entwicklungen veranlas- rak müsse sofort zurücktreten, das Parlament sten Botschaften, Konsulate und einen Groß- auflösen und eine Übergangsregierung mit teil ausländischer Unternehmen, ihre einer Verfassungsänderung und Neuwahlen Mitarbeiter auszufliegen. Die Anzahl der betrauen. Um seine Absichten zu unterstrei- Kampfpanzer in den Städten wurde nochmals chen, löste Mubarak am folgenden Tag das deutlich erhöht, auch in den Urlaubsgebieten Parlament auf, die Ausgangssperre wurde am Roten Meer rückte die Armee immer wei- verkürzt und auch die meisten Internet- und ter vor. Die USA und Deutschland sowie wei- Telefondienste wurden wieder frei geschaltet. tere europäische Länder gaben Das Militär verblieb mit den Demonstranten Reisewarnungen heraus und entschieden, auf dem Tahrir-Platz, beteiligte sich jedoch Sondermaschinen zu schicken um ihre nicht mehr an den Personenkontrollen an den Staatsbürger auszufliegen. Zugängen zum Tahrir-Platz, die an den Vorta- gen die Demonstranten vor Übergriffen sei- Zum wichtigsten Akteur während der Revolu- tens Regimetreuer geschützt hatten. Am tion wurde schnell das ägyptische Militär, auf Nachmittag dieses Tages kam es zu blutigen das sich die Hoffnungen der Demonstranten Eskalationen, als der von Demonstranten be- stützten. Ein Sprecher der ägyptischen Armee setzte Tahrir-Platz von mit Messern, Steinen gab bekannt, dass die Armee die Forderun- und Schlagstöcken bewaffneten Anhängern gen der Demonstranten anerkenne und keine des Regimes gestürmt wurde. Dazu kam die Gewalt gegen sie anwenden würde. Die Ent- „Kavallerie-Attacke“ mit Unterstützern auf scheidung des Militärs wurde unter großem Pferden und Kamelen, die mit Peitschen und Jubel willkommen geheißen, von nun an Macheten auf die Demonstranten am Boden wurde „Das Militär und das Volk sind vereint“ einschlugen. Von den Angriffen überrascht skandiert. Die Abgrenzung des Militärs von versuchte ein Großteil zu fliehen, jedoch wur- der Regierung Mubarak liegt jedoch nicht nur den sie von den Angreifern zurück gedrängt. an der Verwurzelung des Militärs in der Ge- Die Soldaten hatten den Befehl, nicht einzu- sellschaft, sondern auch an der Person Mu- greifen und verharrten weitgehend tatenlos baraks selbst. Zwar hatte auch er seine auf ihren Panzern, vereinzelt wurden Warn- Karriere beim Militär begonnen, doch gehörte schüsse abgegeben. Die Demonstranten, die er nicht mehr der Garde der „freien Offiziere“ aufgrund der Personenkontrollen der voran- an und hatte sich für eine politische Führung gegangenen Tage komplett unbewaffnet entschieden. waren, verteidigten sich mit Flaschen und Pflastersteinen, die sie aus dem Boden ris- Mit dem Militär auf ihrer Seite riefen die De- sen. Die Zusammenstöße dieses Nachmit- monstranten für Dienstag, den 1. Februar tags kosteten 13 Menschen das Leben, über zum „Marsch der Millionen“ auf. Bis zu 2 Mio. 1.500 Verletzte wurden in den umliegenden Menschen kamen dem allein in Kairo nach. Moscheen behandelt, die von freiwilligen Hel- Am Abend versammelten sich die Massen auf fern und Ärzten zu Feldlazaretten umfunktio- dem Tahrir-Platz, um auf Großleinwänden der niert worden waren. Ausländische angekündigten Ansprache des Präsidenten Medienvertreter mussten ihre Hotels verlas- zu folgen. Erwartet wurde seine Rücktrittser- sen, als von den Unterstützern des Regimes klärung. Doch diese Hoffnungen wurden ent- wiederholt Jagd auf sie gemacht wurde. Es täuscht: Mubarak erklärte lediglich, dass er wurde von 70 Festnahmen seit dem Ausbruch nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren der Gewalt am 2. Februar berichtet. Ein Jour-

20 Omar Suleiman durchlief, wie Mubarak, eine Militärlaufbahn, wechselte jedoch 1986 zum militärischen Ge- heimdienst und wurde Chef des zivilen ägyptischen Geheimdienstes (arabisch: Mukhabarat) 1993. Da dieser dem Präsidenten direkt untergeordnet ist, standen sich Suleiman und Mubarak stets sehr nah. Zum engsten Verbündeten des Präsidenten wurden Suleiman beim Afrika-Gipfel 1995, als er die Limou- sine Muabaraks gegen ein gepanzertes Fahrzeug austauschen ließ und dieser so einen Anschlag isla- mistischer Terroristen überlebte

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nalist wurde von einem Scharfschützen getö- Tagen ein Komitee aus elf Richtern ein, die tet. eine Verfassungsänderung ausarbeiten soll- ten, um die Kandidatur für die Präsidentschaft Als Reaktion auf die Geschehnisse des Vor- zu vereinfachen und die Amtszeit zu begren- tags errichteten die Demonstranten am 3. Fe- zen. Damit wurde eine erste Teilforderung der bruar Barrikaden um den Tahrir-Platz, um sich Demonstranten erfüllt. Allerdings kam es noch vor weiteren Attacken zu schützen. Trotzdem immer zu keiner Auflösung der Proteste. Die kam es wiederholt zu Übergriffen auf die Re- Menschen forderten weiterhin den sofortigen gierungsgegner: Mehrfach wurden Brand- Rücktritt Mubaraks. bomben geworfen und auch von gezielten Schüssen von den umliegenden Häusern Das gewalttätige Vorgehen der Regierung wurde berichtet. Nachdem die Armee mit Sta- gegen die Demonstranten hatte viele Opfer cheldraht den Platz abgesperrt hatte und wie- gefordert. Nach offiziellen Angaben starben der verstärkt für den Schutz der bei den Protesten 846 Menschen durch die Demonstranten eintrat, richteten sich die Be- Hand des Regimes. Weitere 6.000 wurden setzer des Tahrir-Platzes in den folgenden verletzt. Hätte sich die Regierung schon in Tagen darauf ein, in der Situation zu verhar- den ersten Tagen der Demonstrationen zu Zu- ren. Privatpersonen und Organisationen, allen geständnissen bereit erklärt, so hätte sie voran die Muslimbruderschaft, organisierten eventuell den großen Zulauf der Protestbe- eine Infrastruktur, die eine Versorgung mit Le- wegung unterbinden und die Aktivisten in sich bensmitteln, Zelten und sanitären Anlagen si- spalten können. cherstellte. Immer wieder gab es Szenen religionsübergreifender Solidarität, wenn An- Für den Großteil der Demonstranten stand hänger beider Konfessionen sich gegenseitig fest, dass sie keine Kompromisse eingehen bei ihren Gebeten schützten. Einige von ihnen würden. Gerade die junge Generation der De- hielten als Zeichen der Koexistenz der beiden monstranten, die noch unter keinem anderen Religionen unter dem Vorzeichen der ägypti- Präsidenten als Mubarak gelebt hatte, wurde schen Nation Kreuz und Koran in den Hän- durch die Revolutionsbewegung zum ersten den. Mal politisch aktiv. Sie hatte die Hoffnung, mit einem Sturz der Regierung und einer Ände- Auf der politischen Bühne reduzierten sich die rung des Systems für ihre eigene Zukunft und Optionen des Regimes auf ein Minimum. die ihrer Kinder eine bessere Perspektive Während am Anfang befürchtet wurde, die schaffen zu können. Regierung könnte den Aufstand mit Gewalt im Keim ersticken, wurde spätestens nach der Während sich in den Tagen vor dem Rücktritt Solidarisierung des Militärs mit den Demon- ein Stillstand der Verhandlungen abzeichnete, stranten deutlich, dass die Machthaber einen was einen ungewissen Ausgang erwarten anderen Weg finden mussten. Trotz der Ver- ließ, kam es doch kurz darauf am 10. und 11. suche von Seiten Mubaraks, die Protestbe- Februar zu einem schnellen, weitgehend wegung zum Einlenken zu bewegen, indem friedlichen Ende des Regimes. Am 17. Tag er ihr Zugeständnisse machte, kam es nicht des Aufstandes tagte der Oberste Militärrat zu einem Ende der Proteste. Suleiman lud am wiederholt ohne seinen Oberbefehlshaber 6. Februar Vertreter der Oppositionsparteien Hosni Mubarak und erklärte die Forderungen und der Jugendbewegungen sowie den kop- der Bewegung für legitim. Dies deutete auf tischen Großunternehmer Naguib Sawiris, einen signifikanten Bruch zwischen militäri- einen Vertreter Mohammed ElBaradeis und scher Elite und Mubarak hin, sodass die Spe- Anhänger der Muslimbruderschaft ein, mit kulationen zunahmen, Mubaraks Rücktritt dem Ziel, ein Komitee zu gründen, das über stehe unmittelbar bevor. Jedoch trat Mubarak Verfassungsänderungen hinsichtlich der in seiner Fernsehansprache am Abend des nächsten Präsidentschaftswahlen im Sep- 10. Februars nicht wie erwartet zurück, son- tember beraten sollte. Dieses Komitee wurde dern gestand zunächst eigene Fehler ein und später als “Rat der weisen Männer“ Bekannt. versicherte eine Verfolgung derer, die für die Gamal Mubarak wurde der Posten des Ge- Tötung der Demonstranten verantwortlich neralsekretärs der NDP entzogen. An dessen waren. Mubarak übergab darüber hinaus Teile Stelle trat Hussam Badrawi21, der jedoch noch seiner Befugnisse an den Vizepräsidenten, vor dem Rücktritt Mubaraks das Amt wieder versicherte jedoch, das Amt des Präsidenten aufgab. Mubarak berief an den folgenden nicht aufzugeben. Auch der Ausnahmezu-

21 Hussam Badrawi war innerhalb der NDP als Reformer bekannt und seine Ernennung wurde von den De- monstranten als Zugeständnis empfunden.

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stand blieb weiterhin in Kraft. Die zuvor aus- minister. Seine Person ist jedoch alles andere gelassene Stimmung auf dem Tahrir-Platz als unumstritten, da er gemeinhin als Protégé schlug augenblicklich um. Die wütende Mubaraks gilt. Nach dem Rücktritt Mubaraks Masse zog unter Protestrufen in Richtung des traten auch Omar Suleiman sowie weitere Präsidentenpalasts. hochrangige Regierungsmitglieder von ihren Ämtern zurück. Die Konten Mubaraks und Für den 11. Februar wurde zur größten De- seiner Familie wurden eingefroren. Mubarak monstration seit Beginn des Aufstandes auf- erhielt ein Ausreiseverbot und wurde unter gerufen. Am Morgen trat der Oberste Militärrat Hausarrest gestellt erneut zusammen. Mubarak ließ wissen, dass ein Mitglied aus dem „Rat der weisen Männer“ IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- nach dem Rücktritt des vorigen Premiermi- lings“ nisters Ahmed Shafiq das Amt übernehmen solle, um als Vermittler zwischen Regierung Auf der Welle der Euphorie ergriff die ägypti- und Opposition zu fungieren. Am selben Tag sche Jugend Eigeninitiative: Es gründeten wurde Essam Abdel Aziz Sharaf zum Pre- sich Gruppen, die sich um die Müllbeseitigung mierminister Ägyptens ernannt, was von wei- auf den Straßen kümmerten, andere ersetz- ten Teilen der Oppositionsbewegung begrüßt ten die zunächst noch abwesenden Ver- wurde. kehrspolizisten und regelten den Verkehr auf den großen Straßen, wieder andere zogen Am Mittag des 18. Tags der Demonstrationen mit Pinsel und Farbe durch die Städte und er- versammelten sich bis zu einer Million Men- neuerten die Bordsteinmarkierungen. Es schen auf dem Tahrir-Platz und bis weit in die folgte jedoch schnell erste Ernüchterung. Der Nebenstraßen hinein. Auch in anderen Städ- Demokratisierungsprozess und die Verurtei- ten Ägyptens wie Mansoura, Mahala, Tanta, lung der ehemaligen Regimeanhänger gehen Alexandria, Ismailiya und Suez gingen meh- vielen der Demonstranten bislang nicht rere hunderttausend Menschen auf die schnell genug voran. Straße. In Kairo zogen mehrere Tausend Re- gimegegner vom Tahrir-Platz zum Präsiden- Im Frühsommer flammten die Proteste wieder tenpalast und vor das Gebäude des auf, wenn auch bei weitem nicht in dem Maße staatlichen Fernsehsenders. Die Weltöffent- wie zuvor. Am 9. April starben erneut zwei lichkeit schaute in diesen Stunden auf Ägyp- Menschen bei Zusammenstößen mit der Po- ten. Als erster hochrangiger europäischer lizei. In der Folgezeit campierten die Demon- Politiker bezog der dänische Premierminister stranten auf dem Tahrir-Platz und Lars Lokke Rasmussen Position und forderte beabsichtigten dort auszuharren, mit dem den sofortigen Rücktritt des ägyptischen Prä- Ziel, die ehemaligen Regimegrößen vor Ge- sidenten. richt zu stellen, alle Minister der alten Regie- rung auszutauschen und den Andere europäische Politiker schlossen sich Demokratisierungsprozess zu beschleunigen. im Laufe des Tages an. In den Nachrichten Bisher hatte der Premierminister der Über- kam es zu Spekulationen über den Aufent- gangsregierung, Essam Sharaf, nur gut die haltsort des Präsidenten, es wurden Vermu- Hälfte der Ressorts neu besetzen können. tungen laut, er habe das Land bereits Trotz der andauernden Proteste wurde das verlassen. Bilder aus Alexandria und Kairo neue Kabinett am 21. Juli 2011 durch Hussein zeigten Militär und Marine, die sich um die Tantawi vereidigt. Demonstrationszüge positionierten und die Menschen mit Lebensmitteln und Wasser ver- Die Verhandlung gegen Mubarak, seine sorgten. Söhne, den ehemaligen Innenminister Habib al-Adly und weitere regimenahe Größen Um 18.00 Uhr Ortszeit trat Omar Suleiman wurde am 3. August 2011 eröffnet. Die An- vor die Presse. In einer knappen Ansprache wälte der Angeklagten spekulieren auf einen gab er den Rücktritt des ägyptischen Präsi- langen Prozess. Die Vorwürfe lauten Korrup- denten Hosni Mubarak bekannt. Alle Befug- tion, Veruntreuung und Amtsmissbrauch. Dar- nisse wurden dem Obersten Militärrat unter über hinaus soll geklärt werden, inwieweit Leitung von Hussein Tantawi übergeben. Die- Mubarak und seine Söhne die Übergriffe auf ser hatte selbst eine lange Militärkarriere Demonstranten angeordnet und ihren Tod bil- durchlaufen und war seit 1991 Verteidigungs- ligend in Kauf genommen haben. Die Ange-

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klagten weisen alle Vorwürfe zurück.22 Auch Möglichkeiten der Partizipation im Alltag gibt, die Wirtschaft Ägyptens hat noch mit den denn für viele bedeutete Demokratie – wenn- Nachwehen der Revolution zu kämpfen. Nach gleich sie diese in ihrem Land nicht erfuhren dem ersten wirtschaftlichen Kollaps während – bisher ausschließlich das Recht auf freie der Revolution, als der Handel an der ägypti- Wahlen. schen Börse ausgesetzt wurde da die Aktien- kurse innerhalb von 15 Minuten um 6,25% V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure gefallen waren, stabilisiert sich die Lage Ägyptens jetzt langsam wieder. Wichtige Wirt- Bereits am 19. März 2011 wurden die Ägypter schaftszweige wie der Tourismus beginnen zum ersten Mal an die Wahlurnen gebeten. wieder anzulaufen und die Gebühreneinnah- Es ging um ein Verfassungsreferendum, das men des Suezkanals sind aufgrund anwach- über Veränderungen an der alten Verfassung sender Exporte aus Indien und Ostasien entscheiden sollte, die nach dem Sturz der sogar um 10% gestiegen. Insgesamt wird je- Regierung außer Kraft gesetzt worden war. doch ein Rückgang des BIP in 2011 um 2,5% Hierbei sollte nicht eine neue Verfassung aus- erwartet. Dies liegt vor allem am Fernbleiben gearbeitet, sondern die alte nur korrigiert wer- der ausländischen Investitionen. Die großen den, um baldige Neuwahlen und ein Ende der Geldgeber aus den Golfstaaten befürchten Übergangsregierung zu ermöglichen. Die Än- dauerhafte Instabilität aufgrund des Umstur- derungen betrafen in erster Linie die Amtszeit zes und haben ihr Investitionsvolumen deut- und die Befugnisse des Präsidenten sowie lich heruntergefahren. Seit Beginn des Jahres die Abschaffung des Artikels 179, da dieser sind die Devisenreserven um 25% zurückge- von der Regierung Mubarak unter dem Deck- gangen. Ein viel versprechendes Signal kam mantel der Terrorbekämpfung dazu benutzt unterdessen im Mai dieses Jahres vom G8- worden war, die Grundrechte der Bevölkerung Gipfel, auf dem man sich unter dem Namen massiv einzuschränken. Insgesamt sprachen Deauville Partnership für eine finanzielle sich 77% der Wähler – bei einer Wahlbeteili- Unterstützung Tunesiens und Ägyptens aus- gung von rund 41% – für die Verfassungsän- sprach. Darüber hinaus sicherten der Inter- derung aus.23 Gegenstimmen kamen vor nationale Währungsfonds (IWF) und die allem aus den Jugendbewegungen sowie von Weltbank ein Finanzpaket von insgesamt 7,5 Seiten der Oppositionsführer Mohamed El- Mrd. USD für Ägypten zu. Weiterhin gab es Baradei und Amr Moussa, die anstelle einer auch positive Resonanz von Investoren aus Verfassungskorrektur die Ausarbeitung einer Ägypten selbst und dem Golfkooperationsrat, neuen Verfassung vorgezogen hätten. Darü- die bereits mehr als 8,4 Mio. USD in den Ende ber hinaus bemängelten sie, dass die Zeit bis Mai eingerichteten „Zukunft Ägypten”-Fond zu den Neuwahlen nicht ausreiche, damit sich (arabisch: Misr al-Mustaqbal) investiert auch die neuen und kleinen Parteien im Par- haben. teienspektrum etablieren könnten. Die Partei- enlandschaft Ägyptens ist, wie bei anderen Vor allem kann man jedoch sagen, dass der autoritären Regierungen, sehr unterentwi- arabische Frühling in Ägypten erfolgreich ein ckelt. Obwohl Ägypten laut Verfassung ein Interesse und Engagement für die Partizipa- Mehrparteiensystem ist, gab es vor der Re- tion im politischen Entscheidungsprozess ge- volution außer der NDP faktisch keine einzige weckt hat. In verschiedenen Institutionen Partei, die auf politischer Ebene Einfluss neh- haben die Mitarbeiter bereits von sich aus be- men konnte. Insgesamt haben die ägypti- gonnen, interne Wahlen zu veranstalten und schen Parteien bisher keinen großen Interessenvertretungen zu gründen. An eini- Rückhalt in der Bevölkerung erreichen kön- gen Universitäten haben die Fakultäten in Ei- nen. Dies lag vor allem daran, dass sie durch geninitiative angefangen, neue Dekane zu die Einflussnahme der Regierungspartei NDP wählen und in einem Kairoer Krankenhaus keine nennenswerten Wahlsiege erringen schlossen sich die Mitarbeiter zu einem Be- konnten, um aktiv am politischen Entschei- triebsrat zusammen, um den regimetreuen dungsprozess teilzunehmen. Einigen der Op- Krankenhausleiter abzusetzen. Die Ägypter positionsgruppen wurde eine fangen an, sich zu informieren, was es für „Scheinopposition“ vorgeworfen, denn sie op-

22 Der frühere Innenminister Habib al-Adly wurde bereits vor Gericht gestellt und am 6. April wegen Geld- wäscherei und persönlicher Bereicherung für schuldig befunden und zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Wei- tere Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft wurden eingeleitet. Ihm wird vorgeworfen, während der Revolution den Befehl zur Tötung und Folterung der Demonstranten gegeben zu haben. Sollte er oder Mubarak in diesem Punkt für schuldig befunden werden, droht ihnen die Todesstrafe. Anschuldigungen, Habib al-Adly sei in die Anschläge auf die koptische Kirche 2011 involviert, wurden bisher nicht bestätigt. 23 Vgl. http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-12801125, abgerufen am 21.09.2011.

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ponierten in Absprache mit der Regierung. schen Elementen, wie einer Rechtssprechung Stärker demokratisch orientierte Gruppen auf Grundlage der Scharia. Für Christen und waren meist nicht ausreichend organisiert und Juden soll es jedoch besondere Gesetzesre- fanden außerhalb der bürgerlichen Schichten gelungen geben, die ihrer Religion angepasst der Großstädte keine Anhänger. Die wenigen sind, beispielsweise beim Ehe- und Erbrecht. oppositionellen Politiker, die auch in der brei- Bereits unter den über 8.800 Gründungsmit- ten Bevölkerung anerkannt waren, fielen gliedern befanden sich 93 Kopten, weitere wiederholt Scheinprozessen zum Opfer, die 978 Gründungsmitglieder waren Frauen. sie für längere Zeit ins Gefängnis brachten. Dies galt zum Beispiel für Aiman Nur, den Bis August existierten in Ägypten 46 Parteien Präsidentschaftskandidaten der Ghad-Partei und politische Gruppierungen, die sich von 2005, welcher erst nach gut drei Jahren schwerpunktmäßig in drei Zeiträumen grün- im Februar 2009 aus der Haft entlassen deten. Knapp die Hälfte wurde noch vor den wurde. Ihm wurde vorgeworfen, er habe Do- Wahlrechtsreformen 2005 gegründet, vorwie- kumente gefälscht, um die Ghad-Partei 2004 gend Ende der 1970er, Anfang der 1980er gründen zu können. Jahre. Im Zuge des Referendums und der an- schließenden Wahlrechtsreform 2005 regis- Eine Parteigründung hing in Ägypten bisher trierten sich weitere sieben Parteien, unter sehr stark vom Gutdünken des zuständigen ihnen die Ghad-Partei von Aiman Nur, die aus Ausschusses des Shura-Rates24 ab, der mit der bereits 1978 gegründeten Wafd-Partei Anhängern der Regierungspartei besetzt hervorging. Bei den Wahlen gehörten jedoch war.25 Eine Vereinfachung der Regelungen nur zwei der sieben im Parlament vertretenen zur Gründung von Parteien war eine zentrale Parteien zu den „Wahlrechtsreformparteien“: Forderung der Protestbewegung, die der die Ghad-Partei und die Demokratische Frie- Oberste Militärrat Ende Februar erfüllte, um denspartei. Die nächste Gründungswelle die Entwicklung einer ägyptischen Parteien- folgte im Anschluss an die Revolution 2011. landschaft voranzubringen.26 In Ägypten gab Bisher konnten sich drei Parteien registrieren es bis zur Revolution 2011 mehr als 20 regis- und weitere drei erwarten ihre offizielle Be- trierte Parteien, von denen bei den Wahlen stätigung. Darüber hinaus verfügen politische 2010 sieben einen Sitz im Parlament errei- Bewegungen wie die bereits genannte „Be- chen konnten. Die stärkste Opposition, ob im wegung 6. April“, Kifaya und die „Union für Parlament vertreten oder nicht, bleibt die den Wandel“ über politisch-gesellschaftlichen Muslimbruderschaft, deren Mitglieder seit Einfluss. Sie streben voraussichtlich nicht an, 1984 als unabhängige Kandidaten bei Wah- sich als Parteien zu etablieren, sondern ver- len antreten. Trotz ihres Wandels zu einer Or- stehen sich als soziales Bündnis mit politi- ganisation mit vornehmlich sozialdienstlichem schen Forderungen. Die Mitglieder dieser Charakter, darf die Muslimbruderschaft nicht Bewegungen sind zum Teil nicht nur in einer als religiöse Wohlfahrtsorganisation unter- der Bewegungen aktiv, sondern bekennen schätzt werden, denn ihre Forderungen sich darüber hinaus zu einer etablierten Par- waren und sind hochpolitisch. Laut der ägyp- tei wie der Ghad-Partei oder sind Mitglied der tischen Verfassung dürfen sich Parteien bis Muslimbruderschaft. Durch die virtuelle Ver- heute nicht auf einer Religion basierend grün- netzung haben die Bewegungen eine flache den, jedoch sind nicht alle Parteien deshalb Hierarchie mit fließenden Übergängen zu an- säkular.27 Die Muslimbruderschaft gründete deren Organisationen. Bis jetzt haben sich am 30. April 2011 eine eigene Partei unter fünf Kandidaten für die kommende Präsident- dem Namen „Partei für Freiheit und Gerech- schaftswahl offiziell aufstellen lassen. Zu tigkeit“. Anders als in der Vergangenheit for- ihnen gehört der Gründer der „Union für den dert die Partei keine theokratische Staatsform Wandel“ Mohamed ElBaradei. Als die ersten mehr, sondern eine Demokratie mit islami- Unruhen ausbrachen, kehrte er nach Ägypten

24 Der Shura-Rat wurde in Ägypten 1980 per Verfassungsänderung eingeführt. Er fungiert als zweite Kam- mer des Parlaments (besitzt also auch gesetzgebende Kompetenz) und besteht aus 264 Mandaten (je- weils für sechs Jahre). Von diesen sind 174 gewählt und 88 durch den Präsidenten ernannt. 25 Dieser Ausschuss musste eine Genehmigung zur Gründung einer neuen Partei erteilen. Darüber hinaus brauchte es 50 Gründungsmitglieder, von denen 20 Teil der Volksversammlung und 25 von Beruf Arbei- ter oder Bauer sein mussten. 26 Gegenwärtig braucht eine Partei 5.000 Gründungsmitglieder. Die Partei kann dann direkt angemeldet werden, es ist keine Genehmigung mehr nötig. Über die Rechtmäßigkeit der Partei entscheidet ein rich- terlicher Ausschuss. 27 Es bekennen sich offiziell 52% der Parteien als primär säkular und 30% vertreten religiöse Grundsätze.

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zurück, um die Demonstranten auf der Straße gegeben, keinen eigenen Präsidentschafts- zu unterstützen und fungierte als ihr Sprach- kandidaten zu stellen. Die Kandidatur Fo- rohr in den Medien. Er genießt in Ägypten touhs sei eine persönliche Entscheidung große Popularität aufgrund seiner Rolle als gewesen und werde nicht von der Gruppe ge- Generaldirektor der Atomenergiebehörde fördert. Unter den parteigebundenen Kandi- IAEA während des Irakkriegs, als er sich daten, die Interesse an einer Kandidatur gegen die US-Regierung wandte und bestä- verlauten ließen, ist Aiman Nur der Bekann- tigte, dass der Irak nicht im Besitz von Mas- teste. Der Prozess gegen den Gründer der senvernichtungswaffen sei.28 Darüber hinaus Ghad-Partei und die anschließende Haft übte er heftige Kritik an der Doppelmoral der brachten ihm Sympathien in der Bevölkerung. amerikanischen Außenpolitik, wenn es um die An der Revolution beteiligte er sich aktiv und Nutzung von Atomenergie und Atomwaffen ging mit anderen Demonstranten auf die von Seiten Irans und Israels ging. Vor allem Straße, bis er aufgrund einer schweren Kopf- die aufgrund seiner Arbeit im Ausland seit verletzung ins Krankenhaus gebracht wurde. 1964 absolute Unabhängigkeit vom Regime Bisher konnte jedoch noch nicht abschließend Mubaraks steigerte seine Popularität in der geklärt werden, ob sich Aiman Nur aufgrund Bevölkerung, die ihn vermehrt als neutrale seines Gefängnisaufenthaltes überhaupt zur Person wahrnahm. Gegenstimmen kritisieren, Wahl aufstellen lassen darf. dass er das alltägliche Leben des ägyptischen Volkes nicht kenne, da er selbst den Großteil Weitere Kandidaten sind Sameh Ashour, Vi- seines Lebens im Ausland verbrachte hätte. zepräsident der Nasseristischen Partei, Re- Die Union für den Wandel sowie die „Neue faat El-Saeed, Präsident der eher Wafd-Partei“ haben ihm für die kommenden sozialistisch-säkularen Partei der Union für Wahlen ihre Unterstützung zugesichert, auch nationalen Fortschritt und gegenwärtiges Mit- wenn er als unabhängiger Kandidat antreten glied der Ratsversammlung, El-Sayyid el-Ba- wird. dawi, Präsident der Neuen Wafd-Partei, und Mamdouh Ramzi, ein koptischer Anwalt und Einer seiner stärksten Konkurrenten ist der Mitglied der Partei für freie, soziale Rechts- ehemalige Generalsekretär der Arabischen staatlichkeit. Wiederholt gab es Gerüchte, der Liga, Amr Moussa, der ebenfalls als unab- Chemienobelpreisträger Ahmed Zewail wäre hängiger Kandidat bei den nächsten Präsi- ein möglicher Kandidat für die Präsident- dentschaftswahlen antreten wird. Er hat als schaftswahlen. Dieser war während der Re- ägyptischer Botschafter, unter anderem bei volution nach Ägypten zurückgekehrt und den Vereinten Nationen, über 21 Jahre Er- hatte sich bereit erklärt, zusammen mit Aiman fahrung als Diplomat gesammelt und war von Nour in einem Komitee zur Verfassungsän- 1991-2001 Außenminister Ägyptens. Diese derung zu arbeiten. Darüber hinaus war er Verflechtung mit der Mubarak-Regierung wer- neben ElBaradei einer der Vermittler zwi- fen ihm heute manche Kritiker vor. Jedoch ge- schen den Jugendbewegungen und der Re- nießt er allgemein eine hohe Popularität gierung. Er selbst dementierte die Gerüchte aufgrund seiner kritischen Position gegenüber um seine mögliche Kandidatur, jedoch ist an- der Politik Israels und fordert, wie auch ElBa- zunehmen, dass ihm ein Posten als Berater radei, die Öffnung der Grenze zwischen in der neuen Regierung offen stehen wird. Ägypten und dem Gazastreifen. In einer Be- fragung während der Revolution gaben 26% Mögliche Kandidaten aus der aktuellen Re- der Befragten an, Amr Moussa als nächsten gierungsspitze haben bisher keine Kandida- Präsidenten zu favorisieren. tur bekannt gegeben. Zur Wahl stünden der aktuelle Präsident der Übergangsregierung Die drei weiteren unabhängigen Kandidaten und Vorsitzender des Obersten Militärrats, haben einen stark religiös geprägten Hinter- Mohammed Hussein Tantawi, und der wäh- grund: Zum einen der islamische Denker und rend der Revolution eingesetzte Premiermi- Jurist Hazem Salah Abu Ismail der besonders nister Essam Sharaf, der mit der Neuordnung durch seine Auftritte im Fernsehen einen des Kabinetts betraut war. Das Militär erklärte, hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Zum an- es habe nicht die Absicht, einen Kandidaten deren der Kandidat Abdel Moneim Abdoul Fo- für Präsidentschaftswahlen ins Rennen zu touh, der von der Muslimbruderschaft schicken. Über die Position Essam Sharafs ist ausgeschlossen wurde, um zu kandidieren. bisher nichts Konkretes bekannt. Die Muslimbruderschaft hatte zuvor bekannt

28 Für sein Engagement für friedliche Nutzung der Atomkraft und gegen den Missbrauch von Atomwaffen er- hielt er 2005 den Friedensnobelpreis.

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VI. Zukunftsszenarien gleich auf. ElBaradei kam auf nur rund 12% der Stimmen, rangiert damit jedoch immer Das junge Ägypten kämpft gegenwärtig mit noch auf den oberen Plätzen. Die Parla- der Realität der Post-Mubarak-Ära. Die erste mentswahlen sind ebenfalls für November Euphorie ist vorüber und vielen wird klar, dass 2011 angesetzt worden.29 Diese Terminset- eine funktionierende Demokratie, wirtschaftli- zung wird jedoch von einigen Beobachtern che Prosperität und gesellschaftliche Freiheit äußerst kritisch gesehen, da die kurze Zeit nicht über Nacht entstehen können. Sowohl kaum zur Bildung neuer Parteistrukturen die Jugend als auch deren Elterngeneration reicht. Vor allem die etablierten Muslimbrüder haben zuvor nie am demokratischen Prozess und die „schein-oppositionellen“ Parteien des teilgenommen. Sich selbst über politische ancient régime würden davon profitieren, da Zielsetzungen zu informieren und eine eigene sie das größte Mobilisierungspotential hätten. Meinung zu entwickeln, war bisher weder er- laubt noch erwünscht. Die Demonstranten Es wird erwartet, dass die Muslimbruder- hatten das Ziel verfolgt, das alte Regierungs- schaft mit der Partei für Freiheit und Gerech- system zu stürzen, um mit einer neuen Ver- tigkeit als stärkste Partei aus den Wahlen fassung ein demokratisches System zu hervorgehen wird. Insbesondere, da sie mit implementieren. Der gute Wille ist da; aller- ihrem Programm einen Spagat zwischen De- dings ist längst noch nicht in allen Köpfen an- mokratie, islamischer Gesetzgebung, Forde- gekommen, dass der Weg zur Demokratie ein rungen nach Freiheit, Gleichheit und sozialer Lernprozess ist. Nach dem Rücktritt Muba- Gerechtigkeit, sowie der Garantie der Grund- raks kam es auf internationaler Ebene zu rechte wagen wird. Inwieweit diese Themen Spekulationen und Prognosen über zukünf- in der Praxis vereinbar sind, wird sich zeigen. tige Entwicklungen auf politischer Ebene. Ei- Die Partei genießt auch außerhalb der Mus- nige Beobachter fürchteten zunächst, das limbruderschaft einen großen Rückhalt. Im Militär könne die Macht nach dem Sturz der Gegensatz zu den meisten Parteien haben Regierung an sich reißen und eine Militärdik- die Muslimbrüder schon jahrzehntelanges tatur installieren. Dies sollte man nicht ver- soziales Engagement bewiesen, was sich bei harmlosen, jedoch sieht es nach bisheriger den kommenden Wahlen bemerkbar machen Beobachtung nicht danach aus, dass dieses könnte. Viel mehr als eine strukturelle Demo- Szenario eintreten könnte. Gegenwärtig hat kratisierung braucht es in Ägypten ein gesell- sich eine ambivalente Stimmung entwickelt, schaftliches Umdenken, einen was die Rolle des Militärs in der Übergangs- demokratischen Lernprozess, damit die De- regierung betrifft. Gerade die etablierten Par- mokratie des Landes keine leere Hülle bleibt. teien drängen auf Wahlen in naher Zukunft Allen voran die muss Korruption, die sich und werfen dem Militär Verzögerungstaktiken durch alle Teile des öffentlichen Lebens zieht, vor, um selbst länger an der Macht zu bleiben. wirkungsvoll bekämpft werden. Dafür müssen Eine langfristige Machtübernahme durch das die involvierten Entscheidungsträger ausge- Militär ist jedoch nicht realistisch. tauscht werden und eine bessere Aufklärung und Sensibilisierung innerhalb der Bevölke- Insgesamt liegt der Fokus der Ägypter noch rung stattfinden.30 Es gibt jedoch noch weitere immer stärker auf der Person des Präsiden- Faktoren, durch die die Entwicklung der ägyp- ten als auf den Parteien. Viele haben sich be- tischen Gesellschaft zurzeit blockiert wird: Die reits für einen der Präsidentschaftskandidaten starre Hierarchie, in der das gesamte gesell- entschieden. Bei Umfragen in der letzten Zeit schaftliche Zusammenleben geregelt ist, er- lagen die unabhängigen Kandidaten weit schwert die Kooperation und die Entwicklung vorne. Laut einer Umfrage der staatlichen Zei- von interessengruppenübergreifenden Orga- tung al-Ahram liegen Abdel Moneim Abdoul nisationen.31 Nach der Vereidigung des Kabi- Fotouh und Amr Moussa mit jeweils 20% netts muss die Übergangsregierung als

29 Der Oberste Militärrat gab am 21. Juli 2011 das neue Wahlgesetz bekannt. Danach sollen die Hälfte der 504 Abgeordneten durch Verhältniswahlrecht und der Rest durch Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen bestimmt werden. Es sind alle Parteien mit mehr als 5.000 Gründungsmitgliedern zu den Wahlen zuge- lassen. 30 Im Zuge dieses Personalwechsels wurden im Juli dieses Jahres 582 hochrangige Polizeioffiziere in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. 31 So haben die ungeschriebenen Regeln die Gründung des Betriebsrats im Krankenhaus von Kairo im er- sten Versuch zum Scheitern gebracht, da sich die Ärzte weigerten, mit Pflege- und Verwaltungspersonal zusammenzuarbeiten. Erst nachdem man sich von einem internationalen Gewerkschaftsspezialisten hatte beraten lassen, erklärten sich die Ärzte bereit, mit allen Mitarbeitern in Kooperation zu treten. Die- ses Beispiel ist exemplarisch für die hierarchische Gliederung der Gesellschaft, die immer dann zu Stag- nation und Konflikten führt, wenn die Beteiligten nicht mit bestehenden Mustern brechen wollen.

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nächsten Schritt die Prozesse gegen die ehe- Der Sicherheitsapparat ist aus finanzieller und maligen Machthaber in Angriff nehmen. An rationaler Betrachtungsweise auf lange Sicht der Verzögerung des Prozessbeginns ent- untragbar, uneffizient und korrupt. Darüber zündeten sich Misstrauen und Unmut gegen- hinaus stellt ein illoyaler Sicherheitsapparat über den Verantwortlichen der ein Risiko für die innere Sicherheit dar. Es Übergangsregierung. Gegenwärtig fokussiert bleibt abzuwarten, wie eine neue Regierung sich die Öffentlichkeit verstärkt auf dieses mit dieser Herausforderung umgehen wird. Thema und provoziert Zweifel an der Unab- Zusätzlich zur ohnehin schon schwierigen hängigkeit von Justiz und Übergangsregie- wirtschaftlichen Situation Ägyptens würde rung. Die Entscheidungsträger müssen eine massive Streichung der Stellen des Mili- diesen Tendenzen gegensteuern, um zu ver- tärs und der Polizei gravierende Folgen hindern, dass sich die Bevölkerung in dieser haben. Das Beispiel Irak, wo die Armee nach Thematik verrennt und damit so den demo- der US-amerikanischen Invasion aufgelöst kratischen Fortschritt behindert. Eine weitere wurde, zeigt nur zu gut, wie destabilisierend Herausforderung für die neue Regierung wird eine solche Entscheidung sein kann. Eines die Umstrukturierung des Sicherheitsappara- bleibt jedoch ohne Zweifel zu konstatieren: tes sein. Die Ägypter haben den Umbruch geschafft und sind damit zum Vorbild für Menschen an- Die Sicherheitslage in Ägypten ist weiterhin derer arabischer Länder geworden. Was als angespannt und weder die Polizei noch die Protest der Jugend begann, entwickelte sich Sicherheitskräfte haben Interesse daran, dass zu einem Volksaufstand, der Millionen auf die sich dies in naher Zukunft ändert. Der An- Straßen brachte und eine Revolution wurde, schlag auf israelische Busse nahe des Ha- die das Ende des Mubarak-Regimes herbei- fenstadt Eilat am Roten Meer Ende August führte. Auch wenn die Ägypter mit dem Ziel sowie die Stürmung der israelischen Bot- nach einem demokratischen Regierungssys- schaft in Kairo Anfang September warfen ver- tem ein Ziel vor Augen haben, lässt sich der stärktes Licht auf den Status des Weg dorthin bisher nur umreißen. Erste Friedensvertrages. Zwar wird dieser von offi- Schritte sind getan, aber die Verzögerungen zieller Seite nicht generell in Frage gestellt. der letzten Wochen haben die Bevölkerung Eine weitere Abkühlung der Beziehungen zwi- erneut in Unruhe versetzt. Eine erste Stabili- schen beiden Staaten ist jedoch wahrschein- sierung wird zunächst von der neu gewählten lich. Dennoch sähe sich Ägypten bei einer Regierung und deren Reformen abhängen. Aufkündigung enormem internationalem Jedoch wird es auch innerhalb der Gesell- Druck ausgesetzt und würde wohl kaum wei- schaft einen Demokratisierungsprozess ter hohe Hilfszahlungen erhalten. Die Gründe geben müssen, da das Engagement des Vol- für eine Umstrukturierung sind jedoch nahe kes auch in Zukunft entscheidend für den Er- liegend: Sowohl die Polizei als auch die Si- folg der Demokratie sein wird. cherheitskräfte sind personell überbelegt, daher sehr bürokratisch und kostenintensiv. Sophie Awrege Vender

VII. LIteraturangaben

ASSAAD, RAGUI: Unemployment and Youth Insertion in the Labor Market in Egypt, in: Kheir-El-Din, Hanaa (Hrsg.): The Egyptian Economy. Current Challenges and Future Prospects, Cairo 2008, S. 133-178.

ASSEBURG, MURIEL: Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/stu- dien/2011_S17_ass_ks.pdf, abgerufen am 21.09.2011.

BRADLEY, JOHN R.: The Land of the Pharaohs at the Brink of a Revolution, New York 2009.

BUSH, RAY: Egypt. A permanent revolution?, in: Review of African Political Economy, Vol. 38 (2011), No. 128, S. 303-307.

COUNCIL ON FOREIGN RELATIONS/FOREIGN AFFAIRS: The New Arab Revolt. What Happened, What It Means, and What Comes Next, New York 2011.

Deutsches Orient-Institut 32 Libyen

Landesdaten Libyen Fläche1 2011 1.759.540 km² Bevölkerung2 2010 6.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 50 Ethnische Gruppen 2010 97% Berber und Araber, 3% andere

Religionszugehörigkeit 2010 97% sunnitische Muslime, 3% andere

Durchschnittsalter3 2010 24,5 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren4 2011 31% Bevölkerung über 65 Jahren5 2011 4% Lebenserwartung6 2010 74,5 Jahre Bevölkerungsprognose bis 20507 2010 9.800.000 Geburten pro Frau8 2009 2,6 Alphabetisierungsrate9 2010 88,4% Nutzer Mobiltelefone10 2009 5.004.000 Nutzer Internet11 2009 353.900 Nutzer Facebook12 2011 52.860 Wachstum BIP13 2009 2,1% BIP pro Kopf14 2010 16.999 USD Arbeitslosigkeit15 2004 ca. 30% Inflation16 2010 2,4% S&P-Rating17 2011 k. A. Human Development Index18 2010 Rang 53 (von 169) Bildungsniveau19 2010 Rang 37 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 44,0% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)20 Politische Teilhabe21 2010 2,8% Korruptionsindex22 2010 Rang 146 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp/ 3 CIA – The World Factbook. 4 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 5 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 6 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 7 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 8 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 9 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 10 CIA – The World Factbook. 11 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 12 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 13 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York 2010. 14 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 15 CIA – The World Factbook. 16 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 17 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 18 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 19 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

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Libyen konstatierten seinem System gerade aus dieser schwer zu verstehenden Ambiva- m August 2011 eroberten libysche Auf- lenz eine systemimmanente Stabilität. ständische mit Luftunterstützung der Dies war ein Trugschluss. INATO unter der Führung des Nationalen Übergangsrates die Hauptstadt Tripolis Seit dem Frühjahr 2011 befindet sich das und stürmten die Residenz des Machtha- Land in einem blutigen Bürgerkrieg, in bers Muammar al-Gaddafi, der sich seit- dem die al-Gaddafi treu ergebene Elite zu- dem auf der Flucht befindet. Bis zum nehmend zurückweichen muss, ohne bis- Frühjahr 2011 war Oberst Muammar al- lang gänzlich aufgeben zu wollen. Auf der Gaddafi die überragende Figur des politi- anderen Seite kämpften die Aufständi- schen Systems Libyens der letzten 42 schen im Osten des Landes um die an- Jahre. Seit er sich 1969 mit seinen „freien fänglich im ostlibyschen Benghasi Offizieren“ an die Macht geputscht und ansässige, mittlerweile teilweise nach Tri- den bis dahin regierenden König Idris I. polis verlagerte Nationale Übergangsre- gestürzt hatte, entwickelte er ein politi- gierung mithilfe einer durch den sches, wirtschaft- liches und soziales UN-Sicherheitsrat (Resolution 1973) ge- Sondergefüge, das sich ganz allein auf ihn stützten NATO-Luftunterstützung gegen fokussierte, sich durch ihn legitimierte die Truppen al-Gaddafis. Das Regime des und mit ihm aufs Engste verbunden war. einst verehrten „Bruder Führers“ ist nach Er war Libyen und Libyen war er – um es der weitgehenden Eroberung der Haupt- auf einen vereinfachten Nenner zu brin- stadt Tripolis am Ende. Daneben mehren gen. Als Machthaber mit der weltweit läng- sich Berichte über Menschenrechtsverlet- sten Regierungszeit schuf er in den letzten zungen und Folterungen auf beiden Sei- Jahrzehnten ein Staatskonstrukt, das bei- ten, Plünderungen und Engpässen bei der spiellos blieb. Ideologisch durch panara- Lebensmittel- und Energieversorgung. Die bistische, panafrikanische, sozialistische Loyalisten leisten teilweise noch erbitter- und nationalistische Ideen inspiriert, ten Widerstand, befinden sich aber in einer wollte er eine „neue Gesellschaft“, ein Situation des stetigen Rückzugs. Hoch- „neues System“, eine „neue basisdemo- burgen al-Gaddafis, wie seine Heimatstadt kratische Gesellschaft“ kreieren. , stehen unter Beschuss und die mili- tärische Oberkontrolle ist al-Gaddafi In der Realität schuf er stattdessen ein längst entglitten. Nun zeichnet sich ein mi- System der Angst, der Repression und der litärischer Erfolg der Rebellen mit Unter- autoritären Herrschaft, an dessen Spitze stützung der NATO ab, der vor wenigen nur al-Gaddafi die Entscheidungen traf Wochen noch unrealistisch erschien. Der und jegliche Kritik mit einer ausgeklügel- Fall Tripolis als Symbol für die Herrschaft ten „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Politik Gaddafis, die Eroberung seines Regie- unterband. Die Staatsstrukturen wurden rungssitzes Bab al-Azaziya und der nicht durch institutionalisierte oder legali- Umzug eines Teils des Nationalen Über- sierte Rahmenbedingungen geprägt, son- gangsrates in die gesamtlibysche Haupt- dern von Willkür, Patronage und stadt sind wichtige Zeichen für die Klientelismus. So verfügt Libyen bis heute enormen Fortschritte der Rebellen. Nun über keine Verfassung, da al-Gaddafi sie gilt es für den Nationalen Übergangsrat, als unnötig ablehnte. Bis zum Frühjahr ein „neues Libyen“ aufzubauen. 2011 galt Libyen als gesellschaftlich iso- liert, während gleichzeitig eine langsame Wenngleich der militärische Sieg nah er- wirtschaftliche und politische Öffnung ein- scheint, bleiben die Herausforderungen setzte, als in höchstem Maße repressiv, für das Post-Gaddafi-Libyen kolossal: während al-Gaddafi in den letzten Jahren Ohne demokratische Institutionen, ohne wieder zum international respektierten ein formaljuristisch legitimiertes politi- Partner aufstieg. Die meisten Beobachter sches System und ohne die Tradition von

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politischer Partizipation stehen die neuen I. Politisches System und gesellschaftli- politischen Führer, die Vertreter des Natio- che Entwicklungen nalen Übergangsrates unter Führung des Vorsitzenden Mustafa Abdul Jalil und Mah- In Libyen genoss al-Gaddafi lange Zeit eine mud Jibril, Vorsitzender des Exekutivrates, fast mystische Autorität, die durch sein Cha- vor der gewaltigen Aufgabe, in dem eth- risma, seinen pathetischen Habitus, seine nisch, tribal, regional und familiär zersplit- ideologische Propaganda und die Hoffnungen terten Staat Sicherheit zu gewährleisten, weiter Teile der Gesellschaft genährt wurde. Staatsstrukturen zu schaffen, die Trans- Vielen galt er als Held eines unabhängigen Li- formation zu einem demokratischen Li- byens, als Indikator für den Aufbruch in eine byen voranzutreiben, eine Verfassung andere Zeit, als Instrument zur Lösung der auszuarbeiten und Wahlen durchzuführen. postkolonialen Fesseln. Er galt als Symbol für Stützen können sie sich auf die enormen den libyschen Aufbruch, der dem Land Ruhe Ölressourcen, die das Land zu wirtschaft- und Wohlstand bringen sollte. lichem Wohlstand verhelfen können, und auf die Hilfe der internationalen Gemein- Libyen durchlief eine wechselvolle, konflikt- schaft. Die Form dieser Hilfe bleibt bislang reiche Geschichte im 20. Jahrhundert. Hier- noch nebulös. Visionen und Pläne für den bei muss betont werden, dass ein Übergang liegen vor, Maßnahmen für den zusammenhängendes libysches Staatsgebiet Wiederaufbau und den nationalen Aus- keine historischen Vorbilder kannte: Während söhnungsprozess zwischen Ost und West, der Westen des Landes („Tripolitanien“1) be- Siegern und Besiegten, tribalen Fraktio- reits im 7. Jh. vor Chr. von den Puniern be- nen, politischen Gruppen, Islamisten, ehe- siedelt worden war, später dann vom maligen Gaddafi-Getreuen und Römischen Reich beherrscht wurde und sich Kriegsgewinnlern müssen schnell getrof- stets eher nach Westen orientierte, blieb der fen werden. Sollte dieser Aussöhnungs- Osten, die , eher nach Osten ge- prozess und die Integration in den wandt. Seit dem 5. Jh. vor Chr. stand die Re- politischen Partizipationsprozess nicht ge- gion unter griechischem Einfluss, später dann lingen, wirtschaftliche Rückschläge die dominierten die schiitischen Fatimiden, das Hoffnung auf rasche Veränderungen bei Oströmische Reich oder die Mamluken im den Menschen zunichte machen und die Osten des Landes. Immer wieder wurde die Spaltungen innerhalb des Nationalen Region in mehrere berberisch-arabische Emi- Übergangsrates um Einfluss, Verteilung rate gesplittert; gehörte zur almohadischen und Zukunftsziele mit aller Macht aufbre- oder hafsidischen Dynastie oder zu Ägypten. chen, droht Libyen eine weitere Zerreiß- Diese historische Topographie prägt sozioö- probe, die sich als problematischer und konomische und gesellschaftliche Konflikte Existenz bedrohender darstellen könnte bis heute. Noch immer wird die Identität durch als der Kampf gegen al-Gaddafis System. die regionale Herkunft, weniger durch die Na- Gleichzeitig besteht allerdings auch die tionalität bestimmt. Dies lässt den Ausbruch berechtigte Hoffnung, dass mithilfe funk- der Aufstände im Osten des Landes, der Cy- tionierenden, transparenten und rechtlich renaica, auch als historische Kontinuität er- legitimierten Mechanismen der Übergang scheinen, immerhin bestand über zu einer Demokratie „libyschen Typus’“ Jahrhunderte hinweg zwischen West und Ost, gelingen kann. Bisher hat der Nationale zwischen Tripolitanien und Cyrenaica, eine Übergangsrat die Herausforderungen ambivalente Konkurrenzsituation. Getrennt weitgehend gemeistert. Es scheint daher durch die lebensfeindliche Wüstenregion, die nicht unmöglich, dass dies auch in Zu- als „natürliche Grenze“ diente, verband die kunft erfolgen kann – wenn Egoismen, ge- beiden Regionen wenig. Handel und kulturel- waltbereite Machtansprüche, traditionelle ler Austausch blieben gering, obwohl 1551 Animositäten und soziale Ungleichheiten durch das Osmanische Reich erstmals seit rö- hintangestellt werden, um gemeinsam den mischer Zeit wieder eine Vereinigung beider Wiederaufbau zu realisieren. Der Aufstand Landesteile stattfand.2 Während jedoch der in Libyen ist historisch und erfolgreich ge- Westen als Sitz des Paschas zu politischer wesen, doch erst in Zukunft wird sich be- und wirtschaftlicher Blüte gelangte, wurde der weisen, wohin der steinige libysche Weg Osten benachteiligt, sodass die historischen führt. Differenzen bestehen blieben. Als sich im 19.

1 Der Name Tripolitanien leitet sich aus den „drei Städten“ (= „tripolis“) Sabratha, Oea und Leptis Magna ab. 2 Bis heute besteht keine zusammenhängende Straßenverbindung zwischen den beiden urbanen Zentren Tripolis im Westen und Benghasi im Osten.

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Jahrhundert im Osten der Sanussi-Orden3 gen. Erst ab 1963 wurde eine zentral verwal- entwickelte, der als islamisch-sufische Bru- tete gesamtlibysche Administration, unterteilt derschaft eine starke integrale Bedeutung für in 13 Gouvernorate, eingeführt. Doch die die östlichen Einwohner erlangen sollte, Spaltung zwischen Ost und West blieb auch wuchsen die kulturellen Gräben weiter: Wäh- während der Monarchie bestehen: Während rend sich der Osten stärker islamisierte, Iden- sich die Einwohner des Westens mehrheitlich tität und Selbstvertrauen aus dem Glauben als Vertreter einer aufstrebenden Moderne schöpfte, blieb der Westen eher glaubenskri- wahrnahmen, betrachteten sie die eher reli- tisch und areligiös. giös und traditionell geprägten Bewohner der Cyrenaica als rückständig, konservativ und 1911 marschierten die Italiener in Libyen ein, reaktionär. das damals Provinz des Osmanischen Rei- ches war. Vor allem in der Cyrenaica erhob Diese Spaltung der libyschen Gesellschaft sich seitens der Anhänger des Sanussi-Or- sollte sich auch unter der Herrschaft al-Gad- dens massiver Widerstand gegen die koloni- dafis nur unwesentlich ändern. Vieles andere ale Bedrohung. Noch während des Ersten hingegen reformierte der „Bruder Führer“ ra- Weltkriegs schloss Idris, ein Enkel des Or- dikal. Sein Ziel war es, ein neues System mit densgründers Muhammad, Frieden mit Italien einer neuen Gesellschaftsordnung und einer und wurde 1920 zum ersten Emir der Cyre- neuen Hierarchie zu kreieren. Ausgangspunkt naica, zwei Jahre später auch von Tripolita- dieses Systems war die „Herrschaft der Volks- nien ernannt. Doch die Ruhe währte nur kurz: massen“ (arabisch: jamahir). Ideologische Idris floh nach Ägypten, die Italiener drängten Grundlage seines Systems wurde sein be- auf die Ausweitung ihres faschistischen rühmtes „Grünes Buch“ (arabisch: al-kitab al- Machtbereichs unter Benito Mussolini. Aller- akhdar), in dessen „Dritter Universaltheorie“ dings wehrte sich die Cyrenaica gegen die ita- (arabisch: nazzariya al-‘alamiya al-thalitha) er lienische Vereinnahmung: Zwischen 1922 1975 die Grundzüge seiner idealen politi- und 1931 führte Umar al-Mukhtar einen Gue- schen Staatsstruktur umreißt. Demzufolge rillakampf gegen die italienische Kolonialherr- müsse die Herrschaft allein vom Volk ausge- schaft, konnte aber nicht verhindern, dass hen, jegliche Repräsentation sei Schwindel, Libyen endgültig unter den Einfluss des Duce Parlamente unnütz, denn sie regierten nur geriet. Zwischen 1943 und 1951 verwalteten sich selbst, und Parteien ein nicht notwendi- die Briten dann militärisch das spätere Libyen. ges Übel, da sie in einer direkten Volksherr- Erst 1951 errang Libyen offiziell seine Unab- schaft den Willen der Menschen hängigkeit: König wurde Idris I. (1890-1983, beeinträchtigen und so eine Form der offenen reg. 1951-1969), der nach dem Ende des Diktatur darstellen würden. Nur wenn das Zweiten Weltkriegs und der italienischen Volk sich direkt regiere, sei wahre Demokratie Niederlage aus dem Exil zurückgekehrt war. realisiert, so al-Gaddafis Credo. Daraus folgte Als Enkel des Begründers des Sanussi-Or- für ihn die Schaffung eines eigenen politi- dens genoss er vor allem im Osten des Lan- schen Systems, der „Großen Sozialistischen des viel Rückhalt, konnte aber die hohen Libysch-Arabischen Volks-Jamarihiya“ (ara- Erwartungen an ein freies, vereintes Libyen bisch: al-Jamahiriya al-‘arabiya al-libiya al- nicht erfüllen. Seine Amtszeit war geprägt von sha’biya al-ishtirakiya al-‘uzma). In der Korruption und Misswirtschaft. Hinzu kamen Theorie handelt es sich um eine reine Basis- die Schwierigkeiten, die einzelnen Landes- demokratie, eine „Herrschaft der Volksmas- teile Tripolitanien, die Cyrenaica und das süd- sen“, in der das Volk die Entscheidungen von westliche zusammenzuführen, eine unten nach oben delegiert. So fungieren auf gemeinsame nationale Identität zu entwickeln kommunaler Ebene die 432 so genannten und die regionalen Differenzen zu überwin- „Volkskomitees“ als unterste Ebene der Ent- den. Um den eigenen regionalen Identitäten scheidungsgewalt. Sie sind nach al-Gaddafis Rechnung zu tragen, verfügte jeder Landes- Vorstellungen das Rückgrat des basisdemo- teil über eigene Parlamente und Regierun- kratischen Systems. In ihnen finden die ge-

3 1839 gründete der Mystiker Muhammad ibn Ali al-Sanussi al-Khattabi im saudi-arabischen Mekka den gleichnamigen sufistischen Orden. Er legte seine Glaubensvorstellungen in neun Büchern nieder, setzte sich stark mit zeitgenössischen Ideen des mystischen Islams, des Sufismus, und den diversen Bruder- schaften auseinander und lehnte die stereotype „Nachahmung“ von Rechtsentscheidungen (arabisch: taqlid) ab, indem er proklamierte, die besten Lehrmeinungen aller islamischen Rechtsschulen (arabisch: madhhab, Pl. madhahib) auszuwählen, um daraus die bestmögliche Quintessenz zu bilden. Dies stieß schnell auf Ablehnung von Seiten der etablierten Rechtsgelehrten in Kairo und Mekka, sodass er im li- byschen al-Bayda in der Cyrenaica sein Rückzugsgebiet fand. Dort verbreitete er seine Glaubensvor- stellung und kombinierte sie mit alltäglichen Vorgehensweisen, die Landwirtschaft, Handel, Infrastruktur und Bildungswesen positiv beeinflussten.

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sellschaftsrelevanten, politischen Debatten schen Staates“, als intellektueller Denker, und Diskussionen statt, hier können sich die weitsichtiger Visionär, Kämpfer für die Schwa- Bürger austauschen, indem ihnen ein Forum chen und Entrechteten, islamischer Reformer für direktpolitische Partizipation geboten wird. und treibende Kraft eines antiwestlichen Pan- Auf lokaler Ebene agieren die „Volkskon- afrikanismus und -arabismus kombiniert mit gresse“, denen auf nationaler Ebene der „All- sozialistischen und nationalistischen Elemen- gemeine Volkskongress“ (arabisch: ten nach Vorbild des ehemaligen ägyptischen mu’tammar al-sha’ab al-amm, vergleichbar Präsidenten General Gamal Abd al-Nasser. mit dem Parlament) übergeordnet ist. Dieser Schnell wurde deutlich, dass seine ideologi- wählt das Generalsekretariat und ernennt das schen Überlegungen, einen Staat zu schaf- „Allgemeine Volkskomitee“ (arabisch: al-lajna fen, der allein durch das Volk regiert wurde, al-shabiya al-amma), das mit dem Kabinett zu illusorisch und fiktiv anmuteten. Sogar er vergleichen ist. Die Vertreter der Volkskon- selbst schildert in seinem „Grünen Buch“, gresse, die sich zwei bis vier Mal jährlich tref- dass es sich bei dem vorgestellten System fen, verfügen in der Theorie über legislative um einen Idealtypus handele, in der Realität Entscheidungskompetenzen, indem sie Ge- aber stets die Starken herrschen würden. Zu setzesvorschläge einbringen und verabschie- denen zählte er sich, indem er außerhalb der den können sowie die Vertreter für den rechtlichen und politischen Rahmenbedin- Allgemeinen Volkskongress wählen. Diese gungen regierte. Hinzu kam, dass der Ent- Vertreter haben die Aufgabe, die auf kommu- scheidungsfindung von unten nach oben naler und lokaler Ebene getroffenen Ent- Stagnation als wesentliche Entwicklungsbar- scheidungen weiterzureichen. Außerdem sind riere innewohnte: Da jede Entscheidung meh- sie befugt, den allgemeinen Generalsekretär, rere hierarchische Ebenen durchlaufen muss, der als Vorsitzender des Allgemeinen Volks- wurden Beschlüsse über Jahre hinweg ver- komitees und damit als nominelles Staats- zögert, verwässert, torpediert und manipuliert, oberhaupt bzw. Premierminister fungiert, sodass in der Realität ein System entstand, sowie die Sekretäre (vergleichbar mit Minis- das in höchstem Maße ineffizient, korrupt, tern) des Allgemeinen Volkskongresses zu intransparent, bürokratisch und unverantwor- wählen. tungsbewusst war. Da in der Theorie alle die Verantwortung trugen, lehnte sie de facto Was in der Theorie wie die Idealversion einer jeder ab. Da so am Ende niemand entschei- basisdemokratischen, direktpartizpatorischen den durfte, wurde die Entscheidung immer Willensbeteiligung aller anmutet, mutierte in weiter nach oben gegeben und zentrierte sich der Realität jedoch schnell zu einem Fassa- auf al-Gaddafi. Die damit ausgelöste Stagna- densystem, in dem nur eine Stimme zählte: tion und Lähmung des Staatsapparates die von Muammar al-Gaddafi. Obwohl er aus durchdrang jede gesellschaftliche, politische politischem Kalkül über kein offizielles Staats- und wirtschaftliche Dimension des Staates amt verfügte, wurde in der Vergangenheit und wurde zum grotesken Charakteristikum keine Entscheidung ohne ihn getroffen. Das dieses „basisdemokratischen” Experiments. basisdemokratische System legitimierte viel- mehr seine autokratische Herrschaft, indem Am Ende blieb al-Gaddafi als einzige Ent- Kontrollinstanzen fehlten, die Genese von zi- scheidungsinstanz. Ohne offizielle Funktion vilgesellschaftlichen Institutionen verhindert gerierte er sich als Konstrukteur der wesent- und parteipolitische Akteure verboten wurden. lichen politischen, wirtschaftlichen und ideo- Stattdessen konstruierte al-Gaddafi ein durch logischen Entscheidungen, als Akteur mit ihn legitimiertes und von ihm abhängiges per- allumfassender Richtlinienkompetenz, der sonalisiertes Netzwerk, das weder Teil des of- nach Belieben schalten und walten konnte. fiziellen Staatssystems noch zur Hinzu befand er sich als – nach offizieller Les- Verantwortung zu ziehen war. Er bestimmte art – externer politischer Akteur in der ange- de facto die politischen Leitlinien, Verwal- nehmen Situation, in Krisenzeiten die tungspositionen und Minister und besetzte of- Regierung kritisieren oder austauschen zu fizielle Posten. Dies führte dazu, dass die können, Verantwortung für die alltäglichen Entscheidungen von einem engen „inneren Problemfälle abzulehnen und eher als Archi- Zirkel“ getroffen wurden, der al-Gaddafi nahe tekt denn als Ingenieur der libyschen Staats- stand und isoliert agieren konnte.4 Al-Gaddafi geschäfte zu gelten. Obwohl er die Prämisse selbst schuf sich ein Denkmal als „Übervater vertrat, dass niemand über niemanden herr- der Revolution“, als „Erbauer des neuen liby- schen dürfe, fokussierte sich die reale Staats-

4 Davon zeugt z. B. die Tatsache, dass zwischen 1969 und 1999 insgesamt nur 112 Minister nominiert wur- den, was auf unzureichende Durchlässigkeit der politischen Ämter sowie auf die Abhängigkeit von der Gunst al-Gaddafis hindeutet.

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gewalt Libyens in seinen Händen. Dabei und familiären Rahmen, der durch eine patri- stützte er sich von Beginn seiner Herrschaft archalische Hierarchisierung strukturiert ist. auf ein Netzwerk, das als eigentlicher „Staat Erst aufgrund innerer und äußerer Konflikte in im Staate“ agierte und nur über individuelle den 1980er Jahren änderte al-Gaddafi seine Loyalitätsbindungen zu ihm zusammengehal- Strategie, weil er auf die Loyalität der wichti- ten wurde. Als intransparentes Patronage- gen Stammesfürsten angewiesen war und system machte sich al-Gaddafi wesentliche verfolgte von nun an eine Politik der Retriba- traditionelle libysche Gesellschaftsstrukturen lisierung. Die Stämme garantieren in Libyen zunutze, obwohl er sich zumeist als modern seit Jahrhunderten die soziale Sicherheit des und aufgeklärt gab. So stützte er sich auf Individuums, das sich auf seinen tribalen Stammes- und Familienstrukturen und baute Rückhalt verlassen kann. In Abwesenheit von neben den basisdemokratischen Institutionen zentralstaatlichen Sicherungsmechanismen nicht-gewählte revolutionäre Institutionen auf, übernehmen sie die Versorgung und den die als parallel agierendes informelles Macht- Schutz und sorgen für ein gewisses Maß an zentrum fungierten und oftmals gegenläufige wirtschaftlicher Sicherheit. Insbesondere Entscheidungen trafen. So gründete al-Gad- durch den Mangel an politischen Instrumen- dafi 1977 die so genannten „Revolutionsko- ten unter Gaddafi, der Ausbreitung von Will- mitees”, die ebenso wie er keine offizielle kürherrschaft und der Absenz von staatlichen Funktion im politischen System einnahmen, Regeln und Effizienz nahm der Einfluss der aber die basisdemokratischen Entscheidun- Stämme als sozialer Anker wieder zu. So ver- gen vehement beeinflussten und zunehmend fügen nach wie vor 85% der libyschen Bevöl- den politischen Weisungsprozess beeinträch- kerung über enge tribale Wurzeln, obwohl der tigten und torpedierten. Zusätzlich stützte er Urbanisierungsgrad etwa gleichhoch liegt, sich auf die so genannten „Männer des Zel- was in der Regel zu einer Verwässerung tra- tes“ (arabisch: rijal al-khaimah), zu der neben ditioneller Strukturen führt. Die Stammesäl- seinen Familienangehörigen die Mitglieder testen genießen hohe Autorität und den seines Stammes Qadhafa gehören.5 Respekt der Mitglieder; zumeist verfügen sie über eine „noble“ Abstammung und einen ge- Vor allem seine tribale Anbindung gliederte wissen Wohlstand. sich in die traditionelle Lebensweise weiter Teile der libyschen Gesellschaft: Libyen ist Gaddafi selbst ist Mitglied des um Sebha und sehr stark durch den Einfluss der einzelnen Tripolis ansässigen Gadhafa-Stammes, dem Stämme dominiert und gilt als eine der am in der historischen innerlibyschen Stammes- stärksten tribal geprägten Gesellschaften der hierarchie wenig Bedeutung zukam. Mit Region.6 Insgesamt gibt es etwa 138-140 100.000-170.000 Mitgliedern unterteilt in Stämme (arab.: Sg. qabila, Pl. qaba’il) in Li- sechs Substämme verfügt der Stamm im Ver- byen, davon verfügen allerdings nur 20-30 hältnis nur über wenige Mitglieder. Der wich- über politischen Einfluss. Zu Beginn seiner tigste und größte Stamm Libyens mit etwa Herrschaft verfolgte Gaddafi eine antitribale einer Million Mitglieder ist der Warfala- Politik, wollte die traditionellen Stammesver- Stamm. Auch die Warfala gehörten zeitweise bände zerschlagen und verachtete sie als zum engen Netzwerk al-Gaddafis, wurden ko- rückständig, anachronistisch und unzivilisato- optiert und in das Patronagesystem integriert, risch. Er unterteilte das Staatsgebiet in unter- obwohl das Verhältnis ambivalent blieb. So schiedliche Zonen, die mehrere verschiedene scheiterte 1993 ein Putschversuch von War- Stammesverbände umfassten und zerriss fala-Stammesangehörigen, die sich bei der damit tribale Einheiten. Das tribale Bewusst- offiziellen Postenvergabe übergangen fühlten sein konnte er dadurch jedoch nicht nachhal- und gegen al-Gaddafi aufbegehrten. Bei den tig beeinträchtigen. Obwohl durch die im Frühjahr beginnenden Aufständen oppo- zunehmende Urbanisierung, die Modernisie- nierten sie gegen das Gaddafi-Regime und rung und Auflösung traditioneller Strukturen schlugen sich auf die Seite der Opposition. die individuelle Bindung an den Stamm nach- ließ, findet der Einzelne sozialen Rückhalt Auch der zweitgrößte Stamm, die Magarha, auch heute oftmals im traditionellen tribalen galt in der Vergangenheit als enger Verbün-

5 Wichtige Vertraute Gaddafis waren vor allem sein Cousin Ahmed Qadhaf al-Dam (verantwortlich für die ibysch-ägyptischen Beziehungen), Ahmed Ibrahim (Leiter des World Centre for Research and Studies on the Green Book), General Khuwaildi al-Humaidi (Generalinspekteur der Streitkräfte), Mustafa Kharroubi (früherer Leiter des militärischen Geheimdienstes) und Befehlshaber der Streitkräfte, Abu Bakr Yunis Jabr. Man bezeichnet sie auch als „Weggefährten des Führers“ (arabisch: rifaq al-qa’id). 6 In ihrer tribalen Struktur sind im Nahen und Mittleren Osten noch Jordanien und Jemen mit Libyen zu vergleichen.

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deter al-Gaddafis, wechselte aber ebenfalls sung, Demokratisierung, Stärkung der Men- auf Seiten der Aufständischen.7 Weitere wich- schenrechte und Liberalisierung ein. Er er- tige Stämme sind die Misurata im Nordwesten warb seinen Doktortitel an der London School (Benghasi und Darneh), al-Awaqir in Barqa, of Economics and Political Science8, studierte die Abdiyat in Tobruk, die Masamir in der Cy- in Wien und galt als wichtigster prowestlicher renaica, die al-Mujabra südwestlich von Tri- Ansprechpartner in al-Gaddafis System. polis, die Farjan westlich von Ajdabiya und Innenpolitisch setzte er sich für die Freilas- Masrata in Tripolis. sung von 100 Mitgliedern der libyschen Mus- limbruderschaft ein, prangerte in seinen Jahrzehntelang gelang es al-Gaddafi, die ein- Reden Korruption, die Verkrustung des Sys- zelnen, teilweise miteinander konkurrierenden tems und Rückschrittlichkeit an und initiierte und untereinander rivalisierenden Stämme 2003 eine Antifolterkampagne. Bei vielen Be- gegeneinander auszuspielen oder zu koop- obachtern galt er als designierter Nachfolger tieren, indem sie mit den Ölgeldern gekauft seines Vaters, womit Hoffnungen verbunden wurden. Mithilfe einer ausgeklügelten „Zu- wurden, dass die unstrukturierten, personali- ckerbrot-und-Peitsche“-Politik band er die sierten, hoch korrupten Zustände im liby- wichtigsten Stämme an sich. So wurde im schen System reformiert werden würden. Saif März 1997 ein Ehrenkodex erlassen, der es al-Islam wurde zugetraut, das System von erlaubte, staatliche Leistungen an einen innen zu wandeln, es moderner, effizienter, li- Stamm kollektiv zu entziehen, wenn sich beraler, offener, demokratischer und wirt- Stammesmitglieder oppositionell betätigen schaftlicher zu gestalten, um so die würden. Demzufolge rekrutierte er die wich- Verfehlungen seines Vaters schrittweise zu tigsten Kader seiner ihm treu ergebenen Spe- beseitigen. zialeinheiten aus dem Gadhafa-Stamm, marginalisierte die reguläre Armee und spielte Doch die Hoffnungen trogen. Während der die verschiedenen Einheiten gegeneinander Aufstände im Frühjahr stellte sich Saif al- aus. So konnte das Militär im Unterschied zu Islam schnell und kompromisslos an die Seite Tunesien oder Ägypten während des Auf- seines Vaters. Noch vor al-Gaddafi äußerte er stands keinen moderierenden oder befrie- sich in einer Fernsehansprache am 20. Fe- denden Einfluss nehmen und verlor neben bruar 2011 aggressiv und ausgesprochen Elitetruppen, Special Forces, paramilitäri- feindlich gegenüber den Demonstranten, schen Milizen oder Söldnern schnell an Ein- warnte vor dem Zerfall Libyens, einer Rezes- fluss. Viele Soldaten desertierten. sion und der Rückkehr des Kolonialismus. Be- waffnete Banden seien ebenso verantwortlich Neben den Stämmen und den Revolutions- für die Unruhen wie Drogenabhängige, aus- komitees bildeten vor allem die Söhne Gad- ländische Agenten und Medien sowie mili- dafis das Rückgrat des Regimes. So stützte tante Islamisten. Damit beschwor er die sich sein Sicherungsapparat immer stark auf stereotypen Feindbilder, die auch stets sein familiäre Bindungen. Ganz nach dem Motto: Vater bemühte. Kurz: Der Reformer hatte sich Blut ist dicker als Wasser. Dabei unterlief vor zu einem loyalen Sohn gewandelt, dessen ei- allem die Funktionsweise und Außendarstel- genes Schicksal eng an das seiner Familie lung seines ältesten Sohnes aus zweiter Ehe und seines Vaters geknüpft ist. Es scheint mit der Krankenschwester Safia Farkashi, demnach, als sei die Funktion Saif al-Islams Saif al-Islam (geboren 1972), in den letzten als Reformer in den vergangenen Jahren Monaten einen dramatischen Wandel. Saif al- nicht vielmehr als eine instrumentalisierte Islam galt in den letzten Jahren als Reformer, Scharade gewesen, um dem Westen ein Ge- aufgeklärter Kritiker und moderater Förderer sicht zu bieten, dem er vertrauen könne und der Demokratie im libyschen System und das seine Sprache spreche, ohne dass er je damit als Hoffnungsträger für die westliche wirklich über entscheidenden Einfluss verfügt Welt, die in ihn ihre Hoffnungen auf eine hätte. schrittweise Öffnung und Demokratisierung des rigiden Gaddafi-Regimes stützten. Als Neben Saif al-Islam galten vor allem al-Gad- Vorsitzender und Gründer der Gaddafi-Stif- dafis Söhne Mutassim Billah (geboren 1975), tung für Entwicklung trat er für mehr Transpa- Khamis (geboren 1980) und Saadi (geboren renz, eine unabhängige Justiz, 1973) als einflussreiche Figuren innerhalb Marktwirtschaft, die Einführung einer Verfas- des Patronagesystems und als unerlässliche

7 Der ehemalige Chef des Geheimdienstes, Abdullah Sanussi, gehört zu den Magarha. Stammesführer Abdel Sallam Jaloud galt jahrelang als enger Partner Gaddafis und Abdel Baset Al Megrahi wurde wegen seiner wahrscheinlichen Beteiligung am Lockerbie-Attentat 1988 verurteilt. 8 Die Arbeit trägt den Titel „Die Rolle der Zivilgesellschaft für die Demokratisierung globaler Regierungsin- stitutionen“ und steht unter Plagiatsverdacht.

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Vertraute des Vaters während der Aufstände. nalen Wirtschaftssanktionen, denen das Land So befehligte Mutassim die Präsidentengarde ausgesetzt war und die von den USA initiiert und wurde 2007 nationaler Sicherheitsbera- wurden. Bereits 1970 wurde Libyen von den ter, während Khamis mit der Brigade 32 seine USA auf die Liste der den internationalen Ter- eigene Militäreinheit leitete und für den rorismus unterstützenden Staaten gesetzt, Schutz seines Vaters mitverantwortlich zeich- zehn Jahre später erfolgte der Abbruch der di- nete. Saadi befehligte seit 2006 die Special plomatischen Beziehungen. Erste Wirt- Forces, wurde aber eher durch seine wenig schaftssanktionen wurden implementiert. Es erfolgreiche Karriere als Fußballprofi in Italien folgten militärische Konfrontationen zwischen berühmt: Hier kaufte er sich bei den Vereinen al-Gaddafi und seinem „Erzfeind“, den Ver- AC Perugia, Udinese Calcio und Sampdoria einigten Staaten. So veranlasste das libysche Genua ein, bestritt allerdings nur einige Spiele Regime den Bombenanschlag auf die Berli- und wurde 2003 wegen Dopingmissbrauch ner Diskothek La Belle am 5. April 1986. Zehn für drei Monate gesperrt. Er spielte außerdem Tage später erfolgten militärische Luftschläge für die libysche Nationalmannschaft und war der USA gegen Tripolis und Benghasi. Am 21. Vorsitzender des libyschen Fußballverbands. Dezember 1988 explodierte über dem schot- Hannibal (geb. 1977) verfügte als Leiter der tischen Lockerbie ein PanAm-Verkehrsflug- staatlichen Reederei General National Marti- zeug, 240 Passagiere kamen ums Leben. time Transport Company über Einfluss auf Lo- Verdächtigt wurde der libysche Geheimdienst. gistik und Wareneinfuhr, was insbesondere 1992 verhängten dann auch die Vereinten während der kriegerischen Auseinanderset- Nationen Wirtschaftssanktionen gegen Li- zung 2011 von Bedeutung war. So wurden im byen. Erst mit der Auslieferung der beiden August Meldungen veröffentlicht, die davon vermeintlichen Attentäter 1999 nach Den berichteten, dass Rebellentruppen einen mit Haag begann der Prozess der libyschen 300.000 Liter Benzin geladenen Tanker des Reintegration in die internationale Gemein- Gaddafi-Regimes kaperten und nach Ben- schaft. Al-Gaddafi erkannte, dass ihm auf ghasi lenkten. Verantwortlich für den Trans- Dauer seine wirtschaftliche und politische Iso- port des Benzins soll Hannibal gewesen sein. lation nicht nutzen würde und zeigte sich zu- In die Öffentlichkeit geriet er auch, als er 2008 nehmend kompromissbereit. Seine in der Schweiz verhaftet wurde, was zu einem Auffassung, die Rolle des „internationalen diplomatischen Eklat führte. So ließ sein Vater Outlaw“ werde seiner Reputation und der Sta- daraufhin zwei Schweizer Diplomaten verhaf- bilität Libyens nützen, revidierte er und suchte ten, die Öllieferungen einstellen, formulierte die Annäherung an den so verpönten Westen. abstruse Verschwörungstheorien und atta- Nach der Einstellung des libyschen Massen- ckierte die Schweiz massiv.9 vernichtungswaffenprogramms hoben auch die Vereinigten Staaten 2003-2004 ihre Wirt- II. Voraussetzungen für den Willen nach schaftssanktionen auf. Libyen war als inte- Wandel graler Bestandteil der internationalen Gemeinschaft wieder auf der Weltbühne zu- Dass sich die Unzufriedenheit in weiten Tei- rück, Gaddafi zeigte sich in der Folgezeit als len der Bevölkerung in Libyen in Form eines begehrter Gesprächspartner für hochrangige Bürgerkriegs niederschlagen sollte, hätten die Staatschefs aus aller Welt und genoss seine wenigsten Kenner des Landes erwartet. zurück gewonnene Reputation. Vor allem für Immerhin verfügt Libyen über 3,5% der welt- die Europäische Union (EU) blieb Libyen in weiten Ölvorkommen, was etwa 60 Mrd. Bar- der Vergangenheit aufgrund seines Ressour- rel entspricht. Hinzu kommen weitere 1,5 Bio. cenreichtums und der geographischen Nähe Kubikmeter Erdgas. Damit gehört Libyen zu zu Europa ein wichtiger strategischer Partner. den ressourcenreichsten Ländern der Erde. Für die EU und al-Gaddafi wurden so die Im Vergleich zu den ölreichen Golfmonar- Jahre in der Post-Sanktions-Ära zu einer Win- chien blieb die allgemeine Wohlstandsent- Win-Situation: Während Libyens Wirtschaft wicklung jedoch in den vergangenen Jahren wuchs, garantierte al-Gaddafi den besorgten weit hinter den Erwartungen zurück. Dies lag Europäern ein vehementes Vorgehen gegen unter anderem an den jahrelangen internatio- afrikanische Wirtschaftsflüchtlinge und wurde

9 Siehe u.a. SPIEGEL-Interview mit al-Gaddafi, 18/2010: „Sie [die Schweiz, S.S.] wollte über dem interna- tionalen Gesetz stehen. Und das hat die Schweiz zu einer Mafia gemacht.“ Al-Gaddafi behauptete auch, die Schweiz hätte mit Sterbehilfe gezielt unliebsame Gegner umbringen lassen: „Eine Reihe von Leuten ist unter diesem Vorwand gezielt aus dem Weg geräumt worden. Die Schweiz behauptet, die Betreffen- den hätten den Wunsch geäußert, sich das Leben zu nehmen. Dabei ging es in Wahrheit darum, an ihr Geld heranzukommen. Mehr als 7000 Menschen sind auf diese Weise gestorben. Ich rufe deshalb dazu auf, das Staatswesen der Schweiz aufzulösen.“

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zum engen Verbündeten im Kampf gegen den um die libysche Wirtschaft unabhängiger vom militanten Islamismus. Gleichzeitig profitierte Erdöl aufzustellen, wurden vernachlässigt. Li- die europäische Wirtschaft von dem enormen byens Wirtschaft blieb eine Monokultur. So Nachholbedarf, den Libyen nach Ende der vermied al-Gaddafi umfassende Wirtschafts- Sanktionen aufwies. Durch Investitionen in reformen, verhinderte eine weit reichende Öff- die Wasserwirtschaft, den Telekommunika- nung des libyschen Marktes und schuf keine tions-, Gesundheits- und Verkehrssektor und international gültigen rechtlichen Rahmenbe- die militärische Zusammenarbeit flossen Milli- dingungen, um ausländische Investoren ins ardensummen ins Land. Allein zwischen 2002 Land zu locken. Er agierte planlos, konzeptlos und 2005 stiegen die ausländischen Direktin- und willkürlich und verhielt sich gegenüber vestitionen von 145 Mio. USD auf 1,04 Mrd. ausländischen Geschäftsleuten ebenso wie USD und verzehnfachten sich damit beinahe. gegenüber seiner Bevölkerung mit einer „Zu- Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg im ckerbrot-und-Peitsche“-Strategie, gerierte selben Zeitraum von 3.563 USD auf 7.429 sich als exzentrischer Wüstenfürst, residierte USD, während sich das BIP von etwa 28 Mrd. in seinen pompösen Beduinenzelten und trat USD auf 44 Mrd. USD erhöhte. Allein zwi- in kuriosen Phantasieuniformen auf oder ließ schen 1998 und 2009 stieg das BIP von 27,3 Politiker und Geschäftspartner stunden- oder Mrd. USD auf 93,2 Mrd. USD. tagelang auf eine Audienz warten, ehe er ihnen seine kruden ideologischen Ansichten Trotzdem änderten sich die wirtschaftlichen in monologisierender Form näher brachte. Rahmenbedingungen für weite Teile der Ge- Kurzfristige Gesetzesänderungen wurden an- sellschaft kaum. Weiterhin blieb das System derntags zurückgenommen, der bürokrati- hochgradig korrupt, weiterhin profitierten nur sche Apparat kannte kaum systematische der Gaddafi-Clan und seine Günstlinge von Arbeitsabläufe und durfte nicht selbst ent- den neu generierten Mehreinnahmen und den scheiden. Erfolgreiche Geschäfte konnten ansteigenden ausländischen Investitionen. fast ausschließlich über persönliche Kontakte Vor allem die demographische Entwicklung zu den Klientelnetzwerken realisiert werden. führte zu gravierenden Problemen auf dem Korruption und Patronagestrukturen waren Arbeits- und Wohnungsmarkt. So vervier- längst zum wirtschaftspolitischen Alltag ge- fachte sich in den letzten 40 Jahren die liby- worden, indem freie Wirtschaft verhindert und sche Bevölkerung; bis 2050 soll sie auf ca. 10 personalisierte Netzwerke gefördert wurden. Mio. steigen. Die durchschnittliche Kinderan- So lag die Korruption in den Grundzügen von zahl pro Frau liegt bei 2,6 und hat sich damit al-Gaddafis System begründet und wurde zwar deutlich reduziert, doch das Bevölke- zum tolerierten, ja, zum beabsichtigten Kardi- rungswachstum beträgt jährlich immer noch nalsdelikt der libyschen Wirtschaftspolitik. Im etwa 2%. Über ein Drittel ist jünger als 14 Jahr 2011 lag Libyen im Index of Economic Jahre, das Durchschnittsalter liegt bei 24 Jah- Freedom der Heritage Foundation noch hin- ren. ter Ländern wie dem Tschad, Timor-Leste oder Syrien auf dem sechstletzten Rang und Ähnlich wie in anderen arabischen Ländern rangierte auf dem letzten Platz bei den Län- verfehlte es auch al-Gaddafi, den demogra- dern des Nahen und Mittleren Ostens. Es phischen Druck nachhaltig zu kontrollieren schien, als wolle al-Gaddafi ein System der und den Übergang auf den Arbeitsmarkt für ständigen Verunsicherung, des institutionel- die vielen jungen Menschen sicherzustellen. len Chaos schaffen, um sich und seine Macht- So lag die Jugendarbeitslosigkeit im Frühjahr position zu sichern. Er kooptierte Stämme und 2011 bei etwa 30%, andere Schätzungen stellte Liberalisierung in Aussicht, lud system- gehen sogar von bis zu 65% aus. Auch der kritische Exillibyer zur straffreien Rückkehr in Wohnungsmangel nahm dramatische Züge ihre Heimat ein und schlug gleichzeitig oppo- an. Vor dem Aufstand im Frühjahr 2011 fehl- sitionelle Gruppen brutal nieder. ten etwa 540.000 Wohneinheiten, sodass al- Gaddafi anordnete, Obdachlose könnten Während so der Wohlstand der Elite um al- Rohbauten und Baustellen als Wohnort nut- Gaddafi rasant stieg, stagnierte der Lebens- zen. Auch in der Vergangenheit war es immer standard der breiten Gesellschaftsschichten. wieder zu Unruhen aufgrund der politischen Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit nah- und wirtschaftlichen Missstände gekommen.10 men ebenso zu wie z.B. der Drogen- und Al- Wirtschaftliche Diversifizierungsmaßnahmen, koholkonsum. Die Bewunderung für den

10 Bei Protesten in Benghasi 2006, die sich zuerst gegen die dänischen Muhammad-Karikaturen richteten, kamen mindestens zwölf Demonstranten ums Leben, nachdem sich die Proteste schnell gegen das Re- gime gerichtet hatten.

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„Bruder Führer“ schwand, tribale und famili- dem repressiven Regime rapide und wich äre Identitäten und Sicherheitsnetzwerke nah- einer Skepsis, die schnell in Hass und aktio- men an Bedeutung zu und limitierten das nistische Wut umschlagen sollte. So kann der Vertrauen in das Regime. Das Bildungs- und Aufstand, der im Frühjahr 2011 ausbrach und Ausbildungsniveau bewegte sich im Vergleich die Herrschaft al-Gaddafis beendete, nicht zu anderen Rentierstaaten der Region auf nur als Ausdruck sozioökonomischer Unzu- unterentwickeltem Niveau. Fremdsprachen- friedenheit und der Überwindung der Angst, unterricht hatte al-Gaddafi jahrelang verboten, sondern auch als Mobilisierungs- und Moder- um den „arabischen Charakter“ zu stärken nisierungsphänomen gesehen werden. Der und den anglophonen Einfluss des „Erzfein- Generationenkonflikt zwischen den unter al- des“ USA zu unterbinden. Das Bildungssys- Gaddafis Herrschaft Geborenen und ihrem tem wurde bestimmt durch archaische „Volksführer“ wurde von diesem negiert, nicht Lehrmethoden, Auswendiglernen und der wahrgenommen und vernachlässigt. Statt- Gleichschaltung der Argumentationen. Aus- dessen flüchtete er sich weiterhin in seine ide- ländische Literatur blieb rar, kosmopolitische ologischen Gedankenkonstrukte, pflegte Einflüsse auf den privaten Raum beschränkt. seine Klientelnetzwerke, die so genannten Intellektuelle Debatten wurden unterdrückt, „fetten Katzen“, und verließ sich auf die Ölein- kritische Denker verfolgt. Einziges „intellek- nahmen sowie die wiedererlangte internatio- tuelles Leitmedium“ wurde das Grüne Buch nale Reputation. al-Gaddafis, das als Aushängeschild der liby- schen Geisteswelt gelten sollte und Maßstab III. Akteure des Wandels und konkrete für politisches Denken unter al-Gaddafi blieb. Auslöser

Gleichzeitig führten die nicht zu negierenden Zu ersten Protesten, die sich schnell zu einem Fortschritte bei Einkommen, Bildung und militärischen Aufstand gegen al-Gaddafi und Geisteshaltung der letzten Jahrzehnte zu sein Regime ausweiten sollten, kam es in al- einer zunehmenden Modernisierung des Le- Bayda, Darnah und Benghasi in der östlichen bens und des Denkens – allerdings außerhalb Cyrenaica im Januar 2011. Der Ostteil des staatlicher Strukturen und auf den nichtöf- Landes um die Hafenstadt Benghasi wurde fentlichen Raum beschränkt, da zivilgesell- im weiteren Verlauf das Epizentrum der Auf- schaftliche Aktivitäten unterbunden wurden. stände. Konkreter Auslöser war der massive Dies wirkte sich nachteilig für die Attraktivität Wohnungsmangel, der sich im Osten des der als zunehmend anachronistisch wahrge- Landes aufgrund der jahrelangen wirtschaft- nommenen Ideologie al-Gaddafis aus, des- lichen Marginalisierung seitens des Gaddafi- sen Propaganda und Weltanschauungen an Regimes noch deutlich negativer auswirkte die Zeit des Kalten Krieges erinnerten, und als im Westen mit Tripolis als urbanem Bal- das Streben nach Fortschritt, Moderne und lungszentrum. Demonstranten besetzten vom Internationalität vieler Libyer nicht mehr an- Staat finanzierte Wohnungsbauprojekte; es nähernd widerspiegelte. Die internationale kam zu ersten Zusammenstößen mit Sicher- Normalisierung hatte nicht ansatzweise zu heitskräften. In diesem Zusammenhang for- einer innenpolitischen Liberalisierung geführt. derte der Schriftsteller und Intellektuelle Kombiniert mit den gravierenden wirtschaft- Jamal al-Hajj weitere Demonstrationen und lichen Problemen gingen viele Libyer auch wurde am 1. Februar 2011 inhaftiert. Am 6. ideengedanklich zu ihrem „Volksführer“ auf Februar 2011 traf sich al-Gaddafi mit vier po- Distanz. Die Zunahme der Internet- und Fa- pulären Rechtsanwälten des Landes, die auf cebook-Nutzer, die Verbreitung von Satelli- gravierende Verfehlungen bei der Presse- tenfernsehen und Mobiltelefonen und die und Meinungsfreiheit hinwiesen und endlich langsam aufbrechende wirtschaftliche Isola- die Schaffung einer Verfassung forderten.11 tion führten zu deutlich mehr Mobilität der Ge- Das Treffen blieb aus Sicht der Anwälte er- sellschaft, indem viele begannen, im Ausland gebnislos, al-Gaddafi lehnte alle Forderungen zu studieren oder Kontakte in den Westen zu ab, was zu einer weiteren Verschärfung der unterhalten. Lage führte. Am 15. Februar 2011 wurde der Anwalt Fathi Tarbel verhaftet. Er vertrat die Auch wenn al-Gaddafi nach wie vor viele Für- Angehörigen von Opfern eines Aufstandes im sprecher um sich versammeln konnte, berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis, bei dem bröckelte doch die Bewunderung vor der cha- 1996 etwa 1.200 Häftlinge erschossen wor- rismatischen „Vaterfigur“ sowie die Angst vor den waren. Tarbel selbst verlor damals seinen

11 Unter den Anwälten war auch der jetzige Vizepräsident des Nationalen Übergangsrates (NÜR), Abdul Hakim Ghoga, ein in Benghasi geborener systemkritischer Rechtsanwalt.

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Bruder, Schwager, Cousin und fünf Freunde. gegen al-Gaddafi zu stellen. Hinzu engagier- 500-600 Befürworter sammelten sich vor dem ten sich auch zunehmend exillibysche Oppo- Sitz des Volkskomitees in al-Bayda und for- sitionsgruppen, die seit Jahren vor allem in derten Tarbels Freilassung. Es kam zu Zu- Europa aktiv waren, da jegliche Opposition sammenstößen mit libyschen Sicher- innerhalb Libyens verboten war. Gruppen wie heitskräften und zu Anti-Gaddafi-Parolen. Ins- die National Conference for the Libyan Oppo- gesamt 38 Beteiligte wurden verletzt. Zwei sition, ein in Großbritannien ansässiger Zu- Tage später versammelten sich Demonstran- sammenschluss aus mehreren Oppo- ten in mehreren libyschen Städten, darunter sitionsbewegungen, forderte eine Über- Benghasi, az-Zintan, Darnah, Ajdabiya und al- gangsregierung, freie Wahlen, die Einhaltung Bayda, zum ersten libyschen „Tag des Zorns“: der Menschenrechte sowie den Rücktritt al- Ghoga und mehrere Facebook-Aktivisten hat- Gaddafis. Andere Gruppen wie die National ten zu diesen Demonstrationen aufgerufen, Front for the Salvation of , die 1981 ge- um an die Opfer der Demonstrationen von gründet wurde und hauptsächlich aus den 2006 zu erinnern. Die Situation begann zu es- USA und Großbritannien agiert, die Libyan kalieren: Scharfschützen feuerten auf De- League for Human Rights, die 1989 gegrün- monstranten, Dutzende Protestanten kamen det wurde, ihren Sitz in Genf hat und auch ums Leben. Internet- und Telefonverbindun- über Büros in Großbritannien und Deutsch- gen wurden von Sicherheitskräften unterbro- land verfügt oder die pro-monarchistische Li- chen. Was folgte, kann als der Beginn des byan Constitutional Union mit Sitz in libyschen Bürgerkriegs gewertet werden. Am Manchester, formulierten ähnliche Anliegen. 20. Februar 2011 befand sich Benghasi unter Allerdings blieb der externe Einfluss marginal, Kontrolle der Aufständischen. stattdessen fand die Oppositionsbewegung innerhalb Ostlibyens immer mehr Anhänger Es partizipierten die unterschiedlichsten sozi- und wurde für das Regime al-Gaddafis alen Gruppierungen an dem Aufstand, sodass schnell zu einer ernsthaften Bedrohung. Be- von einer breiten Oppositionsbewegung ge- merkenswert blieb der relativ geringe Einfluss sprochen werden kann. Bei den Rebellen islamistischer Gruppierungen. Ähnlich wie handelte es sich in der Regel nicht um ge- auch in Tunesien und Ägypten wurden bis- lernte Soldaten oder gar reguläre Truppen, lang keine islamistischen Formeln und kaum sondern um Zivilisten. Untrainiert, ohne Uni- Forderungen des politischen Islams prokla- formen und straffe militärische Hierarchien miert. Dabei gilt der Osten des Landes tradi- gründeten sich lokale Brigaden oder Milizen, tionell als konservativ-islamisch, da hier die die zu Beginn kaum koordiniert und eher von Sanussiyya gegründet wurde, deren Über- Enthusiasmus denn von klarer Struktur vor- zeugungen die Identität vieler Muslime dort angetrieben wurden. Sie setzten sich zusam- bis heute prägt. Der Einfluss militanter Isla- men aus einer intellektuellen Bildungselite, misten blieb während der Unruhen unsichtbar. geachteten Juristen, Arbeitern, Studenten, Insbesondere Gruppen wie Al-Qaida im isla- Schriftstellern, Ärzten und arbeitslosen und mischen Maghreb (AQIM) verfügten auch vernachlässigten Jugendlichen, die weder unter al-Gaddafi über keine Basis in Libyen. über eine Wohnung verfügten noch über aus- Sie wurden vehement verfolgt, immerhin galt reichende Bildung oder eine berufliche Per- al- Gaddafi als zuverlässiger Partner des spektive. Mehr und mehr schlossen sich Westens im Kampf gegen den militanten Deserteure aus der regulären Gaddafi-loya- Islam. Zwar kam es in der Vergangenheit len Armee den Kampfverbänden an. Jüngere auch in Libyen immer wieder zu vereinzelten und ältere Generationen begannen, sich Anschlägen12 und zur Genese von radikalen

12 In den 1980er Jahren entstand eine militante islamistische Bewegung vor dem Hintergrund wirtschaft- licher Rezession: Die Ölpreise fielen, gleichzeitig nahmen die Repressionen der Revolutionskomitees zu, was den Islamisten einigen Zuspruch einbrachte. Dennoch blieben sie ein zu vernachlässigender politi- scher Faktor in Libyen. Zwischen 1995 und 1998 und 2007 kam es immer wieder zu kleineren Anschlä- gen im Osten des Landes sowie einem vereitelten Attentat auf Gaddafi. Viele Jihadisten mit libyscher Herkunft kämpften nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 im Irak.

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Gruppen, gesamtgesellschaftlichen Einfluss det, aus denen jeweils ein Repräsentant in konnten diese jedoch nie gewinnen.13 Auch den neu eingerichteten NÜR nach Benghasi wenn die ersten Unruhen im Osten des Lan- entsandt wurde. Der NÜR entwickelte sich des, der Cyrenaica, ausbrachen, blieb die schnell zur „Stimme des neuen Libyens“, Anti-Gaddafi-Bewegung nicht allein auf die- seine Mitglieder gelten als Gesichter des sen Landesteil beschränkt. Eingebunden in Wandels und personifizierte Hoffnungen auf ihr familiäres Netzwerk und teilweise mit die Ablösung al-Gaddafis. Innerhalb kürzes- engen Bezügen zu ihren jeweiligen Stämmen ter Zeit gewann der NÜR innen- und außen- wandten sich schnell auch erste tribale Führer politischen Einfluss, legitimierte sich als von al-Gaddafi ab und opponierten auf Seiten einzige politische Alternative für die Zeit nach der Aufständischen.14 Insbesondere die Ab- al-Gaddafi, handelte als Quasi-Regierung des kehr mächtiger Stämme wie dem - „befreiten Libyen“ und organisierte den militä- Verband zeigte deutlich, dass al-al-Gaddafi rischen Widerstand. Dabei verdeutlichte er, zunehmend die Unterstützung tribaler Einhei- welche Prämissen er verfolgt und wie ein Li- ten verlor. Dabei bleibt umstritten, welche byen ohne al-Gaddafi aussehen müsse: In Aussagekraft die offizielle Abkehr eines Stam- einer Erklärung des NÜR mit dem Titel „Vision mesführers für das einzelne Stammesmitglied eines demokratischen Libyen“ vom 29. März hatte. Zwar wird Libyen oft als tribale Gesell- 2011 forderte er die Überwindung der „dun- schaft beschrieben, daraus jedoch zu schlie- klen Tage der Diktatur“ durch Dialog, Tole- ßen, der Stamm sei für das Individuum quasi ranz, Zusammenarbeit, nationale Einheit und ausschließliches Entscheidungs- und Identi- der aktiven Partizipation aller libyschen tätskriterium, wäre zu eindimensional. Insbe- Staatsbürger. Die Regierung solle den freien sondere in den urbanen Gebieten und bei der Willen aller Libyer repräsentieren und demo- jüngeren Generation bietet der eigene Stamm kratisch legitimiert werden. So solle ein Ge- zwar noch immer einen gewissen sozialen sellschaftsvertrag geschaffen werden, der zu Bezugspunkt, darf allerdings aufgrund der di- einer Zivilgesellschaft führe, die politischen versen Partikularinteressen und der inneren und intellektuellen Pluralismus fördert und Heterogenität nicht als monolithischer Block unterstützt. Grundlage dieses Gesellschafts- gesehen werden. Für viele Libyer scheint der vertrags müsse eine Verfassung sein, über Stamm so auch stark an Bedeutung verloren welche mithilfe eines Referendums abge- zu haben. Trotzdem galt die Abkehr vieler stimmt werde. Darin sollen grundlegende Stammesvertreter von Gaddafi als wichtiges Rechte wie die Bildung von Parteien und Ge- Symbol eines geeinten, interessensübergrei- werkschaften, die Garantie des Wahlrechts, fenden Aufstands. Presse- und Versammlungsfreiheit, starke wirtschaftliche Institutionen zur Bekämpfung Wichtigster Akteur der Anti-Gaddafi-Front von Korruption, Arbeitslosigkeit und Armut, die wurde der Nationale Übergangsrat (National Stärkung des Privatsektors, immense Inves- Transition Council, arabisch: al-Majlis al-Wat- titionen in den Bildungs- und Forschungssek- ani al-Intiqali, NÜR), der am 27. Februar 2011 tor, die Gleichstellung der Frau, die ins Leben gerufen wurde und zu Beginn aus Ablehnung von Extremismus, Intoleranz und 31 Mitgliedern bestand. Zu Beginn des Auf- Diskriminierung sowie die Achtung der Men- stands hatten sich in Städten und Gemeinden schenrechte und des Völkerrechts verankert Übergangsräte mit lokalen Autoritäten gemel- werden. In den Wirren der unübersichtlichen

13 Die beiden einflussreichsten islamistischen Gruppierungen in Libyen sind die Libyan Islamic Group, der libysche Arm der Muslimbruderschaft, der in Libyen verfolgt wurde. In den 1950er Jahren gewährte König Idris I. einigen aus Ägypten geflohenen Muslimbrüdern Schutz vor der Verfolgung durch Nasser. Al- Gad- dafi ging vehement gegen die Muslimbruderschaft vor, ließ 1998 152 Mitglieder verhaften, darunter auch der Führer und sein Stellvertreter. Beide wurden 2002 hingerichtet. 37 Mitglieder wurden zu lebenslan- gen Haftstrafen verurteilt. Saif al-Islam ließ 2006 dann 80 führende Mitglieder frei. Die zweite Gruppe, die Libyan Islamic Fighting Group (arabisch: al-Jama’a al-Islamiyya al-Muqatila fi Libya, LIFG) hat seine Wurzeln in den 1970er und 1980er Jahren. Viele ihrer Mitglieder kämpften in den 1980er Jahren in Af- ghanistan gegen die Sowjetunion. Zurückgekehrte Veteranen gründeten in den 1990er Jahren dann die LIFG. Sie wurden fast zerschlagen, viele Mitglieder flohen ins Exil nach Großbritannien oder auch nach Afghanistan, nachdem dort die Taliban die Macht übernommen hatten. Nach dem Sturz der Taliban 2001 kehrten viele nach Libyen zurück, woraufhin Saif al-Islam 2007 einResozialisierungsprogramm initiierte, die Gruppe der Gewalt abschwor und daraufhin viele Mitglieder aus der Haft entlassen wurden. 14 Am 12. April 2011 unterzeichnen 61 Stammesführer eine Erklärung, in der sie sich vehement von al-Gad- dafi distanzieren und sich für ein freies, geeintes und demokratisches Libyen aussprechen. Mitunter- zeichner waren auch Vertreter des Warfalla-Stammes. So heißt es in der Erklärung: „Das Libyen von morgen, wird, wenn der Diktator weg ist, ein geeintes Libyen sein mit Tripolis als seiner Hauptstadt".

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Situation in Benghasi gebildet, konnte der Opposition in der Öffentlichkeit und erwarb NÜR schnell seinen Einfluss sichern und aus- sich nicht nur im Inland, sondern auch im bauen. Seinen Mitgliedern gelang es, sich als westlichen und arabischen Ausland einen ernstzunehmendes, seriöses demokratisches guten Namen. Gegengewicht zu al-Gaddafi zu gerieren. Er wurde zur einzigen Alternative eines einiger- Zweitwichtigster Akteur des Nationalen Über- maßen geordneten Wiederaufbaus nach dem gangsrat ist der Vorsitzende des Exekutivra- Sturz al-Gaddafis. tes Mahmud Jibril. Der Exekutivrat wurde als Quasi-Regierung eingerichtet, sodass Jibril Die bekannten Mitglieder des NÜR sind re- seit seiner Ernennung am 23. März 2011 auch nommierte Akteure der libyschen Gesell- immer wieder als Regierungschef der Über- schaft, darunter übergelaufene Diplomaten, gangsregierung bezeichnet wurde. Während ehemalige Regierungsangehörige, langjäh- sich Jalil aufgrund seiner mangelhaften Eng- rige Oppositionelle, Juristen sowie Angehöri- lischkenntnisse eher innenpolitisch und re- gen des Königshauses.15 Ihre regionale gional engagiert, wurde Jibril schnell zur Herkunft ist der Osten und Nordwesten des „Stimme für den Westen“. Als Vorsitzender Landes. Auch sollen einige Mitglieder aus des Exekutivrates und damit Quasi-Regie- dem Fezzan stammen, was aus Sicherheits- rungschef gelang es Mahmud Jibril mit Jalil gründen allerdings bislang nicht bestätigt eine schlagkräftige und international akzep- wurde. tierte Doppelspitze zu bilden. Jibril gilt als re- nommierter Finanzfachmann, verfügt er doch Als Vorsitzender des NÜR ist Mustafa Abd al- über einen Abschluss an der Cairo University Jalil, der 1952 im östlichen al-Bayda geboren in Wirtschaft und Politik aus dem Jahr 1975. wurde und bis 1975 an der Libyschen Univer- Er promovierte zehn Jahre später in Pitts- sität Jura studiert hatte, wichtigster Akteur der burgh, erwarb sich den Ruf eines exzellenten, Aufständischen. Danach arbeitete er als Rich- kenntnisreichen Wirtschaftsanalytikers und ter und Staatsanwalt. Ihm gelang es, die Ziele kosmopolitischen, rhetorisch gewandten der libyschen Übergangsregierung, ihr Stre- Buchautors und betätigte sich in der Mana- ben nach Demokratie und Umsturz, authen- gerausbildung für die Region des Nahen und tisch und nachhaltig zu repräsentieren, Mittleren Ostens. Erst Saif al-Islam holte Jibril obwohl er erst am 21. Februar 2011 überge- nach Libyen zurück. Er sollte die marode laufen und integraler Bestandteil des Gaddafi- Staatswirtschaft reformieren, den vorsichtigen Systems war: Immerhin hatte er ab 2007 als Weg der wirtschaftlichen Liberalisierung be- libyscher Justizminister unter al-Gaddafi ge- schreiten und die Privatisierung vorantreiben. arbeitet, sich aber bereits zu jener Zeit als mu- Jibril wurde 2007 Vorsitzender des Nationa- tiger Kritiker des Regimes gezeigt, indem er len Wirtschaftsentwicklungsrates, spürte aber die Entlassung von Gefangenen forderte, die schnell die limitierten Optionen seines Han- trotz abgelaufener Haftstrafe inhaftiert blie- delns und den Widerstand seitens des Regi- ben. Ebenso wie sein Stellvertreter Ghoga en- mes. 2010 erfolgte dann der Bruch mit gagierte er sich für die Aufklärung des Gaddafi. Gefängnismassakers in Abu Salim von 1996. In diesem Zusammenhang hatte er bereits im IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- März 2010 seinen Rücktritt angeboten, was lings“ al-Gaddafi abgelehnt hatte. Er forderte Ent- schädigungszahlungen, machte auf allge- Es folgte ein unübersichtliches Gewirr an meine Missstände aufmerksam und kritisierte Schlachten, militärischen Scharmützeln, Ge- immer wieder al-Gaddafi. Seit seiner Deser- ländegewinnen der Rebellen und Niederlagen tion stieg er schnell zum einflussreichsten Ak- gegen das Regime, das hier nicht im Detail teur des NÜR auf, vertrat die Interessen der dargestellt werden soll. In einer ersten Phase

15 Darunter ist z. B. mit Ahmed al-Senussi (geb. 1933) ein Nachkomme König Idris’ I. Auch er stand in lang- jähriger Opposition zu al-Gaddafi, plante 1970 einen Putschversuch und saß 18 Jahre im Gefängnis, ehe er 2001 begnadigt wurde. Weitere Mitglieder des Exekutivrates sind u.a. der ehemalige Botschafter in Indien und jetzt zuständig für außenpolitische Angelegenheiten, Ali Abd al-Aziz al-Issawi (geb. 1966), der am 23. März 2011 desertierte, nachdem er seit 2006 als Wirtschaftsminister gearbeitet hatte, Omar al- Hariri, verantwortlich für Streitkräfte und Sicherheit und ehemaliger Haftgenosse von al-Senussi, der 1975 einen Putschversuch gegen Gaddafi gewagt hatte, obwohl er ihn während des Staatsstreichs 1969 noch unterstützt hatte, oder Ali Tarhoumi (geb. 1951), bis zum 8. August 2011 verantwortlich für Finanzen, Wirt- schaft und Öl, der im Februar aus den USA zurückkehrte, wo er seit 1983 als renommierter Wirtschafts- professor an der University of Washington in Seattle und an der Michael G. Foster School of Business lehrte. Ebenfalls aktiv im NÜR ist der bereits erwähnte Anwalt Fathi Tarbel, der um Repräsentanten der Jugend benannt wurde.

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der militärischen Auseinandersetzung schien ren aus Politik und Wissenschaft als halbher- es, als sei die Rebellion zum Scheitern verur- ziges Vorgehen gewertet, das zwar einerseits teilt, als stünde Benghasi schnell wieder unter den Willen nach politischem Wandel in Libyen der Kontrolle der Gaddafi-Truppen. Immerhin zeige, andererseits aber aufgrund mangeln- verfügten diese über weit bessere personelle der finanzieller und logistischer Kapazitäten und technische Ausrüstung und die größere umfassendere Unterstützung der Rebellen militärische Erfahrung. Die Lage in und um ausschließe. Hinzu fühlten sich die beteiligten Benghasi spitzte sich bis Anfang März 2011 NATO-Länder immer wieder der Kritik ausge- dramatisch zu: Die Armee al-Gaddafis flog setzt, keine langfristige, nachhaltige Strategie erste Luftangriffe auf den Osten des Landes. für den Einsatz zu präsentieren, was als „blin- Bereits am 25. Februar 2011 hatten die USA der Aktionismus“ und „übereiltes Vorgehen“ Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime ver- gewertet wurde. Auf der anderen Seite wurde hängt, am 28. Februar folgte die EU16 und be- argumentiert, der Einsatz von Bodentruppen gann am 11. März 2011, die Konten von wäre kontraproduktiv, weil eine erneute Inva- Angehörigen der Gaddafi-Führung in Europa sion einer westlichen Allianz in einem isla- einzufrieren. Am 26. Februar 2011 erließ der misch geprägten Land nach Afghanistan und Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Re- Irak zu harter Kritik in der islamischen Welt solution 1970, in der erste restriktive Maß- führen und als neoimperialistischer, auf das nahmen gegen Personen und Öl konzentrierter Markteroberungsfeldzug be- Organisationen, die an den Menschenrechts- zeichnet werden könnte.17 verletzungen beteiligt waren, beschlossen wurden. Die Lage blieb weiterhin undurch- Bei der Abstimmung enthielt sich neben In- sichtig, während die Gewalt gegen Zivilisten dien, China, Russland und Brasilien auch von Seiten des Regimes täglich zunahm. Am Deutschland als nichtständiges Mitglied des 5. März 2011 forderte der NÜR beim UN-Si- UN-Sicherheitsrates18, was zu einer heftigen cherheitsrat die Einrichtung einer Flugver- innen- und außenpolitischen Debatte um die botszone, um die Luftangriffe gegen libysche Rolle Deutschlands in der internationalen Ge- Zivilisten zu unterbinden, welche am 17. März meinschaft, seine Verantwortung in militäri- 2011 durch den UN-Sicherheitsrat beschlos- schen Auseinandersetzungen und sein sen wurde. Ziel der Resolution 1973 ist es, Verhältnis zu traditionellen Bündnispartnern „alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz wie den USA oder Großbritannien führte. Am der Zivilbevölkerung“ zu ergreifen, indem ein 19. März 2011 begann der militärische Ein- „unverzüglicher Waffenstillstand“ durchge- satz der NATO-Alliierten Frankreich, USA und setzt wird. Ein Regimewechsel und der expli- Großbritannien. Grundlage der Resolution zite Sturz al-Gaddafis sind keine wurde die seit 2005 bestehende völkerrecht- ausdrücklichen Inhalte des Resolutionstextes. liche Argumentation der so genannten Ebenso wenig wird der Einsatz von Bodent- „Schutzverantwortung“ (responsibility to pro- ruppen in Betracht gezogen – ein Umstand, tect, R2P), die der UN ein Interventionsrecht der damals bei vielen Beobachtern Unver- zubilligt, wenn ein Staat nicht fähig oder wil- ständnis hervorrief. So wurde an die Erfah- lens ist, seine Bevölkerung vor Genozid, eth- rungen im Irak erinnert, wo Bodentruppen nischer Säuberung, Verletzungen des unerlässlich gewesen waren und dennoch humanitären Völkerrechts oder Menschen- kein erfolgreiches Vorgehen der Besatzungs- rechtsverletzungen zu schützen. truppen erreichen konnten. Im März wurde die Insbesondere Frankreich und Großbritannien geplante Flugverbotszone von einigen Akteu- trieben den militärischen Einsatz gegen den

16 Siehe Beschluss 2011/137/GASP des Rates, in dem die EU ihre „ernste Besorgnis“ über die Ereignisse in Libyen ausdrückte. Das Vorgehen gegen Zivilisten wurde „scharf verurteilt“ und das „repressive Vor- gehen gegen Demonstranten missbilligt“. So wurde untersagt, unmittelbar militärische Ausrüstung, Per- sonal und Ausbildungsmaßnahmen dem Gaddafi-Regime und seinen Verbündeten zur Verfügung zu stellen. Erste Sanktionen wurden u. a. gegen die Familie Gaddafi, den damaligen Geheimdienstchef Oberst Abdullah al-Senussi oder Oberst Ma’sud Abd al-Hafiz, dritter Befehlshaber der Streitkräfte, ver- hängt. 17 In diesem Zusammenhang wurde auch zunehmend Kritik an der ambivalenten Vorgehensweise der inter- nationalen Gemeinschaft im Umgang mit repressiven Regimes in der Region laut: Während in Libyen ein militärischer Einsatz legitim sei, werde bei ähnlichen Voraussetzungen ein ähnliches Vorgehen in Sy- rien nicht in Betracht gezogen. Auch hier richte sich ein repressives Regime gegen die Zivilbevölkerung, auch hier käme es zu Toten und Verletzten. Doch die Erwägung eines militärischen Einsatzes bleibe aus geostrategischen und Sicherheitsaspekten aus, was als Messen mit zweierlei Maß gewertet werden könne, so Kritiker. 18 Die USA, Großbritannien, Frankreich, Bosnien und Herzegowina, Kolumbien, Gabun, Libanon, Nigeria, Portugal und Südafrika stimmten der Resolution zu.

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Willen Deutschlands voran: Der französische entscheidend zurückzuschlagen. Trotz aus- Präsident Nicolas Sarkozy erhoffte sich da- geweiteter Sanktionen wurde das Regime durch vor allem die Rückgewinnung von über den Landweg aus Tunesien und zum Teil innenpolitischem Renommee, nachdem er auch über den Seeweg mit Waffen und tech- noch kurz vor dessen Sturz den tunesischen nischer Ausrüstung versorgt. Muammar al- Präsidenten Zine el-Din Ben Ali mit französi- Gaddafi und Saif al-Islam demonstrierten bei schen Sicherheitskräften gegen die Demon- ihren öffentlichen Auftritten Stärke, verun- stranten unterstützen wollte, was seinem glimpften die Rebellen und wichen auch ver- Image deutlich geschadet hatte. Insgesamt bal nicht zurück. Es blieb umstritten, über wie flogen die NATO-Truppen über 20.000 Ein- viele finanzielle Reserven der Gaddafi-Clan sätze gegen strategische und militärische noch verfügen konnte, waren doch seine aus- Ziele des Gaddafi-Regimes, konnten so die ländischen Gelder mittlerweile eingefroren Rückeroberung Benghasis aufhalten, die li- worden. Dennoch beliefen sich die Kalkula- bysche Flugabwehr ausschalten und den Re- tionen auf fast 150 Tonnen Gold im Wert von bellen am Boden so entscheidende 6,5 Mrd. USD. Hinzu kämen mehrere Milliar- Unterstützung gewähren. Trotzdem mussten den Dollar harter Bargeldbestände, die die die Rebellen gravierende Rückschläge hin- Familie Gaddafi auch durch die Begünstigung nehmen: Ostlibysche Küstenstädte wie bei Wirtschaftsverträgen angehäuft habe. So Brega, Ras Lanuf oder Ajdabiya konnten von wird vermutet, dass Gaddafis Clan direkt 60% den Gaddafi-Truppen zurückerobert werden, aller projektbezogenen Einnahmen erhalten im März wurde Benghasi belagert, in Tripolis haben solle. kamen Heckenschützen zum Einsatz und zu- nehmend sollten 3.000-4.000 Söldner aus Hinzu häuften sich erste Meldungen und Au- afrikanischen Nachbarländern wie Mali oder genzeugenberichte, die davon berichteten, Niger rekrutiert worden sein, was allerdings dass es auch auf Seiten der Rebellen zu Ge- vor allem im Hinblick auf Umfang und Aus- walttaten an der Zivilbevölkerung gekommen rüstung lange umstritten blieb. So zeichnete sei, was erneut die Frage aufwarf, inwieweit sich in der zweiten Phase des Krieges ein der NÜR im speziellen und die Rebellen im lang andauernder, zermürbender Stellungs- allgemeinen als vertrauenswürdiger, nachhal- krieg insbesondere um strategisch wichtige tig agierender change agent gelten konnten. Städte wie Brega ab. In dieser Phase wurde Immerhin hatte die Mehrheit der NÜR-Mitglie- jedoch auch deutlich, dass es dem NÜR ge- der in der Vergangenheit mit al-Gaddafi ko- lungen war, sich im Osten des Landes als die operiert, war es Teil der politischen Elite Stimme des Aufstands zu profilieren und zu gewesen und einige desertierten erst später. etablieren. Was folgte, war die Anerkennung des NÜR als legitime Vertretung des liby- Hinzu kamen Spannungen und Interessens- schen Volkes durch viele Staaten der interna- konflikte innerhalb der Rebellen. So erschüt- tionalen Gemeinschaft. Während Frankreich terte der Mord an Abdul Fattah Younis, dem bereits am 10. März 2011 die Legitimität des militärischen Oberbefehlshaber des NÜR und NÜR akzeptiert hatte, folgten auch viele ara- renommierter früherer Generalmajor, am 28. bische Länder wie Katar (28. März), Jorda- Juli 2011 das Bild der Rebellen als einig agie- nien (24. Mai), Tunesien (21. August), rende Interessensgemeinschaft und ließ of- Ägypten (22. August), Bahrain, Irak und fensichtliche ideologisch-politische Gräben Oman am 23. August 2011. Bereits deutlich zutage treten. Younis galt als erfahrener Mili- früher hatten sich viele europäische Länder tär; so hatte er in den 1970er und 1980er Jah- wie Großbritannien im März, Italien im April, ren in den Kriegen gegen Ägypten und den Spanien im Juni und die Türkei im Juli für die Tschad gekämpft. 1969 unterstützte er al- Anerkennung des NÜR ausgesprochen. Die Gaddafi bei seinem Putsch, diente ab 2009 USA hatten bereits im März 2011 erste Ge- als Innenminister und galt lange Zeit als loyal spräche mit dem NÜR aufgenommen, gegenüber dem Regime. Am 22. Februar Deutschland anerkannte den NÜR am 13. 2011 desertierte er und errang schnell eine Juni 2011 als einzige legitime Vertretung des exponierte Position auf Seiten der Rebellen. libyschen Volkes. Die militärische Situation Umstritten blieb er jedoch bis zu seinem Tod: blieb verworren und wirkte sich immer nega- Aufgrund seiner angeblich engen Verbindun- tiver auf die Zivilbevölkerung aus. Es schien, gen zur Familie al-Gaddafis sollte er an sei- dass es den NATO-Alliierten und den Rebel- nem Todestag in Benghasi zu einer Anhörung len nicht gelingen sollte, die Gaddafi-Truppen geladen werden, gleichzeitig stieß er bei isla-

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mistischen Akteuren innerhalb der Rebellen vergessen, er könne aber verzeihen und hege auf Abneigung, da er während seiner Zeit als keine Rachegedanken, so Belhaj. Während Innenminister Islamisten verfolgen und inhaf- des Aufstands erlangte er erst in den letzten tieren ließ. Während der NÜR verkündete, Wochen einen gewissen Einfluss, ohne dass Younis sei von Gaddafi-Getreuen getötet wor- er entscheidenden Anteil am Erfolg der Re- den, streute die Gegenseite das Gerücht, er bellen gehabt haben soll. Erst beim Sturm auf sei aus den eigenen Reihen bzw. von militan- al-Gaddafis Hauptquartier Bab al-Aziziya in ten Al-Qaida-Aktivisten ermordet worden, da Tripolis konnten sich er und seine Männer als er als Doppelagent verdächtigt worden sei. disziplinierte Kämpfer auszeichnen. Immerhin Die genauen Hintergründe sind bislang unge- verfügte er, im Gegensatz zu den meisten klärt, dennoch zeigt der Tod Younis’, dass die Freiwilligenkämpfern, über militärische Erfah- Aufstandsbewegung zu keinem Zeitpunkt als rung aus seiner Zeit in Afghanistan. Weiterhin monolithischer Block gesehen werden sollte, kursieren Vermutungen, die davon ausgehen, sondern als Akteure mit diversen Partikularin- Belhaj habe diese exponierte Position erhal- teressen, die zuerst einmal nur das Ziel, al- ten, damit er direkt kontrolliert werden könne. Gaddafi zu stürzen, einte. Es bleibt demnach abzuwarten, wie diese ver- Im Hinblick auf den möglichen islamistischen schiedenen Strömungen und Handlungsmo- Einfluss in einem „neuen“ Libyen bleibt vor tivationen in Zukunft ausgeglichen werden allem die Rolle von Abdel Hakim Belhaj (geb. können und ob sie bei Macht- und Vertei- 1966) nebulös. Der jetzige Militärchef in Tri- lungsfragen wieder offen zutage treten. Ab- polis gilt als Gründer der militanten islamisti- gewartet werden muss auch, wie sich schen Libyan Islamic Fighting Group (LIFG), umstrittene Akteure wie Belhaj innerhalb der die von den USA als terroristische Vereini- neuen Regierung verhalten werden und wie gung mit Verbindungen zu Al-Qaida eingestuft die westlichen Verbündeten auf den Perspek- wurde. Er verschrieb sich Kampf gegen al- tivenwechsel eines angeblichen Jihadisten zu Gaddafis Regime, musste dann 1988 Libyen einem militärischen Anführer auf Seiten der verlassen, ging nach Saudi-Arabien und „Befreier“ reagieren werden. Und so personi- führte danach den jihad in Afghanistan gegen fiziert Belhaj das von al-Gaddafi immer wie- die sowjetischen Truppen. Die LIFG unterhielt der gern herauf beschworene und vom in Afghanistan Ausbildungslager für Jihadis- Westen gefürchtete mögliche Schreckensze- ten. Belhaj selbst verließ Afghanistan 1992, nario des militant-islamistischen Einflusses in hielt sich in Pakistan, der Türkei und dem Libyen. So hat die US-Regierung schon ihre Sudan auf und ging wie viele seiner Lands- Skepsis gegenüber islamistischen Einflüssen leute in den Irak. Nachdem er 2004 von der beim NÜR verdeutlicht. CIA in Bangkok (Thailand) gemeinsam mit seiner damals schwangeren Ehefrau inhaftiert In der dritten Phase des Aufstands gelang es und gefoltert worden sein soll, saß er sechs den Rebellen zusehends, ihren Einflussbe- Jahre bis März 2010 im Abu-Salim- reich auszuweiten und sich der Hauptstadt Gefängnis in Libyen, aus dem er auf Initiative Tripolis zu nähern. Im Mai 2011 eroberten die Saif al-Islams mit 214 anderen politischen Ge- Aufständischen Misarata, im August dann fangenen entlassen wurde, nachdem er der Brega. Es folgte der Sturm auf die Hauptstadt Gewalt abgeschworen hatte. Jalil soll bei den Tripolis, der am 20. August 2011 begann. Die Verhandlungen anwesend gewesen sein. Operation verlief offenbar gut koordiniert und Mittlerweile gibt sich Belhaj als geläutert und seit mehreren Wochen vorbereitet. So eröff- enger Verbündeter der NATO und den USA. neten die Rebellen im August eine neue Front Er verneint, jemals mit Al-Qaida auf ideologi- aus den Nafusa-Bergen, während nach der scher oder operationeller Ebene kooperiert zu Eroberung der nur 50 Kilometer von Tripolis haben oder einen islamischen Gottesstaat in entfernten Hafenstadt az-Zawiya durch ber- Libyen errichten zu wollen. Stattdessen sei er berische Truppen die Versorgungsroute des aufgrund des pazifistischen Transformations- Regimes nach Tunesien abgeschnitten wer- prozesses der LIFG in Konflikt mit Al-Qaida den konnte, was eine erhebliche Schwächung geraten. Außerdem plane er, ehemalige LIFG- al-Gaddafis bedeutete. Ziel der Rebellen war Kämpfer in den Militär- und Polizeidienst zu es seit Beginn der Auseinandersetzungen ge- integrieren und strebe nach einer freien, wesen, eine Revolte gegen al-Gaddafi aus rechtsstaatlichen Gesellschaft. Die schlechte den Reihen der tripolitanischen Bevölkerung Behandlung durch die CIA habe er zwar nicht zu initiieren. Dieses Unterfangen hatte sich

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bisher als erfolglos erwiesen, sei es aus Angst lizen enttäuscht über die mangelnde Unter- der Bevölkerung, al-Gaddafi könne sich brutal stützung seitens des NÜR, der zu wenig an ihnen rächen, sei es aus Eigeninteressen, getan hätte, um die westlichen Rebellen in die da insbesondere in Tripolis viele Günstlinge Kampfverbände zu integrieren. Zwar sei ein des Gaddafi-Regimes lebten und den Verlust Masterplan zur Eroberung der Hauptstadt im ihres wirtschaftlichen und politischen Einflus- Osten entwickelt worden, die lokalen Details ses fürchteten. Doch der anwachsende Erfolg seien aber von Rebellen aus dem Westen er- der Rebellen und die näher rückende Front arbeitet worden. So könne auch eine mögli- führten dazu, dass sich immer mehr Einwoh- che Freilassung Saif al-Islams auf diese ner Tripolis’ zu den Rebellen bekannten und fraktionellen Spaltungen hindeuten: Während den Sturm auf die Stadt unterstützten. Das erste Pläne kursierten, den Gaddafi-Sohn an psychologische Moment verschob sich nun den Internationalen Strafgerichtshof zu über- zusehends zugunsten der Rebellen; insbe- stellen, forderten viele Rebellen eine Ge- sondere für eine Freiwilligenarmee, die mit richtsverhandlung in Libyen. Diese Dis- mehr Enthusiasmus und Mut als strategischer sonanzen können dazu geführt haben, dass Planung und professioneller Planung agiert Saif al-Islam durch das Wohlwollen einiger hatte, bedeutete dieses psychologisch-emo- Rebellen wieder freikam. tionale Hoch sicherlich noch einmal einen An- reiz, die Hauptstadt des Feindes zu erobern. Der Aufenthaltsort von Muammar al-Gaddafi und einem Teil seiner Söhne blieb zum Zeit- Mithilfe der NATO gelang es den unter- punkt der Fertigstellung dieses Artikels unbe- schiedlichen Milizen der Rebellen, von Osten kannt, während sich seine Ehefrau Safia, die und Süden nach Tripolis einzudringen und die Söhne Hannibal und Mohammad sowie Gad- Residenz al-Gaddafis, Bab al-Azaziya, einzu- dafis Tochter Aisha in algerisches Exil bega- nehmen. In unübersichtlichen Stunden er- ben, was dem algerischen Regime um oberten die Rebellen Straße für Straße, Präsident Abdulaziz Bouteflika harte interna- lieferten sich Gefechte mit Regierungstruppen tionale Kritik einbrachte.19 Dies zeigt, dass in Tajura und um den Flughafen Migati. Hoch- trotz der militärischen Niederlage des Regi- rechnungen gehen von etwa 2.000 Toten aus, mes Gaddafi selbst immer noch über eine un- während im gesamten Krieg bislang etwa bekannte Anzahl von Unterstützern verfügt, 50.000 Menschen ums Leben gekommen die ihn schützen und denen er offenbar ver- sein sollen. Erste Meldungen, die Söhne Saif traut. So bleibt Anfang September 2011 die al-Islam und Saadi seien verhaftet worden, er- Zukunft Gaddafis ungewiss, seine Zeit als ein- wiesen sich jedoch als unwahr. So gelang es flussreichster Machtakteur Libyens ist jedoch Saif al-Islam, trotz der chaotischen Zustände vorüber. und Berichte über einen schnellen Sieg der Rebellen, sich vor dem Luxushotel Rixos den Zwar bleibt die Festnahme al-Gaddafis und dort ansässigen Journalisten zu präsentieren. seiner Familie ein wesentliches Ansinnen für Er versicherte, die Situation sei unter Kon- die siegreichen Rebellen, spielt allerdings re- trolle, seine Truppen behielten die Oberhand alpolitisch mehr eine symbolische denn eine in der Stadt. Bisher konnte nicht aufgeklärt sicherheitsstabilierende Rolle. Der politische werden, ob Saif al-Islam von Rebellen gefan- Übergangsprozess ohne al-Gaddafi ist längst gen genommen worden war und wenn, wie er eingeleitet worden und bestimmt die politi- entkommen konnte. Vermutet wurde, er habe sche Realität des NÜR. Dass eine Festnahme mit den Rebellen einen Deal geschlossen, al-Gaddafis diesen Übergangs- und Stabili- indem er Informationen über den Aufenthalts- sierungsprozess beschleunigen würde, ist ort seines Vaters preisgab. Andere Annahmen zwar unumstritten. Dass der ehemalige spekulierten, er habe seine Bewacher beste- Machthaber den Transitionsprozess jedoch chen können oder sei befreit worden. Einiges mittelfristig aufhalten kann, scheint sehr un- deutet darauf hin, dass die misslungenen Ver- realistisch zu sein. De facto haben die Rebel- haftungen und die irreführende Öffentlich- len die politische und militärische Macht in keitsarbeit auf Spannungen innerhalb der Gesamtlibyen übernommen und müssen nun Rebellentruppen zurückzuführen sein könn- die immensen Herausforderungen meistern, ten. So äußerten sich Rebellen westlicher Mi- die sich aus der erfolgreichen „Stunde Null“

19 So bezeichnete Bouteflika die Aufnahme Gaddafis Familienangehöriger aus „humanitären Gründen“ als notwendig, wodurch sich die libysch-algerischen Beziehungen verschlechterten. Grund für die Aufnahme von Teilen der Gaddafi-Familie könnten innenpolitische Erwägungen sein, indem Bouteflika seiner Be- völkerung verdeutlichen möchte, dass Umstürze wie in Tunesien, Ägypten oder Libyen in Algerien nicht realistisch seien und er nach wie vor nicht zu gravierenden Reformen bereit sei.

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ergeben. die Proteste ab, noch gelang es al-Gaddafi mit dieser in der Vergangenheit häufig prakti- V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure zierten Politik, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Die Entwicklungen im Februar Vor einem halben Jahr war es jedoch als äu- 2011, die Vehemenz der Aufstandsbewegung ßert unrealistisch erachtet worden, dass Li- und die ausgreifenden Forderungen ließen byen vor seiner „Stunde Null“ stünde und die repressive Gewalt des Regimes drama- al-Gaddafis Herrschaft sich dem Ende zu- tisch ansteigen: Moderate Lösungen wurden neige. Zu stabil, zu abgesichert, zu konsoli- ersetzt durch Gewalt gegen Demonstranten diert, zu repressiv wirkte das „System und die Blockade von Internet- und Telefon- al-Gaddafi“ auf außen stehende Beobachter. verbindungen. Ausländische Journalisten Scheinbar glaubte auch der „Bruder Führer“ wurden unter Druck gesetzt, Regimekritiker an die automatische Permanenz seines Sys- inhaftiert.20 Die Propaganda des Regimes tems. Seit 42 Jahren an der Macht, empfand machte „ausländische Invasoren“, „Terroris- er Libyen nicht mehr allein als „sein Land“, ten“ und „den Westen“ für die Unruhen ver- sondern vielmehr als „sein Eigentum“. Er be- antwortlich. Am 22. Februar verunglimpfte stimmte, richtete, verwaltete und organisierte, al-Gaddafi in seiner ersten Fernsehansprache er unterdrückte, verfolgte und ermordete – die Demonstranten als „Ratten“, „Kakerlaken“ kurzum: Eine Änderung dieses Status quo be- und „Drogenabhängige“. Al-Qaida habe den fand sich nicht nur für ihn offenbar außerhalb Aufständischen Halluzinogene verabreicht. jeglicher Vorstellungskraft. Hinzu kam die Er- Ähnlich hatte sich bereits Saif al-Islam zwei fahrung, aus vielfachen Konflikten mit inneren Tage zuvor geäußert, indem der zuvor als Re- und äußeren Kritikern und Feinden siegreich former eingeschätzte Sohn al-Gaddafis in ag- hervorgegangen zu sein und die Gewissheit, gressiver Wortwahl den Zerfall Libyens, eine sich als außerordentlich resistent und wider- dauerhafte Rezession und die Rückkehr des standsfähig bewiesen zu haben. Demzufolge Kolonialismus prophezeit. Was folgte, war die schien es, als seien die Demonstrationen im Ausweitung der Gewalt mit dem Ziel, den Auf- Osten des Landes im Februar eine kurze Epi- stand brutal und rücksichtslos niederzuschla- sode des haltlosen Widerstands. Zwar beob- gen. So häuften sich ab März die Berichte achtete das Regime die Entwicklungen in den über Vergewaltigungen, Angriffe auf Kranken- Nachbarländern Ägypten und Tunesien mit häuser, Zerstörung von Blutbanken und Ein- äußerstem Argwohn, ein dynamischer Wel- satz von Scharfschützen ebenso wie leneffekt auf die libysche Gesellschaft wurde Meldungen über die Rekrutierung von afrika- jedoch auch von externen Beobachtern aus- nischen Söldnern aus den südlichen Nach- geschlossen. Immerhin verfüge das Land barländern Sudan, Nigeria, Mali, Tschad und über immense Ölreserven und keinerlei zivil- Kenia. So berichteten Malier Tuareg, ihnen gesellschaftliche Akteure sowie keine innen- sei eine Einmalzahlung von 7.500 EUR und politisch organisierte Opposition, könne im ein Tagessold von 750 EUR angeboten wor- Gegensatz zu den Transformationsländern den, wenn man für al-Gaddafi kämpfen Tunesien und Ägypten Wohlstand verteilen, würde. Ähnliches berichteten Ghanaer, die werde von heterogenen und diametral agie- ein Tagessold von 1.950 EUR angaben. Auch renden Stämmen dominiert und sei von der sollen Söldner aus Serbien und Weißrussland Außenwelt weitgehend isoliert. Dies sollte für al-Gaddafi gekämpft haben. Eine unab- sich als Irrtum erweisen. hängige Bestätigung dieser Berichte steht bis- her noch aus. Befürchtet wurde auch der Al-Gaddafi verbot zu Beginn der Aufstände Einsatz von chemischen Kampfstoffen wie kooptierten Stämmen, sich an den Demon- Senfgas und biologischen Waffen, über die al- strationen zu beteiligen. Gleichzeitig präsen- Gaddafi angeblich verfügen sollte. Die An- tierte er sich als großzügiger, kündigung, bei einem Angriff auf Tripolis die verständnisvoller Regent, suchte persönliche gesamte Hauptstadt vollständig zu vernich- Gespräche bei mehreren Propagandareisen ten, schürte solche Ängste, blieb aber in ländliche Gebiete, kündigte Wirtschaftsre- schließlich nur Polemik. Noch nach der Ein- formen und Gehaltserhöhungen an. Doch die nahme Tripolis äußerten sich al-Gaddafi und Wirkung tendierte gen null: Weder nahmen sein Sohn in Audiostellungnahmen, in denen

20 Sinnbildlich für die Staatswillkür wurde der Fall der libyschen Juristin Imam al-Obaidi, die sich am 27. März 2011 ausländische Journalisten im Luxushotel Rixos wandte, und berichtete, sie sei von al-Gaddafis Soldaten inhaftiert, misshandelt und vergewaltigt worden. Vor laufenden Kameras wurde daraufhin die Frau von libyschen Sicherheitskräften abgeführt und befand sich 72 Stunden in Haft. Später wurde ihr Geisteskrankheit, Alkoholsucht und Prostitution vorgeworfen.

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sie den nahen Sieg prophezeiten oder die übernommen werden sollen. So soll ver- Aufständischen vor weiteren Blutbädern mieden werden, dass ehemals einflussrei- warnten. Gleichzeitig deuteten sich Ende Au- che, nun marginalisierte Individuen und gust 2011 erste gravierende Auflösungser- Gruppen in den Untergrund gehen, sich scheinungen der innerfamiliären Einheit an: radikalisieren und mit Gewalt den Wieder- So habe der Sohn Saadi mit dem NÜR über aufbauprozess gefährden. Ob dies gelingt, die Bedingungen einer Kapitulation und de- hängt jedoch nicht an einer Rhetorik der mentsprechende Sicherheitsgarantien ver- nationalen Einheit und des Aussöhnungs- handelt, berichtete der NÜR. Er wolle sich willens, sondern an pragmatischen Maß- ergeben, um weitere Todesopfer zu vermei- nahmen, die über politische Partizipation, den. Allerdings konnten auch diese Berichte wie der Eingliederung von West-Libyern in bislang nicht ratifiziert werden. den NÜR, über wirtschaftlichen Ausgleich bis hin zu rechtlicher Immunitätsgewäh- VI. Zukunftsszenarien rung reichen könnten. Dass dies keine ein- fache Aufgabe werden wird, deutet sich Libyen steht vor einer hoffnungsfrohen, aber bereits jetzt an. auch ungewissen Zukunft. Der am Ende er- folgreiche Aufstand gegen das Regime von 2. Die Integration der Stämme: Viele ein- Muammar al-Gaddafi hat den Willen nach flussreiche Stämme zeigten sich in der Wandel weiter Teile der libyschen Gesell- Vergangenheit als Unterstützer von al- schaft gezeigt und die 42-jährige repressive Gaddafi und ließen sich bereitwillig koop- Herrschaft des „Bruder Führers“ beendet. tieren. Im Verlauf des Aufstandes Nun beginnt der Wiederaufbau, der sich wahr- kündigten viele Stammesführer al-Gaddafi scheinlich komplizierter gestalten dürfte als die Gefolgschaft und schlossen sich den der siegreiche Kampf gegen al-Gaddafi. Hier- Aufständischen an. Doch diese Solidarität bei können vor allem folgende Faktoren die und Loyalität muss immer wieder neu aus- friedliche Konsolidierung und die Stabilisie- gehandelt werden: Die Stämme sind keine rung erschweren: nationalen Akteure, sondern verfolgen in der Regel gruppenspezifische Partikular- 1. Die innere Heterogenität der Auf- interessen, die im besten Fall mit denen ständischen: Wie bereits angesprochen, des Staates und der Regierung kongruent muss versucht werden, den historischen verlaufen. Sollte dies nicht der Fall sein, und traditionellen Gegensatz zwischen könnten sich einflussreiche tribale Ge- Ost und West, zwischen Siegern und Be- meinschaften von den jetzigen politischen siegten zu überwinden. Der teilweise Entscheidern des NÜR abwenden und auf Umzug des NÜR von Benghasi nach Tri- bessere politische Repräsentation, soziale polis kurz nach dem Fall der Hauptstadt ist Integration und wirtschaftliche Partizipa- dahingehend ebenso ein wichtiges Sym- tion drängen. Vor allem die Verteilung der bol wie die versöhnenden und ausglei- Stammesstimmen in einem neu zu kreie- chenden Äußerungen von Jalil und Jibril, renden Parlament, die Bedeutung der auf Racheakte zu verzichten, die nationale Stämme in der neu zu schaffenden Ver- Einheit zu stärken und sich als „Brüder“ fassung und die Verteilung der Öleinnah- wahrzunehmen. Dennoch könnte es bei men könnten hier schnell zu heftigen der Reintegration ehemaliger Gaddafi-Ge- Auseinandersetzungen führen. Wie bereits treuen aus Politik, Wirtschaft und Verwal- erwähnt, sind Stämme keine homogenen tung zu enormen organisatorischen und Einheiten, sodass Bedrohungen der Sta- auch psychologischen Problemen kom- bilität auch von Substämmen, Clans oder men. Die Erfahrung aus dem Irak, nach einzelnen Familien zu befürchten sind. dem Sturz Saddam Husseins 2003 ehe- Hierbei muss die Balance zwischen kluger malige Mitglieder der Baath-Partei gänz- Verteilung der Wirtschafts- und Machtres- lich aus dem Wiederaufbauprozess sourcen und demokratischer Repräsenta- auszuschließen und die Armee aufzulö- tion und Transparenz gelingen, um ein sen, was zu einer Radikalisierung entwur- Abdriften in überwunden geglaubte Koop- zelter Akteure und einem massiven tions- und Patronagemuster sowie Kor- Anstieg der Gewalt führte, ist für den NÜR ruption und intransparente Strukturen zu Warnung genug. Es existieren Pläne, dass vermeiden. 5.000 ehemalige Polizisten al-Gaddafis

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3. Der Aufbau von Rechtsstaatlichkeit: ebenso gewährleistet werden wie die freie Hier betritt das Post-Gaddafi-Libyen fast Meinungsäußerung. Weiterhin sollen eth- völliges Neuland. 42 Jahre gab es weder nische Minderheiten wie die Berber aner- eine Verfassung noch Wahlen oder rechts- kannt werden. Ziel ist es, eine staatliche Institutionen, die unabhängig pluralistische Demokratie zu schaffen. und ohne Willkür Recht sprachen. So Dass dies enorme Schwierigkeiten und müssen effiziente und transparente Struk- viel Geduld verlangt, erscheint angesichts turen aufgebaut werden, denen es gelingt, der fehlenden Tradition, der mangelnden eine Verfassung auszuarbeiten, Wahlen Erfahrung und eines gewissen Zeitdrucks zu organisieren und vor allem gegenüber nicht überraschend: Parteien existieren al-Gaddafi, seinen ehemaligen Getreuen ebenso wenig wie Gewerkschaften. Zivil- und evtl. Familienangehörigen eine Ge- gesellschaftliche Strukturen gab es bislang richtsbarkeit zu etablieren. Hier wird sich nicht, sodass es abzuwarten bleibt, wie all zeigen, wie sehr die neue libysche Regie- diese neuen Akteure rechtlich, administra- rung darauf drängen wird, Gerichtsverfah- tiv und politisch in das neue System inte- ren gegen Angeklagte des griert werden können. Gaddafi-Systems auf eigenem Boden um- setzen zu wollen und dies auch zu kön- 4. Der wirtschaftliche Öffnungs- und Li- nen. So liegen bislang Strafanzeigen u. a. beralisierungsprozess: Libyens Wirt- gegen al-Gaddafi selbst und seinen Sohn schaft wurde durch den Konflikt stark Saif al-Islam vom Internationalen Strafge- beeinträchtigt und befindet sich in einer richtshof in Den Haag vor. Hier bleibt ab- schweren Krise: Die für das Land überle- zuwarten, ob der NÜR im Falle einer benswichtige Ölproduktion liegt danieder, Festnahme die Angeklagten überstellen es kam vermehrt zu Lebensmittelengpäs- würde. sen, Stromausfällen und vereinzelten Plünderungen. Nach Ende der Kampf- In den sechs Monaten des Konflikts wur- handlungen werden Tausende Kämpfer den erste Pläne und Visionen für den Auf- arbeitslos sein, brauchen eine Aufgabe bau eines rechtsstaatlichen, demo- und Perspektive. Diese akuten Probleme kratischen Libyens formuliert, die nun in müssen gelöst werden, um eine dauer- die Tat umgesetzt werden sollen. In Ko- hafte Rezession zu vermeiden. Zusätzlich operation mit internationalen Partnern wie müssen die langfristigen strukturellen Pro- der EU, den UN, den USA, Kanada oder bleme wie Jugendarbeitslosigkeit, Libera- der Türkei wurde der Transformationspro- lisierung und Diversifizierung der zess zu einer Demokratie skizziert. So soll Wirtschaft, Stärkung der Privatwirtschaft, in 18 bis 20 Monaten der Übergang abge- Wohnungsmangel, Verbesserung der Bil- schlossen sein. In dieser Zeit soll die Zahl dungssituation und infrastrukturelle Män- der Mitglieder des NÜR auf 65 erweitert gel behoben werden. Es wird darum werden, um alle Landesteile, also auch Tri- gehen, die Öleinnahmen gerechter, trans- politanien, zu integrieren. Nach acht Mo- parenter und nachhaltiger zu verteilen, an- naten soll der NÜR aufgelöst werden, dere Industriezweige zu stärken und nachdem er Wahlen für ein 200 Abgeord- ausländische Investoren anzulocken. Dies nete umfassendes provisorisches Parla- gilt vor allem für die Energiesicherung: ment vorbereitet hat. Dieses soll innerhalb Viele Kraftwerke sind marode, der Ener- von 65 Tagen einen Ausschuss einberu- giebedarf steigt jährlich um 10%. So fen, der die neue Verfassung ausarbeiten könnte sich hier mittelfristig eine Öffnung soll, über welche dann durch ein Referen- des Marktes für private Betreiber anbieten. dum abgestimmt werden wird. Erst dann Langfristig verfügt Libyen über enorme soll ein reguläres Parlament gewählt wer- wirtschaftliche Potenziale: Die Nähe zu den, aus dem sich die neue Regierung zu- Europa, die geostrategisch günstige Lage sammensetzen soll. Erste Pläne für die und die Ressourcen schaffen gute Vor- Ausgestaltung des politischen Systems aussetzungen für ausländische Investoren wurden bereits formuliert: Libyen soll ein – wenn Geschäftsklima, rechtliche Rah- Mehrparteiensystem erhalten, die Gewal- menbedingungen und wirtschaftliche tenteilung soll implementiert und die Un- Transparenz bei Vergabeverfahren und Li- abhängigkeit der Justiz garantiert werden. zenzvergaben gesichert werden können. Die Gleichberechtigung der Frau soll In den letzten Jahrzehnten hat sich in vie-

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len Bereichen der Verwaltung eine Beste- enormen finanziellen Spielraum. Um die chungsmentalität etabliert, die es zu Wirtschaft anzukurbeln, werden Verträge durchbrechen gilt. Dies wird nicht allein ehemaliger Partner al-Gaddafis aus dem durch den Sturz al-Gaddafis geschehen, Ausland in der Regel nicht annulliert, son- sondern muss durch pro-aktive Maßnah- dern nach gleichen Konditionen weiterge- men, wie Seminare, Lehrgänge oder här- führt. Die Offshore-Ölproduktion könnte im tere juristische Ahndung, schrittweise Mittelmeer ebenso schnell wieder aufge- geändert werden. Auch das wird Zeit kos- nommen werden wie in der beschädigten ten. Aber der effektive Kampf gegen die Ölraffinerie az-Zawiya. Analysten pro- Korruption könnte zu einem wesentlichen gnostizieren eine Erholung der Ölproduk- Indikator für die neue Rechtsstaatlichkeit tion auf 1,7 Mio. Barrel am Tag aber erst werden. Dies würden ausländische politi- für 2012. Pessimistische Prognosen rech- sche und wirtschaftliche Partner honorie- nen gar erst mit 2015. Allerdings könne die ren. Neben dem Ölsektor könnte auch der Ölförderung bis zum Ende 2011 wieder auf Dienstleistungs-, Tourismus- oder Ge- 600.000 Barrel am Tag steigen.21 Sicher sundheitssektor in Zukunft zu den Triebfe- ist: Libyen wird auch in Zukunft auf die dern der libyschen Wirtschaft gehören. wirtschaftliche Unterstützung der interna- Allerdings muss es für die neue libysche tionalen Gemeinschaft angewiesen sein. Regierung, ähnlich wie in den Transfor- Dass diese sich ihrer Verantwortung nicht mationsländern Ägypten und Tunesien, entziehen wird, deutete der Präsident des oberste Priorität sein, Arbeitsplätze zu Europäischen Rates, Herman Van Rom- schaffen, um damit wirtschaftlich gerech- puy, auf der internationalen „Konferenz der tere Zustände und somit innenpolitische Freunde Libyens“ am 1. September 2011 Stabilität herzustellen. Die Menschen wer- an: „As we subscribed to the ‘responsibility den eine „Revolutionsdividende“ erwarten to protect’, we should similarly subscribe – ähnliches kann man auch in Tunesien to the ‘responsibility to assist’ Libya in bu- und Ägypten beobachten. Bleibt diese ilding itself. We were, we are and we will dauerhaft aus, wird das zu Unruhen und be on your side in facing these tremen- Verteilungskämpfen, zu Zwietracht und dous challenges.“22 Dem Terminus “Unter- eventuell neuer Gewalt führen. Der NÜR stützungsverantwortung” kommt des- muss dafür Sorge leisten, dass einerseits wegen besondere Bedeutung zu, da alle schrittweise der Weg in eine bessere wirt- Beteiligten betonen, die internationale Ge- schaftliche Zukunft für alle Libyer zu errei- meinschaft dürfe Libyen keine Vorgehens- chen ist, andererseits aufgrund der weise aufoktroyieren oder bestimmte Schwere der Aufgabe darauf hinweisen, Maßnahmen vorschreiben. Der NÜR sei dass dies nicht sofort geschehen kann, verantwortlich für die Zukunft des Landes; sondern dafür Geduld und auch Leidens- Einmischung von außen sei nicht vorge- fähigkeit vonnöten sein wird. sehen und im höchsten Maße kontrapro- duktiv. So werde man nur dann helfen, Hierzu dient die Freigabe von eingefrore- wenn man gefragt werde. Damit soll der nen Geldern auf ehemaligen Gaddafi-Kon- Eindruck vermieden werden, der Westen ten in Europa oder den USA als wichtiges könne sich als postkolonialer Invasor ge- kurzfristiges Finanzierungsinstrumenta- rieren, der nach den Ölressourcen strebt rium. Insgesamt sollen etwa 150 Mrd. und die nachhaltige, demokratische Ent- USD an Auslandsguthaben freigegeben wicklung nur als Vorwand benütze, um werden; allein Deutschland verwaltet die seine eigenen Wirtschaftsinteressen zu si- Summe von 7,3 Mrd. EUR eingefrorener chern. Auch hier zeigen sich Parallelen zu Gelder. Die EU möchte bis Ende 2013 7 den Ereignissen im Irak, wo das Wohlwol- Mrd. EUR für Wirtschaftshilfe, den Aufbau len gegenüber der amerikanischen Besat- einer freien Presse, einer unabhängigen zung schnell in Skepsis und offenen Hass Justiz und einer Zivilgesellschaft zur Ver- umschlug. Der Generalverdacht: Die USA fügung stellen. Aber: Libyen gilt keines- hätten nur einen Vorwand benötigt, um wegs als Entwicklungsland, verfügt es sich die Ölquellen des Landes anzueig- doch aufgrund der Ölressourcen über nen. Ähnliche Vorwürfe könnten auch in Li-

21 Zum Vergleich: Saudi-Arabien förderte im Juli 2011 9,75 Mio. Barrel am Tag, die Vereinigten Arabischen Emirate 2,54 Mio. Barrel am Tag und Algerien 1,25 Mio. Barrel am Tag. 22 Siehe European Council The President: Message by President Herman van Rompuy to the Paris Con- ference on Libya, 1. September 2011, www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/press- data/.../124490.pdf, abgerufen am 02.09.2011.

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byen von Seiten anderer islamischer Län- wie z. B. den nigerischen Tuareg Rissa ag dern vorgebracht werden, wenn abzuse- Boula, der zwischen 1990 und 199523 hen ist, dass sich der Einfluss des sowie 2007 und 2009 einen Sezessions- Westens nicht allein auf vermittelnde oder aufstand der Tuareg gegen die nigerische unterstützende Maßnahmen beschränkt, Regierung geführt hatte.24 Die armen Län- sondern wirtschaftliche Eigeninteressen der Subsaharas sind weitgehend abhän- verfolgt werden. So führte das bislang gig von ausländischen Hilfsgeldern, nicht belegte Gerücht, Frankreich und Ver- sodass al-Gaddafis Leistungen vor allem treter des NÜR hätten im Frühjahr ein Ge- von den jeweiligen korrupten und autoritä- heimabkommen geschlossen, für harsche ren Regimes geschätzt wurden. Burkina Kritik. Darin soll der NÜR Frankreich an- Faso hingegen gilt als mögliches Aufnah- geblich 35% der libyschen Ölförderung meland für al-Gaddafi, immerhin wurde versprechen, wenn Sarkozy im Gegenzug ihm durch die Regierung Burkina Fasos den Übergangsrat als legitimen Vertreter Asyl angeboten. Libyen hatte unter al- Libyens anerkenne. Diese Meldungen Gaddafi viele Gastarbeiter aus den subsa- wurden umgehend dementiert, zeigen harischen Anrainerstaaten vor allem als aber, wie sensibel und argwöhnisch das ungelernte Arbeitskräfte im Bausektor be- humanitäre Engagement des Westens in schäftigt. Tausende von ihnen sind auf- Libyen auch zukünftig beobachtet werden grund der kriegerischen Auseinan- wird. dersetzungen in ihre Heimatländer geflo- hen, sind arbeits- und perspektivlos, be- 5. Die Akzeptanz regionaler Akteure: gehen Straftaten, um zu überleben und Während in Europa und bei den USA der können von den jeweiligen Regierungen NÜR längst als legitimer Vertreter des li- nicht versorgt werden, sodass sie als des- byschen Volkes gilt und als Transformator tabilisierender Faktor in den Heimatlän- akzeptiert wird, mittlerweile auch das dern angesehen werden.25 Ein Umstand, skeptische Russland ebenso wie die meis- für den der Umsturz in Libyen und damit ten arabischen Ländern den NÜR aner- der NÜR verantwortlich gemacht wird. Al- kennt, bleibt die Haltung vieler Gaddafi hingegen hätte die Stabilität gar- afrikanischer Regierungen ausgesprochen antiert. Immerhin gewährleisteten die kühl und skeptisch. Viele zögerten mit der Gastarbeiter lebensnotwendige Rücküber- Anerkennung des NÜR, darunter auch die weisungen an ihre Familien und generier- Afrikanische Union und Mitgliedsländer ten damit eine wesentliche wie Südafrika. Insbesondere die südlichen Einnahmequelle der armen Heimatländer. direkten Nachbarn Niger und Tschad, aber So sollen nigerische Gastarbeiter jede auch andere subsaharische Länder wie Woche 217.000 USD an ihre Familien Nigeria, Burkina Faso oder Mali betrach- überwiesen haben.26 Außerdem sollen ten die Umsturzereignisse in Libyen deut- viele Nigerer auf Seiten al-Gaddafis als lich kritisch. Fast alle unterhielten enge Söldner gekämpft haben. Für den NÜR Beziehungen zu al-Gaddafis Regime, bedeuten die engen Verbindungen al-Gad- immerhin erhielten sie von ihm langjährige dafis zu den Nachbarländern eine enorme finanzielle Unterstützung. So lieferte es Herausforderung, muss er doch bestrebt Milliardensummen und Militärausrüstung sein, vertrauensvolle Beziehungen zu an Länder wie Niger, den Tschad oder Bur- ihnen aufzubauen, um zukünftig Grenzsi- kina Faso und unterstützte Separatisten cherheit, langfristige Stabilisierung und po-

23 So führte er die Rebellengruppe Front for the Liberation of Aïr and Azaouak. Zwischen 1996 und 2004 war er Nigers Tourismusminister. 24 Anfang September 2011 kamen Hinweise auf, nach denen ein Autokonvoi die libysch-nigerische Grenze überquert hatte. Die nigerische Regierung dementierte jedoch umgehend, dass sich al-Gaddafi in einem der Wagen befunden hätte. Rissa ag Boula soll hingegen den Konvoi begleitet haben. 25 Allein aus Niger sollen seit Beginn der Unruhen im Februar 2011 knapp 70.000 Gastarbeiter in ihr Hei- matland zurückgehrt sein. Zu Beginn der Aufstände sollen bis zu 1.200 nigerische Staatsbürger die Grenze überquert haben. 26 Ihr Lohn soll in Libyen zwischen 108 und 216 USD pro Monat betragen haben. Das BIP pro Kopf in Ni- gerbeläuft sich auf 700 USD, 63% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Mit einem Gini- Koeffizient von 43,9 hat Niger eine ungleiche Einkommensverteilung, das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 627 USD im Jahr. Damit gehört Niger zu den ärmsten Ländern der Welt. Der Tschad generiert ein Pro- Kopf-Einkommen von 1.500 USD im Jahr und belegt beim Human Development Index Rang 163 von 169. Über 80% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Ähnliches gilt für Burkina Faso: Das BIP pro Kopf liegt bei 1.200 USD, fast 80% der Bevölkerung sind Analphabeten. Die Lebenserwartung beträgt nur 53 Jahre. Das Land liegt beim Human Development Index auf dem vorletzten Rang.

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litischen Verhandlungsspielraum zu erlan- werden könnte. Vieles hängt davon ab, gen. Dies erscheint momentan eher wann und welche staatlichen Institutionen schwierig. Darüber hinaus hat sich das aufgebaut werden können, um Sicherheit, Verhältnis zwischen Algerien und dem Kontrolle und Stabilität im gesamten NÜR dramatisch verschlechtert. Konkreter Staatsgebiet zu gewährleisten. Die Erfah- Auslöser war die Aufnahme von al-Gad- rungen im Irak oder Jemen zeigen, dass dafis Ehefrau, seiner Tochter und dreier mangelnde oder fehlende staatliche Ge- Söhne aus „humanitären Gründen“ durch walt zu Rückzugsgebieten für militante die Regierung Bouteflikas. Bislang hat die nichtstaatliche Gewaltakteure führen kann. algerische Regierung den NÜR auch nicht So gilt Jemen mittlerweile als „sicherer als legitime Vertretung Libyens akzeptiert. Hafen“ für militante Islamisten der Al- Die Beziehungen zwischen al-Gaddafi und Qaida auf der Arabischen Halbinsel Bouteflika waren traditionell eng, das al- (AQAP). Das Kontrollvakuum im Irak nach gerische Regime verfolgt die Umwäl- dem Sturz Saddam Husseins hatte zungsprozesse in den Nachbarländern mit ebenso dazu geführt, das der Irak zum großem Argwohn und versucht bislang, Sammelbecken unzähliger militanter isla- ähnliche Entwicklungen im eigenen Land mistischer Gruppen und Akteure wurde, zu unterbinden. In diesem Zusammen- was zu Anschlagsserien und vielen To- hang könnte auch das zukünftige Verhält- desopfern geführt hatte. Einer ähnlichen nis zwischen Algerien und Libyen auf eher Entwicklung kann der NÜR vorbeugen, eisigem Niveau stagnieren. Dies hätte gra- indem er schnell wirtschaftlich und poli- vierende politische und wirtschaftliche Fol- tisch geordnete Zustände sichert. Hierfür gen und könnte die Stabilität des neuen wird er auf die Unterstützung seiner inter- Libyens gefährden. nationalen Partner angewiesen sein. Deutschland hat bereits betont, sich auf 6. Die Garantie von Sicherheit: Bislang Anfrage u. a. bei der Unterstützung der scheint es, als sei der islamistische Ein- Polizeiausbildung zu engagieren. Eine fluss im NÜR begrenzt, wenngleich ihm eventuelle militante Gefährdung hängt auch Repräsentanten der Muslimbrüder auch wesentlich vom zukünftigen Verhält- angehören. Eine starke islamistische Op- nis Libyens zu seinen Nachbarn ab: Die position hatte es unter al-Gaddafi nicht ge- unwirtlichen Grenzen zu den südlichen geben, da er politisch wie militärisch Nachbarn können kaum gesichert werden, gegen sie vorgegangen war und viele Is- die Kontrollmöglichkeiten sind gering und lamisten ins Exil getrieben hatte. Auch mi- die Bereitschaft dieser Länder, den NÜR litante Islamisten mit Verbindungen zum hierbei zu unterstützen, scheint bislang Al-Qaida-Netzwerk wurden von al-Gaddafi eher nicht vorhanden zu sein. Umso mehr vehement verfolgt. Viele von ihnen mus- wird es darauf ankommen, das Vertrauen sten Libyen verlassen, kämpften in Afgha- zwischen neuer libyscher Regierung und nistan oder dem Irak oder wurden in Abu den Nachbarn zu verbessern, sonst dro- Salim inhaftiert und gefoltert. Allerdings hen nicht nur zwischenstaatliche Span- lässt sich bislang noch nicht absehen, ob nungen sondern auch die Gefahr durch und inwieweit eine militant-islamistische militante Islamisten. Gefährdung für die neue libysche Regie- rung zu einer fundamentalen Bedrohung Sebastian Sons

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59 Deutsches Orient-Institut Algerien

Landesdaten Algerien Fläche1 2011 2.381.741 km² Bevölkerung2 2011 35.400.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 12,3 Ethnische Gruppen4 2010 AraberBerber 99%, andere 1% sunnitische Muslime 99%, Religionszugehörigkeit5 2010 Christen und Juden 1% Durchschnittsalter6 2010 27,6 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 24,2% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 5,2% Lebenserwartung9 2010 72,9 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2011 49.600.000 Geburten pro Frau11 2009 2,3 Alphabetisierungsrate 2010 69,9% Mobiltelefone12 2009 32.730.000 Nutzer Internet13 2009 4.700.000 Nutzer Facebook14 2011 2.293.560 Wachstum BIP15 2008 3,0% BIP pro Kopf16 2010 8.477 USD Arbeitslosigkeit17 2010 10,0% Inflation18 2011 5,0% S&PRating19 2011 k. A. Human Development Index20 2010 Rang 84 (von 169) Bildungsniveau21 2010 Rang 105 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 36,3% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 Politische Teilhabe23 2010 17,5% Korruptionsindex24 2010 Rang 105 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 The World Bank, http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 17 CIA – The World Factbook. 18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratingsactions/en/us. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nations Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

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Algerien und dem amtierenden Präsidenten. So gilt das Regime in Algerien als multipolar und un nfang 2011 richtete sich die interna- durchsichtig, der Parlamentarismus ver tionale Aufmerksamkeit auf Alge- schleiert die wahren Machtverhältnisse. Die Arien: Inspiriert durch die Proteste im Machteliten räumten sich selbst umfassende benachbarten Tunesien lieferten sich in Privilegien ein, bereicherten sich und hielten vielen größeren Städten Jugendliche und ihre Macht fest umklammert. Sicherheitskräfte tagelang Straßen- schlachten. Auslöser war die allgemeine Der Großteil der Bevölkerung profitierte der soziale Unzufriedenheit aufgrund der weil weder vom Wohlstand durch den Erdöl hohen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und und Erdgasexport, noch durch die eingeführ Perspektivlosigkeit vor allem in der jungen ten marktwirtschaftlichen Reformen. Im Bevölkerung. Doch Aufstände sind in Al- Gegenteil: Die wachsenden sozialen Unruhen gerien seit Jahren an der Tagesordnung. in den 1980er Jahren, hervorgerufen durch Die in viele kleine Gruppen zersplitterte steigende Lebensmittelpreise, Wohnungsnot, Opposition konnte durch soziale Zuge- Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit, ständnisse schnell zerschlagen werden. führten 1988 zu landesweiten Protesten. Als Bis zum Sommer blieb es ruhig in Alge- Ausweg aus der Krise beschloss der dama rien. Mit der Aufnahme eines Teils der Fa- lige Staatspräsident Bendjedid, eine politische milie des verbündeten Gaddafi-Regimes Öffnung einzuleiten. Die neue Verfassung öff Ende August nahm der Unmut über das al- nete den Weg zu einem Mehrparteiensystem, gerische Regime nun wieder zu.1 es kam zur Gründung zahlreicher neuer Par teien, die Medienlandschaft wuchs, die Zivil I. Politisches System und gesellschaftli- gesellschaft trat stärker in den Vordergrund. che Entwicklungen Als sich jedoch bei den Wahlen 1992 ein Sieg Die Grundkonstanten des Machtgefüges sind der Islamistischen Nationalen Befreiungsfront in Algerien seit Erlangung der Unabhängigkeit (FIS) abzeichnete, wurden die Wahlen abge 1962 unverändert: Die politische Macht liegt brochen. Die FIS wurde verboten, Anhänger weiterhin beim Militär. Die Machtelite, die eng inhaftiert. 1992 gründete sich die sunnitisch mit dem staatlichen PetroKonzern Sonatrach geprägte Bewaffnete Islamische Gruppe verbunden ist, setzt sich aus regional verwur (GIA) als ursprünglich militärischer Arm der zelten Clans zusammen, die zumeist aus dem FIS. Sie verfolgte den Sturz des algerischen Ostteil des Landes stammen. Die Teilnahme Staatssystems und die vollständige Islamisie am Befreiungskampf 1954 bis 1962 sowie rung der algerischen Gesellschaft. Mittler eine militärische Laufbahn dienen zum Auf weile hat die GIA deutlich an Bedeutung bau von Beziehungsnetzwerken und als Le verloren und gilt manchen Beobachtern als gitimation für spätere Führungsansprüche. zerschlagen. Die innere Struktur der GIA war stets sehr heterogen und intransparent: Be Nach der Unabhängigkeit zeigte sich, dass reits kurz nach der Gründung agierten einige das Militär die stärkste Institution des Landes Mitglieder der GIA autonom und verfolgten war. Fortan herrschte in Algerien ein autoritä konträre Zielsetzungen gegenüber der FIS. res Regime, dass jegliche Opposition unter Ihre fehlende Dialogbereitschaft, ihre radikale drückte. Es kam immer wieder auch zu Ideologie und das gewaltbereite Vorgehen internen Machtkämpfen zwischen den einzel gegen die eigene Bevölkerung führten in der nen Clans und Rivalitäten sowie schwierigen Folge zu einem Legitimitätsverlust in weiten Aushandlungsprozessen zwischen der Armee Teilen der Bevölkerung. Einzelne GIAMitglie

1 Ende August verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Algerien und Libyen deutlich. Grund war die Einreise einzelner Mitglieder des GaddafiClans in das Nachbarland. Das algerische Regime betonte, dass diese Entscheidung aus rein humanitären Gründen getroffen worden war. Am Tag zuvor kam es in Algerien zu einem Bombenanschlag auf eine Militärakademie. AlQaida im islamischen Maghreb (AQIM) hatte sich aus Strafe für die Unterstützung des GaddafiRegimes zu dem Anschlag bekannt. Das algeri sche Regime hatte sich zuvor geweigert, die Übergangsregierung in Libyen anzuerkennen. Ebenso wurde berichtet, dass Algerien noch vor wenigen Wochen Waffen und Söldner an Gaddafi geschickt hatte. Der Sturz des GaddafiRegimes scheint Algerien überrascht zu haben. Algerien ist nun de facto das einzig ver bliebene autokratische Regime in Nordafrika. Die Aufnahme der GaddafiFamilie zeigt die ungebrochene Verbundenheit mit Gaddafi und sendet eine klare Botschaft an alle Sympathisanten der Revolutionäre. Während ganz Nordafrika von politischen Umbrüchen erfasst wird, unterdrückt das algerische Regime weiterhin mit allen Mitteln jegliche Demokratisierungsbewegung mit harter Hand. Damit isoliert sich Al gerien zunehmend. Unter algerischen Oppositionellen hat die Aufnahme des GaddafiClans für Empörung gesorgt, sie ist bis jetzt jedoch ohne Konsequenzen geblieben.

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der wandten sich einer während des Bürger Bevölkerung zu schaffen3; krieges neu entstandenen Gruppierung zu. ● das Staatsmonopol; Die Salafistische Gruppe für Predigt und ● der vorherrschende Klientelismus; Kampf (GSPC) wurde 1998 gegründet und ● die Korruption4 nannte sich 2006/2007 in AlQaida im islami schen Maghreb (AQIM) um. Der Wahlabbruch 1992 lässt sich unter die sem Gesichtspunkt als bewusste Blockade Auch wenn sich die Sicherheitslage seit Ende des Demokratisierungsprozesses und als der 1990er Jahre stabilisiert hat, werden Mittel zur Machterhaltung der Elite verstehen. heute immer noch gewaltsame Übergriffe auf Die EU und insbesondere Frankreich, das Al die einheimische Bevölkerung und Touristen, gerien über 130 Jahre lang kolonisiert hatte, insbesondere im Grenzgebiet zu Tunesien unterstützten das algerische Regime gegen und in den peripheren Saharagebieten, ver die islamistischen Gruppen aus geostrategi übt. Terroristische Aktionen der AQIM richten schen und wirtschaftlichen Interessen. Der sich teilweise auch gegen Regierungs und Bürgerkrieg endete mit der Kapitulation der Sicherheitsinstitutionen in den urbanen Zen FIS 2002 und der „Charta für Frieden und na tren. Der zehnjährige Bürgerkrieg zwischen tionale Versöhnung“ 2005, die eine Genera verschiedenen islamistischen Gruppen und lamnestie für alle Sicherheitskräfte, Milizen den algerischen Sicherheitskräften forderte und bewaffnete Gruppen festlegte. Das bis zu 200.000 Todesopfer und tausende Ver Trauma des Bürgerkrieges, nach dem Unab schwundene. Dabei wurden von allen Seiten hängigkeitskrieg 19541962 der zweite blutige schwere Menschenrechtsverletzungen be Konflikt innerhalb weniger Jahrzehnte, prägt gangen. die algerische Bevölkerung aufgrund einer ta buisierten öffentlichen Vergangenheitsbewäl Die Islamisten hatten in den 1980er Jahren tigung bis heute. So bleiben die Ursachen des wachsenden Zuspruch aufgrund der allge Bürgerkrieges bis heute ungelöst. meinen sozialen Unzufriedenheit erlangt. Die Ursachen des Bürgerkrieges sind jedoch nicht II. Voraussetzungen für den Willen nach ideologischer Natur, sondern liegen in den po Wandel litischen, ökonomischen und kulturellen Ver hältnissen, darunter: In Algerien kommt es seit 2001 permanent zu lokalen Aufständen. Wöchentlich stattfin ● die politische Unterdrückung der Op dende Demonstrationen setzen sich für sozi position durch das autoritäre und ale Belange ein, vor allem wird gegen die selbstherrliche Regime; Arbeitslosigkeit und den Wohnungsmangel ● die kulturelle Unterdrückung der ber demonstriert. Für das Jahr 2010 wurden ins berischen Bevölkerung und die Instru gesamt etwa 10.000 lokale Aufstände gezählt, mentalisierung des Araber Berber bei denen meistens öffentliche Gebäude be Konflikts2; setzt werden. ● das wirtschaftliche Versagen der Re gierung, die Abhängigkeit vom Öl und In der algerischen Gesellschaft herrscht Gas zu lockern, die Wirtschaft zu di weiterhin eine allgemeine soziale Unzufrie versifizieren und genügend neue Ar denheit. Die Arbeitslosigkeit wird auf inoffiziell beitsplätze für die stetig wachsende 40% geschätzt. 70% der Algerier sind unter

2 Die Berber sind eine heterogene Volksgruppe, die in ganz Nordafrika zu finden ist. In Algerien sind etwa 30% der Bevölkerung berberophon. Die Kabylen bilden die größte Gruppe unter ihnen, gefolgt von den Chaouis. Die Kabylei zählt zu den ärmsten Gebieten in Algerien. Seit dem „BerberFrühling" im Jahr 1980, als die Unruhen in der Kabylei von den algerischen Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen wurden, kam es immer wieder zu Demonstrationen und Zusammenstößen zwischen der einheimischen Bevölke rung und der Zentralregierung, vor allem wegen der Nichtanerkennung des Kabylischen als Amtssprache. 3 Die Unzufriedenheit über die deutliche Asymmetrie zwischen gesamtwirtschaftlicher wachstumszentrier ter Entwicklung und mikroökonomischen menschlichen Entwicklungen war neben der Forderung nach größeren politischen Freiheiten der wesentlichste Konfliktpunkt der Protestbewegungen in den arabischen Staaten zu Beginn dieses Jahres. Denn Ressourcenreichtum und hohe Wachstumsraten aufgrund struk tureller Anpassungsprogramme hatten keinen positiven Einfluss auf die Arbeitsmarktentwicklung. 60% der algerischen Bevölkerung soll im informellen Sektor beschäftigt sein. Die politische Elite bildet in Al gerien gleichzeitig auch die Wirtschaftselite und bereicherte sich ungehindert an den vorhandenen Ressourcen. Die wachsende soziale Ungleichheit zeigt sich auch an folgendem Widerspruch: Algeriens Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2010 8.477 Dollar, damit liegt das Land vor China und Indien. Gleich zeitig liegt der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, seit Jahren auf einem konstant hohen Bereich, in Algerien zwischen 23 und 30%. 4 Der Korruptionsindex von 2010 listet Algerien auf Rang 105 von 178 Ländern weltweit.

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30 Jahre alt und die Hälfte von ihnen ist ar hervor. Bereits im Mai 2010 erfasste eine all beitslos. Es herrschen große Einkommens gemeine Streikwelle das Land. Anfang De disparitäten zwischen der Elite und der zember versuchten über 200 Jugendliche, auf Mehrheit der Bevölkerung. Die Bevölke dem Seeweg nach Spanien überzusetzen. rungsverteilung Algeriens ist sehr ungleich: Ebenfalls im Dezember kam es zu Unruhen 96% der Einwohner leben im Norden auf in der Bevölkerung, als die Polizei mit der einem Fünftel der Staatsfläche. Über die Räumung der informellen Märkte, auf denen Hälfte, Tendenz steigend, wohnen bereits in 60% der Waren verkauft werden sollen, be Städten, die hauptsächlich im Küstenbereich gann. Eine nahende Brotkrise wurde ange liegen. Die hohe Auswanderungsquote ist kündigt. Anfang Januar stiegen die Preise für hauptsächlich auf die fehlenden Arbeitsmög Grundnahrungsmittel wie Zucker und Spei lichkeiten und den wachsenden Bevölke seöl um 20% an. Nun erhoben sich große Be rungsdruck zurück zu führen. völkerungsteile im Norden des Landes. Schätzungsweise 2,3 Mio. Algerier leben im Manche forderten die Entpolitisierung des Mi Ausland, davon über 1,5 Mio. in Frankreich. litärs, andere beklagten die schlechten Le bens und Arbeitsbedingungen. Viele hatten Ein weiteres Problem ist die katastrophale ihre Angst vor erneutem Blutvergießen verlo Wohnsituation besonders in den Großstädten, ren. Es kam zu schweren Auseinanderset die durch die stetig wachsende Bevölkerung zungen und Plünderungen. Die junge zunimmt5. Dies beeinträchtigt vor allem die Generation mobilisierte sich über soziale junge Generation, der es kaum möglich ist, zu Netzwerke, Studentenproteste bildeten eine heiraten und eine Familie zu gründen. Auch treibende Kraft. Seit Jahren sind die Studen die kommunalen Dienstleistungen, insbeson ten aufgebracht über die miserablen Studien dere die Wasserversorgung, sind mehr als bedingungen, die fehlende berufliche mangelhaft. Perspektive und die Bevorzugung der franko phon ausgebildeten Absolventen auf dem Ar Den Protesten fehlt die gesellschaftliche beitsmarkt. AlQaida im islamischen Maghreb Mitte, die seit dem Bürgerkrieg geschwächt (AQIM) bot den Demonstranten per Video ist. Durch den jahrelangen Krieg konnte sich botschaft ihre Unterstützung zum Sturz der al auch keine funktionierende Zivilgesellschaft gerischen Regierung an. AQIMFührer Abu entwickeln. Aufgrund des in den 1980er Jah Musab Abdul Wadud stellte militärische Hilfe ren gescheiterten Versuchs des Pluralismus und Ausbildung in Aussicht. herrscht heute ein tiefes Misstrauen gegenü ber der Politik, die Jugendgeneration ist durch IV. Auswirkungen des „Arabischen die Korruption von politischem Desinteresse Frühlings“ geprägt. Die politischen Parteien sind daher unbeliebt, aufgrund der Repressionen des Im Januar bildete sich schließlich die CNCD Regimes sind die politischen Parteien (Coordination Nationale pour le Changement schwach entwickelt und untereinander zer et la Démocratie), eine Koalition oppositionel splittert. Die Unzufriedenheit der Algerier mit ler Gruppen und der Menschenrechtsliga. der politischen Klasse äußert sich auch in äu Streiks, SitIns und Demonstrationen fanden ßerst niedrigen Wahlbeteiligungen: Bei den seither in wöchentlichem Rhythmus statt: Ar Parlamentswahlen 2002 lag diese bei 46%, beiter demonstrierten gegen die Hunger im Jahr 2007 sogar nur bei 35,5%. löhne, Arbeitslose fordern ihre sozialen Rechte ein, Lehrer und Lehrerinnen beklag III. Akteure des Wandels und konkrete ten die Unmenschlichkeit ihrer Arbeitsver Auslöser träge. Familien der Opfer des Terrorismus und ehemalige Strafgefangene aus der Zeit des Die lokalen Aufstände in den größeren Städ Bürgerkrieges forderten Entschädigung. Meh ten Algeriens haben durch die Ereignisse in rere Fälle von Selbstverbrennungen wurden Tunesien und Ägypten neuen Antrieb bekom berichtet. Diese fanden meist vor Regie men. Die Selbstverbrennung des tunesischen rungsgebäuden statt. Gemeindepolizisten Gemüsehändlers Muhammad Bouazizi gilt als prangerten den Tod tausender Kollegen an, Initialzündung für den großen Januaraufstand die im Kampf gegen Islamisten ums Leben zum „Sturz des Systems“. Die Revolutionen kamen. Die Sicherheitskräfte versuchten mit in den Nachbarländern riefen weitgehende Gewalt, die Aufstände niederzuschlagen, Tau Begeisterung in der algerischen Bevölkerung sende wurden verhaftet.

5 Die Bevölkerung beträgt 2011 35,4 Mio. und wird bis 2030 voraussichtlich auf 49,6 Mio ansteigen.

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Infolgedessen kam es zur Bildung zahlreicher Februar 20 Mrd. EUR für Sozialmaßnahmen neuer Vereinigungen von Interessensgrup zur Verfügung. Den Preissteigerungen bei Le pen. Die große Schwäche der Protestbewe bensmitteln entgegnete man mit der Vergabe gungen bleibt dennoch bislang, dass die von gewaltigen Geldmitteln, im Jahr 2011 sol Oppositionsgruppen nach wie vor getrennt len insgesamt 2,2 Mrd. EUR für Subventionen voneinander agieren, so dass sich keine ge bereitgestellt werden. Dies bedeutet eine Stei einte landesweite Protestbewegung etablie gerung im Budget um 25%. Das Maßnah ren konnte. Die Demonstranten eint weder die menpaket wird jedoch die Probleme nur Zugehörigkeit zu einer einzelnen Partei, noch kurzfristig mildern, nicht aber die Ursachen ein gemeinsames Schlagwort. Vielmehr ist es der sozialen und wirtschaftlichen Missstände das Gefühl der Erniedrigung durch die wirt lösen können. schaftlichen Missstände und die beschränk ten Partizipationsmöglichkeiten, das die junge VI. Zukunftsszenarien Bevölkerung mobilisiert. Trotz wöchentlich stattfindender Kundgebun V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure gen ist es in Algerien bis jetzt nicht zu einer breiten Mobilisierung gekommen. Zum einen Auf Druck der zahlreichen Proteste reagierte hängt dies damit zusammen, dass die Oppo das Regime mit einer Mischung aus Zuge sition in viele kleine Gruppen zersplittert ist. ständnissen und Repressionen, um den sozi Bereits die Aufhebung des Notstands rief ge alen Frieden „zu erkaufen“. Zunächst wurde teilte Reaktionen und unterschiedliche Vorge am 24. Februar 2011 der Ausnahmezustand, hensweisen unter den Protestgruppen hervor. der seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges Die Arbeit der politischen Parteien wird von 1992 galt, überraschend aufgehoben. Den der Bevölkerung mit Misstrauen beobachtet, noch blieben Demonstrationen und Ver sie bieten für viele keine Alternative zum be sammlungen weiterhin aus stehenden System. Zu tief sitzen die Wunden Sicherheitsbedenken verboten, ein neues des gescheiterten Demokratisierungsprozes AntiTerrorGesetz wurde proklamiert. Am 15. ses zu Beginn der 1990er Jahre und die Angst April kündigte Präsident Bouteflika6 eine Re vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die form der Verfassung und eine politische Öff Islamisten haben ihre politische Legitimität nung an. Er versprach die Schaffung neuer längst verloren und an Mobilisierungskraft ein Arbeitsplätze und die Zulassung aller politi gebüßt. schen Parteien zum staatlichen Fernsehen und Radio. In seiner Rede schürte er bewusst Doch der Bevölkerung liegt an einer grund die Angst vor dem Ausbruch eines neuen blu sätzlichen Veränderung des korrupten, auto tigen Konflikts und beschwor die Einheit und ritären und elitären Systems. In Algerien gibt Stärke der algerischen Nation. Die geringfü es keine zentrale Machtfigur, die Absetzung gigen Veränderungen im Verfassungstext des Präsidenten Bouteflika würde das Macht machten jedoch wenig Mut auf eine grundle gefüge nicht verändern. Das Militär, das gende Veränderung des politischen Systems. faktisch im Hintergrund die eigentlichen Ent scheidungen trifft und den Präsidenten und Um die Proteste zu mildern, wurde zeitweilig alle Regierungsentscheidungen beeinflusst, der Zugang zu Internetseiten wie Facebook würde vermutlich einen neuen Präsident und Twitter, auf denen zu landesweiten Pro schaftskandidaten aus ihren Reihen vorstel testen aufgerufen wurde, beschränkt. Es len. Einen generellen Systemwechsel in folgte eine Offensive der sozialen Zugeständ Richtung Demokratie, wie es die Opposition nisse: Die Regierung stellte im Januar und fordert, wäre nur möglich, wenn das Militär

6 Abdelaziz Bouteflika, 1937 in Oujda/ Marokko geboren, schloss sich 1956 der algerischen Befreiungs bewegung Front de Libération Nationale (FLN) an. 19621963 war er Minister für Jugend, Sport und Tou rismus und von 19631979 Außenminister. In den 1980er Jahren lebte er zeitweise im Ausland; seit 1999 ist er Staatspräsident Algeriens (2004 und 2009 wiedergewählt). Eine Verfassungsänderung von 2008 ermöglichte dem Präsidenten eine umstrittene dritte Amtszeit. Seine Nationale Befreiungsfront (FLN) führt Algeriens Regierung seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1962 ohne Unterbrechung an. An fangs wurde Bouteflika vom Militär gestützt, später begann er sich zu distanzieren. Mit einem erfolgrei chen Referendum zur nationalen Versöhnung 2005 wurde den Aufständischen im Gegenzug für eine Niederlegung der Waffen eine Amnestie gewährt. Auch den AQIMKämpfern, die immer wieder Anschläge ausführen, hat Bouteflika eine Amnestie angeboten. Der Sicherung der algerischen Unabhängigkeit be gegnet er mit vorsichtigen Reformen und einer wirtschaftlichen Öffnung. Doch die Öleinnahmen kommen bei der breiten Masse nicht an.

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entpolitisiert würde. Umwandlung in Tunesien oder ein Voran schreiten demokratischer Reformen in Ma Dies erscheint zum jetzigen Zeitpunkt un rokko könnte, ähnlich wie nach der wahrscheinlich, da Algerien aufgrund seiner Selbstverbrennung von Bouazizi, große Sig hohen Ressourcenvorkommen und der Nähe nalwirkung ausüben. Auch der Sturz Muam zu Europa international immer mehr an Be mar alGaddafis wird Auswirkungen auf deutung gewinnt. Die Wirtschaft verzeichnet Algerien haben. Sollte es gelingen, die Oppo weiterhin hohe Exportraten, 2011 wird das sition zu einen, könnte die Stärke dieser Pro Bruttoinlandsprodukt voraussichtlich um 3,7% teste das Regime zum Handeln zwingen. Wie aufgrund der hohen Erdöl und Erdgaspreise bereits erwähnt, ist zusätzlicher Druck aus der wachsen. Der Handel verzeichnete im ersten EU dringend notwendig. Ein Systemwandel Halbjahr 2011 ein Plus von 25% im Vergleich und eine Entmachtung des Militärs scheint zum Vorjahr. Bedeutendster Handelspartner zum jetzigen Zeitpunkt mehr als unwahr ist und bleibt Frankreich, es folgen die USA scheinlich, doch die Revolutionen in Tunesien und die Länder der Europäischen Union, die und Ägypten, trotz unterschiedlicher Aus wie damals im Bürgerkrieg das algerische Re gangslage, haben alle überrascht und geben gime aufgrund von wirtschaftlichen und geo Anlass zur Hoffnung. So gibt es auch Positi strategischen Interessen unterstützen. Doch ves zu berichten: Der „Arabische Frühling“ der Einfluss dieser Staaten ist nicht zu unter führte in Algerien dazu, dass der seit 1992 schätzen: Durch die Abhängigkeit der algeri geltende Notstand aufgehoben wurde. Dies schen Wirtschaft vom Ausland wären sie am allein ist als große Errungenschaft zu werten. ehesten in der Lage, Druck auszuüben und Dazu bildete sich ein neues Netzwerk aus den politischen Liberalisierungsprozess zu Vereinigungen und Interessensgruppen, die fördern. Das Regime hat es bis jetzt geschickt Zivilgesellschaft entwickelt sich. Vor allem bie verstanden, die Bevölkerung mit einer Ba ten auch in Algerien die sozialen Netzwerke lance aus Repression und Öffnung ruhig zu eine Plattform für den Austausch zwischen stellen und den sozialen Frieden „zu erkau der sehr jungen Bevölkerung. Politische The fen“. Hierzu zählten auch in der Vergangen men und Missstände werden offener disku heit die Integration einzelner tiert, die Bevölkerung schien in den letzten Oppositionsmitglieder in die eigenen Reihen Monaten nicht allzu sehr von Angst gezeich sowie die Vereinnahmung der „Ressource net zu sein. Eine neue Dynamik hat sich ent Islam“ für das eigene politische Programm. wickelt, auch wenn sie noch durch die Die weitere Entwicklung in Algerien und der Unvereinbarkeit der zahlreichen Protestgrup Erfolg der alltäglichen Proteste sind auch von pen gebremst wird. den Entwicklungen in den Nachbarländern abhängig. Eine erfolgreiche demokratische Samira Akrach

VII. Literaturangaben

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65 Deutsches Orient-Institut Algerien

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LE MONDE

LE QUOTIDIEN D’ORAN

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Deutsches Orient-Institut 66 Marokko

Landesdaten Marokko Fläche1 2011 446.550 km² Bevölkerung2 2010 32.400.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 73 Ethnische Gruppen4 2010 Araber/ Berber 99,1%, andere 0,7%

Muslime 98,7%, Christen 1,1%, Religionszugehörigkeit5 2010 Juden 0,2%

Durchschnittsalter6 2010 26,9 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 27,8% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 6,1% Lebenserwartung9 2010 71,8 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 42.600.000 Geburten pro Frau11 2009 2,3 Alphabetisierungsrate12 2010 52,3% Nutzer Mobiltelefone13 2009 25.311.000 Nutzer Internet14 2009 13.213.000 Nutzer Facebook15 2011 3.596.320 Wachstum BIP16 2010 3,3% BIP pro Kopf17 2010 4.638 USD Arbeitslosigkeit in Prozent18 2010 9,1% Inflation19 2011 2,9% S&PRating20 2011 BBB Human Development Index21 2010 Rang 114 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 139 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 20,1% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2009 26,5% Korruptionsindex25 2010 Rang 85 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 The World Bank, Population Density, http://www.data.worldbank.org/country/morocco. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 CIA – The World Factbook. 8 CIA – The World Factbook. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 CIA – The World Factbook. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratingsactions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

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Marokko und wurde zur Leitfigur des Widerstands. Den Nationalisten war es derweil nicht gelungen, ihre Macht zu festigen. n Marokko sind die politischen Um- brüche der Region nicht folgenlos 1957 nahm Muhammad V. den Königstitel an. Avorüber gegangen. Dennoch ist der Vier Jahre später bestieg Hassan II. nach so genannte „Dominoeffekt“ bisher nicht dem Tod seines Vaters den Thron. Trotz des eingetreten, das marokkanische Volk steht in der Verfassung verankerten konstitutionel fest hinter seinem König, obwohl in Ma- len Charakters der Monarchie regiert der rokko ähnliche wirtschaftliche und politi- König de facto absolut. Er ist das politische sche Defizite wie in den und religiöse Oberhaupt des Landes und Be Transformationsländern Ägypten und Tu- fehlshaber über die Armee, fungiert als Iden nesien existieren: Hohe Jugendarbeitslo- titätsstifter und gilt für die Mehrheit der sigkeit, Klientelismus sowie Bevölkerung als Garant für Stabilität und Ein Einschränkungen bei Demokratie und heit des Landes. Kritik an der Monarchie führt Menschenrechten. Doch als sich im Fe- bis heute zu Verhaftungen, Repressionen und bruar 2011 Jugendliche, Menschenrechts- Zensur. In Marokko gilt der Dreiklang „Gott bewegungen und Islamisten zu VaterlandKönig“, d.h. diese drei Pfeiler des Protestkundgebungen in den größeren Staates sind unveränderbar und heilig. Die Städten versammelten, reagierte der Legitimität der Herrschaft des Königs gilt als König sofort und kündigte eine Verfas- nicht verhandelbar und stützt sich auf die tra sungsreform an, die das Königreich in ditionelle Zeremonie der bay’a, eine Art frei eine konstitutionelle Monarchie umwan- williger islamischer Treueid, der dem deln soll. Die Ernsthaftigkeit der demokra- Rezipienten göttliche Autorität verleiht und ihn tischen Öffnung muss jedoch bezweifelt lebenslang an diesen Eid bindet. Neben der werden: Die Analyse soll zeigen, dass die sakralen Rolle1 als Amir al-mu’minin („Fürst Verfassungsreform von 2011 den politi- der Gläubigen“) stützt sich das marokkani schen Kurs der Monarchie als ein Wech- sche Herrschaftssystem noch auf weitere Le selspiel zwischen Liberalisierung und gitimationsstrategien: Totalitarismus weiter fortführt und an den zentralen Machtbefugnissen des Königs ● Historisch: der Bezug zu Muhammad V. derweil wenig verändert. und seiner Bedeutung für den Unabhän gigkeitskampf I. Politisches System und gesellschaftli- che Entwicklungen ● Demokratisch: die Schaffung „pseudo demokratischer“ Institutionen, die die poli Seit dem 17. Jahrhundert wird Marokko von tische Realität einer de facto absoluten der Dynastie der Alawiden regiert. 1912 Monarchie verschleiern wurde Marokko zur französischen Kolonie er klärt. Der Sultan fungierte als offizielles Ober ● Ökonomisch: der König gilt als größter haupt des Landes, wenngleich die politischen Unternehmer des Landes, ist Teilhaber an Entscheidungen von der französischen Kolo einer Vielzahl an Gesellschaften, Versi nialverwaltung getroffen wurden. 1956 wurde cherungen, Banken und Medien Marokko von Frankreich in die Unabhängig keit entlassen unter der Bedingung, den Staat ● Kulturell: die Arabisierungspolitik als in eine konstitutionelle Monarchie umzuwan Mittel zur innenpolitischen Legitimation, deln. Die Anfänge der nationalen Befreiungs das Hocharabische als neue Identität in bewegung wurden durch Parteien und Abgrenzung zu ehemaligen kolonialen In Vereine gelegt, Sultan Muhammad V. unter stitutionen stützte die Unabhängigkeitsbewegung erst ab den 1950er Jahren. Die Parteien und Vereine ● Wohlfahrtspolitisch: symbolische Identi erkannten damals die Mobilisierungskraft in fikation (Bau der zweitgrößten Moschee der Figur des Sultans. So inszenierte sich der der Welt in Casablanca), „Grüner Marsch“ Sultan als Märtyrer für den Befreiungskampf vom 06.11.1975 für die Zugehörigkeit der

1 Diese wird durch die Abstammung der seit 1664 herrschenden AlawidenDynastie mit der Prophetenfa milie verstärkt. Die Alawiden führen ihre Abstammung auf Hassan ibn Ali, den Enkel des Propheten Mu hammad, zurück und waren somit Scherifen. Sie kamen Ende des 13. Jahrhunderts aus dem Hijaznach Marokko.

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Westsahara zu Marokko wird zu nationa ste Hassan II. die Opposition nun verstärkt mit lem Feiertag ernannt einbeziehen und entwickelte ein ausgefeiltes Instrumentarium zur Machtkonsolidierung. ● Sicherheitspolitisch: Repressalien durch Zur Stabilisierung seiner Herrschaft nutzte er Geheimdienst, Polizei und Militär auch gezielt den Westsaharakonflikt2 von 1975. Auch während der Unruhen in den Der König ist von einem elitären regimetreuen 1970er Jahren konnten sich die politischen Netzwerk umgeben, dem so genannten Parteien nicht als Träger eines sozialen Wan makhzen. Ursprünglich stand dieser Begriff dels etablieren, der politische Islam hat bis für den Ort, an dem eingetriebene Steuern heute keinen zentralen Einfluss erlangen kön aufbewahrt wurden. Heute umfasst der Begriff nen3. die vertrauten Berater des Königs, Angehö rige des Sicherheitsapparates, Teile der Wirt Hassans Sohn Muhammad VI. wurde 1999 schaftselite sowie weitere ausgesuchte im Alter von nur 35 Jahren sein Nachfolger. Er Persönlichkeiten aus Organisationen und erarbeitete sich rasch den Ruf eines Refor Parteien. Die Nähe einzelner Mitglieder des mers4: So entließ er den engen Vertrauten Netzwerkes variiert, die Wirkungsweise des seines Vaters und langjährigen Innenminister Systems hat bis auf die lokale Ebene Be Driss Basri und gründete eine Kommission stand. zur Aufklärung von Menschenrechtsverlet zungen unter dem vorherigen Regime. Für Die Herrschaft Hassan II. war von Autorita viel Aufsehen sorgte die Reform des Famili rismus und einer selektiven Einstellung engesetzes, das den Frauen mehr Rechte im gegenüber westlicher Modernität geprägt. So Falle einer Scheidung und beim Sorgerecht wollte er einerseits Marokko modernisieren einräumte und die Polygamie erschwerte. und wirtschaftlich enger mit Europa und den Ebenso wurde die Kulturszene unter seiner USA zusammen arbeiten. Auf der anderen Herrschaft lebendiger, die Presse vielfältiger Seite ließ er Regimegegner konsequent ver und er schuf zahlreiche neue Sozialprojekte folgen, viele gingen ins Exil. Die härteste Zeit im Rahmen seines Entwicklungsplans Initia- der Regentschaft von Hassan II. wird deshalb tive Nationale de Développement. Beobach mit dem Begriff Années de plomb („bleierne ter sprechen von einer bewussten Jahre“) bezeichnet. Demokratische Reformen Inszenierung als „Bürgerkönig“. Doch all – unter seiner Herrschaft 19611999 wurden diese Reformen täuschen nicht darüber hin insgesamt zehn Verfassungsänderungen ver weg, dass immer noch Verhaftungen und Ver abschiedet – blieben aber immer Machtkalkül. folgungen politischer Gegner vorgenommen, In den 1970er Jahren kam es vermehrt zu Demonstrationen mit Gewalt niedergeschla ökonomisch bedingten Unruhen, Anschlags gen und die Medien willkürlich der Zensur versuche auf den König scheiterten. Nach Kri unterworfen werden. Die Berichterstattung ist tik an seiner Unterstützung der weiterhin den drei heiligen Themen „GottVa AntiIrakKoalition im Zweiten Golfkrieg mus terlandKönig“ unterworfen.

2 Das Gebiet der Westsahara war zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine spanische Kolonie. Marokko be ansprucht die Westsahara als Teil seines Staatsgebietes, während die militärische und politische Orga nisation der Westsahara, genannt Polisario, die Unabhängigkeit des gesamten Territoriums anstrebt. Sie hat 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara ausgerufen, die heute von etwa 50 Staaten an erkannt wird und Mitglied der Afrikanischen Union ist. Als Reaktion darauf trat Marokko aus selbiger wie der aus und ist damit bis heute der einzige afrikanische Staat, der nicht Mitglied der Afrikanischen Union ist. Das Gebiet von Westsahara ist heute geteilt in einen größeren westlichen Bereich unter Kontrolle von Marokko und einen östlichen und südlichen Bereich unter Kontrolle der Polisario. Dem im Jahre 1991 von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand sollte eine Volksabstimmung über die Zukunft des Landes folgen. Trotz existierender Vorbereitungen wurde sie bislang nicht durchgeführt. Unterstüt zer der Unabhängigkeitsbewegung sind Algerien und Südafrika. 3 Die islamistische Bewegung Al-Adl wal-Ihsan wurde 1973 von Sheikh Abdsessalam Yassine gegründet. Die Bewegung widersetzt sich dem Artikel der Verfassung, der den König zum Amir al-mu’minin benennt. Ideologisches Ziel ist die Schaffung eines Kalifats. Die Bewegung ist vom Regime nicht legalisiert wor den. Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) ist seit 1997 im marokkanischen Parlament ver treten und seit 2002 stärkste Oppositionspartei. Die PJD gilt als islamisch orientiert und weist teilweise islamistische Züge auf. Seit den Bombenanschlägen 2003 in Casablanca distanziert sie sich zunehmend von ihrer vorherigen Rhetorik. Sie hat ihre Ideologie säkularisiert, um sich im politischen Feld zu etablie ren. Im Gegensatz zur Al-Adl wal-Ihsan gilt sie als königstreu. 4 Ein Zeichen dafür ist auch seine Heirat mit Lalla Salma, einer Informatikerin aus Fes. Sie präsentiert sich gern unverschleiert in der Öffentlichkeit, oft auch an der Seite ihres Mannes. Hassan II. dagegen besaß einen Harem, seine Frauen lebten von der Öffentlichkeit abgeschirmt.

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So gestaltet sich der politische Kurs der Mon Hochschulabsolventen vor Parlamentsge archie als ein Wechselspiel zwischen Libera bäuden. Die Auswanderungsrate bleibt hoch, lisierung und Totalitarismus. Trotz der weit viele Familien finanzieren sich ausschließlich reichenden Befugnisse des Königs lässt sich über Geldzuweisungen ihrer Familienange eine historische Kontinuität der Infragestel hörigen aus dem Ausland. lung marokkanischer Herrschaftsverhältnisse feststellen, das politische Feld war immer Der Frust über die sozialen Ungleichheiten komplexen Aushandlungsprozessen unterle sitzt tief und hat bedingt durch die Ereignisse gen. Diese Aushandlungsprozesse erreichten in den Nachbarstaaten Tunesien und Ägyp mit den Umbrüchen in der Region eine neue, ten Auftrieb bekommen. Auch der politischen bisher ungeahnte Dimension. Klasse wird nicht getraut, viele junge Marok kaner sind politisch desinteressiert. Das Ge II. Voraussetzungen für den Willen nach fühl herrscht vor, nach den Wahlen oftmals Wandel von den gewählten Politikern belogen worden zu sein. Die Undurchsichtigkeit des elitären Der Reformkurs unter Muhammad VI. kann regimetreuen Netzwerks des makhzen schürt jedoch nicht die bestehenden wirtschaftlichen weiteres Misstrauen. und sozialen Probleme des Landes verde cken. Marokko bildet das wirtschaftliche III. Akteure des Wandels und konkrete Schlusslicht der Maghrebstaaten. Trotz eines Auslöser jährlichen Wirtschaftswachstums von 3,3% (2010) liegt das durchschnittliche Einkommen Trotz des repressiven Klimas gibt es zahlrei nur bei 300 EUR im Monat. Die Hälfte der Be che Akteure, die Widerstand leisten. Die Me völkerung sind Analphabeten, die Armut ist dienlandschaft, die unter Muhammad VI. besonders auf dem Land groß. Eine Dürre vielfältiger wurde, hat sich in den letzten Jah periode hat die Entwicklung zusätzlich ge ren immer wieder kritisch zur Monarchie und hemmt, da 40% der Bevölkerung in der dem makhzen geäußert. Die Grenze des Er Landwirtschaft beschäftigt sind. Grundnah laubten muss dabei stetig neu ausgetestet rungsmittel werden vom Staat subventioniert, werden. Besonders hervorzuheben ist die Be um Unruhen zu vermeiden. Der Unterschied richterstattung des Magazins TelQuel, das zwischen Arm und Reich wächst und wird be seit 2002 erscheint und als kritisch und unab sonders in Villenvierteln wie in Marrakesch hängig gilt. signifikant. Intransparenz, Korruption und De fizite bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Daneben spielte die Jugend auch bei frühe sind Hemmnisse für ausländische Investoren. ren Protestbewegungen eine tragende Rolle: Der Korruptionsindex von 2010 wies Marokko Bereits in den 1990er Jahren bildeten sich den 85. Rang von 178 Ländern insgesamt zu. zahlreiche Jugendkulturen heraus, die mit ihrer Musik progressive Themen zur Diskus Ein weiteres Problem ist der weit verbreitete sion stellten und unter den Jugendlichen po Klientelismus: Attraktive Posten werden inner pulär machten. Auch das Internet nimmt an halb einzelner einflussreicher Familien ver Bedeutung stetig zu5. In Marokko tauschten teilt. Viele junge Marokkaner versuchen oft sich kritische Jugendliche in Blogs schon vor auf illegale und gefährliche Weise nach Eu den Revolutionen in Tunesien und Ägypten ropa auszuwandern. Die junge Generation über soziale Probleme aus. Einzelne Men (65% der Bevölkerung sind unter 30 Jahre) schenrechts und Frauenrechtsorganisatio leidet unter hoher Arbeitslosigkeit, viele wan nen protestierten schon vor den Ereignissen dern auf der Suche nach Arbeit in die größe des 20. Februar regelmäßig für mehr Freihei ren Städte ab. Dort soll die Arbeitslosenrate ten. Im Februar 2011 schließlich organisierten bei den 2534Jährigen bei 26% liegen. Die sich Jugendliche vermehrt im Internet. Die Arbeitslosigkeit bedingt auch, dass die jungen Geschehnisse in Tunesien wurden mit großer Menschen immer später heiraten und eine Aufmerksamkeit beobachtet, die Hoffnung Familie gründen können, Wohnraum ist kaum wuchs, auch die bestehenden Verhältnisse im erschwinglich. Wie in anderen nordafrikani eigenen Land ändern zu können. So wuchs schen Ländern sind besonders die Hochqua auch in Marokko eine neue Bürgerrechtsbe lifizierten von hoher Arbeitslosigkeit betroffen. wegung heran. Die bedeutendste Kundge In den letzten zehn Jahren kam es wöchent bung fand am 20. Februar statt und setzte lich zu Demonstrationen von arbeitslosen sich größtenteils aus Jugendlichen zusam

5 Die Zahl der Internetnutzer ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und wird für das Jahr 2009 auf 13 Mio. bei einer Gesamtbevölkerung von 32 Mio. geschätzt.

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men, wobei ein Großteil von ihnen aus dem und die Wahrung der Menschenrechte geför linken Milieu stammte. Aber auch arbeitslose dert werden. Im Ausland wurden die Reform Hochschulabgänger, Menschenrechtsbewe bemühungen des Königs hoch gelobt, doch gungen und Islamisten schlossen sich den viele Demonstranten sahen ihre sozialen und Protesten an. Sowohl die PJD als auch Mit wirtschaftlichen Forderungen unbeachtet, mo glieder von Al-Adl wa-l-Ihsan waren in die natliche Proteste in den Großstädten waren Proteste involviert. die Folge. Diese wurden durch Enthüllungen über geheime Gefängnisse und Folterungen IV. Auswirkungen des „Arabischen im April und Mai weiter aufgeheizt. Die Poli Frühlings“ zei ging zum Teil hart gegen die fortwähren den Demonstrationen vor, am 2. Juni kam es Sie forderten im Wesentlichen eine neue Ver zum ersten Todesfall durch Polizeigewalt. fassung, die Schaffung einer unabhängigen Nach dem Terroranschlag am 28. April in Mar Justiz, neue Arbeitsplätze und die Bekämp rakesch blieb ein hartes Vorgehen gegen Is fung der Korruption. Die Mitglieder des Parla lamisten jedoch aus. ments wurden als makhzénises verunglimpft. Damit wurde ihnen unterstellt, staatstreu und Zur Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes nicht im Sinne der Bürger zu agieren. Der wurde eine Kommission gebildet. Die Mitglie König selbst und die Institution der Monarchie der waren jedoch vom König ausgewählt wor wurden kaum angegriffen, vielmehr wandte den und somit nicht demokratisch legitimiert. man sich gegen die bestehende Regierung, Vertreter der politischen Parteien durften den insbesondere gegen Ministerpräsident Abbas Entwurf nicht einsehen. Schnell wurde klar, El Fassi. Der König indes galt nach wie vor dass die Grundpfeiler des Systems weiterhin als Identitätsstifter und Garant der nationalen unantastbar bleiben. Trotz vieler Zusprüche Stabilität. behielt sich der König genügend Schlupflö cher vor, um seine Vormachtstellung zu be In Anlehnung an den 20. Februar fanden in wahren. So ernennt er weiterhin den den darauf folgenden Monaten zunächst als Premierminister (unter der Bedingung, dass Reaktion auf die Fernsehansprache des Kö er aus der stärksten Partei des Parlaments nigs vom 9. März 2011 erneut Demonstratio stammt), die Minister auf Empfehlung des nen statt. Nachdem diese blutig Premierministers, kann die Minister absetzen niedergeschlagen wurden, zeigten die De und sogar die komplette Regierung aushe monstranten bei einer erneuten Protestwelle beln. Ebenso ist er Oberbefehlshaber der am 20. März deutlich weniger Sympathie für Armee, Vorsitzender der Exekutive, reguliert den König. Auch von einer kleineren Gruppe die Ernennung von Richtern, kann das Parla von Gegendemonstranten wurde in der ment auflösen und den Notstand verkünden. Presse berichtet. Im Zuge des Referendums zum neuen Verfassungsentwurf versammel Damit zeigt sich, dass der König auch nach ten sich wiederum Zehntausende vor allem in Verfassungsänderung in allen Belangen seine den Städten Casablanca und Rabat und kriti Zustimmung geben muss und damit direkt sierten die undemokratische Zusammenset oder indirekt als Anführer der Regierung zung der Versammlung, die die neue agiert. So bleibt das gleiche institutionelle Verfassung ausarbeiten sollte. System bestehen, der wichtigste Streitpunkt – die absolute Vorherrschaft des Königs – V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure bleibt unverändert. Positiv zu werten ist die Anerkennung der kulturellen Vielfalt der ma Der König wandte sich in einer seiner selte rokkanischen Bevölkerung: Amazigh, die nen Fernsehansprachen am 9. März an das Sprache der Berber6, wird als offizielle Spra Volk und kündigte eine Verfassungsreform an, che anerkannt. Auf die Bekämpfung der die das Königreich in eine konstitutionelle hohen Jugendarbeitslosigkeit reagierte er mit Monarchie umwandeln sollte. Dafür sollten der Schaffung eines Consultative Council on die Rolle des Ministerpräsidenten und die der Youth and Associative Action. Auch andere Parteien gestärkt sowie Rechtsstaatlichkeit persönliche Freiheiten, wie das Recht auf

6 Die Berber sind über ganz Nordafrika verteilt und unterteilen sich in verschiedene Ethnien. In Marokko sind 5065% der Bevölkerung berberischer Abstammung, ein großer Teil von ihnen ist heute arabisiert. Ca. 30 40% der Bevölkerung spricht noch einen der drei berberischen Dialekte: Tarifit im Norden, Tamazight in Zentralmarokko und Tachelhit im Süden. Die kulturellen Rechte der Berber wurden lange unterdrückt, seit 1994 setzt sich die Anerkennung und Förderung der Berbersprachen in Schulen und ihre Reprä sentanz in den Medien schrittweise fort.

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Leben und die freie Meinungsäußerung, sind ten, wie in Ägypten geschehen, Aufklärungs in der Verfassungsänderung enthalten. Es ist prozesse und Gerichtsverfahren wegen Amts jedoch generell fraglich, ob diese Gesetze missbrauch zu fürchten. Trotz der auch in der Realität umgesetzt werden. Denn Enttäuschung über den Verlauf der Verfas die Freiheiten werden nur unter der Voraus sungsreform genießt der König weiterhin in setzung gewährt, dass sie nicht die Grund der Mehrheit der Bevölkerung großen Rück pfeiler des Systems „Gott Vaterland König“ halt. Der König hat rechtzeitig reagiert und berühren. In einer weiteren Fernsehanspra konnte seinen Ruf als Reformer bekräftigen. che vom 17. Juni kündigte der König die Sein großer Vorteil liegt darin, dass er in Ma Durchführung eines Referendums für den 1. rokko keine Konkurrenz zu anderen Füh Juli 2011 an. An jenem Tag wurde die Verfas rungspersönlichkeiten zu fürchten hat. Die sungsreform mit offiziell 98% angenommen. politischen Parteien genießen nicht genug Stimmen aus der Opposition äußerten sich Rückhalt in der Bevölkerung. Ebenso wird der kritisch zum Ergebnis und kündigten weitere König nicht nur von der eigenen Bevölkerung Proteste an. Ende Juli wurden vorgezogene aufgrund seiner historischen und religiösen Parlamentswahlen für den 7. Oktober 2011 Legitimität bestätigt, sondern ist auch in Eu angekündigt. ropa und den USA hoch angesehen. Dem Re gime ist sehr an seiner Außenwahrnehmung VI. Zukunftsszenarien gelegen, ausländische Investoren machen sich weiterhin rar, der Tourismus bleibt eine Die Regierungszeit Hassan II. hat gezeigt, wichtige Einnahmequelle. dass der Monarch in Krisenzeiten gezwungen war, Dialogbereitschaft zu zeigen. Dabei ließ Doch die Proteste seit Beginn diesen Jahres er zögerlich Reformen zu, um die Revolten zu haben, wenn nicht zu einer Revolution, so beruhigen, die Grundkonstanten des Macht doch zu einem entscheidenden Umbruch in gefüges blieben jedoch unverändert. Sein der Gesellschaft geführt: Zum ersten Mal wird Sohn Muhammad VI. setzt diesen Kurs in ge die Rolle und der Einfluss der Monarchie öf mäßigter Form fort. So ermöglicht die Verfas fentlich verhandelt und die Verknüpfung von sungsreform eine demokratische Öffnung. weltlicher und religiöser Macht in Frage ge Doch sind diese Reformen ernst gemeint und stellt. Die Unantastbarkeit des Königs wurde will der König tatsächlich eine Monarchie durch Diskussionen in Internetforen und in kri nach spanischem Vorbild erschaffen? Oder tischen Magazinen wie TelQuel, scheinbar sind diese Zugeständnisse nur dazu gedacht, ohne strenge Zensur, durchbrochen. Dabei das Volk zu beruhigen und international An haben sich die jugendlichen Internetnutzer die erkennung zu erfahren? Die Doppelstrategie Taktiken aus Tunesien und Ägypten zu Eigen des Regimes zwischen demokratischen Zu gemacht, um die Massen zu mobilisieren. geständnissen und Repressionen sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil des politi So ist heute eine stärkere Politisierung unter schen Alltags und ein fortlaufender, immer den Jugendlichen zu spüren. Die verschiede neu auszuhandelnder Prozess. nen oppositionellen Gruppen, darunter Linke, Studierende, Menschenrechtsbewegungen Eine Revolution hat es bis dato in Marokko und Islamisten, treten weiterhin in zahlreichen nicht gegeben, die Proteste sind zum großen Demonstrationen in den Großstädten Marok Teil friedlich geblieben. Beobachter sprechen kos vereint auf. von einer quiet revolution, einem harmoni schen Prozess, bei dem beide Seiten gene Die Verfassungsreform ist als ein wichtiger relle Handlungsbereitschaft gezeigt haben. Schritt in Richtung Demokratie zu werten. Das Beispiel Marokko zeigt, dass es auch Doch es wird noch einige Jahre dauern, um einen anderen Weg in Richtung Demokrati die Wirkung der Verfassungsreform richtig sierung geben kann. Der König hat die einschätzen zu können. Es wird wohl auch Chance, gestärkt aus der Protestbewegung vom Druck der Straße abhängen, wie weit rei hervorzugehen, sollte es ihm gelingen, die chend die Reformen letztendlich umgesetzt Monarchie mit demokratischen Regierungsin werden. Der Ausgang der Parlamentswahlen stitutionen zu verbinden. Die Eliten im Umfeld im Oktober ist ebenfalls von einiger Aussage des Königs wären von einer demokratischen kraft. Umwandlung viel mehr betroffen: Sie stehen hauptsächlich im Zentrum der Kritik und hät Samira Akrach

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VII. Literaturangaben

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Deutsches Orient-Institut 73 Syrien

Landesdaten Syrien Fläche1 2011 185.180 km² Bevölkerung2 2010 22.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 117,71 Araber 90,3 %, Kurden, Armenier Ethnische Gruppen3 2010 und andere 9,7 % Sunniten 74%, andere Muslime (Alawiten, Religionszugehörigkeit4 2010 Drusen), 16%, Christen 10%, Juden 1 % (vor allem in Damaskus, AlQamishli, Aleppo) Durchschnittsalter5 2010 21,9 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren6 2011 37% Bevölkerung über 65 Jahren7 2011 4% Lebenserwartung8 2010 74,6 Jahre Bevölkerungsprognose bis 20509 2010 36.900.000 Geburten pro Frau10 2009 3,1 Alphabetisierungsrate11 2010 79,6% Nutzer Mobiltelefone12 2009 9.697.000 Nutzer Internet13 2009 4.469.000 Nutzer Facebook14 2011 k. A. Wachstum BIP15 2010 3,2% BIP pro Kopf16 2010 4.857 USD Arbeitslosigkeit17 2010 8,3% Inflation18 2011 6,0% S&PRating19 2011 BBB+ Human Development Index20 2010 Rang 111 (von 169) Bildungsniveau21 2010 Rang 149 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 24,7% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 Politische Teilhabe23 2010 5,7% Korruptionsindex24 2010 Rang 127 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 CIA – The World Factbook. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 10 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 11 CIA – The World Factbook. 12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; In ternational Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Develop ment Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/exter nal/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratingsactions/en/us. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/gover nance/wgi/sc_chart.asp. 24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_in dices/cpi/2010.

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Syrien seine Existenz. Solange sich allerdings die vom Regime profitierenden Akteure wie ls Anfang 2010 die Revolutionen in die alawitische Minderheit oder die urbane Tunesien und später in Ägypten Mittelschicht nicht von ihm abwenden Aausbrachen und man überlegte, in oder der internationale Druck u. a. in Form welchen Ländern der MENA-Region der re- von Sanktionen zunimmt, scheint derzeit volutionäre Funke als nächstes übersprin- ein Ende der Gewalt in Syrien nicht abzu- gen könnte, wurde Syrien bei diesen sehen. Prognosen eher vernachlässigt. Zu sehr hatten die Geheimdienste die syrische Ge- I. Politisches System und gesellschaftli- sellschaft im Griff, zu brisant war Syriens che Entwicklungen Lage innerhalb der Region, zu präsent war das Massaker 1982 von Hama. Es war Der Verfassung nach ist Syrien eine sozialis deutlich, dass ein Aufbegehren des syri- tische Volksrepublik in Form eines Präsidial schen Volkes einen besonders schweren systems sowie einer EinParteienRegierung Konflikt nach sich ziehen würde. Während der BaathPartei. Bis 1963 war die BaathPar woanders die Regime drohen zu stürzen, tei von nationalistischen und sozialistischen konnte sich das syrische Baath-Regime in Ideen durchzogen3, was u. a. 1958 zur politi aller Ruhe auf einen potentiellen Ernstfall schen Union mit Ägypten führte. Diese hielt nicht nur militärisch, sondern auch mit allerdings nur bis 1961. Im Jahre 1963 einer Medienoffensive vorbereiten. Prä- putschte sich ein bis dahin geheimes baa ventiv äußerte sich Präsident Bashar al- thistisches Militärkomitee an die Macht, an Assad Ende Januar in einem Wall Street dem sich vor allem Militärs aus ethnischreli Journal-Interview über seine Ansichten zu giösen Minderheiten beteiligten4. Die zuvor guter Staatsführung1, bevor vier Wochen demokratisch, da sie sich an Wahlen betei später eine internationale Modezeitschrift ligte, ausgerichtete BaathPartei verlor fortan ein Porträt seiner Frau Asma veröffent- ihre innere Parteistruktur. Im Jahre 1970 lichte2. Drei Wochen später wurden 15 wiederum übernahm Hafiz alAssad, der Schulkinder nach Wandschmierereien ver- Vater des jetzigen Präsidenten Bashar al haftet. Assad, in einem Staatsstreich die Macht und baute das Staatssystem zum noch heute be Im Zuge dessen weiteten sich die Auf- stehenden System um, in dem nach wie vor stände aus, woraufhin die syrischen Si- die BaathPartei die einzig legale Partei ist. cherheitskräfte mit brutaler Gewalt Da Syrien ein heterogenes Land mit einer reagierten. Bei Zusammenstößen in Deraa, Vielzahl an religiösen Gruppierungen ist, Homs oder Hama kamen mehrere tausend baute Hafiz alAssad die Basis seiner Macht Menschen ums Leben. Bashar al-Assad auf den Mitgliedern seiner Sippe auf, die der versäumte es, die ihm zu Beginn noch ent- Religionsgemeinschaft der Alawiten angehö gegengebrachten Sympathien zu erken- ren, einer muslimischen Minderheit, die mit nen und zu nutzen, um sein System zu den Schiiten verwandt ist. In Syrien gehören stabilisieren. Mittlerweile hat er sich inter- etwa drei Viertel der rund 22,5 Mio. Einwoh national diskreditiert und seine innenpoli- ner dem sunnitischen Islam an, ca. 10% sind tischen Unterstützer schwinden. Zwar Christen, ca. 6% Alawiten und 2% Drusen. handelt es sich noch nicht um einen flä- chendeckenden Aufstand und die innere Ähnlich komplex wie die Bevölkerungsstruk wie äußere Opposition agiert noch zu tur sind die Außenbeziehungen Syriens zu heterogen, allerdings wird es al-Assad seinen Nachbarländern. Nicht nur aufgrund nicht mehr gelingen, die Unruhen schnell der regionalen Lage ist Syrien einer der und ohne direkte Auswirkungen auf sein Hauptakteure im NahostKonflikt. Seit dem Regime zu beenden. Stärker denn je ist Sechstagekrieg 1967 besteht zwischen Sy das repressive syrische System unter rien und dem von Syrien nicht anerkannten Is Druck geraten und kämpft mittlerweile um rael lediglich ein Waffenstillstand an der seinen Einfluss im Land und damit um Grenze zu den annektierten Golanhöhen.5

1 Wall Street Journal: Interview With Syrian President Bashar alAssad, 31. Januar 2011, http://www.on line.wsj.com/article/SB10001424052748703833204576114712441122894.html, abgerufen am 20. Au gust 2011. 2 Buck, Joan Juliet: Asma alAssad: A Rose in the Desert, in: Vogue, 25. Februar 2011. 3 Batutu, Hanna: Syria´s Peasantry, the Decendants of Ist Lesser Rural Notables, and Their Politics, Prin ceton 1990, S. 133. 4 George, Alan: Fortschritt oder Lähmung: Baschâr alAssads Syrien, in: Hartmut Fähndrich (Hrsg.): Ver erbte Macht – Monarchien und Dynastien in der arabischen Welt, Frankfurt/Main 2005, S. 46. 5 Gleichzeitig bedeutet das AssadRegime Stabilität für die israelische Regierung. 75 Deutsches Orient-Institut Syrien

Auch wenn die direkte Konfrontation zwi .a. ein Aufstand in der Stadt Hama im Jahre schen beiden Ländern sich auf ein Minimum 1982 unter Führung der Muslimbrüder brutal beschränkt, ist die syrische Regierung maß niedergeschlagen. geblich an den Aktionen von dritter Seite be teiligt, wie z. B. der militärischen und II. Voraussetzungen für den Willen nach wirtschaftlichen Unterstützung der Hisbollah Wandel im Libanon. Zusammen mit der iranischen Regierung in Iran bilden Syrien und Hisbollah Seit 1963 herrscht in Syrien der Ausnahme eine politisch brisante Achse, die unter ande zustand. Die Regierung duldet keine abwei rem Irans Einfluss im Nahen Osten festigt und chende Meinung, so dass eine große Anzahl so eine potentielle unmittelbare Bedrohung von Regimekritikern ohne faire Prozesse in für den Staat Israel darstellt, was gleichzeitig einem der vielen Gefängnisse landen. Die sy einen Spielraum für konspirative Spekulatio rischen Behörden verfügen über die Macht, nen offen lässt.6 Ebenso unklar ist der Ein Personen ohne Begründung festzunehmen8. fluss des syrischen Geheimdienstes im In Syrien wird die Todesstrafe angewandt. Der Zusammenhang mit der Ermordung des liba Wunsch nach politischer Freiheit in der syri nesischen Ministerpräsidenten Rafiq alHariri schen Bevölkerung konnte bis jetzt nicht im Jahr 2005, der im Zusammenhang mit den quantifiziert werden, da keine objektiven Emanzipationsbestrebungen des Libanons Untersuchungen möglich sind. Wie auch für von Syrien steht.7 Die syrischiranische Ver die anderen arabischen Staaten sprach man bindung hingegen wurde auf einer Presse in Syrien von der „schweigenden Mehrheit der konferenz am 5. Mai 2009 offensichtlich, als Straße“. Dass aber der Wille nach Wandel von gemeinsamen Zielen und der gemeinsa vorhanden war, zeigte schon der Machtwech men Unterstützung der Palästinenser die sel an der Staatsspitze im Jahr 2000, als nach Rede war. So unterhält die Hamas beispiels dem Tod von Präsident Hafiz alAssad sein weise ihr Hauptquartier in Damaskus. Syriens Sohn Bashar mit 34 Jahren zum neuen Prä Ziel dabei ist die Stabilität und Kontrolle der sidenten ernannt wurde. Bashar, der eine Region. So nahm Syrien mit rund 1,5 Mio. Ira westliche Universitätsausbildung genossen kern die meisten Flüchtlinge nach dem Sturz hatte, und eigentlich nicht für die Nachfolge Saddam Husseins im Jahr 2003 auf. seines Vaters vorgesehen war, da nur der Tod seines älteren Bruders Basil im Jahr 1994 ihn Das heutige Syrien muss als Überwachungs in diese Position gebracht hatte, galt zu Be staat bezeichnet werden, in dem mindestens ginn als Hoffnungsträger der jungen Genera fünf unterschiedliche Geheimdienste die Be tion. Von ihm erwartete man eine politische völkerung kontrollieren. Der innere Führungs Öffnung des Landes sowie wirtschaftlichen zirkel sowie die Schlüsselstellen in der Armee Aufschwung. Zu Beginn seiner Herrschaft sind mit Alawiten aus der Sippe des Präsi schienen sich einige dieser Hoffnungen zu denten besetzt. Der Staat steuert die Wirt bewahrheiten: In der ersten von ihm einge schaft überwiegend zentral. Aus den setzten Regierung aus dem Jahre 2001 fand Öleinnahmen, die knapp die Hälfte des eine Verjüngung des Kabinetts statt, um das Staatshaushaltes ausmachen, sichert sich von Bashar angekündigte Ziel umzusetzen, der Machtzirkel um Bashar alAssad die Ge wirtschaftspolitische und technologische Re folgschaft der syrischen Mittelschicht, in der formen anzugehen9. Im Rahmen dieser wirt jene vom Staat profitieren, die ihn unterstüt schaftlichen Reformen sollte zu privaten zen. Die seit 1999 einsetzende Liberalisie Investitionen ermutigt werden, die zugleich rung der Wirtschaft begünstigt vor allem dem Wirtschaftswachstum dienen sollten. Pa Personen, die dem politischen System nahe rallel wurden Verhandlungen über ein EUAs stehen. So sind alle leitenden Personen der soziierungsabkommen geführt, im Herbst großen privaten Unternehmen finanziell an 2001 stellte Syrien den Antrag auf die Mit die Führungselite gebunden. Die öffentliche gliedschaft in der Welthandelsorganisation Meinung wird rigide überwacht. Ein Infrage WTO. Die Staatsunternehmen standen zwar stellen des Herrschaftsanspruches der Baath nicht zur Privatisierung an, aber es wurden In Partei bzw. des AssadRegimes wurde und vestitionen in das Bildungs und Ausbildungs wird auf das äußerste bekämpft. So wurde u wesen getätigt, um u.a. auch privates

6 Wieland, Carsten: Syrian Scenarios and the Levant’s Insecure Future, in Orient III/2011, S. 4145. 7 Bekannt wurden diese Bestrebungen als „Zedernrevolution“. 8 Amnesty International Report 2011, Frankfurt am Main 2011, S. 462. 9 Perthes, Volker (Hg.): Elitenwandel in der arabischen Welt und Iran, Berlin 2002, S. 158.

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Engagement zu fördern. Nach der Amtsüber Jahren. Das Bevölkerungswachstum ist mit nahme von Bashar alAssad entstanden, den 2,24% sehr hoch, im Schnitt bekommt jede Erwartungen an einen gesellschaftlichen syrische Frau 3,1 Kinder. So strömen jedes Wandel entsprechend, überall im Land politi Jahr 250.000300.000 Arbeitssuchende auf sche Diskussionszirkel, die sich mit der Mo den Arbeitsmarkt, was es dem Staat zuneh dernisierung der Gesellschaft beschäftigten. mend erschwert, Beschäftigungsstellen zu Es begann der so genannte „Damaszener schaffen und die Arbeitslosigkeit ansteigen Frühling“: Bereits im Sommer 2000 hatten lässt, die derzeit offiziell bei 8,3% liegt. Als sich Politiker und Intellektuelle dieser Zirkel Folge des IrakKrieges 2003 befinden sich und Gruppierungen im „Memorandum der 99“ mehr als eine Million Flüchtlinge im Land öffentlich an den neuen Präsidenten gewandt Diese zweifache Belastung führte zu einer und ein Ende des Ausnahmezustandes sowie Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im politische Reformen gefordert. Wenig später Land, auch weil die Ölförderung stagniert. folgte das „Memorandum der 1.000“10. Bas Neben diesen langfristigen Faktoren, dem all har selbst hatte in seiner Antrittsrede vor dem gemeinen Willen nach einer Öffnung der Ge Parlament von Respekt vor anderen Meinun sellschaft sowie der angespannten gen gesprochen. Gleichzeitig entstanden wirtschaftlichen Lage befindet sich die syri neue Zeitungen, wie etwa die SatireZeitung sche Landwirtschaft, traditionell wichtigster ad-Doumari mit dem bekannten Karikaturis Wirtschaftssektor, seit vier Jahren in einer ten Ali Farzat als Chefredakteur11. Nachdem Dürrephase. Den Bauern fehlt es an Wasser, anfangs die BaathPartei ihre Mitglieder er und die Prioritäten bei der Wasserverteilung mutigt hatte, an den Diskussionen teilzuneh liegen bei der Versorgung der großen Städte, men, wurde spätestens nach dem Wunsch allen voran Damaskus .13 nach Neugründungen von Parteien zur Gegenbewegung seitens des Staates ausge III. Akteure des Wandels und konkrete holt. Verhaftungen von Meinungsführern wur Auslöser den medienwirksam inszeniert und damit klargemacht, dass die Bewegung eine Eine Ausweitung des „Arabischen Frühlings“ Grenze überschritten hatte, die der Staat nicht wurde zum Jahreswechsel 2010/11 im Allge zu tolerieren bereit war.12 Auch wenn die Kon meinen nicht erwartet. Zu sehr stand das flikte mit Israel weiterhin bestanden, wurden Land unter der Kontrolle der Sicherheitsdien mit Bashar alAssads Amtsantritt erste Hoff ste. Zudem genoss Präsident Bashar al nungen auf eine dauerhafte Stabilisierung Assad im Vergleich zu seinen Amtskollegen und eine vorsichtige Aussöhnung laut. Weiter in Tunis und Kairo ein ungleich höheres Re hin führte er kurz nach seinem Amtsantritt das nommee, da er sich sowohl Israel als auch Internet in Syrien ein. InternetCafés entstan den USA widersetzte und so als „Garant der den und Privatpersonen konnten Internetan inneren Souveränität“ gegen die externen Be schlüsse beantragen, womit eine neue drohungen galt. Trotzdem kam es zu ersten Diskussionskultur und mediale Öffentlichkeit Demonstrationen. Als Anfang Februar 2011 in Syrien Einzug hielt und die jahrelange Iso die syrische Opposition zu einem „Tag des lation aufbrach. Darüber hinaus etablierten Zorns“ aufgerufen hatte, verlief dieser ohne die arabischsprachigen Fernsehsender al-Ja- große öffentliche Beteiligung. In der Folge zeera und al-Arabija eine neue Nachrichten kam es erst nur zu kleineren Demonstratio kultur in Syrien, da die staatlichen nen. Dies änderte sich Mitte März, als heftige Fernsehsender somit ihr Monopol verloren. Proteste begannen, welche ihren Anfang in der 100.000 Einwohner zählenden Grenz Hinzu kommt ein stetig steigender demogra stadt Deraa im Süden des Landes an der phischer Druck: Syrien verfügt, ebenso wie Grenze zu Jordanien nahmen. Die Stadt litt die anderen arabischen Länder, über eine besonders unter der beschriebenen Dürrepe ausgesprochen junge Bevölkerung; so lag riode, von der im ganzen Land ca. 1,3 Mio. das Durchschnittsalter im Jahr 2010 bei 21,9 Menschen betroffen sind; allein 800.000

10 Ebd., S. 165. 11 Im Zuge der Protestbewegungen wurde Farzat im August 2011 von systemtreuen Akteuren schwer ver letzt. Ihm wurde die Hand gebrochen, da er sich in seinen Karikaturen und Cartoons immer wieder sehr kritisch gegenüber Bashar alAssad geäußert hatte. 12 An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass im Herbst 2000 in Palästina die so genannte Zweite Inti- fada bzw. alAqsaIntifada ausbrach, ein Volksaufstand der Palästinenser gegen die israelische Besat zung, ausgelöst durch den Besuch des damaligen israelischen Oppositionspolitikers Ariel Scharon auf dem Tempelberg, auf dem sich die alAqsaMoschee befindet. 13 Armbruster, Jörg: Der arabische Frühling, Frankfurt/Main 2011, S. 100.

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haben ihre Lebensgrundlage verloren14. Viele und den Exilanten, persönliche und ideologi Bauern mussten die Stadt verlassen, da die sche Animositäten untereinander sowie eine Dürre ihre Felder vernichtet hatte. Diese seit breite Zersplitterung der Akteure, die kaum Jahren angespannte Situation explodierte, als noch zu überblicken ist. am 18. März 2011 Schulkinder regierungs feindliche Sprüche an Häuserwände gesprüht Getragen wird die traditionelle innersyrische hatten. Als die Polizei die Jugendlichen ver Oppositionsbewegung seit Jahrzehnten von haften wollte, gingen Bürger dazwischen und der Nationalen Demokratischen Sammlungs es entwickelte sich eine spontane Massende bewegung. Sie ist eine seit den 1960er Jah monstration. In den folgenden Auseinander ren bestehende verbotene Oppositions setzungen erschoss die Polizei vier junge bewegung, die säkulare, panarabistische, Männer. Nach deren Beerdigung in den fol nationalistische und sozialistische Strömun genden Tagen kam es erneut zu Demonstra gen in sich vereint. Prominente Oppositionelle tionen. Infolgedessen wurde die Zentrale der wie Riad alTurk, Michel Kilo oder Riad as BaathPartei in der Stadt angezündet15. Die Seif stammen aus diesen Reihen. Ihr Einfluss Behörden reagierten mit äußerster Schärfe, auf die Aufstände kann allerdings als eher ge die Stadt wurde vom Militär abgeriegelt und ring eingeschätzt werden. Dies liegt auch die Stromversorgung abgeschaltet. Dies daran, dass sie in der Vergangenheit immer konnte die Situation aber nicht mehr beruhi wieder den Ausgleich mit alAssad gesucht gen. Im Gegenteil, der Funke griff auf weite haben und so bei Oppositionellen der jünge Teile des Landes über. Nach und nach de ren Generation nicht mehr über ausreichend monstrierten die Menschen in Latakia, Homs, Autorität verfügen. Sie zeigten nicht das not Banias und weiteren Städten. In den Groß wendige Rückgrat, sich gegen den Repres städten Damaskus und Aleppo kam es jedoch sionsstaat zu stellen, weil sie, trotz ihrer nur zu kleineren Demonstrationen in den jahrelangen Kritik, zu einem institutionellsys Randbezirken. Fast überall verliefen die De temimmanenten vom Staat instrumentalisier monstrationen nicht friedlich, da die Sicher ten und kooptierten und damit moderaten heitsbehörden mit Härte gegen die Akteur geworden seien. Riad asSeif, promi Demonstranten vorgingen. Nach Schätzun nenter Vertreter dieser Gruppierung, verwies gen von Menschenrechtsaktivisten sind bis in diesem Zusammenhang auf seine Krebs her ca. 3.000 Menschen getötet worden. krankheit und die daraus resultierende Unfä higkeit, der Protestbewegung nachhaltig Konkrete Protestgruppen sind nicht so klar zu helfen zu können. So mehren sich die Stim benennen wie in Ägypten, da es dort in einem men, die die traditionellen Kritiker des Regi höheren Ausmaß organisierte Gruppen gab, mes um die „alten Männer“16 als deutlich die auch klare Positionen vertreten haben. In geschwächt und resigniert einschätzen, Syrien konnten sich auf Grund des repressi denen es an Willen fehle, den Wandel mit ven Sicherheitsapparates diese Vielzahl an aller Macht voranzutreiben und mit der Organisationen nicht herausbilden und kon Stimme der Jugend zu sprechen. solidieren. Dennoch lassen sich Akteure iden tifizieren, die aber mit hoher Wahr So werden die Aufstände in den Provinzstäd scheinlichkeit nicht die Mehrheit der protes ten hauptsächlich durch lokale Führungsper tierenden Menschen repräsentieren. Auffällig sönlichkeiten geprägt, die einen zwar erscheint die extreme Heterogenität der op räumlich begrenzten, dafür umso charismati positionellen Gruppen, die sich in Zielen, Vor scheren Einfluss auf die Massen haben und gehensweisen, Akteuren und Wirkungsgrad eher zu einer jungen Generation zählen, die deutlich voneinander unterscheiden, teilweise der Tätigkeit der traditionellen Opposition in Konkurrenz stehen und denen es bislang skeptisch gegenübersteht. Ihre Arbeit ist in nicht oder nur unzureichend gelungen ist, zwischen durch die Repressionen der staat eine geeinte AntiAssadFront zu bilden. So lichen Exekutiven maßgeblich eingeschränkt wurden zwar vielfältige Bestrebungen unter worden. Den Aktivisten, die nicht in Gefäng nommen, eine Übergangsregierung und nissen sitzen, verbleibt die diskrete Arbeit im damit eine Alternative des Wandels zu bilden, Untergrund. Auf der anderen Seite ist die Per über breiten Zuspruch verfügen diese Initiati sonalfluktuation immens, sodass es für das ven jedoch bislang nicht. Hinzu kommen gra Regime nahezu unmöglich ist, diese Bewe vierende logistische und organisatorische gungen unter Kontrolle zu bekommen. Immer Probleme zwischen innersyrischer Opposition wieder gründen sich neue „Koordinationsko

14 Doering, Martina: Syrien: Vorwärtsbewegung des AssadClans, in: Frank Nordhausen, Thomas Schmid (Hrsg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 117. 15 Jörg Armbruster: Der arabische Frühling, Frankfurt/Main, 2011, S. 100. 16 Riad asSeif ist 1946 geboren, Riad alTurk 1930 und Michel Kilo 1940. Deutsches Orient-Institut 78 Syrien

mitees“, die die Demonstrationen interaktiv jekt erfolgreich sein wird. Erschwert wird die über das Internet organisieren, immer neue Arbeit des Rates auch dadurch, da sich urbane Blogger bestimmen den oppositionel neben diesem Gremium noch andere ähnli len Diskurs und schaffen durch ihre Beiträge che Initiativen gebildet haben, die ähnliche im Internet internationale Aufmerksamkeit, die Ziele anstreben und ähnliche Forderungen durch vielfache YouTubeVideos ausgeweitet vertreten. So warben bereits im April USame wird. Diese aktivistische „Straßenopposition“ rikanische Exilsyrer für die „Nationale Initia befindet sich also nicht allein im Kampf mit tive für Veränderung“. Es folgte die dem Regime, sondern konkurriert auch mit „Konferenz für Veränderung“ in Antalya sowie den traditionellen Oppositionellen, denen als die Konferenz unter der Ägide des Nationalen sanfte „Teehausopposition“ nicht mehr die Rettungsrats. Daneben formierten sich in An Rolle als change agent zugetraut wird. takya übergelaufene Militärs zur „Freien Offi zier Bewegung“, die ihre Aufgabe im Schutz Die abschließende Gruppe umfasst die Exil der Aufständischen sieht. Allein durch die opposition. Außerhalb Syriens sammeln, ana mangelnde Repräsentanz inländischer Syrer lysieren und veröffentlichen Aktivisten die waren die Ergebnisse eher unbefriedigend. Informationen, um den internationalen Druck auf das AssadRegime zu steigern. Darüber Hier besteht die Gefahr einer inneroppositio hinaus übernehmen Exilsyrer die Rolle als nellen Konkurrenz, sodass von einer geein Sprachrohr ihrer Landsleute im Ausland.17 So ten, homogenen Protestbewegung im In und haben sich in den letzten Jahren vor allem in Ausland keineswegs gesprochen werden Washington, Paris und London Zentren syri kann. Dies ist kein neues Phänomen inner scher Exilopposition gebildet, die nun ver halb der syrischen Opposition: So muss man stärkt den öffentlichen Diskurs bestimmen.18 die bisherigen Versuche, offizielle Opposi tionsorgane zu gründen, aufgrund mangeln Im Gegensatz zu den innersyrischen Opposi der Legitimation als gescheitert betrachten. tionellen können sie ihre Visionen und Ziele Bereits 2005 hatten 250 Oppositionelle unter offensiver und unzensiert äußern, indem sie schiedlichen Hintergrunds, sowohl säkular vehement auf einen Regimewechsel drängen. wie religiös, Kurden und Araber, die Damas- Mehrere Konferenzen der internationalen Op cus Declaration ausgearbeitet. Sie beinhaltete position in der Türkei oder Brüssel zeigen die Forderung eines demokratischen Wan deutlich das Engagement dieser unterschied dels. Bereits hier wurde die Frage der Legiti lichen Gruppen und Bewegungen. Dass bis mation vorerst offen gelassen. Im Nordosten lang nur eine dieser Konferenzen in des Landes protestieren Menschen in den Damaskus stattfand, ist auch auf die Repres mehrheitlich von Kurden besiedelten Gebie sionsmaßnahmen des syrischen Regimes zu ten. Die Kurden stellen rund 10% der syri rückzuführen, verdeutlicht allerdings auch die schen Bevölkerung und sind damit die größte Spaltung der inneren und äußeren Opposi ethnische Minderheit des Landes. Die Lage tion. der Kurden in Syrien ist seit Jahrzehnten an gespannt, da sie systematisch vom Regime Um diese Spaltungstendenzen zu überwin benachteiligt werden. Vielen Kurden wurde den, initiierte ein Teil der Exilopposition einen die syrische Staatsbürgerschaft verweigert, Nationalen Übergangsrat, der sich am 30. Au immer wieder kam es in der Vergangenheit zu gust 2011 gründete und insgesamt 94 Mit Protesten, zuletzt im März 2004 nach einem glieder (davon 42 aus Syrien) umfasst. Er soll Zwischenfall in einem Fußballstadion. Im Zu das Gremium für die Transition werden. Als sammenhang mit solchen Ereignissen kommt Präsident wurde der einflussreiche und re es regelmäßig zu Massenverhaftungen. Die nommierte Dissident Burhan Ghalioun, Pari Kurden werden vom Regime als Sicherheits ser Exilsyrer und Direktor des Centre risiko betrachtet. So begann die Regierung d'Etudes sur l'Orient Contemporain (CEOC) 1973 die Einrichtung eines so genannten an der Universität Sorbonne, bestimmt. Der „Arabischen Gürtels“ entlang der türkischen Umstand, dass der designierte Vorsitzende Grenze. Arabische Beduinenstämme wurden Ghalioun zunächst darüber uninformiert war auf einer Länge von 300 Kilometern angesie und sich später hiervon distanzierte, lässt je delt, die dort ansässigen Kurden wurden ent doch nicht darauf schließen, dass dieses Pro eignet und zu Ausländern erklärt19. Die

17 Ziadeh, Radwan: Vielfalt des Aufstands – Syriens Oppositionsbewegung, http://de.qantara.de/Vielfalt desAufstands/17084c17585i1p234/, abgerufen am 30.08.2011. 18 Dazu gehören u. a. die Dissidenten in Washington Radwan Ziadeh, Najib Ghadban oder Farid alGhadry, die syrischen Muslimbrüder in London oder Burhan Ghalioun und Abdul Khaddam in Paris. 19 Wanli, Ismet Serif: The Kurds in Syria and Lebanon, in: The Kurds: A Contemporary Overview, London 1992, S. 157161.

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islamistische Opposition in Gestalt der syri Eine Entwicklung ähnlich in Libyen, wo sich schen Muslimbrüder wurde nach dem Attentat schnell mit dem Nationalen Übergangsrat ein von Hama 198220 innerhalb Syriens von Hafiz Sprachrohr des Aufstands entwickelte, kann alAssad und seinem Sohn marginalisiert und für Syrien bislang nicht konstatiert werden. vehement verfolgt. So hat sich eine starke Dies wird allerdings auch vom syrischen Mili Exilopposition gebildet, die vor allem aus Lon tär verhindert, indem durch massive Opera don agiert. Sie lehnen das Regime alAssad tionen keine „befreiten Rebellenhochburgen“ auch aus religiösen Motiven ab: Viele Mus ähnlich dem libyschen Benghasi entstehen limbrüder sehen in der Religionsgruppe der können, was die Schlagkraft der Opposition Alawiten, zu denen auch Präsident Bashar al unterminiert. Ein weiteres wesentliches Pro Assad sowie sein engerer Machtzirkel gehö blem dieser dezentralisierten Opposition, ren, islamische Häretiker. Sie stellen damit die neben der eingeschränkten Koordination auf Legitimität des Regimes direkt in Frage. Die nationaler Ebene, erwächst daraus, dass im FacebookSeite „The Syrian Revolution Falle eines Eingreifens von Seiten der inter 2011“, die aktuell rund 280.000 „Mitglieder“ nationalen Gemeinschaft der Ansprechpart zählt, wird Berichten zufolge von einem in ner zur Abstimmung fehlt, ganz zu schweigen Schweden lebenden Exilsyrer betrieben, der von der Problematik des Machtanspruches aktiver Muslimbruder sein soll. Anders als in nach dem Fall des AssadRegimes. Ägypten spielt das Internet in Syrien jedoch eine eher untergeordnete Rolle, da es von IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- den Sicherheitsapparaten kontrolliert wird und lings“ noch nicht flächendeckend in Syrien etabliert ist. So sind beispielsweise lediglich 30.000 Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind noch Syrer im sozialen Netzwerk Facebook ange nicht exakt in Zahlen zu messen. Die Unru meldet.21 hen haben dennoch schon jetzt Auswirkungen auf den Tourismus als wichtige Einnahme In der erwähnten Stadt Deraa, in der die Pro quelle, der aufgrund der Krise praktisch zum teste ihren Anfang nahmen, handelt es sich Erliegen gekommen ist. Auch der Handel bei den Protestierenden wiederum überwie sowie die Auslandsinvestitionen gingen stark gend um sunnitische Araber, denen die Al zurück. Was allerdings die mittelfristigen Fol OmariMoschee als Versammlungsort dient. gen angeht, so dürfte ein vollständiger Zu Dass sich Oppositionelle im Schutze einer sammenbruch der Wirtschaft Moschee treffen, ist in der arabischen Welt unwahrscheinlich sein. Schon die internatio nichts ungewöhnliches und muss nicht unbe nale Finanzkrise ging relativ glimpflich an Sy dingt auf eine extrem religiöse Einstellung rien vorbei, da das Land wirtschaftlich eher schließen lassen. Die AlOmariMoschee isoliert ist. Das Regime verfügt über hohe De wurde am 23. März 2011 von syrischen Si visenreserven, und da die großen Firmen in cherheitskräften gestürmt. Dabei sollen mehr staatlicher Hand oder Vertrauten des Regi als 100 Menschen erschossen worden sein. mes sind, haben sie voraussichtlich kurzfristig keine ernsten Probleme. Zwar haben die USA Neben diesen einzelnen Akteuren kam es bis Ende August ihre Sanktionen noch einmal auch an Universitäten zu Protesten, so etwa verschärft, so dass nun Geschäfte mit hoch an der Universität von Damaskus. Von einer rangigen syrischen Staatsvertretern sowie organisierten Studierendenschaft gegen die deren Firmen verboten wurden. Ölimporte in Regierung lässt sich aber nicht sprechen. Vor die USA wurden ebenfalls untersagt, deren dem Hintergrund, dass sich an den Protesten Volumen aber zu vernachlässigen ist. Eine mehr Menschen beteiligen, als diese Akteure stärkere Auswirkung dürften mittelfristig die in der Lage wären jeweils zu mobilisieren, Sanktionen der EU haben. Syrien exportiert kann davon gesprochen werden, dass die derzeit ca. 95% seiner Tagesproduktion von Protestbewegung quer durch die Bevölkerung 150.000 Barrel in die EU. Dies summierte sich geht, wie es zuvor auch in Ägypten und Tu im vergangenen Jahr auf Einnahmen in Höhe nesien zu beobachten war. von rund 3,6 Mrd. EUR. Am 1. September hat

20 Der damalige Präsident ließ eine Revolte unter Führung der Muslimbrüder blutig und unter Einsatz von Panzern zusammenschießen. Nach Schätzungen gab es mindestens 10.000 Tote. Noch heute haben die Muslimbrüder in Hama eines ihrer Zentren. 21 Davon ausgenommen sind bestimmte Ereignisse, die als Video auf dem Internetportal Youtube für inter nationales Aufsehen gesorgt haben. Die Videodokumentierung des Leichnams des 13jährigen Hamza alKhatib im Mai 2011 in Deraa sorgte für weltweite Aufmerksamkeit. Er gilt ähnlich wie Neda AghaSol tan im Iran, Mohamed Bouazizi in Tunesien und Khaled Saeed in Ägypten als Märtyrer und Gesicht der Aufstände.

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die EU nun den Import von syrischem Öl ver V. Bisherige Reaktionen staatlicher Ak- boten. Allerdings tritt dieses Verbot auf Grund teure von bestehenden Lieferverträgen mit Italien erst im November 2011 in Kraft. Sollte das Zu Beginn waren sich allerdings externe wie Embargo längere Zeit andauern, könnte es interne Beobachter noch einig, dass Präsi also zu großen wirtschaftlichen Problemen dent Bashar alAssad nach den Vorfällen in führen, da sich der Staatshaushalt zu großen Deraa die Lage wieder hätte in den Griff be Teilen auf diese Einnahmen stützt. Lohnkür kommen können23. Seine Person war zu die zungen könnten die Folge sein, was den sem Zeitpunkt noch nicht in Frage gestellt. Unmut in der Bevölkerung noch verstärken Man beklagte das System und erwartete von würde. Syrien hat zwar die Option, das Öl ihm klare Worte hin zu einem Wandel. Um die auch an Staaten wie China zu exportieren, Proteste zu beruhigen, beschloss die Regie könnte aber gezwungen sein, es unter Markt rung am 27. März 2011 den Ausnahmezu preisen zu verkaufen. Neben den ÖlSanktio stand in Form des Notstandsgesetzes nen hat die EU die Konten von 54 aufzuheben. Zwei Tage später, als die Pro hochrangigen Vertretern des Regimes einge teste weiter andauerten, trat die Regierung in froren. Kurzfristig dürfte es vor allem die Zivil Form von Ministerpräsident Muhammad Naji bevölkerung sein, die unter den alUtri sowie seinem Kabinett geschlossen wirtschaftlichen Auswirkungen zu leiden hat. zurück. So bekommt sie die Ausfälle aus dem Touris musgeschäft direkt zu spüren. Weitere gra Am 30. März 2011 äußerte er sich in einer vierende wirtschaftliche Auswirkungen könnte Rede vor dem Parlament, die jedoch von vie auch das dramatisch verschlechterte Verhält len als Enttäuschung empfunden wurde. nis zum nördlichen Nachbarn Türkei mit sich Letztlich reduzierte er die Proteste auf aus führen. Im Zuge der Proteste wandte sich die ländische Verschwörer und lehnte damit ein türkische Regierung unter Ministerpräsident inhaltliches Entgegenkommen an die De Recep Tayyip Erdoğan, traditionell enger Ver monstranten ab. Sofern das Regime dachte, bündeter Syriens22, von Bashar alAssad ab. dass diese komprmisslose Politik die Proteste Bis dahin war die Türkei einer der wichtigsten ersticken würde, erreichte sie das Gegenteil. Wirtschaftspartner Syriens; so wurde die Vi AlAssad hatte durch sein rücksichtsloses und sumspflicht zwischen beiden Ländern aufge brutales Vorgehen, seine desillusionierende hoben. Der türkische Einfluss zeigt sich Rede und seine vorgebrachten Verschwö deutlich in Aleppo, wo die Mehrzahl der zu er rungstheorien die Hoffnungen in einen schritt werbenden Waren aus türkischer Produktion weisen Wandel des Systems enttäuscht und stammt. Mittlerweile könnte eine Schließung das Wohlwollen in seine Person schwand zu der Grenzen durch die Türkei den Druck auf sehends. Die Proteste, Demonstrationen und Syrien erhöhen. International ist das syrische Auseinandersetzungen mit dem Staatsappa Regime mittlerweile weitgehend isoliert und rat intensivierten sich danach. Erst am 21. Bashar alAssad gilt als diskreditiert. Die Welt April 2011 erklärte Bashar alAssad dann den gemeinschaft, allen voran die USA, die EU, Ausnahmezustand für aufgehoben und setzte aber auch die Arabische Liga riefen das Re damit eine zentrale Forderung der Opposition gime dazu auf, die Gewalt gegen die Zivilbe um. Darüber hinaus kündigte er die Auflösung völkerung einzustellen. Selbst bei einem der der Staatssicherheitsgerichte an, durch die engsten Verbündeten Syriens, Iran, zeigt sich bisher Oppositionelle schnell und intranspa mittlerweile erste Skepsis gegenüber dem rent verurteilt werden konnten. Er erhöhte die Vorgehen des Regimes. Eine militärische Sozialleistungen, kürzte Subventionen, redu Intervention von außen gilt aufgrund der sen zierte die Dauer der Wehrpflicht und senkte siblen geostrategischen Lage in Bezug auf die Tee und Kaffeesteuern. Doch es war zu sein ambivalentes Verhältnis zu Israel, Iran spät, alAssad hatte den Zeitpunkt offenbar und zum Libanon zwar als unwahrscheinlich, verpasst, dem Unmut weiter Teile der Gesell dennoch hat das Regime kaum noch Rück schaft ernsthaft entgegenzutreten.24 Stärker halt in der Region, auf die man zurückgreifen als zuvor warf man ihm und seiner Entourage könnte. Korruption, Nepotismus und Brutalität vor. So

22 Diese engen Beziehungen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass die Türkei in Syrien einen stabi len Nachbarn benötigte, um die syrischen Kurden kontrolliert zu wissen. 23 Doering, Martina: Syrien: Vorwärtsbewegung des AssadClans, in: Frank Nordhausen, Thomas Schmid (Hrsg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 123. 24 Mittlerweile wandten sich auch zunehmend systemtreue Akteure von alAssad ab: So traten in Deraa zwei Parlamentsabgeordnete und im August der Generalsstaatsanwalt von Hama mit der Begründung zu rück, dass sie die Zivilbevölkerung nicht vor den Übergriffen der Sicherheitskräfte schützen konnten.

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richteten sich die Vorwürfe auch gegen enge Lage könnte jedoch eine weitere Eskalations Angehörige des Elitenzirkels. Zur Personifi ebene erreichen, sollten die bislang friedlich zierung des korrupten AssadRegimes wurde agierenden Demonstranten auf die Staatsge der in der Öffentlichkeit verhasste Cousin des walt mit Gegengewalt reagieren. Dies könnte Präsidenten und Freund aus Kindertagen die Anzahl der Opfer drastisch erhöhen, die Rami Makhlouf, einer der einflussreichsten brutale Vorgehensweise der Sicherheitskräfte Wirtschaftsmagnaten des Landes. Der Multi dadurch durch die Regierung legitimiert und tycoon war bereits Gegenstand von US und die Opposition zunehmend kriminalisiert wer EUSanktionen gegen Korruption gewesen. den. Sabotage und Zerstörung von Seiten der De monstranten richteten sich nun nicht mehr nur Nach wie vor beteiligen sich keineswegs alle gegen staatliche Institutionen, sondern auch Gesellschaftsteile an den Aufständen. Vor gegen mit Makhlouf verbundene Einrichtun allem die Profiteure des AssadSystems, die gen wie z. B. Mobilfunkgeschäfte der syri religiösen Minderheiten, die sunnitische schen Telefongesellschaft Syriatel. Mitte Juni Mittelschicht und die Angehörigen des staat 2011 distanzierte sich Makhlouf öffentlich vom lichen Repressionsapparates fürchten den syrischen Korruptionssystem und bekundete, Verlust ihres Einflussbereiches nach dem dass er seine Erträge aus den Geschäften mit Sturz alAssads. Der multikonfessionelle Viel Syriatel den Hinterbliebenen der Protestopfer völkerstaat Syrien könnte nach alAssad in zugute kommen lassen wollte. einem blutigen Bürgerkrieg versinken, der von sunnitischen Rachefeldzügen gegen die ala Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustan witischen oder christlichen Minderheiten ge des und anderen den Demonstranten ent prägt wird, so die Annahme. Die Kurden und gegenkommenden Maßnahmen ebbten die militanten Islamisten könnten stärkeren Ein Proteste nicht ab und weiteten sich dagegen fluss erlangen, die wirtschaftlichen Eliten mar noch aus. Die Sicherheitskräfte reagierten mit ginalisiert und entmachtet werden. Auch kalkulierter, aber brutaler Gewalt. Teilweise daraus erklärt sich das kompromisslose Vor erreichten die Auseinandersetzungen bürger gehen des Regimes: Noch weiß es einige kriegsähnliche Zustände. So wurden etwa die wichtige gesellschaftliche Akteure hinter sich, Städte Deraa, Banias, Hama und Homs von noch handelt es sich nicht um eine flächen Strom, Telekommunikation und der Wasser deckende Revolte. Davon zeugt auch die re versorgung abgeschnitten und von Panzern lative Ruhe in der Hauptstadt Damaskus und eingekreist. Während nach offizieller Wort der Handelshochburg Aleppo: Hier haben vor wahl darauf beharrt wurde, dass das Regime allem Angehörige der urbanen Mittelschicht gegen Extremisten vorgehe, verkündete der mehr zu verlieren, sollte alAssad stürzen, so syrische Informationsminister im Mai 2011, dass sie zwar das derzeitige Vorgehen nicht dass man einen nationalen Dialog starten gutheißen, aber tolerieren, um ihren eigenen werde, der Reformen erarbeiten solle. Im Juni Status quo zu bewahren. Sie profitierten zu hielt Bashar alAssad an der Damaszener mindest graduell von den vorsichtigen Wirt Universität seine dritte Rede seit dem Aus schaftsreformen der letzten Jahre und wollen bruch der Proteste, in der er die Möglichkeit es nicht riskieren, diesen Fortschritt zu verlie zu weiteren Reformen in Aussicht stellte, ren. Außerdem fehlt bislang durch die Zer dafür aber einen Gewaltverzicht von den Pro splitterung der Opposition eine attraktive und testierenden einforderte. mehrheitsfähige Vision für die Zukunft nach alAssad. Als abschreckendes Beispiel dient VI. Zukunftsszenarien auch das Nachbarland Irak, das nach dem Sturz Saddam Husseins in einem jahrelangen Trotz dieser Ankündigungen herrscht derzeit blutigen Bürgerkrieg versank, indem die eine beunruhigende und hochexplosive Situ unterschiedlichen ethnischen und konfessio ation in Syrien vor. In weiten Teilen des Lan nellen Gruppen eine dauerhafte Stabilität ver des begegnet die Staatsmacht den Protesten hinderten. Viele andere fürchten sich vor den mit Härte, ohne diese zu unterbinden. Gleich brutalen Gegenmaßnahmen des Regimes. zeitig haben sich die Hoffnungen der Demon Hinzu kommt die massive staatliche Propa stranten, während des Fastenmonats ganda, die Misstrauen auf externe Akteure Ramadan deutliche Fortschritte zu erreichen, wie die USA und Israel, Islamisten und nicht erfüllt. So sind allein im Monat August „Feinde Syriens“ schürt, die Rezipienten ver 473 Aktivisten ums Leben gekommen. Die stört und dazu geführt hat, dass viele weder

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dem Staat noch den Demonstranten Glauben Da die Führungspositionen fast durchgängig schenken. So kreiert das Regime durch Pro mit Alawiten und engen Vertrauten alAssads paganda und Gewalt ein Klima der Angst, das besetzt sind, bedeutet ein Sturz des Regimes noch zu Passivität führt und erreicht damit, die auch gleichzeitig ein Sturz des Systems. Dies Situation noch kontrollieren zu können. soll mit aller Macht verhindert werden. Es Sollte sich diese Passivität der unentschlos scheint, als kämpfe das gesamte syrische Es senen Mehrheit jedoch in offene Abneigung tablishment um sein Überleben. Dagegen gegen das Regime wandeln, würde alAssad scheint die Bevölkerung entschlossen zu schnell den letzten Rückhalt verlieren. sein, die Proteste weiter durchzuführen. Vor allem die Ereignisse in Tunesien und Ägyp Demzufolge könnte eine Verschärfung der ten, vielmehr aber noch in Libyen haben die wirtschaftlichen Situation dazu führen, dass Widerstandsbewegungen ermutigt. Jedoch sich die einflussreiche Mittelschicht, die Händ erscheint ein internationales militärisches Ein ler auf den Basaren, von ihrem einstigen För greifen in Syrien als äußerst unrealistisch, so derer alAssad abwenden. Ebenso könnten dass der Druck ausschließlich über Bestrebungen der Opposition, den über kon diplomatische Initiativen, Sanktionen und fessionellen und ethnischen Charakter der kompromisslose Rhetorik erhöht werden Aufstände zu betonen, die nationale Einheit kann. Zusätzlich sollte versucht werden, re stärken und so die Angst der religiösen Min gionale Akteure und langjährige Partner Sy derheiten reduzieren. So wiesen alawitische, riens wie Iran oder die Türkei zu gewinnen, christliche und sunnitische Oppositionelle be den Druck auf alAssad zu erhöhen. So exis reits gemeinsam auf diese innere Einheit trotz tieren unbestätigte Berichte, die auf erste Ge existierender konfessioneller Heterogenitäten spräche zwischen Katar und Iran verweisen, hin. Derzeit kann die Lage in Syrien als hoch in denen über die Einflusssphären in Syrien explosive Pattsituation beschrieben werden. nach dem Sturz alAssads diskutiert worden Zwar erscheint ein Sturz des AssadRegimes sein soll. nicht ausgeschlossen, doch ist derzeit keine innere Spaltung bei Militärelite, Sicherheits Alexander Rieper (mit Bearbeitung von Jo- einheiten oder Militärdiensten zu konstatieren. hannes Struck und Sebastian Sons)

VII. Literaturangaben

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Landesdaten Libanon Fläche1 2011 10.400 km² Bevölkerung2 2010 4.300.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 416 Ethnische Gruppen4 2010 Araber 95%, Armenier 4%, Andere 1%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 59,7%, Christen 39%, Andere 1,3%

Durchschnittsalter6 2010 29,8 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 23% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 9% Lebenserwartung9 2010 72,4 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 9.800.000 Geburten pro Frau11 2009 1,8 Alphabetisierungsrate12 2010 87,4% Mobiltelefone13 2009 1.526.000 Nutzer Internet14 2009 1.201.820 Nutzer Facebook15 2011 1.201.820 Wachstum BIP16 2010 7,0% BIP pro Kopf 17 2010 13.510 USD Arbeitslosigkeit 2010 9,2% Inflation18 2011 6,5% S&P-Rating19 2011 B Human Development Index Rang20 2009 Rang 83 (von 169) Bildungsniveau21 2010 Rang 68 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 k. A. (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 Politische Teilhabe23 2009 35,5% Korruptionsindex24 2010 Rang 127 (von 178) 1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 World Bank, Population Density, http://data.worldbank.org/country/Lebanon. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook: 17 anerkannte Religionsgemeinschaften insgesamt, Angaben zu den Bevölkerungsgruppen sind lediglich Schätzungen, die letzte offizielle Volkszählung wurde 1932 durchgeführt 6 CIA – The World Factbook. 7 CIA – The World Factbook. 8 CIA – The World Factbook. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://hdr.undp.org/en/data/trends. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_in dices/cpi/2010. Deutsches Orient-Institut 84 Libanon

Libanon einem Maroniten vorbehalten, der Minister- präsident musste aus den Reihen der Sunni- m kleinen Staat Libanon (Bevölkerungs- ten stammen und die Rolle des Sprechers der zahl 4,3 Mio.) leben insgesamt 17 aner- Nationalversammlung war für die Schiiten Ikannte Religionsgemeinschaften. Auf- vorgesehen. Mit der Erlangung der Unabhän- grund seiner multiethnischen Struktur gigkeit 1943 von der Mandatsmacht Frank- sowie seiner geostrategischen Lage ist reich war der Konfessionalismus zunächst als das Land der Einflussnahme verschiede- Übergangslösung angedacht, um zum einen ner interner und externer Machthaber die Verbündeten Frankreichs, die Maroniten, unterworfen. Anfang 2011 entwickelte sich zu stärken und gleichzeitig die zahlreichen dagegen eine zaghafte Protestbewegung, anderen religiösen Gruppen am politischen deren Mobilisierungskraft jedoch kaum Prozess zu beteiligen. mit der Zedernrevolution von 2005 ver- gleichbar ist. Die Zukunft Libanons hängt Doch der Fall Libanon zeigt, dass es mithilfe in hohem Maße von den Entwicklungen im der Konkordanzdemokratie nur unzureichend Nachbarland Syrien ab. Da die Hauptforde- gelungen ist, ein nationales Bewusstsein zu rungen der jüngsten Demonstrationen schaffen. Dies hängt damit zusammen, dass sich auf die Abschaffung des Proporzsys- in einer Proporzdemokratie nicht die Mehrheit tems belaufen, soll auf die Merkmale und entscheidet, sondern der Konsens. Politische Problemfelder des libanesischen politi- Entscheidungen werden oft behindert, da schen Systems besonders eingegangen keine Kompromisslösung gefunden wird, die werden. alle politisch-konfessionellen Gruppen befrie- digt und mit der sich keine der Gruppen über- I. Politisches System und gesellschaftli- gangen fühlt. Zudem ist das System starr und che Entwicklungen unflexibel, was der Dynamik der libanesi- schen Gesellschaft widerspricht. So hat sich Das politische System des Libanon basiert die Bevölkerungsstruktur seit 1932 erheblich auf einer Konkordanzdemokratie, auch Pro- gewandelt: Bei Ausbruch des Bürgerkrieges porzdemokratie oder Konfessionalismus ge- im Jahr 1975 hatte sich das Verhältnis von nannt. Konkordanzdemokratien zielen darauf Christen zu Muslimen bereits stark zugunsten ab, eine möglichst große Zahl von Akteuren der Muslime umgekehrt (40% Christen, 60% (Parteien, Verbände, Minderheiten, gesell- Muslime). Während des Bürgerkrieges sind schaftliche Gruppen) in den politischen Pro- die Schiiten zur größten politisch-konfessio- zess einzubeziehen und Entscheidungen nellen Gruppe geworden, schon 1988 mach- durch Herbeiführung eines Konsenses zu tref- ten sie ein Drittel der Gesamtbevölkerung fen. Demzufolge spielt die Mehrheitsregel als aus, während die Christen mit 30-35% längst Entscheidungsmechanismus keine zentrale eine Minderheit darstellten. Diese demogra- Rolle im politischen System. In Europa gelten phische Entwicklung lässt sich auf Migration unter anderem die Schweiz und Luxemburg und unterschiedlich hohe Geburtenraten zu- als konkordanzdemokratisch. Diese Form der rückführen. Der politische Druck insbeson- Volksherrschaft bietet theoretisch Vorteile für dere der Schiiten reflektiert die sehr heterogene Staaten, da auch die Inter- demographische Realität und ist Ausdruck essen der Minderheiten vertreten werden und ihrer Forderung nach einer größeren politi- somit soziale Unruhen verhindert werden kön- schen Beteiligung im Staat. Die offensichtli- nen. Gleichzeitig wird vermieden, dass eine che Bevorzugung der Maroniten durch das Minderheit an der Macht über die Mehrheit re- System führte zur Frustration der benachtei- gieren kann. ligten Gruppen und verursachte zahlreiche Krisen und Konflikte, darunter den verheeren- Im Libanon sind die politischen Ämter nach den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990. einem Proporzsystem unter den verschiede- nen religiösen Gruppen aufgeteilt. Die Vertei- Ein weiteres Problem der Anwendung des lung der Ämter nach einem Proporz von Konfessionalismus auf den Libanon ist, dass sechs Christen zu fünf Muslimen geht auf es die Entstehung von Eliten fördert. An den eine Volkszählung von 1932 zurück. Damals politischen Entscheidungen sind nur Reprä- hatten die christlichen Maroniten mit 51,2% sentanten beteiligt, die Partikularinteressen eine hauchdünne Mehrheit vor den Muslimen. vertreten, um möglichst viele Vorteile für die Fortan war der Posten des Staatspräsidenten eigene Gruppe zu erzielen. Dies ist für die

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Entstehung eines Nationalgefühls eher hin- bis 1990 dauerte und insgesamt über 150.000 derlich. Die Überwindung des politischen Menschenleben forderte, 800.000 verließen Konfessionalismus, die sowohl im National- zusätzlich das Land. In den Konflikt waren in pakt von 1943 als auch im Abkommen von wechselnden Allianzen und teils inneren Kon- Ta’if 1989 als Ziel formuliert ist, scheiterte bis flikten auch die Palästinenser, Israel, Syrien heute an dem Unwillen der Eliten, die durch und die USA beteiligt. Hintergrund des Kon- eine demographische Anpassung des Pro- flikts waren lange zuvor bestehende Ausein- porzsystems einen Teil ihrer Macht verlieren andersetzungen hinsichtlich der Identität des könnten. Libanon, der Machtverteilung im Staat sowie sozioökonomische Spannungen. Religiöse Aufgrund der großen Heterogenität der liba- Motive spielten eher eine untergeordnete nesischen Gesellschaft, in der die religiösen Rolle. Diese Auseinandersetzungen wurden Gruppen auch gleichzeitig unterschiedliche konfessionalisiert, um Eigeninteressen der soziale Schichten repräsentieren1, war der Li- einzelnen Gruppen durchzusetzen. Aufgrund banon in seiner Geschichte mehrmals Schau- des Mangels an staatlichen Institutionen und platz regionaler Konflikte, in denen Syrien, der Bedeutung klientelistischer Netzwerke Israel und Iran ihre jeweiligen Interessen konnte der Konflikt nicht reguliert werden und durchsetzen wollten. Hierzu unterstützten sie wurde somit durch Gewalt ausgetragen. die untereinander konkurrierenden politisch- konfessionellen Gruppen und gingen zu ver- Bereits seit den 1950er Jahren wuchsen die schiedenen Zeitpunkten wechselnde Spannungen zwischen arabischen Nationalis- Allianzen ein. Dieses Zusammenspiel von ten und prowestlichen Christen. Der Ausbruch innenpolitischen Machtkämpfen zwischen den offener Kämpfe begann jedoch erst mit der Gruppen, Rivalitäten innerhalb der einzelnen Ankunft der 1970 aus Jordanien vertriebenen politisch-konfessionellen Gruppen und exter- bewaffneten Kräfte der PLO (Palestine Libe- nen Einflüssen regionaler Nachbarstaaten ration Organization). Zu Kriegsbeginn stan- sowie überregionaler Staaten (USA, Frank- den sich die Libanesische Nationalbewegung reich) bestimmt die Komplexität der libanesi- (LN; muslimisch-drusische2 Allianz aus linken schen Problemlagen. und teilweise traditionellen Kräften, die ein Bündnis mit der PLO eingingen) und die Liba- Anstatt die tief gespaltene Gesellschaft durch nesische Front (LF; christlich-maronitische Al- die Anerkennung der Vielfalt zu einer staat- lianz rechter Parteien und Gruppen) lichen Einheit zu formen, hat dieses politische gegenüber. Die LN forderte eine Reform des System im Libanon eher zu einer noch stär- politischen Systems, die LF beharrte auf den keren Fragmentierung geführt. In Krisenzeiten alten Machtverhältnissen und bestand auf hat sich immer wieder gezeigt, dass sich die einer Vertreibung der Palästinensermilizen. Libanesen in ihre eigene religiöse Gruppe zu- 1976 kam es zu einer Intervention syrischer rückziehen. Dies hängt mit der Schwäche der Truppen, die sich zunächst auf die Seite der politischen Parteien zusammen, überkonfes- christlichen Fraktion stellten. 1978 mar- sionell agierende Politiker gibt es kaum. Der schierte Israel in den Südlibanon ein, 1982 Konfessionalismus durchdringt auch andere zwangen die israelischen Truppen die PLO gesellschaftliche Bereiche, die Medien glie- zum Rückzug aus dem Libanon. Israel be- dern sich größtenteils entlang konfessioneller setzte bis zum Sommer 2000 zusammen mit Linien. Auch die libanesische Geschichts- der Südlibanesischen Armee (SLA) einen Teil schreibung ist zutiefst von Konfessionalismus des Südlibanons. geprägt. Das Friedensabkommen von Ta’if führte 1989 Das Beharren auf diesem politischen Konfes- unter saudi-arabischer Vermittlung zum Ende sionalismus war wesentliche Ursache für den des Bürgerkrieges. In ihm wurden weit rei- Ausbruch des Bürgerkrieges, der von 1975 chende Reformen des politischen Systems

1 Die von den Schiiten bewohnten Gebiete der Beqaa-Ebene und des Süd-Libanons gehören historisch zu den unterentwickelten Regionen des Landes (schlechte Infrastruktur, mangelnde Bildungseinrichtungen). Die häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen im Südlibanon schwächten ihre Entwicklung zusätz- lich. Die Maroniten hingegen, die über Jahrhunderte hinweg mit den Drusen die Politik des Landes be- stimmten, gehören finanziell und bildungsbedingt zur Oberschicht des Landes. 2 Die Drusen sind im frühen 11. Jahrhundert aus der ismailitischen Schia hervorgegangen. Sie bekennen sich zu einer Geheimreligion, die auch Elemente des Platonismus und die Lehre der Seelenwanderung beinhaltet und aufgrund dessen von vielen Muslimen als Häresie abgelehnt wird. Die Drusen unterteilen sich religiös betrachtet in „Wissende“ (arabisch: uqqal) und „Unwissende“ (arabisch: juhhal). Im Libanon entspricht ihr Bevölkerungsanteil etwa 10%. Dank ihrer wechselnden politischen Bündnisse konnten sie bis heute politischen Einfluss wahren.

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vereinbart: Die Ämter wurden fortan zu glei- und der syrischen Regierung. Aufgrund seiner chen Teilen unter Christen und Muslimen auf- politischen und militärischen Rolle während geteilt, die Rolle des (sunnitischen) des Bürgerkrieges im Libanon übte Syrien Ministerpräsidenten wurde gegenüber dem einen prägenden Einfluss auf das Land aus. (maronitischen) Staatspräsidenten entschei- Nach dem Anschlag gingen bürgerliche Grup- dend aufgewertet. Der Vertrag sprach sich für pen verschiedenster Konfessionen gemein- eine schrittweise Überwindung des Konfes- sam auf die Straßen und demonstrierten für sionalismus aus. Des Weiteren legitimierte den Rückzug der syrischen Truppen und Si- der Vertrag die syrische Militärpräsenz im cherheitsbeamten aus dem Libanon, für ein Land. 1990 begann unter Aufsicht der syri- Ende der syrischen Einflussnahme auf die li- schen Armee die Demilitarisierung der Mili- banesische Politik und damit verbunden for- zen. Einzig die Hizbullah durfte ihre Waffen derten sie eine Organisation von freien mit der Begründung behalten, den Wider- parlamentarischen Wahlen. Als Folge der De- stand gegen die israelischen Besatzungstrup- monstrationen und auf internationalen Druck pen im Südlibanon aufrechtzuerhalten. durch die USA und Frankreich zogen die sy- rischen Truppen 2005 vollständig ab und die Die islamistische Hizbullah hatte sich 1982 pro-syrische Regierung trat zurück. unter dem Eindruck des israelischen Eingrei- fens in den libanesischen Bürgerkrieg gegrün- Seitdem haben sich zwei rivalisierende politi- det. Sie verfolgt auch sozialpolitische Ziele, sche Blöcke formiert: Die Bündnisse „8. März“ etwa im Bereich Bildung und Gesundheitswe- und „14. März“. Die wichtigsten Parteien, die sen. Die schiitische, von Iran und Syrien zum „14. März“ gehören, die der Sohn des Er- unterstützte Organisation verfügt über einen mordeten, Saad Hariri führt, sind die Zu- politischen und einen militärischen Arm und kunftsbewegung, die Fortschrittliche bildet heute de facto einen „Staat im Staate“. Sozialistische Partei PSP (drusisch), die For- Im Libanon ist sie mittlerweile zu einer der be- ces Libanaises und Kata’ib/ Phalange. Die deutendsten politischen Kräfte des Landes wichtigsten Parteien in dem Bündnis „8.März“ geworden, stellt seit dem Juli 2005 zwei Mi- sind Hizbullah, die Amal-Bewegung und die nister und unterhält soziale Einrichtungen wie Freie Patriotische Bewegung FPM, die Krankenhäuser, Schulen und Waisenhäuser. gegenwärtig die größte christliche Fraktion im Generalsekretär der „Partei Gottes“ ist seit Parlament darstellt. 1992 Hassan Nasrallah. Die Hizbullah, die faktisch das gesamte öffentliche Leben der Die innenpolitische Situation ist seit 2010 ge- schiitischen Bevölkerung im Südlibanon und prägt durch die Debatte über das UN-Sonder- in Süd-Beirut organisierte und finanzierte, tribunal für den Libanon (STL), das den Mord sorgte dafür, dass die beiden Hauptinteressen an Rafiq Hariri aufklären soll. Die anhaltenden Syriens im Libanon – die Präsenz syrischer Auseinandersetzungen führten zur Auflösung Truppen und die Aufrechterhaltung des des Parlaments am 12. Januar 2011: Der Drucks auf Israel – verwirklicht wurden. Rücktritt von elf Ministern brachte die Regie- rung Saad Hariris zu Fall. Hinzu kam, dass Die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsi- die Fortschrittliche Sozialistische Partei (PSP) denten Rafiq Hariri3 löste 2005 eine Reihe von zum „8. März”-Block überwechselte und Hariri Demonstrationen hauptsächlich in Beirut aus. somit die Mehrheit der Parlamentssitze ent- Diese Kette von Protesten wird als „Zedern- zog. Neuer Ministerpräsident wurde der par- revolution“ bezeichnet4. Ausschlaggebende teiunabhängige Geschäftsmann Najib Miqati, Beweise für einen Verantwortlichen des An- der am 25. Januar 2011 den Posten aufnahm schlages auf Hariri gab es nicht, jedoch rich- und sein Kabinett am 13. Juni 2011 dem Par- tete sich der Verdacht hauptsächlich auf die lament vorstellte. Anfang Juli wurde ihm das syrische Regierung aufgrund ihres umfangrei- Vertrauen ausgesprochen. Doch auch das chen Militär- und Geheimdiensteinflusses im brachte keine innere Ruhe in das Land, denn Libanon sowie das zuletzt angespannte Ver- die unterschiedlichen Meinungen über das hältnis zwischen dem Ministerpräsidenten UN-Sondertribunal erhitzen weiterhin die Ge-

3 Rafiq Hariri, Bauunternehmer und Multimilliardär mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft, hatte massiv in den Wiederaufbau des Libanon nach Ende des Bürgerkrieges investiert. Von 1992 bis 1998 sowie zwi- schen 2000 und 2004 war er Ministerpräsident. Beide Male legte er sein Amt aus Protest gegen die po- litische Einflussnahme Syriens nieder. Er starb durch einen Autobombenanschlag am 14. Februar 2005. Durch die riesige Sprengkraft wurden auch umliegende Häuser beschädigt, 23 Menschen starben, mehr als 100 wurden verletzt. 4 Die Zeder ist das nationale Wahrzeichen Libanons, der Baum, der ebenfalls auf der Flagge des Landes abgebildet ist.

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müter. Anfang Juli gab das STL bekannt, dass Die Zustimmung der libanesischen Bevölke- vier Hizbullah-Mitglieder am Mord beteiligt ge- rung zur demokratischen Regierungsform ist wesen sein sollen und forderte deren Inhaftie- auf allen Seiten grundsätzlich sehr hoch. Die rung. Saad Hariri bezeichnete dies als einen relativ geringe Wahlbeteiligung zu Beginn der „historischen Schritt“. Der Anführer der Hizbul- Jahrtausendwende auf nationaler Ebene lah, Hassan Nasrallah, vertrat jedoch die Mei- (40,5% bei den Wahlen 2000) wurde von vie- nung, dass das Tribunal und der Mord ein len mit dem Verdruss über die lähmende All- abgestimmter Plan der USA und Israels gegenwärtigkeit des Proporzes, des wären, um gegen die Hizbullah, die momen- Klientelismus und der syrischen Einfluss- tan die stärkste politische und militärische nahme begründet. Bei den Parlamentswahlen Macht im Libanon ist, vorgehen zu können. 2009 fiel die Wahlbeteiligung wieder deutlich Ferner würden sie eine nationale Kluft zwi- höher aus (55%). schen den schiitischen und sunnitischen Li- banesen beabsichtigen, um die innere Die Zivilgesellschaft des Libanon ist ver- Sicherheit und Stabilität Libanons zu schwä- gleichsweise lebendig und weist einen recht chen. hohen Organisationsgrad auf. Es existiert ein robustes Geflecht autonomer, selbstorgani- II. Voraussetzungen für den Willen nach sierter Gruppen, Vereine und Organisationen Wandel sowie ein solides Maß an Vertrauen innerhalb der Bevölkerung. Sehr häufig übernehmen Libanon unterscheidet sich von anderen Län- die Organisationen staatliche Aufgaben, wie dern der Region durch sein vergleichsweise Soziales und Bildung, mit. offenes System. Trotz des Bürgerkrieges ge- lang es dem Libanon, die Grundlagen seines III. Akteure des Wandels und konkrete demokratischen Systems am Leben zu erhal- Auslöser ten: Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte werden in weit höherem Maße geachtet als in Während Nordafrika und der Nahe und Mitt- anderen Staaten der Region. Zivilgesell- lere Osten von historischen politischen Um- schaftliche Strukturen sind vergleichsweise brüchen erfasst wurden, blieb die Lage in hoch entwickelt und die Medienlandschaft ist Libanon bislang verhältnismäßig ruhig. An- weitgehend unabhängig und vielfältig. fang 2011 kam es zu einer zaghaften Protest- bewegung, die als Versuch, sich aus dem Bürokratische Korruption ist ein präsentes Einflussbereich der verschiedenen internen Problem und ihre Eindämmung ständiges und externen Machthaber zu befreien, zu wer- Thema gesellschaftlicher Forderungen und ten ist. Im Februar gingen zunächst nur einige politischer Absichtserklärungen. Entspre- Hundert Menschen auf die Straße, vor allem chend unzureichend fällt häufig die rechtliche Jugendliche, die sich über das Internet und und politische Ahndung von Amtsmissbrauch soziale Netzwerke mobilisiert hatten. Die aus. Dies liegt auch daran, dass Korruption kommunistische libanesische Jugendbewe- zum Teil als unabwendbarer Bestandteil des gung rief zu Protesten auf. Die Forderungen Klientelismus betrachtet wird, was die Unter- beliefen sich auf die Abschaffung des konfes- scheidung zwischen beiden häufig unmöglich sionellen politischen Systems. Im März gab macht. es in Beirut wieder Demonstrationen. Diesmal nahmen einige Tausend daran teil. Am Jah- Es existiert ein relativ stabiles und moderates restag der „Zedernrevolution“ fand ebenso Parteiensystem, welches jedoch fragmentiert eine Demonstration gegen das Waffenprivileg ist. Es ist durch stark personalistische und der Hizbullah statt, zu der der bisherige Minis- klientelistische Tendenzen sowie geringe pro- terpräsident Saad Hariri aufgerufen hatte. Da- grammatische Kapazitäten gekennzeichnet. neben wurden auch sozioökonomische Konfessionelle Allianzen durchschneiden Themen proklamiert, darunter Forderungen häufig die Parteigrenzen. So trägt das am nach geringeren Lebenskosten, mehr Arbeits- konfessionellen Proporz orientierte Wahlsys- plätzen und sozialen Sicherheiten. Am 10. tem dazu bei, die Position der konfessionellen April kam es erneut zu Demonstrationen und Führer zu stärken und verhindert die Entwick- Forderungen nach Abschaffung des religiösen lung einer Parteien- und Interessengruppen- Konfessionalismus. Die Proteste verliefen landschaft, die regionale und konfessionelle friedlich und fanden in der Berichterstattung Grenzen überwindet. kaum Beachtung. Die Demonstrationen konn-

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ten sich jedoch nicht landesweit entfalten, da rende Politiker sind in der Minderheit. Die li- es keine einheitliche öffentliche Meinung gibt. banesische Gesellschaft, die 2005 geeint Dies hat zum einen mit der Fragmentierung gegen die syrische Besetzung protestierte, ist der libanesischen Gesellschaft und damit ein- in den letzten Jahren wieder deutlich ausein- hergehend unterschiedlichen Interessen zu ander gerückt und in alte konfessionelle Mus- tun. Zum anderen existiert durch das Proporz- ter verfallen. Nach dem Tod Hariris schien system keine einzelne zentrale Machtfigur, eine Vereinigung über konfessionelle Gren- die es zu entmachten gilt. Vielmehr ist es das zen hinweg unmöglich geworden zu sein. Die politische System an sich, welches damals Zukunft Libanons hängt in hohem Maße von unter den Franzosen in den 1920er Jahren dem Verlauf der Protestbewegung im Nach- eingeführt wurde, das bis heute jegliche Re- barland Syrien ab. Vor allem in der nordliba- formversuche erschwert. Diese Fragmentie- nesischen Stadt Tripoli, die an Syrien grenzt, rung macht sich auch dadurch bemerkbar, leben viele syrische Flüchtlinge, die Anfang dass die Demonstranten sich schnell uneins der 1980er Jahre flohen, als der ehemalige waren, welche Richtung ihre Proteste neh- Präsident Hafiz al-Assad gegen die Aufständi- men sollten. Auch der sehr komplexe außen- schen in Hama vorging. Neben den mehrheit- politische Kontext behindert die Proteste, da lich sunnitischen syrischen Flüchtlingen lebt regionale Konfliktfronten schnell aufeinander auch eine größere alawitische5 Gemeinde in stoßen und jederzeit zu erneuten Krisen und Tripoli. Die syrische Herrscherelite gehört kriegerischen Konflikten führen können. Der ebenfalls der alawitischen Glaubensrichtung Libanon durchlebt immer noch die Folgen des an. Somit sorgen die andauernden Kämpfe in Mordes an Rafiq Hariri, dessen Hintergründe Syrien auch für zunehmende Spannungen weiterhin ungeklärt bleiben. zwischen diesen beiden syrischen Gruppen in Tripoli. Ein Regimewechsel in Syrien würde IV. Auswirkungen des „Arabischen ebenso wie der Ausbruch eines Bürgerkrieges Frühlings“ gravierende Folgen für den Libanon haben. So sprach sich Anfang August der libanesi- Einige Sprecher der Kundgebungen äußerten sche Außenminister gegen eine internationale sich dann auch kritisch über den Erfolg ihrer Einmischung in den Syrienkonflikt aus, da die Proteste: So wurde die Debatte um eine Sä- Stabilität des eigenen Landes eng mit der Sta- kularisierung des Staates durch die Proteste bilität des Nachbarlandes verbunden sei. Im weiter angestoßen. Die Revolutionen in Tune- April 2011 berichteten libanesische Zeitun- sien und Ägypten wurden als positiv angese- gen, dass eine neue Flüchtlingswelle aus Sy- hen, ohne dass für das eigene Land gleiche rien Zuflucht im Libanon sucht. Ihre Zahl Effekte zu erwarten seien. Durch die innenpo- wurde auf 5.000 Menschen geschätzt. Um die litischen Auseinandersetzungen fürchten viele Situation für den Libanon zu entschärfen, rie- Beobachter derzeit eine Eskalation eines gelten libanesische Sicherheitskräfte darauf- innerislamischen Bürgerkrieges auf libanesi- hin die Grenze ab. Auch die Hizbullah soll auf schem Boden, diesmal zwischen Sunniten den möglichen Sturz des syrischen Regimes und Schiiten. Auch die Schaffung eines säku- bereits reagiert haben: Seit Ende Juni verla- laren Staates erfüllt viele Libanesen noch mit gere sie ihr Waffenarsenal schrittweise aus Misstrauen: Viele Christen rechnen mit einer Syrien in den Libanon. Machtübernahme durch die schiitische Hiz- bullah und eine damit verbundene Auswei- Da Syrien nach dem Bürgerkrieg die politi- tung des iranischen Einflusses. sche und militärische Kontrolle im Libanon übernahm, kamen darüber hinaus eine Million Trotz der zögerlichen Proteste zu Beginn die- syrische Gastarbeiter in den Libanon. Damit ses Jahres erscheinen zum jetzigen Zeitpunkt erlitten die etwa 400.000 Palästinenser eine ein Systemwechsel und eine Entmachtung gravierende wirtschaftliche Marginalisierung. der herrschenden Eliten unmöglich. Regie- Seit dem Bürgerkriegsende sind die Palästi- rungswechsel dagegen sind an der Tagesord- nenser von dem politischen, sozialen und nung, die politische Landschaft ist in stetigem wirtschaftlichen Leben des Landes ausge- Fluss, autokratische Strukturen wie in ande- schlossen. Das weitgehende Arbeitsverbot ren Staaten im Nahen und Mittleren Osten außerhalb der Flüchtlingslager zwang viele existieren also nicht. Die Parteienlandschaft aus Existenznöten zurück in die zum Teil zer- ist stärker ausgeprägt als in den Nachbarlän- störten Lager. Die ungelöste Flüchtlingsfrage dern, doch konfessionsübergreifend agie- und die angespannte Lage in den Flüchtlings-

5 Alawiten, auch Nusairier genannt, sind eine Strömung des Islam, die sich aus dem Schiitentum entwickelt hat. Die Nusairier leben hauptsächlich in Syrien, der Türkei und im Libanon.

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lagern belasten den Libanon zusätzlich. Die ist geprägt von den sicherheitspolitischen überwiegend sunnitischen Palästinenser ma- Interessen Syriens und Israels, den strategi- chen mittlerweile 11% der Bevölkerung aus schen Interessen Irans und den Machtinter- und würden im Falle einer Anerkennung das essen der verschiedenen konfessionellen mühsam ausgehandelte politische Gleichge- Gruppen im Land. Alle diese Faktoren unter- wicht zwischen den verschiedenen Religions- liegen einem stetigen Bedeutungswandel und gruppen weiter zugunsten der Muslime wechselnden Bündnisverhältnissen. Der Aus- verschieben. gleich aller Interessen erscheint unmöglich, daher sind politische Konflikte im Libanon un- V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure vermeidbar, solange das politische System bestehen bleibt. Die Debatte um die Abschaf- Mit der Mobilisierungskraft der „Zedernrevo- fung des konfessionellen Systems bestimmte lution“ von 2005 lässt sich die jetzige Situation dann auch die zaghaften Protestbewegungen folglich nicht vergleichen. Saad Hariri sprach im Libanon zu Beginn dieses Jahres. Das Mo- gar davon, dass die Zedernrevolution im Li- dell der Konkordanzdemokratie scheint für banon ein Vorgänger der derzeitigen demo- den Libanon nicht geeignet, weil es von inter- kratischen Erhebungen in der arabischen nen und externen Gruppen immer wieder in- Welt gewesen sei. Nabih Berri, Sprecher des strumentalisiert wurde. Ebenso zeigt die Parlaments und Führer der Schia-Partei moderne libanesische Geschichte, dass das Amal, rief im Februar zu einer Beteiligung an Beharren auf dem Konfessionalismus zahlrei- den Protesten auf. Die Hizbullah reagierte in che blutige Konflikte mit sich brachte, die die der Protestbewegung gehemmt und konnte Bevölkerung bis heute traumatisieren und den sich zunächst nicht positionieren. Noch zu Be- einstigen Ruf des Libanon als „Schweiz des ginn des Jahres hatte sich Hassan Nasrallah Orient“ zerstört hat. Bis heute entziehen sich enthusiastisch über die Aufstände in Tunesien die Eliten ihrer Verantwortung, die schritt- und Ägypten geäußert. Auch die Proteste in weise Überwindung des politischen Konfes- Libyen stießen auf seine Zustimmung. Im Ja- sionalismus voranzutreiben, so wie es im nuar drohte er mit „tunesischen Verhältnis- Nationalpakt von 1943 und erneut im Abkom- sen“, sollte die nächste libanesische men von Ta’if 1989 vorgesehen wurde. Sollte Regierung das Hariri-Sondertribunal weiter es irgendwann gelingen, den Libanon in einen unterstützen. Dem Assad-Regime in Syrien starken säkularen Staat zu formen und sich bekundete er jedoch seine uneingeschränkte die Libanesen als überkonfessionelle Nation Solidarität mit der Begründung, dass Assad etablieren, wäre die ständige Einflussnahme durchaus für Reformen bereit und somit kein externer Mächte erschwert und die gesamte internationales Eingreifen nötig sei. Die Hiz- Region stabilisiert. Es bedarf allerdings einer bullah steht unter großem Druck, denn sollte starken Protestbewegung wie während der das Regime in Syrien fallen, wäre ihr strategi- „Zedernrevolution“ 2005, um diese Forderung scher Vorteil Vergangenheit und die Organi- anstoßen zu können. sation müsste sich vollkommen neu orientieren. Auch Iran würde seinen einzigen Durch die geringe Größe des Landes und der arabischen Verbündeten verlieren. Die meis- geringen Bevölkerungszahl ist es jedoch das ten Syrer sind Sunniten, eine neue Führung Schicksal Libanons, Spielball der größeren konnte folglich eher feindselig gegenüber der und einflussreicheren Nachbarländer zu blei- schiitischen Hizbullah eingestellt sein, so die ben. Zu einer Befriedung der Lage ist – wenn Befürchtungen. auch ein Systemwechsel unmöglich erscheint – wenigstens die Anpassung der Verteilung VI. Zukunftsszenarien der politischen Ämter an die demographi- schen Realitäten erforderlich. Doch eine Ver- Die innenpolitischen Entwicklungen seit dem änderung des Wahlrechts muss vom Abkommen von Ta’if haben verdeutlicht, wie Parlament verabschiedet werden, durch eben limitiert der Handlungsspielraum der libanesi- jene Politiker, die an ihren Machtansprüchen schen Regierungen ist. Jeder Schritt muss ungehindert festhalten und an ihren eigenen unter Berücksichtigung aller internen und ex- Interessen und denen ihrer konfessionellen ternen Interessen abgewogen werden, zeit- Gruppe interessiert sind. Das libanesische weilig kam es zur völligen Blockade des Volk hat bereits mit der Zedernrevolution 2005 Systems, zu militärischen Angriffen und politi- bewiesen, dass es bereit ist, sich für politi- schen Morden. Der politische Alltag Libanons schen Wandel zu mobilisieren. Die jüngsten

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Proteste, die sich gegen das politische Sys- schrittweise überwunden. Zunächst erfolgt tem richten, haben bis jetzt keine Breitenwir- eine neue Volkszählung, begleitet von kung erzielt, weil viele Bürger das System als einer Anpassung der Wahlkreise. Das an- zu komplex und nicht wandelbar ansehen. In fängliche Misstrauen gegenüber der Hiz- seiner Geschichte hat die Unfähigkeit der po- bullah, die die ersten Wahlen dominieren, litischen Führung, nationale Interessen vor legt sich. Innerhalb der nächsten zehn Partikularinteressen zu stellen, mehrmals zur Jahre etablieren sich dann zunehmend Instabilität des Landes geführt. Im Zuge des überkonfessionelle Parteien. „Arabischen Frühlings” ist es nun genau diese Uneinigkeit, die in Libanon bis dato landes- Trend-Szenario: weite Protestbewegungen verhindert hat. Die libanesische Politik hat weiterhin Pro- Worst-Case Szenario: bleme, eine stabile Regierung zu bilden. Hinzu kommen interne Machtkämpfe, wo- Nach dem Ausbruch eines Bürgerkrieges durch es externen Akteuren leicht fällt, in Syrien mit anschließendem Regime- weiterhin ihre Partikularinteressen einzu- wechsel bricht im Libanon ein neuer Bür- bringen. Das Regime in Syrien hält sich, gerkrieg zwischen sunnitischen und die Spannungen zwischen dem pro-syri- schiitischen Gruppen unter Einbeziehung schen und anti-syrischen Lager wachsen. Irans aus. Der Konflikt erhält eine interna- Politische Morde bleiben an der Tagesord- tionale Dimension durch die Angst um den nung. Einsatz von Atomwaffen. Samira Akrach und Tutku Güleryüz Best-Case Szenario:

Der politische Konfessionalismus wird

VII. Literaturangaben

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AUSWÄRTIGES AMT

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91 Deutsches Orient-Institut Jordanien

Landesdaten Jordanien Fläche1 2011 89,342 m² Bevölkerung2 2010 6.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 69,05

Ethnische Gruppen4 2010 Araber 98%, Tscherkessen 1%, Armenier 1%

sunnitische Muslime 92%, Christen 6% Religionszugehörigkeit5 2010 (vor allem griechisch-orthodox), andere 2% (vor allem schiitische Muslime und Drusen) Durchschnittsalter6 2010 22,1 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2005 37,2% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3% Lebenserwartung9 2010 80,05 Jahre Bevölkerungsprognose bis 201510 2010 6.900.000 Geburten pro Frau11 2009 3,4 Alphabetisierungsrate12 2010 91,1% Mobiltelefone13 2009 6.014.000 Nutzer Internet14 2009 1.741.900 Nutzer Facebook15 2011 1.675.780 Wachstum BIP16 2010 3,1% BIP pro Kopf17 2010 5.700 USD Arbeitslosigkeit18 2010 12,5% Inflation19 2011 6,1% S&P-Rating20 2011 BBB- Human Development Index21 2010 Rang 82 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 67 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 57,6% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 24,6% Korruptionsindex25 2010 Rang 50 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 http://www.tradingeconomics.com/jordan/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 United Nation: Arab Human Development Report: Challenges to Human Security in the Arab countries, S. 232. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 http://www.tradingeconomics.com/jordan/population-imf-data.html. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 United Nation: Arab Human Development Report: Challenges to Human Security in the Arab countries, S. 239. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 92 Jordanien

Jordanien Jordanien hat heute circa 6,5 Mio. Einwohner, davon sind über 90% Muslime. Im Zuge des uch das Haschemitische Königreich Nahostkonflikts mit Israel lebt im haschemiti- Jordanien sah sich im Zuge des schen Königreich auch ein großer palästinen- A„Arabischen Frühlings“ mit Protes- sischer Bevölkerungsanteil, deren Anteil auf ten konfrontiert. Sowohl die wirtschaftli- über 50% geschätzt wird. Hinzukommen bis che als auch die demographische zu einer Million Flüchtlinge, die auf Grund des Ausgangslage sind schwierig. Dem Kö- Irak-Krieges im Jahr 2003 ins Land kamen. nigshaus gelingt es jedoch bislang erfolg- Allgemein hat Jordanien seit 1975 ein enor- reich, sich aus der Schusslinie zu mes Bevölkerungswachstum zu bewältigen: manövrieren: Die Demonstranten fordern einen Anstieg von 1,9 Mio.1975 zu 5,9 Mio. keinen Regime- oder Systemwechsel. 2005 (3,5%) und zu erwartenden 6,9 Millionen bis 2015 (2,2%).3 Der Anteil der unter 15-Jäh- I. Politisches System und gesellschaftli- rigen lag 2005 bei 37,2%.4 Dennoch liegt die che Entwicklungen Alphabethisierungsrate bei 91,1% für über 15- Jährige. Bei unter 15-Jährigen erreicht sie Das Haschemitische Königreich Jordanien sogar 99%.5 Jordanien ist im regionalen Ver- wurde am 25. Mai 1946 von Großbritannien gleich arm an Rohstoffen, so verfügt es bei- aus der Mandatsherrschaft in die Unabhän- spielsweise über keine erwähnenswerten gigkeit entlassen. Das erste Staatsoberhaupt Erdöl- oder Erdgasreserven. war König Abdullah I. Dieser regierte bis zu seinem Tod am 20. Juli 1951, war jedoch Das Land ist eine konstitutionelle Monarchie zuvor bereits seit 1921 Emir von Transjorda- und König Abdullah II. bin al-Hussein ist zu- nien, als dieses noch unter britischer Man- gleich auch Oberbefehlshaber der Streit- datsherrschaft stand. Nach seinem Tod kräfte. Die Legislative bildet das Parlament übernahm sein Sohn Hussein I. die Macht seit 2010 mit 120 frei auf vier Jahre gewählten und regierte bis zu seinem Tod am 7. Februar Abgeordneten im Unterhaus sowie 60 vom 1999. Seit seiner Unabhängigkeit beteiligte König auf acht Jahre ernannte Abgeordnete sich Jordanien an den Kriegen gegen Israel des Oberhauses. Zudem bestehen einige und besetzte 1948 das Westjordanland. Die- Proporzregeln: So sind sechs der Mandate ses verlor es jedoch im Krieg von 1967 wieder des Unterhauses für Frauen, neun für Chris- an Israel. Die durch diese beiden Kriege ver- ten und drei für Tscherkessen reserviert. Die ursachten Flüchtlingswellen von jeweils rund wichtigsten Machtbefugnisse liegen jedoch 400.000 Menschen stellten das Königreich beim König: So ernennt und erlässt er die Re- vor eine enorme Herausforderung. Die paläs- gierung. Ferner kann er das Parlament auflö- tinensische Befreiungsorganisation (PLO)1 sen und entscheidet über dessen Zusammen- drohte zunehmend zum „Staat im Staate“ zu treffen. In der Übergangsphase regiert er per werden. Diese Bedrohungsperzeption führte Dekret. Das politische System Jordaniens dann 1970/71 zu einem militärischen Konflikt, wird demnach trotz demokratischer Elemente der als „Schwarzer September“2 bekannt als „gemäßigte Autokratie“6 bezeichnet. In der wurde. An dem erneuten Krieg gegen Israel Folge ist auch die Parteienlandschaft erst im 1973 beteiligte sich Jordanien kaum. Ferner Aufbau begriffen. schloss es mit seinem Nachbarstaat im Jahr 1994 einen Friedensvertrag ab und war damit Jordaniens Rechtssystem greift allerdings auf nach Ägypten erst der zweite arabische Staat, eine im Vergleich zu anderen Staaten der ara- der Frieden mit Israel schloss. bischen Welt gut ausgebildete Rechtstaatlich-

1 Die PLO (Palestine Liberation Organization, arabisch: Munazzamat at-Tahrir al-FilasÔiniya) ist der Dach- verband verschiedener nationalistischer Organisationen zur Befreiung Palästinas. Die stärkste unter ihnen ist die Fatah. Die PLO wurde am 28. Mai 1964 auf Initiative des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abd al-Nasser gegründet. Jassir Arafat war zwischen 1969 und 2004 ihr Vorsitzender und seit sei- nem Tod hat Mahmud Abbas dieses Amt inne. 2 Der „Schwarze September” bezeichnet eine militärische Auseinandersetzung zwischen dem jordanischen Staat und der PLO. Letztere bildete einen „Staat im Staate“ und verübte am 1. September 1970 einen At- tentatsversuch auf König Hussein I., welches jedoch scheiterte. In der Folge kam es zu mehreren Flug- zeugentführungen und die jordanische Armee schlug den Aufstand am 17. September 1970 nieder. Unter Vermittlung Nassers kam es dann zu einem Waffenstillstand am 27. September 1970. 3 Vgl. United Nation: Arab Human Development Report: Challenges to Human Security in the Arab coun- tries, S. 232. 4 Ebd. 5 Ebd. S. 239. 6 Vgl. Brummer, Klaus: Deutschland, Europa und die arabisch-islamische Welt. Interessen und Handlungs- schwerpunkte, S. 9.

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keit zurück. Sie operiert weitgehend unabhän- – ähnliche demographische Verhältnisse gig, sofern sie sich jedoch mit Belangen der unter anderen Herausforderungen wie in der Eliten befasst, ist sie massiver Einflussnahme gesamten arabischen Welt. Dies betrifft bei- ausgesetzt. Vor allem haben die Terroran- spielsweise die Arbeitslosenquote, welche mit schläge im November 2005 auf drei Hotels in über 12,5% im Jahr 2010 relativ hoch ist. Amman zu einer Ausweitung der Kompeten- Doch auch hier fällt die Ungleichverteilung zen der Sicherheitsbehörden geführt. Das entlang der Geschlechter ins Auge. Zwar stel- wiederum beschneidet zunehmend die len Frauen 48% der Bevölkerung, jedoch nur Rechte von Inhaftierten. Menschenrechtsor- 12% der Erwerbstätigen9, obwohl diese meist ganisationen kritisieren deshalb den restrikti- höher qualifizierte Jobs haben.10 Auch die ven Umgang jordanischer Polizeibehörden hohe Jugendarbeitslosigkeit ist signifikant: mit Gefangenen. Zwischen 15 und 19 Jahren lag sie im Jahr 2003 bei 37% sowie zwischen 20 und 24 Jah- II. Voraussetzungen für den Willen nach ren bei 28,2%.11 Daraus entsteht eine der Wandel innenpolitischen Kernherausforderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte für das Der vor Jahren mit dem Beginn der Herrschaft Königreich, da es sich als äußerst schwierig von Abdullah II. begonnene Reformprozess gestalten dürfte, die junge Generation erfolg- hin zu mehr Demokratie und freier Marktwirt- reich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das schaft ist mittlerweile ins Stocken geraten. Die gleiche Problem stellt sich darüber hinaus bei anfangs gehegten Hoffnungen, der junge und einer weiterhin verstetigten Heranführung der an westlichen Elitehochschulen ausgebildete weiblichen Bevölkerung an den Arbeitsmarkt. Thronfolger würde sowohl die ökonomische als auch die politische Realität in Jordanien Allgemein ist die wirtschaftliche Situation Jor- verbessern, blieben unerfüllt. Der wesentliche daniens schwierig. Das haschemitische Kö- Teil zur Verbesserung der Lage fand überdies nigreich hat ein prognostiziertes Brutto- im Bereich der Wirtschaft statt,7 es erfolgte inlandsprodukt von 27,5 Mrd. USD im Jahr eine zunehmende Orientierung am Westen. 2010 bei einem Wachstum von 3,1%. Zudem Dennoch ist der privatwirtschaftliche Sektor weist es 2010 ein Haushaltsdefizit von 5,4% unterentwickelt, während der staatliche Sek- auf.12 Das Land verfügt kaum über natürliche tor noch immer den größten Arbeitsbereich Ressourcen – vor allem im regionalen Ver- des Landes darstellt, wenngleich der Anteil gleich besitzt das Königreich keine erwäh- von 49,5% im Jahr 1990 auf 39% im Jahr nenswerten Öl- oder Gasvorkommen. Ein 2003 reduziert werden konnte.8 Die grundle- Großteil der benötigten Waren muss impor- genden politischen Neuerungen sind hinge- tiert werden. Zudem ist das Königreich von gen noch nicht oder erst unzureichend in externen Zuwendungen – vor allem in Form Angriff genommen worden. So ist beispiels- von Entwicklungshilfe und Schuldenerlässen weise die gesetzmäßige Gleichstellung der seitens der USA und der EU – abhängig. Die Frau nicht durchgesetzt, denn ihr werden Herkunft ist allerdings primär nicht im direkten grundlegende politische und staatsbürgerli- Umfeld Jordaniens zu verorten, da Jordanien che Rechte vorenthalten. Das beinhaltet auf Grund seiner Lage zwischen den nach re- beispielsweise den Fakt, dass eine jordani- gionaler Hegemonie strebenden Staaten Sy- sche Frau nicht die Möglichkeit der Weiter- rien, Saudi-Arabien, Irak und Israel eine gabe der Staatsangehörigkeit an ihre Kinder ausgeglichene Nachbarschaftspolitik verfolgt. im Falle einer Ehe mit einem Nicht-Jordanier Ferner nimmt der Anteil der ausländischen besitzt. Zahlungen am jordanischen Staatshaushalt in In Jordanien bestehen – wie bereits erwähnt den letzten Jahren stetig ab – mit Ausnahme

7 Vgl. Bertelsmann Stiftung: Transformation Index 2010, http://www.bertelsmann-transformation- index.de/fileadmin/pdf/Anlagen_BTI_2010/BTI_2010__Rankingtabelle_D_web.pdf, abgerufen am 03.08.2011. 8 Vgl. The European Training Foundation (ETF): Unemployment in Jordan, S. 21. 9 Vgl. Ebd. 10 Ebd. S. 23f. 11 Ebd. S. 28. 12 Daten nach http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7785.pdf?show=true, abgerufen am 25.08.2011. Die deutschen Werte 2010 zum Vergleich: BIP 3,34 Bio. USD, Wachstum 3,5%, Daten nach http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2011/01/weodata/weorept.aspx?pr.x=108&pr.y=15&sy=2009&ey= 2016&scsm=1&ssd=1&sort=country&ds=.&br=1&c=134&s=NGDP_R%2CNGDP_RPCH%2CNGDP%2C NGDPD%2CNGDP_D%2CNGDPRPC%2CNGDPPC%2CNGDPDPC%2CPPPGDP%2CPPPPC%2CPC PI%2CPCPIPCH%2CPCPIE%2CPCPIEPCH&grp=0&a=, abgerufen am 25.08.2011.

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eines Anstiegs nach dem 11. September politische Akteure äußerst schwierig ist, poli- 200113, was vor allem mit erhöhten Zuwen- tisches Mitspracherecht zu erlangen. Diese dungen der USA für den Kampf gegen den Loyalität lässt sich der jordanische Staat auch Terror zu erklären ist. einiges kosten: Mehr als 80% des Staats- haushalts soll für den öffentlichen Sektor aus- Auf politischer Ebene gilt vor allem das Wahl- gegeben werden. Hinzu kommt unter recht als reformbedürftig. Das darin enthal- anderem, dass das Parlament bis zu einem tene Prinzip des „one man, one vote“ wird als gewissen Grad von den Mitgliedern und Kan- Begünstigung und gleichermaßen Festigung didaten weniger als demokratische Partizipa- tribaler Herrschaftsstrukturen angesehen, tionsmöglichkeit, sondern viel mehr als denn wenn jeder Jordanier lediglich eine, Zugang zum staatlichen Patronagenetzwerk nicht zu übertragende Stimme hat, genießen angesehen wird. Daraus erklärt sich auch der tribale Verbindungen14 Priorität. Zudem ist in Fakt, dass die Legislative in den allermeisten Jordanien eine extreme Ungleichbehandlung Fällen von der Exekutive eingebrachte Geset- der Bürger zu beobachten, denn die Wahl- zesentwürfe „abnickt“ und sie nur in seltenen kreise sind nicht an der demographischen Re- Fällen tief greifend überarbeitet oder gar ab- alität orientiert, sodass einige bis zu lehnt. Ein Beispiel hierfür ist die Auflösung des siebenmal stärker repräsentiert werden als Unterhauses 2009 nach nur zwei der eigent- andere.15 Das trifft vor allem auf die Städte mit lich vier Jahre dauernden Legislaturperiode. einem hohen palästinensischen Bevölke- Begründet wurde dieser Schritt von König Ab- rungsanteil, wie zum Beispiel Amman oder dullah II. damit, dass das Parlament notwen- Zarqa, zu. Dies legt nahe, dass es sich um dige ökonomische Reformen nur eine gezielte Benachteiligung handelt. Auch unzureichend unterstützt und zu langsam die Vereinten Nationen attestieren Jordanien agiert. vergleichsweise niedrige Zugangsmöglichkei- ten von zugewanderten Bevölkerungsteilen.16 König Abdullah II. konzentrierte sich jedoch Hinzukommend ist eine Tendenz zum Stimm- nach dem Tod seines Vaters 1999 zunächst kauf zu beobachten und die Wahlen unterlie- einmal auf die eigene Herrschaftssicherung gen nicht der Kontrolle einer objektiven und und deren Legitimation. Die Anerkennung des unabhängigen Instanz. Das jordanische Par- Königshauses war jedoch zu diesem Zeit- teiengesetz hält indes einige Schwierigkeiten punkt bereits gegeben. Dennoch versuchte aufrecht, welche auch dazu beitragen, dass der neue König, eventuell aufkommende Kri- die circa 30 Parteien des Landes in Wahlen tik von seiner Person abzuleiten – hin zu Mi- nur eine marginale Rolle neben den bereits nisterpräsident und Parlament. Prinzipiell bestehenden traditionellen Strukturen spielen. setzte er dabei andere Prioritäten und Hierfür liegt der Grund vor allem darin, dass Schwerpunkte als Hussein I. Zwar behielt er die islamistischen Parteien, allen voran die Repression und einen starken Polizei- und Si- Muslimbrüder, im Jahr 1989 beinahe die cherheitssektor vor allem seit den Anschlägen Hälfte der Sitze des Unterhauses erlangten vom 11. September 2001 bei – obwohl die und somit als eine ernstzunehmende Bedro- Hoffnungen von Seiten des Volkes, vor allem hung der Vorherrschaft der regimetreuen Ver- der Jugend, auf dem jungen Herrscher lagen, treter angesehen wurden. eine liberalere Politik zu verfolgen. Diesen hatte er auch anfänglich entsprochen und ver- Generell ist es aber auch die Position des Kö- schiedene, vor allem ökonomische Neuaus- nigs, die das autoritäre System ausmacht, da richtungen forciert. Dieser progressive er weder der Legislative noch der Judikative Wandel sollte sowohl good governance als rechenschaftspflichtig ist und von diesen auch auch Wirtschaftswachstum und nationale Ent- nicht belangt werden kann. Somit wird das wicklung beinhalten. Teil seines Projekts „Jor- bestehende System der Patronage von triba- danien zuerst“, das er 2003 vorgestellt hatte, len Strukturen gefördert, sodass es für neue war unter anderem die Ausweitung politischer

13 Vgl. für die Jahre 1964-2005 Peters, Anne Mariel, Moore, Pete W.: Beyond Boom and Bust: External Rents, Durable Authoritarianism, and Institutional Adaption in the Hashemite Kingdom of Jordan, in: Stu- dies in Comparative International Development, Vol. 44 (2009) No. 3, S. 256-285 (269) sowie für die Jahre 2006-2010 http://www.cbj.gov.jo/uploads/si_17.xls, abgerufen am 10.08.2011, eigene Berechnungen. 14 Diese besitzen im Land eine erhebliche Bedeutung, die sich in erster Linie aus der jordanischen Ge- schichte ableitet: Das Gebiet besaß lange Zeit kein urbanes Zentrum wie beispielsweise Damaskus in Sy- rien. Deshalb blieb die tribale Verbindung enorm wichtig. Die Beziehungen der einzelnen Stämme untereinander waren vornehmlich von Handel geprägt. 15 Vgl. Ostry, Hardy, Haschke, Franziska: Jordaniens Parlamentswahlen und der stagnierende Reformpro- zess, S. 3, http://www.kas.de/wf/doc/kas_12366-1522-1-30.pdf?080729151230, abgerufen am 03.08.2011. 16 Vgl. United Nations Development Programme: Human Development Report 2009, New York 2009, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2009_EN_Complete.pdf, abgerufen am 23.08.2011.

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Partizipation (vor allem von Frauen und jun- ihrer Konzeption als auch in ihrer Zielsetzung gen Jordaniern), einen demokratischen Dia- so eingerichtet, dass sie keine Bedrohung für log zu fördern sowie eine verantwortungsvolle die Herrschaft, beispielsweise durch revolu- Presse zu etablieren. Diese Pläne sollen je- tionistische Tendenzen, darstellen können. doch von Jordanien selbst und nicht unter Diese Praxis erstreckt sich auch auf die Pres- Druck oder Einmischung anderer regionaler selandschaft. Die politische Realität in Jorda- oder internationaler Akteure vorangetrieben nien enttäuschte weite Teile der Bevölkerung. werden. Vor allem die ländlicheren Gebiete in der Pe- ripherie wurden wirtschaftlich benachteiligt. Dennoch lag der Fokus von Abdullah II. viel Mit den Revolutionen in Tunesien und Ägyp- eher auf den innenpolitischen Herausforde- ten wurde diese Enttäuschung dann kanali- rungen vor allem im wirtschaftlichen Bereich, siert und führte zu einem Aufbegehren gegen während sein Vater sich noch primär auf das Regime, wie es das Königreich zuvor außenpolitische Belange – wie beispielsweise noch nicht gesehen hatte. den in Jordanien unpopulären Friedensver- trag mit Israel 1994 – konzentriert hatte. So III. Akteure des Wandels und konkrete rief er zum Beispiel den Economic Consulta- Auslöser tive Council ins Leben, der ökonomische Fra- gen erörtern sollte und in der Mehrheit durch Den größten Teil der Demonstranten stellte, Privatwirtschaftsvertreter aus der Generation wie in der arabischen Welt allgemein, die Ju- des Königs gestellt wird. Diese Gründung gilt gend. Diese zeigte sich bereits zuvor von an- auch als Sinnbild seiner Fokussierung auf den gestoßenen Reformen enttäuscht und sah privatwirtschaftlichen Sektor. Außerdem trat ihre Belange nicht ausreichend beachtet. das Königreich 2000 der Welthandelsorgani- Schon im Vorfeld der Parlamentswahlen 2007 sation (WTO) bei. Schließlich ist ein Bemühen hatten verschiedene Projekte dazu beigetra- zu erkennen, für die Entscheidungsfindung gen, diesen Ansichten eine Plattform zu bie- einen Elitenkonsens herzustellen. Zu den ten. Von Seiten dieser Projekte durchgeführte darin enthaltenen Eliten zählen unter ande- Wettbewerbe und Umfragen ergaben, dass rem die Leiter der Geheim- und Sicherheits- die Jugendlichen vor allem auf einige Charak- dienste, hohe Militärkreise und der tereigenschaften bei Politikern besonders Ministerpräsident. Es gibt jedoch auch in die- achten und Wert legen, wie zum Beispiel Ehr- sem Bereich einige Grundzüge jordanischer lichkeit, Transparenz oder Glaubwürdigkeit. Politik, die sich bereits unter den Vorgängern All diese Eigenschaften schienen jedoch nicht von Abdullah II. bewährt haben. Hierzu gehört oder nur in zu geringem Maße vorhanden zu vor allem eine häufige Rotation hoher Posten sein. Vielmehr sei die Korruption weit verbrei- innerhalb des Staatsapparats, um die Heraus- tet, so die allgemeine Wahrnehmung. Die jor- bildung eigener Netzwerke und konkurrieren- danische Jugend sieht sich auch gemäß ihres der Machtzentren innerhalb des Systems zu enormen Anteils an der Gesamtbevölkerung vermeiden. unterrepräsentiert. In ihren Sichtweisen befür- wortete sie indes auch die Religiösität politi- Dennoch ist es dem Königshaus gelungen, scher Repräsentanten. Dass diese eine die im Zuge einiger Liberalisierungen ermög- explizite Wahlempfehlung abgeben, wird je- lichte Bildung von sozialen Vereinen und die doch abgelehnt.17 Es gelang den Islamisten in verstärkte Zivilgesellschaft an sich zu binden Jordanien jedoch nicht, ähnlich wie in ande- und maßgeblich zu beeinflussen. Hierbei wird ren arabischen Staaten, sich an die Spitze der das Verlangen des Volkes nach sozialem und Protestbewegung zu stellen und von ihr in gesellschaftlichem Engagement – neben den hohem Maße zu profitieren. von der staatlichen Bürokratie bestehenden Strukturen – bedient. Doch obwohl die Erlaub- Das Augenmerk der Protestierenden in Jor- nis zu solchen Gemeinschaften de jure eine danien lag viel mehr auf der Verbesserung Liberalisierung darstellt, ist sie de facto als der Lebensverhältnisse (denn sowohl Le- verschärfte Kontrolle des Staates in gesell- bensmittel- als auch Benzinpreise sind stark schaftlichen Bereichen zu werten. Denn die angestiegen, die Inflation erreichte 2008 mit bestehenden und neu gegründeten Vereini- 14,9% einen Höchststand), der bereits er- gungen werden überwacht und sind sowohl in wähnten Bekämpfung der Korruption18 sowie

17 Vgl. Tessler, Mark: Do Islamic orientations influence attitudes towards democracy in the Arab world? Evi- dence from Egypt, Jordan, Morocco, and Algeria, in: International Journal of comparative Sociology, Vol. 43 (2002) No. 3-5, S. 229-249 (240). 18 Transperancy International gibt Jordanien den Wert 4,7 im Corruption Perceptions Index 2010. Damit ran- giert das Land auf dem 50. Platz weltweit (nach Korruption, aufsteigend), vgl. http://www.transparency.de/uploads/media/Pressemappe_CPI_2010.pdf, S. 8, abgerufen am 25.08.2011.

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die Einführung einer parlamentarischen verschärfte der jordanische Staat die Eindäm- Monarchie. Diese soll mit einer effektiven Ge- mungspolitik gegenüber der Muslimbruder- waltenteilung im Stile der checks and balan- schaft beziehungsweise des Islamischen ces gepaart sein sowie der Möglichkeit, dass Aktionsbündnisses und veranlasste die Fest- der Ministerpräsident direkt vom Volk gewählt nahme einiger Abgeordneter und die Über- wird. Zudem gab es seit der Inauguration Ab- nahme einer der größten dullahs II. zwar wirtschaftliche Öffnung, und Wohlfahrtsorganisationen des Landes durch Privatisierung. Davon hat jedoch nur eine den Staat. kleine, selektive Elite profitiert. Außerdem kam es zu vielen Entlassungen und im staat- Als Folge aus dieser Verschärfung der Politik lichen Sektor bestehen Arbeitsverhältnisse gegenüber der islamistischen Opposition tra- noch immer auf Tagesbasis ohne Kranken- ten auch Konflikte zwischen liberalen und oder Sozialversicherung. Es ist viel eher die konservativen Flügeln innerhalb der Organi- engere Elite um den König, die vom Wohl- sationen offen zu Tage. Diese Entwicklungen stand und Fortschritt profitierte.19 Die Demon- führten zum bisher schlechtesten Ergebnis stranten fordern nach den ökonomischen bei Wahlen zum Unterhaus mit lediglich sechs Reformen und Anpassungen nun auch einen Sitzen 2007 (zum Vergleich: 1989 wurden nachhaltigen Reformprozess im politischen über 50% erreicht). Zu beobachten ist seit der Bereich. Einführung des „one man, one vote“-Prinzips 1993 ein zunehmender Einfluss der Hardliner Obwohl sie bislang im Rahmen der Proteste innerhalb der Islamischen Aktionsfront. Zwar kaum in Erscheinung getreten ist, gibt es in wurde das bereits erwähnte Wahlrecht im Jordanien eine traditionell starke Fraktion der Vorfeld der Parlamentswahl 2010 erneut Muslimbruderschaft. Diese tritt seit 1992 als überarbeitet und es wurden erstmals interna- Islamisches Aktionsbündnis auf und ist gleich- tionale Beobachter zugelassen, doch diese ermaßen die stärkste oppositionelle Kraft im Reform war eher kosmetischer Natur und ließ Land. Dennoch wird dieses Bündnis auf die Hauptdefizite unberührt. Grund von staatlicher Kooptation und der sys- tematischen Bürokratisierung der Religion er- Im Zuge dessen wurde die Frauenquote von heblich eingeschränkt: Auf der einen Seite sechs auf zwölf und die Zahl der Sitze im dient das bestehende Wahl- und Parteienge- Unterhaus von 110 auf 120 erhöht sowie die setz den regimetreuen Repräsentanten. Fer- bis dahin geltende Wahlkreisunterteilung auf- ner besteht bei einer Parlamentswahl in geteilt, sodass sich insgesamt 108 Wahlzo- Jordanien eher das Ziel, bestehende Herr- nen ergaben. Diese sind jedoch willkürlich schaftsstrukturen und ihre Verteilungs- und festgelegt und folgen weder geographischen Patronagenetzwerke zu festigen. Dadurch noch demographischen Grenzen. Die eigent- soll die Macht des Königshauses gesichert liche Wahl erfolgt dann in den ursprünglichen und gleichermaßen demokratisch legitimiert Wahlkreisen, während die Kandidaten in den werden, wenngleich es sich de facto um ein Wahlzonen antreten. autoritäres System handelt. Die wichtigste Oppositionspartei war dann jedoch zwischen Aus dieser Aufteilung und der Regelung, dass 1997 und 2003 nicht im Parlament vertreten sich die Kandidaten die Wahlzone, in der sie und konnte somit nicht mehr von den erwähn- registriert sind, nicht öffentlich machen dürfen, ten Verteilungskanälen profitieren. Dennoch ergibt sich erneut die Möglichkeit, oppositio- erfuhr sie gesellschaftlich nach wie vor große nelle Parteien zu benachteiligen. In der Folge Beachtung und Zustimmung. Sie tat sich vor boykottierte die Islamische Aktionsfront die allem durch ihre Regierungskritik und die Kri- Parlamentswahlen 2010, was zu einer weite- tik der Annäherung zu Israel hervor. ren Marginalisierung oppositioneller Parteien und Kandidaten führte und somit gleicherma- Doch auch ihr soziales und karitatives Enga- ßen die autoritären Strukturen stärkte. Das Er- gement war ungebrochen und dadurch gebnis dieser Wahl bestätigt dann auch die ebenso wie durch die Dominanz in diversen Annahme, dass die vorgenommenen Ände- Berufsverbänden gelang es weiterhin, eine rungen des Wahlrechts vor allem den tribalen angemessene Repräsentanz in der Gesell- Strukturen zu Gute kommen: Mehr als zwei schaft zu gewährleisten. Besonders nach Drittel der Abgeordneten haben einen klaren dem Sieg der Hamas im Gazastreifen 2006 Bezug zu diesen.

19 Die Verteilung des Einkommens in Jordanien ist gemäß des Gini-Koeffizienten im internationalen Vergleich ungerecht. Vgl. hierzu: United Nations University: World Income Inequality Database, http://www.wider.unu.edu/research/Database/en_GB/wiid/_files/79789834673192984/default/WIID2C.xls, abgerufen am 11.08.2011.

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anderem im Stadtzentrum von Amman auf IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- und einigte sich auf sieben Kernforderungen. lings“ Diese beinhalteten unter anderem eine vom Volk gewählte Regierung, eine Reform des Auf Grund der bereits beschriebenen Defizite Steuersystems sowie eine Beendigung der in Wahl- und Parteienrecht, Gewaltenteilung Überwachung des politischen Lebens durch und Rechtsstaatlichkeit, kam es auch in Jor- Sicherheitskräfte und Geheimdienste. Dort danien im Zuge des „Arabischen Frühlings“ zu sammelten sich allerdings „loyale“ Kräfte, um Protesten. Seit Januar versammelten sich vor für die Regierung und vor allem für das Kö- allem in Amman jeweils nach dem Freitags- nigshaus zu demonstrieren. Bei den folgen- gebet einige tausend Jordanier, um zu de- den Zusammenstößen griff schließlich die monstrieren. Diese Zahl ist zwar im Vergleich Polizei gewaltsam ein. Am 25. März 2011 gab zu Tunesien oder Ägypten gering, für jordani- es beispielsweise mehr als 130 Verletzte. sche Verhältnisse jedoch immens. Doch ob- Auch am 12. Juli 2011 sowie in der Folgewo- wohl diese Kundgebungen bestehen blieben che kam es in Amman zur Niederschlagung und sich wöchentlich wiederholten, gab es zu- einer Kundgebung durch die jordanischen Si- sätzlich auch einige sowohl das Königshaus cherheitsbehörden. Die Anzahl der Demon- als auch die Regierung unterstützenden Pro- strationen verringerte sich ebenso wie die teste (wobei ersteres ja ohnehin nicht in Frage Anzahl der Teilnehmer, nachdem König Ab- gestellt wurde). dullah II. einige Reformen und den Wechsel der Regierung angekündigt hatte. Zudem ver- Die Proteste begannen am 14. Januar 2011 lagerten sie sich in den Süden des Landes. in Amman und anderen Städten des Landes. Ab Mitte Mai 2011 formierten sich dann die Die Forderungen der Demonstranten bezo- einzelnen Akteure der Proteste – Islamisches gen sich vor allem auf die hohe Inflation sowie Aktionsbündnis, linke Gruppen sowie Ge- die steigende Arbeitslosigkeit und hatten werkschaften – zur „Nationalen Front für die somit eher wirtschaftliche denn politische Ur- Reform“ als ein gemeinsamer Dachverband sachen. Die Demonstrationen setzten sich an zur Durchsetzung der eigenen Interessen. In den folgenden Freitagen jeweils nach dem der Folgezeit richtete sich die Gewalt am Gebet fort. Am 9. Februar 2011 entließ König Rande von Demonstrationen vor allem auch Abdullah II. dann die Regierung und setzte gegen Journalisten – so wurden am 15. Juli die neue unter Ma’ruf al-Bakhit ein. Dieser 2011 zehn Reporter angegriffen. hatte die Regierung bereits von 2005 bis 2007 geleitet und war nicht gerade als Reformer Im regionalen Kontext sticht vor allem die sich bekannt und gilt eher als königstreuer „Erfül- ankündigende Entwicklung des Golf-Koope- lungsgehilfe“. Vor allem das Islamische Ak- rations-Rates (GKR) hervor. Diese findet von tionsbündnis rief daraufhin zu weiteren einer auf die Monarchien am Golf beschränk- Kundgebungen auf. Dennoch zielen die Pro- ten Organisation hin zu einer Gemeinschaft teste auf eine gesellschaftliche und politische der Monarchien und der konservativen Re- Öffnung ab und nicht auf eine islamische Lö- gime im Allgemeinen statt. Das beinhaltet sung der Probleme. In Jordanien griff die Po- eine Verschiebung der Blockgrenzen inner- lizei zu Beginn der Demonstrationen nicht ein halb des Nahen und Mittleren Ostens hin zu – vermutlich auch, weil sie mit der Situation den Regimes, die von einer Revolution erfasst überfordert war, denn öffentlichen Widerstand wurden und denjenigen, die erfolgreich den hatte es zuvor in der Form nicht gegeben. Status quo sichern konnten. Jordanien hat im Aber auch von tribaler Seite wurde im König- Mai 2011 auf eine Einladung hin – gemein- reich eine gemeinsame Erklärung formuliert, sam mit dem Königreich Marokko – den An- in der Abdullah II. vor einer Revolution ge- trag auf Aufnahme in den GKR gestellt. Vor warnt und Korruption sowie eine Krise der allem Saudi-Arabien nimmt hierbei eine Füh- Autorität angeprangert wurde. rungsrolle der Monarchien ein.

Mit Hilfe sozialer Medien wie Facebook oder V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure Twitter formierte sich darauf hin die „Bewe- gung 24. März“. Diese verfügt jedoch bislang König Abdullah II. hat als Reaktion auf die – wie in vielen anderen Ländern der Region Proteste im Januar und Februar 2011 die Re- auch – kaum über charismatische Führungs- gierung unter Ministerpräsident Samir ar-Rifa’i figuren. Dennoch rief sie zu Protesten unter entlassen und Ma’ruf al-Bakhit ernannt. Des

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Weiteren forderte der König echte Reformen Streben eines Staates beziehungsweise vor allem auch des Wahlrechts und bot ferner eines Regimes verstanden, die zum eigenen auch den Islamisten Sitze im Parlament an. Überleben notwendigen finanziellen Mittel zu Hierbei verstand es Abdullah II. jedoch, seine akquirieren. Diese ist unentbehrlich, um das eigene Person aus der Schusslinie zu manöv- bestehende System der Patronage durch die rieren, denn schließlich besitzt er sämtliche gezielte Vergabe von Arbeitsplätzen und Pos- Kompetenzen, um solche Reformen durchzu- ten im staatlichen Sektor am Leben zu erhal- führen. Als direkte Reaktion wurden eine Er- ten. Damit ist die Budgetsicherheit von höhung der Löhne im öffentlichen Sektor und elementarer Wichtigkeit für Regimesicherheit, eine Senkung der Lebensmittelpreise ange- denn diese bedeutet, dass das bestehende kündigt sowie zwei Notfallpakete im Gesamt- Herrschaftssystem bewahrt und in der Folge wert von 425 Mio. USD auf den Weg versucht wird, das Entstehen paralleler gebracht. Zu deren Inhalt gehörte auch die Machtzentren zu verhindern. Das Zusammen- Schaffung von 21.000 neuen Arbeitsstellen im spiel dieser beiden Hauptstrategien zeichnet öffentlichen Sektor, davon 6.000 bei Polizei das jordanische Königshaus seit König Hus- und Sicherheitskräften. Ebenso sollen Ent- sein I. aus. wicklungsprojekte in den ärmeren Landestei- len energischer unterstützt werden. Auf VI. Zukunftsszenarien politischer Seite richtete Abdullah II. ein Ko- mitee ein, welches einige der geforderten Re- Eine verlässliche Prognose scheint zum ge- formen erarbeiten soll. Jegliche Form von gebenen Zeitpunkt kaum möglich. Die Ent- Gewalt, zu der es während der Demonstratio- wicklungen in Jordanien selbst werden aber nen kam, wurde von offizieller Seite den Isla- sicherlich auch von denen in Tunesien und misten angelastet. Doch vor allem die Ägypten, aber auch in Libyen oder Syrien be- Einsetzung von Ma’ruf al-Bakhit wird auch auf einflusst werden. Auch eine erneute Verschär- Seiten der Demonstranten äußerst kritisch fung des Nahostkonflikts würde die gesehen, da er als konservativ und reformun- innenpolitischen Entwicklungen im haschemi- willig gilt und bereits mutmaßlich in einen Kor- tischen Königreich als direkter Nachbar be- ruptionsskandal verwickelt war. Auf die einflussen. Es wird ferner auch darauf Etablierung einer parlamentarischen Monar- ankommen, wie erfolgreich das Könighaus chie mit einer effektiven Gewaltenteilung soll die Forderungen der Demonstranten erfüllen laut König Abdullah II. hingearbeitet werden – oder bedienen wird. In Jordanien existiert auf er sprach von „echten politischen Reformen“ Grund seiner ethnischen Zusammensetzung und einem „Dialog zwischen allen Kräften“. – mehr als die Hälfte der Einwohner sind Dennoch vermochten die angekündigten Re- keine ethnischen Jordanier, sondern palästi- formen und die durchgeführten personellen nensischer Abstammung – stets das Worst- Änderungen die Protestierenden nicht zu Case-Szenario der aktuellen politischen überzeugen und scheinen mehr der Bewah- Entwicklung im benach- barten Irak. Dem- rung des Status quo als wirklicher Liberalisie- nach würden sich sozioökonomische Fakto- rung zu dienen. Die Demonstrationen ren und Probleme verschärfen und sich auch verlagerten sich in periphere Gebiete. auf ethnische cleavages verlagern. Ebenso bürgerkriegsähnliche Zustände wie in Libyen König Abdullah II. führt den unter seinem oder anhaltende gewaltsame Auseinanderset- Vater bereits begonnenen Wechsel vom old zungen wie in Syrien schrecken innerhalb der authoritarian bargain hin zum new liberal bar- jordanischen Bevölkerung ab. Ferner ist auch gain20 fort. Dieser beinhaltet vor allem die die Wirtschaft des Landes gefährdet, da sie kompetitive Ausrichtung des politischen Sys- sich wie bereits erwähnt nicht auf Rohstoffvor- tems. Erklärend wirkt dieses Phänomen auch kommen konzentrieren kann, sondern viel- auf die in Jordanien häufig aufeinander fol- mehr von einem stabilen politischen Umfeld genden Phasen von Liberalisierung und an- abhängig ist.21 Eine Aufnahme Jordaniens in schließender Deliberalisierung. Hierbei wird den Golfkooperationsrat würde sich indes sta- das Verhalten des Königs als eine Überle- bilisierend und herrschaftssichernd auswir- bensstrategie durch Abwägen zwischen ken, da sich dieser – wie am Beispiel Budgetsicherheit und Regimesicherheit ver- Bahrains zu erkennen ist – auch militärischer standen. Die Budgetsicherheit wird hierbei als Mittel als ultima ratio22 bedient. Ferner würde

20 Vgl. Greenwood, Scott: Jordan’s „New Bargain:“ The Political Economy of Regime Security, in: Middle East Journal, Vol. 57 (Spring, 2003), No. 2, S. 248-268. 21 Vgl. http://www.arabianbusiness.com/jordan-economy-may-flatline-amid-arab-spring-revolts-401448.html, abgerufen am 11.08.2011. 22 Wenngleich hierbei der Unterschied zwischen Jordanien und Bahrain sowohl in der geographischen Nähe (vor allem auch seine direkte Nachbarschaft zu Israel) als auch in der Größe sowie Bevölkerungszahl ein solches Eingreifen äußerst unwahrscheinlich macht, so schafft es doch einen Präzedenzfall.

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sich dadurch die Konzeption dieser Organisa- Diese Problematik wird sich wohl kaum durch tion grundlegend verändern: Aus einem regio- altbewährte Methoden wie der Expansion des nalen Zusammenschluss entstünde eine auf Staatsapparats bewältigen lassen, sondern Werten – namentlich der Monarchie und muss viel mehr durch eine wirtschaftliche Öff- damit verbunden auch dem Schutz vor Revo- nung hin zu einem größeren und freieren Pri- lution – basierender Zusammenschluss. Im vatsektor erfolgen. Das Islamische Falle Jordaniens wird ein Hauptaugenmerk Aktionsbündnis hingegen versucht, sich an auch auf dem Nahostkonflikt liegen. Der 1994 die Spitze der Proteste und vor allem auch geschlossene Friedensvertrag ist ein kalter der Forderungen nach Reformen des Wahl- Frieden – geschlossen auf Regierungsebene, und Parteiengesetzes zu stellen.23 Dies ge- während er von der Bevölkerung kritisch ge- schah allerdings nicht direkt zu Beginn der sehen wird. Vor allem aber auch der hohe An- Kundgebungen, da dem Staatsapparat keine teil an palästinensisch-stämmigen Ein- Handhabe gegen die aufkommenden Demon- wohnern könnte zu einer Zerreißprobe führen. strationen gegeben werden sollte. Eine jordanische Führung, die sich – wenn die Forderungen der Demonstranten erfüllt wer- Dennoch hat es bislang keine definitive politi- den – vermehrt nach der öffentlichen Meinung sche Zielsetzung bekannt gegeben und ver- richten muss, dürfte bestehende Beziehun- sucht wohl tendenziell eher, von der jetzigen gen zu Israel abkühlen lassen. Dennoch ist, Situation zu profitieren und die eigene Macht- wie auch im Falle Ägyptens, ein Aufkündigen stellung auszubauen. So beteiligten sich des Vertrages unwahrscheinlich, da dies eine deren Anführer an den Protesten nach dem Kürzung oder gar Streichung westlicher Zu- Freitagsgebet und beschrieben das Aufbe- wendungen zur Folge hätte. gehren der Bevölkerungen der arabischen Staaten als Streben, tyrannische Herrscher Innenpolitisch wird es wohl kurzfristig zu eini- zu beseitigen. Diese Haltung wird von Seiten gen ernsthafteren Reformen kommen. Eine des Königshauses und der inneren Zirkel der Anpassung des Wahlrechts ebenso wie das Macht kritisch gesehen. Es ist durchaus wahr- Eingehen auf einige der Hauptforderungen scheinlich, dass das Islamische Aktionsbünd- der Demonstranten scheint sehr wahrschein- nis weiterhin eingedämmt wird und von lich. Ob diese jedoch Bestand haben werden etwaigen Reformen kaum profitieren wird. oder ob auf die Liberalisierungsphase erneut eine Deliberalisierungsphase folgt, bleibt ab- Es ist jedoch zu beobachten, dass die arabi- zuwarten. Ferner ist es auch durchaus vor- schen Monarchien gemeinhin beständiger stellbar, dass es den Versuch geben wird, sind als ihre republikanischen Gegenstücke. beispielsweise neue Oppositionsparteien so Somit ist in Jordanien die dynastische Thron- zu beeinflussen, dass sie tendenziell eher folge gesellschaftlich anerkannt und aus der loyal sind und keine ernst zunehmende Be- Tradition heraus legitimiert. Dies ist vor allem drohung der Herrschaft darstellen. Sie wür- ein Verdienst des vorherigen Königs Hussein den somit zwar auf den ersten Blick der I. Er hat die Wahrnehmung des haschemiti- Forderung nach einer Möglichkeit der freien schen Königreichs als eigentlich historisch im zivilgesellschaftlichen Beteiligung nachkom- Hijaz verwurzelt, hinzukommend nur durch men, es de facto aber verhindern, dass paral- britische Imperialpolitik nach Jordanien ver- lele Machtzentren entstünden. Reformen, setzt zu sein, grundlegend verändert. Hinzu- welche die Basis der Herrschaftslegitimation kommend generiert Jordanien auch einen – nämlich den tribalen Strukturen des Landes erheblichen Teil seiner Herrschaftslegitimation sowie die (zum großen Teil palästinensische) durch die religiöse Abstammung des Königs- Wirtschaftselite – berühren, sind jedoch un- hauses von der Familie des Propheten Mo- wahrscheinlich. Hiermit geriete das Gefüge hammeds. Auch hat der König die der Herrschaft König Abdullahs II. aus den Möglichkeit, die Regierung zu entlassen oder Fugen und das etablierte System der Patro- sogar das gesamte Parlament aufzulösen. Er nage würde obsolet. Dennoch stellt das junge gerät selbst weniger in den Fokus und die Durchschnittsalter der Bevölkerung Abdullah Forderung nach seinem Machtabtritt ist kaum II. vor Probleme, denn diese Situation wird zu vernehmen. Gefordert wird weitgehend ein sich in den kommenden Jahren noch zuspit- Regierungswechsel, ein Regimewechsel hin- zen. Eine aktive Politik um der auf den Ar- gegen gehört nicht zur Agenda der Demon- beitsmarkt strömenden Generation Jobs strierenden, denn König Abdullah II. versteht bieten zu können, scheint unabdingbar. es, sich als einzige Alternative darzustellen.

23 Vgl. http://www.jordantimes.com/?news=40119, abgerufen am 11.08.2011.

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Landesdaten Irak Fläche1 2011 438.317 km² Bevölkerung2 2010 31.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 69,4 Araber 75-80%, Kurden 15-20%, 3% Turkmenen, Ethnische Gruppen4 2010 Assyrer, Armenier Muslime 97% (Schiiten 60-65%, Religionszugehörigkeit5 2010 Sunniten 32-37%), Christen und andere 3% Durchschnittsalter6 2010 20,9 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 43% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3% Lebenserwartung9 2010 70,55 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 64.000.000 Geburten pro Frau11 2009 3,9 Alphabetisierungsrate12 2010 74,1% Mobiltelefone13 2009 19.722.000 Nutzer Internet14 2009 860.400 Nutzer Facebook15 2011 860.400 Wachstum BIP16 2010 0,8% BIP pro Kopf 17 2010 3.800 USD Arbeitslosigkeit18 2009 15,3% Inflation19 2011 5,0% S&P-Rating20 2011 k. A Human Development Index Rang21 2010 k. A. Bildungsniveau22 2010 Rang 144 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 22,0 % (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 13,7 % Korruptionsindex25 2010 Rang 175 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 CIA – The World Factbook. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 CIA – The World Factbook. 12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006html. 17 CIA – The World Factbook. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_in dices/cpi/2010. Deutsches Orient-Institut 102 Irak

Irak ebenfalls überwiegend sunnitischer Konfes- sion. Christen und andere Religionen sind mit er Irak leidet noch immer unter den einem Anteil von 3% deutlich in der Minder- Konsequenzen des Sturzes von heit. Die kulturellen, politischen und wirt- DSaddam Hussein vor elf Jahren und schaftlichen Zentren des Landes befinden dem anschließenden Bürgerkrieg. Die wirt- sich in der sunnitisch geprägten Hauptstadt schaftliche Situation bleibt angespannt, Bagdad, dem überwiegend schiitischen die Sicherheitslage stabilisiert sich nur Basra, den kurdisch und turkmenisch ge- langsam und die Perspektiven des Lands prägten Städten Erbil und Sulaimaniya sowie entwickeln sich sehr indifferent: Während im Norden Iraks, der stärker von assyrischen der Nordirak, Kurdistan, in den letzten Jah- Einflüssen geprägt ist. ren einen wirtschaftlichen Boom erlebt, wird vor allem der Zentralirak um die Die neueste Geschichte des Irak ist maßgeb- Hauptstadt Bagdad immer wieder von An- lich geprägt durch die repressive Herrschaft schlägen erschüttert. Ethnische und kon- Saddam Husseins in den Jahren 1979 bis fessionelle Konflikte zwischen Kurden 2003, die Golf-Kriege sowie die UN-Sanktio- und Arabern, Schiiten und Sunniten be- nen zwischen 1991 und 2003. Die dank der lasten die innere Einheit. Externe Akteure Erdölindustrie florierende Wirtschaft sowie die wie Iran nehmen ebenso Einfluss wie radi- Entwicklungs- und Bildungspolitik der Regie- kale Gruppierungen und militante Islamis- rung ermöglichte vielen Irakern in den 1970er ten. Hinzu herrscht eine hohe Jahren einen verhältnismäßig hohen Lebens- Arbeitslosigkeit, die Regierung um Nuri al- standard. Zahlreiche Schulen wurden ge- Maliki wird zunehmend als korrupt und un- gründet. Die Alphabetisierungsrate der fähig angesehen, die inneren Probleme zu Frauen lag 1987 bei 75%; die weibliche Be- lösen. Der nahende Abzug der US-ameri- schäftigungsquote 1991 bei über 23% und kanischen Truppen könnte zwar die politi- damit weit über dem regionalen Durchschnitt. sche Lage verbessern, doch die Der Irak galt zu dieser Zeit als Vorbild für ein unzureichenden irakischen Kapazitäten, modernisiertes Bildungssystem, säkulare Po- die Sicherheit zu garantieren, könnten mi- litik und die Implementierung von Frauen- litante Islamisten und andere staatsfeind- rechten. Dies verstärkte sich nochmals nach liche Gewaltakteure ausnutzen, um das der Islamischen Revolution 1979 in Iran und Land weiter zu destabilisieren. Dennoch dem damit verbundenen Gefühl der Bedro- kann die demokratische Entwicklung im hung durch einen islamistischen Iran. Die Irak in Form von Wahlen und gesellschaft- „Wiederentdeckung der Religion“ schuf in Eu- licher Partizipation auch Fortschritte ver- ropa und den USA weitgehend Misstrauen. zeichnen. Allerdings fordern die Menschen Der verheerende Erste Golfkrieg zwischen zunehmend weitere Positiventwicklungen, Iran und Irak (1980-1988) wurde von weiten sodass der „Arabische Frühling” auch im Teilen des Westens denn auch als Versuch Irak seine Auswirkungen zeigt. gesehen, den von Ayatollah Khomeini gefor- derten „Export der islamischen Revolution“ zu I Politisches System und gesellschaftliche unterbinden, weshalb Saddam Husseins Irak Entwicklungen mit Finanz- und Militärlieferungen unterstützt wurde. Dies änderte sich nach dem Ende des er Irak ist gemäß der aktuellen Verfas- Konflikts und dem Einmarsch des Iraks ins sung eine parlamentarische Demokra- benachbarte Kuwait. Unter dem damaligen Dtie, dessen Parlament alle vier Jahre US-Präsidenten George Bush sen. begann gewählt wird. Nuri Al-Maliki ist seit 2006 der die Operation Desert Storm, an deren Ende amtierende Ministerpräsident. Der Irak, der an der Rückzug des Iraks aus Kuwait stand. Kuwait, Saudi-Arabien, Jordanien, Syrien, Saddam Hussein war nun zur internationalen Türkei, Iran und den Golf grenzt, besitzt ca. persona non grata mutiert. Die daraufhin ver- 31,5 Mio. Einwohner. Die Araber bilden mit ca. hängten UN-Sanktionen gegen das Regime 75-80% den größten Anteil der Bevölkerung. in Bagdad wirkten sich wirtschaftlich wie auch 15-20% der Bevölkerung sind Kurden und ca. gesellschaftlich dramatisch auf das Land aus. 3% Turkomanen, Assyrer oder Armenier. 97% Saddam Hussein änderte zu der Zeit seine der Bevölkerung sind Muslime. Über 60-65% innenpolitische Strategie radikal, indem er von ihnen sind Schiiten, zwischen 32 und versuchte, durch eine islamisch betonte Aus- 37% Sunniten. Die muslimischen Kurden sind richtung wieder Anhänger für seine Politik zu

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gewinnen. Ein Beleg für die islamische Neu- der Führung des schiitisch islamistischen ausrichtung ist auch die Änderung der iraki- Geistlichen Muqtada as-Sadr fanden in den schen Nationalflagge 1991, die seit diesem darauf folgenden Jahren blutige Gefechte Zeitpunkt die arabische Inschrift „Gott ist am statt. Als Folge davon brachen in weiten Tei- größten“ (arabisch: Allahu Akbar) enthält. Von len des Landes bürgerkriegsähnliche Zu- dieser Politik negativ betroffen waren insbe- stände aus. Die irakische Bevölkerung wurde sondere Frauen, die während dieser Zeit aus von Terroranschlägen, kriegerischen Konflik- ihren Berufen gedrängt und aufgrund der stär- ten und gewalttätiger Kriminalität heimge- ker religiös dominierten Politik starke rechtli- sucht, was als maßgeblicher Grund dafür gilt, che Einschränkungen hinnehmen mussten, dass die US-amerikanische Besatzung von sowie politische Oppositionelle. der irakischen Mehrheit konsequent abge- lehnt wurde. Solche Angriffe nehmen jedoch Die starken Belastungen, an denen die Zivil- seit 2006 ab2, weshalb die Legitimation des bevölkerung während dieser Zeit litt, wurden Staates aus Sicht der Bevölkerung seitdem auch durch den Sturz Husseins und die an- stärker gegeben ist. Auch das Gewaltmono- schließende Besatzung der US-amerikani- pol kann von den irakischen Sicherheitstrup- schen Truppen nicht maßgeblich gelindert. pen inzwischen wieder weitgehend aufrecht Nach dem Sturz des diktatorischen Regimes erhalten werden. Im Juni 2009 wurde die am 7. April 2003 wurden eine Übergangsver- überwiegende Zahl an US-amerikanischen waltung und eine Übergangsregierung mit be- Militärtruppen aus den irakischen Städten ab- schränkter Souveränität geschaffen, die die gezogen, im August 2010 dann auch die bis demokratische Neuausrichtung des Landes zu dem Zeitpunkt noch verbliebenen Truppen. gestalten sollten. Diverse sunnitisch geprägte Seit diesem offiziellen Ende des Irak-Kriegs militante Gruppierungen und Akteure wie befinden sich nur noch 56.000 Ausbildungs- Al-Qaida im Irak und die Islamische Armee im kräfte sowie militärische Berater im Land, Irak rebellierten jedoch gegen die Besat- deren Abzug spätestens nächstes Jahr be- zungsmacht und die Neuformierung iraki- ginnen soll.3 scher Sicherheitskräfte. Insbesondere al-Qaida1 unter der Führung von Abu Musab Im Januar 2005 fanden im Irak unter der US- az-Zarqawi, deren erklärtes Ziel war, den völ- amerikanischen Besatzung erste freie, faire ligen Zusammenbruch des Staates zu erwir- und geheime Wahlen für ein Interimsparla- ken, verübte zahlreiche Anschläge auf ment zur Ausarbeitung einer neuen Verfas- schiitische Ziele. Im Jahr 2005 rief az-Zarqawi sung statt. Die Wahl wurde überschattet von zu einem „totalen Krieg“ gegen die irakischen der Angst vor Terrorangriffen sowie den Boy- Schiiten auf, um schiitische Gegenanschläge kottaufrufen vieler sunnitischer Araber. Die und einen konfessionellen Bürgerkrieg zu sunnitische Minderheit, die seit der Übertra- evozieren. Insbesondere mit schiitischen Mili- gung des Völkerbundmandats an Großbritan- zen der MahdiArmee (jaysh almahdi) unter nien 1921 das Staatsoberhaupt stellte,

1 Die irakische Al-Qaida wurde von az-Zarqawi ursprünglich als „Gruppe des Monotheismus und des Hei- ligen Krieges“ (arab: Jama’at atTawhid walJihad) gegründet. Grund des Namenswechsels zu Al-Qaida im Irak war vermutlich die Annahme, mit dem „Markennamen“ Al-Qaida weitere Popularität zu erlangen und als Teil des Al-Qaida-Netzwerks über größere und medienwirksamere Aktionsmöglichkeiten zu ver- fügen. Az-Zarqawi wurde durch einen US-amerikanischen Angriff im Jahr 2006 getötet. 2 Als Ursache hierfür gilt u.a. die Kooperation der US-amerikanischen Sicherheitskräfte mit der Anti-Wider- standsbewegung „Wiedererweckung“ (arab. sahwa), die zwischen 2005 und 2006 aus dem Zusammen- schluss mehrerer sunnitisch geprägter Stämme aus dem Gouvernement al-Anbar entstand. Diese Stämme und deren Führer, die die Region dominierten, lehnten die US-amerikanische Besatzung zu- nächst ab und begrüßten das Vordringen sunnitischer Militanten. Die Wahrnehmung änderte sich jedoch, als sie feststellten, dass die militanten Aufständischen mit einer übertriebenen Gewaltbereitschaft und Brutalität gegen die Bevölkerung vorgingen, um das bestehende System auf Grundlage ihrer Islaminter- pretation zu verändern. Seitdem agieren die Sahwat-Gruppierungen als lokale Kontrolleure gegen auf- ständische Elemente und unterstützen so die irakischen Sicherheitskräfte. 3 Bisher ist noch nicht abschließend darüber entschieden worden, ob trotz der Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen, die US-Truppen vollständig abzuziehen, eine kleine Anzahl an US-Militärs weiter- hin im Land stationiert bleiben soll. Hierbei könnte es sich zum einen um weitere Unterstützung bei der Sicherheitsgarantie, zum anderen um Ausbildungspersonal für die irakischen Streitkräfte handeln. Wäh- rend der Erstellung dieser Publikation fand im Irak eine rege und kontroverse innerirakische Diskussion statt. Während sich Premierminister Nuri al-Maliki weitgehend positiv dazu äußerte, lehnen vor allem die radikalen politischen Kräfte um den Prediger Muqtada as-Sadr eine längere Stationierung ausländischer Truppen im Irak strikt ab. Ähnlich scheint auch die Stimmung innerhalb der Bevölkerung zu sein, die seit langem die US-amerikanische Präsenz kritisiert und auf einen dauerhaften und vollständigen Abzug drängt.

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befürchtete an Einfluss und Macht zu verlie- als Farce kritisierten. Von Experten wurde die ren und zur unterdrückten Minderheit zu wer- Wahl aber durchgängig positiv wahrgenom- den. Die Folge war, dass Sunniten an der men. Gemäß der Verfassung ist der Irak ein Gestaltung des Transformationsprozesses demokratisches, islamisches, stark föderal und der Ausarbeitung der neuen irakischen geprägtes Land. Das neue Wahlrecht sieht Verfassung nur marginal beteiligt waren. die Wahl eines Parlaments durch die Bevöl- kerung vor, das wiederum das Staatsober- Die Spaltung zwischen den Religionen und haupt, also den Präsidenten, sowie zwei Konfessionen ist seit der Staatsgründung im Vizepräsidenten wählt. Die Etablierung der Jahr 1921 ein zentrales Problem. Vom Völ- Wahl zweier Vizepräsidenten geht auf den kerbund geschaffen, wurde der Irak im glei- Wunsch der Kurden zurück, eine ethnische chen Jahr unter britisches Mandat gestellt. Balance sicherzustellen. So soll es beispiels- Sowohl Schiiten als auch Sunniten standen weise einen schiitischen Premierminister der Okkupation negativ gegenüber und rebel- sowie einen kurdischen und sunnitischen Vi- lierten. Dies bewegte die britische Besat- zepremierminister geben, um die ethnisch- zungsmacht zu einem Strategiewechsel und konfessionelle Parität zu garantieren. Der krönte im Jahr 1921, ohne dabei die religiö- Präsident ernennt im Folgenden den Pre- sen Gegebenheiten des Landes zu berück- mierminister, der zuständig für die Bildung sichtigen, den sunnitischen Haschemiten eines Kabinetts ist und die Funktion der Exe- Faisal Ibn Hussein, Sohn des ehemaligen kutive wahrnimmt. Das Parlament besteht Scherifen von Mekka Hussein Ibn Ali, zum aus zwei Kammern, einem sogenannten König. Hinzu kam die umstrittene Zu- Unterhaus mit 325 Sitzen (Rat der Repräsen- sammenführung der drei ehemaligen Provin- tanten) und einem Oberhaus (föderaler Rat), zen (vilayets) Mosul, Bagdad und Basra zu das, ähnlich wie in Deutschland der Bundes- einem Staatsgebiet. Dabei wurde bewusst rat, die Interessen der einzelnen Provinzen oder unbewusst die ethnische Heterogenität repräsentiert. Die Bildung der zweiten Kam- der drei Provinzen von den Briten vernach- mer, des Oberhauses, hat bis zum jetzigen lässigt. Der somit künstlich von ausländischen Zeitpunkt jedoch nicht stattgefunden. Mächten geschaffene kurdische, sunnitische und schiitische Vielvölkerstaat blieb über Auf der Basis dieses Wahlrechts fanden im Jahre hinweg fragil, instabil und auf der Suche Dezember 2005 die Wahlen zur Bildung eines nach einer nationalen Identität. All diese konstitutionellen Parlaments statt, die über- innergesellschaftlichen Konfliktlinien dominie- wiegend frei, fair und ohne große gewalttätige ren das Land noch heute und prägen in fun- Ausschreitungen stattfanden. Das erst am 19. damentaler Weise die nationale Identität. Die Januar 2006 veröffentlichte Ergebnis zeigte Schiiten erfuhren während der sunnitischen den Sieg der Vereinigten Irakischen Allianz, Regierung bis zum Jahr 2003 starke Benach- die 41,2% der Stimmen (5,02 Mio.) auf sich teiligungen. Bemühte Saddam Hussein zu- vereinigen konnte. Die Allianz entstand vor nächst zumindest eine oberflächliche den ersten Wahlen im Januar aus einem Zu- Miteinbeziehung der schiitischen Iraker bei- sammenschluss von mehreren politischen spielsweise in die Armee, obere Parteifunk- Parteien und Gruppen mit überwiegend schi- tionen und auch in das Erziehungssystem, so itischer Prägung, in der Hoffnung, so eine spitzten sich die Konflikte zwischen Schiiten wirksame Übermacht gegen die Sunniten bil- und Sunniten jedoch zwangsläufig mit der zu- den zu können. Die Demokratische Patrioti- nehmenden Islamisierung des Landes in den sche Allianz Kurdistans wurde zweitstärkste 1990er Jahren zu. Ein schiitischer Aufstand Kraft und erreichte 21,7% der Stimmen (2,64 im Jahr 1991 wurde von Saddam Husseins Mio.). Nuri al-Maliki, Spitzenkandidat der schi- Regime brutal niedergeschlagen. Der Sturz itischen Dawa-Partei (Erweckungspartei) des Regimes in 2003 eröffnete für die Schiiten wurde für das Amt des Premierministers aus- die Hoffnung, ihren Einfluss stärker zur Gel- gewählt. tung zu bringen. Im Jahr 2009 fanden die ersten Regional- Die neue Verfassung, die hauptsächlich als wahlen statt. Sie verliefen ebenfalls größten- das Ergebnis eines Kompromisses zwischen teils friedlich und wurden von Experten als Schiiten und Kurden gilt, wurde durch ein Re- zumindest annähernd transparent beschrie- ferendum im Oktober 2005 trotz Protesten der ben. Ein offenerer Zugang der Parteien zur Sunniten angenommen, die das Referendum Wahl wurde durch den weiteren Aufbau von

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Sicherheitskontrollen und -kräften weitgehend formbewegung Goran („Wandel”) erreicht sichergestellt. Die Stimmbeteiligung in den werden. Im Jahr 2006 gegründet, konnte sie einzelnen Provinzen lag bei 50-75%. Bei die- bei den Regionalwahlen im Jahr 2009 auf An- ser Wahl wurden erstmals Wahlgesetze aus hieb fast ein Viertel aller Parlamentssitze auf dem Jahr 2008 angewendet, die die Einfüh- sich vereinen. rung einer 25%-Frauenquote vorsehen sowie die Verwendung von religiösen Symbolen ver- Im März 2010 fanden die zweiten landeswei- bieten. Der Minderheitenschutz wurde weit- ten Parlamentswahlen statt, die von terroristi- aus weniger beachtet. Nur sechs der schen Anschlägen in Bagdad und in insgesamt 440 Sitze der Provinzräte wurden Provinzen des Zentralirak begleitet wurden. für Minderheiten reserviert. Bei den Wahlen Nach Angaben des irakischen Innenministe- ging die Partei des Premierministers al-Maliki riums kamen dabei mindestens 38 Personen erneut als Sieger hervor, musste jedoch ums Leben und mehr als 100 Personen wur- wegen der Verfehlung von Mehrheiten in eini- den verletzt. Die Wahlen endeten in einem gen Provinzen Koalitionen bilden, um die Re- politischen Patt. Weder die von der Dawa- gierungsgeschäfte ausführen zu können. Partei neu gegründete Rechtsstaat-Koalition unter der Führung von Nuri al-Maliki noch die Die drei kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil überkonfessionelle Irakische Nationalbewe- und Sulaimaniya sowie Kirkuk beteiligten sich gung des ehemaligen Ministerpräsidenten nicht an den Regionalwahlen. Das irakische Iyad Allawi konnte eine Mehrheit auf sich ver- Kurdistan, welches ca. 4 Mio. Einwohner und einigen. Erst im November desselben Jahres, ein von der Zentralregierung in Bagdad un- demnach acht Monate nach den Wahlen, abhängiges regionales Parlament besitzt, konnte ein Konsens der rivalisierenden politi- führte im Juli 2009 separate Wahlen für das schen Parteien zur Bildung einer mehrheits- Regionalparlament durch. Die kurdische Re- fähigen Koalition erzielt und im Dezember gierung versuchte auf diese Weise, unabhän- eine neue Regierung gebildet werden. Das gig von der Zentralregierung, ihre eigenen neu zusammengesetzte Parlament bestätigte Interessen stärker hervorzuheben und durch- dann sowohl den schiitischen Premierminis- zusetzen. Bis heute bestehen Konflikte mit ter Nuri al-Maliki als auch den kurdischen Prä- der Zentralregierung in Bagdad um umstrit- sidenten Jalal Talabani in seinem Amt. Die tene Territorien wie z.B. Kirkuk und von al-Maliki betitelte „Regierung der natio- Ressourcen wie Öl und Gas. Jedoch kann nalen Partnerschaft“ umfasst insgesamt 293 das kurdische Autonomiegebiet, welches der 325 Abgeordneten und beteiligt sowohl nach dem Kuwait-Krieg im Jahr 1991 errichtet die schiitische als auch die sunnitische und wurde, insgesamt eine verhältnismäßig gute die kurdische Bevölkerungsgruppe. wirtschaftliche und Sicherheitslage vorwei- sen. Die implementierung von rechtlichen II. Voraussetzungen für den Willen nach Rahmenbedingungen zum Investitions- und Wandel Handelsschutz führte dazu, dass viele aus- ländische Unternehmen Handelsbüros in Kur- Trotz der Errichtung eines demokratischen distan angesiedelt haben. Dies ist auch das Regimes bestehen immer noch große Zwei- Ergebnis US-amerikanischer Initiativen seit fel, inwieweit es sich um eine umgesetzte Beginn ihrer Besatzung. Sie bemühten sich Demokratie handelt. Freedom House bei- um eine Aussöhnung der beiden verfeindeten spielsweise bewertet den Irak immer noch als kurdischen Parteien Kurdistan Democratic unfrei. Auf einer Skala von 1-7 liegt der Wert Party (KDP, kurdisch: Partîya Demokrata Kur für politische Rechte bei 5, für Civil Liberties distanê) und Patriotic Union of Kurdistan bei 6, wobei 1 als bester Wert gilt. Die Unzu- (PUK, kurdisch: Yaketi Niştimanî Kurdistân) friedenheit mit der Regierung findet Ausdruck und stärkten in der neuen irakischen Verfas- in wiederkehrenden Demonstrationen und sung von 2005 den Föderalismus zugunsten einem stetigen Wechsel bei der Besetzung der Kurden. Seit der Bildung einer gemeinsa- von politischen Positionen. Auch die Parla- men kurdischen Regierung im Mai 2006 do- mentswahlen im Jahr 2010 sind ein Beleg minieren die beiden Parteien KDP und PUK dafür: Nur 62 der ursprünglich 275 im Jahr über das Parlament und bilden seitdem zu- 2005 gewählten Parlamentarier wurden wie- sammen quasi ein Machtduopol. Eine Be- der in das Parlament gewählt. grenzung ihrer Macht könnte in den kommenden Jahren höchstens von der Re- Die Rechtsstaatlichkeit und justizielle Unab-

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hängigkeit sind in der Verfassung garantiert. Männern, die Ehrenmorde begingen, Immu- Die parteilichen Kontrollen der Ministerien und nität verliehen. Im Jahr 1997 fiel die Frauen- der Sicherheitskräfte stellen die Gewaltentei- beschäftigungsrate auf etwa 10% und im Jahr lung überwiegend sicher. Die Judikative ist je- 2000 konnten nur noch 25% der Mädchen doch, wenn auch einige Richter nach dem und Frauen lesen und schreiben. Inzwischen Sturz des Regimes den Irak verlassen haben sind 25% der Parlamentssitze für Frauen re- oder hingerichtet wurden, immer noch weit- serviert. Die weibliche Alphabetisierungsrate gehend die selbe, die unter Saddam Hussein und auch die Anzahl der studierenden und be- tätig war. Insbesondere in Bezug auf profes- rufstätigen Frauen nehmen seit einigen sionelle Standards, Praktiken und rechtliche Jahren wieder zu. So lag die Alphabetisie- Rahmenbedingungen sind dort keine maß- rungsrate von Frauen ab einem Alter von 15 geblichen Verbesserungen festzustellen. Jahren bei über 69%. Dennoch erfahren Weiterhin stehen viele Richter unter Druck Frauen immer noch häufig soziale und recht- und werden von politischen oder sektiereri- liche Diskriminierung. So kam es besonders schen Gruppierungen bedroht, was es ihnen nach dem Sturz des Regimes wegen der teilweise trotz eindeutiger Beweislage un- schlechten Sicherheitslage und dem nahezu möglich macht, militärische Aktivitäten oder rechtsfreien Raum zu vielen Übergriffen auf Gewaltverbrechen ordnungsgemäß zu verfol- Frauen, die allerdings auch heute wegen der gen. Weiterhin sind in einigen Provinzen Infil- anhaltenden schlechten Sicherheitslage in trationen durch Aufständische festzustellen, manchen Regionen noch nicht Vergangenheit sodass es nur schwerlich gelingt, terroristi- sind. Das aktuelle Strafgesetzbuch erlaubt es sche oder kriminelle Taten zu verurteilen. innerhalb gewisser Grenzen außerdem, das Diese Ineffizienz des Systems führt dazu, islamische Recht, die Scharia, anzuwenden, dass viele Bürger sich eher an lokale religiöse weshalb häusliche Gewalt kaum verfolgt wird. Gruppen oder Milizen wenden, um Gerech- tigkeit zu üben, wodurch das System weiter Die Religionsfreiheit ist laut Verfassung geschwächt wird. garantiert, dennoch finden häufig Bedrohun- gen und Übergriffe auf religiöse Einrichtungen Die Verfassung schützt weiterhin Meinungs- statt, wovon insbesondere Minderheiten be- freiheit und Pressefreiheit. Diese wird auch troffen sind. Es wird davon ausgegangen, generell gewährleistet. Viele arabische Nach- dass zwischen 250.000 und 500.000 Christen richtensender sind einfach zugänglich und es seit Beginn des Krieges den Irak aus Sicher- existieren über ein Dutzend private TV-Ka- heitsgründen verlassen haben. In Kurdistan näle. Aus finanziellen Gründen etablieren sich finden gehäuft Angriffe, Anschuldigungen und jedoch meistens Sender, die von Parteien fi- Bedrohungen gegen Minderheiten wie Chris- nanziell unterstützt werden. Seit 2003 wurden ten, aber auch gegen Turkmenen und Araber mehr als 150 Zeitungen und Zeitschriften eta- statt. Auch in den umstrittenen Gebieten und bliert und der Internetzugang ist nicht einge- insbesondere in Kirkuk sind Auseinanderset- schränkt. Dennoch werden viele gewalttätige zungen zwischen den Ethnien zu beobachten, Übergriffe gegen Journalisten verübt. Das die häufig in gewalttätige Ausschreitungen Committee to Protect Journalists (CPJ) münden. schätzt, dass seit Beginn des Krieges im Jahr 2003 mehr als 140 Journalisten getötet wur- Die Konflikte zwischen, aber auch innerhalb den. „Journalisten ohne Grenzen“ geht sogar der Ethnien, Religionen und Konfessionen fin- von bis zu 230 Journalisten aus. Da die Pres- den insbesondere auch auf politischer Ebene sezentren dem Staat eine Liste mit Namen starken Ausdruck. So kam es beispielsweise der Angestellten aushändigen müssen, befin- zwischen den Parlamentswahlen in 2005 und den sich Journalisten beständig in großer Ge- den Regionalwahlen in 2009 zu heftigen Aus- fahr. einandersetzungen innerhalb des schiitischen Bündnisses Vereinigte Irakische Allianz. Die In der Verfassung werden weitgehend gleiche Zwistigkeiten der Parteien Oberster Islami- Rechte für Frauen und Männer garantiert. Seit scher Rat im Irak und der Muqtada as-Sadr- Beginn der US-amerikanischen Besatzung Gruppe führten dazu, dass al-Maliki im bestehen Bestrebungen, die Rechte und die Frühjahr 2008 die irakische Armee gegen die Stellung der Frauen zu verbessern, nachdem sadristische Mahdi-Armee vorgehen und sich diese um die Jahrtausendwende radikal diese, mit amerikanischer und britischer verschlechtert hatte. Ab dem Jahr 1990 wurde Unterstützung, niederschlagen ließ. Bis heute

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ist as-Sadr im iranischen Exil und der inner- dum bis heute jedoch stets verschoben schiitische Konflikt längst nicht vergessen. Die wurden. Die umstrittenen Gebiete, die Ira- Sunniten, die sozusagen als Verlierer der kisch-Kurdistan für sich beansprucht, befin- neuen Ordnung gelten, streben nach einer den sich südlich und westlich angrenzend an Ausweitung ihrer Repräsentanz in der Regie- die kurdische Autonomieregion und beheima- rung, die sowohl die Schiiten als auch die Kur- ten heutzutage zahlreiche Kurden, jedoch den einzudämmen versuchen. Ein Sieg auch Turkmenen und Araber. Nach der Argu- gelang den Sunniten dennoch bereits bei den mentation der Kurden besitzt zumindest Parlamentswahlen im Jahr 2010 durch eine Kirkuk einen ursprünglich kurdischen Hinter- taktisch kluge Ausnutzung des innerschiiti- grund. Die Kurden berufen sich dabei einer- schen Konflikts. Durch die Abspaltung der seits auf das Ergebnis eines Zensus im Jahr Rechtsstaat-Koalition von der Vereinigten Ira- 1957 sowie darauf, dass die heutige Mi- kischen Allianz gab es nun zwei wesentlich schung der Ethnien auf eine Arabisierungs- weniger gewichtige schiitische Bündnisse, die kampagne in den 1980er Jahren unter jeweils keine Mehrheit der Stimmen auf sich Saddam Hussein zurückgehe. Neben den his- vereinigen konnten. Zusätzlich schlossen torischen Gegebenheiten spielen jedoch auch sich, wohl hauptsächlich aus strategischen strategische Interessen der Kurden eine we- Gründen, viele gemäßigte Sunniten der über- sentliche Rolle: Kirkuk ist einer der ölreichsten konfessionellen Irakischen Nationalbewegung Regionen Iraks und besitzt das drittgrößte Öl- an. Es ist zu vermuten, dass die Sunniten feld des Landes, welches allein 10% der ira- davon ausgingen, mit einer gemäßigten über- kischen Ölreserven ausmacht. Für die konfessionellen Partei bessere Wahlergeb- Zentralregierung, die auch in Kurdistan eine nisse als mit einer ausschließlich sunnitischen weitgehende Kontrolle über deren Öl- und erzielen zu können. Tatsächlich konnte die Gasreserven anstrebt, ist diese Region des- Irakische Nationalbewegung mit den Stimmen halb von hoher Bedeutung. Die kurdische Re- der Sunniten ihren Stimmenanteil mehr als gionalregierung ihrerseits strebt jedoch dort verdreifachen und ging mit 28,2% als stärkste und auch in ihrem eigenen Gebiet eine weit- Kraft aus den Wahlen hervor. Insgesamt kam gehend autonome Energiepolitik an und es in den Monaten während dieser Regie- möchte außerdem an den gesamten Öl- und rungsbildung zu gewalttätigen Protesten und Gaseinnahmen des Staates beteiligt werden. Attacken auf nationale Institutionen und Si- Probleme bestehen jedoch nicht nur zwischen cherheitskräfte, die viele Tote forderten. Viele Bagdad und Erbil, sondern auch innerhalb Aufständische erhofften dadurch eine Ein- Kurdistans, dessen Regierungsparteien, die flussnahme auf die Regierungsbildung zu ei- KDP und die PUK, sowie Goran und die kur- genen Gunsten zu erzielen. Allein im Juli 2010 dische Bevölkerung uneinig sind über ihren wurden, laut offiziellen irakischen Angaben, Umgang mit und ihren Forderungen an die mehr als 535 Zivilisten getötet und über 1.000 Regierung in Bagdad. verletzt. Ein zentrales Problem, über das Konsens in Weiterhin bestehen aufgrund der Autonomie- der Bevölkerung besteht, ist die Korruption. bestrebungen des irakischen Kurdistans Transparency International bewertete im Jahr Spannungen zwischen der Zentralregierung 2010 die Korruption auf einer Skala von 0 bis in Bagdad und der kurdischen Regionalregie- 10 mit einem Wert von 1,5 – wobei 10 sehr rung in Erbil, was häufig zu Diskussionen um unkorrupt und 0 hochgradig korrupt bedeutet. die Legalität und Legitimität der kurdischen Damit liegt der Irak auf dem 175. Platz von Regionalregierung führt. Die Kurden erheben insgesamt 178 Plätzen. Am 21. Februar 2011 Vorwürfe gegen das zentrale System in beispielsweise verkündete der Parlaments- Bagdad und fordern mehr Autonomie. Insbe- sprecher al-Nujaifi im Parlament, dass 40 sondere zwei Konflikte stehen im Vorder- Mrd. USD nicht aufzufinden seien. Das Geld grund: die Aufteilung Kirkuks und der stammte aus einem Fonds, der für den umstrittenen Gebiete sowie die Verteilung von Wiederaufbau Iraks bestimmt ist. (“It may Ressourcen. Der Artikel 140 der neuen iraki- have been spent somewhere, but it does not schen Verfassung von 2005 sieht eine Volks- appear in our accounts.”) zählung sowie ein Referendum über den Status quo in Kirkuk, eine der umstrittensten Ein weiteres Problem betrifft die Versor- Provinzen, vor. Aufgrund der Zwistigkeiten gungslage: Die Lebensmittelpreise sind stark unter den Konfliktparteien ist dieses Referen- gestiegen. Knapp eine Million Haushalte lei-

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den unter Ernährungsunsicherheit. Weitere nern und aus den oberen Altersschichten zu- knapp drei Millionen Bürger sind stark abhän- sammengesetzt sind, stärkt den Unmut der gig vom Lebensmittel-Rationierungssystem Jugend. Die Jugendlichen fordern die Be- der Regierung. Es bestehen Versorgungs- kämpfung der Arbeitslosigkeit sowie eine grö- engpässe bei zentralen Gütern wie Öl und ßere Teilhabe und Mitsprache in dem Gas zum Heizen und bei Benzin. Es existiert politischen Wiederaufbauprozess. keine Müllentsorgung. Der Irak hat zudem mit katastrophalen infrastrukturellen Bedingun- III. Akteure des Wandels und konkrete gen als Spätfolge der beiden Kriege, den UN- Auslöser Sanktionen während der Herrschaft Husseins und fast acht Jahren US-amerikanischer Be- Bereits seit Ende 2010 sind vereinzelte satzung zu kämpfen. So besteht in vielen Proteste aufgrund des langen Übergangspro- Städten nur etwa vier bis sechs Stunden am zesses zur Bildung einer neuen Regierung Tag eine elektronische Versorgung, obwohl und der Machtanhäufung des Premierminis- die Regierung bereits mehrere Milliarden für ters al-Malikis zu beobachten. So erstarken die Stromnetze ausgab. seit 2007/2008 die nationalistischen Kräfte, und die Befürworter einer starken Zentralre- Weiterhin besteht eine hohe Arbeitslosigkeit, gierung in Bagdad nehmen zu, was von vielen die auf die wirtschaftliche Lage Iraks zurück- Irakern, vorrangig aber von den Kurden, zuführen ist und von der im Besonderen die kritisch beäugt wird. Insbesondere werden jungen Irakerinnen und Iraker betroffen sind. auch die allgemeinen Lebensbedingungen Circa 28% der jungen Iraker im Alter von 15 wie Arbeitslosigkeit, Armut, Mangel an bis 29 Jahren sind arbeitslos. Durch die Golf- elektrischer Versorgung und Korruption kriege, die UN-Sanktionen und die zentral ge- angeprangert. steuerte Wirtschaft sank in fast allen Wirtschaftssektoren die Wirtschaftsleistung. Durch die Aufstände in der arabischen Welt Seit dem Beginn der Besatzung im Jahr 2003 zu Beginn des Jahres 2011 und insbesondere konnten die Wirtschaftsstrukturen zwar ver- durch die Revolutionen in Tunesien und in bessert, die Liberalisierung der Märkte voran- Ägypten erhielten die Proteste im Irak starken getrieben und der Wettbewerb gefördert Auftrieb. Am 13. Februar 2011, zwei Tage werden, die Entwicklung befindet sich aber nach dem Sturz der Regierung von Hosni Mu- dennoch weiterhin am Anfang und die Wirt- barak, berichtete die israelische Zeitung Haa schaft ist nur marginal diversifiziert. Der Irak retz, dass ein 31-jähriger Familienvater ist aufgrund seiner riesigen Erdölvorkommen Selbstmord beging, indem er, vermutlich von fast ausschließlich auf den Erdölexport aus- der Selbstverbrennung des tunesischen Mu- gerichtet. Zur Zeit bestehen mehr als 90% der hammad Bouazizi4 inspiriert, sich selbst ver- Staatseinkünfte und mehr als 80% der Ex- brannte, nachdem er keine Arbeit finden porteinnahmen aus dem Ölsektor. Nach konnte. Bereits seit Ende Dezember wird im Schätzungen von Experten könnte das ge- Irak von Versuchen zur Selbstverbrennung samte Öl- und Gasvorkommen bei bis zu 250 berichtet. Am 25. Februar wurde der „Tag des Mrd. Barrel liegen und davon bis zu 45 Mrd. Zorns“ ausgerufen, an dem nach den Frei- Barrel im Norden in der Autonomen Region tagsgebeten landesweite Demonstrationen Kurdistan. Die zuletzt abgeschlossenen Ver- stattfanden. Mindestens elf Menschen kamen träge mit großen Öl-Unternehmen könnten dabei ums Leben. Auslöser waren auch hier dazu führen, dass der Irak seine Einkünfte vor allem die Wut über soziale Ungerechtig- durch Ölexporte weiter steigert. Problema- keit, Korruption und hohe Arbeitslosigkeit. Die tisch ist jedoch, dass diese Branche nur we- größten Demonstrationen fanden in Kurdistan nige Arbeitsplätze bietet und der Irak sowie den arabisch-sunnitisch geprägten industriell kaum entwickelt ist. Die fehlende In- Städten Mosul und Falluja sowie den ara- dustrie gilt als eine der Hauptursachen für die bisch-schiitisch geprägten Städten Bagdad Arbeitslosigkeit, deren Folge wiederum eine und Basra statt. Allein in Mosul wurden dabei wachsende generelle Unzufriedenheit, insbe- mehr als fünf Personen getötet. In Bagdad sondere unter den Jugendlichen, mit dem demonstrierten Tausende. Einige unter ihnen System in Bagdad ist. Dass die Regierung versuchten, die sogenannte „Grüne Zone“5 und das Parlament hauptsächlich aus Män- anzugreifen. Die Sicherheitskräfte gingen mit

4 Die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Muhammad Bouazizi gilt als Initialzünder der tunesischen Revolution und den Aufständen in der arabischen Welt. 5 Die „Grüne Zone“ ist das Zentrum internationaler Präsenz, Sitz des irakischen Parlaments und der ame- rikanischen Botschaft.

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Tränengas, Knüppeln und Wasserwerfen Schiiten und Sunniten oder zwischen Arabern gegen die Demonstranten vor. und Kurden, bei den Protesten dieses Jahres Kurdische Proteste drücken den Zorn gegen eher eine untergeordnete Rolle. Im Vorder- die autoritäre Autonomieregierung im iraki- grund standen Probleme, die unabhängig von schen Kurdistan aus. Am 21. Februar 2011 Religion oder Ethnie die Bevölkerung betref- eskalierten dort in Sulaimaniya die Proteste, fen: Arbeitslosigkeit, Korruption und mangel- nachdem ein Jugendlicher von Sicherheits- hafte Infrastruktur in Bildung, Gesundheit und kräften getötet wurde. Weitere 48 Personen Versorgung. In Kurdistan, dessen wirtschaftli- wurden an diesem Tag verletzt. Der wach- che Lage insgesamt besser als die gesamti- sende Unmut über die unabhängige Regio- rakische einzustufen ist, demonstrierte die nalregierung in Kurdistan und deren äußerst Bevölkerung hauptsächlich wegen der star- starke Macht in allen Politik- und Wirtschafts- ken autoritären Herrschaft der Regierung. fragen führten zwei Tage später im ganzen Nordirak zu weiteren Demonstrationen. Die IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- Reformbewegung Goran versuchte sich mit lings“ begrenztem Erfolg als Oppositionsführer zu etablieren. Bereits seit dem Aufkommen der Noch vor dem Beginn der Proteste im eige- Goran-Bewegung ist in Kurdistan ein latenter nen Land, aber mit Blick auf die wachsenden Konflikt zwischen den Regierungsparteien Unruhen in der arabischen Welt, kündigte die KDP und PUK sowie der Goran-Bewegung Regierung Zugeständnisse an die Bevölke- festzustellen, deren Erfolge bei den Regio- rung an. Am Freitag, den 1. Februar 2011, nalwahlen im Jahr 2009 den Konflikt weiter versprach al-Maliki im Parlament Gehaltskür- verschärften.6 Während der Demonstrationen zungen. Diese sehen eine Kürzung des Ge- wurden Forderungen nach politischen Refor- halts des Premierministers um mehr als 50% men und einer genauen Untersuchung der der monatlichen 35 Mio. Irakischen Dinars vor Tötungen von Demonstranten durch den (entspricht ca. 38.000 USD). Ähnliche Ein- Staat laut. Allein in Sulaimaniya demonstrier- schnitte wurden bei Abgeordneten, Gesetz- ten mehr als 5.000 Iraker. Ähnlich große De- gebern, Ministern und hochrangigen Beamten monstrationen und Aufstände fanden an dem gefordert. Ob diese jedoch tatsächlich in der Tag in Erbil statt, die durch Sicherheitstruppen Realität umgesetzt werden, ist noch unklar. des Staates niedergeschlagen wurden. Die Des Weiteren bot die Regierung freie Elektri- Proteste dort richteten sich hauptsächlich zität an und importierte Zucker zur Unterstüt- gegen Masoud Barzani, den Führer der KDP, zung des von der Regierung etablierten der in den kurdischen Provinzen Dohuk und Lebensmittel-Rationierungssystems. Insge- Erbil regiert. samt wurden dem Essensrationierungspro- gramm 900 Mio. USD zugeführt, die Anfang März 2011 wurden erneut Proteste in ursprünglich für den Ankauf von Kampfjets der Hauptstadt Bagdad, Basra und anderen eingeplant waren. Weitere 400 Mio. USD wur- südirakischen Städten beobachtet. Am 16. den reserviert für die Betreibung von Genera- März 2011 fanden in der gleichen Gegend toren, die im Sommer Klimaanlagen mit schiitische Demonstrationen statt. Diese gal- Energie versorgen sollen. Weitere Infrastruk- ten dem Einmarsch Saudi-Arabiens in Bah- turprojekte und die Sanierung von Kanalisa- rain und der Solidarisierung mit der tionsanlagen sind in Planung. schiitischen Opposition in Bahrain. Auch am folgenden Tag demonstrierten etwa 3.000 V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure Schiiten in Kerbela gegen das Vorgehen Saudi-Arabiens. Die Demonstrationen fanden Die Demonstrationen und Aufstände der ira- nach Aufrufen von Muqtada as-Sadr und des kischen Bürger wurden von dem Premiermi- Großayatollah Mohammed Taki al-Mudarrisi nister al-Maliki jedoch heftig verurteilt und statt. Auch der schiitische Premierminister auch brutal zerschlagen. Demonstranten wur- Nuri al-Maliki unterstützte die Demonstranten. den immer wieder bedroht. Bei dem harten Durchgreifen der Sicherheitstruppen wurden Abgesehen von letzteren genannten Demon- bei Protesten allein am 25. Februar 2011, strationen spielten die Konflikte zwischen den dem irakischen „Tag des Zorns“, 16 Men- Ethnien, beispielsweise zwischen arabischen schen getötet. Al-Maliki behauptete, Anhän-

6 Goran spaltete sich im Jahr 2006 von der PUK ab und obliegt seitdem der Herrschaft des namhaften Po- litikers Naushirwan Mustafa. Letzterer war bis zu jenem Zeitpunkt der stellvertretende Führer der PUK. Die Bewegung fordert eine stärkere Bekämpfung der wuchernden Korruption in Kurdistan, demokrati- sche Reformen sowie Rechtsstaatlichkeit. Gleichzeitig agiert sie weniger radikal in ihren Ansprüchen gegenüber der Zentralregierung in Bagdad und konzentriert sich, sehr zum Ärger der Regionalregierung, eher auf demokratische Reformen als auf die Ausweitung des kurdischen Territoriums.

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ger des ehemaligen Diktators Saddam Hus- Sicherheitslage im Irak auswirken, weil die sein hätten mit Hintergedanken die Unruhen ideologische Strahlkraft al-Qaidas dadurch provoziert: “Change is something important ebenso geschwächt wurde wie durch die de- but it should not be based on sabotage, arson mokratisch-zivilgesellschaftlichen Aufstands- and rioting".7 Die Iraker seien ein einfaches bewegungen in Tunesien oder Ägypten. Volk („simple people“) und sollten deshalb nicht den religiösen Führern überlassen wer- Zwar bestehen kurdische Sezessionsbestre- den, die das Volk zu politisieren und manipu- bungen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von lieren versuchen. Die Demonstrationen der der gesamtirakischen Wirtschaft hielte die irakischen Schiiten, die der Solidarisierung mit Kurden jedoch davon ab, diese Intentionen in der Opposition in Bahrain galten, wurden von nächster Zeit zu realisieren. So könnten dem Premierminister jedoch nicht verurteilt. Konflikte mit der Zentralregierung und mit den Er unterstützte diese und kritisierte das Vor- Nachbarstaaten wie Iran und der Türkei gehen Saudi-Arabiens scharf. vermieden werden, die ebenfalls kurdische Minderheiten besitzen und die Sezessions- Die Demonstrationen in der autonomen Re- bestrebungen Irakisch-Kurdistans kritisch be- gion Kurdistan im Februar 2011, bei denen obachten.8 Insbesondere bei weiteren ebenfalls Menschen getötet wurden, wurden Wahlerfolgen und einem Aufschwung der mit hartem Durchgreifen beantwortet. Das Goran-Partei ist von einer solchen Entwick- kurdische Regionalparlament in Erbil erließ lung auszugehen, da diese eine weniger außerdem einen Plan, der die kurdische Be- vehemente Politik gegenüber der Zentralre- völkerung beruhigen sollte. gierung verfolgt. So würden auch Konflikte bezüglich den umstrittenen Regionen stark In der südirakischen Stadt Basra trat nach abgeschwächt, da eine Annexion dieser Ge- massiven Protesten der als äußerst korrupt biete laut eigenen Aussagen keine hohe Prio- geltende Gouverneur Sheltak Abbud zurück. rität für die Partei besitzt. Vielmehr würde die Bekämpfung von Korruption und Misswirt- IV. Zukunftsszenarien schaft in den Vordergrund treten

Best Case Szenario: Worst Case Szenario

Trotz der hohen politischen Gewalt und der Andererseits wäre im schlechtesten Fall vielen Anschläge und Angriffe wurden in den davon auszugehen, dass die Konflikte und letzten sieben Jahren immerhin drei demo- Auseinandersetzungen der einzelnen Koali- kratische Wahlen durchgeführt, die von Ex- tionsparteien die Regierungsarbeiten stark perten als überwiegend frei und fair behindern. Im Vordergrund stünden nicht die eingeschätzt wurden. Damit unterscheidet dringliche Verbesserung der Lebensbedin- sich der Irak von den meisten seiner Nach- gungen der Bevölkerung, sondern persönli- barn. In der aktuellen Regierung sind alle gro- che Konflikte der Regierungsmitglieder, ßen Ethnien und Konfessionen vertreten. beispielsweise zwischen dem Radikalen as- Bestenfalls würde sich diese positive Ent- Sadr und dem Premierminister al-Maliki. Die wicklung fortführen. Eine offene und kon- extremistischen Kräfte im Land, sowohl schi- struktive Kooperation der einzelnen itische, sunnitische oder kurdische, könnten Regierungsparteien würde den extremisti- die Situation zu ihren Gunsten ausnutzen und schen Kräften den Nährboden nehmen. Die verstärkt terroristische Attacken verüben, um vom Ministerpräsidenten al-Maliki angekün- ihren Einfluss auszubauen und das Land zu digten Gehaltskürzungen sowie die dringend destabilisieren. Durch einen vorschnellen benötigten Infrastrukturprojekte würden um- Abzug der letzten verbleibenden US-ameri- gesetzt, was die Glaubwürdigkeit der Regie- kanischen Truppen, die für die Ausbildung der renden und ihr Ansehen in der Bevölkerung irakischen Armee zuständig sind, würde die stark verbessern würde. Durch weiterhin gute Sicherheitslage zusätzlich drastisch ver- Zusammenarbeit zwischen amerikanischen schlechtert. Zusätzlich könnte der schiitisch Ausbildungstruppen und der Irakischen geprägte Iran den Abzug der US-amerikani- Armee könnte die Sicherheitslage außerdem schen Truppen nutzen, um seinen Einfluss weiter verbessert werden. Zusätzlich könnte auf die irakischen Schiiten auszuweiten, was sich der Tod Usama bin Ladins positiv auf die eine weitere politische Konfrontation zur

7 Quelle: Hemdei, Salah: Double barrel anger, AlAhram weekly online (24.02.-01.03.2011), http://weekly.ahram.org.eg/2011/1036/re151.htm, abgerufen am 29.06.2011. 8 Abzuwarten bleibt hier allerdings die zukünftige Situation der syrischen Kurden, die im Verlauf der syri- schen Protestbewegungen vielfach zum Ziel der staatlichen Repressionsmaßnahmen wurden.

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Folge hätte und Bedrohungsgefühle iraki- Da die Kurden an der Regierung beteiligt sind, scher Alliierter, insbesondere der USA, her- und ein Austritt ihrerseits den Zusammen- vorrufen könnte. Weiterhin könnte die bruch der gesamten Regierung nach sich Föderalismusdebatte zu einer Zuspitzung zöge, besitzen sie ein wirksames Druckmittel. oder sogar zu einer Eskalation des Konflikts Dies könnte eingesetzt werden, wenn Pre- zwischen Kurden und Arabern über Irakisch- mierminister al-Maliki seine Kompetenzen Kurdistan und den Verbleib Kirkuks führen. weiter ausbauen wollte und somit verhindert Premierminister al-Maliki wie auch Allawi, der werden, dass die Zentralmacht in Bagdad zu Vorsitzende der Irakischen Nationalbewe- weitreichende Kompetenzen erhält. Die seit gung, sind starke Befürworter einer mächti- letztem Jahr stark konsensual geprägte Re- gen Zentralregierung, die bereits in den gierungszusammensetzung könnte auch ins- letzten Jahren wesentlich ausgebaut wurde. gesamt dazu beitragen, dass Gespräche Beide könnten darauf drängen, die Macht in zwischen den Parteien aufgenommen und Bagdad noch weiter zu stärken und dies weitere Konflikte entschärft werden. Das im durch eine militärische Einnahme der umstrit- Vorfeld der letzten Parlamentswahlen, wenn tenen Gebiete demonstrieren. Die 12. Divi- auch eher aus strategischen Gründen, statt- sion der irakischen Armee drang bereits im gefundene Gespräch zwischen al-Maliki und Herbst 2008 zu einer angeblichen Schützung as-Sadr könnte ein Indiz für die stärkere Kom- der Ölinfrastruktur nach Kirkuk vor. Seitdem promissbereitschaft der Parteien sein. stehen sich dort kurdische und irakische Trup- pen gegenüber. Zur Zeit verfügen die kurdi- Von entscheidender Bedeutung bleibt auch schen Truppen über die besseren die wirtschaftliche Entwicklung. Insbesondere Ressourcen. Sollte sich die Präsenz der zen- Kurdistan hat sich wirtschaftlich gut entwi- tralirakischen Militärs jedoch erhöhen, könnte ckelt. Aber auch im Süden Iraks findet ein die Situation eskalieren, sich vielleicht sogar vorsichtiger, aber stetiger wirtschaftlicher Auf- auf weitere Städte wie Mosul ausdehnen und schwung statt. Dieser könnte sich bei unter- im Nordirak schlimmstenfalls in bürgerkriegs- stützenden politischen Maßnahmen und ähnliche Zustände übergehen. Instabilität und weiter steigendem Interesse seitens der wirtschaftliche Missstände könnten auch ausländischen Unternehmer fortsetzen. Aber durch Flüchtlingsströme syrischer Kurden auch wenn sich die wirtschaftliche Situation in nach Irakisch-Kurdistan entstehen. weiten Teilen des Landes verbessert hat, bleibt dieser Fortschritt von mindestens zwei Trendszenario Entwicklungen abhängig: Zum einen müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen kontinu- Wenn auch Spaltungen zwischen sunniti- ierlich verbessert und die Konflikte um die Öl- schen und schiitischen Parteien bestehen, förderung in Kurdistan beigelegt werden, um könnten die Neuausrichtungen insgesamt auf für ausländische Unternehmer langfristig at- gemeinsamen Interessen gründen wie bei- traktiv zu bleiben. Zum anderen bleibt auch spielsweise der Verbesserung der Infrastruk- die weitere Entwicklung der Sicherheitslage tur. Die Probleme und Konflikte wie Korruption abzuwarten: Wenn politische Zwistigkeiten, oder Misswirtschaft würden öffentlich disku- militante Islamisten und die brisante Situation tiert und zumindest teilweise eingedämmt. Die in Nachbarländern zunehmen, könnte sich Konflikte zwischen Kurden und Arabern blie- dies negativ auf die Wirtschaftsentwicklung ben bestehen. Das Referendum bezüglich auswirken. Dies gilt insbesondere für die nach des Verbleibs der Provinz Kirkuk würde auf- wie vor strukturschwache und fragile Region grund anhaltender Differenzen zwischen den um die Hauptstadt Bagdad, die bis jetzt von einzelnen Parteien weiterhin verschoben. internationalen Investoren aufgrund der Auch bezüglich der Energiepolitik fänden sich Unsicherheit gemieden wird. Hinzu muss die keine konkreten Lösungen. Weder gelänge es Wirtschaft weiterhin ölunabhängiger diversifi- der Zentralregierung, diese komplett zu ihren ziert werden, das Ausbildungsniveau verbes- Gunsten zu kontrollieren, noch Erbil, diese in sert und die Kaufkraft erhöht werden. ihrem Autonomiegebiet gänzlich unabhängig auszurichten. Katharina Schmoll

Deutsches Orient-Institut 112 Irak

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Deutsches Orient-Institut 114 Palästinensische Gebiete

Landesdaten Palästinensische Gebiete Fläche1 2011 5.860 km² (Westjordanland), 360 km² (Gazastreifen) Bevölkerung2 2010 4.400.000 (Westjordanland und Gazastreifen) Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 k. A. Palästinensische Araber 83%, Juden 17% Ethnische Gruppen3 2010 (Westjordanland), Palästinensische Araber 100% (Gaza Streifen) Muslime 98, 7%, Christen 0,7%, Juden 0,6% Religionszugehörigkeit4 2010 (Gaza Streifen); Muslime 75%, Juden 17%, Christen 8% (Westjordanland) Durchschnittsalter5 2010 17,7 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren6 2011 43% Bevölkerung über 65 Jahren7 2011 3% Lebenserwartung8 2010 75,01 Jahre Bevölkerungsprognose bis 20509 2010 10.300.000 Geburten pro Frau10 2009 4,9 Alphabetisierungsrate 2010 92,4% Mobiltelefone11 2009 2.405.000 Nutzer Internet12 2009 1.379.000 Nutzer Facebook13 2011 599.520 Wachstum BIP14 2010 k. A. BIP pro Kopf 15 2010 k. A. Arbeitslosigkeit16 2010 16,5% (Westjordanland); 40% (Gazastreifen) Inflation17 2011 k. A. S&P-Rating18 2011 k. A. Human Development Index Rang19 2010 k. A. Bildungsniveau20 2010 k. A. Bildungsniveau der Frauen 2010 k. A. (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)21 Politische Teilhabe22 2010 20,4% Korruptionsindex23 2010 k. A.

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 CIA – The World Factbook. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 10 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 11 CIA – The World Factbook. 12 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 15 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 16 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 17 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 18 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 19 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 20 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf, abgerufen am 29.08.2011. 22 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 23 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 115 Palästinensische Gebiete

Palästinensische Gebiete Ausschreitungen werden sowohl von is- raelischer als auch palästinensischer Seite nicht ausgeschlossen, sodass die er Konflikt zwischen Palästinensern kurz- und mittelfristige Entwicklung be- und Israelis bestimmt mittlerweile reits ein großes Spannungspotenzial auf- Dseit Jahrzehnten einen großen Teil weist. der Berichterstattung über den Nahen Osten. Die Verhandlungen zwischen bei- I. Politisches System und gesellschaftli- den Konfliktparteien sind nun seit Mona- che Entwicklung ten nicht vorangeschritten, wodurch der Unmut in der Bevölkerung weiter zunimmt. Bereits in den 1960er Jahren wurde mit dem Dennoch sind sowohl der Gaza-Streifen Aufbau politischer Strukturen auf Seiten der als auch das Westjordanland von Massen- Palästinenser begonnen, obwohl die Grün- protesten, deren Zeugen wir derzeit in dung eines eigenen Staates nicht absehbar Nordafrika und einigen anderen arabi- war. Entscheidend war vielmehr die Heraus- schen Staaten werden können, ausgeblie- bildung einer eigenen Interessenvertretung, ben. Diese Entwicklung ist zum Teil ein um die politischen Ansprüche geltend machen Resultat der Politik vor allem Salam Fayy- zu können. Obwohl es bis zum heutigen Tage ads, Premierminister der Palästinensi- keinen eigenen palästinensischen Staat gibt, schen Autonomiegebiete, der die hat sich der Prozess der politischen Institutio- Etablierung quasi-staatlicher Strukturen nenbildung weiter fortgesetzt und führte z. T. als Grundlage für einen lebensfähigen pa- zu Doppelstrukturen oder gar Dreifachstruk- lästinensischen Staat favorisiert. Auf der turen, wenn der Gaza-Streifen separat be- anderen Seite genießen die Palästinenser trachtet wird. Diese sind zumindest teilweise bereits einige, auf Grund interner Konflikte demokratisch legitimiert. Die drei dominieren- jedoch eingeschränkte, demokratische den Organisationen bzw. Institutionen sind die Freiheiten, sodass das Bestreben, die ei- Palästinensische Befreiungsorganisation gene Führung abzulösen, aktuell noch (PLO), die Palästinensische Autonomiebe- nicht so groß ist, wie in anderen Staaten hörde (PNA oder PA) und die Islamische der Region. Diese Situation kann sich je- Widerstandsbewegung in Palästina (Hamas), doch schlagartig ändern, wenn die eigene die seit den Wahlen 2006 die politische Ent- politische Führung keine Erfolge im Rah- wicklung im Gaza-Streifen bestimmt. Deren men der Beilegung interner Konflikte vor- Einfluss und Zuständigkeiten haben sich über weisen kann und die Verhandlungen mit die Jahre jedoch teils deutlich verändert. Israel sowie die Abstimmung in den Ver- einten Nationen nicht den gewünschten Die Palästinensische Befreiungsorganisation Erfolg bringen. wurde im Jahre 1964 auf dem Gipfel der Ara- bischen Liga als nationale Einigungsbewe- Obwohl die palästinensischen Gebiete von gung mit dem Ziel gegründet, die Schaffung Massendemonstrationen bisher weitge- eines eigenständigen Staates zu erreichen. hend verschont blieben, bleibt die Dyna- Im Allgemeinen ist die PLO eine Dachorgani- mik der Region nicht ohne Auswirkungen sation für verschiedene palästinensische auf die Palästinenser selbst. Sowohl Gruppierungen, die bestimmte Bevölkerungs- Hamas als auch Fatah sind durch die Er- gruppen repräsentieren und deren Vertretun- eignisse, vor allem in Ägypten und Syrien, gen. Momentan sind elf palästinensische stark unter Druck geraten und müssen Parteien unter dem Dach der PLO vereinigt, ihre Politik neu ausrichten. Das Versöh- deren wichtigste bzw. dominierende die Fatah nungsabkommen zwischen Fatah und ist. Das wichtigste Organ der Palästinensi- Hamas ist ein wesentliches Resultat der schen Befreiungsorganisation ist das 18-köp- regionalen Entwicklungen und des zuneh- fige Exekutivkomitee, dessen Vorsitz derzeit menden öffentlichen Drucks. Ob und wie Mahmoud Abbas einnimmt. Die Mitglieder des dieses Abkommen umgesetzt wird, wer- Exekutivkomitees werden vom Palästinensi- den die nächsten Monate zeigen müssen. schen Nationalrat gewählt. Zusätzlich steht Eine zusätzliche Ungewissheit bringt die dem Komitee seit 1991 der Zentralrat als be- Abstimmung in den Vereinten Nationen ratendes Gremium zur Seite. Die Hauptauf- Ende September 2011 mit sich. Größere gabe des Exekutivkomitees besteht vor allem Demonstrationen mit teils gewaltsamen in der internationalen Repräsentation aller Pa-

116 Deutsches Orient-Institut Palästinensische Gebiete

lästinenser unabhängig von deren Wohnort Neben der PLO spielt im politischen System sowie die internationalen Friedensverhand- Palästinas die 1994 im Rahmen der Verträge lungen. Insofern kann nur die PLO tatsächli- von Oslo gegründete PNA eine zunehmend che Verhandlungen mit Israel oder anderen bedeutende Rolle. Im Gegensatz zur PLO externen Akteuren durchführen. Zum Zwecke konzentriert sich die Reichweite der Macht der internationalen Repräsentation hat die der PNA auf die von den Palästinensern kon- PLO im Laufe der Jahre zahlreiche Vertretun- trollierten Bereiche innerhalb der Palästinen- gen in verschiedenen Ländern eingerichtet sischen Autonomiegebiete des und stellt seit 1974 einen Vertreter in den Ver- Westjordanlandes und des Gaza-Streifens. einten Nationen. In dem Vertretungsanspruch Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die aller weltweit lebenden Palästinenser besteht Autonomiebehörde nur einen Teil des West- das Alleinstellungsmerkmal der PLO gegenü- jordanlandes kontrolliert. Dieses ist in drei ber der PNA. Zonen A, B und C untergliedert, wobei nur die Zone A sowohl der zivilen als auch ihrer si- Das zweitwichtigste Organ der PLO ist der cherheitspolitischen Kontrolle unterliegt. In Palästinensische Nationalrat, der die legisla- der Zone B hat die PNA die zivile Aufsicht, tiven Aufgaben übernimmt, indem er Leitli- während die israelischen Behörden allerdings nien, Agenden und die rechtlichen für die sicherheitsrelevanten Bereiche verant- Rahmenbedingungen festlegt. Derzeit um- wortlich sind und die Zone C deren vollstän- fasst der Nationalrat 740 Mitglieder und setzt diger Kontrolle unterliegt. Die internationale sich aus den 132 Abgeordneten des Palästi- Bedeutung der PNA war bislang auf Grund nensischen Legislativrates der PNA, den Ver- der begrenzten Machtbefugnisse beschränkt, tretern aller Untergruppierungen und Parteien wobei aber vor allem die Bemühungen des sowie Vertretern der Diaspora zusammen. palästinensischen Premierministers Salam Obwohl die Hamas der PLO offiziell nie bei- Fayyad quasi staatliche Strukturen zu schaf- getreten ist, kann diese 74 Vertreter in den fen, internationale Anerkennung fanden. Nationalrat entsenden, die nach den Wahlen Weite Bereiche der Außenpolitik und somit im Jahre 2006 dem Palästinensischen Legis- auch die Friedensverhandlungen blieben bis- lativrat angehören. In der Praxis entzieht sich her allerdings der PLO vorbehalten, die im die Hamas allerdings der direkten Mitarbeit in Auftrag der PNA verhandelte und somit deren den Institutionen der PLO weitgehend. Der Einflussbereich begrenzte. Allerdings beste- Nationalrat wird in der Theorie von allen in hen seit einiger Zeit Bestrebungen, die Rolle den palästinensischen Gebieten sowie aller in der PNA zu stärken, welche im Zuge der fest- der Diaspora lebenden Palästinenser ge- gefahrenen Verhandlungen zunehmend in wählt; in der Praxis werden diese allerdings – Frage gestellt wird. In bestimmten Punkten, auch auf Grund der schwierigen Umsetzung wie beispielsweise der Flüchtlingsfrage, wird einer solchen Wahl – von den einzelnen Par- der PNA auf Grund der Beschränkung ihrer teien und Untergruppierungen ernannt. In ein- Machtbefugnisse auf das Westjordanland und zelnen Fällen ist es dem Vorsitzenden des Gaza eine pragmatischere Rolle unterstellt, Exekutivkomitees möglich, selbst Abgeord- die aber bei weitem nicht als gegeben ange- nete des Nationalrates zu ernennen. Theore- nommen werden kann. tisch ist es vorgesehen, dass der Nationalrat einmal im Jahr zusammenkommt. Das ge- Die Struktur der Palästinensischen Autono- schieht in der Praxis allerdings deutlich selte- miebehörde weist eine gewisse Gewaltentei- ner und meist nur im Zusammenhang mit lung in Exekutive, Legislative und Judikative wichtigen Entscheidungen wie der Änderung auf, wobei letztere noch einer weiteren For- der Palästinensischen Nationalcharta. Die malisierung unterliegt. Die Exekutive setzt wichtigsten Zusammenkünfte des Nationalra- sich aus dem Präsidenten der PNA, der von tes waren zweifelsfrei 1993 zur Gründung der den im Westjordanland bzw. Gaza lebenden Palästinensischen Autonomiebehörde sowie Palästinensern in allgemeiner, freier und di- die Änderung der palästinensischen Natio- rekter Wahl gewählt wird, dem Premierminis- nalcharta im Jahre 1996, die die Passagen ter und dem Ministerrat zusammen. Der hinsichtlich des bewaffneten Kampfes gegen Premierminister, dessen Posten seit 2007 der Israel für ungültig erklärte und den bewaffne- ehemalige Vertreter des Internationalen Wäh- ten Kampf zumindest in theoretischer Hinsicht rungsfonds in Palästina Salam Fayyad inne- offiziell beendete sowie das Existenzrecht Is- hat, wird vom Präsidenten der PNA ernannt. raels formal anerkannte. Dieser selbst wird anschließend mit der Re-

Deutsches Orient-Institut 117 Palästinensische Gebiete

gierungsbildung beauftragt. Sowohl der Mi- Präsident Abbas und Premierminister Fayyad nisterrat als auch der Premierminister sind per Dekret und auf umstrittener rechtlicher vom Vertrauen des Palästinensischen Legis- Grundlage. Das neuerlich unterzeichnete Ver- lativrates (PLC) abhängig. Die Größe des söhnungsabkommen zwischen Fatah und PLC wurde im Jahre 2005 von 88 auf 132 Ab- Hamas soll nun den Weg für kommende Prä- geordnete angehoben, wobei die Abgeordne- sidentschaftswahlen sowie Wahlen zum Le- ten entsprechend dem aktuellen Wahlgesetz gislativrat frei machen, wobei die direkt von den Palästinensern gewählt wer- Spannungen zwischen beiden Gruppierungen den. Die letzten Wahlen fanden am 25. Ja- nach wie vor schwer wiegen. Allerdings ist nuar 2006 unter hoher Wahlbeteiligung statt eine weitere Annäherung zwischen Fatah und und endeten mit einem deutlichen Sieg der Hamas notwendig, wenn die Entwicklung im Hamas, die 74 Sitze gegenüber 45 Sitzen für Westjordanland und im Gaza-Streifen nicht die Fatah im Legislativrat gewinnen konnte. weiter auseinander gehen soll. Um sich der Die in mühseligen Verhandlungen im Februar internationalen Unterstützung, vor allem sei- 2007 konstituierte und am 15. März einge- tens des Westens, zu versichern, wird es un- setzte Einheitsregierung aus Hamas und abdingbar sein, dass auch die Hamas das Fatah zerbrach jedoch alsbald an internen Existenzrecht Israels anerkennt. Spannungen und internationalen Sanktionen, die in Folge der Regierungsbeteiligung der Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Hamas und deren Ablehnung des Existenz- den palästinensischen Gebieten ist und war rechtes Israels verhängt wurden und den immer sehr von der aktuellen politischen Lage Spielraum der Regierung deutlich beschnitten abhängig gewesen. Die Gründe für das Aus- haben. In der Folgezeit kam es zu bewaffne- brechen der Ersten und Zweiten Intifada sind ten Kämpfen zwischen Anhängern der Hamas vielfältig und lassen sich nicht auf eine Ursa- und der Fatah um die Kontrolle in den paläs- che reduzieren. Allen voran stand das Haupt- tinensischen Gebieten, die zu schweren bür- ziel, den vollständigen Besatzungszustand in gerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen Folge des Sechs-Tage-Krieges im Jahre 1967 vor allem in Gaza und auch im Westjordan- zu beenden und einen eigenen palästinensi- land führten. Im Juni 2007 konnte die Hamas schen Staat zu gründen. Von militärischen Ak- schließlich die alleinige Kontrolle im Gaza- tionen und den gewaltsamen Entwicklungen Streifen übernehmen und eine eigene Regie- überschattet, wurden die zivilen Aktionen des rung etablieren, sodass man in der Widerstandes gegen die Besatzung in den Zwischenzeit mit einigem Recht von Drei- Hintergrund gedrängt. Bis zu den Revolutio- fachstrukturen hinsichtlich des palästinensi- nen in Nordafrika und verschiedenen arabi- schen politischen Systems sprechen kann. schen Staaten, beginnend im Dezember Die seitdem bestehende Spaltung im We- 2010, stellten die palästinensischen Volks- sentlichen zwischen Hamas und Fatah ist aufstände in den Jahren 1987 bis 1993 und in einer der Hauptgründe für die Unzufriedenheit den Jahren von 2000 bis 2005 eine gewisse der Palästinenser mit ihrer politischen Füh- singuläre Erscheinung dar, die von den arabi- rung. Der hieraus resultierende öffentliche schen Staaten zwar verfolgt, aber seit dem Druck, der durch die Entwicklungen inter alia Sechs-Tage-Krieg 1967 und dem Jom-Kippur- in Tunesien und Ägypten noch verstärkt Krieg 1973 mehrheitlich passiv begleitet wur- wurde, veranlasste die beide Gruppierungen den. Die Bewertung vor allem der Zweiten zur Unterzeichnung eines Versöhnungsab- Intifada fällt unter den Palästinensern aber kommens am 4. Mai 2011 in Kairo. Die Um- letztlich eher gemischt aus, da die militäri- setzung der ohnehin wagen Beschlüsse ist schen Auseinandersetzungen zum einen aber bisher keineswegs garantiert. nicht zur Beendigung des Besatzungszustan- des führten und auf der anderen Seite für Obwohl die Organe der Palästinensischen einen beachtlichen Teil der Palästinenser, die Autonomiebehörde in der Theorie bereits eine zuvor u.a. in israelischen Siedlungen arbeite- demokratische Legitimation aufweisen, ge- ten oder von unternehmungslustigen Israelis staltet sich die Praxis erheblich schwieriger. profitierten, die in Ramallah u.a. Städten des Sowohl die Wahlen zum Legislativrat als auch Westjordanlandes ausgingen, eine Ver- kommunale Wahlen und nicht zuletzt die Prä- schlechterung der sozioökonomischen Situa- sidentschaftswahlen sind in jüngerer Vergan- tion mit sich brachte. Dank der Stabilisierung genheit immer wieder verschoben oder der Lage in den palästinensischen Gebieten gänzlich abgesagt worden. Seitdem regieren und der auf Gewaltverzicht ausgelegten Poli-

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tik von Palästinenserpräsident Abbas und auch hier sehr hoch, zumal die inoffiziellen Premierminister Salam Fayyad, dessen ober- Zahlen wohl noch höher sein dürften, da ein stes Ziel seines Ende August 2009 vorge- gewichtiger Teil sozialer Lasten innerhalb der stellten Planes die Etablierung Familien und nicht wie in Westeuropa ge- quasi-staatlicher Strukturen ist, hat sich die wöhnlich über das staatliche Wohlfahrtssys- Situation in den letzten Jahren vor allem im tem getragen werden.2 Die Herausforderung Westjordanland positiv entwickelt, wobei ge- der Jugendarbeitslosigkeit wird nochmals rade in den letzten Monaten verschiedene deutlich, wenn ein Blick auf den allgemeinen Zwischenfälle das Bild trübten. Bevölkerungsaufbau geworfen wird. Das Me- dianalter liegt im Westjordanland bei 21,3 Während die wirtschaftliche Entwicklung in Jahren3 und im Gaza-Streifen bei 17,7 Jah- Gaza seit 2007 auf Grund der israelisch-ägyp- ren4; d.h. dass 50% der gesamten Bevölke- tischen Blockade1 und der militärischen Aus- rung jünger als 21,3 beziehungsweise 17,7 einandersetzungen mit Israel stagniert oder Jahren sind, wodurch ein beträchtlicher de- gar rückläufig ist, verzeichnet das Westjord- mographischer Druck über die nächsten anland ein beachtliches wirtschaftliches Jahre entsteht, der das Potenzial für weitere Wachstum von etwa 8% im Jahre 2010. Vor Proteste in sich trägt. allem in der Region in und um Ramallah ist der Aufschwung deutlich sichtbar, indem Neben sozioökonomischen und demographi- Hochhäuser gebaut und zahlreiche Cafés er- schen Faktoren sind es vor allem die Ver- öffnet wurden, die bei westlichen Gästen handlungen im Rahmen des guten Anklang finden. Ende des letzten Jah- israelisch-palästinensischen Friedensprozes- res hat zudem das erste Fünf-Sterne-Hotel ses und der Antrag auf Anerkennung des pa- der Mövenpick-Gruppe in Ramallah eröffnet, lästinensischen Staates in den Grenzen von das in gewisser Weise ein Zeichen setzen 1967 bei den Vereinten Nationen, die die wei- und weitere internationale Gäste und Inve- tere Entwicklung maßgeblich beeinflussen storen anlocken soll. Zusätzliche Investitionen werden. in die öffentliche Infrastruktur und Ordnung sollen die positive Entwicklung absichern, II. Voraussetzungen für den Willen nach allerdings ist die Wirtschaft im Westjordanland Wandel nach wie vor sehr stark von internationalen Hilfsgeldern und Investitionen abhängig. In- Die Voraussetzungen für den Willen nach sofern kann trotz der positiven Entwicklung Wandel sind in den Palästinensischen Gebie- der letzten Jahre noch nicht von einem sich ten, wie in anderen Ländern auch, recht viel- selbst tragenden Wirtschaftswachstum ge- fältig, wobei das Streben nach Demokratie sprochen werden, dessen Entwicklung durch und Freiheit nicht die oberste Priorität hat, da israelische Einfuhrrestriktionen erschwert diese vor allem im regionalen Vergleich be- wird. Ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachs- reits vorhanden sind. tum ist allerdings dringend erforderlich, um das Problem der Arbeitslosigkeit vor allem Eine Meinungsumfrage des Palestinian Cen- unter den Jugendlichen in den Griff zu be- ter for Policy and Survey Research, die Mitte kommen. Vor allem im Gaza-Streifen sind die März 2011 durchgeführt wurde, ergab, dass Zukunftsaussichten für junge Menschen nicht 45% der Palästinenser als wichtigstes Ziel die allzu positiv. Die allgemeine Arbeitslosigkeit Gründung eines eigenen Staates in den sank im Zeitraum 2008 bis 2010 leicht von 41 Grenzen von 1967 und damit die Beendigung auf 38%, wobei die Jugendarbeitslosigkeit des israelischen Besatzungszustandes be- weiterhin jeden zweiten Jugendlichen (53%) trachteten. Dem nachfolgend wurde als das betraf. Im Westjordanland zeichnet sich mit zweitwichtigste Ziel die Lösung der Flücht- einer Verringerung der Arbeitslosenquote von lingsfrage und deren Rückkehr in die Städte 19 auf 17% ein etwas positiveres Bild. Aller- und Dörfer benannt, aus denen sie im Jahre dings ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 26% 1948 vertrieben worden waren. Damit wurden

1 Der Grenzübergang in Rafah wurde allerdings Ende Mai 2011 für den eingeschränkten Personenverkehr wieder geöffnet. 2 International Monetary Fund: Macroeconomic and Fiscal Framework for the West Bank and Gaza: Se- venth Review of Progress, Staff Report for the Meeting of the Ad Hoc Liaison Committee, http://www.imf.org/external/country/WBG/RR/2011/041311.pdf, abgerufen am 07.07.2011, S. 3ff. 3 Central Intelligence Agency: The World Factbook, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the- world-factbook/geos/gz.html, abgerufen am 15.08.2011. 4 Central Intelligence Agency: The World Factbook, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the- world-factbook/geos/gz.html, abgerufen am 15.08.2011.

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gleich zwei Herausforderungen benannt, die von Premierminister Salam Fayyad ohne vor- zentrale Punkte des Nahost-Konflikts zwi- herige Wahlen und auf umstrittener recht- schen Palästinensern und Israelis bilden. licher Grundlage ins Amt. Dies bedeutete die Innenpolitische Faktoren wurden von einer Wiederaufnahme der Weiterleitung von Steu- Mehrheit der Befragten erst an dritter Stelle ereinnahmen an die Palästinensische Auto- als wichtige Probleme genannt. Hierbei wur- nomiebehörde von israelischer Seit sowie die den vor allem die hohe Arbeitslosigkeit und Aufhebung von Sanktionen seitens der Euro- die Verbreitung von Armut als zentrale Punkte päischen Union und USA, aber auch die Tei- herausgestellt. Trotz zahlreicher innenpoliti- lung der palästinensischen Gebiete in den scher Herausforderungen ist es nicht das von der Hamas kontrollierten Gaza-Streifen, vordergründige Ziel des palästinensischen während die Fatah die Kontrolle über das Volkes, sowohl im Westjordanland als auch in Westjordanland sichern konnte. Seitdem hält Gaza ihre eigene politische Führung abzulö- die Spaltung zwischen Fatah und Hamas an, sen, sondern es erwartet vielmehr eine kon- obwohl mit dem Einheitsabkommen vom Mai krete Veränderung der Situation durch die 2011 ein erneuter Schritt hin zur Bildung einer politischen Repräsentanten. neuen Einheitsregierung und Neuwahlen unter dem Eindruck innenpolitischer und äu- Eine zentrale Voraussetzung für eine positive ßerer Einflüsse im Rahmen des „Arabischen politische Entwicklung wird zudem in der Frühlings“ unternommen worden ist. pragmatischen Lösung des Konfliktes zwi- schen der im Gaza-Streifen regierenden Zweifelsfrei stehen die Palästinenser vor gro- Hamas und der im Westjordanland dominie- ßen Herausforderungen, die sowohl aus dem renden Fatah gesehen. Die Spaltung beider Konflikt mit Israel, der Spaltung zwischen palästinensischer Gebiete hatte sich im Nach- Fatah und Hamas sowie sozialen Problemla- gang der Wahlen zum Palästinensischen Le- gen herrühren und mit Sicherheit das Poten- gislativrat im Januar 2006 vollzogen, die die zial einer Massenbewegung in sich tragen. Hamas mit deutlichem Vorsprung (74 zu 45 Allerdings ist eine gemeinsame Stoßrichtung Sitzen für die Fatah) gewann. Bereits im März der palästinensischen Aktivitäten, die zu grö- 2006 wurde die Hamas-Regierung eingesetzt ßeren Veränderungen führen könnte, im Mo- nachdem die Fatah ihre Beteiligung versagte. ment nicht auszumachen. Daraufhin intensivierten sich die Spannungen zwischen beiden Gruppierungen, die in der „Khaled Abu Toameh, ein palästinensi- Folgezeit zu verschiedenen gewaltsamen scher Journalist (...) erklärt das Pro- Zwischenfällen führten. Nach mehr als ein- blem wie folgt: ‘Falls und wenn die jährigen Verhandlungen konnte schließlich Palästinenser zu revoltieren beginnen, am 8. Februar 2007 eine Vereinbarung zur werden sie in alle Richtungen feuern: Bildung einer Einheitsregierung unter Pre- gegen Fatah und Hamas, gegen Israel, mierminister Ismail Haniyeh (Hamas) verkün- gegen die UN, die USA und andere det werden. Demnach sollte die Hamas in der westliche Mächte sowie gegen die ara- neuen Regierung neun und die Fatah sechs bischen Regime, denen sie vorhalten, Minister stellen. Die Bildung der Einheitsre- dass sie die Palästinenser in all den gierung unter Führung der Hamas wurde je- Jahren alleingelassen haben.”5 doch nicht nur von Israel, sondern auch von den USA und den Staaten der Europäischen Für die nahe Zukunft wird vor allem die Ab- Union scharf kritisiert und abgelehnt. Als Re- stimmung im Sicherheitsrat und in der Gene- aktionen darauf folgten die Einstellung der ralversammlung eine wichtige Rolle spielen Zahlungen von Hilfs- und Entwicklungsgel- und könnte die Protestbewegungen deutlich dern sowie internationale Finanzsanktionen, anfachen. wodurch die wirtschaftliche Lage deutlich ver- schärft wurde. III. Akteure des Wandels und konkrete Auslöser Eine längerfristige Existenz war der Einheits- regierung jedoch ohnehin nicht beschieden. Bis zum Beginn der Massendemonstrationen Die Regierung wurde bereits am 14. Juni in Tunesien waren es bis auf wenige Ausnah- 2007 aufgelöst. Palästinenserpräsident Mah- men die Palästinenser, die vor allem in der Er- moud Abbas hob in der Folge am 17. Juni sten und Zweiten Intifada durch gewaltfreien 2007 eine Notstandsregierung unter Führung und später auch massiven gewaltsamen Pro-

5 Cook, Jonathan: Palästina: Revolte zur Aussöhnung, Le Monde diplomatique, http://www.monde-diplo- matique.de/pm/2011/05/13.mondeText.artikel,a0010.idx,1, abgerufen am 21.08.2011.

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test ihren Willen nach einem Wandel zum das Territorium der palästinensischen Gebiete Ausdruck brachten. Während des „Arabi- selbst. Auch die palästinensischen Flüchtlinge schen Frühlings“ sind die Palästinenser er- machten vor allem durch mehrheitlich friedli- staunlicher Weise nur sehr kurzzeitig in den che Protestmärsche an den Grenzen des Li- Fokus des Geschehnisse geraten und konn- banon und Syriens zu Israel auf ihre Situation ten die Dynamik der regionalen Entwicklun- aufmerksam und erinnerten an die Besetzung gen bisher nicht für ihre Interessen nutzen. des Westjordanlandes, Gazas und Ostjerusa- lems durch Israel im Zuge des Sechs-Tage- Dennoch gab es sowohl im Westjordanland Krieges im Jahre 1967. Sowohl am 15. Mai und Gaza Demonstrationen, an denen sich als auch am 5. Juni versammelten sich pa- Hunderte und mitunter Tausende Palästinen- lästinensische Demonstranten nahe der ser beteiligten. Am 15. März 2011 rief eine Grenze zu Israel. Bei dem teilweise geglück- Gruppe von jungen palästinensischen Stu- ten Versuch, die Grenze zu überwinden, denten zu Massenprotesten auf und brachte kamen mehrere Palästinenser ums Leben, als mehrere Tausend Jugendliche auf die Straße, israelische Soldaten das Feuer eröffneten. um ein Ende der Spaltung von Hamas und Zudem wurden zahlreiche Palästinenser ver- Fatah, die die palästinensische Politik lähmt, letzt. Entgegen israelischer Stellungnahmen zu fordern. Aus diesen Protesten ist die Be- handelt es sich im Besonderen bei der wegung des 15. März hervorgegangen, die Grenze zu Syrien nicht um eine stark be- mit friedlichen Mitteln die eigene Situation zu wachte Verteidigungslinie, sondern lediglich verändern sucht. Größere Demonstration fan- um eine lose Befestigung. Die Opfer des den zudem am 15. Mai, dem so genannten Grenzübertritts waren somit auch eine Folge „Nakba-Tag“6 und am 5. Juni, dem Beginn des der israelischen Überforderung, mit dem fried- Sechs-Tage-Krieges (dem so genannten lichen Protest im Grenzgebiet umzugehen. „Naksa-Tag“), statt. Vor allem in den Abend- Erst in der Folgezeit der ersten über das Inter- stunden eskalierte die Lage in einigen Sei- net arrangierten Demonstrationen wurde die tenstraßen nahe des israelischen israelische Armee auch an den Grenzen mit Kontrollpunkts in dem Flüchtlingslager Qal- Tränengas und Gummigeschossen ausge- andiya. Auch in anderen Städten des West- rüstet. Insgesamt forderten die Proteste etwa jordanlandes, wie Bethlehem, Nablus und 15 Todesopfer. Hebron gingen einige Hundert Menschen auf die Straße. Der Protest zielte allerdings weni- Entgegen der Demonstrationen in Nordafrika ger auf die Ablösung der amtierenden Regie- sowie anderen arabischen Staaten richteten rung ab, obwohl diese auf umstrittener sich die Forderungen der palästinensischen rechtlicher Basis und eingeschränkter demo- Flüchtlinge nur indirekt an die eigene politi- kratischer Legitimation fußt, sondern vielmehr sche Führung in Form der PLO, PNA und auf die Überwindung der Spaltung der paläs- Hamas, sondern in erster Linie auf die Lösung tinensischen Parteien und ein Ende des Be- der palästinensischen Frage und die Beendi- satzungszustandes. gung des Besatzungszustandes. Allerdings verspüren die Palästinenser auch eine stei- Während in den größeren Städten im West- gende Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Füh- jordanland meist nur ein paar Tausend De- rung, da diese in der Frage der Lösung des monstranten ihren Unmut öffentlich zum Konflikts mit Israel keine Erfolge vorzuweisen Ausdruck brachten, sind in Gaza immerhin bis hat. zu 15.000 Menschen auf die Straße gegan- gen, um das Ende der Spaltung zwischen IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- Hamas und Fatah sowie ein Ende der Gaza- lings“ Blockade zu fordern. Weiterhin standen Soli- daritätsbekundungen mit den Protesten in Wie bereits kurz ausgeführt wurde, konnten Ägypten sowie der Protest gegen das Vorge- die Palästinenser die Dynamik des „Arabi- hen des syrischen Regimes gegen die De- schen Frühlings“ bisher nicht für ihre Interes- monstranten auf der Agenda. Die meist über sen nutzen. Vielmehr scheint es, als wenn der Internetplattformen wie Facebook oder Twit- Fokus der Weltöffentlichkeit weiter von dem ter arrangierten Kundgebungen wurden je- eigentlichen Kernkonflikt des Nahen Ostens doch von den Sicherheitskräften zügig abgerückt ist. Dies mag zum einen mit der eingeschränkt oder gänzlich aufgelöst. Der mehrheitlich auf friedlichen Protest ausge- Protest konzentrierte sich jedoch nicht nur auf richteten Politik sowie den politischen Prio-

6 Hierbei wurden mehrere Hunderttausend Palästinenser am Tag nach der Gründung des Staates Israel aus ihren Dörfern vertrieben. Die Flüchtlingsfrage ist auch heute noch ein wichtiges Thema im Rahmen der Suche nach einer Lösung des Konfliktes mit Israel.

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ritäten, die Palästinenserpräsident Abbas und eigene Bevölkerung. In mehreren Demon- Premierminister Fayyad selbst gesetzt haben, strationen forderten Palästinenser ein Ende auf der anderen Seite aber auch mit der feh- der Gewalt in Syrien, die jedoch von den Si- lenden Geschlossenheit der Palästinenser, cherheitskräften der Hamas teils gewaltsam zusammenhängen. beendet worden sind.

Allerdings wirkt sich die Dynamik der aktuel- Während die Situation in Syrien weiterhin un- len Entwicklungen in der Region auch auf die klar bleibt, hat der Sturz des früheren ägypti- palästinensische Öffentlichkeit und deren po- schen Präsidenten Mubarak für die litische Repräsentanten aus. Der Sturz des Palästinenser in Gaza durchaus weitere posi- früheren ägyptischen Präsidenten Hosni Mu- tive Auswirkungen, wenngleich die Langzeit- barak sowie die Proteste in Syrien setzen die folgen noch nicht gänzlich abzuschätzen sind. palästinensische Führung sowohl im West- Am 29. Mai 2011 verkündete die neue Über- jordanland als auch im Gaza-Streifen unter gangsregierung in Kairo die Öffnung des Druck, da wichtige politische Verbündete Grenzübergangs in Rafah für bestimmte Per- straucheln bzw. – wie im Falle Mubaraks – be- sonengruppen. Die Schließung des Grenz- reits zum Rücktritt gezwungen wurden. Lange übergangs zum Gaza-Streifen in Jahre konnte Palästinenserpräsident Abbas Übereinstimmung mit der israelischen Blo- auf die politische Unterstützung Mubaraks, ckade des von der Hamas kontrollierten pa- u.a. in der Auseinandersetzung mit der lästinensischen Gebietes war in Ägypten Hamas zählen. Während der Sturz Mubaraks bereits unter Mubarak sehr unpopulär gewe- in Gaza gefeiert wurde, reagierte man im sen. Nach dem Sturz des früheren Präsiden- Westjordanland verständlicherweise mit ge- ten nahm der öffentliche Druck, den mischten Gefühlen. In der Bevölkerung domi- Grenzübergang zu öffnen und den Warenver- nierte die Freude mit dem ägyptischen Volk, in kehr für bestimmte Güter wieder aufzuneh- der Hoffnung, dass der Erfolg auf die palästi- men, um die Lebenssituation der nensischen Gebiete ausstrahlen könnte, wäh- Palästinenser zu verbessern, deutlich zu. Die rend auf politischer Seite ein wichtiger Öffnung gilt jedoch nur für den Personenver- Verbündeter verloren ging und langfristig eine kehr und in erster Linie für Frauen sowie Kin- Stärkung der Muslimbruderschaft befürchtet dern unter 18 Jahren. Männer im Alter von 18 wird. bis 40 Jahren benötigen hingegen ein Visum für die Einreise nach Ägypten. Auf diese In Gaza verhält sich die Situation mit Blick auf Weise soll der Grenzübertritt von militanten die syrischen Proteste ähnlich, schließlich ge- Palästinensern unter allen Umständen ver- hört das Regime Assads zu einem der wich- hindert werden, wie die Übergangsregierung tigsten Unterstützer der Hamas. Die in Kairo verkündete. Der Warenverkehr ver- konkreten bisherigen Auswirkungen sind noch läuft hingegen weiter über die israelischen sehr schwer abzuschätzen, allerdings scheint Kontrollpunkte. Gerade die israelische Regie- die Hamas, deren Exilführung mit Chaled Me- rung befürchtet im Zuge der Öffnung eine Zu- schal in Damaskus sitzt, von der Stabilität der nahme des Waffenschmuggels, der zu einer Lage nicht überzeugt zu sein und erwägt be- erneuten Intensivierung des Konflikts im reits neue Optionen hinsichtlich der künftigen Süden Israels führen könne. Für die Hamas politischen Zusammenarbeit. In diesem Zu- selbst dürfte die Bilanz der Öffnung des sammenhang wird der Wechsel in der politi- Grenzübergangs gemischt ausfallen, da diese schen Führung Ägyptens von Seiten der mit dem Warenschmuggel durch die unter der Hamas begrüßt. Zudem setzt die Hamas auf Grenze verlaufenden Tunnel eine wichtige eine Stärkung der Muslimbruderschaft, deren Einnahmequelle besitzt, die nun an Bedeu- Ableger sie ist und in der sie einen potentiell tung verlieren dürfte. mächtigen Verbündeten in Ägypten hat. Der öffentliche Druck im Nachbarland, die palästi- Obwohl der „Arabische Frühling“ bisher keine nensische Frage entschiedener zu unterstüt- allzu weit reichenden Veränderungen in den zen, spielt zudem eine zunehmend wichtige palästinensischen Gebieten auszulösen ver- Rolle. In der palästinensischen Bevölkerung mochte, zeichneten sich recht frühzeitig indi- in Gaza (und auch dem Westjordanland) regt rekte Folgen ab, die in das sich der Unmut gegenüber dem gewaltsamen Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Vorgehen des syrischen Regimes gegen die Hamas, das am 4. Mai 2011 in Kairo unter-

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zeichnet wurde, mündeten. Dieses Abkom- heitsregierung und der Vorbereitung zur men stellt eine Reaktion der quasi-staatlichen Durchführung von Präsidentschaftswahlen Akteure in Reaktion auf die regionalen Ereig- sowie Wahlen zum Palästinensischen Legis- nisse und die Demonstrationen in den paläs- lativrat und dem Palästinensischen National- tinensischen Gebieten selbst dar. Der rat. Entgegen früherer Überlegungen sollen Gegenstand und die Hintergründe des Ab- die Mitglieder der Wahlkommission, die Rich- kommens werden im folgenden Kapitel näher ter des Wahlgerichtshofes und des Hohen Si- beleuchtet. cherheitsausschusses in beiderseitigem Einverständnis gewählt werden. Konkrete V. Reaktion staatlicher Akteure Vereinbarungen, wie die neue Übergangsre- gierung gebildet werden soll, wurden über die Sowohl Hamas als auch Fatah waren darum Aussage hinaus, dass diese sowohl aus un- bemüht, die Demonstrationen im Gaza-Strei- abhängigen Politikern und Technokraten be- fen und Westjordanland sowohl räumlich als stehen solle, nicht getroffen. Die auch zeitlich zu begrenzen, wenngleich die angekündigten Wahlen sollen nun innerhalb meisten Proteste nicht von vornherein unter- eines Jahres durchgeführt werden, wobei ein drückt worden sind. Allerdings zeigten sich wesentlicher Teil der Beobachter diesen Zeit- beide Gruppierungen sehr skeptisch gegenü- plan als schwer realisierbar einschätzt. Erste ber Ankündigungen von Demonstrationen an Diskussionen rief bereits die Frage nach dem der israelischen Grenze am 5. Juni 2011, da künftigen palästinensischen Ministerpräsi- die Beziehungen zu Israel nicht weiter belas- denten hervor. Während die Fatah unbeirrt an tet werden sollten. Vor allem in den Abend- Salam Fayyad festhält, drängt die Hamas auf stunden, wenn internationale Journalisten dessen Ablösung, wohl auch um bei der Ver- nicht mehr anwesend waren, kam es zu Ver- gabe weiterer wesentlicher Ministerien Zuge- haftungen, und Demonstrationen wurden auf- ständnisse erlangen zu können. Fayyad gelöst. genießt international eine hohe Reputation und seine Ablösung hätte sicherlich nicht zu Einer der wichtigsten Forderungen der paläs- unterschätzende Auswirkungen auf die Ver- tinensischen Bevölkerung sind Hamas und gabe internationaler Hilfsgelder und die Über- Fatah bisher zumindest formal nachgekom- weisung von Steuergeldern von israelischer men. Am 4. Mai 2011 wurde in Kairo das Ver- Seite an die Palästinensische Autonomiebe- söhnungsabkommen zwischen den hörde, die derzeit ohnehin große finanzielle rivalisierenden palästinensischen Gruppie- Herausforderungen zu bewältigen hat. Ein ge- rungen unterzeichnet und beendete damit nereller Wandel in der Wahrnehmung der je- den seit 2006/2007 teils gewaltsamen Konflikt weils anderen Partei hat dabei nicht zwischen Fatah und Hamas. Das Abkommen stattgefunden. war im Wesentlichen eine Reaktion auf den steigenden öffentlichen Druck und die regio- „Neither Fatah nor Hamas changed its nalen Ereignisse. Zudem bedeutet dieser views of the other, and their mutual Schritt einen ersten wichtigen außenpoliti- mistrust did not somehow evaporate. schen Erfolg für die neue Übergangsregie- Rather, the accord was yet another un- rung in Ägypten. Die internationalen predictable manifestation of the Arab Reaktionen waren sehr verhalten, wenngleich Spring. To an extent, it sensitised the das Abkommen nicht wie im Falle der Bildung two movements to the importance of der Einheitsregierung von Hamas und Fatah public opinion which, among Palestini- im Jahre 2007 sofort zurückgewiesen wurde. ans, firmly favoured unity. Instead, what Vielmehr zeigten sich die internationalen Ak- made the difference were the strategic teure vorsichtig und zurückhaltend. Diese Zu- shifts produced by the Arab uprisings.”7 rückhaltung ist mit Blick auf das Vereinbarte auch vollkommen angemessen, da die kon- Obwohl es sich bei der Einigung von Hamas krete Ausgestaltung und Umsetzung des Ab- und Fatah nicht um eine „Liebesheirat“ han- kommens noch ungewiss sind. delt, bietet diese jedoch eine Grundlage für weitere Gespräche. Die kommenden Monate Die Vereinbarungen beinhalteten vor allem werden dabei zeigen, wie ernst beide Grup- Absichtserklärungen hinsichtlich der Vorge- pierungen an einer Versöhnung interessiert hensweise zur Bildung einer nationalen Ein- sind und ob es regionalen und internationa-

7 International Crisis Group: Palestinian Reconciliation: Plus Ça Change…, S. 1.

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len Akteuren gelingt, diesen Prozess positiv massive Demonstrationen der eigenen Be- zu begleiten. völkerung fürchten müsste. Selbst wenn der Antrag auf Vollmitgliedschaft die Zustimmung VI. Zukunftsszenarien des UN-Sicherheitsrates und der Generalver- sammlung erfahren würde, so stellt sich die Ein Szenario für die kurz- bis mittelfristige Ent- Frage, welche konkreten Veränderungen dies wicklung in den palästinensischen Gebieten für die palästinensischen Gebiete mit sich zu zeichnen, hängt von mehreren entschei- bringen würde. In erster Linie würde wohl der denden Faktoren ab. Einen wesentlichen Ein- internationale Druck auf Israel zunehmen: fluss wird dabei der Ausgang der Abstimmung über die Anerkennung Palästinas als Staat in „Dann nämlich, so würden wohl viele den Vereinten Nationen haben. Die Erwar- argumentieren, würden die israelischen tungen der Palästinenser hinsichtlich dieser Streitkräfte illegal einen ganzen souve- Abstimmung sind sehr hoch, da die direkten ränen Staat besetzen – nicht nur einen Verhandlungen mit Israel, denen zumindest Teil eines Staates, wie im Fall der theoretisch immer noch die Priorität einge- Golan-Höhen.“8 räumt wird, mittlerweile seit Monaten stillste- hen. Mit der Entscheidung, die Frage eines Die Grundkonstanten des Konfliktes blieben künftigen palästinensischen Staates in den aber vorhanden, wobei weitere Verhandlun- Vereinten Nationen zu diskutieren, streben gen zur Lösung dieser noch schwieriger zu Abbas und Fayyad eine Internationalisierung werden drohen. Ein anhaltender Stillstand des Konfliktes an. Der Ausgang der Abstim- trotz der Anerkennung als Staat dürfte zudem mung ist bisher noch offen, da bis zum jetzi- in der palästinensischen Bevölkerung zur gen Zeitpunkt nicht klar ist, welchen Status Steigerung des Unmutes führen, wodurch ein die Palästinenser tatsächlich erreichen wol- Rückschritt hin zu gewaltsamen Maßnahmen len. Einem Antrag auf Vollmitgliedschaft wer- nicht auszuschließen ist, um den Besat- den derzeit aber nicht allzu große Chancen zungszustand zu beenden. Der Schritt vor die auf Erfolg eingeräumt, da ein solcher an den Vereinten Nationen setzt vor allem Israel, die UN-Sicherheitsrat weitergeleitet werden müs- Vereinigten Staaten und die EU stark unter ste. In einem solchen Falle haben die USA Druck, führt aber im Ganzen gesehen unab- bereits angekündigt, ihr Veto einzulegen und hängig vom Ausgang der Abstimmung in den darüber hinaus mit der Kürzung von Hilfsgel- jeweiligen Gremien, die abhängig von der dern gedroht. Die Europäische Union ist der- Formulierung des Antrages zu entscheiden zeit noch uneins über die gemeinsame haben, nicht automatisch zur Lösung des Position, die gerade noch abgestimmt wird. Konfliktes und der Etablierung einer funktio- Neben einem Antrag auf Vollmitgliedschaft nierenden Zwei-Staaten-Lösung. Insofern bil- steht den Palästinensern noch ein anderer det die Abstimmung eine zusätzliche Weg offen, der zumindest eine Aufwertung Unbekannte für die kommenden Monate, da des bisherigen Status und die Möglichkeit des weitere Demonstrationen bis hin zu gewalt- Antrages auf Aufnahme in weitere internatio- samen Ausschreitungen als nicht unwahr- nale Organisationen ermöglichen würde. Die- scheinlich angesehen werden. sen Status als non-member state hat bis heute auch der Vatikan und bis zum Jahre Die künftige Entwicklung in den palästinensi- 2002 die Schweiz inne. Ein solcher Antrag schen Gebieten sollte aber nicht einseitig von würde auch eine Entscheidung des UN-Si- der Entscheidung in den Gremien der Verein- cherheitsrates obsolet machen, da eine De- ten Nationen abhängig gemacht werden. Wei- facto-Anerkennung in der General- tere wichtige Einflussfaktoren sind vor allem versammlung ausreicht. die weiteren Schritte zur Aussöhnung zwi- schen Fatah und Hamas sowie die erfolgrei- Insgesamt sind die Erwartungen der Palästi- che Durchführung von Wahlen binnen nenser an diese Abstimmung sehr hoch, nach Jahresfrist, um eine weitere divergente Ent- dem führende Politiker im Westjordanland wicklung zwischen Gaza-Streifen und West- den Gang vor die Vereinten Nationen als Aus- jordanland zu verhindern. Insofern liegt die weg aus dem Stillstand der direkten Ver- Hauptverantwortung weiter bei den politi- handlungen mit Israel anpriesen. Insofern ist schen Führern von Fatah und Hamas auf der ein Rückzug von dieser Entscheidung für einen sowie Israels und der internationalen Abbas keine wirkliche Option mehr, da er Gemeinschaft auf der anderen Seite. Die Ab-

8 Rid, Thomas: Palästina, und was dann? Internationale Politik, http://www.internationalepolitik.de/wp-con- tent/uploads/2011/05/5_2011_Rid-Palaestina.pdf , abgerufen am 26.07.2011, S. 2.

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stimmung in den Vereinten Nationen kann passieren, so sind weitere Demonstrationen, den Palästinensern helfen, den Druck auf Is- die sich dann verstärkt auch gegen die eige- rael zu erhöhen und einen höheren Status in nen Repräsentanten richten, wohl nicht zu der UN zu erreichen. Verhandlungen und die vermeiden. Die Palästinenser spüren natür- Suche nach einer für alle Seiten akzeptablen lich die Dynamik der Region und es wäre wohl Konfliktlösung kann diese nicht ersetzen. nur eine Frage der Zeit, bis sie diese auch für Zentral wird dabei sein, ob es den politischen die eigenen Interessen zu nutzen beginnen. Führungspersonen gelingt, das palästinensi- sche Volk in ihre Überlegungen und Vor- Matthias Canzler schläge einzubeziehen. Sollte dies nicht

VII. Literaturangaben

ALPHER, YOSSI: Palästina? Ja bitte! Warum eine UN-Anerkennung Israel nutzen könnte, Internationale Politik, http://www.internationalepolitik.de/2011/06/24/palastina-ja-bitte/, abgerufen am 26.07.2011.

BRÖNING, MICHAEL: The Politics of Change in Palestine. State-Building and Non-Violent Resistance, New York 2011.

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Deutsches Orient-Institut 125 Saudi-Arabien

Landesdaten Saudi-Arabien Fläche1 2011 2.149.690 km² Bevölkerung2 2011 27,89 Mio. Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 12,3 Ethnische Gruppen 2010 90% Araber, 10% Asiaten und Afrikaner 73% wahhabitisch-sunnitischer Islam, Religionszugehörigkeit 2010 12% sunnitischer Islam, 10-15% schiitischer Islam Durchschnittsalter3 2010 25,3 Bevölkerung unter 15 Jahren4 2011 31% Bevölkerung über 65 Jahren5 2011 3% Lebenserwartung6 2010 73,3 Bevölkerungsprognose bis 20507 2011 43.700.000 Geburten pro Frau8 2009 3,0 Alphabetisierungsrate9 2010 85% Mobiltelefone10 2009 44,86 Mio. Nutzer Internet11 2009 11,40 Mio. Nutzer Facebook12 2011 4,034 Mio. Wachstum BIP13 2011 7,5% BIP pro Kopf 14 2010 24.208 USD Arbeitslosigkeit15 2010 10,8% Inflation16 2011 6,0% S&P-Rating17 2011 AA- Human Development Index18 2010 Rang 55 (von 169) Bildungsniveau19 2010 Rang 78 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 50,3% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)20 Politische Teilhabe21 2010 3,8% Korruptionsindex22 2010 Rang 50 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 3 CIA – The World Factbook. 4 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 5 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 6 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www..hdr.undp.org/en/data/profiles/ 7 World Bank, Population Growth Rate, Middle East and North Africa, http://www.worldbank.org/depweb/english/mod- ules/social/pgr/datamide.html. 8 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 9 CIA – The World Factbook. 10 CIA – The World Factbook. 11 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 12 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 13 The World Bank GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; In- ternational Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www..imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 14 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Develop- ment Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 15 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 16 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/exter- nal/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 17 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/sovereigns/ratings- list/en/us?sectorName=null&subSectorCode=39&filter=S. 18 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 19 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/gover- nance/wgi/sc_chart.asp. 22 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_in- dices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 126 Saudi-Arabien

Saudi-Arabien len waren. All dies ließ Ibn Abd al-Wahhab schnell zum Außenseiter in einer tribal und fa- audi-Arabien gilt als weitgehend sta- miliär geprägten Beduinengesellschaft wer- bil, aber auch im ressourcenreichen den. Seine Lehren wurden beargwöhnt, er SKönigreich existieren Spannungen galt als Radikaler, der grundlos den Status und innere Konfliktlinien, die das Königs- quo ändern wollte. Er benötigte Unterstützer haus vor Herausforderungen stellen. Der- und fand mit dem Herrscher einer kleinen zeit geriert sich Saudi-Arabien als Vorreiter Oase, Muhammad Ibn Saud, einen strategi- der islamisch-konservativen, anti-revolu- schen Partner, der ihn politisch und militärisch tionären Strömung. unterstützte. Gleichzeitig erhielt Ibn Saud re- ligiöse und ideologische Legitimation für seine I. Politisches System und gesellschaftli- Eroberungszüge, sodass eine religiös-weltli- che Entwicklungen che Win-Win-Situation entstand: Innerhalb weniger Jahre wurden der Najd und der Hijaz Saudi-Arabien wird bis heute geprägt durch erobert und 1805 fielen die beiden Heiligen das quasi-symbiotische Bündnis zwischen Stätten Mekka und Medina in die Hände der dem saudischen Königshaus, der Al Saud, wahhabitisch-saudischen Eroberer. Dies er- und den ulama, den wahhabitischen Reli- höhte sprunghaft ihren politischen sowie reli- gionsgelehrten. Diese Allianz geht zurück auf giösen Einfluss. den Pakt zweier Männer aus dem Jahr 1744/45 in einer abgelegenen Oase der heu- Trotzdem geriet die Allianz immer wieder tigen saudischen Provinz Najd. Einer dieser unter enormen Druck: In- und externe Rivalen Männer, Muhammad Ibn Abd al-Wahhab war bedrohten die Herrschaft der Familie Al Saud, seinerzeit ein puristischer, streng konservati- sodass sie ihren Machtbereich mehrmals auf- ver aber eher unbedeutender Pre-diger, der geben mussten. Der erste saudische Staat die Gesellschaft, in der er lebte, als unisla- (1744/45-1818) wurde ebenso zerschlagen misch, verdorben, sündhaft und unmoralisch wie dessen Nachfolger (1824-1891). Doch wahrnahm. Er predigte einen orthodoxen, obwohl es schien, als bliebe die saudisch- konservativen und überaus exklusiven Islam, wahhabitische Allianz nur eine Randnotiz der der sich nicht nur gegen Nichtmuslime ab- arabischen Geschichte, gelang es einem grenzte, sondern alle als „ungläubig“ denun- Nachkommen Muhammads, Abdulaziz bin zierte, die der strengen Auslegung der Saud, Anfang des 20. Jahrhunderts mit weni- Wahhabiya, wie die Islamauslegung nach Abd gen Mitstreitern Riad zu erobern. Es folgten al-Wahhab genannt wird, nicht folgten, sie der Hijaz, 1925 auch Mekka und Medina. missachteten oder ablehnten. Seine strengen Doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern Lehren verboten Musik und Tanz ebenso wie konnte der neue Herrscher diesmal seinen die Verehrung islamischer Heiliger an Grä- Einflussbereich konsolidieren: Anstatt die Ex- bern oder Gedenkstätten. Stattdessen for- pansion zu überdehnen ging er schrittweise derte er die vollkommene Hinwendung zu vor, knüpfte Interessensnetzwerke mit den lo- Gott, proklamierte die Frühzeit des Islams und kalen Händlern und stützte sich weiterhin auf das Leben des Propheten Muhammads als die religiöse Legitimationsbasis der Wahhabi- nachahmungspflichtig und lehnte die Lebens- ten. Gleichzeitig versuchte er, die mächtigen weise seiner Umgebung als „apostatisch“, Beduinenstämme zu kontrollieren und in die „unmoralisch“ und „verdorben“ ab. Ziel seiner Sesshaftigkeit zu zwingen.1 Mission war es, die Abtrünnigen auf den rech- ten Weg zurückzuführen, sie von ihren Sün- Die Macht lag bei den Beduinen; die unter- den zu reinigen. warf Ibn Saud, indem er sie in seine Allianz in- tegrierte, ihnen militärische Befugnisse Die „Einheit Gottes“ (arabisch: tawhid) wurde erteilte und sie so zur schlagkräftigsten Er- zu seinem ideologischen Dogma, die radikale oberungstruppe Ibn Sauds aufstiegen. Diese Ablehnung von polytheistischen Tendenzen Beduinenverbände, Ikhwan genannt (ara- (arabisch: shirk) folgte als Konsequenz. Seine bisch für: „Brüder im Geiste“), siedelten sich in Lehre griff vor allem die Schiiten an, die seiner so genannten hujar (Singular: hijra) an.2 Von Meinung nach vom rechten Glauben abgefal- diesen hujar operierten die Ikhwan als militä-

1 Die arabische Halbinsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dominiert von einflussreichen tribalen Verbänden, die als Nomaden Land- und Viehwirtschaft sowie Ackerbau betrieben. Urbane Zentren exis- tierten kaum, das heutige Saudi-Arabien lag damals an der verlassenen Peripherie des Osmanischen Reiches. Während Städte wie Kairo oder Istanbul zu modernen Metropolen heranwuchsen, blieb Riad bis weit in die 1950er Jahre hinein ein eher verschlafenes Wüstendorf. 2 Die Namensgebung dieser Siedlungen erinnerte bewusst an den Auszug des Propheten Muhammads von Mekka nach Medina im Jahr 622, welches den Beginn der islamischen Zeitrechnung markiert. 127 Deutsches Orient-Institut Saudi-Arabien

rische „Sondereinheiten“ und unterstanden nigreich bedrohenden Irak und das Miss- dem direkten Befehl Ibn Sauds. Ihre brutale trauen in das eigene Militär führten zu dieser Vehemenz wurde legendär, sie galten als fa- Entscheidung, die für viele religiöse Gelehrte natische Gotteskrieger, die im Namen des inakzeptabel war. Saudi-Arabien als „Füh- Wahhabismus „Ungläubige“ verfolgten. Dann rungsmacht“ der weltweiten sunnitisch-musli- drangen die Ikhwan jedoch auf transjordani- mischen Gemeinde, als „Hüter der beiden sches und damit britisches Mandatsgebiet vor Heiligen Stätten“ Mekka und Medina dürfe – eine Situation, die die fragile innere Stabi- keine „ungläubigen Fremden“ zum Schutz lität des jungen saudischen Staates bedrohte. stationieren, so die Kritik. Was folgte, war ein Ibn Saud musste aus realpolitischen Gründen Musterbeispiel für die gegenseitige Abhängig- den Ikhwan Einhalt gebieten, obwohl er ihre keit des Königshauses und der hochrangigen Motive bis zu einem gewissen Grad nachvoll- wahhabitischen Gelehrten: Der engste Zirkel ziehen konnte. Als politischer Akteur stellte er der wahhabitischen ulama verfasste eine die Sicherheit und Stabilität seiner Territorien Fatwa, die die Anwesenheit von US-amerika- aber über die ideologisch-religiöse Erobe- nischen Truppen legitimierte. Erneut hatte rung. In der Schlacht von Sabila 1929 ließ er sich realpolitisches Kalkül gegenüber religiö- die Ikhwan daraufhin zerschlagen; sie hatten sen Argumenten durchgesetzt. ihren Zweck erfüllt und wurden nicht länger gebraucht. Während so die Bedeutung des Königshau- ses in den letzten Jahrzehnten deutlich an- Dieses historische Beispiel zeigt deutlich, wie stieg, verringerte sich gleichzeitig der Einfluss funktional das saudisch-wahhabitische Bünd- der Religionsgelehrten, sodass sie oftmals als nis handelt und wie transformations- und willfährige Erfüllungsgehilfen der Al Saud überlebensfähig es sich geriert: Religion wird bezeichnet werden. Gleichzeitig ist das Kö- für die Al Saud dann zum Mittel zum Zweck, nigshaus weiterhin auf die religiöse Rücken- wenn sie sich für politische, oftmals pragma- deckung angewiesen, sodass sich ein tische Absichten einsetzen lässt. Die spezielles, verworrenes und intransparentes Instrumentalisierung der Ikhwan, ihre wahha- Beziehungsgeflecht entwickelt hat, das darauf bitische Indoktrinierung und die abschlie- beruht, ohne einander die eigene Machtposi- ßende Zerschlagung können als Muster, als tion nicht behaupten zu können. eine Art Blaupause gelten, wie eng, aber auch ambivalent wahhabitischer Glauben und sau- Und so hat die Allianz aus Al Saud und ulama dische Politik miteinander koalieren oder kol- bis heute als Bollwerk gegen äußere und in- lidieren. Exemplarisch für die Geschichte des nere, religiöse und weltliche, radikale und ge- modernen Saudi-Arabiens ist auch das Er- mäßigte Kritik und Opposition überdauert und gebnis dieses Konflikts: Ibn Saud setzte seine sich immer wieder neu erfunden. Die Flexibi- Interessen durch, obsiegte über den religiö- lität bei realpolitischen Erwägungen und das sen Eifer und die ideologischen Motive. Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit haben zu einer Stabilität des politischen Sys- Wie damals, kam es in den letzten 80 Jahren tems geführt, dass auch in Zeiten des „Arabi- der saudischen Geschichte immer wieder zu schen Frühlings” bislang nur marginal unter Spannungen, sogar zu existenziellen Ausein- Druck geraten ist. andersetzungen zwischen der religiösen Elite und dem Königshaus, sodass diese Allianz Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie, keineswegs als harmonische Einheit gesehen und die Königsfamilie, bestehend aus 5.000- werden kann. Allerdings: Am Ende jedes Kon- 8.000 Mitgliedern, kontrolliert die politischen flikts wurde ein Kompromiss gefunden, der und wirtschaftlichen Geschicke. Ihr Einfluss einerseits die religiöse Autorität der ulama reicht in jede entlegene Region des Landes, weitgehend bewahrte, bei dem andererseits die wichtigsten Positionen in Staatsverwal- aber das Königshaus seine politischen Ziele tung, Erziehungs- und Bildungswesen, Si- durchsetzte. Dies galt vor allem für die innen- cherheitsapparat, Wirtschaft und Kultur politisch äußerst brisante und kontrovers dis- werden durch Prinzen der Al Saud besetzt. kutierte Stationierung von US-Truppen auf Kurz: Der saudische Staat wird als Familien- saudi-arabischem Territorium während der In- unternehmen geführt. Der König, seit 2005 vasion Kuwaits durch den von Saddam Hus- Abdullah bin Abd al-Aziz Al Saud, ist die wich- sein regierten Irak 1990. Sicherheitskalkül, tigste und höchste Autorität des Staates und das Bedrohungsszenario durch den das Kö- der Patriarch. Legislative, Exekutive und Judi-

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kative liegen im Verantwortungsbereich des erzielt. 70% der gesamten Staatsteinnahmen Monarchen. Seine Aufgabe ist es, inneren generieren sich durch das Erdöl. Als Folge Frieden zu sichern, die nationale Einheit konnte der saudische Staat seinen Unterta- anzustreben, Konflikte zu lösen und zu nen kostenlos weit reichende Sozialleistun- vermeiden. gen zur Verfügung stellen. Als „Rentierstaat“ klassischer Prägung vermittelte der Staat Zwar wurden einige Versuche unternommen, jahrzehntelang den Eindruck, diese „Vollkas- die personalisierte Hierarchie zu institutionali- koversorgung“ erfolge quasi selbstverständ- sieren, was zur Einrichtung des Ministerrates lich. Allein zwischen 2001 und 2005 erhöhte (arabisch: Majlis al-Wuzara’) bereits im Jahr sich das BIP pro Kopf von 8.682 USD auf 19533 und des Konsultativrates (arabisch: 13.603 USD und damit fast um das Doppelte. Majlis ash-Shura) 1993 führte4. Aber die reine Im Jahr 2010 liegt es bei 24.208 USD. Hinzu Beratungsfunktion dieser Gremien verändert kamen Steuerbefreiung, freie Wasser- und das Machtgefüge im politischen System nur Stromnutzung, die weitgehende Bereitstel- marginal, da dem König auch weiterhin die lung von Dienstleistungen im Gesundheits- Entscheidungsgewalt zufällt. Doch immerhin oder Bildungsbereich sowie üppige Staatssa- öffnete sich das Königshaus vor allem durch läre. Durch das Öl gelang es Saudi-Arabien, die Gründung des Konsultativrates und ließ sich von einem unbedeutenden Wüstenland andere soziale Akteure am politischen Ent- zu einer prosperierenden, wohlhabenden, scheidungsprozess zumindest pro forma modernen Regionalmacht zu transformieren. partizipieren. Hierbei bleibt der Beratungs- Gleichzeitig erkaufte sich die Al Saud die Zu- charakter evident: „Beratung“ (arabisch: friedenheit der Bevölkerung, indem wirtschaft- shura) gehört als klassisch-islamisches Prin- liche Ressourcen verteilt wurden und der zip zu den religiösen und gesellschaftlichen Wohlstand des Einzelnen kontinuierlich stieg. Traditionen des Landes und spiegelt sich in der partiellen Integration verschiedener Inter- Neben diesen segenreichen Auswirkungen essensgruppen in den politischen Gremien des Ölreichtums zeigte sich jedoch in der Ver- wider. Trotzdem findet hier zwar nicht selten gangenheit immer stärker auch der Fluch des eine lebhafte Debatte statt, demokratische Öls: Immerhin ist Saudi-Arabien wie kein an- Mehrheitsbeschlüsse jedoch nicht. Die end- deres Land der Welt abhängig von den Ölein- gültige Entscheidungsgewalt kommt dem Kö- nahmen und damit auch vom internationalen nig und seinem nahen Umfeld, dem „inneren Ölpreis und dessen zyklischer Entwicklung. Kreis“ zu, der allein engsten Familienangehö- Sinkt der internationale Ölpreis wie in politi- rigen vorbehalten bleibt. Der Aufstieg in die schen oder wirtschaftlichen Krisen, sinken höchsten Positionen des Staates als Nichtmit- auch die Einnahmen für das Königshaus, was glied der saudischen Königsfamilie ist also sich gleichzeitig direkt auf die Versorgungs- nur möglich, wenn man Teil der engen elitären mentalität des Staates und damit auf die Entourage und des Patronagenetzwerks ist, Bevölkerung auswirkt. Dies kann zu Negativ- das sich die Al Saud aufgebaut haben. Diese spiralen führen, die Saudi-Arabiens sozioöko- funktionale Kohärenz kombiniert mit der Alli- nomische Stabilität mit voller Wucht treffen anz mit der religiösen Elite waren bisher zwei können. Darum versucht das saudische Kö- wesentliche Voraussetzungen für die Stabilität nigshaus, in den letzten Jahren seine des Systems. Wirtschaft zu diversifizieren. Milliardeninvesti- tionen in den Bildungssektor, eine umfassend Dritter wesentlicher Aspekt sind die enormen angelegte „Saudisierungskampagne“, der wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen, Ausbau der ölunabhängigen Industrien, eine über die Saudi-Arabien verfügt. Das Land be- vorsichtige Annäherung an Erneuerbare sitzt etwa ein Viertel der weltweiten Rohölre- Energien und Aufklärungskampagnen hin- serven, insgesamt etwa 264 Mrd. Barrel. Dies sichtlich Energieeffizienz sind nur einige Bei- garantiert seit Jahrzehnten Staatseinnahmen spiele für diese Wirtschaftsreformen. Der in Milliardenhöhe. Allein 2010 wurden durch Erfolg steht jedoch noch aus: Das Land bleibt das Öl Einnahmen in Höhe von 165 Mrd. USD auch in Zukunft auf das Öl angewiesen. Das

3 Der Ministerrat wurde von König Abdulaziz gegründet und soll den König beraten sowie politische Richt- linien festlegen. In seiner Eigenschaft als Premierminister sitzt der jeweilige König dem Gremium vor, das aus dem Kronprinzen, dem stellvertretenden Kronprinzen, 22 Fachministern und sieben Staatsministern besteht. Legislative Befugnisse darf der Ministerrat nicht ausüben, er fungiert allein als beratendes Gre- mium. 4 Auch der Konsultativrat darf nur beraten. Er soll dem König mit „gutem Rat“ (arabisch: nasiha) beiseite stehen. Ursprünglich mit 60 Mitgliedern gegründet, umfasst er heute 150. Zu ihnen gehören auch soziale Akteure, die nicht der Königsfamilie angehören, z.B. aus der Regionalverwaltung, der Wirtschaft, Geist- lichkeit und der Administration.

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liegt auch daran, dass weite Teile der Gesell- Großen Moschee in Mekka zur Zeit der Pil- schaft und der politischen Elite die Endlichkeit gerfahrt 1979 durch eine Gruppe um Juhay- des Öls schlichtweg negieren. Immerhin man al-Utaibi, Nachfahre der bereits gehen Prognosen davon aus, dass sich die erwähnten Ikhwan. Mit Waffengewalt ver- Ressourcen in 30 Jahren erschöpft haben schanzte er sich in einer der heiligsten Stätten könnten, doch das scheint in Saudi-Arabien des Islams, forderte die Rückbesinnung auf eine Minderheitenmeinung zu sein: Mindes- den „wahren Islam“, prangerte über Lautspre- tens 100 Jahre reiche das Öl noch, so der all- cher die moralische Verderbtheit, Dekadenz gemeingültige Tenor. Bis dahin könne also und Abhängigkeit vom Westen an und be- alles so bleiben wie bisher. schuldigte den damaligen König Khalid (reg. 1975-1982) der Korruption. Damit rekurrierte Die Gesellschaft Saudi-Arabiens wird dem- er auf die 1929 zerschlagenen Ikhwan-Ver- nach durch diese drei Faktoren bestimmt: bände und proklamierte die Niederkunft des Zum ersten durch die starke Allianz zwischen Mahdis, des endzeitlichen Erlösers, der Königshaus und Religionsgelehrten. Zum Saudi-Arabien von allem Übel befreien zweiten durch die überragende Bedeutung werde.5 Mit Hilfe französischer Spezialeinhei- der Al Saud als omnipräsenter gesellschaft- ten wurde die Besetzung aufgelöst, die licher Akteur in Politik, Kultur und Wirtschaft meisten Geiselnehmer starben beim Verteidi- und zum dritten durch die Abhängigkeit vom gungskampf in den unterirdischen Gewölben Öl. All diese Faktoren dominieren öffentliches der Moschee oder wurden im Nachhinein hin- und privates Leben in vielerlei Aspekten, re- gerichtet. Auch wenn es bei einer historischen geln den Alltag und sind Form der nationalen Episode blieb – für das Königshaus wurde Identität. dieses Ereignis zu einem identitätsbedrohen- den Trauma. Immerhin wurde das sich streng II. Voraussetzungen für den Willen nach religiös gerierende Königshaus zum ersten Wandel Mal mit islamistischer Opposition konfrontiert – und das in dem Jahr der Islamischen Revo- Durch die überragende Bedeutung des Kö- lution in Iran. Was folgte, war die Ausweitung nigshauses erscheint Saudi-Arabiens Gesell- des wahhabitischen Einflusses auf die Ge- schaft von außen als monolithischer Block, sellschaft, die finanzielle, ideologische und lo- der widerspruchslos die Herrschaft der Al gistische Unterstützung von islamistischen Saud akzeptiert. Politische Diskussionskultur, Gruppierungen im Ausland (wie z. B. in Afgha- lebendige Kontroversen oder Fundamental- nistan gegen die Invasion der Sowjetunion) kritik an herrschenden politischen wie sowie intensivere Verteilungspolitik. Saudi- wirtschaftlichen Zuständen scheinen in Saudi- Arabien stellte sich als „Leuchtturm des sun- Arabien nicht zu existieren. Es mutet so an, nitischen Islams“ dar. So wurden 1986 allein als fänden Opposition gegen oder Legitima- 16.000 aller 100.000 Studierenden in Saudi- tionsdruck auf das Königshaus und die beste- Arabien in islamischen Studien ausgebildet, henden Umstände genauso wenig statt. viele zogen nach Afghanistan, um im jihad Stattdessen wird die saudi-arabische Gesell- gegen die „ungläubigen“ Sowjets zu kämpfen schaft als demokratieunfähig, starr, undyna- und schlossen sich dort u. a. Usama bin La- misch und träge wahrgenommen. Die dins Al-Qaida an, was für Saudi-Arabien eine Bevölkerung fordere weder Mitspracherechte, willkommene Möglichkeit war, die aufstre- politische Partizipation noch gesellschaft- bende islamistische Opposition im eigenen lichen Wandel und geistigen Fortschritt. Land loszuwerden.

Jedoch werden diese pauschalisierenden Dies schlug allerdings langfristig fehl, denn Perzeptionen dem vielschichtigen und oftmals Anfang der 1990er Jahre, nach dem Fall der ambivalenten Transformationsprozess inner- Sowjetunion und dem Kriegsende in Afghani- halb der saudi-arabischen Gesellschaft nicht stan, kehrten viele der „arabischen Afghanen“ gerecht. So ist Opposition in Saudi-Arabien in ihr Heimatland zurück und begehrten seit Jahrzehnten integraler Bestandteil der po- gegen das bestehende System auf. Ihre Kritik litischen Kultur – trotz des Parteienverbots, äußerte sich viel radikaler und offener als je- trotz fehlender demokratischer Strukturen, mals zuvor. Vor allem die bereits erwähnte trotz der überragenden Bedeutung des Kö- Stationierung US-amerikanischer Truppen auf nigshauses. Traumatischer Ausbruch dieser saudischem Boden während der Kuwaitkrise oppositionellen Kräfte war die Besetzung der erregte den Unmut der islamistischen Opposi-

5 Das Konzept des Mahdi-Glaubens ist vor allem im schiitischen Glauben populär und provozierte die wah- habitischen, anti-schiitischen Herrscher.

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tion. Der pro-westliche Kurs müsse unterbun- sehenen Klerikern Salman al-Awdha und den werden, die Ungläubigen das Land ver- Safar al-Hawali verlangten sie auch eine Auf- lassen. Ihre Kritik richtete sich nicht nur gegen lösung des starren Bündnisses zwischen der das Königshaus, sondern auch gegen das Al Saud und den ulama. Ohne Gewalt brach- wahhabitische Establishment. Ihrer Meinung ten sie ihre Kritik in Form von Petitionen an nach hätten sich die alten Kleriker vom Staat den König zum Ausdruck, in denen sie ihre korrumpieren und instrumentalisieren lassen. Forderungen respektvoll aber deutlich formu- Zu den Kritikern gehörte auch Usama bin lierten.6 Ihnen gelang es, mit ihren Anliegen Ladin. Doch die Reaktion der ulama orien- eine breite Front von Geistlichen, Konservati- tierte sich am klassischen Muster: Sie kündig- ven, Liberalen und gemäßigten Islamisten zu ten die Allianz mit der Al Saud keineswegs mobilisieren, was dazu führte, dass es dem auf, wie es gefordert worden war, sondern le- Königshaus nicht mehr möglich war, die Kritik gitimierten durch ihre Fatwa die Stationierung zu ignorieren oder die Kritiker zu marginalisie- von US-Truppen auf saudi-arabischem ren. Zwar ließ der König drei der Petitions- Boden. Bin Ladin, längst eine persona non unterzeichner von 2003 verhaften, doch die grata für die saudischen Herrscher, wurde Wucht der innergesellschaftlichen Kritik war daraufhin ausgewiesen. 1994 entzog man zu stark geworden. Immerhin waren die Op- ihm die saudi-arabische Staatsbürgerschaft. positionellen keine Außenseiter der Gesell- schaft, sondern Teil des geistigen und Was folgte, war eine Phase der relativen intellektuellen Establishments und damit ernst Ruhe, die allerdings nach den Anschlägen zu nehmen. Hinzu kam der internationale vom 11. September 2001 in eine ernsthafte Druck auf das Königshaus, endlich politische Bedrohung durch militante Islamisten um- Reformen anzuregen. 15 der 19 Attentäter schlug. Der islamistische Jihadismus Al-Qai- des 11. Septembers 2001 waren saudische das richtete sich auch gegen die Al Saud. Staatsangehörige, Usama bin Ladin in Saudi- Argumentiert wurde ähnlich wie ein Jahrzehnt Arabien geboren. Dies erzeugte ebenso Miss- zuvor: Die Al Saud seien Marionetten der trauen gegen den „Partner“ Saudi-Arabien, Amerikaner, Handlanger des Westens, be- wie die langjährige Unterstützung von islamis- stechlich, verdorben und unislamisch. Vor tischen Gruppierungen auf der ganzen Welt allem in der Zeit zwischen 2003 und 2005 ent- und die intensivierten internationalen Missio- wickelte sich Saudi-Arabien zum Aufmarsch- nierungsmaßnahmen wahhabitischer Predi- gebiet militanter Islamisten. In diesem ger. Insbesondere die USA erhöhten den Zeitraum kam es zu insgesamt 221 Todesop- Druck. Saudi-Arabien galt nun als Unterstüt- fern bei Terroranschlägen – vor allem gegen zer des internationalen Terrorismus, westliche Ausländer. Der saudische Sicher- innenpolitisch forderte eine starke Opposi- heitsapparat reagierte unerbittlich und vertrieb tionsbewegung das Königshaus heraus und die militanten Islamisten weitgehend aus eine Reihe von Anschlägen erschütterte die Saudi-Arabien. Viele fanden neue Rückzugs- Stabilität des Landes. gebiete im benachbarten Jemen. Andere wur- den in Hochsicherheitsgefängnissen interniert König Abdullah reagierte seit seiner Inthroni- oder mussten sich Umerziehungsprogram- sierung 2005 auf die Kritik mit vorsichtigen po- men unterziehen. Bis heute blieb Saudi-Ara- litischen Reformen, die er neben einer bien von weiteren größeren Terroranschlägen wirtschaftlichen Liberalisierung und Öffnung verschont. umsetzen ließ. Ausdruck dieser Reformbemü- hungen war die Einrichtung des „Nationalen Daneben entwickelten sich auch andere, ge- Dialogforums“ (arabisch: liqa’ al-hiwar al-wat- mäßigte Formen der Kritik, die Einfluss auf ani), das seit 2003 in bislang acht Sitzungen politische Entscheidungen und Entwicklungen Vertreter unterschiedlicher sozialer Gruppen nehmen. Dazu zählte vor allem die so ge- zur offenen Diskussion zusammenbrachte. nannte „Erweckungsbewegung“ (arabisch: Al- Ein Forum dieser Art, unter Einbeziehung der Sahwa Al-Islamiya). Seit den 1980er Jahren marginalisierten Schiiten und anderen opposi- forderte sie politische Reformen, eine Institu- tionellen Gruppen sowie Frauen, war für die tionalisierung der Entscheidungsprozesse konservativ-exklusivistische Gesellschaft und gesellschaftliche Öffnung, eine Verfas- Saudi-Arabiens und das reformunwillige Kö- sung, Geschlechtergleichheit und Gewalten- nigshaus revolutionär. Zum ersten Mal konn- teilung. Angeführt von den beiden ange- ten sozial Benachteiligte ihrer Kritik in einem

6 Darunter die Vision for the Present and Future of the Nation im Januar 2003 unterzeichnet von 104 Akade- mikern, Geschäftsleuten und Religionsgelehrten, die Petition In Defense for the Nation aus September 2003 unterzeichnet von 306 Akademikern, Autoren und Geschäftsleuten, darunter 50 Frauen sowie die Petition Partners for One Nation vom 30. April 2004, in der 450 schiitische Unterzeichner das Ende der saudischen Diskriminierungspolitik forderten.

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institutionalisiertem Rahmen Gehör verschaf- bisherige Stabilität mittelfristig in eine Chi- fen. Die einzelnen Sitzungen beschäftigten märe verwandeln. Bisher blieben öffentliche sich mit kontroversen Themen wie der Einfüh- Demonstrationen jedoch die Ausnahme: So rung von Wahlen, radikalem Islamismus, kam es am 11. März 2011 zu landesweiten Emanzipation der Frau, Jugendarbeitslosig- Protesten bei dem so genannten „Tag des keit, die soziale Stellung der Gastarbeiter, Zorns“. Weiterhin demonstrierten immer wie- Gleichbehandlung verschiedener Konfessio- der Schiiten in der Ostprovinz. Vor allem die nen, Mängel im Gesundheitssystem oder Ge- Schiiten stellen aufgrund ihrer benachteiligten walt an Schulen. Doch auch wenn die sozialen Stellung ein permanentes Risiko für Einführung des Nationalen Dialogs vor allem die Stabilität dar. Zwar erfolgte unter Abdal- von Seiten der Opposition frenetisch begrüßt lahs Regentschaft eine vorsichtige Integration worden war, die bisherigen Ergebnisse sind in das soziale Gefüge, das antischiitische kaum der Rede wert. Rechtliche Reformen wahhabitische Dogma sowie der traditionelle oder soziale Liberalisierung erfolgten nicht. sunnitisch-schiitische Konflikt dominieren je- So bleibt der Nationale Dialog ein „zahnloser doch weiterhin die schiitische Außenseiterpo- Debattierclub“ ohne Befugnisse. Nach wie vor sition. Etwa 10-15% der Bevölkerung sind werden Schiiten auf dem Arbeitsmarkt und im schiitischer Konfession, die überragende Alltag diskriminiert, Frauen leiden unter den Mehrheit lebt in der Ostprovinz um al-Hasa. patriarchalischen Ungleichbehandlungen und Dies ist deshalb von Interesse, da sich in die- die regelmäßige Einführung von Wahlen er- ser Region die wichtigsten Ölfelder befinden. folgte bislang auch nicht – abgesehen von Dort arbeiten auch die meisten Schiiten. Tra- Kommunalwahlen.7 Diese Wahlen als klares ditionell wurde das saudische Königshaus oft- Indiz für eine wachsende Demokratisierung mals mit schiitischer Kritik konfrontiert. Bereits zu sehen, wäre jedoch zu einfach. Immerhin seit den 1970er Jahren konstituierte sich eine handelt es sich einerseits nur um Kommunal- schiitische Opposition unter dem Rechtsge- wahlen, andererseits besitzen die Wahlgewin- lehrten Scheich Hassan al-Saffar. Im An- ner kaum politische Macht. Viele arrivierte schluss an die Besetzung der Großen Kandidaten können stattdessen ihre Position Moschee in Mekka und inspiriert durch die Is- konsolidieren. Der Reformwille bleibt in Saudi- lamische Revolution im schiitischen Iran kam Arabien abhängig von externen Faktoren, die es zu Massendemonstrati-onen und General- den Druck auf das Königshaus erhöhen. streiks, die von der Regierung niedergeschla- Ohne die islamistische Bedrohung, die vehe- gen wurden. mente Kritik seitens der USA und die innen- politische Opposition wären die vorsichtigen Mittlerweile konnte sich die schiitische Reformschritte unter Abdullah vermutlich nicht Minderheit Gehör verschaffen, fordert die Ein- realisiert worden. haltung der Menschenrechte, die Implemen- tierung demokratischer Instrumente und die III. Akteure des Wandels und konkrete Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozi- Auslöser alen Lage. Im Frühjahr 2011 wurden gemein- sam von Schiiten und Sunniten Petitionen In Saudi-Arabien ist der direkte Einfluss des unterzeichnet, die die Einführung einer kon- „Arabischen Frühlings” bisher überschaubar stitutionellen Monarchie und die Zulassung geblieben. Allerdings deuten die oben darge- von Nichtregierungsinstitutionen verlangen. stellten innergesellschaftlichen Konflikte und Es kam zu Demonstrationen in der Provinz Risse darauf hin, dass sich das Druckpoten- Qatif in der Ostprovinz8, über Facebook oder zial für das Königshaus durch die Unruhen in das schiitische Oppositionsportal Rasid rufen der arabischen Welt erhöht hat. So sprechen schiitische Bewegungen immer wieder zu die soziökonomischen Faktoren wie hohe Ju- Protest auf. gendarbeitslosigkeit und zunehmende Armut dafür, dass sich das einheimische Frustpoten- Neben den Schiiten könnten die Frauen zum zial erhöhen könnte. In Kombination mit dem wichtigsten Akteur des möglichen Wandels rigiden und autokratischen politischen Sys- werden: Noch immer sind sie vollständig ab- tem, den streng limitierten Freiheitsrechten hängig von ihren männlichen Verwandten und dem religiösen Dogma könnte sich die oder Ehemännern. Sie dürfen kein Auto fah-

7 Die letzten Wahlen auf kommunaler Ebene erfolgten 2005. Frauen blieben vom Wahlrecht ausgeschlos- sen. Am 22. September 2011 sollen ebenfalls Kommunalwahlen abgehalten werden, die Registrierung der Wähler begann am 23. April 2011. Eigentlich sollten die Wahlen turnusmäßig bereits 2009 stattfinden, wurden aber verschoben. 8 So wurden bei Protesten im März 26 Demonstranten verhaftet, die die Freilassung des inhaftierten schi- itischen Geistlichen Sheikh Tawfiq al-Amer forderten. Im Zuge dessen wurde al-Amer freigelassen.

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ren, nicht selbstständig Verträge abschließen ist sehr jung: 75% sind jünger als 30 Jahre, oder allein ins Ausland reisen. Ihnen bleiben 31% 15 oder jünger, 65% sind jünger als 64. viele Berufe vorenthalten, obwohl sie in die- Das Bevölkerungswachstum beträgt 2,2% im sen ausgebildet wurden. Die saudische Ge- Jahr. Im Durchschnitt gebärt eine saudische sellschaft ist vollkommen männerdominiert. Frau ca. drei Kinder. So wird ein Anstieg der Frauen in Führungspositionen, in den Medien, Bevölkerung auf 43,7 Mio. im Jahr 2050 pro- in einflussreichen Managementfunktionen gnostiziert. Die Auswirkungen für die sozioö- oder leitenden Positionen in Politik und Ver- konomische Situation des Einzelnen sind waltung gelten als verpönt. Das traditionelle gravierend: Die Verteilungspolitik wird wahr- Geschlechterbild schließt die Frau weitge- scheinlich mittelfristig an ihre Grenzen sto- hend vom Arbeitsleben aus und reduziert ihre ßen, Steuerbefreiung und kostenlose Tätigkeitsfelder auf Berufe im Erziehungs-, Gesundheitsversorgung könnten kippen. Ausbildungs- oder Gesundheitsbereich. Nur Hinzu kommen die geringer ausfallenden 15% der saudischen Arbeiterschaft sind Öleinnahmen bei sinkenden Ressourcen, die Frauen. Die Arbeitslosenquote bei Frauen diametral der nachdrängenden Bevölkerung stieg zwischen 2001 und 2008 von 17,3% auf entgegenstehen. Während Milliarden in Bil- 26,9%. Bei Männern lag sie im gleichen Zei- dung und Ausbildung investiert werden, bleibt traum bei konstant etwa 7%. Sollten sich der Übergang auf den Arbeitsmarkt für viele Frauen dagegen auflehnen, droht ihnen der junge Absolventen schwierig. Die Kluft zwi- Bruch mit der Familie, die soziale Isolation schen Arm und Reich wächst beständig. Viele und Heiratsunfähigkeit. Sie gelten dann als streben nach einer Stellung im öffentlichen Außenseiterinnen, als Zerstörer traditioneller Dienst, nur wenige sind bereit, im Privatsektor Werte und Unruhestifterinnen. Hier wächst zu arbeiten. Da die saudische Mehrheitsge- das Frustpotenzial der Frauen, zumal sie sellschaft an die Allokationsmechanismen des immer stärker in leitende Positionen drängen, Staates gewöhnt ist, äußert sich das in einem im Privatsektor deutlich mehr Verantwortung Mangel an Motivation und übertriebenen Er- übernehmen als früher und sich intensiv in die wartungen hinsichtlich des Gehalts, der Posi- gesellschaftlichen Debatten einschalten. tion und des sozialen Status. Deutlich wird dies an der zunehmenden Ab- lehnung des Fahrverbots, die sich mittlerweile Profitiert von dieser „anerzogenen Trägheit“ auch öffentlich äußert.9 Frauen dürfen auch haben die ausländischen Gastarbeiter aus weiterhin nicht an den Kommunalwahlen teil- der ganzen Welt. Mittlerweile befinden sich nehmen. Das Verbot, das bis 2015 gelten soll, sechs bis acht Millionen im Land, was etwa wird mit der saudi-arabischen Tradition be- einem Drittel der Gesamtbevölkerung ent- gründet, außerdem seien Frauen noch nicht spricht. Vor allem die asiatischen Gastarbeiter so weit, ihrer Verantwortung genüge zu tun. aus Pakistan, Indien, Bangladesch oder Indo- Allerdings engagierten sich mehrere einfluss- nesien leiden unter schweren sozialen Diskri- reiche Aktivistinnen für die Einführung des minierungen, werden teilweise wie Sklaven Wahlrechts, organisierten sich in Facebook- behandelt und verfügen über keinerlei indivi- Kampagnen und Initiativen10, äußerten sich in duelle Rechte. Diese Ungleichbehandlung ist der Öffentlichkeit und präsentierten sich so als weitgehend Konsens in der saudischen Ge- starke Stimmen des Strebens nach Wandel. sellschaft. Pläne, eine Krankenversicherungs- Einige von ihnen ließen sich während ihres pflicht für asiatische Hausangestellte, Gärtner Versuchs fotografieren, sich trotz des Verbots oder Chauffeure einzuführen, stoßen daher für die Kommunalwahlen zu registrieren. Im auf massiven Widerstand. Die Vorstellung, Februar demonstrierten 53 Frauen für die den sozialen Status der verachteten Gastar- Freilassung politischer Gefangener. Sie wur- beiter anzuheben, passt nicht in das Denken den inhaftiert. vieler Saudis. Sie fürchten eine Überfrem- dung, die sich in einer diffusen xenophoben Neben diesen möglichen Akteuren des Wan- Angst gegenüber fremden Einflüssen äußert. dels wächst das gesamtgesellschaftliche Ex- plosionspotenzial in Saudi-Arabien. Trotz des Der Gedanke, den asiatischen Gastarbeitern Ölreichtums beträgt die Arbeitslosigkeit offi- geistig, ethnisch und moralisch überlegen zu ziell 10,8%. Dies berücksichtigt allerdings sein, rührt auch daher, dass die saudische nicht die Frauen, sodass inoffizielle Statistiken Gesellschaft äußere Einflüsse erst seit eini- von etwa 25-30% ausgehen. Die Bevölkerung gen Jahrzehnten erlebt, da das Land nie ko-

9 So erregten zwei junge Frauen Aufsehen, als sie ein Video im Internet platzierten, das sie beim Autofahren zeigt. Schnell wurden sie Vorbilder und Ikonen der Emanzipationsbewegung im Königreich. 10 Die wichtigsten sind die al-Baladi-Initiative (arabisch für: „mein Land“) sowie die Saudi Women’s Revolu- tion-Bewegung. Sie verfolgten Pläne, einen eigenen Kommunalrat einzurichten, konnten sich bislang je- doch nicht mit ihren Absichten durchsetzen.

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lonialisiert war. Die Politik reagiert auf die einer langfristigen Instabilität in der Region, überragende Bedeutung der Gastarbeiter als die dem Erzfeind Iran nutzen könnte. Der Rückgrat des saudischen Fortschritts und den schiitische Nachbar konkurriert spätestens zeitgleichen Anstieg der Arbeitslosigkeit bei seit dem Ende Saddam Husseins mit seinem Inländern mit einer „Saudisierungskam- sunnitisch-wahhabitischen Gegenspieler um pagne“, die saudische Arbeitnehmer bevorzu- die hegemoniale Vormachtstellung am Golf. gen und den Anteil ausländischer Fachkräfte Saudi-Arabien befürchtet, Iran könne den po- reglementieren und reduzieren soll. Bislang litischen Einfluss im Libanon, Bahrain, Irak sind die Erfolge jedoch marginal. oder Syrien ausweiten und so einen „schiiti- schen Halbmond“ fördern. Die angeblichen Hinzu kommt die innere Heterogenität und Bestrebungen Teherans zum Bau von Nukle- Fragmentierung der saudischen Gesellschaft. arwaffen werden in Riad mit ansteigender Hy- Ibn Sauds Eroberungen führten zur Dominanz bris beobachtet.11 Immerhin bewerten 79% der Stammregion Najd auf Kosten anderer der saudischen Bevölkerung den Einfluss Regionen wie dem Hijaz. So gelten heute Irans in der Region als negativ, 69% lehnen noch die Einwohner des Najds in Augen der die Politik von Irans Präsidenten Mahmud Ah- Hijazis als erzkonservative Beduinensöhne, madinejad ab. während umgekehrt die lockerere Lebens- weise im küstennahen Hijaz für Najdis Aus- Hinzu kommt die Angst des Königshauses vor druck von Dekadenz und Unmoral ist. Dies der militanten islamistischen Bedrohung. führt zu einer nationalen Identität, die sich Zwar konnten Al-Qaida-nahe Gruppierungen kaum über eine gleiche Herkunft oder ähnli- bis 2005 weitgehend zerschlagen werden, che Wurzeln definiert, sondern vielmehr in der doch die instabile Situation im südlichen Loyalität zum König und der Zugehörigkeit Nachbarn Jemen könnte die terroristische Be- zum eigenen Stamm, Clan oder Familie. Vor drohung im Inland wieder entfachen. Der allem die Bewohner des Hijaz fühlen sich Jemen gilt seit Jahren als „sicherer Hafen“ für durch die Najdis benachteiligt. Der unzurei- militante Islamisten. Die Aufstände im armen chende Katastrophenschutz bei den verhee- Nachbarland beunruhigen daher das saudi- renden Hochwassern in Jidda gilt ihnen als sche Königshaus. An der fast 1.500 Kilometer deutlicher Indikator dafür. Demnach besteht langen gemeinsamen Grenze kam es in der die nationale Identität eher aus vielen einzel- Vergangenheit immer wieder zu Gefechten nen lokalen Identitäten, die durch die zwischen saudischen Sicherheitstruppen, Kohäsion von Al Saud und ulama zusammen- Schmugglern sowie Mitgliedern von Al-Qaida gehalten wurden. Insbesondere gilt dies für auf der arabischen Halbinsel (AQAP). Je- die Schiiten in der Ostprovinz des Landes. mens Noch-Präsident Ali Abdallah Salih galt als enger Verbündeter Saudi-Arabiens. Seine IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- schwere Verletzung und die medizinische Be- lings“ handlung in einem saudischen Krankenhaus erhöhen das Risiko für die Al Saud, der Bisher gilt Saudi-Arabien trotz der vielfältigen Jemen könne ins Chaos stürzen. Ähnliche Konfliktlinien im Inneren als „Sturm in der Furcht besteht im Fall Bahrain. Die dortige Brandung“ und revolutionsresistent. Haupt- schiitische Opposition und die Protestbewe- gründe dafür sind die nach wie vor existenzsi- gung werden mit viel Argwohn beobachtet. chernde Symbiose von Al Saud und Das Königshaus fürchtet, dass ein erfolgrei- wahhabitischer Geistlichkeit sowie das wirt- ches Aufbegehren der bahrainischen Schiiten schaftliche Potenzial durch den Ölreichtum. Vorbildcharakter für die saudischen Schiiten Gesellschaftlicher Grundkonsens ist und haben könnte. Beide Gruppen stehen sich bleibt die Loyalität zum König. Kritik erfolgt sehr nahe; sie sind über historische, religiöse also nur innerhalb des institutionalisierten und familiäre Bande miteinander verbunden. Rahmens, Forderungen nach einem Umsturz Hinzu ist Saudi-Arabien besorgt über den an- oder dem Rücktritt des Königs sind derzeit un- geblich wachsenden Einfluss Irans auf die vorstellbar und würden auch von Seiten der Schiiten Bahrains. Der Einmarsch von 1.000 Mehrheitsgesellschaft strikt abgelehnt. Den- saudischen Nationalgardesoldaten in Bahrain noch entfalten die Umbrüche in der arabi- im März 2011 zur Unterstützung des Königs schen Welt indirekt ihre Wirkung in Scheich Hamad ibn Isa Al Khalifa gegen die Saudi-Arabien. Dies gilt vor allem für die Aufstände im Rahmen einer konzertierten Ak- Angst des saudischen Königshauses vor tion des Golfkooperationsrates (GCC) wurde

11 So äußerte sich der ehemalige Geheimdienstchef und Botschafter in Washington Turki al-Faisal bereits, dass sich Saudi-Arabien ebenfalls um Atomwaffen bemühen werde, wenn Iran zur Atommacht aufsteige.

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denn auch in der saudischen Öffentlichkeit als Reformkurs, um möglicher Unzufriedenheit Friedensmission und Akt der brüderlichen entgegenzuwirken. Das kommt ihm nun ent- Unterstützung bewertet. Allerdings diente gegen. Der Leidensdruck der Bevölkerungs- diese Aktion den eigenen Sicherheitsinteres- mehrheit scheint bislang noch zu klein, als sen und der reaktionären Niederschlagung dass sich die Perspektivlosigkeit einiger Min- eines mehr wirtschaftlichen denn religiösen derheiten zu einem breiten Protest ausweiten Protests und wurde demnach auch internatio- könnte. Doch allein auf wirtschaftliche Vertei- nal verurteilt. lungsmechanismen kann sich das Königs- haus nicht mehr verlassen, sodass auch Dementsprechend kann die derzeitige Stabi- wieder die ideologisch-religiöse Karte gespielt lität in Saudi-Arabien als Ruhe vor dem Sturm wird. Im Schatten von Demokratisierungsbe- gesehen werden. Die Diskriminierung der strebungen, dem Ruf nach Freiheit und libera- Schiiten, die Ungleichbehandlung der Frauen, ler Öffnung geriert sich Saudi-Arabien als das komplizierte Verhältnis zwischen saudi- Vorreiter des konservativ-islamischen Estab- scher Mehrheit und den ausländischen lishments. Die Überwachung der Bevölkerung Gastarbeitern verbunden mit den sozioökono- durch den mächtigen Geheimdienst nahm mischen und demographischen Faktoren for- ebenso zu wie die Proklamation moralischer dern das saudische Königshaus und die Tugendhaftigkeit durch die wahhabitische wahhabitische Geistlichkeit bereits jetzt her- Geistlichkeit. Die Aufstände in Ägypten und aus. Die Unruhen in den Nachbarstaaten und Tunesien wurden als „Feinde des Islams“ und die Strahlkraft der freiheitlichen Bewegungen die Aufständischen als „Chaoten“ gebrand- in Tunesien und Ägypten hinterlassen vor markt. Das Königshaus befürchtet, seine allem bei den marginalisierten Akteuren Ein- ideologische Autorität verlieren zu können, druck. Sie könnten in Zukunft mutiger ihre wenn die attraktive Ausstrahlung von gesell- Ziele verfolgen und die Missstände anpran- schaftlicher Freiheit aus anderen arabischen gern. Während bisher das System der Mon- Ländern in die saudische Mentalität dringen archie und die Person Abdallah von könnte. Demzufolge verfolgt Saudi-Arabien Fundamentalkritik verschont blieben, könnte auch eine restriktive, restaurative Außenpoli- sich dies mittelfristig ändern. Je langsamer tik, die auf Stabilitätsbewahrung ausgelegt ist. das Königshaus auf die Hoffnung nach Öff- In diesem Zusammenhang steht die militäri- nung reagiert und je schneller sich ökonomi- sche Aktion in Bahrain, die Behandlung von scher Abschwung bemerkbar macht, desto Ali Abdallah Salih sowie die Exilgewährung für höher wird der innergesellschaftliche Druck. Ben Ali, was Abdallah heftige Kritik mit seinem engsten Verbündeten USA einbrachte. Die V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure US-amerikanisch-saudischen Beziehungen scheinen dadurch nachhaltig belastet worden Das saudische Königshaus nimmt den „Arabi- zu sein. Gleichzeitig sucht man trotz der mas- schen Frühling” als Bedrohung wahr. Es be- siven Vorbehalte gegen Iran den diplomati- fürchtet, dass sich die Protestbewegungen schen Kontakt. Es kam zu Treffen beider gegen autoritäre Herrscher auch im Inland Außenminister, um über ihre Verantwortung massiv auswirken könnten und versucht, dem in der Region zu diskutieren. In diesem Zu- entgegenzusteuern. Hierbei verfolgt König sammenhang können auch die Bemühungen Abdallah eine Politik von Zuckerbrot und Peit- Saudi-Arabiens gesehen werden, mit Ma- sche. Er stellte bereits im April 2011 rokko und Jordanien zwei weitere Monarchien zusätzliche 35 Mrd. USD für Wohlfahrtsleis- als neue Mitglieder für den Golfkooperations- tungen an die Bevölkerung bereit, erhöhte die rat zu gewinnen. Beobachter sehen Gehälter von Staatsangestellten im Februar Saudi-Arabien als Führungsmacht der stabili- um 15% und ließ dem saudischen Entwick- tätsorientierten Regionalmächte, der konser- lungsfonds 11 Mrd. USD zugute kommen, um vativen Monarchien, die weder ein Interesse kleine Kredite zu fördern. Hinzu kommen die an zunehmender Demokratisierung noch Investitionspakete in den letzten Jahren, die damit einhergehender Unsicherheit haben. die Infrastruktur in Bildung und Gesundheit Für sie sind das sensible Konstrukt in der ara- massiv ausbauten und gleichzeitig für die bischen Welt und die fragile Ruhe der letzten wachsende Bevölkerung Wohnraum schufen. Jahre durch den „Arabischen Frühling” be- Abdallah beugte also bereits vor dem Aus- droht. Sie fürchten Machtverlust, den Anstieg bruch der „Arabischen Revolution” vor, ver- islamistischer Gewaltakteure, staatliche Fra- folgte einen behutsamen wirtschaftlichen gilität und einen massiven Einflussgewinn

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Irans. Schneller Wandel gehört traditionell werke zu bekämpfen, den Zugang zum Ar- nicht zum politischen Repertoire der Al Saud, beitsmarkt zu erleichtern und die Abhängig- die schrittweise Reformen bevorzugen und keit vom Erdöl zu vermindern. Die finanziellen die Revolutionen als Chaos und Anarchie be- Mittel und die politische Stabilität sind vorhan- werten. Ob sie damit allerdings die Meinung den, allerdings droht diese Entwicklung am der saudischen Mehrheit repräsentieren, fehlenden politischen Willen zu scheitern. Vor muss bezweifelt werden. Immerhin bewerten allem die Integration oftmals im Westen aus- 40% der saudi-arabischen Bevölkerung den gebildeter Nachwuchskräfte in den Arbeits- „Arabischen Frühling” als positiv, nur 9% ver- markt muss vorangetrieben werden, wenn muten negative Auswirkungen für die Region. Saudi-Arabien nicht in ein demographisches Dilemma geraten will. Die durch kostenlose VI. Zukunftsszenarien Staatsalimentierung ausgelöste „Vollkasko- mentalität” sollte mithilfe eines leistungs- Best Case Szenario: fördernden Privatisierungsprozess reduziert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit saudi- Auch im besten Fall wird es keinen Demokra- scher Arbeitnehmer zu verbessern. Dazu be- tisierungsschub in Saudi-Arabien geben. Das darf es nicht nur des weiteren Ausbaus an politische System beruht auf der Omniprä- geschlechterunabhängiger Bildungsinfra- senz und der unumstößlichen Autorität der Al struktur, sondern der besseren Verzahnung Saud, die durch die wahhabitischen Rechts- von Arbeitsmarkt und Ausbildungssystem. gelehrten legitimiert wird. Diese Allianz bietet Erst wenn der ernsthafte Wille vorhanden ist, allerdings auch Raum für eine schrittweise Li- bestehende traditionelle Vorstellungen und beralisierung der gesellschaftlichen Schran- Normen zu überdenken und in die Moderne ken, solange der bestehende Allein- zu transferieren, könnte sich eine breite Mittel- vertretungsanspruch des Königshauses nicht schicht von Privatunternehmern entwickeln, in Frage gestellt wird. Die Entwicklung einer die durch Kreativität, Eigen-engagement und limitierten Oppositions- und Diskussionskultur Leistungsbereitschaft die Abhängigkeit vom wird durch den König Abdullah bislang gedul- Öl sukzessive aufbrechen würden. Hierzu det, teilweise sogar gefördert. Steigt der ex- könnte das Königshaus mit-hilfe von finanziel- terne und interne Druck aufgrund von len Anreizen in Form von Kleinkrediten, Auf- politischen Öffnungsprozessen im Ausland klärungskampagnen und der Reduzierung sowie soziökonomischen Schwierigkeiten im des öffentlichen Sektors besser als bisher bei- Inland, könnte Abdullah gezwungen sein, sich tragen. in restriktiven Fragen zu öffnen. Das könnte sich in einer Wahlgenehmigung für Frauen Worst Case Szenario: niederschlagen, die soziale und rechtliche Si- tuation der asiatischen Gastarbeiter und der Saudi-Arabiens Herrscher könnten sich in Zu- Schiiten verbessern und so zu einer besseren kunft verstärkt als Vorreiter eines strengen nationalen Integration beitragen. Während in und reaktionären Konservativismus gerieren. Tunesien, Ägypten oder Jemen die jeweiligen Der puristische Wahhabismus und die Vor- Regimes den Zeitpunkt für mögliche syste- stellung, als Hüter der beiden Heiligen Stätten mimmanente Reformen verpassten, wird Ab- wieder verstärkt eine Führungsrolle der kon- dullah von der überragenden Mehrheit seiner servativen „Gegenrevolutionäre“ in der Re- Bevölkerung unterstützt. So bewerten 88% gion zu übernehmen, könnte zu einer der saudischen Staatsbürger seine Politik po- Ausweitung der missionarischen und repres- sitiv. Sollte es dem Königshaus gelingen, siven Aktivitäten im In- und Ausland führen. innerhalb der religiösen und traditionellen Vieles hängt hier vom König ab. Abdallah, der Schranken eine gesellschaftliche Diskussion bereits 87 Jahre alt ist, gilt zwar als reform- um Reizthemen wie Geschlechtergleichheit, orientierter König, doch in seinem engsten Zukunftsperspektiven oder Minderheiten- Zirkel konkurriert er mit streng konservativen schutz zuzulassen und in rechtliche Rahmen- und reaktionären Familienangehörigen. Dazu bedingungen zu überführen, könnte dies der gehört zum einen der designierte Thronfolger, Beginn eines vorsichtigen Wandels werden. Kronprinz und Innenminister Sultan, der der- Hierzu gehört auch die ernsthaft voranzutrei- zeitige Innenminister Naif sowie der Gouver- bende Diversifizierung der Wirtschaft, um Bü- neur von Riad, Prinz Salman bin Abdulaziz. rokratie abzubauen, den öffentlichen Sektor Vor allem der Innenminister gilt als Symbolfi- zu reduzieren, Korruption und Patronagenetz- gur des erzkonservativen saudischen Estab-

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lishments, indem er Reformen als Schwäche momentan allerdings unwahrscheinlich. Eher des Königs-hauses gegenüber einer populä- könnte diese Entwicklung zu einem Machter- ren Liberalisierungstendenz auslegt und sei- haltungsmechanismus seitens der Al Saud nen Fokus eher auf die Verschärfung der führen, die ihren Regierungsanspruch nicht inneren Sicherheitsmaßnahmen und Repres- aufgeben oder teilen wollen würden. sion legt. Trendszenario: Nach dem Tod des kranken Abdullahs könnte der vorsichtige Reformkurs der letzten Jahre Wahrscheinlich erscheint, dass sich das sau- schnell rückgängig gemacht werden, da struk- dische Königshaus gegen eine weitere Aus- turelle Änderungen nach wie vor vom Monar- weitung des „Arabischen Frühlings” durch chen abhängen. Insbesondere die als Risiko politische, religiöse sowie – wenn notwendig – wahrgenommenen Auswirkungen des „Arabi- militärische Maßnahmen zur Wehr setzen schen Frühlings” könnten unter Sultan (oder wird. Es fürchtet eine Schwächung des regio- Naif, der aufgrund der Krankheit des Kron- nalen Einflusses und sieht in den Demokrati- prinzen als wahrscheinlicher Nachfolger Ab- sierungsbewegungen den Status quo der dallahs gehandelt wird) zu einem repressiven Monarchien bedroht. Dazu könnte es sich – Kurs führen. Weiteres systemimmanentes wie immer – auf die Allianz mit den ulama ver- Problem ist die Altersstruktur der engsten lassen, diese stärker als in der jüngsten Ver- Elite des Königshauses: Bisher gilt in Saudi- gangenheit kooptieren und dadurch die Arabien die Regelung, dass nur ein Sohn des islamische Vorbildfunktion wieder in den Staatsgründers Ibn Saud als Thronfolger in Vordergrund der außen- und innenpolitischen Frage kommen darf. Dies hat zur Folge, dass Strategie stellen. Gleichzeitig hat sich in die Altersstruktur der Al Saud der Jugend der Saudi-Arabien längst eine gesellschaftliche Mehrheitsgesellschaft diametral entgegen- Pluralität an verschiedenen Einflussakteuren steht. Während das Durchschnittsalter lan- entwickelt, die aus der Gesellschaft heraus desweit 25,3 Jahre beträgt, ist Abdallah wie das Königshaus herausfördern könnten. Vor gesagt bereits 87, Sultan nur ein Jahr jünger, allem die Frauen, die Schiiten, verschiedene Naif ist 77. Alle 20 Söhne Ibn Sauds sind über moderate, reformorientierte Geistliche, Intel- 60 Jahre alt, acht sind über 70 und gar sechs lektuelle und Unternehmer könnten ihre über 80. Ändert sich nichts an dieser Nachfol- Forderungen nach Reformbereitschaft, zivil- geregelung, indem auch Enkel als Kronprin- gesellschaftlicher Öffnung, wirtschaftlicher zen akzeptiert werden, würde sich der Diversifizierung und Abbau der Überbürokra- zeitliche Turnus der jeweiligen Regentschaf- tisierung ausbauen. Es bleibt allerdings un- ten reduzieren, was zum einen verstärkte wahrscheinlich, dass die Legitimation des Nachfolgestreitigkeiten, zum anderen dro- saudischen Königshauses in Gänze ange- hende politische Instabilität aufgrund fehlen- zweifelt wird. Dazu genießen die Al Saud über der Nachhaltigkeit zur Folge haben könnte. einen zu großen Rückhalt in der Bevölkerung, Die traditionell langsame Reformbereitschaft dazu gestalten sich die wirtschaftlichen der Al Saud könnte dadurch weiter ge- Druckpotenziale bisher als zu gering, um schwächt werden, da die Hauptkonzentration großflächige Kritik am Königshaus zu bewir- auf der Balance der inneren Einheit läge und ken. So könnte auf den „Arabischen Frühling” gesellschaftliche Transformationen als hinder- zwar keine reaktionäre Reaktion des Sys- lich wahrgenommen werden könnten. Aus tems, aber eine Intensivierung der zivilgesell- diesem Dilemma abzuleiten, es könne ein De- schaftlichen Diskussionskultur durch mokratisierungsprozess eingeleitet werden, systemexterne Akteure erfolgen. indem aus einer absoluten eine konstitutio- nelle Monarchie geschaffen werde, erscheint Sebastian Sons

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Deutsches Orient-Institut 140 Jemen

Landesdaten Jemen Fläche1 2011 527.968 km² Bevölkerung2 2010 24.300.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 45,94 größtenteils Araber, aber auch Ethnische Gruppen4 2010 Afro-Araber, Südasiaten und Europäer

Muslime (Schafiiten, Zayiditen), Religionszugehörigkeit5 2010 Juden, Christen, Hindus Durchschnittsalter6 2010 18,1 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 45% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3% Lebenserwartung9 2010 63,74 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 53.700.000 Geburten pro Frau11 2009 5,1 Alphabetisierungsrate12 2010 50,2% Nutzer Mobiltelefone13 2009 8.313.000 Nutzer Internet14 2009 2.349.000 Nutzer Facebook15 2011 329.040 Wachstum BIP16 2009 3,8% BIP pro Kopf17 2010 2.595 USD Arbeitslosigkeit18 2010 35% Inflation19 2011 13,0% S&P-Rating20 2011 k. A. Human Development Index21 2010 Rang 133 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 171 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 7,6% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 11,8% Korruptionsindex25 2010 Rang 146 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 http://www.tradingeconomics.com/yemen/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$)”, International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 141 Jemen

Jemen sozialistisch-moderne Führung durchgesetzt. Da es sich zunächst um eine friedliche Ver- Auch im Jemen zeigen sich deutliche Aus- handlung zweier Partner auf Augenhöhe han- wirkungen des „Arabischen Frühlings“, delte, war das Ergebnis ein Kompromiss: Am was weder zu diesem Zeitpunkt noch in Ende einer Übergangsphase, in der ein Re- dieser Intensität zu erwarten gewesen gierungsrat mit Vertretern beider Eliten wäre. Widerstand gab es schon vor der herrschte, sollten freie demokratische Wahlen Revolution in Tunesien, durch die Ereig- stattfinden. Bei diesen gewann der Allge- nisse dort und in den anderen Staaten der meine Volkskongress (die Nachfolgepartei Region erhielten die Proteste jedoch er- der ehemaligen Nordjemenitischen Füh- heblichen Rückenwind. Der Präsident, Ali rungspartei1), vor der jemenitischen Ver- Abdullah Saleh, galt bis vor kurzem als sammlung für Reform (arabisch: Islah), die einzige Hoffnung im Kampf gegen den Ter- nach der Vereinigung gegründet worden war rorismus am Horn von Afrika, nun fordern und tribale und religiöse Elemente vereinte. ehemalige Partner seinen Rückzug und Die paritätische Vergabe von Posten an Ver- eine geordnete Übergabe der Macht. treter beider Vorgängerländer hatte ein über- proportionales Mitspracherecht für die I. Politisches System und gesellschaftli- südjemenitische Elite aus der Jemenitischen che Entwicklungen Sozialistischen Partei (JSP) hervorgebracht, welches nach den Wahlen nun zu verschwin- Bei der Arabischen Republik Jemen handelt den drohte und eine Dominanz des ehemali- es sich um das jüngste Land der Region. gen Nordens erwarten ließ.2 Die Spannungen Zwar wurde bei der Vereinigung der beiden entluden sich in einem Bürgerkrieg, den je- Teilrepubliken 1990 von einer „Wiedervereini- doch ebenfalls der Norden gewinnen konnte – gung“ gesprochen; tatsächlich war das von die Führung der Jemenitischen Sozialisti- den Römern aufgrund des Reichtums an Ge- schen Partei ging daraufhin ins Exil, zu den würzen und anderen Annehmlichkeiten als Wahlen 1997 trat die Partei nicht an. Un- Arabia Felix bezeichnete Gebiet weder zu mittelbar nach den Wahlen wurde die Verfas- deren Zeiten noch danach politisch vereint. sung geändert und ein präsidiales Des Weiteren ist hervorzuheben, dass die Regierungssystem geschaffen, an dessen Vereinigung nicht durch den Beitritt eines po- Spitze der ehemalige Präsident des Nordje- litisch und wirtschaftlich in Auflösung befind- men, Ali Abdullah Saleh, stand. Ebenso wurde lichen Partners zum Geltungsbereich der die Scharia nun als einzige Quelle des Rechts Verfassung eines starken Partners erfolgte, bezeichnet, ein Punkt, dem sich die JSP ve- wie es beispielsweise im deutschen Fall war. hement widersetzt hatte. Nach dem Bürger- Stattdessen befanden sich sowohl die Demo- krieg wurden auch Pläne einer föderalen kratische Volksrepublik Jemen („Südjemen“) Struktur mit dem Hinweis auf Abspaltungs- wie auch die Jemenitische Arabische Repu- tendenzen zurückgestellt. So bestehen zwar blik („Nordjemen“) in schwachen Ausgangs- regionale und lokale Regierungen, die jedoch positionen. Diese Pattsituation wiederum war in direkter Abhängigkeit von der Zentralregie- eine wichtige Voraussetzung für eine weitere rung stehen. Besonderheit: Das Ergebnis der Vereinigung war eine Phase, die bereits über zwanzig Die 1991 ratifizierte Verfassung stellte ein par- Jahre vor dem „Arabischen Frühling“ Demo- lamentarisches Regierungssystem mit einer kratie, Pluralismus und Pressefreiheit möglich vom Parlament gewählten Exekutive dar. erscheinen ließ. Nach und nach entwickelte sich das System in Richtung eines präsidialen Systems. Die Der Grund hierfür war allerdings nicht die Stellung des Präsidenten wurde in den Jah- Weitsicht und Fortschrittlichkeit der handeln- ren nach dem Bürgerkrieg sukzessive ge- den Personen, sondern die politische und ge- stärkt, auch unter dem Vorwand der sellschaftliche Rivalität und Gegensätzlichkeit Terrorismusbekämpfung. Der Präsident wird der beiden Länder. Der Nordjemen war bis in für sieben Jahre direkt vom Volk gewählt, er- die 1960er Jahre weitestgehend vom Ausland nennt den Premierminister und die Regie- abgeschottet und auch danach stärker tradi- rung. 1997 wurde ein weiteres Gremium tionell geprägt, im Süden hatte sich nach dem geschaffen (Beratungskammer), deren Mit- Ende des britischen Protektorats 1967 eine glieder ausschließlich vom Präsidenten er-

1 Burrows, Robert: Prelude to Unification: The Yemen Arab Republic, 1962-1990, in: International Journal of Middle East Studies, Vol. 23 (1991) No. 4, S. 483-506. 2 Etwa zwei Drittel der Bevölkerung leben auf dem Gebiet des ehemaligen Nordjemen.

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nannt werden. So gibt die starke Stellung des rung und dem herrschenden Regime dar, da Präsidenten ihm die Möglichkeit, nicht auf de- der Zugang sowohl zu politischer Macht wie mokratischem Weg legitimierte Kräfte in das auch insbesondere zu wirtschaftlichen Vorzü- politische System einzubeziehen. Im Jemen gen auf informellem Weg vergeben werden stützt sich dieses Patronagenetzwerk der Po- und so für den „Durchschnittsbürger“ uner- litik insbesondere auf informelle Kanäle, wel- reichbar sind. che Sicherheitskräfte (aus denen Ali Abdullah Saleh hervorgegangen ist) und Stammesfüh- Gleichzeitig entfremdeten sich manche rer durch Kooptation einbeziehen. Die Fähig- Stämme auch gerade durch die Verteilungs- keit, auf diesem Weg die Loyalität politik Salehs von den Stammesführern, die einflussreicher Personen zu gewinnen, stellte beispielsweise durch Posten im Parlament bereits vor der Vereinigung die grundlegende einbezogen werden sollten. Die Einbeziehung Voraussetzung für die Machterhaltung Salehs betrifft also vor allem eine kleine Elite. Die im Nordjemen dar. Zwar ist die Verteilung ausgeschlossenen tribalen Elemente wenden wichtiger Ämter im Militär- und Sicherheitsap- sich noch stärker vom Staat ab und suchen in parat noch keine Besonderheit im regionalen ihren traditionellen Gesellschaftsstrukturen Vergleich. Als charakteristisch für den Jemen den Rückhalt, den ihnen der Staat nicht bie- kann allerdings die traditionell starke Stellung tet.4 der Stämme gesehen werden. Vor allem im Norden des Landes entziehen sich weite Teile Treibstoff dieses Patronagesystems sind die so den offiziellen staatlichen Institutionen und Einnahmen des Landes aus dem Export von stützen sich auf Jahrhunderte lange tribale Öl sowie finanzielle Zuwendungen aus dem Traditionen, Rechtskodizes und familiäre Ausland. Da die Ölexporte bei weitem nicht Loyalitätsbeziehungen.3 Hierbei spielt im an die der Nachbarländer herankommen und Jemen, anders als in anderen, eher noma- zudem in absehbarer Zeit vollständig versie- disch strukturierten Stammesgesellschaften, gen werden, und da ausländische Zuwen- der Landbesitz eine wichtige Rolle, da die dungen immer auch von der Weltpolitik Stämme im Jemen vor allem als sesshafte abhängig sind, ist in den kommenden Jahren Bauern leben, wobei es auch hier regionale eine Neuausrichtung der Politik des Jemen, Unterschiede gibt. unabhängig von der Person an der Spitze des Systems, unausweichlich, da die bisherige Die Stämme stellen seit jeher eine wichtige Vergabepolitik langfristig nicht mehr funktio- Machbasis im Jemen dar und verfügen über nieren wird.5 signifikante militärische und politische Macht. Bei vielen internen und externen Konflikten II. Voraussetzungen für den Willen nach war entscheidend, welche Partei sich die Wandel Unterstützung der mächtigsten Stämme si- chern konnte. Die historisch bedeutendsten Politisch stabil war die Republik Jemen seit Stammeskonföderationen, Hashid und Bakil, ihrer Gründung noch nie. Verschiedene Kon- konnten ihren Einfluss dabei über Generatio- flikte erschütterten das Land, eine existen- nen hinweg aufrechterhalten. Einbezogen zielle Bedrohung für das Regime stellten werden die Stämme zum einen durch Pos- diese aufgrund ihrer Fragmentierung bisher tenverteilung, vor allem aber durch finanzielle jedoch nicht dar. Die politische Marginalisie- Zuwendungen aus dem Ministerium für rung großer Bevölkerungsteile in Kombination lokale Angelegenheiten. Diese Form der Ko- mit massiven wirtschaftlichen Problemen ver- optation erzeugte eine gegenseitige Abhän- stärkte sich in den vergangen Jahren jedoch gigkeit zwischen staatlichen Institutionen und vor allem auch aufgrund einer stark wach- Stammesführern, die für lange Zeit die Stabi- senden Bevölkerung6 und brachte die staat- lität des Regimes sicherstellte. Für weite Teile lichen Strukturen immer stärker in der Bevölkerung, die sich nicht oder nur se- Bedrängnis. kundär über eine Zugehörigkeit zu einem ein- flussreichen Stamm identifizieren, stellt dies Seit 2004 befindet sich das Regime in einem einen wesentlichen Kritikpunkt an der Regie- bewaffneten Konflikt mit schiitischen Aufstän-

3 Manea, Elham: Yemen: The Tribe and the State, http://www.al-bab.com/yemen/soc/manea1.htm, abgerufen am 02.09.2011. 4 Deutsches Orient-Institut: Die Stämme im Jemen. Chance oder Hindernis für Stabilität? Berlin 2010, S. 6. 5 USAID: Yemen Corruption Assessment 2006, http://www.yemen.usembassy.gov/root/pdfs/reports/yemen-corruption-assessment.pdf, abgerufen am 28.08.201. 6 Zwischen 1990 und 1995 lag das Bevölkerungswachstum bei über 4%, seitdem bei ca. 3%.

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dischen im Nordteil des Landes. Der Konflikt Punkt ist der andauernde Abstieg Jemens geht auf die Zeit vor der Gründung der Repu- zum Armenhaus Arabiens. Die Blütezeiten, in blik im Norden des Landes zurück und wird der durch den Handel mit Weihrauch, Gewür- durch Anhänger des religiösen Anführers der zen und Kaffee legendärer Wohlstand erreicht schiitisch-zaiditischen Konfession Hussein wurde, sind lange vorbei. Über 90% der Badreddin al-Huthi getragen. Bevor der Nord- Staatseinnahmen stammen aus dem Export jemen 1962 Republik wurde, herrschte ein von Erdöl, der jedoch im Vergleich zu den zaiditischer Imam, wobei die Zaiditen nur Nachbarländern minimal8 ist, und in abseh- einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung re- barer Zeit aufhören wird: Zwischen 2000 und präsentierten. Vor allem seit dem Tod al-Hu- 2009 ging die Erdölproduktion bereits um die this 2004 flammt der Konflikt immer wieder Hälfte zurück. Auch der Anbau von Qat, einer neu auf. In diesem Konflikt spielt auch der hauptsächlich lokal konsumierten, leicht be- nördliche Nachbar Saudi-Arabien eine ambi- rauschenden Droge stellt keine Alternative mit valente Rolle. Zukunft dar: 40% der Wasservorräte des Lan- des werden bereits durch den Anbau von Qat Im Süden des Landes formiert sich seit 2007 verbraucht, Nahrungsmittel werden kaum an- verstärkt eine separatistische Bewegung (ara- gebaut. Zudem bietet Qat keine Einnahme- bisch: Hirak). Sie vereint verschiedene Grup- quelle, eher bindet es das Einkommen der pierungen, denen die Dominanz des Nordens Bevölkerung. Auch die Wasservorräte gehen in Wirtschaft und Politik ein Dorn im Auge ist. immer stärker zurück, was neben dem exzes- Bereits der Bürgerkrieg 1994 war ein Krieg siven Qat-Anbau auch am starken Bevölke- zwischen der ehemaligen sozialistischen Füh- rungswachstum liegt. 1980 lebten auf dem rung des Südens und dem Regime Ali Abdul- Gebiet des heutigen Jemen ca. 8 Mio. Men- lah Salehs. Inzwischen umfasst die schen, heute sind es ca. 24 Mio. Bis 2050 soll Bewegung aber auch andere Gruppierungen die Bevölkerung gar auf über 53 Millionen aus Militär und lokalen Stämmen. Am 10. No- steigen. 31% der Bevölkerung sind zwischen vember 2010 wurde der Führer der Bewe- 15 und 30 Jahren, 45 % unter 15 Jahren. Be- gung verhaftet, was zahlreiche Demon- reits heute liegt die Arbeitslosenquote selbst strationen im Süden des Landes hervorrief.7 offiziell bei 35%, inoffiziell sicherlich weit dar- über. Die stark wachsende junge Bevölkerung Die konfliktreiche Gemengelage und der man- hat keine Aussichten auf Beschäftigung, da- gelnde staatliche Zugriff sind ein wesentlicher gegen werden sie von steigender Armut, Punkt für das verstärkte Auftreten des Al- Wasser- und Nahrungsmittelknappheit be- Qaida-Netzwerkes. Seit vielen Jahren schon droht. hat sich der Jemen zu einem bevorzugten Rückzugsgebiet für militante Islamisten ent- Diese wirtschaftlichen Negativaspekte, die im wickelt, vor allem seit sich der saudische und Vergleich mit anderen Ländern der Region jemenitische Ableger zur Al-Qaida auf der deutlich massiver sind, treffen das Regime Arabischen Halbinsel (AQAH) zusammenge- von zwei Seiten: Zum einen versiegen mit den schlossen haben. Die Präsenz Al-Qaidas im sinkenden Staatseinnahmen die Quellen des Land am Horn von Afrika machte Ali Abdullah Patronagenetzwerkes. Die Anzahl von ent- Saleh zu einem Verbündeten der USA im täuschten und konfliktbereiten Akteuren Kampf gegen den Terrorismus. Saleh wusste nimmt kontinuierlich zu. Bisher gelang es Ali diese Position aber auch zu nutzen, um seine Abdullah Saleh, die verschiedenen Gruppen Stellung im Land gegenüber anderen, nicht- gegeneinander auszuspielen. Bereits vor Be- islamistischen Gruppen abzusichern. Gerade ginn der Revolution in Tunesien führte die An- im Konflikt im Süden des Landes stellte kündigung Salehs, erneut für die AQAH einen Gegenspieler zu Hirak dar, was Präsidentschaft kandidieren zu wollen, für Saleh bis vor kurzem eher nützte als scha- Aufruhr innerhalb der politischen Opposition. dete. Zusätzlich wurde jedoch allmählich eine poli- tische Kraft aktiviert, die vorher im Jemen Diese Konflikte stehen zunächst nicht in un- kaum in Erscheinung getreten war: Sicherlich mittelbarem Zusammenhang mit den aktuel- ermutigt durch die Erfolge der Revolution in len Protesten, stellen jedoch eine wichtige Tunesien kam es am 15. Januar 2011 zu er- Voraussetzung dar. Ein weiterer wichtiger sten Protesten der Jugend und zivilgesell-

7 Warzinski, Julian und Julia von Franz: Ein Land im freien Fall, zenithonline.de, http://www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/ein-land-im-freien-fall-001084, abgerufen am 13.08.2011. 8 Die Produktion nimmt seit 2003 ab. 2007 betrugen die Reserven 381 Mio. Tonnen.

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schaftlichen Organisationen. Von Anfang an Proteste dann zweifellos mit dem Ausbruch wurden Spruchbänder und Slogans in Anleh- der Revolution in Tunesien, worauf nicht zu- nung an die Proteste in Tunesien und Ägyp- letzt eine zwischenzeitlich führende Vertrete- ten vorgebracht, die den Rücktritt Salehs rin der Protestbewegung hinweist: Tawakkul forderten. Karman, die Vorsitzende der Women Journa- lists without Chains. Die Organisation setzt III. Akteure des Wandels und konkrete sich schon seit 2005 für Menschenrechte, Auslöser Meinungsfreiheit und Demokratie ein, seit 2007 in regelmäßigen Demonstrationen, die Diese konfliktgeladene Situation bestand im sich zunächst vor allem gegen das Ministe- Jemen bereits seit Jahren, weshalb man auch rium für Information und seine Politik zur „Len- nicht von einem auslösenden Ereignis spre- kung“ der Meinungsäußerung richteten. Ihr chen kann. Sehr wesentlich war jedoch An- langjähriges Engagement wurde bereits 2010 fang Januar 2011 die Ankündigung der durch den International Women of Courage Regierungspartei, im Zuge der für 2013 an- Award gewürdigt. Karman steht dabei für ein stehenden Präsidentschaftswahlen eine Ver- positives Bild der jemenitischen Frauen, für fassungsänderung anzustreben, die Ali die sie zwar kein repräsentatives Beispiel ist, Abdullah Saleh nicht nur eine weitere Amts- in jedem Fall aber ein Hoffnungsschimmer. zeit, sondern eine Präsidentschaft auf Le- Dies gilt vielleicht umso mehr, als sie für Islah benszeit ermöglich hätte und damit die im Parlament sitzt, und damit zeigt, dass der ohnehin bestehende Vermutung einer ange- Wille zur Veränderung nicht unbedingt aus strebten Machtübergabe an seinen Sohn „westlich“ oder „modern“ geprägten Gesell- Ahmed Ali weiter verstärkt hat. Dafür sollte die schaftsteilen kommen muss. Sie lehnt auch Amtszeit zwar auf fünf statt bisher sieben die Anti-Terror-Politik der Regierung gegen- Jahre begrenzt, im Gegenzug aber die Be- über Al-Qaida ab und zeigt somit nicht etwa schränkung von zwei möglichen Legislatur- Widersprüche, sondern Konsequenz: Gewalt perioden aufgehoben werden. Bisher wurde sei keine Lösung für Konflikte, daher seien diese Regelung dadurch umgangen, dass mit friedliche Demonstrationen der einzige Weg.9 jeder Verfassungsänderung eine neue Zäh- Ob dies so für den Jemen gelten wird, ist auf- lung der Amtszeiten begann. Diese Ankündi- grund der Ereignisse eher fraglich. Trotz Ihres gung verstärkte den Widerstand der langjährigen Engagements weist Karman politischen und gesellschaftlichen Opposition. auch darauf hin, dass die Revolutionen in Tu- nesien und Ägypten wichtige Vorbilder für die Verschiedene Oppositionsparteien haben sich jemenitische Protestbewegung waren. Wel- bereits 2001 zu einem Bündnis zusammen- che Rolle Karman im weiteren Verlauf der geschlossen, welches seitdem als stärkste Proteste und in der Zukunft spielen wird, wird parlamentarische Konkurrenz auftritt. Die aber auch davon abhängen, wie friedlich die Joint Meeting Parties (JMP) setzen sich aus Situation im Jemen bleibt. Als Vertreterin der der islamisch-traditionellen Islah und der ehe- Islah-Partei steht natürlich auch sie teilweise maligen süd-jemenitischen Staatspartei, der in der Kritik, traditionelle, ehemals mit dem Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) Präsidenten kooperierende Kräfte zu unter- sowie weiteren, kleineren Parteien zusam- stützen. men. In der Vergangenheit wurde beispiels- weise ein gemeinsamer Gegenkandidat zu Anders sieht dies für die einflussreiche Fami- Saleh nominiert. Allerdings zeigte sich immer lie al-Ahmar aus. Sie führt bereits seit dem 18. wieder, dass die Oppositionsparteien uneinig Jahrhundert die mächtige Stammeskonföde- sind, was einerseits an der unterschiedlichen ration der Hashid und war 1962 maßgeblich Ausrichtung (religiös-traditionell vs. sozialis- am Sturz des Imams und somit der Entste- tisch) liegt, wie auch an den langjährigen per- hung der Republik im Norden des Jemen be- sönlichen Verbindungen führender teiligt. Seitdem hatte die al-Ahmar-Familie Islah-Politiker (insbesondere der Familie Al- stets auch wichtige Posten inne, vor allem der Ahmar) zu Saleh. Dies ist auch der Grund, Vater des aktuellen Familienoberhaupts warum vor allem junge Anhänger der Protest- Sadiq, Abbdullah al-Ahmar, mischte bis zu bewegung die Rolle der JMP kritisch sehen. seinem Tod 2007 über Jahrzehnte in der Po- Dennoch war es zunächst die parlamentari- litik des Landes mit. Nach der Vereinigung sche Opposition, die erste Proteste organi- 1990 war Abdullah al-Ahmar einer der wich- sierte. Zusätzlichen Schub bekamen diese tigsten Partner Salehs. Er stand der neu ge-

9 Baker, Eryn: The Woman at the Head of Yemens Protest Movement, time.com, http://www.time.com/time/world/article/0,8599,2049476,00.html, abgerufen am 28.08.2011.

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gründeten Islah-Partei vor, die in der Ausein- Muhsin. Er galt lange als einer der wichtigsten andersetzung zwischen den ehemaligen Vertrauten Salehs, was auch seine zentrale Staatsparteien des Nordens und des Südens Rolle im Konflikt mit den Huthi-Rebellen im enger mit Saleh paktierte. Abdullah al-Ahmar Norden des Landes zeigt. Muhsin steht je- setzte sich stets für den Präsidenten ein, doch nicht für die gesamte jemenitische wurde dafür regelmäßig als Parlamentspräsi- Armee. Enge Verwandte des Präsidenten dent gewählt, obwohl Saleh über eine Parla- kontrollieren beispielsweise die Republikani- mentsmehrheit verfügte. sche Garde und andere Spezialeinheiten, die weiter auf der Seite Salehs stehen. Der Die enge Beziehung nutzte der Familie nicht Schwenk Muhsins wird zudem, ähnlich wie nur politisch, sondern sicherte ihr wirtschaftli- bei den al-Ahmars, von manchen Regime- che Vorteile, die sich an den vielfältigen Akti- gegnern kritisch gesehen, da er ebenso wenig vitäten der Al-Ahmar Group of Companies für einen Wandel steht, sondern eher für eine ablesen lassen. In den vergangenen Jahren Beibehaltung des Status quo unter anderer litt diese enge Beziehung, weil sich zum einen Führung. abzeichnete, dass Saleh seinen Sohn Ahmed Ali als Amtsnachfolger in Stellung brachte. Insbesondere der nördliche Nachbar Saudi- Dadurch und durch die sich verschlechternde Arabien beobachtet die fragile und volatile Si- Wirtschaftslage des Landes konzentrierte tuation im Jemen mit Besorgnis. Dabei Saleh sich bei Zuwendungen verstärkt auf die verfolgt Saudi-Arabien eigene Ziele, die poli- engere Familie. Zum anderen schmälerte tischer, aber auch ideologischer Art sind. Die auch der Tod von Abdullah al-Ahmar, in des- Schwäche der jemenitischen Regierung be- sen sehr große Fußtapfen Sheikh Sadiq al- reitet Saudi-Arabien vor allem in Bezug auf Ahmar als Führer der Hashid trat, den den Huthi-Konflikt Sorge. Von saudischer Einfluss der Familie auf Saleh. Sadiqs jünge- Seite wird iranische Schützenhilfe für die schi- rer Bruder Hamid gilt als wesentlich ambitio- itischen Rebellen an der Grenze zwischen nierter als seine insgesamt neun Brüder und Jemen und Saudi-Arabien vermutet, was im zeigt dies auch während der aktuellen Pro- Zusammenhang mit der Rivalität zwischen teste. Er unterstützte die Demonstrationen Saudi-Arabien und Iran in der Golfregion zu von Anfang an, unter anderem durch den zu sehen ist. Die orthodox-konservative Ausle- seinem Firmenimperium gehörenden Mobil- gung des Islam nach wahhabitischer Lehre, funkanbieter Sabafon. Die privilegierte Situa- die in Saudi-Arabien ihren Ursprung hat, sieht tion und die wichtige Rolle als langjährige Schiiten als Ungläubige, womit der Konflikt Unterstützer Salehs diskreditierten die Fami- zwischen Iran und Saudi-Arabien real- und si- lie bei großen Teilen der Protestbewegung. cherheitspolitische, aber auch religiös-ideolo- Saleh versuchte dies zu nutzen, und die Fa- gische Bedeutung erlangt hat. Da das milie als treibende Kraft der Proteste darzu- saudische Königshaus auch Anschlagsziel stellen, was die Situation für ihn jedoch von islamistischen Terroristen ist, setzte es anfangs nicht verbessern konnte. Die Aus- sich für den US-unterstützten Kampf gegen einandersetzung zwischen dem Haus al- den Terrorismus ein. Ein rechtsfreier Raum in Ahmar und Saleh blieb zwischenzeitlich nicht unmittelbarer Nachbarschaft, in dem 24 Mio. auf politische Mittel begrenzt und führte zur Menschen leben, der schiitischen Rebellen schweren Verwundung des Präsidenten im und radikalen, antiwestlichen Terroristen Juni 2011 und damit zu seiner Ausreise zur Rückzugs- und Operationsmöglichkeiten bie- medizinischen Behandlung nach Saudi-Ara- ten würde, ist wohl eine der größten Ängste bien. Auch wenn zwischenzeitliche Meldun- der saudischen Außenpolitik. Bis zu den Pro- gen, ein Nachfolger Salehs könnte aus dem testen war aus dieser Perspektive Ali Abdullah Hause al-Ahmar kommen, sowohl von Teilen Saleh der logische Kooperationspartner der Protestbewegung vehement abgelehnt Saudi-Arabiens, da er für die aus saudischer werden, sowie durch Äußerungen von Sadiq Sicht dringend benötigte Stabilität stand. Für al-Ahmar relativiert wurden, wird die Familie die Zukunft wird Stabilität und Sicherheit wieder eine wichtigere Rolle im politischen weiterhin Saudi-Arabiens erste Priorität in Geschehen spielen, wie sich bereits durch die Bezug auf den Jemen sein, weshalb man sich Einbindung in den Übergangsrat zeigt. Für auch für einen geordneten Machtübergang Aufsehen sorgte die öffentliche Unterstützung einsetzte.10 der Protestbewegung durch General Ali

10 Boucek, Christopher: Higher Stakes in Yemen, Carnegie Endowment for Peace, http://www.carnegieendowment.org/2011/06/14/higher-stakes-in-yemen/1rl#future, abgerufen am 31.08.2011.

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IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- sich die zivile Protestbewegung von den Ver- lings“ handlungen ausgeschlossen sah und be- fürchtete, die Vertreter der JMP könnten die Mit den Ereignissen in Tunesien und Ägypten Macht übernehmen. Insgesamt nahm nun weiteten sich auch die Proteste im Jemen auch die Gewalt zu, wobei dies nicht von der aus. Ende Januar 2011 kam es erstmals zu Protestbewegung ausgeht. In Sanaa hatten Großdemonstrationen mit ca. 16.000 Men- sich vor allem Gefolgsleute der al-Ahmars schen in Sanaa, was Saleh am 2. Februar eingefunden, aber auch im Süden und Nor- dazu brachte, seinen Verzicht auf eine wei- den des Landes kam es zu verstärkten Kämp- tere Amtszeit und eine Übergabe der Regie- fen zwischen regimetreuen Militär- und rung an seinen Sohn zu erklären. Nach dem Sicherheitskräften und Oppositionellen. In Rücktritt Hosni Mubaraks verstärkte sich das den südlichen Provinzen zog sich die Armee Engagement der außerparlamentarischen jedoch relativ bald aus den Städten zurück. Opposition, wesentlich mehr spontane De- Bei den Kämpfen in Sanaa wurde Saleh monstrationen kamen im ganzen Land zu schwer verletzt, und am 5. Juni zur Behand- Stande. Trotz teilweiser unterschiedlicher Po- lung nach Saudi-Arabien ausgeflogen. sitionen und gegenseitiger Skepsis vereinte die Forderung nach dem Rücktritt Salehs nun Nachdem auf saudische Vermittlung ein Waf- nicht nur JMP, Jugend- und Menschenrechts- fenstillstand zwischen Regierungskräften und bewegungen, sondern auch Huthi-Anhänger Stammesführern verhandelt wurde, kam es im Norden des Landes und Separatisten im nur noch zu wenigen größeren Auseinander- Süden. Im Süden kommt es dabei bereits in setzungen. Bis zur Entlassung Salehs aus dieser Phase zu größeren Auseinanderset- dem Krankenhaus am 16. August herrschte zungen. Aber vor allem das brutale Vorgehen weitestgehend Stillstand. Erst die erneute An- der Sicherheitskräfte am 18. März in Sanaa, kündigung seiner Rückkehr, und auch die Er- als über 50 Tote und über 600 Verletzte zu be- eignisse in Libyen (Einnahme Tripolis’ durch klagen sind, lässt einen Riss durch das Re- die Rebellen) führten zur Bildung eines lange gime gehen. In den folgenden Tagen traten geforderten Übergangsrates, der jedoch die mehrere Minister und Botschafter zurück, zivile Protestbewegung kaum mit einbezog. Saleh entließ die Regierung. V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure Zahlreiche Stammesführer wandten sich ab, Sadiq al-Ahmar forderte offen den Rücktritt Die ersten Reaktionen des Regimes auf die des Präsidenten.11 General Ali Muhsin, der als Proteste im Januar waren repressiven Cha- enger Vertrauter Salehs galt, setzte seine Sol- rakters. Wenn auch in weniger starker Inten- daten zum Schutz der Demonstranten auf sität, so wurden doch Sicherheitskräfte wichtigen Plätzen in Sanaa ein, die Proteste mobilisiert und Regimekritiker festgenommen. blieben jedoch weitestgehend friedlich. Ende Vor allem die Festnahme von Tawakkul Kar- März erklärte Saleh erstmals, unter bestimm- man, charismatische Führungspersönlichkeit ten Bedingungen zum Rücktritt bereit zu sein. des Netzwerkes Womens Journalists without Ein Vermittlungsabkommen der im Golfkoo- Chains, verstärkte die Proteste jedoch. Der perationsrat vertretenen Länder, allen voran Aufruf Salehs, keine Gewalt gegen Demon- Saudi-Arabien, nahm Saleh zunächst münd- stranten anzuwenden, verhallte. Anfang März lich an. Demnach hätte Saleh die Präsident- wurde neben Tränengas und Gummige- schaft nach 30 Tagen an seinen Stellvertreter schossen auch scharfe Munition eingesetzt. übergeben, der einer Einheitsregierung aus Auch wenn im ganzen Land hart gegen De- Regierungspartei und Opposition vorstehen monstranten vorgegangen wurde, so waren sollte, bis es nach 60 Tagen Neuwahlen doch im Süden, vor allem im Hadramaut und geben sollte. Im Gegenzug wäre Saleh straf- Aden, die Zusammenstöße wesentlich hefti- rechtliche Immunität gewährt worden. Insge- ger. Zwischenzeitlich sah es nach einem mög- samt dreimal verweigerte Saleh die lichen Bürgerkrieg aus, nachdem Saleh das Unterschrift, schließlich umstellten Sicher- Land verlassen hatte, beruhigte sich die Lage heitskräfte das Gebäude, in dem sich inter- in dieser Hinsicht etwas. nationale Vertreter in Erwartung der Unterzeichnung befanden und mit Helikoptern Aber nicht nur Gewalt, auch die Mobilisierung evakuiert wurden. Der Kompromissvorschlag der eigenen Anhänger war eine Reaktion auf spaltete jedoch auch die Gegner Salehs, da die zunehmenden Proteste. Zwar ist ein

11 Dies stellt durch die Tatsache, dass Salehs Stamm zur Konföderation der Hashid gehört, eine besondere Konstellation dar.

Deutsches Orient-Institut 147 Jemen

Grund für die große Unterstützung dieser Pro- März traten mehrere Minister aus der Regie- Saleh-Demonstrationen vermutlich auch die rung aus. Auch der Führer des größten Stam- finanzielle und materielle Ausstattung der Re- mes, Sadiq al-Ahmar, und der führende gimeanhänger, doch ist die Bevölkerung ins- Generalmajor der Streitkräfte, Ali Muhsin, er- gesamt durchaus gespalten, so dass es auch klärten ihre Solidarität mit der Protestbewe- zu Unterstützung des Regimes von Bürgern gung.12 kam und kommt, die schlicht Angst vor einer Ausweitung der Proteste hatten. Anhänger Dennoch blieben weite Teile der Armee auf Salehs blockierten auch Straßenzüge und der Seite Salehs. Die Rückkehr Salehs aus Plätze und verwehrten so Regimekritikern Zu- Saudi-Arabien wurde mehrmals angekündigt, gang zu Protestaktionen. Ende August bekräftigte Saleh seinen Willen, nach Sanaa zurückzukehren in einem ersten Auch auf die wirtschaftliche Ursache der Pro- Fernsehauftritt nach seiner Verwundung an- teste reagierte das Regime unmittelbar. So lässlich des Fastenbrechens nach dem Ra- kündigte Saleh an, die Gehälter für Staatsbe- madan, ließ den Zeitpunkt jedoch offen. Als dienstete zu erhöhen, staatliche Zuschuss- Vorbedingung für Präsidentschaftswahlen programme auszuweiten und weitere Stellen nannte er die abschließende Untersuchung im Staatsdienst zu schaffen. Diese Ankündi- des auf ihn verübten Angriffs, der zu seiner gungen lösten aber selbst bei Regimebefür- Verwundung geführt hatte. Damit ging er auf wortern Widersprüche aus, da der Konfrontationskurs mit der Familie al-Ahmar, aufgeblähte Staatsdienst als ein wesentlicher deren Anhänger in diese Kämpfe involviert Grund der fiskalischen Misere gilt und diese waren. Ankündigungen daher ebenso leicht durch- schaubar waren wie nicht umsetzbar. Neben VI. Zukunftsszenarien diesen wirtschaftlichen Zugeständnissen war Saleh auch zu politischen Kompromissen be- Der Machtkampf im Jemen ist nicht beendet, reit, die vor Beginn der Proteste noch als Ali Abdullah Saleh spielt weiter auf Zeit. Zwar große Erfolge der Opposition wahrgenommen bekommt die Protestbewegung durch die Er- worden wären. Dementsprechend wurden die folge der Rebellen in Libyen neuen Schwung, Ankündigungen auch befürwortet, jedoch mit doch ist die Lage im Jemen völlig anders. der Forderung nach weiteren Schritten verse- hen. Saleh kündigte an, nicht mehr für eine Die Bildung einer Übergangsregierung, die in weitere Amtszeit zu kandidieren, sowie er breiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert eine Amtsübernahme durch Familienmitglie- wird, ist bislang nicht gelungen. Dies dürfte der ausschloss. Ebenso sollte die Verfas- auch schwierig werden, wenn die Protestbe- sungsklausel, nach der die Begrenzung der wegung an der Forderung festhält, dass nur Legislaturperioden für den Präsidenten hätte Personen ohne Verbindung zur aktuellen Elite aufgehoben werden sollen, zurückgenommen darin vertreten sein sollen. In dieser Elite ste- werden. Die wesentliche Forderung nach hen einige Persönlichkeiten, die über erhebli- einem vorzeitigen Rücktritt sollte aber zu- che militärische Mittel verfügen und bereits nächst unerfüllt bleiben. gezeigt haben, dass sie auch bereit sind, diese einzusetzen, wenn sie ihre Interessen Nachdem die Protestbewegung nach dem nicht berücksichtigt sehen. Gleichzeitig verfü- Rücktritt des ägyptischen Präsidenten neuen gen v.a. die Familie al-Ahmar und General Schwung gewonnen hatte, versuchte Saleh Muhsin auch über sehr gute Beziehungen zu durch Gespräche mit Stammesvertretern die Saudi-Arabien. Das Königreich schien mit Unterstützung der militärisch wichtigen dem Vermittlungsangebot der GCC-Länder Stämme für die Demonstranten durch die Zu- schon von Saleh abgerückt zu sein. Die Un- sicherung weiterer finanzieller Zugeständ- einigkeit der Protestbewegung und der Op- nisse zu beenden. Dies zeigte für die position dürfte die Bereitschaft, mit Saleh Demonstranten nur erneut, dass es Saleh weiter zusammen zu arbeiten, hier jedoch nicht um inhaltliche Zugeständnisse und poli- deutlich erhöht haben. Eine Fortsetzung der tische Reformen ging, sondern um die Fort- Politik der vergangenen Jahre dürfte für führung seiner bewährten Methoden des Saudi-Arabien auf den ersten Blick sicherlich Machterhalts. Die anhaltenden Proteste lie- eine akzeptable Lösung der Situation sein. ßen auch die Maßnahmen des Regimes es- Saudi-Arabien wird ein politisches Vakuum im kalieren. Nach den Vorkommnissen vom 18. Jemen nicht zulassen und seinen Einfluss auf

12 International Crisis Group: Popular Protest in North Africa and the Middle East (II): Yemen between Re- form and Revolution,10. Mai 2011.

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die Politik weiter wahren wollen. Dennoch per und teurer denn je. Die Preise für Le- muss auch hier mittelfristig ein Prozess des bensmittel sind seit Januar um bis zu 60% ge- Umdenkens einsetzen, da eine Fortsetzung stiegen, für Trinkwasser und Benzin um ein dieser Politik langfristig nicht mehr möglich Vielfaches. Es mehren sich die Stimmen, die sein wird. Die Ressourcen des Landes darauf verweisen, dass Nahrung und Sicher- schwinden, die Bevölkerung wächst weiter, heit die Voraussetzungen für Freiheit und De- der soziale Druck wird zunehmen. mokratie sind.

Die USA und die EU haben die Zeichen der Doch auch im Jemen hat der „Arabische Zeit vermutlich schon erkannt. Dennoch wird Frühling” die politische Landschaft nachhaltig es schwer möglich sein, gegen die Interessen verändert. Die Protestbewegung wird sich Saudi-Arabiens Einfluss zu nehmen. Nun nicht ohne weiteres zurückdrängen lassen rächt sich die Politik der vergangenen Jahre, oder aufgeben. Zumindest haben die Erfah- in der man Stagnation und Rückschritte hin- rungen der vergangenen Monate gezeigt, sichtlich der demokratie- und entwicklungs- dass auch im Jemen eine Generation heran- politischen Ziele hinnahm, sobald Gefahr wächst, deren Bedürfnisse nicht ignoriert wer- durch Terroristen im Verzug war. Man hat sich den können. Aber es wird vermutlich auch zu wenig mit den Kräften beschäftigt, die sich keine vollständige Umwälzung der politischen gegen Saleh gestellt haben. Verhältnisse geben, weil keine Kraft im Land stark genug ist, sich durchzusetzen, und Im Verlauf der Proteste schienen schon ver- Bündnisse schon während der Proteste zer- schiedenste Szenarien möglich. Ein neuer ge- brechen. Gleichzeitig zeigen auch externe Ak- samt-jemenitischer Nationalismus wurde teure entweder zu wenig Einfluss- ebenso ausgerufen, wie die Abspaltung des möglichkeiten oder zu wenig Interesse, das Südens bereits beschlossene Sache schien, Risiko eines klaren Bekenntnisses einzuge- und Al-Qaida im Sindjibar kurz vor der Errich- hen, solange sich noch nicht abzeichnet, wer tung eines „Gottesstaates“ stand. Während- gestärkt, und wer geschwächt aus den ak- dessen hat sich die ohnehin katastrophale tuellen Protesten hervorgeht. wirtschaftliche Situation zugespitzt. Strom, Benzin, Wasser und Lebensmittel sind knap- Peter Schmitz

VII. Literaturangaben

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BURROWS, ROBERT: Prelude to Unification: The Yemen Arab Republic, 1962-1990, in: International Journal of Middle East Studies, Vol. 23 (1991) No. 4, S. 483-506.

DEUTSCHES ORIENT-INSTITUT: Die Stämme im Jemen. Chance oder Hindernis für Stabilität? Berlin 2010.

DEUTSCHES ORIENT-INSTITUT: Die Beziehungen Saudi-Arabien – Jemen. Ein kompliziertes Verhältnis, Berlin 2010.

GLOSEMEYER, IRIS: Politische Akteure in der Republik Jemen. Wahlen, Parteien und Parlamente, Hamburg 2001.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Popular Protest in North Africa and the Middle East (II): Yemen between Reform and Revolution, 10. Mai 2011.

Deutsches Orient-Institut 149 Jemen

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WARZINSKI, JULIAN, FRANZ, JULIA VON: Ein Land im freien Fall, zenithonline.de, http://www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/ein-land-im-freien-fall-001084, abgerufen am 13.08.2011.

150 Deutsches Orient-Institut Vereinigte Arabische Emirate

Landesdaten Vereinigte Arabische Emirate Fläche1 2011 83.600 km² Bevölkerung2 2010 4.700.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 56 Emiratis 19%, andere Araber und Ethnische Gruppen4 2010 Iraner 23%, Südasiaten 50% Muslime 96% (Schiiten 16%), Religionszugehörigkeit5 2010 andere (wie z.B. Christen, Hindus) 4% Durchschnittsalter6 2010 30,2 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 18% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 1% Lebenserwartung9 2010 76,51 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 8.300.000 Geburten pro Frau11 2009 1,9 Alphabetisierungsrate12 2010 77,9% Nutzer Mobiltelefone13 2009 10.672.000 Nutzer Internet14 2009 3.555.100 Nutzer Facebook15 2011 2.340.000 Wachstum BIP16 2011 3,2% BIP pro Kopf17 2010 56.485 USD Arbeitslosigkeit18 2010 2,5% Inflation19 2011 0,9% S&P-Rating20 2011 AA Human Development Index21 2010 Rang 32 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 95 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 76,9% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 23,7% Korruptionsindex25 2010 Rang 28 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 The World Bank, Population density (people per sq. km of land area), http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 Germany Trade and Invest, Wirtschaftsdaten kompakt: Vereinigte Arabische Emirate, Mai 2011, http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7782.pdf?show=true. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Deutsches Orient-Institut 151 Vereinigte Arabische Emirate

Vereinigte Arabische Emirate kale Regierungen, deren Komplexität und Ar- beitsspektren vom jeweiligen Emirat abhän- Jahrelang erfreuten sich die Vereinigten gen. Bei Entscheidungen von regionaler oder Arabischen Emirate (VAE) dank politischer internationaler Tragweite bemühen sich die und wirtschaftlicher Stabilität dem Ruf als VAE jedoch, als geschlossener Akteur aufzu- „sicherer Hafen“. Ausländische Unterneh- treten, um den eigenen Anliegen mehr Ge- men schätzten die Emirate als wichtigen wicht verleihen zu können2. Theoretisch Standort und Investoren lobten die vielen können die Emirate zwar einen Teil ihrer Be- Investitionsmöglichkeiten. Doch im Zuge fugnisse abtreten, praktisch aber sind sie dar- des „Arabischen Frühlings“, der Finanz- auf bedacht, ihre Eigenständigkeit zu wahren. krise in Dubai und der Proteste der Ar- beitsimmigranten stellt sich die Frage, wie An der Spitze des Bundesstaates steht der stabil dieser Hafen denn eigentlich ist oder Präsident, derzeit Scheich Khalifa bin Zayid ob der „Fels in der Brandung“ allmählich Al Nahyan. Die Herrscher der sieben Emirate anfängt zu bröckeln. bilden mit dem Obersten Rat (Supreme Coun- cil) das höchste Verfassungsorgan. Sie haben I. Politisches System und gesellschaftli- sowohl legislative als auch exekutive Befug- che Entwicklung nisse und wählen aus ihren Reihen den Prä- sidenten und seinen Stellvertreter für eine Im Dezember 1971 von Großbritannien in die Amtszeit von fünf Jahren. Zusammen bestim- Unabhängigkeit entlassen, trafen sich die men sie die Richtlinien der Politik, wobei Abu Herrscher der sechs Emirate Abu Dhabi, Dhabi und Dubai ein Vetorecht besitzen3. Ajman, Dubai, Fujaira, Sharjah und Umm al- Qaiwan, um eine Union zu gründen. Im Fe- Der Bundesnationalrat (Federal National bruar 1972 trat Ra’s al-Khaima dem Bund, der Council) besteht aus 40 Mitgliedern, die zur seinen ersten Präsidenten in Zayid bin Sultan einen Hälfte vom Obersten Rat und zur an- Al Nahyan gefunden hatte, bei. Seitdem deren Hälfte durch einen Prozess indirekter spricht man von den VAE als eine Föderation Wahlen ermittelt werden. Die Anzahl der Mit- aus sieben Emiraten, deren Hauptstadt Abu glieder, die jedes Emirat stellen darf, ergibt Dhabi ist. Die Organe und Institutionen dieser sich aus der jeweiligen Einwohnerzahl4. Inner- Föderation sind jedoch nur bedingt hand- halb der legislativen Gesetzgebung kommt lungsfähig, da die Autonomie der sieben Emi- dem Bundesnationalrat nur eine konsultie- rate verfassungsrechtlich geschützt ist. Die rende Funktion zu. Er ist Mitglied in der Inter- Föderationsregierung beschränkt sich zu- nationalen Parlamentarischen Union (IPU) meist auf übergeordnete Politikfelder, wie die und der Arabischen Parlamentarischen Union gemeinsame Außenpolitik, Sicherheit, Polizei, (APU). Mit einem westlichen Parlament ist der Verteidigung, Geheimdienst, Gesundheitspo- Bundesnationalrat jedoch nicht zu verglei- litik, Währung, Bildung und Passformalitäten. chen, da er keine wesentlichen Befugnisse Nach Artikel 116 der Verfassung üben die oder Kompetenzen besitzt. Emirate „alle durch diese Verfassung nicht an die Föderation abgegebenen Befugnisse“ Die herausragende Stellung der beiden Emi- aus. Dieser Bundescharakter soll im Bedarfs- rate Abu Dhabi und Dubai im Obersten Rat fall gegenseitige Unterstützung1 und eine ziel- und im Bundesnationalrat lässt sich zum gerichtetere und effektivere Politik Einen mit einer höheren Einwohnerzahl5 und gewährleisten. Zunächst einmal wirtschaftet zum Anderen mit höheren Einnahmen durch jedes Emirat für sich und besitzt eigene, lo- größere Ölvorkommen6 begründen.

1 Das war beispielsweise der Fall bei der Finanzkrise in Dubai 2009: Als Dubai Zahlungsschwierigkeiten verlauten ließ, sagte Abu Dhabi seinem Nachbaremirat finanzielle Unterstützung von zunächst 10 Mrd. USD zu. 2 Das trifft zum Beispiel im Falle der OPEC, der UNO, der Arabischen Liga oder des Golf-Kooperationsra- tes zu. 3 Artikel 49 der Verfassung: “Issuing the decisions of the Supreme Council on substantive matters shall be by a majority of five of its members provided that this majority includes the votes of the Emirates of Abu Dhabi and Dubai. The minority shall be bound by the view of the said majority (…)”. 4 Abu Dhabi und Dubai entsenden jeweils acht, Ra’s al-Khaima und Sharjah sechs und Ajman, Fujaira und Umm al-Qaiwan jeweils vier Mitglieder. 5 Das nationale Amt für Statistik der VAE ging 2010 von einer Gesamtbevölkerung (nur Staatsbürger) von 947.997 aus. Dabei betrug die Einwohnerzahl emiratischer Staatsbürger in Abu Dhabi 404.546 und in Dubai 168.029. 6 Abu Dhabi 92,2 Mrd. Barrel, Dubai 4 Mrd. Barrel, Sharjah 1,5 Mrd. und Ras al-Khaimah 100 Mio. Barrel Öl. 152 Deutsches Orient-Institut Vereinigte Arabische Emirate

Der Ministerrat und das Kabinett bilden die sind8. In der Praxis finden vornehmlich das Exekutive der Emirate. Sie bestehen aus den 1980 erschienene Publications and Printing Fachministerien und werden von dem Minis- Law und das Press Law von 2009 Anwen- terpräsidenten angeführt, der vom Präsiden- dung, die jegliche Kritik an den Präsidenten, ten und dem Obersten Herrscherrat ernannt den Herrschern, dem Islam, dem Führungs- wird. Die Bundesjustiz genießt laut Verfas- stil oder befreundeten Staaten unter Strafe sung völlige Unabhängigkeit. An ihrer Spitze stellen. steht das Oberste Gericht, welches aus fünf vom Obersten Rat bestimmten Richtern be- Aber auch wenn das politische System auto- steht. Deren Aufgabe ist es, über die Verfas- ritäre Züge aufweist, erfreut sich die Regie- sungsmäßigkeit von Bundesgesetzen zu rung großer Beliebtheit. Mit Scheich Khalifa entscheiden und Streitigkeiten zwischen den (geb. 1945) und Regierungschef Mohammed einzelnen Emiraten beizulegen. (geb.1949) und ihren Söhnen ist auch, im Ver- gleich zu anderen Golfmonarchien, die jün- Trotz ihrer institutionellen Gliederung kann gere Generation in den Herrschaftsetagen das politische System nicht als parlamentari- weitgehend vertreten. Anders als in Ägypten9, sche Demokratie bezeichnet werden; viel- Saudi-Arabien10 oder Kuwait11 können die mehr weist es drei wesentliche Merkmale VAE einzig und allein schon wegen des ver- einer autoritären Herrschaft7 auf: gleichsweise jungen Alters der Herrscher ziel- gerichteter auf die Bedürfnisse der jüngeren 1. Fehlen einer ausformulierten Ideologie; Bevölkerung eingehen. Mohammed bin 2. geringer Mobilisierungsgrad: Bedingt Rashid Al Maktoum beispielsweise gilt als Mo- durch die Ideologielosigkeit gelten ein- dernisierer, und als Herrscher von Dubai be- heitliche Widerstände als unwahr- reitet er das Emirat schrittweise auf eine Zeit scheinlich; nach dem Öl vor. Er beauftragte die Realisie- 3. begrenzter Pluralismus: Der geringe rung zahlreicher Projekte, darunter die Frei- Mobilisierungsgrad führt einerseits zu handelszonen, das Dubai Shopping Festival, einer Entpolitisierung der Massen, an- den Bau des Burj al-Arab und The Palm. Auf- dererseits zu einer Stärkung der vor- fällig an dem politischen System der VAE ist, handenen Mächte. Oppositionen und dass es sowohl moderne als auch traditionelle Medien gelten als Indikatoren, um den Elemente in sich vereint. So ziehen die Herr- Grad des begrenzten Pluralismus fest- scher der Emirate ihre Legitimität nicht allein zulegen. aus ihrer Funktion im Staat, sondern auch aus dem hierarchischen Aufbau der Stämme12 Den sieben Herrschern der Emirate – inklu- und deren Loyalität untereinander. Theore- sive dem Präsidenten – kommt eine be- tisch ist auch das islamische Prinzip der sonders gewichtige Stellung zu: Sie allein Shura, wonach jeder Muslim seinen Herr- bestimmen die Richtlinien der Politik, und al- scher mit seinem Anliegen oder seinen Fra- lein von ihnen geht alle Macht aus. Nur we- gen konsultieren kann, in den VAE vertreten. nige Familienclans sind Teil dieser Zudem wird jedes Gesetz auf Islamkonfor- Machteliten, allen voran die Häuser der Al Na- mität geprüft. hyan und der Al Maktoum, die gegenwärtig den Präsidenten Scheich Khalifa bin Zayed In der Politik und im Alltagsleben erfährt die bin Sultan Al Nahyan und den Regierungs- offizielle Religion des Landes, der Islam, eine chef Mohammed bin Rashid Al Maktoum stel- eher ungezwungene Anwendung. Zwar nennt len. Ihre Stellung wird durch das offizielle die Verfassung die Scharia als Hauptrechts- Verbot von Regierungsparteien, Oppositionen quelle, sie findet in der Praxis – mit Ausnahme und Gewerkschaften noch weiter gestärkt. des Familienrechts – jedoch kaum Anwen- Hinzu kommen Einschränkungen in Mei- dung. Bei zivilrechtlichen Angelegenheiten nungs-, Rede- und Pressefreiheit, obwohl wird häufig die Verfassung als wesentliche diese laut Verfassung eigentlich geschützt Rechtsquelle genannt, es folgen Bundes- und

7 Definition nach Juan J. Linz. 8 Artikel 30: “Freedom of opinion and expressing it verbally, in writing or by other means of expression shall be guaranteed within the limits of law”. 9 bis 2011: Muhammad Husni Mubarak (geb. 1928). 10 Abdullah ibn Abd al-Aziz al-Saʿud (geb. 1924). 11 Sabah al-Ahmad al-Dschabir Al Sabah (geb. 1929). 12 Bani Yas ist ein Stamm, der sich historisch gesehen aus mehreren Stämmen zusammensetzt. Darunter al Bu Falasah, aus dem wiederum die Familie Maktoum (Herrscherfamilie in Dubai) hervorgeht. Angeführt wurde der Bani Yas Stamm, der Koalitionen mit anderen Stämmen unterhielt, von der Nahyan-Familie.

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Emiratsgesetzgebung, Scharia und Handels- politischer Stabilität und werden von auslän- bräuche sowie Praxis13. Vor allem die Lage dischen Unternehmen und Investoren als der Frauen hat sich seit der Gründung der Fö- wichtiger Standort18 geschätzt. Drei Faktoren deration stetig verbessert: Auf ihre Bildung aber könnten den Emiraten in Zukunft noch wird immer mehr Wert gelegt; sie studieren, Probleme bereiten und so den Willen nach arbeiten und finden sich zunehmend in lei- Wandel hervorbringen oder stärken: Fehlende tenden Positionen wieder14. politische Mitbestimmung, die Arbeitsimmi- granten und die Wirtschaft. Die Bevölkerung insgesamt hat sich in den letzten Jahren rapide entwickelt: Derzeit leben Doch obwohl die politischen Partizipations- etwa 4,7 Mio. Menschen in den VAE. 1971 lag möglichkeiten für die Bevölkerung vom De- die Einwohnerzahl bei gerade einmal mocracy Index auf einer Skala von 0 (nicht 180.000. Von den geschätzten 4,7 Mio. Ein- vorhanden) bis 10 (sehr gut) mit 1,11, Wahl- wohnern sind knapp 70% keine emiratischen system und Pluralismus mit 0 und bürgerliche Staatsbürger. Zurückzuführen ist diese Be- Freiheiten mit 2,9419 bewertet werden, fehlt es völkerungsexplosion auf die natürliche der Mehrheit der einheimischen Bevölkerung Wachstumsrate, d.h. längere Lebenserwar- bislang an sozioökonomischen Druck, der De- tung15, Rückgang der Kindersterblichkeit16 monstrationen und den Wunsch nach nach- und die gewaltige Zuwanderungswelle von Ar- haltiger Veränderung auslösen könnte. Hier beitsimmigranten. Anfangs kamen vor allem bestehen Parallelen zwischen der Situation in Algerier und Iraker aufgrund der noch wach- den VAE und der in Saudi-Arabien oder an- senden Ölindustrie in das Land, später folg- deren ressourcenreichen Golfstaaten. Die ten Inder, Pakistaner, Bengalen, Iraner, wohlbekannten und effizienten Allokations- Philippiner, Westeuropäer und Amerikaner. mechanismen der Herrscher, die den Reich- Diese arbeiten in allen erdenklichen Bran- tum verteilen und die wirtschaftliche chen, wobei ungelernte Kräfte eher körperlich Entwicklung fördern, haben auch in den Emi- anstrengende Arbeiten verrichten oder aber raten zu der weit verbreiteten Umkehrung des im Hotel-, Restaurant- und Reinigungswe- politischen Credos „No taxation without re- sen beschäftigt werden. Qualifizierte Arbeiter presentation“ geführt. Da die Besteuerung der sind im Bildungs- und Erziehungssektor, in indigenen Bevölkerung quasi wegfällt, die fi- Banken und Versicherungen zu finden. Die nanzielle Belastung auf ein Minimum sinkt Emiratis hingegen genießen einen hohen Le- und der Staat seinen Bürgern ein enormes bensstandard und eine staatliche „Vollkasko- Maß an Wohlstand und Modernisierung in versorgung“ in Form von Ausbildung, den letzten Jahren garantierte, scheint bislang kostenfreier medizinischer Versorgung, Geld- das Streben nach politischer Teilhabe, nach und Sachwerten. Öffnung und Demokratisierung nur peripher zu interessieren. II. Voraussetzungen für den Willen nach Wandel Wesentliche Triebfeder der Revolutionen in Tunesien und Ägypten war die Jugend, die Die VAE verfügen mit etwa 97,8 Mrd. Barrel perspektivlos, vernachlässigt und arm gegen über das sechstgrößte Ölvorkommen der die repressiven Regime aufbegehrte. Im Welt, sie zählen mit einem Bruttoinlandspro- Gegensatz dazu lebt die junge Bevölkerung dukt pro Kopf von 56.485 USD17 zu den reich- vor allem in Dubai und Abu Dhabi in relativem sten Ländern der Welt, erfreuen sich Wohlstand, scheint sozial abgesichert zu sein

13 1951 übernahmen die damaligen Trucial States (heute VAE) das britische Kolonialrechtssystem, von welchem das heutige Rechtssystem teilweise inspiriert wurde. 14 Zu Beginn der Föderation waren 85% der Frauen von Analphabetismus betroffen waren; 2005 waren es nur noch 7,6%. Heute sind 56,3% aller Schüler und 70,8% aller Studenten weiblich. 15 Die Lebenserwartung von Menschen in den VAE lag 1990 bei 73, 2010 bei 76,51 Jahren. Zum Vergleich: Die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland lag 1990 bei 75, 2009 bei 80 Jahren. 16 1990 starben 15 von 1.000 Neugeborenen innerhalb der ersten 12 Monate, 2009 waren es 7 von 1.000. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Kindersterblichkeit 1990 bei 7 von 1.000, 2009 bei 3 von 1.000. 17 Deutschlands Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2009 bei 40.670 USD. 18 Zum einen sind die VAE wichtige Handelsdrehscheibe für die Märkte in Europa, Asien und Afrika, zum anderen Finanzknotenpunkt zwischen New York und London im Westen und Hongkong und Singapur im Osten. 19 Mit einer Gesamtbewertung von 2,52 liegen die VAE noch hinter China (3,14) und Simbabwe (2,64); der Index spricht von einem autoritären Regime.

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und strebt einer sicheren Zukunft entgegen. sehr wenig. Die Gastarbeiterinnen sind häufig Zudem profitieren sie regelmäßig von staat- im Hotel-, Restaurant- oder Reinigungswesen lichen Transferleistungen20. Diese allerdings beschäftigt. Obwohl durch sie erst Projekte erinnern mehr an Beschwichtigungspolitik als wie der Burj al-Arab und der Burj Khalifa rea- an Wohlfahrtsstaat. In den weniger wohlha- lisiert werden konnten, bleiben sie vom Wohl- benden Emiraten im Norden – Ajman, Ra’s al- stand und Erfolg ausgeschlossen. Die Khaima, Sharja und Umm al-Qaiwan – ist der Lebens- und Arbeitsbedingungen sind teil- Unmut schon etwas größer. Während ihre In- weise sehr bedenklich, so sind unbezahlte frastruktur immer wieder zusammenbricht, Überstunden, verzögerte Gehaltszahlungen Wasserknappheit und Stromausfälle an der und die Einbehaltung des Reisepasses sei- Tagesordnung sind, boomt das Geschäft der tens der Arbeitgeber keine Seltenheit. Die Nachbaremirate. Doch auch sie profitieren in meisten Arbeiter dieser Gruppe sind weder Form von Wohlfahrtsprogrammen und staat- unfall- noch krankenversichert und es gibt lichen Zuschüssen indirekt von dem Öl, ob- keine Gewerkschaften, an die sie sich wen- wohl sie selbst über keine Ressourcen den könnten. verfügen. Möglich ist das, weil die (öl-)reiche- ren Emirate Abu Dhabi und Dubai den Norden Weil viele von ihnen Angst haben, ihre Arbeit regelmäßig finanziell unterstützen. zu verlieren und in ihr Heimatland zurückge- schickt zu werden, blieben größere Proteste Insgesamt aber scheinen politische Partizipa- bislang aus. Dass das Potenzial für eine „Ar- tion, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit beiterbewegung“ aber theoretisch da wäre, trotz des „Nord-Süd-Gefälles“ nur vereinzelt zeigt die Geschichte: In der Vergangenheit zu interessieren. Die Regierung, allen voran kam es bereits zu Arbeitsniederlegungen, zu- Scheich Khalifa bin Zayed bin Sultan Al Na- letzt Anfang 2011. Auslöser waren ausblei- hyan und Regierungschef Mohammed bin bende Lohnzahlungen, schlechte Arbeits- und Rashid Al Maktoum, scheint sich großer Be- Lebensbedingungen und Gewalt gegenüber liebtheit zu erfreuen, u. a. weil diese beiden Arbeitern. Offiziell gibt es sogar Gesetze, die Herrscher die Modernisierung der Emirate Pausenzeit, Überstunden und Bezahlung re- immer weiter vorantreiben und die Korruption geln, es existiert jedoch bislang keine offizielle weniger verbreitet ist als in anderen Staaten Institution, die deren Einhaltung auch kontrol- der Region21. liert. Dass die Angst der Arbeitsimmigranten vor der Ausweisung berechtigt ist, zeigt das Die Arbeitsimmigranten leiden dagegen unter Beispiel in Dubai 2009: Damals wurden im enormen Problemen, wie katastrophale Le- Zuge der Finanzkrise täglich bis zu 1.500 Ar- bensbedingungen und Arbeitsverhältnisse, beiter nach Hause geschickt – die Kündigung kaum Rechtssicherheit, enormer sozioökono- erhielten viele von ihnen per SMS. mischer Druck, soziale Ungleichbehandlung und völlige Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Die Da die Staatsbürgerschaft sowohl den ge- Rede ist jedoch nicht von Arbeitskräften, die lernten als auch den ungelernten Arbeitern zumeist aus westlichen Industrieländern verwehrt bleibt, erhalten sie auch keinerlei fi- stammen, hochqualifiziert sind, häufig Füh- nanzielle Unterstützung von der Regierung. rungspositionen innehaben, hohe Gehälter Es gibt zwar die Möglichkeit unbegrenzter und zusätzliche Bezüge beziehen. Vielmehr Aufenthaltserlaubnisse, die es ihnen erlau- sind es die ungelernten Arbeitskräfte, die dem ben, sich in den VAE dauerhaft niederzulas- „sicheren Hafen“ noch enorme Schwierigkei- sen, doch die Einbürgerung – und damit auch ten bereiten könnten. die Privilegien der emiratischen Staatsbürger – bleiben ihnen vorenthalten. Diese Politik Die ungelernten Kräfte stellen in den VAE die birgt ein hohes Konfliktpotenzial, denn gerade Mehrheit der Arbeitsimmigranten. Sie sind zu- für die ungelernten Kräfte, die sich täglich mit meist in Branchen beschäftigt, in denen sie dem hohen Lebensstandard ihrer Umgebung körperlich schwere Arbeiten verrichten und konfrontiert sehen, wäre staatliche Zuwen- verdienen in den VAE zwar häufig mehr als in dung dringend erforderlich. Diese Bevölke- ihren Heimatländern, doch mit einem Tages- rungsgruppe erfüllt demnach die lohn von durchschnittlich 5 USD immer noch Voraussetzungen für den Willen nach Wan-

20 Wasser und Strom werden hoch subventioniert; Wohnungsbauprogramme vergeben kostenlose oder zu- mindest subventionierte Wohnungen; Eltern erhalten für ihre Kinder Erziehungsgeld; alte Menschen, Wit- wen, Behinderte, Waisen und allgemein alle Bedürftigen erhalten großzügige Alimentationen. 21 Zahlen für 2010: Auf einer Skala von 0 (sehr korrupt) bis 10 (sehr transparent) werden die VAE vom Trans- parency Index mit 6,3 bewertet. Ägypten erhielt eine Wertung von 3,1, Tunesien 4,3, Saudi-Arabien 4,7 und der Oman 5,3. Damit landen die VAE auf Platz 28 von insgesamt 178 bewerteten Staaten.

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del, weil ihre Lebens- und Arbeitssituation den VAE Bürger ihre Rechte einzufordern: deutlich unter dem staatlichen Niveau liegen. 133 Unterzeichner einer Onlinepetition for- Es ist jedoch anzunehmen, dass ein Aufbe- derten im März 2011, den Bundesnationalrat gehren der Arbeitsimmigranten ausbleiben aus freien und direkten Wahlen hervorgehen wird. Obwohl ihre Lebens- und Arbeitssitua- zu lassen und seinen Einfluss zu stärken. Die tion zwar sehr bedenklich ist, wiegt letztend- Zahl von 133 Menschen wurde anfänglich lich die Angst, die Arbeit zu verlieren, zwar etwas belächelt, aber diese Petition war ausgewiesen zu werden und die Familie in die wahrscheinlich erste politische Bewegung der Heimat nicht mehr unterstützen zu kön- in der Geschichte des Landes – und das in nen, doch höher. Abu Dhabi, dem reichsten Emirat. Vielleicht sollte man deswegen auch von immerhin 133 Eine weitere Gefahr für die inneremiratische Menschen sprechen. Bei den Unterzeichnern Stabilität dürfte neben fehlender politischer handelte es sich um emiratische Intellektuelle Partizipation und den Arbeitsimmigranten und Menschenrechtsaktivisten, die, trotz oder auch die sich verändernde Wirtschaftslage gerade wegen ihres hohen Lebensstandards, sein. Ging es bis 2008 stetig aufwärts, sank auch politische Mitbestimmung forderten. das BIP 2009 um 31 Mrd. USD auf 230 Mrd. Weil aber viele emiratische Staatsbürger Kon- USD22. Die Finanzkrise hat vor allem Dubai sequenzen in Form von repressiven Maß- hart getroffen und zuletzt sogar zu Zahlungs- nahmen fürchteten, verweigerten sie ihre schwierigkeiten geführt. Während Dubai sich Unterschrift25. Insgesamt gesehen kann aber gezwungen sah, den Bau verschiedener Pro- von keiner Bewegung oder gar Revolution ge- jekte23 zu stoppen, sagte Abu Dhabi finan- sprochen werden. Es gibt weder einen kon- zielle Unterstützung zu. Die Wiederaufnahme kreten Auslöser, der zu einer Revolution der Bauarbeiten geht nur zögerlich voran und geführt hätte, noch eine Führungspersönlich- das Ziel, dem bis zur Finanzkrise herrschen- keit, die sich in dieser besonders hervorgetan den Bauboom allmählich wieder neuen Auf- hätte. Wenn überhaupt, so muss von einer trieb verleihen zu können, ist man bisher noch marginalen Protestbewegung gesprochen nicht deutlich näher gekommen24. werden, die vielmehr durch Einzelaktionen als durch organisierte und zielgerichtete Mas- Ein nochmaliger Finanzkollaps aber könnte senproteste geprägt war. verheerende Folgen für Dubai und auch für die VAE insgesamt haben: Wenn Investoren IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- fern blieben, Wohnräume leer stünden und lings” die Wirtschaft sänke, wäre zum einen die Di- versifizierung der Wirtschaft wohl langfristig Die Unruhen in anderen arabischen Staaten beeinträchtigt und zum anderen die Wohl- haben ausländische Investoren verunsichert. fahrtspolitik in Gefahr. Damit stiege aber auch Viele von ihnen, die eigentlich kurz vor dem das Risiko eines Protestes seitens der (ein- Markteintritt standen, scheinen die gewählten heimischen) Bevölkerung. Standorte zu überdenken. Dies könnte den Emiraten zukünftig nutzen. Sie garantieren III. Akteure des Wandels und konkrete weitgehende wirtschaftliche und politische Auslöser Stabilität und galten auch in der Vergangen- heit als attraktiver Wirtschaftsstandort. So Inspiriert von den Aufständen in Tunesien und profitieren beispielsweise ausländische Bau- Ägypten und dem damit einhergehenden firmen und Zulieferer von den zusätzlichen hohen Mobilisierungsgrad versuchten auch in Mitteln, die der Staat für Infrastruktur zur Ver-

22 Daten der World Bank, einzusehen unter http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD, abn- gerufen am 11.08.2011. 23 Gestoppt wurden beispielsweise die Projekte Dubai Land, ein Vergnügungspark, und Rotating Tower, ein sich drehender Wolkenkratzer. 24 Nach einer Überarbeitung, die u.a. Kürzungen im Design betreffen, sollen die Bauarbeiten für das Pro- jekt Dubai Land Ende 2011 wieder aufgenommen werden, dagegen scheint das Projekt The World im wahrsten Sinne des Wortes unterzugehen: Die künstlichen Inseln fallen langsam wieder ins Meer zu- rück, zum Aufschütten fehlt aber das Geld. Dagegen wurde im Juli bekannt, dass Dubai mit 97 Hotels, die zusammen mehr als 35.000 Zimmer zählen, seine Kapazitäten im Tourismusbereich weiter ausbauen will. 25 Laut Amnesty International soll zudem ein Mann verhaftet worden sein, der seine Solidarität mit den Ägyp- tern wohl etwas zu laut bekundet hatte; siehe http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/uae- urged-disclose-whereabouts-detained-man-2011-02-09, abgerufen 11.08.2011.

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fügung gestellt hat26. Als cleverer Schachzug soll investiert werden. Die Neuwahlen für den der Regierung kann die Senkung der Le- Bundesnationalrat und die Erhöhung der An- bensmittelpreise bewertet werden27. Durch zahl der Wahlberechtigten sollen möglichen die gesunkenen Lebenshaltungskosten kön- Protesten zuvorkommen. nen die Menschen dann, so die Hoffnung, den Konsum anregen, indem sie anderweitig in- Auf internationaler Ebene beteiligten sich die vestieren. VAE innerhalb des Golf-Kooperationsrates am Libyen-Einsatz sowie am umstrittenen Wohl um möglichen Protesten zuvorzukom- Einsatz zur Niederschlagung der Demonstra- men, kündigte der Staat Neuwahlen für den tionen in Bahrain. Da vor allem Saudi-Arabien Bundesnationalrat an. Noch in diesem Jahr einen Spill-Over-Effekt der Proteste von Bah- sollen 12.000 ausgesuchte Bürger die Hälfte rain in sein Staatsgebiet befürchtete, ent- des Rates wählen dürfen, 2006 waren gerade schied sich der Golf-Kooperationsrat zur einmal 6.000 wahlberechtigt. Doch der Staat Intervention: Ließ er am 10. März noch ver- reagiert nicht nur mit Zugeständnissen, son- lauten, Bahrain und Oman mit 10 Mrd. USD dern auch mit Repression gegen Regie- zu unterstützen29, entsandte er einige Tage rungskritiker: Die bereits oben erwähnte später eine 2.000 Mann starke Truppe30, um Onlinepetition soll einen Monat später Grund die Proteste niederzuschlagen. Anfang März für weitere Verhaftungen gewesen sein, unter einigten sich die Mitglieder des Rates, Bah- denen auch der bekannte und populäre Inter- rain und Oman 20 Mrd. USD für die nächsten net-Blogger Ahmed Mansour und der Aktivist zehn Jahre zur Verfügung zu stellen. Damit Nasser bin Ghaith gewesen seien sollen. Ihr sollen die beiden Staaten Wohnprojekte fi- aktueller Aufenthaltsort ist unbekannt. nanzieren und neue Arbeitsplätze schaffen.

Interessanterweise haben sich in sozialen VI. Zukunftsszenarien Netzwerken einige Gruppen gebildet, die die aktuelle Regierung verteidigen und die Sys- Best Case Scenario: temkritiker hart attackieren – ein Indikator für die systemimmanent weitgehend existierende In diesem Fall werden sich breite Teile der Loyalität mit der Regierung. Facebook-Grup- Gesellschaft nicht mehr allein mit staatlichen pen wie No place for a revolution in the UAE Zuwendungen zufrieden geben und die Re- und Fight against the Revolts on UAE äußern gierung unter Druck setzen, Reformen einzu- sich ablehnend gegenüber den ausländi- leiten. Die Arbeitsimmigranten werden den schen Gastarbeitern, verteidigen den Regie- Protest ihrerseits dazu nutzen, bessere Ar- rungsstil und proklamieren die Bewahrung beits- und Lebensbedingungen zu fordern. des Status quo. Manifestieren könnten sie ihre Forderung mit Arbeitsverweigerung. Da die Arbeitsimmi- V. Bisherige Reaktionen staatlicher Ak- granten aber Projekte wie den Burj Khalifa, teure die Mall of the Emirates und Indoor-Skipisten erst möglich machen, wird die Wirtschaft dar- Grundlegende Reformen sind ebenso wenig unter leiden. Der Ruf der VAE als „sicherer geplant wie freie Wahlen oder politische Mit- Hafen“ wird unter diesen Entwicklungen bestimmung. Stattdessen versucht es die Re- Schaden nehmen und ausländische Investo- gierung mit altbewährten Mitteln: Geld. Die ren könnten sich abwenden. Die Regierung Beschwichtigungspolitik scheint, wie die letz- wird dieses Szenario nicht zulassen. Immer- ten 40 Jahre zuvor auch, zu funktionieren28. hin ist das gute Image durch die prosperie- Die Lebensmittelpreise werden bis Ende des rende Wirtschaft das höchste Gut, was sicher Jahres stabil gehalten und die Infrastruktur nicht aufs Spiel gesetzt werden wird. Die ausgebaut. Vor allem in den ärmeren Norden Frage ist nur, wie die Regierung den Protes-

26 Rund 1,6 Mrd. USD werden für den Ausbau des Wasser- und Stromnetzes in den nördlichen Emiraten zur Verfügung gestellt: http://www.gulfnews.com/news/gulf/uae/government/dh5-7b-to-boost-water-electricity- supply-in-northern-emirates-1.770375, abgerufen am 11.08.2011. 27 Die Preise für v.a. Grundnahrungsmittel fielen im Schnitt um 20-30%. 2010 waren die Lebensmittelpreise im Schnitt um 4,8% höher, 2009 waren es noch 0,8%. Für weitere Informationen: http://www.gulfnews.com/business/general/uae-suppliers-agree-to-cut-food-prices-1.749803; abgerufen 02.09.2011. 28 Wie die New York Times berichtet, bereitet sich der Kronprinz von Abu Dhabi, Scheich Muhammad ibn Zayid al-Nahyan, aber sicherheitshalber schon auf den Ernstfall vor: Die US-Firma Blackwater World- wide, eine private Militär- und Sicherheitsfirma, stellt ihm gerade eine Söldnertruppe von 800 Mann zu- sammen. Offiziell, um Pipelines zu schützen und Terrorgefahren abzuwehren, inoffiziell aber wird die Truppe offenbar auch für Niederschlagungen von Protestbewegungen trainiert. 29 Dieses Geld soll über zehn Jahre ausgezahlt werden, um v.a. Wohnungen und Infrastruktur auszubauen.

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ten entgegentreten wird. Macht zu bleiben und zum anderen, um der Wirtschaft nicht nachhaltig zu schaden. Dafür Worst Case Scenario: werden sie, wenn die Rufe nach Veränderung wieder einmal zu laut werden sollten, die Be- Seit Jahren sind die VAE damit beschäftigt, völkerung mit großzügigen Wohlfahrtspro- ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Die Regie- grammen bedienen oder aber Scheinwahlen rung weiß, dass der Staat sich nicht ewig vom zulassen. Große Unruhen oder flächende- Öl finanzieren kann. Um den Wohlstand aber ckende Proteste werden wahrscheinlich aus- beibehalten zu können, wird kräftig in Bau- bleiben, weil vor allem den emiratischen projekte, in die expandierende und verarbei- Staatsbürgern bislang der soziale Druck und tende Wirtschaft und in den Handels- und damit die Notwendigkeit für Reformen fehlen. Dienstleistungssektor investiert. Um weiterhin Auch wenn die wirtschaftlichen Ungleichhei- als attraktiver Standort zu gelten, muss die ten innerhalb der Emirate signifikant sind, pro- politische Stabilität unbedingt gewahrt wer- fitiert der ärmere Norden vom „solidarischen den. Wenn der Wohlstand bleibt, wird auch Einkommensausgleich“, sodass sich auch die Regierung weiter bestehen. Solange die hier der soziale Unmut in Grenzen halten umfangreichen Wohlfahrtsprogramme nicht dürfte. ausbleiben, werden auch die Emiratis keinen Grund haben, um auf die Straße zu gehen. Die soziale und politische Ungleichbehand- Falls es wider erwartend doch zu einer Pro- lung der asiatischen Arbeitsmigranten könnte testbewegung käme, bliebe die Frage, wie die sich in Zukunft zwar zu einer möglichen Pro- Regierung dieser entgegentreten würde. testquelle entwickeln, allerdings besteht hier Ihren eigenen Staatsbürgern würde sie mög- ein starker Konsens zwischen Regierung und licherweise Reformen und politische Mitspra- der emiratischen Bevölkerung: So werden che gewähren – das wäre natürlich positiv; ausländische Gastarbeiter im Billiglohnsektor die Aufstände der Arbeitsimmigranten aber geduldet, aber keineswegs als integraler Be- könnte sie vermutlich blutig niederschlagen standteil der Gesellschaft wahrgenommen lassen. oder akzeptiert. Ähnlich wie in Saudi-Arabien existieren auch in den Emiraten eine latente Trendszenario: Xenophobie und eine diffuse Angst vor Über- fremdung, die ein härteres Vorgehen der Re- Wahrscheinlicher bleibt eine zumindest mittel- gierung gegen Streiks oder politische fristige Aufrechterhaltung des Status quo. Der Forderungen durch die Gastarbeiter unter- soziale Druck ist nach wie vor zu gering, die stützen würden. Da in den VAE ein generelles Wohlstandsgenerierung wird auch zukünftig Streikverbot besteht, wird die Angst der Ar- anhalten. Hierbei könnten sich die kurz- oder beitsimmigranten, in ihr Heimatland abge- mittelfristig wegfallenden Märkte in Revolu- schoben zu werden, überwiegen und tionsländern wirtschaftlich sogar positiv für die letztendlich dazu führen, dass bis auf Weite- emiratische Wirtschaft auswirken, da der res alles so bleibt, wie es ist. Standort nun an zusätzlicher Attraktivität ge- winnt. Die Regierung wird jeden Protest im Denise Penquitt Keim ersticken, zum einen, um selbst an der

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ZAWYA

Deutsches Orient-Institut 159 Katar

Landesdaten Katar Fläche1 2011 11.586 km² Bevölkerung2 2010 1.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 130,14 Araber 40%, Inder 18%, Pakistaner 18%, Ethnische Gruppen4 2010 Iraner 10%, andere 14%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 77,5%, Christen 8,5%, andere 14%

Durchschnittsalter6 2010 30,8 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 14% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 1% Lebenserwartung9 2010 75,7 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 2.300.000 Geburten pro Frau11 2009 2,4 Alphabetisierungsrate 2010 89% Nutzer Mobiltelefone12 2009 2.472.000 Nutzer Internet13 2009 563.800 Nutzer Facebook14 2011 245.580 Wachstum BIP15 2009 8,6% BIP pro Kopf16 2009 77.178 USD Arbeitslosigkeit17 2010 0,5% Inflation18 2011 4,2% S&P-Rating19 2011 AA Human Development Index20 2010 Rang 38 (von 169) Bildungsniveau21 2010 Rang 104 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 62,1% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 Politische Teilhabe23 2010 22,7% Korruptionsindex24 2010 Rang 19 (von 178)

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Katar weit. Mit der Zusage zur Austragung der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2022 erringt Katar m Frühjahr 2011 kam es in fast allen ara- weitere weltweite Aufmerksamkeit. Die zu- bischen Ländern zu Protesten und Mas- nehmende Bedeutung Katars ist allerdings Isendemonstrationen vor dem nicht alleine auf sein enormes Wirtschaftspo- Hintergrund sozialer, wirtschaftlicher und tential beschränkt. Die hohen Einnahmen aus politischer Missstände. Katar bildet in die- der Ölwirtschaft führen zu immensen Einnah- sem Zusammenhang eine Ausnahme. Sei- men des Staates und wirken sich direkt auf nen Sonderweg erklären die Instrumente, die politische Entwicklung aus, indem sie die auf die sich der Staat Katar stützen kann: politische Macht des Herrschers erhöhen. Zu- Geld, Medien und politische Flexibilität. sätzlich führte der Einfluss des Öls zu sozia- Durch die enormen Ressourcen von Öl len Veränderungen, die wiederum die und Gas kombiniert mit der zahlenmäßig politischen Entwicklungen beeinflussen könn- kleinen einheimischen Bevölkerung ver- ten. fügt Katar über Freiräume in der Formulie- rung seiner innenpolitischen und Katar ist eine traditionelle Monarchie. Seit außenpolitischen Ziele. Eine entschei- 1995 ist der Emir Scheich Hamad bin Khalifa dende Rolle spielt hierbei der derzeitige Al Thani nach einem unblutigen Putsch gegen Emir von Katar Scheich Hamad bin Khalifa seinen Vater das Staatsoberhaupt und der Al Thani, der sein Land innenpolitisch mit Regierungschef.1 Er repräsentiert das Land behutsamen Reformen lenkt und außen- nach innen und außen. Zuerst sah sich der politisch zunehmend auf der internationa- Emir mit der ablehnenden Haltung der be- len Bühne positioniert. So konnte Katar nachbarten Golfstaaten konfrontiert, die sei- bislang seine Position während des „Ara- nen Vater unterstützt hatten. Der katarische bischen Frühlings“ konsolidieren und Herrscher unternahm früh außenpolitische Al- sogar ausbauen. Es scheint, als habe leingänge, begann mit vorsichtigen Reformen Katar als einziges Herrscherhaus tatsäch- und positionierte dadurch sein Land zuse- lich von den Aufständen profitiert, indem hends auf der internationalen Bühne. Trotz er- Legitimation, Einfluss und Machtbereich, ster Reformen ist der Emir weiterhin das teils durch eigenständige außenpolitische Zentrum der Macht des Staates Katar. Er re- Initiativen, noch ausgeweitet werden giert mit Hilfe einer beratenden Versammlung konnte. (arabisch: Majlis al-Shura), dessen Mitglieder von ihm ernannt und entlassen werden. I. Politisches System und gesellschaftli- Jedes Gesetz bedarf seiner Zustimmung. Da- che Entwicklungen neben ist er auch Verteidigungsminister und Oberkommandierender der Streitkräfte. Seit Vor weniger als hundert Jahren war das inter- seinem Amtsantritt bemüht sich der Emir mit nationale Interesse an Katar noch sehr ge- behutsamen Schritten um eine stärkere politi- ring. Dies lag nicht alleine daran, dass sche Beteiligung der Bürger. So schaffte er nennenswerte wirtschaftliche Rahmenbedin- gleich nach seiner Machtübernahme 1995 die gungen und Ressourcen fehlten, sondern mediale Zensur ab und finanzierte im Folge- auch weil dem kleinen Land politisch wie stra- jahr die Gründung des Nachrichtensenders tegisch keine besondere Bedeutung zuge- al-Jazeera. Im Jahr 1998 fanden erstmals messen wurde. Dies änderte sich jedoch Wahlen zur Industrie- und Handelskammer nach der Entdeckung der enormen Öl- und statt. Es folgten die ersten politischen Wahlen Gasressourcen: In wenigen Jahrzehnten überhaupt in Katar im Jahr 1999. Dabei han- haben sie Katar zu einem der reichsten Län- delte es sich um Kommunalwahlen, auf die der der Region gemacht. Katars nachgewie- mit Stolz verwiesen wird und bei denen auch sene Reserven an Erdgas betragen etwa Frauen das aktive und passive Wahlrecht be- 15% des gesamten Weltvorkommens und saßen. Im Jahr 2003 wurde die Verfassung, sind damit die drittgrößten der Welt. So gene- die vom Emir initiiert wurde, in einem Refe- riert Katar ein Bruttoinlandsprodukt von 194,3 rendum mit 97% der Stimmen angenommen Mrd. USD (Prognose 2011). Das reale BIP ist und ist 2005 in Kraft gesetzt worden. Die Ver- im Jahr 2010 um 16% gewachsen und nach fassung Katars ähnelt sehr der kuwaitischen Schätzungen des IWF wird es im Jahr 2011 und sieht eine beratende Versammlung (Par- um 20% steigen. So gilt Katar heute als eine lament) vor, die zu zwei Dritteln gewählt und der schnellst wachsenden Wirtschaften welt- zu einem Drittel vom Emir ernannt werden

1 De facto übernahm Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, der seit 1977 Thronfolger war, die Regierungs- geschäfte des Landes, da sich sein Vater der Emir Scheich Khalifa bin Hamad Al Thani (reg. 1972-1995) überwiegend im Ausland aufhielt.

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soll. Die aktuellen 35 Mitglieder der beraten- Jahrzehnte aus dem ressourcenarmen Land den Versammlung werden zur Zeit noch alle eine wohlhabende Monarchie herangereift, vom Emir ernannt, da die ersten Wahlen die sich zunehmend um eine Liberalisierung mehrfach verschoben wurden, zuletzt auf das des Landes bemüht. Politische und ökonomi- Jahr 2013. Interessanterweise sind diese Re- sche Reformen laufen dabei Hand in Hand. formen keine Reaktion auf einen bedeuten- Bildung spielt in diesem Prozess eine zentrale den internen Druck oder einem konkreten Ruf Rolle, um eine solide Grundlage für soziale nach Veränderung. Der Emir initiierte viel- Reformen und den weiteren Landesausbau mehr einen Modernisierungsprozess vorsich- zu schaffen. Bildung ist für die einheimische tiger Reformen von oben nach unten. Bevölkerung kostenfrei. Berufliche Ausbildung ebenso wie das Hochschulsystem haben sich Die Bevölkerung Katars beläuft sich auf rund eindrucksvoll entwickelt. Im Jahre 1973 wurde 1,5 Millionen, wobei weniger als 20% katari- die Universität von Katar gegründet. Im Jahre sche Staatsbürger sind. Den in Katar leben- 1995 folgte die Qatar Foundation von Emir den Ausländern, überwiegend Asiaten und Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, die Bil- Araber, ist jede politische und gewerkschaftli- dung, Wissenschaft und Forschung fördert. che Aktivität verboten. Sie stehen unter finan- Zu den Bildungsprojekten zählt die Education zieller und juristischer Bürgschaft ihres City, die 2003 eröffnet wurde. Sie fungiert als Arbeitgebers und sind zudem nur im Rahmen Lehr- und Forschungszentrum, in dem sechs von zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen im amerikanische und zwei europäische Univer- Land. Es existieren weder offizielle Parteien sitäten Abteilungen eröffnet haben. Weiterhin noch inoffizielle weitere politisch tätige Orga- werden Wissenschafts- und Forschungsinsti- nisationen in Katar. tutionen gefördert, wie beispielsweise der Qatar Science and Technology Park (QSTP), II. Voraussetzungen für den Willen nach zu deren Mitgliedern zahlreiche internationale Wandel Unternehmen zählen.

Im Frühjahr 2011 kam es in fast allen arabi- Der kleine Wüstenstaat Katar gelangte in kur- schen Ländern zu Protesten und Massende- zer Zeit wegen seines enormen Reichtums zu monstrationen vor dem Hintergrund von einem neuen Entwicklungsstand und befindet sozialen, wirtschaftlichen und politischen sich nach wie vor in einer Zeit des Wandels. Missständen. Katar bildet in diesem Zu- Dabei ist die Regierung darauf bedacht, die sammenhang eine Ausnahme. Obwohl auch einheimische Bevölkerung am Reichtum teil- ein starker Wille nach Wandel in Katar vor- haben zu lassen. Der allgemeine Lebens- handen ist, bewegt sich dieser doch in eine standard ist sehr hoch. Der Staat finanziert andere Richtung. Die hohen Deviseneinnah- sich nicht durch Steuern der Bürger, sondern men aus dem Erdölexport in Katar haben zu es sind die Bürger, die vom Staat umfassende einem alle Bereiche des Lebens umfassen- Wohlfahrtsleistungen erhalten. Gesellschaft- den grundlegenden Wandel geführt. Dabei lich betrachtet droht Katar dadurch nicht die hat sich eine enorme Entwicklung vollzogen, Gefahr der Instabilität, da der soziale Druck für die so gut wie keine historischen Vorbilder seitens der katarischen Bevölkerung ver- existierten. Der Landesaufbau begann quasi schwindend gering bleiben wird: Immerhin be- am Nullpunkt. Die ersten Ölvorkommen wur- trägt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf über den 1939 im Dukhan Field entdeckt. Die Pro- 77.000 USD pro Jahr (2010). Ein Risikofaktor duktion des Öls ab 1949 führte zunächst zu für die Stabilität bleibt jedoch die demogra- einem technischen und infrastrukturellen Aus- phische Entwicklung. Vergleichbar mit ande- bau des Landes. Mit der Unabhängigkeit und ren Golfstaaten ist die einheimische den Deviseneinahmen wurde das Land zu Bevölkerung Katars eine Minderheit im eige- einem der reichsten Länder der Region. Mit nen Land: So kommen im Verhältnis auf einen dem Bewusstsein über die kurze Ausbeu- katarischen Staatsbürger drei Ausländer. Eine tungszeit dieser Ressource wurde zügig ein Ausländerproblematik scheint unvermeidlich Plan zur Diversifizierung der Wirtschaft des und eine gewisse Diskriminierung findet statt. Landes erstellt. Mit Hilfe enormer finanzieller Eine rechtliche Gleichstellung brächte wahr- Mittel und der Möglichkeit billiger Energie ver- scheinlich eine Verdrängung der Einheimi- sucht der Staat, ein landesweites Aufbaupro- schen aus ihren jetzigen Positionen. Hierbei gramm mit einem Schwerpunkt auf die spielt das Bewusstsein eine Rolle, trotz ihres Industrie zu realisieren. So ist binnen weniger Status als Minderheit im eigenen Land einer

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privilegierten Gruppe anzugehören. Viele As- mächtigen internationalen Partnern. Neben pekte der Benachteiligung der Gastarbeiter der steigenden Produktion und dem Export werden bei einem vorübergehenden Aufent- von Öl ist Katar der größte Exporteur von halt ohnehin als irrelevant gesehen. Weiterhin Flüssiggas weltweit und besitzt damit lang- bemüht sich die Regierung, eine „Katarisie- fristige Vereinbarungen mit führenden Indus- rung“ des Arbeitsmarktes durchzusetzen. Der trieländern und Schwellenländern, unter Plan sieht vor, dass qualifizierte einheimische anderem den USA, dem Vereinigten König- Arbeitskräfte den Gastarbeitern Konkurrenz reich, Südkorea, Japan und China. Die wirt- machen sollen. Besonders in den Wirt- schaftlichen Verträge sichern gegenseitige schaftssektoren sollen sie diese ersetzen. Ob gute Beziehungen. Das dadurch geschaffene diese als wesentliche Veränderung in der Ar- Netz von Abhängigkeiten gibt leistungsstar- beitswelt greift, ist bislang fraglich. Sicher ist ken internationalen Partnern eine direkte Be- hingegen, dass Katar gerade bei Tätigkeiten teiligung an einem stabilen Katar. Die für unqualifizierte Arbeitskräfte auch zukünf- Organisation großer internationaler Sportver- tig auf Ausländer angewiesen bleiben dürfte. anstaltungen bringt Katar zusätzlich auf die internationale Bühne und schafft Anreize für Wie viele andere Länder in der Region weist internationales Wirtschaftsengagement. Die Katar eine kleine schiitische Minderheit meist Zusage zur Ausrichtung der FIFA Fußball- persischer Abstammung auf. Diese wird bis- weltmeisterschaft 2022 übertrifft alle bisheri- lang jedoch nicht als offensichtliche Stabili- gen Erfolge und stellt Katar in das tätsgefährdung für das Land angesehen, da Rampenlicht der Welt. sie ihre Religion frei praktizieren können. Auch hat sich die schiitische Minderheit, die III. Akteure des Wandels und konkrete seit mehreren Generationen in Katar ansäs- Auslöser sig ist, sich während des Iran-Irak-Krieges (1980-1988) loyal zum Staat Katar verhalten. Historisch gewann Katar erstmals mit den zu- nehmenden Machtkämpfen zwischen den eu- Durch die enormen Ressourcen kombiniert ropäischen Kolonialmächten um die mit der zahlenmäßig kleinen einheimischen Handelswege nach Indien und in den Fernen Bevölkerung verfügt Katar zusätzlich über Osten an Bedeutung. Aber erst die Zuwande- enorme Freiräume in der Formulierung von rung des Stammes Al Thani um 1750 aus innenpolitischen wie außenpolitischen Zielen. dem Inneren der arabischen Halbinsel nach So verfolgt Katar eine unabhängige und Katar legte den Grundstein für eine neue qua- selbstbewusste Außenpolitik, die darauf be- litative Entwicklung des Gebietes. Das ruht, die innere Stabilität zu sichern und die Schicksal der Al Thani ist sehr eng mit der äußere Souveränität zu gewährleisten. Die Gründung und Konsolidierung des Staates geographische Lage Katars zwischen den verknüpft. Der Aufstieg des Herrscherhauses beiden Regionalmächten Iran und Saudi-Ara- führte 1971 zur Verkündung der Unabhängig- bien stellt sicherheitspolitisch eine der großen keit. Die vornehmlich tribal organisierte, herr- Herausforderungen für das Land dar. So be- schende Familie Thani ist der Gesellschaft stehen mit Saudi-Arabien Konflikte um den „organisch“ verbunden und hat daher kaum genauen Grenzverlauf. Hinsichtlich seiner Be- Legitimitätsprobleme. ziehungen mit Iran stellt Katar einen Sonder- fall unter den Staaten des Die Stellung des jetzigen Emirs Scheich Golfkooperationsrates (GKR) dar. So bemüht Hamad bin Khalifa Al Thani gilt als gefestigt. sich die Regierung darum, gute Beziehungen Er agiert innenpolitisch zurückhaltend und ist zu seinem Nachbarn Iran zu unterhalten, was darum bemüht, eine gewisse Kontinuität zu sich unter anderem in gegenseitigen Besu- bewahren und versucht, das Vertrauen von chen der Staatschefs beider Länder zeigt. Bevölkerung und wichtigen ausländischen Grund dafür ist nicht zuletzt das weltweit Partnern zu gewinnen und zu erhalten. So hat größte unassoziierte Erdgasfeld North Field, er konkrete Schritte für eine wachsende Be- das sich Katar mit Iran teilt. In diesem Zu- teiligung der Bürger unternommen. Der Emir sammenhang ist auch der Luftwaffenstütz- setzte einen Ausschuss zur Ausarbeitung punkt al-Udeid der US Air Force als einer Verfassung ein, die 2005 in Kraft trat. Er Absicherung gegen Katars starke Nachbarn hob die interne Pressezensur auf, wobei sich zu interpretieren. Zusätzlich sichert sich Katar die katarischen Medien allerdings einer äußere Souveränität durch die Allianz mit Selbstzensur unterwarfen, die Kritik an Emir

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und Herrscherhaus ausschließt. Mit der ständen in Libyen wird auf die gegen die Gründung des Nachrichtensenders al-Ja- Monarchie gerichtete Politik des ehemaligen zeera im Jahr 1996 revolutionierte Katar die libyschen Revolutionsführers Muammar al- arabische Medienwelt. Der aus Doha betrie- Gaddafi zurückgeführt. bene Satellitensender ist bei dem Publikum der arabischen Welt populär und gilt für die Im Jemen versucht der GKR bisher mit mäßi- Region als ausgesprochen liberal. Es werden gem Erfolg zwischen den Konfliktparteien zu auch kritische Meinungen zugelassen, meist vermitteln. Im Mai 2011 wurde die mögliche außerkatarische Themen. Welche Bedeutung Aufnahme von Jordanien und Marokko in den al-Jazeera bei der Mobilisierung der Men- GKR in Aussicht gestellt, womit zwei ressour- schen in den protestierenden arabischen Län- cenarme Nicht-Golfstaaten in den GKR auf- dern zukommt, lässt sich nicht im Einzelnen genommen werden würden. Beide arabische aufzeigen. Jedoch spielt der Sender eine we- Monarchien könnten zusammen mit dem sentliche Rolle bei der medialen Darstellung GKR als ein exklusiver Kreis konservativ- über die jeweiligen Konflikte. autoritärer Monarchien an Einfluss gewinnen und sich gegen die veränderte regionalpoliti- Durch die Inthronisierung des Emirs Scheich sche Kräftekonstellation stellen. Hamad bin Khalifa Al Thani hat sich Katar auch als außenpolitischer, eigenständiger Ak- Die Zielsetzung der Wahrung eines autoritä- teur positioniert. Neben einer regional ausge- ren monarchischen Herrschaftsmodells zeigt richteten Medienpolitik setzt Katar sich auch in der aktiven Intervention des GKR zunehmend auf die Instrumente Diplomatie in Bahrain. Im März 2011 rückten Truppen aus und Konfliktlösung und geriert sich in mehre- Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabi- ren regionalen Konfliktfeldern als ausglei- schen Emiraten in Bahrain ein. Die GKR- chender Mediator. Darunter fallen unter Truppen unterstützten das herrschende Anderem die Neuausrichtung der Beziehun- Königshaus Al Khalifa bei den Auseinander- gen zu Israel seit 1996, eine aktive Rolle als setzungen mit einer von Schiiten dominierten Verhandlungsakteur im Jemen seit 2007 Opposition. Gründe für die Intervention des sowie Katars Engagement bei der Lösung GKR in Bahrain sind Ängste vor einer mög- des Darfur-Konflikts. Somit versucht Katar lichen Ausweitung von Partizipationsrechten kontinuierlich, sich gute Reputationen für Kon- für die schiitische Mehrheit. Daneben werden fliktvermittlung zu erarbeiten. die Proteste in Bahrain, im Vergleich mit Auf- ständen in anderen arabischen Ländern, als IV. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure unangenehm nah empfunden. Entsprechend galt es, einen möglichen anti-monarchischen Wie oben beschrieben erlebt der Staat Katar Dominoeffekt zu verhindern. Regionalpolitisch keinen „Arabischen Frühling“ im eigenen betrachtet gelang dem GKR eine Aufwertung Land. Dennoch agiert und reagiert die Füh- durch verbleibende Monarchien im neu aus- rung Katars – alleine und als Mitgliedsstaat gerichteten Machtgefüge. des GKR – seit Jahresbeginn 2011 im Kon- text der Ereignisse des „Arabischen Früh- V. Auswirkungen des „Arabischen Früh- lings“. lings“

In Bezug auf die oppositionellen Bewegungen Obwohl der katarische Herrscher sich innen- in Libyen unterstützte der Golfkooperations- politisch um behutsame Reformen bemüht rat (GKR) ausdrücklich die Einführung einer und im Allgemeinen die Gunst der einheimi- Flugverbotszone durch die Vereinten Natio- schen Bevölkerung genießt, versucht er kurz- nen Anfang März 2011. Dabei beteiligt sich oder mittelfristigen Folgen des „Arabischen Katar zusammen mit den Vereinigten Arabi- Frühlings“ vorzubeugen: Eine Auswirkung des schen Emiraten durch die Bereitstellung von „Arabischen Frühlings“ ist der seit Ende 2010 katarischen Flugzeugen aktiv an der Durch- erneute sicherheitspolitische Fokus des Golf- setzung der VN-Sicherheitsresolution. Weiter- kooperationsrates (GKR). Davon zeugen hin gehörte Katar zu einem der ersten Länder, unter anderem die aktive Unterstützung der die den Nationalen Übergangsrat (NÜR) in NATO-Operation in Libyen und der Einmarsch Benghazi anerkannt haben und angeboten von Truppen des GKR in Bahrain. So wird haben, Öl im Namen des NÜR zu vermarkten. versucht, die regionalpolitische Stellung in Die aktive Beteiligung des GKR an den Auf- veränderter regionalpolitischer Kräftekonstel-

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lation präventiv zu stärken. Der monarchische ein wichtiger internationaler Wirtschaftsakteur Status quo soll hierbei zwischen den neuen negiert oder unterschätzt werden. Ebenso Kräften – den arabischen Republiken (Ägyp- wichtig ist auch seine weltweit führende Rolle ten, Irak) und Iran und Israel – bestärkt wer- im Energiesektor, insbesondere in Bezug auf den. Innenpolitisch sollen deutliche Signale Erdgas, welches von wachsender Bedeutung bezüglich der relativen Stabilität der Monar- für die industrielle Entwicklung ist. Mit Einsatz chien gesetzt werden. der Medien, al-Jazeera spielt hier eine Schlüsselrolle, besitzt Katar die Möglichkeit, Auf der internationalen Bühne präsentiert sich die internen Angelegenheiten in anderen Län- Katar als verantwortungsbewusster interna- dern zu beeinflussen, indem es z.B. den tionaler Akteur und verstärkt damit weiter sei- Fokus auf Kampagnen gegen bestimmte Re- nen Ruf der Diplomatie und Mediation. So gimes richtet. Am eindruckvollsten erscheint liefert Katar beispielsweise der Oppositions- jedoch Katars politische Flexibilität. Katar hat bewegungen in Libyen materielle Unterstüt- sich trotz geringer Bevölkerungszahl durch zung und nimmt aktiv an dem NATO-Einsatz eine Reihe von komplexen internationalen po- in Libyen teil. Ebenso versucht der Emir von litischen Beziehungen ein Netzwerk von Ver- Katar die Anstrengungen des GKR für eine bündeten erarbeitet, um seine strategischen politische Lösung des zunehmend eskalie- Ziele zu erreichen. renden internen Konfliktes in Jemen zu leiten. Katar hat sowohl in Libyen als auch im Jemen Bislang konnte Katar seine Position während große Handlungsfreiheit, da die Positionie- des „Arabischen Frühlings“ konsolidieren und rung gegen Muammar al-Gaddafi und Ali Ab- sogar ausbauen. Es scheint, als habe Katar dullah Saleh keine unangenehmen Fragen als einziges Herrscherhaus tatsächlich von der Herrschaft nach sich zieht. Die Interven- den Aufständen profitiert, indem Legitimation, tion mit internationalen Akteuren gegen al- Einfluss und Machtbereich noch ausgeweitet Gaddafi stellt Katar zudem als offenen und werden konnten. So versucht Katar, sich verlässlichen arabischen Partner dar. durch eigene außenpolitische Initiativen von der regionalpolitischen Hegemonie Saudi- Anders verhält es sich im Falle der Interven- Arabiens zu lösen. Denn: Trotz der traditio- tion in Bahrain. Die GKR-Intervention unter- nellen Beziehungen zwischen den streicht, wie Konzepte der Intervention in Herrscherfamilien des GKR sind auch die verschiedenen Kontexten unterschiedliche gegenseitigen Verbindungen Schwankungen Bedeutungen annehmen können. Katar recht- unterworfen. fertigte den Schritt der Intervention in Bahrain durch bestehende Abkommen. Die Entschei- Katars finanzielle und politische Fortschritte dung des GKR, die Königsfamilie Bahrains ef- sowie sein Einfluss in den internationalen Me- fektiv vor ihrer eigenen Bevölkerung zu dien suggerieren, dass das Land alle Pro- schützen, verstärkt das Argument, dass die bleme hinter sich gelassen habe. Betrachtet GKR ein Klub von autoritären Herrschern sei, man Katars prekäre strategische Situation der sich für familiäre Solidarität und gegen- sorgfältig, wird deutlich, dass eine der größ- seitige Unterstützung zusammengeschlossen ten Gefahren in den Auseinandersetzungen habe. Zunächst tritt Katar gestärkt als Media- zwischen den Golfstaaten liegen könnte. Ins- tor und verlässlicher Partner in Vermittlungs- besondere wäre Katar bei einem regionalen versuchen aus dem „Arabischen Frühling“ Konflikt zwischen den beiden nach Hegemo- hervor. Jedoch befindet sich Katar in zwie- nie strebenden Golfmächten Saudi-Arabien spältiger Position: zwischen der Unterstüt- und Iran direkt involviert und würde die nega- zungserklärung der Opposition Libyens und tiven militärischen, politischen und ökonomi- der gleichzeitigen militärischen Intervention in schen Konsequenzen negativ zu spüren Bahrain gegen schiitische Regimekritiker. bekommen. Momentan gelingt es Katar, sich zu beiden Ländern ein neutrales, relativ ver- VI. Zukunftsszenarien trauenswürdiges Verhältnis zu bewahren, ohne von einem der Akteure dafür kritisiert Die wachsende Präsenz von Katar in der ara- oder instrumentalisiert zu werden. Ein wichti- bischen Welt und auf der internationalen ger Faktor für Katars Einfluss und Stabilität ist Bühne ist nicht zu leugnen. Dabei stützt sich die US-amerikanische Militärpräsenz im Land. Katar auf die Säulen Geld, Medien und politi- Sie stellt eine wesentliche Sicherheitsgarantie sche Flexibilität. Deshalb kann Katar nicht als gegen seine Nachbarn dar und stärkt Katar

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zusätzlich, eine unabhängige politische Posi- wird. Im Vergleich zu den benachbarten Golf- tion einzunehmen. Es bleibt jedoch offen, wie staaten lässt sich Katar am Ende des autori- weit Katars politische Flexibilität reicht, wenn tären Spektrums verorten. Obwohl es sich als sich die Situation zwischen Iran und Saudi- reformfreudig gibt, vor allem auf Grund seiner Arabien zuspitzen sollte und damit auch die Medienpolitik, erlaubt es seinen Bürgern – ab- USA als Verbündeter Saudi-Arabiens in den gesehen von den Frauenrechten – derzeit Konflikt involviert würde. Auch sind der Kon- nicht viel mehr formale Partizipation als fliktmediation Katars, die es auf Grund von Saudi-Arabien. Dies würde sich deutlich än- vielfältigen, guten Kommunikationswegen be- dern, wenn die 2005 in Kraft getretene Ver- sitzt, Grenzen gesetzt. So mangelt es Katar fassung auch umgesetzt würde. an einem geschulten Beamtenapparat und ausreichenden Sicherheitskräften zur Analyse Das der Verfassung entsprechende neue Par- und Umsetzung von nachhaltigen und erfolg- lament hätte dann keine rein beratenden, son- reichen Verhandlungen. Es darf nicht überse- dern legislative und überwachende hen werden, wie beschränkt letztlich die Funktionen. Auch die autoritäre Monarchie institutionellen Möglichkeiten des kleinen Katars muss in gewissem Maße an Demo- Staates Katars sind. Ähnlich verhält es sich kratie ausgerichtet werden, obwohl das bis- mit der demographischen Situation und der her einzige offizielle demokratische Verfahren bleibenden Abhängigkeit von ausländischen in Katar die Kommunalwahlen sind. Innenpo- Arbeitskräften. Denn trotz des Versuchs einer litische Faktoren könnten die katarische Sta- „Katarisierung” in den letzten Jahren ist es bilität bedrohen. Allerdings kann man keine dem Staat nicht so leicht möglich, all jene Ta- Anzeichen von Ressentiments gegen die lente und Begabungen hervorzubringen, die Herrschaft des jetzigen Emirs Scheich Hamad eine arbeitsteilige Industriegesellschaft benö- sehen, da die einheimische Bevölkerung die tigt. Somit sind ausländische Arbeitskräfte Entwicklung ihres Landes nicht einfach dem nicht nur vorübergehend zum Aufbau der Reichtum zuschreibt, sondern auch der klu- Wirtschaft erforderlich. In einem kleinen Land gen und reformorientierten Politik des Emirs, wie Katar werden auch weiterhin gerade Trä- der mit seinem Willen nach Veränderung, ger von Know-how und Beziehungen unent- Weisheit und Weitsichtigkeit das Land ent- behrlich sein, welche das Land in dem Maße schlossen lenke. Die Gefahr besteht dem- nicht selbst aufbringen kann. Interessant nach für die Zeit nach Emir Scheich Hamad. bleibt dabei, ob sich die Behandlung der Ar- So könnte die Frage der Nachfolge eine Be- beitnehmer, die vielfach unter der Armuts- drohung für die Zukunft von Katar stellen, und grenze leben, mit der zunehmenden dies in einer Zeit, in der das Land beginnt, sei- Aufmerksamkeit der Ausrichtung der Fußball- nen Reichtum zu genießen und stolz auf weltmeisterschaft 2022 verbessern wird. Es seine Erfolge zu sein. bleibt zunächst unklar, in welchem Lager sich der kleine Staat Katar in Zukunft verorten Alina Mambrey

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Landesdaten Bahrain Fläche1 2011 780 km² Bevölkerung2 2011 1.336.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 1.062 Ethnische Gruppen4 2010 Bahrainer 62,4%, Nicht-Bahrainer 37,6% Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 81,2%, Christen 9%, andere 9,8 % Durchschnittsalter6 2010 30,9 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 20% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 2% Lebenserwartung9 2010 76,0 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2011 k. A. Geburten pro Frau11 2009 2,2 Alphabetisierungsrate12 2010 86,5% Mobiltelefone13 2009 1.578.000 Nutzer Internet14 2009 649.300 Nutzer Facebook15 2011 287.020 Wachstum BIP16 2008 6,3% BIP pro Kopf 17 2010 27.838 USD Arbeitslosigkeit18 2010 15% Inflation19 2011 3,0% S&P-Rating20 2011 BBB Human Development Index Rang21 2010 Rang 39 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 54 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 57,0% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 25,1% Korruptionsindex25 2010 Rang 48 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 3 http://www.tradingeconomics.com/bahrain/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles/. 10 World Bank, Population Growth Rate, Middle East and North Africa, http://www.worldbank.org/depweb/english/mod- ules/social/pgr/datamide.html. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; In- ternational Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

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Bahrain strienationen insgesamt werden einen schmalen Grat zwischen der Förderung n dem kleinen, gerade einmal 1,2 Mio. von Demokratie einerseits und seinen po- Einwohner zählenden Inselstaat litischen, geostragischen sowie ökonomi- IBahrain brachen die ersten Massenpro- schen Interessen in dieser für die teste am 14. Februar 2011 aus, wobei es Weltwirtschaft so äußerst wichtigen Re- sich hierbei nicht um unerwartete Ereig- gion andererseits zu beschreiten haben. nisse handelte. Vielmehr waren sie eine Folgeerscheinung der „Jasminrevolution” I. Politisches System und gesellschaftli- in Tunesien und der sich zuspitzenden che Entwicklungen Lage in Ägypten. Da Bahrain bisweilen je- doch die einzige der sechs Golfmonar- Bahrain bedeutet auf Arabisch „Zwei Meere“. chien ist, in der das bestehende Die Insel nahm historisch aufgrund ihrer Lage Herrschaftssystem ernsthaft in Bedro- entlang der Seehandelsrouten des Golfes hung geriet, nimmt das kleine Königreich eine strategisch äußerst wichtige Position ein eine besondere Stellung im Kontext des und befand sich im Interessenfokus der um- „Arabischen Frühlings” ein, galt doch die liegenden Großmächte. Es waren auch nicht Macht der sechs sich im Golfkooperati- zuletzt die sich vor den Küsten befindlichen onsrat (GCC) vereinigenden Herrscherfa- Perlenbänke, die das ökonomische Interesse milien des Golfes bis dahin als sicher. der konkurrierenden Reiche an dem Archipel Nicht zuletzt aufgrund der weit verbreite- weckten. Bahrain wurde folglich zum Schau- ten Annahme, dass die Golfmonarchien platz vieler Kriege1 und stand im Laufe der aufgrund ihres, wenn auch sehr unter- Geschichte unter unterschiedlichen Herr- schiedlichen, Ressourcenreichtums in der schaftseinflüssen.2 Lage seien, die Loyalität und Zufriedenheit ihrer Bürger durch großzügige Alimentie- 1797 zog die aus Kuweit stammende sunniti- rungen zu erkaufen, sorgten die Ereig- sche Familie der Al Khalifa, die noch heute nisse in Bahrain bei vielen den König stellt, nach Bahrain und eroberte Außenstehenden für Überraschung. die gesamte Insel sowie die umliegenden Ar- chipele innerhalb von 20 Jahren. Gleichzeitig Die Proteste in Bahrain können vielmehr stieg das Interesse der Briten an der Region. nicht als Spontanerhebung, sondern als Im Zuge ihrer Suche nach Partnern, die ihnen Ausdruck einer lange schwelenden Unzu- bei der Verfolgung ihrer strategischen Inter- friedenheit in bestimmten Teilen der Ge- essen in der Region behilflich sein könnten, sellschaft bewertet werden, so dass die verbündeten sie sich mit der Al Khalifa-Fami- Massenproteste in Nordafrika einzig die In- lie und schlossen mit ihr im Laufe des 19. itialzündung für jene am Golf darstellten. Jahrhunderts mehrere Abkommen. Die Ver- Da Bahrain in der wohl ressourcenreich- träge erklärten die Al Khalifa-Familie zur offi- sten Region der Erde liegt und zudem als ziellen Herrscherdynastie und wandelten Finanzzentrum eine wichtige wirtschaftli- Bahrain schrittweise zum britischen Protekto- che Rolle einnimmt, taten sich die westli- rat. Im Gegenzug versicherten die Al Khalifa, chen Staaten sehr viel schwerer, eine klare ohne britische Zustimmung mit keiner ande- Stellung zu beziehen. Allen voran die Re- ren Macht in Beziehung zu treten und den aktionen der USA, die Bahrain als Flotten- strategischen Ambitionen der Briten, die die stützpunkt nutzen und in wirtschaftlicher Sicherung ihrer Handelswege und die Hege- Hinsicht wohl am meisten an einer friedli- monie auf den Meeren verfolgten, nicht im chen Lösung interessiert sind, werden von Wege zu stehen. Der Schulterschluss mit den der Weltöffentlichkeit genauestens beob- Briten ermöglichte den Machterhalt und achtet und bewertet. Die westlichen Indu- kappte letztendlich die politischen Verbindun-

1 1717 eroberte das Sultanat Oman Bahrain. Eine persische Rückeroberung scheiterte. Die Omanische Invasion lei- tete eine Phase der Instabilität ein, in der verschiedene Stämme versuchten, die Vorherrschaft zu erlangen. Die Omanis verkauften die Insel letztendlich zurück an die Perser. Diese mussten ihre Souveränität jedoch wiederum gegen arabische Stämme behaupten. 2 Anfang des 17. Jahrhunderts vertrieben die persischen Safawiden unter Abbas I. die Portugiesen und erklärten den schiitischen Islam zur Staatsreligion. Auch wenn die Insel fortan faktisch Teil ihres Reiches war, übten die Perser die Kontrolle nur indirekt aus, indem sie arabische sunnitische Stämme, die die fremde Schirmherrschaft anerkannten, zu Vasallen machten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts verloren die Perser allmählich die Kontrolle, als der Stamm der Bani Utbah die Insel eroberte. Ihr religiöser und ethnischer Einfluss währte jedoch fort und blieb bis ins 19. Jahr- hundert prägend. Die Herrschaft der Bani Utbah war nur von kurzer Dauer.

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gen der Insel zum Persischen Reich – ein suchte seine eigene Legitimität durch Zuge- Fakt, der die sich mit Iran kulturell verbunden ständnisse zu stärken, um ihre Herausforde- fühlende Bevölkerung negativ stimmte und rer zu schwächen. So kam es 1973 zu ersten anti-britische Ressentiments verstärkte.3 1923 parlamentarischen Experimenten. Bahrain er- zwangen die Briten Sheikh Isa bin Ali Al Kha- hielt erstmals eine Verfassung, eine National- lifa, formell abzudanken, weil dieser das Land versammlung wurde gebildet, der es jedoch nach einem Volksaufstand nicht befrieden an echten legislativen Befugnissen fehlte, konnte und verdächtigt wurde, iranische Ver- während Emir Sheikh Isa bin Salman Al Kha- suche zur Rückgewinnung Bahrains zu un- lifa das Land weiterhin per Dekret regierte. terstützen, und ersetzten ihn durch seinen Gleichwohl entstanden in dieser Zeit zahlrei- Sohn, Sheikh Hamad bin Isa. Jedoch gelang che politische Vereinigungen aller Couleur, es auch ihm nicht, die Feindseligkeiten der von linken Gruppen, über Islamisten bis hin schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegenü- zu arabischen Nationalisten. ber der sunnitischen Herrscherfamilie und den Briten zu mindern. Im Gegenteil: Die von Das parlamentarische Experiment sollte je- den Briten verfolgte Politik des divide et im- doch nicht lange andauern. Bereits 1975 pera und ihre Taktik, die demographische Be- wurde die Nationalversammlung durch den schaffenheit des Landes durch die Emir aufgelöst, weil die Abgeordneten gegen Immigration von sunnitischen Arbeitern zu ein umstrittenes Sicherheitsgesetz votierten, manipulieren, beeinflussten die Lage zuse- das unter anderem die Festnahme und Inhaf- hends negativ und führten immer wieder zu tierung von Personen ohne gerichtliches Ver- gewaltsamen Aufständen. fahren ermöglichte. Es folgte eine äußerst rigide Phase der politischen Repression, Will- Die Entdeckung von Erdöl auf dem Territorium kür und auch Folter, die größtenteils gegen des Inselstaates im Jahre 1932 beschleunigte die schiitische Bevölkerung gerichtet war. Sei- Bahrains Modernisierung immens, hatte aber tens der sunnitischen Eliten wurde die von wiederum eine steigende Abhängigkeit von Iran ausgehende schiitische Bedrohung fort- Großbritannien zur Konsequenz. Zu einem während heraufbeschworen und lebendig ge- vorläufigen Höhepunkt in dem Ringen um die halten, während den eigenen schiitischen Souveränität Bahrains kam es 1957, als das Bewohnern des Landes unterstellt wurde, mit iranische Parlament den Inselstaat zur 14. Hilfe Irans subversive Aktionen zu planen und Provinz Irans erklärte – ein Schritt, der in den letzten Endes den Sturz der sunnitischen arabischen Golfstaaten Besorgnis hervorrief Herrscherdynastie zu beabsichtigen. Die Al und das Misstrauen gegenüber dem schiiti- Khalifa suchten stets den Konflikt entlang der schen Staat verschärfte. Ein von den Verein- konfessionellen Bruchlinien am Leben zu hal- ten Nationen initiiertes Referendum, in dem ten, um eine Aussöhnung zu verhindern. das bahrainische Volk sich jedoch klar dafür entschied, dass ihr Land ein unabhängiger Die weitflächige Hysterie bei den autoritären Staat werden solle, wurde von Iran anerkannt. arabischen Regierungen und in weiten Teilen 1971 wurde Bahrain auch offiziell unabhän- der westlichen Welt, ausgelöst durch die Isla- gig. mische Revolution von 1979 in Iran, und die Angst vor dem Revolutionsexport, spielten Der Bürgerkrieg im Libanon, der vor allem den Al Khalifa in die Hände. Die Zwingen der Beirut als Wirtschaftsstandpunkt nachhaltig Repression wurden noch fester angezogen. schwächte, führte dazu, dass Bahrain zum In der Tat flog 1981 ein wohl von der Revolu- neuen Finanzzentrum der arabischen Welt tion inspirierter Staatsstreich auf. Allerdings avancierte. Parallel dazu generierte der Öl- wurde die diffuse Angst vor Iran eher als Dau- boom der 1970er Jahre relativen Reichtum im erbedrohung instrumentalisiert als dass es Inselreich und beschleunigte dessen Moder- sich um eine reale existenzielle Gefahr han- nisierung. Im Vergleich zu den anderen Staa- delte. ten der Region entwickelte sich in Bahrain schon sehr früh eine gebildete Mittelschicht, Bis in die späten 1990er Jahre blieb der Zu- die etwa über Gewerkschaften sehr gut mit- stand der Unruhe und Unterdrückung beste- einander vernetzt war. Die Al Khalifa-Familie hen, begleitet von immer wieder auf- war sich der Gefahr für ihre Macht bewusst, flammenden Kämpfen zwischen Islamisten die von derartigen, mitunter stark linksideolo- und Sicherheitskräften vor allem in sozioöko- gischen Gruppierungen ausging und ver- nomisch unterentwickelten und vernachläs-

3 Schon 1895 gab es erste Revolten, die sich gegen die Aufgabe eben dieser Verbindungen und gegen eine zu starke Abhängigkeit von den Briten richteten. Die Aufstände wurden von den Al Khalifa nicht selten mit britischer Hilfe bru- tal niedergeschlagen.

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sigten schiitischen Dörfern und Vororten. Als die schiitische Bevölkerungsmehrheit. Etwa 1999 Isa bin Salman starb und sein Sohn, 1,34 Mio. Menschen leben in Bahrain, von Sheikh Hamad bin Isa Al Khalifa, mit dem Ver- denen nur rund 62% bahrainische Staatsbür- sprechen auf mehr Freiheit dessen Erbe als ger sind. Die restlichen 38% der Bevölkerung Emir antrat, stiegen die Hoffnungen und Er- kommen größtenteils aus Südasien und an- wartungen vor allem auf Seiten der Schiiten. deren arabischen Ländern. 70% der Staats- Tatsächlich verfügte der neue Herrscher bürger gehören der schiitischen Bahrains die Freilassung aller politischen Ge- Glaubensrichtung des Islam an.4 Die fangenen und die Abschaffung des Sicher- Schaltzentralen der Macht in Bahrain werden heitsgesetzes. Darüber hinaus wurde die von Familienmitgliedern des sunnitischen National Action Charta erlassen, die am 14. Herrscherhauses besetzt. Die Schiiten Februar 2001 in einem Referendum mit über- Bahrains sind in weiten Teilen des Staatsap- wältigender Mehrheit angenommen und parates deutlich unterrepräsentiert. Gerade anschließend in Form einer neuen Verfas- mal jede zehnte öffentliche Position von höhe- sung in offizielles nationales Recht transfor- rem Rang ist in schiitischer Hand. Nur 20% miert wurde. Die neue Verfassung weitete das der Minister- und Staatssekretärposten wer- Wahlrecht auch auf Frauen aus und stellte den von Schiiten bekleidet. Die politischen das parlamentarische System, dieses Mal als Schlüsselbehörden (Inneres, Äußeres, Ver- Zweikammernparlament, wieder her. Doch er- teidigung, Justiz, Sicherheit) sind in dieser neut entpuppte sich die postulierte Freiheit Statistik gar nicht eingeschlossen. Einzig und und die Möglichkeit der politischen Partizipa- allein die Belegschaft des Ministeriums für In- tion als Illusion, da sich das neue Parlament dustrie ist zur Hälfte schiitisch.5 als nur scheinbar repräsentativ herausstellte. Denn die 40 Abgeordneten des Unterhauses Am deutlichsten findet die Ausgrenzung der (arabisch: Majlis an-Nuwab) werden zwar re- Schiiten im Sicherheitsapparat statt, da es gelmäßig vom Volk gewählt. Das Oberhaus einem Großteil von ihnen verwehrt bleibt, in (arabisch: Majlis ash-Shura), dessen eben- diesem zu arbeiten. Nur einige wenige Privi- falls 40 Mitglieder vom König ernannt werden, legierte schaffen es in die Reihen der Polizei besitzt jedoch wie der König (Bahrain ist seit und der königlichen Streitkräfte. Ebenfalls fast 2002 ein Königreich) ein Vetorecht gegen alle unmöglich gestaltet es sich für Schiiten, eine vom Unterhaus eingebrachten Gesetzesvor- Anstellung in den für Sicherheit zuständigen haben, was eine echte Umsetzung des Volks- staatlichen Einrichtungen zu erlangen. Laut willens in Recht de jure ermöglicht, de facto einer bahrainischen Menschenrechtsorgani- aber aussichtslos macht. sation besteht der bahrainische National Se- curity Apparatus, eine behördenähnliche, die II. Voraussetzungen für den Willen nach nationale Sicherheit überwachende und dem Wandel König direkt unterstehende Institution mit teil- weise geheimdienstlichen Befugnissen, zu Die Proteste des Februars 2011 allein auf 96% aus sunnitischen Mitgliedern, während konfessionelle Problematiken zu reduzieren, rund zwei Drittel dieses Sicherheitsapparates ist irreführend. Erstens sind es nicht nur schi- Ausländer sind6. Die Armee, die Polizei, den itische Bahrainis, die sich auf den Straßen Geheimdienst, die Behörden und das Innen- über die ungerechten Verhältnisse im Land ministerium zu einem großen Teil mit nicht empören und für ihre Menschenrechte eintre- aus Bahrain stammendem Personal zu be- ten, sondern auch Sunniten. Zweitens ver- setzen und Schiiten möglichst gänzlich aus- deutlichen die schiitischen Protestführer zuschließen, lässt auf die Hauptaufgabe der immer wieder, dass ihr Aufbegehren eine Sicherheitskräfte schließen – nämlich die Sache der nationalen Einheit sei und ihre Be- Verhinderung einer seitens der schiitischen wegung keine konfessionellen Grenzen Bevölkerung, womöglich durch Iran unter- kenne. Das ist bemerkenswert, betreffen die stützten, Machtübernahme. Die Herrscher staatlichen Diskriminierungen in den sozialen, Bahrains sehen in ihrer eigenen Bevölkerung ökonomischen und religiösen Bereichen des die wahrscheinlich größte Gefahr für ihre Lebens doch zu einem überwiegenden Teil Macht, die Gefahr eines Putsches wird recht

4 Auswärtiges Amt, www.auswaertiges-amt.de, abgerufen am 12.07.11 5 Die durch den Staat verfolgte Taktik der Marginalisierung und systematischen Diskriminierung der schiitischen Bevöl- kerungsmehrheit kam 2006 im so genannten „Bandargate-Skandal“ ans Licht. Salah al-Bandar, Generalsekretär des Gulf Centre for Democratic Development und damals Berater des Kabinetts, veröffentlichte einen 240-seitigen Bericht, in dem geschildert wird, dass Teile der Regierung gewisse Kampagnen finanziell unterstützen, die die Förderung kon- fessioneller Spannungen beabsichtigen und die politische Ausgrenzung der Schiiten verfolgen. Al-Bandar wurde dar- aufhin des Landes verwiesen und ging ins britische Exil. 6 Siehe http://www.bahrainrights.org.

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hoch eingeschätzt und auf internationaler denen sie in Bahrain ihren festen Wohnsitz Ebene wird Iran als größter Widersacher be- hatten, Anspruch auf Staatsbürgerschaft. Für trachtet. Schließlich ist eine wachsende Sy- Nicht-Araber gelten analog 25 Jahre. Das Ein- stematik in der Ausschließung schiitischer bürgerungsgesetz von 1963 sieht zudem vor, Bürger aus dem Sicherheitsapparat späte- dass eine Person, die dem Land besondere stens seit der Islamischen Revolution in Iran Dienste erwiesen hat, die Staatsbürgerschaft nachzuweisen. Ferner sind die fremdländi- erlangen kann. Darauf hinweisend, dass sich schen Angehörigen der Armee in weiten Tei- dieser Artikel sehr flexibel auslegen lasse und len der Bevölkerung als Söldner verpönt. dass der Einbürgerungsprozess ohnehin sehr intransparent verlaufe, fordert die Opposition Ein weiterer Aspekt staatlicher Diskriminie- schon seit Jahren eine Novellierung des Ge- rung ist die der Manipulation der Mehrheits- setzes. verhältnisse dienende Grenzziehung der Wahlkreise, Gerrymandering genannt. Dabei Wie schon weiter oben erwähnt, entzünden wird der geometrische Zuschnitt der Wahlbe- sich die aktuellen Proteste nicht ausschließ- zirke so verändert, dass es der sunnitischen lich an konfessionellen Ressentiments, Wählerschaft, obwohl in der Minderheit, mög- sondern an der Ungerechtigkeit innerhalb des lich ist, als Sieger aus der Wahl hervorzuge- politischen Systems, wofür jedoch nicht die hen.7 Eine schiitische Mehrheit im gewählten Sunniten als Glaubensgemeinschaft an Unterhaus wird damit verhindert. Bei den sich verantwortlich gemacht werden. Die Wahlen von 2010 erlangten sunnitische Ab- ungerechte Einbürgerungspolitik schürt geordnete 22 von 40 Sitzen. Al-Wifaq („Die jedoch das Misstrauen untereinander und Eintracht“), die bedeutendste politische Ver- könnte bei zunehmender Eskalation der Lage einigung innerhalb der schiitischen Gemein- für Zwietracht zwischen den Konfessionen schaft, gewann indessen die restlichen 18 sorgen. Sitze, obwohl sie rund zwei Drittel aller abge- gebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Tatsache, dass Schiiten bei der Arbeits- Auch wenn sie von einer Mehrheit im Unter- suche im öffentlichen Sektor, der der größte haus nicht profitieren könnten, weil diesem Arbeitgeber des Landes ist, systematisch be- ohnehin die nötigen legislativen Kompeten- nachteiligt werden, resultiert in einer unver- zen fehlen, erhöht die Wahlkreis- verfäl- hältnismäßig hohen Arbeitslosenquote unter schung die Frustration unter den Schiiten und ihnen. Obendrein verdienen jene, die eine An- hat nicht zuletzt einige schiitische Vereinigun- stellung haben, gegenüber ihren sunnitischen gen dazu bewogen, die Wahlen zu boykottie- Kollegen in vergleichbaren Positionen deut- ren. lich weniger.

Eine der Hauptforderungen der Protestieren- Die ökonomische Divergenz zwischen den den ist außerdem die Beendigung der bereits beiden Konfessionen führt unweigerlich zu oben erwähnten Strategie zur Veränderung einer unverhältnismäßigen Verteilung des der demographischen Verhältnisse, die mut- Reichtums. Die meisten Schiiten leben in maßlich von der Regierung angewandt wird, Randbezirken der Hauptstadt Manama und in indem sie sunnitische Ausländer einbürgert. armen Dörfern, deren infrastrukturelle Er- Besonders häufig wird Jordaniern, Jemeniten, schlossenheit nicht selten als katastrophal be- Syrern und Pakistanern, die einen Großteil zeichnet werden darf. In einigen, besonders des Personals der bahrainischen Streitkräfte den sunnitischen Eliten vorbehaltenen, Ge- ausmachen, die Staatsbürgerschaft verliehen. bieten ist es Schiiten gar verboten, Land zu Darüber hinaus haben oppositionelle, vorran- erwerben und zu wohnen. Die ökonomische gig schiitische Gruppen wiederholt kritisiert, geht also zusätzlich mit einer räumlichen Dis- dass auch saudische Stämme, die zwar einst kriminierung einher. Bei einem Bevölkerungs- in Bahrain ansässig waren, deren Haupt- wachstum von jährlich 3% wird siedlungsgebiet jedoch im Osten Saudi-Ara- Landknappheit auf der kleinen Golfinsel zu biens liegt, die doppelte Staatsbürgerschaft einem ernsten Problem, während Mitglieder erlangten.8 der Königsfamilie mehr Boden besitzen als sie nutzen können. Der niedrige Beschäfti- Nach bahrainischem Gesetz haben Araber gungsgrad innerhalb der schiitischen nach 15 aufeinander folgenden Jahren, in Gemeinschaft wird zudem dadurch ver-

7 Zur Definition von Gerrymandering, siehe: http://www.wahlrecht.de/lexikon/gerrymander.html, abgerufen am 13.07.11. 8 Angehörige des saudischen Dawasir-Stammes seien während der Wahlen von 2002 sogar mit Lastern auf Staatsko- sten in die Mitte des Saudi-Arabien und Bahrain verbindenden Dammes gebracht worden, um dort ihre Stimmen ab- zugeben. Dass im Jahr zuvor rund 1.000 langjährige schiitische Staatenlose die bahrainische Staatsbürgerschaft erhielten, konnte die Empörung unter den Schiiten über die einseitige Einbürgerungspolitik nur unmerklich lindern.

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schlimmert, dass zunehmend Arbeitskräfte zu den zentralen Fragen der Machtverteilung mit niedrigeren Lohnansprüchen besonders kommt. Eine politische Stärkung der schiiti- aus Asien auf den Markt drängen. schen Bevölkerung wird diese nicht in Kauf nehmen. Des Weiteren ist festzuhalten, dass in Bahrain kein staatliches System der sozialen Absi- Die Opposition, die sich in den ersten Wochen cherung existiert, sodass diese Aufgabe von nach den Protesten zu einer losen Allianz ver- Verwandten und Bekannten getragen werden einigt hat, besteht aus sieben politischen, teils muss, was jene zusätzlich belastet. Wenn schiitischen, teils linken Vereinigungen und selbst das soziale Umfeld diese Bürde nicht aus nicht-lizensierten außerparlamentari- auf sich nehmen kann oder will, bleiben die schen Gruppierungen. Die wichtigste Fraktion Betroffenen sich selbst überlassen. Ernsthafte dieser Koalition und wahrscheinlich die stärk- Versuche, die daraus resultierende Entste- ste politische Teilkraft des Landes ist al-Wifaq hung von regelrechten Elendsvierteln zu un- (arabisch: „Die Einheit“). Der Erfolg dieser re- terbinden, werden nicht unternommen, lativ heterogenen pan-schiitischen Vereini- bedauert die Opposition. gung lässt sich darauf zurückführen, dass sie viele verschiedene politische und religiöse III. Akteure des Wandels und konkrete Strömungen der schiitischen Gemeinde zu- Auslöser sammenführt.9 Seit 2006 haben Mitglieder al- Wifaqs an den Parlamentswahlen In Bahrain sind politische Parteien offiziell teilgenommen und verfolgen seither das Ziel, nicht zugelassen. Als jedoch 1999 Hamad bin das politische System durch Partizipation von Isa Al Khalifa seinem Vater als Emir folgte und innen zu verändern, nachdem sie die Wahlen im Rahmen der politischen Öffnung des von 2002 wie die meisten oppositionellen Landes Reformen einleitete, wurden in der Kräfte aus Protest boykottierten. Folge politische Vereinigungen legitimiert. Seither haben sich zahlreiche sunnitische, Die al-Haqq-Bewegung (arabisch: „das schiitische und linksorientierte Gruppierungen Recht“, „die Wahrheit“) besteht vorrangig aus etabliert. Darüber hinaus treten bei den ehemaligen al-Wifaq-Mitgliedern, die sich Wahlen zumeist sunnitische unabhängige 2005 von ihrer Partei lossagten, um gegen die Kandidaten an. Entscheidung zu protestieren, an den Wahlen von 2006 teilzunehmen. Al-Haqq gehören Die beiden politischen Vereinigungen al-Min- auch einige wenige sunnitische Oppositio- bar (arabisch: „Das Forum“) und al-Asala nelle an, denen der Reformprozess zu lang- (arabisch: „die Authentizität“, „die Echtheit“) sam vonstatten geht. Die Bewegung lehnt repräsentieren die islamistischen Tendenzen jegliche Form von Arrangement mit der Re- der sunnitischen Bevölkerungsminderheit. gierung ab und beschränkt ihre Aktivitäten auf Die Al Khalifa haben mit ihnen stets taktische das Sammeln von Unterschriften, die Mobili- Allianzen geschlossen, um den Einfluss der sierung der Jugend und die Förderung politi- liberalen und schiitischen Gruppierungen schen Interesses und Bewusstseins. Seitens zurück zu drängen. Zu Beginn der Proteste der Regierung wird al-Haqq unterstellt, für bildeten sie zusammen mit einigen Unabhän- Gewaltbereitschaft innerhalb der Opposition gigen die Allianz National Unity Gathering verantwortlich zu sein. Wegen ihres konfron- (NUG). Die regimefreundliche NUG hat wie- tativen Kurses und ihrer Absicht, das System derholt die Legitimität des augenblicklichen durch Protest und zivilen Ungehorsam zu Fall politischen Systems bestätigt. In einigen zu bringen, wird der Bewegung auch keine Li- Punkten stimmen ihre Forderungen mit denen zenz gestattet und ist daher praktisch illegal. der Opposition jedoch überein. So verlangen sie unter anderem ebenfalls die Freilassung Die wichtigste politische Kraft des linken politischer Gefangener, eine größere Teilhabe Spektrums ist al-Wa’ad (arabisch: „Das Ver- des Unterhauses an der Gesetzgebung, die sprechen“). Diese Vereinigung, deren Unter- stärkere Bekämpfung der Korruption und die stützer vor allem aus der schiitischen Mittel- ernsthafte Strafverfolgung jener, die für die schicht, aber auch konfessionsübergreifend Tötung mehrerer Demonstranten im Februar aus intellektuellen Kreisen stammen, verfolgt 2011 verantwortlich sind. Langfristig kann die eine Art arabischen Nationalismus. Sie war Regierung jedoch mit der breiten Unterstüt- die erste politische Kraft, die sich öffentlich für zung der NUG rechnen – besonders wenn es die Unterstützung der Proteste vom 14. Fe-

9 Dies gilt sowohl für Schiiten arabischer als auch persischer Abstammung.

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bruar 2011 aussprach. Dass die Proteste am um die Proteste zu organisieren und zu koor- jenem Tag, dem 14. Februar 2011 ausbra- dinieren. Al-Haqq und das Bahrain Center for chen, war kein Zufall. Dieser Tag bedeutete Human Rights10 konnten durch ihre guten auch das zehnjährige Bestehen des „Natio- Kontakte zur Zivilgesellschaft ihr Übriges nalen Aktionsplans” (National Action Charta), dazu beitragen, dass Zehntausende in der der die Grundlage der heutigen Verfassung Hauptstadt Manama und anderen Ortschaf- Bahrains bildet und der die Hoffnungen auf ten im ganzen Land an Demonstrationen teil- ein gerechteres politisches System weckte. nahmen. Keine einzige politische Kraft des Wie weiter oben deutlich gemacht, wurden Landes könnte jedoch für sich allein in An- diese Hoffnungen enttäuscht, weil die Eliten spruch nehmen, den Anstoß für die Proteste des Al Khalifa-Clans nicht vermochten, ihren gegeben zu haben. Die bedeutendsten Im- Versprechungen Taten folgen zu lassen. Die pulse gingen wie auch in Tunesien von der in- Einführung der Verfassung von 2001 glich ternettaffinen, gut informierten und einer Farce und stellte für weite Teile der Op- pessimistisch in die Zukunft blickenden Ju- position einen Affront dar. Die scheinbare po- gend aus, die keinem politischen Lager ex- litische Öffnung des Landes konnte zwar die klusiv zuzuordnen ist. Gewalt der turbulenten 1990er Jahre in ge- wissem Maße eindämmen. Der Missmut, die Bereits am 14. Februar, dem ersten Tag der Unzufriedenheit, ja gar die Frustration inner- Proteste, gingen die Sicherheitskräfte mit halb der Bevölkerung wurden aber wegen äußerster Härte vor. Dies geschah wohl mit dem fehlenden Realisierungswillen der Re- der Absicht, eine drohende Revolution von formen nur bestärkt. Beginn an zu unterbinden. Ein 27-jähriger De- monstrant wurde erschossen. Am Morgen des Die Bahrainis verfolgten die Ereignisse in Tu- nächsten Tages versammelte sich eine große nesien und Ägypten aufmerksam. Die Nach- Menschenmenge zu einem Trauerzug, um richt vom Sturz zunächst Ben Alis und später dem Tod des Verstorbenen zu gedenken. Mubaraks stimmte viele optimistisch, auch in Wieder eskalierte die Situation und eine wei- Bahrain politische Veränderungen durch zivi- tere Person wurde getötet. Der König ent- len Protest herbeizuführen. Der Sturz der Al schuldigte sich umgehend für das harte Khalifa wurde aber zunächst nicht angestrebt. Vorgehen der Polizei und kündigte eine um- Man verfolgte lediglich die Aufhebung der fassende Untersuchung der tragischen Ereig- konfessionellen Segregationspolitik und die nisse an. Sein Versprechen konnte die von Einführung einer echten konstitutionellen den beiden Tötungen aufgebrachten Massen Monarchie nach Vorbild Großbritanniens, jedoch nicht beruhigen. Der Versuch, die Pro- Schwedens oder Spaniens, in der die Fami- teste frühzeitig durch den Einsatz von Gewalt lie Al Khalifa zwar weiterhin den König stellte, aufzulösen, bestätigte viele in ihrer Annahme, die exekutive Macht jedoch von gewählten dass den Herrschern an einer substantiellen Vertretern des Volkes ausginge. Reform des Systems gar nicht gelegen war. Insofern stellten die Tode der beiden ersten Bereits vor den Protesten im eigenen Land Demonstranten einen Wendepunkt in der Pro- hatte die Regierung als Reaktion auf die Pro- testbewegung dar. Ein Großteil der Empörten teste in der arabischen Welt wie auch seine verlor in der Folge den Glauben an einen ech- GCC-Nachbarn angekündigt, jeder bahraini- ten Wandel durch die Herrscherfamilie. schen Familie eine Pauschale von 1.000 Dinar (ca. 2.650 USD) zukommen zu lassen. Am Abend der Beerdigung und der zweiten Die Geste zeugte von königlicher Großzügig- Konfrontation der Protestierenden mit den Si- keit, konnte die Proteste jedoch weder in ihrer cherheitskräften zog eine Menschenmenge Intensität abschwächen noch gänzlich ver- auf den zentral gelegenen Perlen-Platz in hindern. Manama und errichtete Zelte – ganz nach dem Vorbild der ägyptischen Demonstranten, Die ersten Aufrufe an die Bahrainis, sich am die den Tahrir-Platz in Kairo tagelang besetzt 14. Februar, dem bahrainischen „Tag des hielten. In der Nacht stürmten Regierungs- Zorns“, auf die Straße zu begeben, um für truppen unter Einsatz von Tränengas und Freiheit und Würde sowie gegen Diskriminie- scharfer Munition den Platz, töteten fünf Per- rung und Korruption zu demonstrieren, gingen sonen, verletzten hunderte und nahmen wei- von der Jugend aus, die sich der sozialen tere in Gewahrsam. Die Zugangsstraßen Plattformen Facebook und Twitter bedienten, wurden abgeriegelt. Den Verletzten zu Hilfe

10 Siehe http://www.bahrainrights.org.

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eilende Krankenwagen wurden aufgehalten. Premierminister – erneut die konfessionelle Als Reaktion auf die Gewalt zogen sich alle Karte zu spielen, indem sie den Demonstran- Abgeordneten al-Wifaqs und einige unabhän- ten vorwarfen, Hass gegen Sunniten zu gige Kandidaten aus dem Parlament zurück. schüren und ihren politischen Führern unter- Die Forderung, die Regierung solle geschlos- stellten, im Auftrag Irans zu handeln. Die Op- sen zurücktreten, da sie ihre Legitimität nun position behauptete ihrerseits, dass endgültig verloren habe, wurde nun auch zum sunnitische „Schläger“ unbehelligt friedliche politischen Programm der legalen Opposition. Demonstranten angreifen können. Die Si- cherheitskräfte würden nicht eingreifen. Der Zorn der Massen kanalisierte sich im Hass auf den Premierminister und Onkel des Ungeachtet dessen und angesichts des zum Königs, Khalifa bin Salman Al Khalifa, der Erliegen gekommenen Dialogs marschierten sein Amt seit 1971 innehat. Er wird zur alten Mitte März Protestierende gen Finanzzentrum reformunwilligen Garde des Regimes gezählt in Manama und blockierten dort einige und gilt als korruptester Politiker des Landes. Straßen. Andernorts brachen heftige Kämpfe Des Weiteren wurde er als Hauptverantwort- mit der Polizei aus. Mehrere hundert Men- licher für das brutale Vorgehen der Sicher- schen wurden verletzt. Am nächsten Tag, dem heitskräfte ausgemacht. 14. März, marschierten als Reaktion auf die erneuten Zusammenstöße Truppen des Golf- IV. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure kooperationsrates, allen voran saudische Sol- daten, in Bahrain ein – angeblich auf Anfrage Nachdem die ersten drei Tage der Proteste der bahrainischen Regierung. Am 15. März derartig blutig verlaufen waren, wurde auch wurde – zunächst für drei Monate vorgesehen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit – das Kriegsrecht verhängt. Die von der Op- größer und die internationale Kritik immer lau- position titulierte „Besetzung des Königreichs ter. In der Folge brachte das Regime den Bahrain“ ist kritisch zu betrachten, da die Sohn des Königs, Kronprinz Salman bin schnelle Eingreiftruppe des GCC eigentlich Hamad bin Isa Al Khalifa, in Stellung. Der 41- für die Abwehr von äußeren Feinden be- Jährige, der unter anderem in den Vereinig- stimmt ist. Es lässt sich vermuten, dass die ten Staaten und Großbritannien studiert hat, Aktion vor allem auf saudische Initiative gilt als vergleichsweise liberal und moderat. zurückzuführen ist. Denn das saudische Im Fernsehen bekundete er den Dialogwillen Königreich befürchtet ein Übergreifen der seiner Familie, versprach Reformen, um dem Proteste auf seine ölreichen Gebiete im Willen des Volkes nachzukommen, und er- Osten, die direkt an Bahrain grenzen und in klärte, dass nun friedlich weiterdemonstriert denen ebenfalls Schiiten in ähnlich prekären werden dürfe. Die Streitkräfte, als deren stell- Verhältnissen wie ihre bahrainischen Glau- vertretender Befehlshaber er fungiert, würden bensgenossen leben. Generell wäre das Zu- sich zurückhalten. Dementsprechend ruhig standekommen einer schiitischen Regierung verliefen auch die nächsten drei Wochen. Sei- in Bahrain für Saudi-Arabien nicht hinnehm- tens der Regierung wurde die Schaffung von bar. So wurde die Bekämpfung der Proteste 20.000 neuen Stellen im Innenministerium an- auf eine breite regionale Basis gestellt, an der gekündigt – ein Signal, dass man es mit der sich alle Staaten des Golfkooperationsrates Arbeitslosigkeit im Lande ernst nehme. Auch beteiligen, um den Eindruck der regionalen wurden fünf Minister ausgewechselt und ei- Einigkeit gegen die angeblich von Iran inspi- nige wenige politische Gefangene freigelas- rierte Protestbewegung zu wecken. Neben sen. Zu umfangreichen Zugeständnissen kam dem Einmarsch in Bahrain wurde vom GCC es allerdings nicht, sodass die Proteste wei- auch ein Stabilisierungspaket für den Insel- tergeführt wurden und die Demonstranten staat und Oman von insgesamt 20 Mrd. USD den Perlen-Platz erneut besetzten, was aller- verabschiedet, um die Infrastruktur zu ver- dings erst durch den Rückzugsbefehl des bessern und die sozialen Missstände zu Kronprinzen an die Sicherheitskräfte ermög- bekämpfen. licht wurde. Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb bisher Einerseits wurde den Protestierenden seitens marginal. Die Präsenz fremder Truppen, die des Regimes also Raum verschafft. Anderer- unter anderem erneut mit Gewalt den Perlen- seits begannen konservative Kräfte innerhalb Platz räumten und ihn schwer beschädigten, der Regierung – vor allem vertreten durch den hat wie es scheint der Protestbewegung eher

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Aufschwung verliehen, was nicht zuletzt wurden verletzt, etliche verurteilt und aber- durch die Wiederbesetzung des Perlen-Plat- mals Dutzende gelten als vermisst. Die mas- zes deutlich wurde. Der Zweck des Einmar- sive Anwendung von Folter wird angeprangert sches wurde somit verfehlt. Auch ließ sich die und ist an nicht wenigen Leichen nachweis- Protestbewegung durch die finanziellen Kon- bar. Über ein halbes Jahr sind seit Beginn der zessionen nicht von der Forderung nach dem ersten Demonstrationen nun vergangen und Rücktritt der Regierung abbringen. Wohl das Land scheint in einer politischen Sack- führte die Intervention aber zu einer Zunahme gasse zu stecken. Der Ausgang der Krise ist der Gewalt – und zwar auf beiden Seiten. Ei- schwer vorauszusagen. nerseits verfolgt die breite Masse der Protest- bewegung weiterhin eine friedliche Lösung König Hamad bin Isa Al Khalifa initiierte An- des Konflikts. Andererseits wurde jedoch fang Juli einen Nationalen Versöhnungsdia- auch von einzelnen Gewaltaktionen durch log, zu dem rund 300 Vertreter des Regimes, Demonstranten berichtet – ob aus Vergeltung der Opposition und der Zivilgesellschaft ein- oder Verteidigung, darüber lässt sich nur spe- geladen wurden. Al-Wa’ad und al-Wifaq – kulieren. letztere nach anfänglichem Zögern – nahmen an den ersten Gesprächen teil. Vorbedingun- Mit dem Einmarsch der GCC-Truppen ging gen für die Teilnahme wie der Abzug der ferner eine umfangreiche Verhaftungswelle GCC-Truppen oder der Rücktritt des Premiers einher. Nachdem die Opposition noch die wurden abgelehnt. Die Unterredungen sollten Aufhebung des Ausnahmezustands am das Wahlgesetz, den Umfang staatlicher Lei- 1. Juni 2011 gefeiert hatte, wurden Tage spä- stungen und die Kompetenzen des gewählten ter 21 prominente Oppositionsverführer und Parlaments behandeln. Die Forderung der Menschenrechtler, darunter die Führer der Opposition, Bahrain in eine konstitutionelle al-Haqq-Bewegung und wichtige Funktionäre Monarchie umzuwandeln, wurde zurückge- von al-Wifaq und al-Wa’ad, in Massen- wiesen. Den oppositionellen Gruppen, be- verfahren vor einem Militärgericht wegen ihrer sonders al-Wa’ad und al-Wifaq, wurde recht Rolle in den Protesten zu teils lebenslangen schnell bewusst, dass sie ihre politischen For- Haftstrafen verurteilt. Den Verurteilten wurde derungen nicht würden durchsetzen können. vorgeworfen, mit Hilfe Irans in Bahrain die Zum einen, weil die Bandbreite der Themen Errichtung eines Gottesstaates geplant zu begrenzt sei und zum anderen, weil die Op- haben. Amnesty International kritisierte die position von 300 Eingeladenen gerade einmal drakonischen Urteile, da eine Verurteilung vor 35 Delegierte stellt. Aus diesem Grund zog al- einem Militärgericht nach Beendigung Wifaq auch Mitte Juli sämtliche seiner Mit- des Notstands nicht rechtmäßig sei. Ferner glieder von den Gesprächen ab, womit eine seien die Richtersprüche politisch motiviert politische Verständigung abermals in weite gewesen.11 Ferne rückte.

Es hat in diesem Sinne allen Anschein, dass V. Auswirkungen des „Arabischen Früh- das Regime eine „Zuckerbrot-und-Peitsche”- lings“ Taktik lanciert hat. Einerseits signalisiert es, vertreten durch den Kronprinzen, Dialogbe- Der weitere Verlauf ist kaum zu prognostizie- reitschaft und die Bereitschaft zu Konzessio- ren. Zurzeit scheinen die Verhandlungen fest- nen. Andererseits geht es brutal gegen die gefahren. Wohl kann aber konstatiert werden, Protestierenden vor und versucht die Führer- dass die Ereignisse die ohnehin schon vor- schaft der Opposition zu eliminieren. Hinzu handenen Gräben in der bahrainischen Ge- kommt, dass die Protestbewegung in den sellschaft vergrößert haben. Der Konflikt birgt staatlichen Medien zunehmend diskreditiert die Gefahr, dass es zu tatsächlichen konfes- wird. Immer wieder wird von Waffenfunden sionellen Kämpfen kommt, wenn die Ge- berichtet, die bis jetzt jedoch sämtlich unbe- spräche nicht rasch und konstruktiv stätigt blieben. Symbolisch für die Politik mit fortgesetzt werden. Die Aufständischen soll- der Peitsche steht hierbei der Premiermini- ten sich nicht durch Provokationen seitens ster, dem nachgesagt wird, saudische Inter- des Regimes beziehungsweise sunnitischen essen zu vertreten. Loyalen zu gewalttätigen Reaktionen verlei- ten lassen. Des Weiteren darf die Opposition Seit Beginn der Proteste im März kamen rund nicht davon ablassen, die Vorwürfe zu negie- 35 Menschen ums Leben, viele Hunderte ren, dass sie unter der Ägide Irans gegen den

11 Siehe http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE11/036/2011/en.

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Staat konspiriere. Denn die Regierung be- werde, wurden laut und schmälern das trachtet die Heraufbeschwörung dieser Ge- Ansehen der USA bei weiten Teilen der fahr nach wie vor als Universalmittel und nutzt bahrainischen Gesellschaft, die der US-ame- die staatlich gelenkten Zeitungen und Fern- rikanischen Außenpolitik mindestens fehlende sehsender zu dessen propagandistischer Ver- Verhältnismäßigkeit vorwerfen. Zwar wurde breitung. Vor der Niederschlagung der ein Ende der Gewalt gegen Demonstranten Proteste und der folgenden Repressionswelle und eine friedliche Lösung gefordert, weit rei- verfügte Bahrain noch über eine verhältnis- chende internationale Unterstützung erfährt mäßig freie Medienlandschaft. Viele Journali- die bahrainische Opposition jedoch nicht. Sie sten haben nun aber ihren Job verloren. Es kann nicht darauf hoffen, dass die USA den wird berichtet, dass ganze Redaktionen aus- Al Khalifa-Clan fallen lässt. Denn die Ameri- gewechselt wurden wie jene der Zeitung Al- kaner brauchen ihn, unterhalten sie auf Wasat, die bis dahin zu den kritischsten Bahrain doch einen Flottenstützpunkt. Eben- Blättern am Golf zählte. falls einflussreich agiert die saudische Lobby in Washington, die viel dafür tun wird, dass Nicht nur Journalisten, sondern auch andere sich die USA nicht, wie im Falle Mubarak, von Berufsgruppen, die den Demonstranten in ir- ihren alten Verbündeten abwendet. Die Sau- gendeiner Weise geholfen haben, wie Ärzte dis üben auch auf die Al Khalifa erheblichen und Anwälte, sind von Kündigungen und Einfluss aus, nicht zuletzt aufgrund der tief sogar Berufsverboten betroffen. Von den Uni- greifenden Abhängigkeit Bahrains von der versitäten wurden bereits etliche Studenten saudischen Wirtschaft.12 Es bestehen gar exmatrikuliert, wenn sie nicht einen Loyalitäts- enge persönliche Kontakte zwischen den bei- eid ablegten. Im Ausland studierenden den Königshäusern. Premierminister Khalifa Bahrainis wurden teilweise Stipendien entzo- ibn Salman Al Khalifa ist ein langjähriger gen, weil sie Kontakt zu den Demonstranten Freund von Nayif bin Abdulaziz Al Saud, dem aufgenommen hatten. saudischen Innenminister und Halbbruder König Abdullahs. Beide vertreten die konser- Die Nachbarstaaten positionieren sich mehr- vative Linie innerhalb ihrer Familien. Die heitlich auf Seiten der Al Khalifa. Das diffuse bahrainischen Reformbestrebungen seit der Bedrohungsszenario, iranischer Einfluss Jahrtausendwende waren ihnen seit jeher ein könne sich der bahrainischen Schiiten Dorn im Auge. Von Premierminister Khalifa bemächtigen, bestimmt vor allem das außen- wird gesagt, dass er nun spätestens seit den politische Handeln Saudi-Arabiens, das als Ausschreitungen des Frühlings und den „Vorreiter des sunnitischen Islams“ und „Hüter anschließenden Rufen nach dem Rücktritt der der beiden heiligen Stätten“ Mekka und Me- Regierung die eigentlichen Entscheidungen dina mit dem schiitischen Rivalen um die He- im Inselstaat trifft. Es scheint jetzt, als habe er gemonialposition am Golf konkurriert. Auch den Machtkampf mit dem reformorientierten enge Verbündete von Saudi-Arabien und Kronprinz Salman bin Hamad bin Isa Al Kha- Bahrain wie u. a. die USA befürchten die Aus- lifa für sich entschieden. Letzterer hatte sich weitung des iranischen Einflusses auf die zu Beginn der Proteste für Zugeständnisse an Schiiten der arabischen Golfregion – eine Si- die Opposition ausgesprochen. Es verwun- tuation, die in den Augen der US-amerikani- dert nun nach der „Palastrevolution“ des schen Sicherheitsstrategen zu erhöhten Premierministers und der saudischen Inter- Risiken führen und den Atomkonflikt mit Iran vention nicht, dass es zu keiner Annäherung in die zunehmend fragile arabische Welt tra- kam und die Gespräche folglich abgebrochen gen könnte. wurden. Die negativen wirtschaftlichen Aus- wirkungen sind als moderat zu bewerten. Die So zielt das geostrategische Interesse der Kurse bahrainischer Firmen an den Aktien- USA und anderer westlicher Akteure in märkten fielen nach Ausbruch der Unruhen Bahrain auf eine Stabilisierung des Status leicht und der Ölpreis legte zu, weil Anleger quo, eine Konsolidierung der Sicherheitslage eine Ausweitung der Proteste auf saudischem und der Position der Al Khalifa, was zu vehe- Boden befürchteten. Durch die Blockierung menter Kritik geführt hat. Vorwürfe, im Falle des Finanzsektors und wegen teilweise lan- von Ägypten und Tunesien die Demonstran- desweiter Streiks kam das wirtschaftliche ten unterstützt zu haben, während in Bahrain Leben in der Inselmonarchie zeitweise zum das Regime aus Eigeninteresse gestärkt Erliegen. Die Folgen der Stagnation haben

12 Der Großteil der bahrainischen Ölförderung findet im Abu Safa Offshore-Feld statt, das zur Hälfte Saudi-Arabien gehört. Die Hälfte der saudischen Erlöse aus diesem Geschäft geht direkt an Bahrain, das im Gegenzug seine Ansprüche auf das komplette Feld aufgibt. Bahrainische Raffinerien werden mit saudischem Rohöl zu Discount-Preisen beliefert. Des Weiteren hängen die bahrainische Tourismusindustrie und das Bankwesen von saudischen Besuchern und Einlagen ab.

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aber bislang keine alarmierenden Ausmaße vonseiten iranischer Offizieller, die eine Inter- angenommen, da saudische Truppen ein vention fordern, nähren nun auch in den west- Übergreifen der Proteste auf das eigene Ho- lichen Medien die Furcht, der iranische heitsgebiet offenbar unterbinden konnten.13 Einfluss könne rapide ansteigen. Die USA und Israel nutzen die Gunst der Stunde und VI. Zukunftsszenarien führen Präventivschläge auf iranische Rake- ten- und Atomanlagen aus. Im Schatten der Best Case Scenario: kriegerischen Auseinandersetzung, die die USA und Israel schnell für sich entscheiden, Es tritt der Fall ein, dass das bahrainische Kö- werden die schiitischen Aufstände in Saudi- nigshaus auf Drängen der USA die Transfor- Arabien und Bahrain von der Armee brutal mation Bahrains in eine echte konstitutionelle niedergeschlagen. Monarchie und freie Wahlen zulässt. Die Al Khalifa behalten den Großteil ihres Vermö- Trend Szenario: gens. Von einer strafrechtlichen Verfolgung sieht die Regierung ab. Zuvor waren die Ame- Was am wahrscheinlichsten eintreten wird, ist rikaner mit der Opposition in Verbindung ge- das, was momentan bereits abzusehen ist: treten und hatten sich versichert, dass sie Die Protestbewegung besitzt keine nennens- Bahrain auch in Zukunft als Flottenstützpunkt werte Verhandlungsmacht. Der Großteil der nutzen können. Saudi-Arabien wurde insofern politischen Führer und Aktivisten, die durch ihr beruhigt, dass die USA noch mehr Militärzu- Charisma und ihre Erfahrung noch vermoch- sammenarbeit zur Eindämmung des irani- ten, die Massen zu mobilisieren, sitzt in Ge- schen Einflusses zusagte. Die schiitischen fängnissen ihre teils lebenslangen Haftstrafen Führer Bahrains ihrerseits stellten den Saudis ab. Angesichts der fehlenden internationalen freundschaftliche Beziehungen in Aussicht Unterstützung und der Stagnation der Ver- und versicherten, dass ein schiitisch domi- handlungen verschwindet die bahrainische niertes Bahrain sich in keinster Weise in die Revolution auch aus den westlichen Medien. inneren Angelegenheiten Saudi-Arabiens ein- mischen werde – gerade in Bezug auf die Ernüchtert von der fehlenden Aufmerksamkeit schiitische Minderheit im Osten. Vielmehr ver- und frustriert vom ausbleibenden Interesse für stehe man sich als ein den Frieden sichern- ihre Sache, lassen sich viele durch die staat- der, neutraler Staat. lichen finanziellen Anreize vom Regime ko- optieren. Zumindest ihre Wohnsituation wird Worst Case Scenario: verbessert. Die Regierung kündigt die Schaf- fung zusätzlicher Stellen im öffentlichen Sek- Angesichts der ausweglosen Situation, in der tor an und reduziert die Haftstrafen einiger sich die bahrainische Protestbewegung sieht, politischer Führer. Des Weiteren stellt sie eine und der anhaltenden Repression, beginnen Änderung der Einbürgerungspolitik und ein sich Teile der al-Haqq-Bewegung und andere Ende des Gerrymandering in Aussicht. schiitische militante Gruppierungen zu be- waffnen und verwickeln die regimetreuen An den Befugnissen des Parlaments wird al- Truppen landesweit in Gefechte. Das Land lerdings nichts geändert. Somit bleibt das kehrt in das Chaos der 1990er Jahre zurück. Land politisch weiterhin sunnitisch dominiert. Auch auf saudischem Boden kommt es zu be- Die Proteste lösen sich auf, die Menschen waffneten Kämpfen zwischen schiitischen Mi- verschwinden von der Straße. lizen und dem Militär. Der Westen hält sich weitgehend zurück. Provokative Äußerungen Jakob Pupke

VII. Literaturangaben

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DAMIR-GEILSDORF, SABINE: Abriss oder Renovierung? Opposition in Bahrain, in: inamo 65, Jahrgang 17, Frühjahr 2011, S. 12-15.

13 Die Absage des Formel 1 Grand Prix’ von Bahrain hat weniger für die bahrainische Wirtschaft als für die Formel 1 selbst negative finanzielle Folgen.

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KAROLAK, MAGDALENA: Religion in a Political Context: The Case of the Kingdom of Bahrain, in: Asia Journal of Global Studies, Vol 4, No 1 (2010-11), S. 4-20.

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INTERNATIONAL CRISIS GROUP:Middle East Report N°40, 6 May 2005: Bahrain’s Sectarian Challenge, http://www.crisisgroup.org, abgerufen am 12.07.2011.

RIZVI, SAJJAD: Shi’ism in Bahrain: Marja’iyya and Politics, in: Orient IV / 2009, Jahrgang 50, S. 16-23.

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Landesdaten Oman Fläche1 2011 309.500 km² Bevölkerung2 2011 2.997.990 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 9,31 Araber, Baluchi, Südasiaten Ethnische Gruppen4 2010 (Indien, Pakistan, Sri Lanka, Bangladesh), Afrikaner Ibaditen 75%, Sunniten, Schiiten, Religionszugehörigkeit5 2010 Hindus und andere 25% Durchschnittsalter6 2010 24,1 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 24% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 2% Lebenserwartung9 2010 76,1 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2011 4.900.000 Geburten pro Frau11 2009 3,0 Alphabetisierungsrate 2010 81,4% Nutzer Mobiltelefone12 2009 3.971.000 Nutzer Internet13 2009 1.465.000 Nutzer Facebook14 2011 285.080 Wachstum BIP15 2008 12,8% BIP pro Kopf 16 2010 26.258 USD Arbeitslosigkeit17 2010 15% Inflation18 2011 3,3% S&P-Rating19 2011 BBB+ Human Development Index Rang20 2010 k.A. Bildungsniveau21 2010 Rang 106 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 k. A. (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 Politische Teilhabe23 2010 16,1% Korruptionsindex24 2010 Rang 41 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 3 http://www.indexmundi.com/facts/oman/population-density 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG, International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/exter- nal/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Develop- ment Indicators, http:/www./hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/exter- nal/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nations Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/gover- nance/wgi/sc_chart.asp. 24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indi- ces/cpi/2010.

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Oman beide sunnitischen Glaubens, hinsichtlich der Wahl des Herrschers fundamental unter- schied: Bei den Ibaditen wurde der Führer ie Proteste des „Arabischen Früh- aus einem Rat von Islamgelehrten gewählt. lings” kamen für viele unerwartet Er benötigte hierfür die direkte Unterstützung Dund heftig. Zum ersten Mal konnte der Gelehrten, welche sich als legitime Ver- ein solch heftiges Aufbegehren in der ara- tretung des Volkes sahen. Zwar wurden bischen Welt beobachtet werden. Auch im diese, im Gegensatz zu modernen Demokra- Oman, vorher eher als Land mit zwar tien, nicht direkt vom Volk gewählt oder ein- wenig Möglichkeiten der politischen Ent- gesetzt, jedoch waren sie, und dies vor allem faltung für den einzelnen, dafür jedoch mit moralisch, dem Willen des Volkes unterstellt. einem vergleichsweise hohen Lebens- Ebenso wurde das Ziel einer „volksnahen“ standard bekannt, sorgten Demonstratio- Regierung und religiösen Vertretung ange- nen und Kundgebungen, verbunden mit strebt. Somit war man vom Wohlwollen des den Forderungen nach mehr Freiheit und Volkes durchaus abhängig. Während in den Sicherheit, für Aufsehen. vielen anderen Teilen der islamischen Welt das Kalifat entweder eine Art erbliches Kö- I. Politisches System und gesellschaftli- nigtum, auch Familiendynastie, oder eine the- che Entwicklungen okratische Einrichtung wurde, blieb im Oman das Imamat weitgehend eine Sache realer Archäologische Funde auf dem Gebiet des Wahlen. heutigen Oman lassen vermuten, dass die er- sten Siedlungen durch Menschen bereits vor Das Imamat von Oman bestand in seiner ur- circa 5.000 Jahren existierten. Das Volk der sprünglichen Form bis ca. 1750. Durch die ca. Sumerer, eine Hochkultur, welche an der Ent- 150 Jahre andauernde Kolonialisierung wicklung sowie territorialen Ausbreitung Me- Omans durch die Portugiesen sowie innere sopotamiens entscheidend beteiligt war, Streitigkeiten wurde das Imamat in zwei Teile siedelte sich um 3.000 v. Chr. im Nordoman gespalten. So konnte auf der einen Seite das an, wo bei ständigem Bevölkerungszuwachs theokratisch ausgerichtete Imamat weiterhin schnell das Reich Magan entstand. Hiermit bestehen, wurde jedoch im anderen, wirt- war der erste Schritt zur Jahrtausende dau- schaftlich wichtigeren Teil durch das realpoli- ernden Entwicklung zum heutigen Sultanat tisch orientierte Sultanat ersetzt. Dies von Oman getan. bedeutete gleichzeitig die Entmachtung der Islamgelehrten, wenngleich ihnen das theo- Der sich um 630 n. Chr. im Aufbruch befin- retische Mitspracherecht bei politischen sowie dende Islam machte auch vor den Gebieten religiösen Fragen im Sultanat weiterhin ge- des heutigen Oman nicht halt. Ein Grossteil währt wurde. Unter dem Sultanat wurde der omanischen Bevölkerung konvertierte so, Oman durch seine günstige geostrategische unmittelbar nach dem Aufkommen der neuen Lage mit seiner geographischen Nähe zu Religion auf der Arabischen Halbinsel, zum Asien zu einem wichtigen Handelsplatz zwi- Islam. Anders als jedoch der Grossteil der schen der Arabischen Halbinsel und Indien, heutigen islamischen Gemeinschaften gehört und konnte somit seine Herrschaft bis nach die Mehrzahl der im Oman lebenden Muslime Sansibar, Mombasa und ebenso in Teilen In- der Glaubensgemeinschaft der Ibaditen an. diens ausbreiten. Die Ibaditen entstanden aus den so genann- ten Kharidjiten, welche heute oftmals als erste Im 20. Jahrhundert geriet Oman ebenso wie islamische Sekte bezeichnet werden.1 Eine andere arabische Nachbarn unter britischen dieser Gruppen, welche aus den verbliebenen Kolonialeinfluss und wurde zum Schauplatz Kharidjiten hervorgingen, waren Al-Ibadiyyah, der regionalen Rivalitäten um die neu ent- die Ibaditen. Sie wählten als neue Herrscher- deckten Ölvorkommen. So entstanden ab den form das System des Imamats, welches sich 1930er Jahren erste Spannungen zwischen im Vergleich zu den späteren Kalifatsystemen dem Sultanat im Oman, seinen britischen Ver- z.B. der Umayyaden oder der Abbasiden, bündeten, sowie dem Imamat, dem von Ibn

1 In der islamischen Geschichtsschreibung gelten diese als extremistisch bezeichnete Sekte oder Abspal- tungsbewegung, mit starkem Augenmerk auf die Verfolgung der, von ihren theologischen Grundsätzen ab- weichenden, Muslime. Durch ihre durchaus extremistische Auslegung der Religion gerieten die Kharidjiten recht schnell unter Druck. So kam es schon um 660 n. Chr. zum beinahe kompletten Zerfall der Sekte, welcher zum einen durch massive Bekämpfung, die ihnen durch den vierten Kalifen Ali widerfuhr, zum an- deren durch Streitigkeiten untereinander, sowie die Spaltung in mehrere, sich in theologischen Details unterscheidende Gruppierungen, in hohem Maße gefördert wurde.

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Saud regierten Saudi-Arabien und der Ara- mit einschneidenden Sparmaßnahmen durch- bian-American Oil Company (ARAMCO), wel- zusetzen. Stattdessen verhinderte er so die che 1933 den Zuschlag für großflächige Modernisierung der Wirtschaft. Die damit ver- Bohrkonzessionen auf der Arabischen Halb- bundene Unbeliebtheit in der Bevölkerung, insel erlangte. Der Vertrag zwischen Saudi- die unter anderem durch das Ausreiseverbot, Arabien und ARAMCO sicherte der welches Sultan Sa’id bin Taimut zum Schutze Ölgesellschaft auch die Bohrrechte an den vor ausländischen Einflüsse verabschiedet Grenzgebieten zu Oman, in denen der ge- hatte, ausgelöst wurde, ermöglichten seinem naue Grenzverlauf seit geraumer Zeit unklar Sohn Qabus bin Sa’id 1970 den Staatsstreich war. Als ARAMCO schließlich immer weiter in und somit den Sturz des Sultans. omanisches Gebiet vordrang, wehrte sich der Oman gegen diesen Eingriff in seine Souve- Der neue Sultan, Qabus bin Sa’id Al Sa’id, de ränität, indem englische Truppen nun ge- facto Staatsoberhaupt Omans, Regierungs- meinsam mit der Armee des Sultanats chef, Außenminister, Verteidigungs- minis- versuchten, die Einhaltung der Grenzen sei- ter, Chef der Zentralbank sowie tens ARAMCO zu gewährleisten. Der Konflikt Oberbefehlshaber der Streitkräfte und der Po- zwischen Oman und Saudi-Arabien sowie lizei, begann unmittelbar nach seiner Mach- den Briten auf omanischer und den Amerika- tergreifung zunächst mit der kompletten nern auf saudi-Arabischer Seite zog sich so Umbildung der Regierung seines Vaters. Sul- über Jahre hin, und sollte bis nach dem Zwei- tan Qabus hob als eine seiner ersten Amts- ten Weltkrieg stets kurz vor einer Eskalation handlungen den verhängten Ausnahme- stehen. zustand, die Ausgangssperre sowie die Aus- reisesperre auf, welche Sultan Sayyid Sa’id Der damalige Sultan Sayyid plante schon vor allem aus Angst vor der Gefahr einer auf- lange den Sturz des Imamats, welches den kommenden Opposition im Ausland verfügt wachsenden Einfluss des Sultanats bedrohte. hatte. Nach dem Eintritt in die UNO sowie die Großbritannien wiederum nutzte die sich bie- Arabische Liga 1971 lag das Hauptaugen- tende Gelegenheit, ölreiche Gebiete des Ima- merk auf der Modernisierung der so gut wie mats unter britische Kontrolle zu bringen, nicht vorhandenen Infrastruktur, des Bildungs- indem kurzerhand Militärbasen auf imamiti- sowie des Gesundheitswesens. Grundlage schem Territorium errichtet wurden. Saudi- dieser Modernisierungspolitik sollten die ge- Arabien stellte sich auf die Seite des Imamats, steigerten Erdöleinnahmen sein.2 Dadurch um sich mit der Hilfe von ARAMCO den briti- wurde jedoch auch der Nährboden für, eines schen Ölförderungsplänen zu widersetzen. der größten Probleme der omanischen Volks- Durch die britischen Militärbasen und den wirtschaft gelegt – der starken Abhängigkeit damit verbundenen Ölbohrungen auf imamiti- der Erdölexporte. Oman gilt gemeinhin als schem Gebiet kam es 1954 zu vereinzelten Rentierstaat, dessen Ölreserven rein rechne- Militäraktionen zwischen den konkurrierenden risch nur noch für knapp 18 Jahre ausreichen Parteien, an deren Ende die Besetzung Niz- werden. Auch hier besteht in den Augen der was, der Hauptstadt des Imamats, stand. Die Bevölkerung dringender Handlungsbedarf. Regierung floh nach Saudi-Arabien und verlor dadurch alle Ansprüche auf Fortführung der Der Beginn der 1980er Jahre wurde von dem Souveränität des Imamatstaats. Die hieraus Versuch dominiert, Oman in eine moderne In- resultierende Ausweitung des Sultanats auf dustrienation zu transformieren. Hierzu wur- das vorherige Staatsgebiet des Imamats hatte den mit Hilfe des 1981 gegründeten die Gründung des Gesamtstaates zur Folge. Golf-Kooperationsrates (GCC) die Handels- Die damalige Grenzziehung hat bis heute beziehungen zu den Nachbarstaaten intensi- Gültigkeit. Sultan des neuen Oman wurde viert und durch das 1989 geschlossene Sayyid Sa’id bin Taimut Al Sa’id (1910-1972, Kooperationsabkommen mit der EU die Ab- reg. 1932-1970), welcher sein Hauptaugen- nahme der eigens produzierten Güter ge- merk vor allem darauf legte, Oman dem briti- währleistet. Die Unterzeichnung des Unified schen Einfluss zu entziehen und den Staat Economic Agreement im Jahre 1982 sorgte finanziell unabhängig von ausländischen Zah- für die Liberalisierung des Warenverkehrs, lungen zu machen. Diese Ziele versuchte er sowie der Einrichtung einer Zollunion zwi-

2 In den frühen Jahren der 1960er Jahre wurde innerhalb der Staatsgrenzen des Oman Öl zum kommer- ziellen Abbau gefunden. Ein erstes Exportterminal wurde in Mina Al-Fahal unweit der Hauptstadt Maskat errichtet. Sieben Jahre nach den ersten erfolgreichen Bohrungen konnten 1967 die ersten Ölexporte, zu- nächst in geringen Mengen von ca 30.000 Barrel pro Tag, vollzogen werden. Bis 1970 stieg die Förder- menge auf 332.000 Barrel am Tag. Nach Schätzungen der Weltbank ermöglichten die Erdölförderung sowie der Export dem Oman die Steigerung des Bruttosozialprodukts um 8% zwischen 1965 und 1987.

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schen den Staaten der Arabischen Halbinsel. des und der Gesellschaft zu beschäftigen. Zunächst war zwischen den Staaten des Ko- Stimmen wurden laut, welche Sultan Qabus operationsrates sogar die Einrichtung einer beschuldigten, den Grossteil seiner Zeit in gemeinsamen Währung geplant, welche aber einem seiner Paläste oder auf seiner Motor- aufgrund innerpolitischer Differenzen und jacht, gleichzeitig die drittgrößte der Welt, zu unterschiedlich formulierter Ziele faktisch verbringen. Auch wird ihm vorgeworfen, sei- nicht mehr in Betracht gezogen wird. nen repräsentativen Pflichten nicht ausrei- chend nachzukommen: Der Sultan eröffnet II. Vorraussetzungen für den Willen nach keine Schulen, legt keine Grundsteine bei Wandel wichtigen Infrastrukturprojekten, wendet sich nur einmal im Jahr mit einer Rede an sein Nach verhaltener Kritik und den ersten erfas- Volk und verleiht keine Orden. sten Demonstrationen in der Geschichte Omans Anfang der 1990er Jahre, welche die Eines der größten Probleme Omans ist je- Modernisierung des Staatssystems und die doch die stetig steigende Arbeitslosigkeit, wel- damit einhergehende Demokratisierung for- che 2010 bei rund 15% lag. Die Zahl der unter derten, entstand 1991 ein Rat, Majlis Oman, 25-Jährigen liegt im Oman, vergleichbar mit bestehend aus Konsultativrat und Staatsrat, dem Grossteil anderer arabischer Staaten, welcher dem Sultan beratend zur Seite steht, mit rund 51% der Staatsbürger weit über dem allerdings keine legislative Funktion besitzt. weltweiten Durchschnitt. Daraus resultierend Seit 1996 hat Oman eine Verfassung, deren kämpft der Oman ebenso mit einer relativ Rechtswesen auf der islamischen Scharia hohen Jugendarbeitslosigkeit, welche derzeit ruht, welche aufgefordert ist, individuelle Frei- bei geschätzten 20% liegt. Hinzu kommt, dass heitsrechte von Bürgern festzulegen und all- jedes Jahr rund 50.000 junge Omanis mit Ab- gemeine Aspekte des politischen Systems zu schluss ihrer Schulausbildung auf den ohne- regeln. Seit 2002 besteht für jeden omani- hin schon gesättigten Arbeitsmarkt strömen. schen Staatsbürger ab 21 Jahren die Mög- In Angesicht der schlechten Arbeitsmarktlage lichkeit, die Mitglieder des Konsultativrates jedoch meist ohne Erfolg. Dies wirkt sich be- sowie des Staatsrates direkt zu wählen, was sonders negativ auf junge, gut qualifizierte jedoch angesichts des Mangels an Entschei- Hochschulabsolventen aus, für die es so gut dungsgewalt nicht wirklich als demokratischer wie keine Möglichkeiten gibt, ihr erlangtes Wandel im autoritären System Omans ge- Wissen in einem Beruf anzuwenden. Dies wertet werden kann. Sämtliche Mitglieder des kann besonders häufig bei Studiengängen zu Oberhauses, der Majlis ad-Dawla, werden technischen Berufen beobachtet werden. vom Sultan ernannt. Trotz allem bescheinigte Hierbei spielt die Vernachlässigung der In- das UNO-Entwicklungsprogramm dem Oman dustriezweige, welche nicht auf die Ölindus- in den bislang 40 Regierungsjahren des Sul- trie im weitesten Sinne bezogen sind, eine tans die weltweit größten Entwicklungs- ausschlaggebende Rolle. sprünge. Auch in Städten mit einer traditionell starken Die im Vergleich zur Herrschaft Sayyid Sa’ids Industrie konnte in den letzten Jahren ein An- positiven Veränderungen können jedoch nicht stieg der Arbeitslosigkeit beobachtet werden. über die zum Teil massiven Probleme des Städte wie das im Nordosten gelegene Suhar, Landes hinwegtäuschen: So wird unter ande- seit Jahrhunderten einer der wichtigsten rem die hohe Bestechlichkeit von Beamten Häfen Omans, wurden so zum Zentrum der beklagt. Die Vorwürfe gegenüber der omani- Proteste, welche im Zuge der flächendecken- schen Regierung wiegen schwer: Korruption den Aufstände des „Arabischen Frühlings“ im seitens der Regierung, namentlich Minister Nahen und Mittleren Osten ausbrachen. und Berater, wird nicht verfolgt. Vor allem wirft Genau wie in Tunesien, Ägypten, Libyen, man dem Sultan vor, sich in erster Linie für Bahrain oder Syrien waren es also auch im Projekte einzusetzen, welche seinen persön- Oman meist junge, mehr oder weniger gut lichen Interessen entgegenkommen. Der Bau ausgebildete Menschen, welche ihre berufli- einer knapp 2 Mrd. EUR teuren Oper im Zen- che Zukunft in ihrer Heimat gefährdet sehen trum von Maskat ist ein Beispiel von vielen, und enttäuscht von der Regierung ihres Lan- welches die Gemüter der omanischen Bevöl- des sind, welche sich viel zu oft viel zu wenig kerung erhitzte. Ebenso wirft man dem Sultan um die Belange des Volkes gekümmert vor, sich nur rudimentär mit der Lage des Lan- haben. Besonders fällt jedoch auf, dass es,

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im Gegensatz zu anderen Ländern des „Ara- arabischer Staaten gewarnt, versuchte Sultan bischen Frühlings”, im Oman keine organi- Qabus den Forderungen der Protestierenden sierten Proteste gegeben zu haben scheint. zunächst entgegenzuwirken, indem er wäh- Faktisch existierten keine Gruppen, Parteien, rend der ersten Tage der Proteste 200 politi- oder Interessenszusammenschlüsse, welche sche Häftlinge aus den Staatsgefängnissen die Proteste organisierten oder förderten. entließ.

III. Akteure des Wandels und konkrete IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- Auslöser lings“

So war es dann auch fast ausschließlich die Fast mutete es an, als hätte die Mehrheit erst Jugend Omans, welche ab dem 18. Februar einmal genau beobachtet, wie der Sultan auf 2011 durch die Straßen des Regierungsvier- die ersten Proteste regieren würde. Genau tels von Maskat zog, um ihrer Unzufriedenheit sieben Tage nach den ersten Protesten in der Ausdruck zu verleihen. Dabei handelt es sich Hauptstadt, und den damit verbundenen Ent- um jene 90% der Bevölkerung, welche die lassungen von politischen Häftlingen, kam es Zeit vor Sultan Qabus nur aus Erzählungen nun zu Kundgebungen und Versammlungen kennen, und somit nur eine vage Vorstellung überall im Land. Die Menschen hatten au- von den Veränderungen haben, welche seit genscheinlich das Gefühl, mehr erreichen zu der Zeit Sultan Sayyid Al Sa’id vorangetrieben können. Es schien nun auf einmal die Mög- wurden. Der Wille nach Mitbestimmung und lichkeit zu bestehen, etwas im Land bleibend Freiheit, nach Entfaltung und Bildung über- verändern zu können. Nach den zunächst wog wohl erstmals den großen Respekt vor verhaltenen, fast abwartenden Protesten gin- dem allgegenwärtigen Herrscher Qabus. gen nun in Suhar annähernd 2.000 Menschen Dennoch richteten sich die Proteste zunächst auf die Strasse, um für Reformen, mehr Mei- zu keinem Zeitpunkt gegen den Sultan per- nungsfreiheit, eine gerechtere Verteilung der sönlich oder seine Herrschaftslegitimation. An staatlichen Einnahmen aus Ölgeschäften, diesem ersten Tag schien es zunächst fast mehr Transparenz bei innerpolitischen Ent- eher eine Solidaritätsveranstaltung für jene scheidungen, sowie gegen korrupte Regie- Länder des „Arabischen Frühlings” zu wer- rungsbeamte und Masseneinwanderung von den, welche in den Tagen und Wochen zuvor Wanderarbeitern, welche mit knapp 700.000 im Fokus der Öffentlichkeit standen. Zu vage Menschen einen vergleichsweise großen Teil waren die Forderungen der Demonstranten. der Bevölkerung ausmachen, zu demonstrie- ren. Allerdings konnten sich die Demonstranten schon am zweiten Tag der Demonstrationen Im Verlauf der sich nun ständig ausweitenden auf gemeinsame Forderungen einigen: Zu- Proteste kam es auch erstmalig zu Zu- nächst verlangten die Protestierenden die sammenstößen zwischen Demonstranten Schaffung neuer Arbeitsplätze und politische und der Polizei, in deren Verlauf die Polizei Veränderungen, mehr Partizipationsrechte versuchte, die mit Steinen werfenden De- und das Recht zu Parteigründungen. Doch monstranten mit Tränengas und Gummige- nach wie vor richteten sich die Proteste aus- schossen zurückzudrängen. Zunehmend drücklich nicht gegen den Sultan. Auffallend kristallisierte sich das nordöstlich gelegene war zudem, dass die Proteste dieser ersten Suhar als Protesthochburg heraus. Die ca. Tage ausschließlich in der Hauptstadt Maskat 250 Kilometer von Maskat entfernte und somit stattfanden. Diese Tatsache sollte sich im wei- unmittelbar an der Meerenge zu Iran gele- teren Verlauf der Demonstrationen jedoch gene Stadt beherbergte den einst bedeu- grundlegend ändern. tendsten Hafen Omans und galt von jeher als einer der wichtigsten Handelsplätze der ara- Nach den ersten Tagen der friedlichen Pro- bischen Welt. Durch den stetigen Stellenab- teste nahmen die Demonstrationszüge ab. bau, die geringe Arbeitslosenhilfe und den Immer weniger Menschen beteiligten sich an ständigen Zustrom von ausländischen Gast- den jetzt nur noch vereinzelt auftretenden arbeitern stiegen die Arbeitslosenzahlen auf Kundgebungen. So waren es in der Haupt- mehr als 20% und damit auf einen deutlich stadt Maskat nur noch knapp 300 Demon- höheren Wert als im gesamtomanischen stranten, welche sich gegen das System Durchschnitt. Im Rahmen der Proteste kam erhoben. Durch die Entwicklungen anderer es zu mehreren Angriffen auf Polizeistationen

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und Regierungsgebäude. Die Zahl der Ver- weise Umwälzung der, zurzeit zu mehr als letzten und Toten schwankt stark zwischen 75% aus Ölgeschäften bestehenden, Ge- den offiziellen Angaben und den Angaben sei- samtwirtschaft vorsieht. Laut Studien ist, trotz tens der Demonstranten. Insgesamt sind in intensivierter Förderung, der Abbau von Erdöl Oman während der Proteste des „Arabischen im Oman nur noch für weitere 18 Jahre mög- Frühlings” wohl knapp mehr als zehn Men- lich. Viel wahrscheinlicher ist ein aus wirt- schen ums Leben gekommen. schaftlicher Sicht gesehen notwendiger Förderungsstopp einige Jahre früher. Die Re- V. Bisherige Reaktion staatlicher und ge- duzierung der Erdölförderung führte somit sellschaftlicher Akteure schon in den letzten Jahren zu massivem Stellenabbau in der so wichtigen Ölindustrie. Die Proteste im Oman kamen für viele über- Einer der dringendsten Schritte wäre somit raschend. Besonders die Staaten des Golf- konsequenterweise eine Diversifizierung der Kooperationsrates schienen durch die omanischen Wirtschaft, welche während der Entwicklungen in den Gesellschaften ihrer letzten Jahre weitgehend vernachlässigt Bündnispartner zunehmend beunruhigt. Im wurde. Vergleich zu anderen arabischen Staaten, in denen die Menschen nicht nur rechtlos, son- Der Plan sieht ebenso die Bereitstellung von dern meist auch mittellos sind, schienen die rund 55 Mrd. EUR für umfassende Reformen Golfstaaten eine Insel der relativen Freiheit in der Arbeits- und Bildungspolitik sowie der und des wirtschaftlichen Wohlstandes zu sein. omanischen Wirtschaft vor. Ebenso rechnet Die Herrscher schienen sich der Unterstüt- der Plan mit einem Wachstum des Bruttoso- zung und des Vertrauens ihrer Untertanen si- zialprodukts um durchschnittlich 5% innerhalb cher. Nun deutete sich an, dass genau diese der nächsten fünf Jahre. Im Zuge der landes- Sicherheit ins Wanken geraten könnte. Die weiten Proteste und Ausschreitungen wurden Proteste in Bahrain waren kurz davor zu es- diese Planungen und das bereitgestellte Bud- kalieren, und im Oman forderten Demon- get noch einmal aufgebessert. Nach den stranten erstmals nach dem Tod einiger schnellen Reformangeboten, welche von Sul- Protestler die Absetzung des Sultans. Somit tan Qabus unmittelbar mit dem Aufkommen wollten die Herrscherfamilien aus Saudi-Ara- der ersten Demonstrationen bereitgestellt bien und den Vereinigten Arabischen Emira- wurden, kamen nach und nach weitere Zuge- ten ein Überschwappen der Proteste um ständnisse der Regierung hinzu. Zunächst jeden Preis verhindern. Eine undenkbare Si- wurden alle Gehälter des öffentlichen Dien- tuation – Revolutionen in den Golfstaaten – stes um 190 EUR angehoben. Anschließend schien, nach nun auch zaghaft aufkommen- erhöhte die Regierung die Pensionen um bis den Demonstrationen in Saudi-Arabien, auf zu 50%. einmal denkbar. Im Golf-Kooperationsrat kam so der Entschluss auf, dem Oman sowie Bah- Einer der massivsten Forderungen der De- rain mit einem Hilfspaket von 20 Mrd. USD die monstranten war die Bekämpfung der Kor- Möglichkeit zu geben, auf politischer Ebene ruption in Verbindung mit einem sanften und langfristig gegen die Aufstände vorzuge- Demokratisierungsprozess. Bei Kundgebun- hen. gen wurden von Seiten der Demonstranten detaillierte und transparente Untersuchungen Erste kleinere Reformen, welche wohl als Zu- gefordert, welche das Ausmaß der Korruption geständnisse an die Demonstranten verstan- im Oman an die Öffentlichkeit bringen sollten. den werden können, verabschiedete Sultan Sultan Qabus entließ hierauf insgesamt zwölf Qabus bin Sa’id unmittelbar nach der ersten Minister, welche der Korruption beschuldigt Welle der Proteste. Zu diesen Reformen ge- wurden. hörte das Versprechen, rund 180 Mio. EUR für Stipendien zur Verfügung zu stellen, mit VI. Zukunftsszenarien denen der Sultan bis zu 1.000 Studenten eine akademische Ausbildung ermöglichen will. Umfassende Reformen werden jedoch in den Ebenso kam es zur Gründung eines Konsu- nächsten Jahren vermutlich weiterhin aus- mentenverbandes und der Senkung der Le- bleiben. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der bensmittelpreise. Schon im Januar 2011 Sultan seine bisher gemachten Versprechen wurde seitens der omanischen Regierung ein auf innerpolitische Veränderungen wirklich Fünfjahresplan erlassen, welcher die stufen- einlöst. Weiterhin gilt es, die Verlagerung der

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Wirtschaft von einem fast reinen Ölproduzen- welche Seminare für Frauen ebenso wie ten zu einer vielschichtigen Volkswirtschaft Schulungen im Bereich Medien in Verbindung mit gleichmäßig verteilten Wirtschaftsschwer- mit Menschenrechten anbietet. Weiterhin wird punkten anzutreiben. Nur so können ge- die Notwendigkeit bestehen, gegen Korrup- steckte Ziele erreicht werden. Dazu zählt vor tion unter Beamten und Minister vorzugehen. allem die Reform des Arbeitsmarktes, welche Zwar rangiert der Oman im internationalen die Schaffung von 50.000 Arbeitsplätzen zur Korruptionsvergleich auf Rang 41, und damit Folge haben soll. weitaus besser platziert als z. B. Jemen mit Rang 146. Die Dunkelziffer der nicht erfassten Trotz der ihm vorgeworfenen Verfehlungen Korruptionsfälle dürfte im Oman jedoch wahr- und seines autoritären Herrschaftsstils steht scheinlich weitaus höher liegen. Der Weg in der Sultan bisher nicht im Fokus der Proteste. eine veränderte Zukunft Omans könnte somit Der Grossteil der omanischen Bürger sieht steinig werden. Jedoch bietet Oman prinzipiell Sultan Qabus aufgrund der enormen Fort- einige der besten Vorraussetzungen aller vom schritte unter seiner Regentschaft nach wie „Arabischen Frühling“ betroffenen Staaten, je- vor als legitimen politischen Herrscher. Aller- doch gilt es diese mit viel Engagement und In- dings bleibt abzuwarten, inwieweit sich dieser vestitionen in die Tat umzusetzen. Ein Blickwinkel bei einem möglichen Bruch der besonderes Augenmerk wird hierbei auf jenen Versprechen ändern würde. Eines scheint zu- vernachlässigten Industriestädten im Nordos- mindest deutlich zu werden: Der „Arabische ten des Landes liegen, welche schon bei Be- Frühling“ hat bei vielen jungen Menschen ginn der Proteste eine maßgebliche Rolle Interesse an politischer Partizipation geweckt. spielten. Unlängst wurde in Omans Hauptstadt die erste Nichtregierungsorganisation gegründet, Ivo Lisitzki

VII. Literaturangaben

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VALERI, MARC: OMAN: Politics and Society in the Qaboos State, London 2009.

WILKINSON, JOHN CRAVEN: Ibadism: Origins and early development in Oman, Oxford 2010.

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Landesdaten Kuwait Fläche1 2011 17.818 km² Bevölkerung2 2010 3.100.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 160.66 Araber 80%, Südasiaten 9%, Iraner 4%, Ethnische Gruppen4 2010 andere 7% Muslime 85%, (Sunniten 70%, Schiiten 30%), Religionszugehörigkeit5 2010 andere (Christen, Hindus u.a.) 15% Durchschnittsalter6 2010 28,5 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 26% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3% Lebenserwartung9 2010 77,09 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 5.200.000 Geburten pro Frau11 2009 2,2 Alphabetisierungsrate12 2010 93,3% Mobiltelefone13 2009 3.876.000 Nutzer Internet14 2009 1.100.000 Nutzer Facebook15 2011 822.640 Wachstum BIP (Prognose)16 2011 5,3% BIP pro Kopf 17 2010 50.284 USD Arbeitslosigkeit18 2010 1,6% Inflation19 2011 6,1% S&P-Rating20 2011 AA Human Development Index21 2010 Rang 47 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 27 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 52,2 % (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 31,3% Korruptionsindex25 2010 Rang 54 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp 249. 3 http://www.tradingeconomics.com/kuwait/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html . 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 Germany Trade and Invest, Wirtschaftsdaten kompakt: Kuwait, Mai 2011, http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_8476.pdf?show=true. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf. 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

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Kuwait ments ernennt der Emir seinen Thronfolger. Die Verfassung von Kuwait gibt an, dass die Thronfolge denjenigen Mitgliedern der Al ie direkten Auswirkungen des „Ara- Sabah vorbehalten ist, die Nachkommen von bischen Frühlings“ auf Kuwait sind Scheich Mubarak dem Großen (reg. 1896- Dbislang gering, da sich die Unzu- 1915) sind. Traditionell aber ist die Thronfolge friedenheit und Perspektivlosigkeit der auf die Nachkommen der Mubarak-Söhne einheimischen Bevölkerung, wie sie in an- Jaber und Salem beschränkt und es wird zwi- deren arabischen Ländern existiert, auf schen den beiden Linien gewechselt. Durch eher niedrigem Niveau bewegt und der so- die Ernennung des derzeitigen Emirs, ziale Druck aufgrund des verhältnismäßig Scheich Al Sabah, unterbrach die Familie eine hohen Lebensstandards kaum nachhaltige lange Tradition der wechselnden Macht zwi- Proteste herausfordert. Dennoch kam es schen den beiden großen Flügeln. auch in Kuwait zu Demonstrationen, vor allem von den staatenlosen, in Kuwait le- Laut der kuwaitischen Verfassung beruht das benden Arabern, die für die kuwaitische Regierungssystem Kuwaits auf der Gewal- Staatsbürgerschaft protestierten. Zum an- tenteilung. Die exekutive Gewalt hat sowohl deren demonstrierten interne Kräfte, die der Emir, als auch die von ihm ernannten Mi- parlamentarische Opposition zusammen nister einschließlich des Premierministers mit mobilisierten kuwaitischen Jugendbe- inne. Meist ist das Amt des Premierministers wegungen, die sich gegen den derzeit am- so wie die wichtigsten Ministerien mit Ange- tierenden Premierminister richten und mit hörigen der herrschenden Familie Sabah be- Forderungen nach mehr politischer Frei- setzt. Die legislative Gewalt liegt bei der heit einher gehen. Die Demonstrationen in Nationalversammlung. Der Emir wirkt durch Kuwait lassen sich daher in zwei unter- sein Initiativ- und suspensives Vetorecht schiedliche, voneinander getrennt zu be- dabei unmittelbar mit. Weiterhin besitzt der trachtende Bewegungen einteilen, welche Emir das Vorrecht, die Nationalversammlung jedoch nicht den Emir Al Sabah in Frage aufzulösen, von welchem die Herrscher Ku- stellen, sondern vielmehr eine Transfor- waits in der Vergangenheit schon häufiger mation innerhalb des politischen Systems Gebrauch gemacht haben, so zuletzt 1999, fordern. Kuwait kann daher auch in ab- 2006, 2008 und im März 2009. sehbarer Zukunft als politisch stabil ein- geschätzt werden. Das kuwaitische Parlament, die Nationalver- sammlung (arabisch: Majlis al-umma), ist das I. Politisches System und gesellschaftli- älteste seiner Art in der Region und wurde che Entwicklungen nach der Unabhängigkeit Kuwaits im Jahre 1961 eingerichtet. Es handelt sich hierbei um Der Staat Kuwait liegt im nordwestlichen Küs- ein Einkammerparlament, das auf vier Jahre tenbereich des persisch-arabischen Golfs und gewählt wird. Die Nationalversammlung be- grenzt südlich an das Königreich Saudi-Ara- steht aus 50 Mitgliedern und maximal 16 Re- bien und nördlich an die Republik Irak. Mit gierungsmitgliedern, die ex officio Mitglieder einer Fläche von rund 17.818 km2 ist es ver- des Parlaments sind. Bei der Ernennung der gleichbar mit Rheinland-Pfalz. Die Bevölke- Regierung wirkt die Nationalversammlung rung Kuwaits belief sich 2010 auf ca. 3,1 Mio. nicht mit. Sie kann aber Minister zu Befra- Davon sind nur ca. 1 Mio. gebürtige Kuwaitis, gungen vorladen und unter Umständen durch ca. 2,1 Mio. sind Ausländer, meist aus ande- ein Misstrauensvotum ihren Rücktritt durch- ren arabischen Ländern, dem indischen Sub- setzen. Ein Misstrauensvotum gegen den kontinent und den Philippinen. Premierminister ist hingegen nicht möglich. Allenfalls kann das Parlament beschließen, Kuwait ist ein Fürstentum (Emirat), dessen dass es nicht mehr mit dem Premierminister Regierungsform eine Monarchie mit parla- zusammenarbeiten kann. Der Emir kann dar- mentarischer Beteiligung ist. Die Emir-Würde aufhin entweder den Premierminister entlas- ist in der Familie Sabah erblich, die seit etwa sen und ein neues Kabinett ernennen oder 250 Jahren das Land regiert. Das Staats- das Parlament auflösen. Das kuwaitische oberhaupt ist seit dem 24. Januar 2006 der Parlament hat so in der Vergangenheit Minis- Emir von Kuwait Scheich Sabah al-Ahmed al- ter zum Rücktritt gezwungen und Erlasse des Jaber Al Sabah. Unter Mitwirkung des Parla- Emirs mehrfach für ungültig erklärt. Ein inter-

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essantes Beispiel ist hierbei die Einführung durch die gute finanzielle Situation der Bürger des Frauenwahlrechts, welches verdeutlicht, eher gering bleibt. So generierte Kuwait 2009 dass mehr politische Partizipation nicht ein BIP von 109,5 Mrd. USD, welches nach zwangsläufig zu den von westlicher Seite ge- Schätzungen bis 2011 auf 172,8 Mrd. USD wünschten Ergebnissen führt. Das Parlament steigen soll. Kuwait verfügt über die fünft- hat zwar keine Gestaltungsmacht. Außerdem größten Ölressourcen weltweit und generiert kann es grundsätzlich rein „negativ” agieren. über 90% seiner Staatseinnahmen aus dem Doch das Befragungsrecht hat sich als ein Ölgeschäft. Das Wirtschaftswachstum soll wichtiges Gestaltungsinstrument des Parla- 2011 bei über 5% liegen. Von diesem wirt- ments entwickelt. schaftlichen Boom profitiert auch die Bevöl- kerung: So stieg das BIP pro Kopf von knapp Politische Parteien sind in Kuwait verboten. 31.000 USD im Jahr 2009 auf über 50.000 So werden Abgeordnete ausschließlich ad USD im Jahr 2010. Ebenso sichern traditio- personam gewählt. Sie können jedoch teil- nelle Strukturen innerhalb der Gesellschaft weise parteiähnlichen Gruppierungen zuge- die Position des Herrschers. Allgemein ordnet werden, die etwa die Hälfte der herrscht in der Bevölkerung eine große Ak- gewählten Abgeordneten stellen. So können zeptanz der Herrscherfamilie. Dennoch wird die Abgeordneten grob in folgende lose politi- die Vorherrschaft der Al Sabah in der Regie- sche Blöcken eingeteilt werden: Islamisten rung zunehmend kritisch betrachtet. Die verschiedener Gruppierungen (Salafisten und immer währende Auseinandersetzung mit Muslimbrüder), Schiiten, Liberale verschiede- dem Parlament und der Regierung führt ver- ner Gruppierungen und dem so genannten stärkt zu politischen Krisen und Stagnation. „Volksblock“ (arabisch: al-takattal al-scha’bi), Daher besteht die wesentliche Herausforde- der soziale und populäre Themen vertritt. rung darin, nicht nur wirtschaftliches Wachs- Neben diesen Gruppierungen gibt es unab- tum, sondern auch politische Stabilität zu hängige Kandidaten und Stammesvertreter, sichern. die keine einheitliche Gruppe bilden und sich von Fall zu Fall unterschiedlichen Gruppie- Obwohl die offizielle Arbeitslosenquote seit rungen anschließen. Bei den Wahlen 2009 2009 unverändert mit 1,6% angegeben wird, wurden erstmals vier Frauen, die seit 2005 gibt es eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit. das aktive und passive Wahlrecht haben, in Der Grund dafür liegt in der erheblichen Über- das Parlament gewählt. Der kuwaitische Par- beschäftigung der Staatsbürger im öffent- lamentarismus besitzt weder klare Regie- lichen Sektor. So sind über 90% aller rungsparteien noch eine feste Opposition. kuwaitischen Arbeitskräfte im öffentlichen Doch obwohl keine politischen Parteien zur Sektor beschäftigt. Für die kuwaitischen Wahl stehen, ist zu beachten, dass in einem Staatsangehörigen gibt es eine Beschäfti- kleinen Land wie Kuwait die Wähler die politi- gungsgarantie. Obwohl die Beschäftigung in schen Positionen der Kandidaten in der Regel verschiedenen Wirtschaftszweigen, wie der kennen und dadurch zum Teil die fehlende Erdöl- und Erdgasindustrie und dem Dienst- Parteienlandschaft ausgeglichen wird. Im Ver- leistungssektor gefördert wird, sind diese Ar- gleich zu den benachbarten Golfstaaten gilt beitsplätze überwiegend von ausländischen das kuwaitische Parlament als relativ offen für Arbeitern besetzt. Dies mag zum einen an der politische Diskussionen und zeugt von einer inadäquaten Ausbildung einheimischer Ar- verhältnismäßig liberalen und pluralistischen beitskräfte und den damit verbundenen politischen Debatte innerhalb des bestehen- Schwierigkeiten liegen, sich in der internatio- den Systems. nalen Konkurrenz der Privatwirtschaft zu be- weisen. Zum anderen weckt der allgemeine II. Voraussetzungen für den Willen nach Wohlstand hohe Einkommenserwartungen Wandel bei den Bewerbern. Daher besteht wenig Be- reitschaft, für die meist geringeren Löhne im Bei dem Staat Kuwait handelt es sich um eine Privatsektor zu arbeiten und die Beschäfti- vergleichsweise kleine Volkswirtschaft. Durch gung im öffentlichen Sektor wird vorgezogen. hohe Gehälter und Wohlfahrtsleistungen lässt Kuwait hat deshalb die Notwendigkeit er- das Land seine Bürger an seinem enormen kannt, diese Überkapazitäten im öffentlichen Reichtum teilhaben und sichert sich damit Sektor zu reduzieren und den Privatsektor Loyalität und vor allem Ruhe, so dass die all- durch eine „Kuwaitisierungspolitik“ zu stärken. gemeine sozioökonomische Unzufriedenheit Die einheimische Bevölkerung Kuwaits stellt

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mit etwa 1 Mio. die Minderheit im eigenen bürgerschaft später haben würde. So hatten Land. Neben ausländischen Arbeitskräften die Bedoun in den 1960er und 1970er Jahren leben eine hohe Anzahl staatenloser Araber den gleichen Zugang zum Sozialwesen und in Kuwait, die zunehmend mehr Rechte ein- öffentlichen Dienstleistungen wie kuwaitische fordern. Diese staatenlosen Araber, teils lang- Staatsangehörige. Dies änderte sich jedoch jährige Einwohner Kuwaits, werden im mit der politischen Instabilität in den 1980er Arabischen als Bedoun bezeichnet, was frei Jahren, in der das Land eine Reihe von An- übersetzt „ohne (Nationalität)“ bedeutet. Nach schlägen erfuhr, für die die Bedoun teilweise dem neuesten Report von Human Rights verantwortlich gemacht wurden. Als Folge än- Watch vom Juni 2011 gibt es ca. 106.000 derte die Regierung ihre Position gegenüber staatenlose Bedoun in Kuwait, die die kuwai- den Bedoun Mitte der 1980er Jahren und ver- tische Staatsbürgerschaft fordern. Kuwait be- wehrt ihnen seither den Zugang zu öffent- trachtet die Bedoun als „illegale Bewohner“. lichen Schulen, freiem Gesundheitswesen Die Regierung verweigert die Ausstellung und bestimmten Stellen im öffentlichen wichtiger Dokumente wie Geburts-, Heirats-, Dienst. Die Regierung erklärte nun, dass die und Todesurkunden sowie freien Zugang zu Mehrheit der Bedoun Staatsangehörige be- öffentlichen Schulen und Möglichkeiten zur le- nachbarter Staaten seien, die absichtlich galen Erwerbstätigkeit. Ohne diese Doku- Nachweise über ihre Herkunftsländer ver- mente können die Bedoun keine nichtet haben sollen, um die Vorteile einer ku- regelmäßigen Sozialleistungen erhalten. waitischen Staatsangehörigkeit nutzen zu Ebenso können Bedoun keine Grundstücke können. Gleichzeitig verweigert sie jedoch in- und Erwerbserlaubnisse besitzen. Mit dem dividualisierte Nachprüfungen der einzelnen Status als Bedoun ist es somit nicht möglich, Forderungen. Besonders nach der irakischen ein vollwertig akzeptiertes, rechtlich aner- Invasion von 1991 befanden sich die Bedoun kanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein. mit zunehmenden Schwierigkeiten konfron- tiert, da sie teilweise einem Generalverdacht III. Akteure des Wandels und konkrete ausgesetzt wurden, „irakische Eindringlinge“ Auslöser zu sein, woraufhin viele ihre Stellen bei der Armee und Polizei verloren. Die Proteste in Kuwait lassen sich in zwei unterschiedliche, voneinander getrennt zu be- Hunderte von staatenlosen Arabern protes- trachtende Bewegungen einteilen. Zum einen tierten im Februar und März 2011 in zwei Ge- die Proteste der staatenlosen, in Kuwait le- bieten für mehr Bürgerrechte außerhalb von benden Araber, die für die Erlangung der ku- Kuwait Stadt. Sie wurden von Sicherheits- waitischen Staatsbürgerschaft protestiert kräften mit Tränengas beschossen. Das Par- haben und zum anderen Proteste kuwaiti- lament diskutierte einen Gesetzesentwurf, der scher Staatsbürger, die sich gegen den der- den Bedoun gewisse Rechte zubilligen sollte, zeit amtierenden Premierminister richten und und es schien so, als ob die Regierung den mit Forderungen nach mehr politischer Frei- Bedoun entgegenkommen würde. Der Ent- heit einhergehen. wurf enthielt die Erteilung von Personalaus- weisen für die Bedoun, welche ihnen erlauben Die Protestbewegung der Bedoun in Kuwait würden, Geburtsurkunden und weitere wich- begann im Februar und März 2011. Inspiriert tige benötigte Dokumente zu erhalten. Die durch die Proteste in anderen arabischen Regierung verwarf den Gesetzesentwurf je- Ländern sind die Proteste der Bedoun vor doch. einem besonderen historischen Hintergrund zu verstehen. Staatenlose Bedoun leben seit Unabhängig von dieser Entscheidung wurde der Unabhängigkeit 1961 in Kuwait. Während in Kuwaits Hauptstadt demonstriert. Bisweilen der ursprünglichen Registrierungsphase für richten sich die Proteste nicht direkt gegen die Staatsangehörigkeit versäumte ein Teil den seit 2006 regierenden Emir Kuwaits der Bewohner, das vollständige Bewerbungs- Scheich Al Sabah. Vielmehr gilt das Miss- verfahren durchzuführen. Die meisten von trauen dessen Neffen, Sheikh Nasser al-Mo- ihnen wohnten in den Außenbezirken von Ku- hammed al-Ahmed al-Jaber Al Sabah, dem wait Stadt. Dabei handelte es vor allem um Premierminister des Landes. Er wurde am 7. die nomadischen Beduinenstämme. Einige Februar 2006 ins Amt berufen und damit be- von ihnen waren Analphabeten oder verstan- traut, die 22. Regierung Kuwaits zu formieren. den die Tragweite nicht, welche die Staats- Seither wurde die Regierung sieben Mal neu

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gebildet, zuletzt im Mai 2011. Erst im Januar Kuwaitis, unter anderem die Jugendbewe- dieses Jahres wurde der gegen Sheikh Nas- gungen Kafi (arabisch für: „Genug“) und Al- ser Al Sabah gerichtete Antrag zur Versagung Soor Al-Khames (arabisch für: „der fünfte der Zusammenarbeit mit knapper Mehrheit Zaun“). Die Demonstrationen waren nicht of- abgelehnt. Es war bereits der zweite dieser fiziell genehmigt worden und damit im Prinzip Art innerhalb von 13 Monaten. illegal. Auch diese Proteste richteten sich nicht gegen den Emir selbst, sondern waren Scheich Nasser sieht sich seit seinem Amts- mit Forderungen nach der Absetzung des antritt im Jahr 2006 mit Widerstand im Parla- Premierministers verbunden. Teilweise wird ment konfrontiert. Aber die Spannung scheint auch verlangt, dass das Amt des Premiermi- zu steigen, seitdem Abgeordnete und Aktivis- nisters nicht mehr von Mitgliedern der Herr- ten der Opposition auf die Straße gehen. scherfamilie Al Sabah besetzt werden solle. Schon im Dezember 2010 plante die kuwaiti- sche Opposition, den Ministerpräsidenten im IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh- Parlament zu befragen. Grund war ein hefti- lings“ ger Zusammenstoß zwischen Sicherheits- kräften und Anhängern der Opposition am 8. Die direkten Auswirkungen des „Arabischen Dezember 2010, bei dem mehrere Parlamen- Frühlings“ auf Kuwait sind bislang gering, da tarier verletzt wurden. Die Opposition im Par- sich die Unzufriedenheit und Perspektivlosig- lament vertrat die Haltung, dass der keit der einheimischen Bevölkerung, wie sie Premierminister die Verantwortung für die in anderen arabischen Ländern existiert, auf Handlungen der Polizei trage. Nach Aussa- eher niedrigem Niveau bewegt und der sozi- gen der Regierung war die öffentliche Kund- ale Druck aufgrund des verhältnismäßig gebung nicht genehmigt worden. Als weitere hohen Lebensstandards kaum nachhaltige Konsequenz wurde das Büro des Fernseh- Proteste herausfordert. Durch die starke Ali- senders al-Jazeera in Kuwait von den Behör- mentierung der einheimischen Bevölkerung den geschlossen, nachdem sie über den sichert sich Kuwait innerpolitische Stabilität Polizeieinsatz berichtet hatten. und eine gewisse Loyalität zum Herrscher- haus. Das Regime als solches ist nicht be- Die Protestanten werfen der Regierung vor, droht, man ist jedoch auch hier darauf den Status der Verfassung zu unterdrücken bedacht, jegliche politische Unruhen im Land und ihren Forderungen nach Freiheit und De- zu vermeiden. Allerdings zeigen sich die mokratie nicht nachzukommen. Die Verfas- innergesellschaftlichen Verwerfungen anhand sung von 1962 müsse modifiziert werden. der zunehmenden Demonstrationen der letz- Weiterhin wird dem Premierminister Missma- ten Monate, wobei eine indirekte Inspiration nagement, Verletzung der Verfassung und der der Protestierenden durch die Transforma- Missbrauch öffentlicher Geldern ebenso vor- tionsprozesse in anderen arabischen Staaten geworfen wie seine Iran-freundliche Politik, nicht negiert werden sollte. Die Proteste die nach Meinung einiger Oppositioneller gegen den Premierminister gehen mit einer gegen das nationale Interesse Kuwaits ver- Reihe von Protesten gegen die Regierung stoße. einher, was auch die seit längerem ange- spannte Situation zwischen Regierung und Bei den Protesten im Februar und März 2011 Parlament verdeutlicht. So ist seit Beginn des forderten mehr als tausend Demonstranten „Arabischen Frühlings” ein verstärkter politi- politische Reformen und den Rücktritt des scher Aktivismus aus der Mitte der Gesell- Premierministers. Die zunächst geplante Be- schaft zu beobachten. Die kuwaitische setzung eines zentralen Platzes in Kuwait Bevölkerung, die gegenüber seinen Nachbar- wurde von Polizisten verhindert und so ver- ländern deutlich mehr politische Rechte be- sammelten sich die Demonstranten vor dem sitzt, begibt sich verstärkt auf die Straßen, um Bürogebäude des Premierministers, in dem ihre Forderungen kundzutun. auch Emir Scheich Al Sabah residiert. Die Kundgebungen vor dem Bürogebäude wur- V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure den von den Sicherheitskräften streng be- wacht. Es gab jedoch keinerlei Berichte über Die Regierung Kuwaits trat im März ge- die gewaltsame Auseinandersetzung zwi- schlossen zurück. Dies ist jedoch weniger als schen Demonstranten und Polizei. Die Orga- eine Folge der Proteste zu werten. Vielmehr nisatoren der Proteste waren meist junge verhinderte die Regierung dadurch Befragun-

Deutsches Orient-Institut 191 Kuwait

gen von Mitgliedern der Regierung, die der welches alle offiziellen Angelegenheiten in Familie des Emirs angehören. Der gerade zu- Bezug auf die Bedoun genehmigen muss. Im rückgetretene Premierminister, Scheich Nas- Optimalfall sollte die kuwaitische Regierung ser Mohammed Al Sabah, wurde erneut mit einen zeitnahen und transparenten Mecha- der Bildung einer neuen Regierung beauf- nismus schaffen, der die Forderung einer tragt. Somit wurde den Forderungen der Pro- Staatsbürgerschaft der Bedoun unter interna- teste nicht nachgegangen, da nach wie vor tionalen Menschenrechtsstandards überprüft. Premierminister Scheich Nasser Al Sabah re- Dieser Prozess sollte die langjährigen histori- giert. Auch in der neuen Regierung sind die schen Verbindungen der Bedoun nach Kuwait wichtigsten Ministerien von Mitgliedern der Al berücksichtigen und eine Chance für die ge- Sabah besetzt und bereits zurückgetretene richtliche Überprüfung einbeziehen. Minister wurden teilweise wieder in ihre vor- herigen Positionen eingesetzt. Mit den enormen finanziellen Mitteln, die der Regierung Kuwaits zur Verfügung stehen, Ebenso wie andere ressourcenreiche Golf- wird diese sich auch in Zukunft die Gunst der monarchien versucht auch Kuwait, die Forde- Bevölkerungsmehrheit sichern können. Den- rungen seiner Bevölkerung nach politischem noch ist zu beachten, dass sich Kuwait in Wandel durch bewährte Allokationsmecha- einem lang andauernden politischen Kampf nismen zu reduzieren. So hatte der Emir zwischen der Regierung, die von der herr- Scheich Al Sabah im Januar dieses Jahres schenden Al Sabah beherrscht wird, und dem jedem Staatsangehörigen des Landes Ein- Parlament, das dieses anfechtet, befindet. malzahlungen in Höhe von 1.000 Kuwaiti- Dies ist ungewöhnlich in einer Region, die schen Dinar (etwa 2.540 EUR) sowie weitgehend von mächtigen Herrscherfamilien Essensmarken für ein Jahr zugesichert. Zu- kontrolliert wird und zeugt von einer relativ of- sätzlich dazu genehmigte die kuwaitische Na- fenen und pluralistischen politischen Debatte tionalversammlung ein Budget von 70 Mrd. innerhalb der kuwaitischen Eliten sowie einer USD, von denen 90% zur Subventionierung Tradition des politischen Diskurses und der von Treibstoff und Gehaltssteigerungen für Diskussion – eine Situation, in der sich Kuwait Beschäftigte im öffentlichen Sektor genutzt gravierend von anderen Golfmonarchien werden sollen. Den Bedoun wurden Dienst- unterscheidet, obwohl längst nicht alle gesell- leistungen versprochen. Diese umfassen schaftlichen Akteure diese Debatte führen unter anderem kostenlose Bildung an öffent- dürfen, da sie einem elitären Zirkel vorenthal- lichen Schulen und freie medizinische Ver- ten bleibt. Wenn jedoch die Regierung und sorgung. Ein entsprechender das Parlament nicht beginnen, miteinander zu Gesetzesentwurf wurde bis dato jedoch noch kooperieren, läuft Kuwait Gefahr, in eine tie- nicht verabschiedet. fere politische Krise und eine Phase des ent- wicklungspolitischen Stillstands zu geraten. VI. Zukunftsszenarien Im Umgang mit einem durchaus kritischen Parlament befindet sich der Emir zunehmend Der arabische Golfstaat scheint seinen "Ara- in einer schwierigen Lage, weil das Auflösen bischen Frühling" vermieden zu haben. Doch – wie es die kuwaitischen Herrscher schon auch hier bröckelt die jahrelange Stabilität des mehrfach getan haben – nicht auf Dauer funk- politischen Systems, Forderungen nach mehr tionieren und auch nicht zu einer politischen Partizipation, mehr Mitbestimmungsrechten, Stabilisierung beitragen wird. Auch haben die sozialer Gerechtigkeit und Transparenz inner- zahlreichen Rücktritte oder Umbesetzungen halb des politischen Systems wurden laut und der Regierung, die durch Befragung und führten zu Demonstrationen. Vor allem die Misstrauensanträge ausgelöst wurden, Ver- marginalisierte soziale Stellung der Bedoun zögerungen von Wirtschaftsreformen zur führte zu Protesten. Die Bedoun, mit ihrem Folge. Der Emir selbst und das Herrscher- Status des „illegalen Bewohners“, sind mit haus Al Sabah werden allerdings dauerhaft mehreren Hindernissen konfrontiert, um zivile kaum mit Legitimitätsproblemen konfrontiert Dokumente zu erhalten. Dies erschwert ihnen werden. Dennoch wird der Emir gezwungen den Zugang zu sozialen Dienstleistungen und sein, Maßnahmen zu ergreifen, die langfris- die Anerkennung als vollwertige Mitglieder der tige Auswirkungen auf die Zukunft der kuwai- kuwaitischen Gesellschaft. Das neueste Ver- tischen demokratischen Entwicklung haben waltungsorgan ist das Central System to Re- können. Im besten Falle wird die Monopoli- solve Illegal Residents Affairs (CSRIRA), sierung der wichtigen Regierungsämter durch

192 Deutsches Orient-Institut Kuwait

Mitglieder der Herrschaftsfamilie aufgelockert. bewusst und es wird versucht, ihnen zu be- Diese haben neben politischem auch erhebli- gegnen. Mit einer Bevölkerung, die bereit ist, ches ökonomisches Interesse daran, aktiv politische Forderungen zu erheben, wird auch mitzuregieren. Durch eine Öffnung könnten die kuwaitische Führung ihr Schicksal nicht Forderungen nach einer Entwicklung hin zu dem Zufall überlassen. Es wird sich hierbei einer konstitutionellen Monarchie nach euro- aber um einen bedachten und graduellen päischem Modell nicht mehr effektiv blockiert Wandel handeln. werden. Der herrschenden Elite sind diese Probleme und Herausforderungen durchaus Alina Mambrey

VII. Literaturangaben

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Deutsches Orient-Institut 193 Türkei

Landesdaten Türkei Fläche1 2011 783.562 km² Bevölkerung2 2010 75.700.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 237 Türken 7075%, Kurden 18%, Ethnische Gruppen4 2010 andere Minderheiten 712%

Religionszugehörigkeit5 2010 99,8% Muslime, 0,2% Christen und Juden

Durchschnittsalter6 2010 28,5 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 26% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 7% Lebenserwartung9 2010 72,5 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 97.400.000 Geburten pro Frau11 2009 2,1 Alphabetisierungsrate12 2010 87,4% Mobiltelefone13 2009 62.780.000 Nutzer Internet14 2009 35.000.000 Nutzer Facebook15 2011 29.459.200 Wachstum BIP16 2010 8,9% BIP pro Kopf17 2010 13.359 USD Arbeitslosigkeit18 2010 12% Inflation19 2011 8,6% S&PRating20 2011 BB Human Development Index21 2010 Rang 83 (von 169) Bildungsniveau22 2010 Rang 83 (von 177) Bildungsniveau der Frauen 2010 27,1% (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 Politische Teilhabe24 2010 45,0% Korruptionsindex25 2010 Rang 56 (von 178)

1 CIA – The World Factbook. 2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 3 The World Bank, http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook. 7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249. 9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles. 10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of change, http://www.unfpa.org/swp. 11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN. 12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm. 16 The World Bank,GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf. 17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html. 18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm. 19 CIA – The World Factbook . 20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratingsactions/en/us. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection: Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/. 23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http:/www./info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp. 25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

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Türkei sucht die AKPRegierung jene ursprünglich „kemalistische“ Vision des Staatsgründers aum ein anderes Land wird 2011 im Atatürk zu verwirklichen, die Türkei in die Zuge der Umstürze und Verände Gemeinschaft der europäischen Staaten zu Krungsprozesse in den arabischen Län führen. dern so oft als Vorbild oder Modell genannt wie die Türkei.1 Die zwei Hauptgründe dafür Ferner beförderte die AKP durch eine liberale liegen auf der Hand: Geprägt sowohl von der Wirtschaftspolitik und eine expansionsorien islamischen Kultur wie auch von westlichen tierte Außenhandelsstrategie, die sich gezielt Einflüssen ist sie seit 1923 republikanisch ver an die Nachbarländer Russland, Iran, den Irak fasst mit Staatsorganen, welche die demo und Syrien, aber auch an die Länder des kratischen Menschen und Bürgerrechte Nahen und Mittleren Ostens, Asiens und Afri garantieren. Weiterhin ist die Türkei voll in die kas richtete, einen seit 2002 anhaltenden wirt internationale Gemeinschaft integriert und schaftlichen Boom und führte so das Land in wirkt wegen ihres historischen Erbes an der den Kreis der G20 und in die Gruppe der sie Schnittstelle zwischen Europa und dem ben größten Volkswirtschaften Europas. Nahen und Mittleren Osten als wichtige kultu Diese außenwirtschaftliche Expansion, wel relle Brücke und politische und wirtschaftliche che sich etwa in millionenschweren Investi Drehscheibe. tionen türkischer Firmen in den neuen Partnerländern oder in gegenseitigen Abkom Allerdings erhält die Türkei in der Debatte um men zur Visaerleichterung zeigte, wurde ihre Vorbildfunktion für die sich transformie außerdem flankiert und abgesichert durch renden arabischen Staaten eine besondere einen sukzessiven Wandel der türkischen Relevanz durch den Umstand, dass sie seit Außenpolitik, den die AKPRegierung vollzog. dem 3. November 2002 von der Partei für Ge Dabei wandte sie sich ab von einer reaktiven, rechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kal nach innen gerichteten und auf die eigene Si kınma Partisi, AKP) regiert wird, deren cherheit bedachten hin zu einer international historische und ideologische Wurzeln ins isla aktiven, Sicherheit und Stabilität „exportie mistische politische Lager2 zurückreichen. renden“ Außenpolitik, in deren Folge es zu be Dabei besteht die spezielle Brisanz darin, merkenswerten Verbesserungen in den dass jenes Lager, organisiert als Bruder Beziehungen etwa zu Griechenland, Russ schaft, Bewegung oder Partei, seit der Früh land und Armenien, aber auch zum Irak und zeit der Republik die von Atatürk festgelegte Syrien kam. Wegen dieses strategischen Po laizistische Ordnung mit der strikten Trennung litikwandels auf Grundlage der Logik Stabilität von Staat und Religion herausfordert. Umso generierender Interdependenz sah sich die erstaunlicher und vor dem Hintergrund der AKPRegierung 2011 auch veranlasst, sich in Transformationen in den arabischen Gesell die Entwicklungen in den arabischen Ländern schaften besonders bemerkenswert ist dabei, einzuschalten.3 So mahnten Ministerpräsident dass es gerade diese AKP ist, welche seit Recep Tayyıp Erdoğan und sein Außenminis ihrem Amtsantritt das türkische politische Sys ter Ahmet Davutoğlu früh aus Sorge vor lang tem umfassend und nach den Kopenhagener fristigen überregionalen Instabilitäten an, dass Kriterien der Europäischen Union (EU) refor die Umstürze in Tunesien und Ägypten nur miert. Das Ziel eines EUBeitritts im Blick, ver mit friedlichen Mitteln und mit Hilfe demokra

1 Vgl. bspw. Höhler, Gerd: Vorbild Türkei? Demokratie made by Erdogan, in: Frankfurter Rundschau vom 31. Januar 2011; Khalid, Hamad Ali: The Turkish model: Democratic normality, in: Today’s Zaman vom 12. Februar 2011; Martens, Michael: Der Leuchtturm für Alexandria, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Februar 2011; Perthes, Volker: Die Türkei könnte Vorbild und Vermittler sein, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2011. 2 Der hier verwendete Begriff „Islamismus“ übernimmt die Definition Gudrun Krämers, die diesen als ein „umfassendes gesellschaftliches Programm“ versteht, dessen „Anhänger den Islam zur primären, wenn nicht ausschließlichen Grundlage ihres Denkens und Handelns machen wollen“. Das Spektrum dieses Programms reicht von libertärer Toleranz bis völliger Ablehnung anderer Haltungen und Anschauungen und von dementsprechenden gewaltfreien bzw. gewaltbereiten Durchsetzungsstrategien. (Vgl. Krämer, Gottes Staat als Republik, 1999, S. 2932.) Der Begriff des „politischen Islam“ wird synonym verwendet, weist jedoch auf die Einbettung des islamischen Programms in die politische Systemordnung der jewei ligen Länder hin. „Postislamistisch“ schließlich deutet auch Entwicklungen des Programms und dessen Vertreter, die alten Überzeugungen im Zuge von Globalisierung und PostModerne neu zu interpretieren und für die gegenwärtigen Herausforderungen anwendbar zu machen. 3 Dabei stieß die Türkei auf einige „offene Ohren“, vgl. bspw. „Moussa sees Turkey's role important in so lution of regional problems“, in: Today’s Zaman vom 27. Januar; „Turkey must play active role in countries in turmoil, Ahtisaari said“, in: Hürriyet Daily News vom 25. Februar 2011; „Clinton eyes Turkey as model for Arab reform“, CNSNews vom 16. Juli 2011 (URL: www.cnsnews.com/news/article/clintoneyes turkeymodelarabreform).

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tischer Wahlen letztlich Erfolg versprechend vorliegenden Analyse gezeigt wird, erscheint sein könnten. In beiden Fällen hatte die Türkei es zwar rückblickend auf die historischen Tra den führenden tunesischen bzw. ägyptischen ditionen und die jüngsten politischen und ge Oppositionellen in Istanbul ein Forum gebo sellschaftlichen Entwicklungen mehr als ten, ihr jeweiliges weiteres Vorgehen fraglich, ob die Türkei allgemein bzw. die AKP abzustimmen und ihre Forderungen der im Speziellen als Modell und Vorbild für die Öffentlichkeit präsentieren zu können. Be sich transformierenden Staaten im Nahen und sondere Beachtung fand Erdoğan, als er als Mittleren Osten geeignet ist. Da es allerdings erster hochrangiger ausländischer Politiker zum Gegenstand der Debatten geworden ist den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak und es sich selbst auch aktiv in die Prozesse zum sofortigen Rücktritt aufforderte, während und Entwicklungen in der Region einschaltet, Außenminister Davutoğlu eine rege Besuchs ist das Land ein beachtenswerter Faktor, der diplomatie unternahm und sich konstant mit im Folgenden näher untersucht wird. Dabei seinen Amtskollegen in Europa und den USA sollen – abweichend vom Muster der anderen sowie den Ländern des Nahen und Mittleren Länderanalysen – zwei Leitfragen aufgestellt Ostens über die Entwicklungen und Interven werden, die in den Debatten um das Verhält tionsmöglichkeiten austauschte. Während der nis der Türkei zu den Transformationsländern sich verschärfenden Libyenkrise half die Tür in Nahen und Mittleren Osten häufig gestellt kei bei der Rettung tausender ausländischer wurden: Erstens, ist die Türkei tatsächlich ein Gastarbeiter aus dem Land. Zwar forderte die Modell für die sich wandelnden Staaten des Regierung trotz eskalierender Gewalt weitere Nahen und Mittleren Ostens? Und, zweitens, diplomatische Anstrengungen an Stelle eines kann die Regierungspartei AKP als ein Vor militärischen Eingreifens, doch dann folgte sie bild für die (post)islamistischen Reformak der UNResolution zum Schutz der libyschen teure in den Ländern des Wandels dienen? Bevölkerung und übernahm etwa die Siche rung der humanitären Hilfslieferungen nach I. Bietet sich die Türkei als Modell für den Benghazi. Besondere Sensibilität legte die Transformationsprozess der arabischen Türkei auch im Fall der Unruhen in Syrien an Länder im Nahen und Mittleren Osten an? den Tag. Als Nachbarland war sie wegen tau sender Flüchtlinge, die auf türkischer Seite Zwei offensichtliche Gemeinsamkeiten vereint Schutz vor Bashar alAssads Regime und der die Türkei mit den Ländern des Nahen und Unterdrückung des Aufstands durch die syri Mittleren Osten: Zum einen die kulturelle Prä sche Armee suchten, direkt in den Konflikt in gung durch den Islam als in den jeweiligen volviert. Da sich alAssad dauerhaft weigerte, Gesellschaften vorherrschende Religion4 und die diplomatischen Dialoginitiativen aus An zum anderen die historische Prägung durch kara anzunehmen sowie die internationalen das Osmanische Reich, dessen politischer Forderungen nach einem Ende der Gewalt Nachfolger die Türkei heute ist und das ab und der friedlichen Demokratisierung des dem 13. Jahrhundert für 600 Jahre die domi Systems zu berücksichtigen, fuhr die AKP nierende politische Entität des südlichen und Regierung die Beziehungen zu Damaskus zu östlichen Mittelmeeres war und diese Region nächst auf ein Mindestmaß herunter, wohl – ebenso wie den Balkan und die Schwarz wissend, dass die regionale Bedeutung Sy meerregion – politisch, wirtschaftlich und so riens überaus hoch und die strukturellen Inter ziokulturell formte. Weil das heutige Verhältnis dependenzen höchst komplex sind. zwischen Türken und Arabern eng mit der Ge schichte des Osmanischen Reiches verbun Wie auch immer sich die Länder der Region den ist, soll diese im Folgenden kurz in ihren im weiteren Verlauf des „Arabischen Früh wichtigsten Aspekten wiedergegeben werden. lings“ transformieren werden, bleibt festzu halten, dass die Türkei wegen ihres seit Höhepunkte der neuzeitlichen politischen Ge Jahrzehnten bestehenden partnerschaftlichen schichte des Reiches waren 1453 die Erobe Verhältnisses zum Westen sowie jener neuen rung Konstantinopels durch Sultan Mehmet Rolle des Landes in der und für die Region II., welcher den Aufstieg seines Hauses von des Nahen und Mittleren Ostens, an welcher einem türkischen Fürstentum im westlichen die „postislamistische“ AKP als Regierungs Anatolien zum Nachfolger der oströmischen partei seit 2001 schreibt, ein Faszinosum für bzw. byzantinischen Kaiser besiegelte; die zahlreiche Beobachter darstellt. Wie in der territoriale Ausdehnung des Herrschaftsge

4 Dabei muss zwischen unterschiedlichen islamischen „Konfessionen“, Rechtsschulen, Ausrichtungen und Religionspraktiken differenziert sowie die Tatsache anerkannt werden, dass Atheismus und Säkularismus sowie verschiedene andere nichtmuslimische Religionen und Glaubensrichtungen ebenso in allen Län dern existieren.

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biets unter den Sultanen Selim I. (Herr Interne institutionelle, militärische und gesell schaftszeit 15121520) und Süleyman I. schaftspolitische Reformen während und in (15201566) über den Balkan bis Wien und Folge der Tanzimat („Verordnung“) genannten Ungarn, an die nördliche und östliche Reformära (ab 1839) führten zwar nach und Schwarzmeerküste, mit der Levante und dem nach zu einer Art konstitutionellen Monarchie Zweistromland bis Persien, über Ägypten und mit Zweikammernparlament und Rechten für den Nil sowie die Küstengebiete des Golfs, ein im Entstehen begriffenes osmanisches des Roten Meeres und des südlichen Mittel Bürgertum. Die Zeit der Reformation und Li meeres; die Übernahme des Kalifentitels beralisierung wurde jedoch von einer langen (1517) und damit des Oberhaupts aller sunni Phase der Restauration unter Abdülhamid II. tischen Muslime und Wächter der Heiligen (18761909) abgelöst, welche den Revolu Städten Mekka und Medina; sowie der Ein tionseifer der jungen, aufstrebenden Eliten bezug des Reiches in das europäische Kon („Junge Türken“) zur Jahrhundertwende ver zert der Mächte und Allianzen ab dem 16. stärkte. Gegen die militärische Übermacht der Jahrhundert. Im dominanten Geschichtsdis Triple Entente aus Großbritannien, Frankreich kurs steht dieser Einbezug vor allem im Lichte und Russland konnte das Reich, das 1914 auf kriegerischer Auseinandersetzungen und mi Seite des Deutschen und des Habsburgerrei litärischer Niederlagen des Reiches gegen die ches in den Ersten Weltkrieg eintrat, kaum europäischen Monarchien (Seeschlacht von etwas entgegensetzen, um den weiteren Ver Lepanto 1571, erfolglose Belagerung Wiens lust an Gebieten im Nahen und Mittleren 1529 und 1683, russischtürkischer Krieg Osten aufzuhalten, wo sich die Araber, be 17681774) mit zum Teil massiven Gebiets stärkt, unterstützt und nach dem Krieg ge verlusten, sowie der Prozess einer inneren schützt von den westlichen Kolonialmächten, Stagnation und wachsender wirtschaftlicher ihre „Unabhängigkeit“ erkämpften. Wie auch und handelspolitischer Abhängigkeit des den anderen Kriegsverlierern wurde dem Reiches von den europäischen Staaten. Reich 1919 in Paris ein Friedensvertrag (Ver trag von Sevrès) vorgelegt, den es zu akzep Während sich aus europäischer Sicht das Bild tieren hatte. Erst der vom Offizier Mustafa vom „kranken Mann am Bosporus“ einprägte Kemal (18811938) angeführte Unabhängig (und Bestrebungen des Reiches nach Reform keitskampf gegen die britischen, französi und Modernisierung im Sinne europäischer schen, italienischen und griechischen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhundert Besatzer Anatoliens und Istanbuls und das kaum Beachtung fanden), förderte der indigen von ihm verfolgte Bestreben nach nationaler anwachsende und exogen durch die europä Einheit brachte die Wende und sicherte den ischen Kolonialmächte geförderte Nationa Türken das Kernland ihrer neuzeitlichen Zivi lismus der Völker des Balkans sowie der lisationsgeschichte im Thrakien und Anato Araber Nordafrikas sowie des Nahen und lien, welches ihnen 1922 mit dem Vertrag von Mittleren Ostens das Gefühl der Unter Lausanne zugesichert wurde. drückung und Ausbeutung durch die vorherr schenden Osmanen. So wurden sie 1805 von Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Mohammed Ali von der Vorherrschaft über Aufteilung der Reste des Osmanischen Rei Ägypten verdrängt, dieser reformierte das ches unter den Großmächten endete auch die Staatswesen und das Militär und begründete gemeinsame Geschichte von Türken und Ara – unterstützt von Großbritannien – eine ei bern. Diese war zwar einerseits von jahrhun gene Herrscherdynastie. Sezessionskriege dertelanger militärischer Dominanz und auf dem Balkan und im Schwarzmeerraum Kontrolle sowie teilweise wirtschaftlicher und führten zu weiteren Verlusten an Territorium sozialer Ausbeutung durch die türkischen Os (Griechenland 1830, Rumänien, Bulgarien, manen geprägt, was den neu entstandenen Serbien und Montenegro 1876, Bosnien und Nationalstaaten der Region die Möglichkeit Herzegowina 1908, Albanien 1913 und Arme gab, negative „Images“ zum Zweck der Kon nien 1914) und damit zu Einbußen an perso struktion nationaler Identitäten zu schaffen, nellen, finanziellen und wirtschaftlichen die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Be Ressourcen sowie zu gesellschaftlichen Um ziehungen zwischen der Türkei und den ara wälzungen im thrakischen und anatolischen bischen Staaten belasten sollten. Zentrum des Reiches in Folge von Flucht und Andererseits jedoch hinterließen die Osma Vertreibung. nen gerade auf administrativer, kultureller und religiöser Ebene ihre Spuren – von Familien

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namen, Stammesidentitäten und sozioökono tizierten Politik, Etatismus (Devletçilik), ver mischen Strukturen bis zu Moscheen und Me standen als partielle Wirtschaftslenkung durch dresen, Straßen und Karawansereien, die bis den Staat, sowie Laizismus (Laiklik), das heute die Ansichten von Städten rund um das heißt der Trennung von Staat und Religion, Mittelmeer prägen. Keine Tat versinnbildlicht und Revolutionismus (İnkilâpçılık, später Dev jedoch die Trennung der modernen Entwick rimcilik) bzw. stetem Reformismus und Mo lungsgeschichte der Türkei mit der der Län dernismus des neuen Staates und der neuen der des Nahen und Mittleren Ostens so Gesellschaft. Mit diesen Prinzipien, deren Be deutlich wie die Abschaffung des islamischen folgung und Verwirklichung für alle politischen Kalifats, die das türkische Parlament, die Kräfte der Türkei bis heute obligatorisch sein Große Nationalversammlung, am 6. März sollen, sollte das Land und seine Gesellschaft 1924 auf Geheiß Mustafa Kemals per Gesetz endgültig in die Moderne und – damit gleich vollzog. So waren die im Entstehen begriffe bedeutend – nach Europa geführt werden. Mit nen arabischen Nationalstaaten, die meist ihnen begründete Mustafa Kemal, der noch noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg unter zu Lebzeiten von der Nationalversammlung kolonialer Vorherrschaft blieben, nicht not den Ehrennamen Atatürk, „Vater der Türken“, wendigerweise politisch auf den bis dahin in erhielt, einen Nationalstaat zeitgenössisch Istanbul residierenden Kalifen, den letzten os modernen Zuschnitts mit einer durch den manischen Sultan Abdülmecit II., angewie Staat definierten Volkssouveränität und natio sen. Zudem fehlte den neuen Machthabern in nalen Identität, wodurch er sich politisch den arabischen Ländern somit eine wichtige gänzlich von den umliegenden Staaten und Legitimationsgrundlage für ihre Herrschaft. ihren Gesellschaften unterschied. Damalige wie auch noch heutige Bestrebun gen, das Kalifat wieder zu errichten, scheiter Wenngleich die folgenden Jahrzehnte zum ten. Teil einschneidende strukturelle und essen zielle Veränderungen im politischen System Anders als die nach dem Ersten Weltkrieg ge brachten – insbesondere die Einführung des gründeten Königreiche im Irak (1921), in Mehrparteiensystems 1946, die Einführung Ägypten (1922), Transjordanien (1923) und einer modernen, freiheitlichen Verfassung SaudiArabien (1932) und anders als die 1961 und die liberalen Wirtschaftsreformen meisten anderen arabischen Staaten, die unter Turgut Özal (19831993), aber auch die noch lange unter kolonialer Vorherrschaft direkten und indirekten Militärcoups der Jahre standen und erst nach dem Zweiten Welt 1960, 1971, 1980 und 1997 sind dabei zu krieg, nach teilweise blutigen Konflikten in die nennen – blieben die Person des Staatsgrün Unabhängigkeit entlassen wurden (Syrien ders und ihre Leistungen bei der Unabhän 1946, Libyen 1951, Tunesien 1956, Kuwait gigkeit und Neugründung des Landes sowie 1961, Algerien 1962) und sich oft als König die Prinzipien seiner Politik nahezu unantast reiche reetablierten (wie etwa die anderen bare Erbstücke, deren Wert jede politische Golfmonarchien 1971), wurde am 29. Oktober Kraft im Land bis heute anzuerkennen und zu 1923 nach Abschaffung des osmanischen schätzen hat. So steht die Türkei gegenwärtig Sultanats die Türkei als parlamentarische Re – trotz aller bestehender Defizite gemessen publik konstituiert. Der neue Staat, den der an den Standards etwa der EU – als etablierte Oberbefehlshaber der Armee und Anführer Republik mit einem verfassten Rechtssystem der Einheitsbewegung Mustafa Kemal mit und gesetzlich verbrieften Menschen und Hilfe der Nationalversammlung, die sich nur Bürgerrechten, strikt geteilten Gewalten und aus den Mitgliedern der von ihm geführten einem praktizierten Parteienpluralismus, einer Republikanischen Volkspartei (Cumhurriyet marktwirtschaftlichen Ordnung sowie zivilge Halk Fırkası, später Cumhurriyet Halk Partisi sellschaftlichen Strukturen und einer freien CHP) zusammensetzte, sollte auf sechs Prin Presse. Das Vermächtnis Atatürks an seine zipien ruhen, die später zu Ehren des Staats Nachfolger an der Staatsspitze, das Land in gründers unter dem Begriff „Kemalismus“ den Kreis moderner, westlicher Staaten zu zusammengefasst wurden. Diese Prinzipien führen, konnte im Laufe der vergangenen waren der Republikanismus (Cumhuriyetçilik) Jahrzehnte langsam und nicht konfliktfrei, als Ausdruck von Volkssouveränität, Nationa aber letztlich immer erfolgreich gewahrt wer lismus (Milliyetçilik) in Antithese zum osmani den: Nach dem Zweiten Weltkrieg, aus dem schen Vielvölkerstaat, Populismus (Halkçılık) sich die Türkei als neutrales Land so weit wie im Sinne einer im Interesse des Volkes prak möglich heraushielt, wurde sie Gründungs

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mitglied der Vereinten Nationen (UN), der Or Türkei mit europäischen Standards geführt ganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben. Trotz der Unterschiede kann jedoch und Entwicklung (OECD) und des Europarats auch konstatiert werden: Sollten sich die re sowie – als Folge der Bedrohung durch die publikanischen Staaten der Region, allen Sowjetunion im südlichen Kaukasus – 1951 voran Ägypten und Tunesien, gegebenenfalls in das westliche Sicherheitsbündnis der Libyen und Syrien, aber auch etwa Algerien NATO aufgenommen. 1963 folgte mit dem und der Irak, für den Weg der fortgesetzten AnkaraAbkommen die Anerkennung als as Demokratisierung entscheiden, bietet ihnen soziiertes Mitglied der Europäischen Wirt die politische Entwicklungsgeschichte der schaftsgemeinschaft (EWG) und die Aussicht Türkei einen reichhaltigen Schatz an Erfah auf eine zukünftige Vollmitgliedschaft in der rungen, positiver wie negativer Art, wie die Europäischen Gemeinschaft. Weitere Etap Normen und Werte, Strukturen und Institutio pen, dieser für ein islamisch geprägtes Land, nen der westlich geprägten Moderne ange einzigartigen internationalen Entwicklungsge nommen und implementiert werden können – schichte, waren die Aufnahme in die Organi und welche Herausforderungen eigene, kre sation für Sicherheit und Zusammenarbeit in ative Lösungen benötigen. Dabei zeigt die Europa (OSZE) 1975 und die Assoziierung in Entwicklungsgeschichte des politischen Islam der Westeuropäischen Union (WEU) 1992 in der Türkei im Allgemeinen und jene der seit sowie die Einführung einer Zollunion mit der 2002 regierenden AKP im Besonderen, wel EU 1996. Schließlich erreichte die Reformpo che strukturellen Chancen und Risiken für die litik der seit 2002 regierenden AKP und ihrer Demokratisierung islamisch geprägter Staa Vorgängerregierung die Aufnahme von Ver ten und Gesellschaften bestehen und wie handlungen für einen Beitritt der Türkei zu EU diese angegangen werden können. beginnend mit dem 3. Oktober 2005. Trotz aller Widrigkeiten und Streitpunkte hält die II. Ist die AKP ein Vorbild für die islami- AKPRegierung an dem Ziel der Vollmitglied schen Reformisten? schaft fest, will bis 2013 die Beitrittskriterien ihrerseits erfüllt haben und visiert für das Jahr Um feststellen zu können, ob und wenn, in 2023, dem hundertsten Gründungsjahr der wiefern die Partei für Gerechtigkeit und Ent Republik, die Aufnahme an. wicklung (AKP) als Vorbild für andere, reformorientierte Kräfte in den Ländern des Beide Aspekte also, der nun schon Jahr Nahen und Mittleren Osten taugt, muss zu zehnte andauernde interne politische nächst differenziert werden. Denn anders als Reifungsprozess in Richtung Republika etwa die ägyptischen Muslimbrüder oder ihre nismus und Demokratisierung, vor allem aber „Ableger“ in den anderen arabischen Län der externe normative Annäherungs und dern, deren Geschichte als soziale Bewegung institutionalisierte Aufnahmeprozess in die und als politischer Akteur bis in das Jahr 1928 Gemeinschaft westlicher Staaten mit zurückreicht, ist die AKP eine erst 2001 als höchsten Demokratie und Wohlstandsstan politische Partei gegründete Organisation, die dards, unterscheiden die Türkei deutlich und ihrerseits aus der Tugendpartei (Fazilet Par in wesentlichen Faktoren von den politischen, tisi, FP) bzw. der Wohlfahrtspartei (Refah Par wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwick tisi) des Politikers Necmettin Erbakans durch lungen der anderen arabischen Staaten in der Abspaltung hervorging. Als politische Partei Region des Nahen und Mittleren Osten. unterliegt die AKP dementsprechend dem tür Angesichts des eigenständigen, republikani kischen Parteiengesetz und bettet sich durch schen Entwicklungspfades, den die Türkei ihre Regierungsverantwortung und mit ihrer durch ihren Staatsgründer Atatürk schon 1923 Parlamentsfraktion anders in das politische eingeschlagen hat, ist festzuhalten, dass Institutionsgefüge des türkischen Staates ein diese Prozesse nicht ohne weiteres von den als etwa soziale oder Widerstandsbewegun sich transformierenden arabischen Staaten gen. Während also für die AKP in ihrer Grün einfach kopiert und übernommen werden dungsphase und ihrer Regierungszeit andere können – gerade angesichts des Umstandes, systemische und strukturelle Bedingungen dass diese Entwicklungen in der Türkei weder herrschten als in den arabischen Ländern, so schnell und konfliktfrei abliefen noch zu wirkt trotzdem der sunnitische bzw. politische einer vollkommenen Angleichung der norma Islam als ein vereinigendes Band zwischen tiven Ordnung und der politischen, wirtschaft der AKP und anderen organisierten Gruppen lichen und soziokulturellen Strukturen der der Region, wie etwa den ägyptischen Mus

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limbrüdern, der Parti de la Justice et du Dé schränkt oder verboten, ihre Führungsperso veloppement (PJD) in Marokko, der algeri nen ins Ausland vertrieben oder mit Berufs schen Front Islamique du Salut (FIS) oder der verboten behängt.5 Unter diesen palästinensischen Hamas. Bedingungen hatten es muslimische Gläubige in der Türkei, die zunächst vermehrt in den Allerdings unterliegt der Islam in der Türkei im ländlichen Gebieten Anatoliens beheimatet Unterschied zu den arabischen Ländern des waren und erst mit den Prozessen der Land Nahen und Mittleren Ostens vollends der flucht und Abwanderung in den 1950er und Kontrolle des Staates. Dieser nennt nicht wie 1960er Jahren in die Städte, vor allem nach etwa arabische Länder die Scharia als Ord Istanbul, kamen, seit jeher schwer, religiöse nungsgrundlage, sondern wurde nach Vorbild Überzeugungen und politische Ambitionen im säkularistischer bzw. laizistischer westlicher organisierten Rahmen in Einklang zu bringen. Staaten organisiert. So betrachtete Atatürk im Trotzdem konnte der Islam ähnlich wie in den modernen säkularistischen Sinne den Islam arabischen Ländern Ausdruck auf politischer als Religiosität individueller Gläubiger für le Ebene finden, als massive sozioökonomische gitim, sah in ihm jedoch auch ein großes Umwälzungen die Türkei Mitte des 20. Jahr Hemmnis für die gesamtgesellschaftliche Mo hunderts erfassten. So existierten die verbo dernisierung des Landes. Sein Laizismusver tenen Orden weiter als religiöse Bewegungen ständnis sollte nicht, wie im Fall Frankreichs, (Nakşibendi, Suleymancılık, Nurcu Cemaati, zu einer größtmöglichen politischen Neutra später auch die Bewegung des 1996 in die lität des Staates gegenüber jeglicher Religion USA emigrierten Predigers Fethullah Gülen), führen und damit die Religion zur Privatsache deren Netzwerke bis in die elitären Zirkel des der Gläubigen zu machen. Stattdessen sollte Staates, der Wirtschaft, der Kultur und Ge der Staat geradezu ermächtigt werde, über sellschaft reichten. Einen besonderen Auf den Islam zu wachen und dessen Rolle im öf stieg erlebte ab Ende der 1960er Jahre die fentlichen Raum so weit wie möglich zu regu Bewegung der „Nationalen Sicht“ (Milli lieren und gegebenenfalls einzuschränken. Görüş), die ähnlich der Muslimbrüder ihre – Nicht nur galt der in weiten Teilen der Gesell islamisch begründete – Hauptaufgabe in der schaft praktizierte Glaube somit in den Augen Wahrnehmung sozialer Dienste für die armen, der kemalistischen Eliten im Militär, der Büro in die Städte abgewanderten Schichten sah. kratie und der Politik als vormoderne Kraft, die Ihre politische Stimme war Necmettin Erba den Fortschritt des türkischen Modernisie kan, dessen Parteien seit den 1970er Jahren rungsprojektes bremste, sondern musste in das programmatische Zentrum des politi seiner soziopolitischen Verfasstheit in Form schen Islam in der Türkei bildeten. Dieser war von Bruderschaften, Bewegungen und Par zu jener Zeit dreimal an Regierungskoalitio teien „wachsamen Auges“ kontrolliert werden. nen beteiligt und wurde nach dem Militär Während also in der Hauptstadt Ankara mit putsch 1980 und nach Ablauf eines dem Amt für Religionsangelegenheiten (Diya zehnjährigen Politikverbots eine starke Kraft net İşleri Başkanlığı, DİB) eine der größten in den 1990er Jahren. Damals brachten zwar Behörden des Landes entstand, welche etwa die liberalen Wirtschaftsreformen der Ära die alleinige Aufsicht über die religiöse Unter Özal neuen Wohlstand und führten zu indus weisung der Bevölkerung in Moscheen und triellem Wachstum auch in Anatolien, wo sich Schulen hat, wurden im Laufe der Jahrzehnte gläubige, konservative, klein und mittelstän religiöse Orden geschlossen und ihre Besitz dische Unternehmer langfristig zu regionalen tümer konfisziert sowie Bewegungen und Investoren und „Entwicklungshelfern“ entfal Parteien mit religiöser Programmatik einge teten.6 Jedoch erreichte der Wohlstand nicht

5 Kaum besser erging es wegen der Dominanz des sunnitischen Islams sowie des stark ausgeprägten tür kischen Nationalismus nichtsunnitischen und nichtmuslimischen Glaubensgemeinschaften, die zwar existieren durften, jedoch in ihrer Glaubenspraxis starken Restriktionen des Staates unterlagen. Eine Phase besonders hohem Drucks erlebten ethnische und religiöse Minderheiten nach dem Militärputsch 1980, als sich die kemalistischen Kräfte auf eine konzeptionelle Verschmelzung von türkischem Natio nalismus und staatlich geführtem, konservativem Islam, der so genannten „TürkischIslamischen Syn these“ („Türkİslam Sentezi“), verständigten, um so die stärker werdende Kraft der systemfeindlichen Gruppen wie bspw. Kurden und Islamisten im Land zu unterbinden. (Vgl. Şen, Transformation of Turkish Islamism and the Rise of the Justice and Development Party, 2010.) 6 Diese aufstrebenden anatolischen Firmen und Geschäftsleute werden auch mit den Begriffen „anatolische Tiger“ oder „islamische Calvinisten“ beschrieben, weil sie in ihrer Arbeit die Verbindung unternehmeri schen Strebens und religiöser Werte vornahmen. 1990 gründeten sie mit dem Wirtschaftsverband MÜ SIAD (Müstakil Sanayici ve İşadamları Derneği, Verband unabhängiger Industrieller und Unternehmer) eine der heute einflussreichsten Wirtschaftsorganisationen. Sie setzten damit einen Kontrapunkt gegen den etablierten, säkularistisch geprägten Verband TÜSIAD (Türk Sanayicileri ve İşadamları Derneği, Ver band türkischer Industrieller und Unternehmer).

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die unteren Schichten in den Großstädten, einem Politikverbot belegt, auch wurden reli sondern verschärfte vielmehr noch die politi giöse Organisationen, die der Partei nahe schen Probleme und das soziale Gefälle im standen, verboten, ihre Mitglieder und Unter Land. Bei den Kommunalwahlen 1989 und stützer vor Gericht gebracht und wegen des 1994 gewannen die Kandidaten von Erba Vorwurfs, einen Umsturz gegen die säkulare kans Wohlfahrtspartei die meisten Städte, in staatliche Ordnung vornehmen zu wollen, ver klusive der Hauptstadt Ankara und Istanbul, urteilt. wo der junge Recep Tayyıp Erdoğan das Bür germeisteramt übernahm. Zwar setzten sich In Folge des repressiven Vorgehens der ke die Parteigänger Erbakans für soziale Sicher malistischen Kräfte teilte sich das islamisti heit sowie die Lösung örtlicher Probleme, sche Lager in zwei Gruppen: Während die etwa bei Infrastruktur und Verkehr ein, doch Traditionalisten zur Fortführung ihrer politi auch sie beendeten nicht die steigende schen Arbeit 2001 die Glückseligkeitspartei Staatsverschuldung und die grassierende (Saadet Partisi, SP) gründeten, sammelten Korruption bzw. waren selbst in Fälle von Ne sich die ErbakanKritiker und Reformisten um potismus und Vetternwirtschaft verwickelt. Recep Tayyıp Erdoğan, Abdullah Gül und Bü Entsprechend ihres Programms der „Gerech lent Arınc und gründeten im gleichen Jahr die ten Ordnung“ (Adil Düzen) setzten sie sich AKP. Zur Überraschung aller gewann die AKP proaktiv für die religiösen Belange ihrer Wäh sogleich die Parlamentswahlen vom Novem lerschaft ein, förderten die religiöse Ausbil ber 2002 mit großem Vorsprung vor den an dung und den Bau von Moscheen und deren Parteien, da es ihr die relativ geringe forderten die Beachtung des Islam in nahezu Wahlbeteiligung und die ZehnProzenthürde, allen Bereichen des täglichen Lebens. an der bis auf die CHP alle anderen Parteien scheiterten, ermöglicht hatten, dass sich ihr Bei den Parlamentswahlen 1996 wurde die Stimmenanteil von 34,4 Prozent in einen Wohlfahrtspartei stärkste Kraft und Erbakan Anteil von 66,3 Prozent der Parlamentssitze bildete zusammen mit der konservativen Par umsetzte. Somit hatten die türkischen Wähle tei des Rechten Weges (Doğru Yol Partisi, rinnen und Wähler bei diesem Urnengang DYP) von Tansu Çiller eine Regierungskoali nahezu das gesamte parlamentarische Es tion. Als Ministerpräsident führte Erbakan im tablishment ausgewechselt, aus Protest Innern die Politik des konservativen Isla gegen die lang anhaltende Unfähigkeit der mismus fort, während er außenpolitisch die etablierten Parteien und Politiker, sich den verbündeten USA und die europäischen Staa großen Problemen des Landes7 anzuneh ten offen für ihren „unbändigen“ globalen Ka men. Von dieser weit verbreiteten Protesthal pitalismus und Imperialismus kritisierte, tung profitierte die neu gegründete AKP als gegen eine Annäherung der Türkei an die EU „unbeschriebenes Blatt“. Ihr kam jedoch auch eintrat, antisemitische Vorwürfe gegen Israel zu Gute, ein Sammelbecken von Vertretern erhob und den Schulterschluss mit anderen nationalkonservativer, postislamistischer autoritären Regimen wie Iran, Syrien und Li sowie liberaler Anschauungen zu sein, mit byen suchte. Seine Rhetorik und seine innen denen sich eine Vielzahl an Wählern identifi und außenpolitischen Handlungen und Ent zieren konnten. scheidungen führten letztlich dazu, dass im Frühjahr 1997 der das politische Tagesge Im Zwischenfazit der Entwicklungsgeschichte schäft stark beeinflussende und vom Militär des politischen Islam in der Türkei und der dominierte Nationale Sicherheitsrat offen und Frage nach dessen Vorbildfunktion für andere ultimativ die Einführung antiislamistischer Fälle in der arabischen Welt heute kann an Verordnungen durch die Regierung forderte, dieser Stelle konstatiert werden, dass die Ver was die Regierung schließlich zum Rücktritt treter des türkischen politischen Islams unter zwang. In der Folge dieses indirekten Put ziemlich anderen strukturellen Voraussetzun sches vom 28. Februar 1997 wurde nicht nur gen – nämlich denen einer nach eigenem Ver die Wohlfahrtspartei vom Verfassungsgericht ständnis laizistisch ausgerichteten Republik, für verboten erklärt und Erbakan erneut mit für deren Schutz das Militär und die kemalis

7 Insbesondere galt die Kritik der Bevölkerung, die bei den Wahlen zum Ausdruck kam, der grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft, die vor allem während des großen Erdbebens von 1999 und der Wirt schafts und Finanzkrise 2000/2001 offen zu Tage getreten war, als auch der verbreiteten Rechtswillkür der Behörden, der ausbleibenden Lösung des Kurdenproblems und des PKKTerrorismus im Südosten des Landes sowie der anhaltenden Diskriminierung von Minderheiten. (Vgl. bspw. Özel, After the Tsu nami, 2003.)

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tischen Staatsorgane mit allen, auch gewalt kemalistischen Prinzipien, und kulturellreligi förmigen und repressiven Mitteln eintraten – ösen Traditionen und Werten der Türkei zu agierten, als sie in anderen Staaten existier verbinden versuchte. Im Zentrum des – ins ten, in denen etwa der Scharia eine konstitu gesamt recht unspezifischen – Programms ierende Bedeutung beigemessen wurde. standen die Ziele der Partei im Einklang mit Außerdem taugen die türkischen Islamisten den Reformvorgaben der EU, sowie die Pro mit ihrem Anführer Erbakan wegen ihrer dezi filierung der AKP als politische Kraft, die die diert antimodernistischen, nationalistischen in ihren kulturellen Traditionen und religiösen Haltung und ihrer populistischen und manipu Werten verwurzelten Menschen durch gelei lativen Rhetorik kaum als Vorbilder für die – tete Demokratisierung und Modernisierung zumindest in ihrer Rhetorik und den ersten mit den republikanischen Prinzipien des Staa Ansätzen ihres politischen Reformismus8 – tes versöhnen wollte. Hatte die 1980 von den neuen, auf Demokratie und Rechtsstaatlich Militärs eingesetzte Verfassung den Grund keit, nationale Versöhnung und internationale satz verankert, dass der Bürger dem Staat zu Integration abzielenden „gemäßigten“ Isla dienen und sich dessen Prinzipien unterzu misten in Ägypten, Tunesien und anderen ordnen hatte, so beabsichtigte die AKP, die Ländern der Region. Anders dagegen verhält sen Grundsatz sinngemäß umzudrehen. So es sich mit der AKP Erdoğans, welche durch wurden durch weitere Gesetzespakete unter aus als beachtenswerte Orientierungshilfe anderem das Strafrecht geändert und da dienlich sein kann – insbesondere, als dass durch erhebliche Verbesserungen der Men die AKP bereits kurz nach Amtsantritt 2002 schenrechte in Bezug auf den Schutz des eindeutige Signale in Richtung verantwor Lebens, Minderheitenrechte und Versamm tungsvoller Politikgestaltung sendete. So lungsfreiheit eingeführt, die Staatssicher setzte Erdoğan ein klares Zeichen, als er an heitsgerichte abgeschafft und die Justiz ders als damals sein politischer „Ziehvater“ reformiert sowie der Einfluss der Armee auf Erbakan seine erste Auslandsreise nach Grie den Nationalen Sicherheitsrat und damit auf chenland durchführte, um die Entspannungs die tägliche Politik eingeschränkt. Weitere Re politik der Vorgängerregierung fortzusetzen. formen der politischen Ordnung, inklusive Daraufhin besuchte er alle wichtigen Haupt eines Pakets zahlreicher Verfassungsände städte Europas, um die Ambitionen seiner Re rungen, über das die Bevölkerung im Herbst gierung zu bekräftigen, die Türkei in die EU 2010 in einem Referendum positiv abge zu führen. Und während die AKPParla stimmt hatte, folgten nach. mentsfraktion mit ihrer deutlichen Mehrheit mehrere große Reformpakete verabschie Darüber hinaus förderte die AKPRegierung dete, die dem Land schließlich die Zusage für durch eine liberale Wirtschafts und Finanz den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit politik die ökonomische Entwicklung und den der EU zum Oktober 2005 einbrachten, er infrastrukturellen und industriellen Ausbau öffnete der damalige Außenminister Abdullah des Landes, öffnete die Türkei für ausländi Gül erstmals einen Gipfel der NATO in Istan sche Investitionen und erschloss durch eine bul und mahnte in Teheran vor der Organisa aktive Handelspolitik neue Auslandsmärkte tion der Islamischen Konferenz (OIC) die für die wachsende Zahl erfolgreicher türki Notwendigkeit an, demokratische Reformen scher Unternehmer. Seit dem Jahr 2002 hatte und die Anerkennung von Zivilgesellschaften sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der in den Ländern zuzulassen. Türkei vervielfacht, die Türkische Lira durch eine Währungsreform an Härte gewonnen In die Anfangszeit der AKP fällt auch der Be und die Inflation konnte konstant unter zehn schluss über das politische Programm und Prozent gehalten werden. Angesichts des an Profil der Partei, welchem Erdoğan und seine haltenden Wirtschaftswachstums in Folge des Mitstreiter den Namen „Konservative Demo steigenden Konsums der Türken und der kratie“ (Muhafazakar Demokrasi) gaben. Al guten Auftragslage hatte die türkische Wirt ternativ zu den anderen etablierten Parteien schaft während der globalen Wirtschafts und des linken, sozialistischen und des rechten, Finanzkrise ab 2008 somit auch kaum Insta nationalistischen Lagers, vor allem aber auch bilitäten und Einbrüche zu verzeichnen, ob in Abgrenzung gegen die islamistische Ideo wohl die Staatsverschuldung weiterhin hoch logie der „Gerechten Ordnung“ entwickelte ist und die Einkommens und Arbeitsvertei die Partei ein Konzept, welches demokrati lung zwischen den westlichen und östlichen schen Reformismus mit den politischen, d.h. Landesteilen sowie zwischen den verschie

8 Vgl. im Überblick Asseburg, Moderate Islamisten als Reformakteure?, 2008 sowie bzgl. der jüngsten Ent wicklungen in Ägypten AbdelSamad, Hamed: Katzenjammer in Kairo, in: Cicero, 8, 2011, S. 4650.

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denen Bevölkerungsschichten weiterhin un Allerdings brachten nicht alle diplomatischen ausgeglichen ist. Trotz allem machte die Re Bemühungen den gewünschten Erfolg oder gierung als Zeichen des erfolgreichen stießen ausschließlich auf Lob. So stockte Wandels Istanbul mit seiner Jahrhunderte etwa die 2008 gestartete Versöhnungsinitia alten Geschichte und seinem vielfältigen, me tive der Türkei und Armeniens wegen des Ein tropolitanen Charakter zum Aushängeschild spruchs Aserbaidschans und des der „neuen Türkei“, das nicht nur Touristen festgefahrenen Konflikts der beiden Kauka und Investoren anlocken sollte. Auch entwi susstaaten um die Region NagornoKarab ckelte sich die Stadt am Bosporus zum be agh. Auch traten Spannungen auf zwischen liebten Treffpunkt von Staatsgästen aus dem der türkischen Regierung und der USAdmi Ausland, die sich auf Gipfeln, Konferenzen nistration unter George W. Bush, als das tür und Plattformen zur Diskussion brennender kische Parlament 2003 die Anfrage der USA Fragen der internationalen Politik trafen – nach einem Truppendurchzug für den Ein vom NATOReformgipfel, Konferenzen der marsch in den Irak ablehnte, oder auch 2009, OIC und Zusammentreffen mit afrikanischen als sich die Türkei im UNSicherheitsrat Staats und Regierungschefs bis zu zahlrei gegen eine Initiative der USA und anderer chen bi und multilateralen Vermittlungsinitia westlicher Staaten für eine Verschärfung von tiven der Türkei, etwa zwischen den Sanktionen gegen den nach Nuklearenergie ehemaligen Feinden ExJugoslawiens, Irans strebenden Iran stellte. Das Verhältnis zu Is und der Sechsergruppe oder den Parteien rael, welches in den 1990er Jahren durch des Nahostkonflikts. eine intensive militärische und sicherheitspo litische, aber auch wirtschaftliche und soziale Diese Treffen, Initiativen und diplomatischen Zusammenarbeit aufgeblüht war, gilt als Bemühungen spiegeln ein weiteres Feld der schwer zerrüttet. Zwar vermittelte die AKP Neuerung wider, welches die AKP begangen Regierung erfolgreich zwischen Israel und Sy hatte: das der Außenpolitik. Dieser sich nun rien, doch fühlte sie sich von Israel düpiert, als schon deutlich abzeichnende Wandel im dieses, ohne die Türkei vorab zu informieren, außenpolitischen Profil der Türkei geht maß 2008 die israelfeindliche Hamas im Gaza geblich auf den türkischen Außenminister streifen angriff. In der Folge prangerte Minis Ahmet Davutoğlu und sein Politikkonzept der terpräsident Erdoğan mehrmals lautstark und „Strategischen Tiefe“ zurück. Dabei entwirft er offen die Siedlungs und Diskriminierungspo die Rolle der Türkei als international verant litik Israels gegenüber den Palästinensern wortungsvolle und regional Stabilität erzeu und die Isolation des Gazastreifens an. Einen gende Zentralmacht, die sich von den Tiefpunkt erreichten die Beziehungen der bei Prinzipien einer multidimensionalen, proakti den Staaten im Mai 2010, als ein türkisches ven Außenpolitik durch rhythmische Diploma Schiff, welches mit einer Flotte weiterer tie und einem „NullProblemAnsatz“ Schiffe zum Hilfseinsatz nach Gaza aufge gegenüber den Nachbarstaaten auszeichnen brochen war, von der israelischen Armee vor sollte, welche man durch wachsende politi der Küste gestürmt wurde, wobei neun türki sche, ökonomische und soziale Interdepen sche Passagiere starben. Eine offizielle Ent denz erreichen will. Mit Davutoğlus schuldigung und Entschädigung der Opfer strategischem Ansatz erreichte die AKPRe lehnt Israel aus Überzeugung über die Recht gierung bemerkenswerte außenpolitische mäßigkeit seines Vorgehens bislang ab. Fortschritte bei der Entspannung ihrer jahre Schließlich treten seit einigen Jahren auch die lang belasteten Beziehungen zu Nachbarlän Beitrittsverhandlungen mit der EU auf der dern Griechenland, Armenien und Russland, Stelle, da beide Seiten nicht gewillt sind, Zu Iran, Irak und Syrien. Durch ihre Vermitt geständnisse bzgl. des Streitfalls um die Zu lungsbemühungen in Konflikten sowie durch kunft der geteilten Insel Zypern zu machen ihre Kompromissbereitschaft und dem Willen oder Lösungen im gegenseitigen Einverneh auf Herstellung von WinWinSituationen men zu finden. Auch kritisiert Ankara die Ein wurde der AKPRegierung international Res seitigkeit ihrer bisherigen Bemühungen zur pekt gezollt. Deutlich zeigte sich der Erfolg Annäherung, da einige Mitgliedsstaaten der ihrer neuen Außenpolitik in der Wahl der Tür Union, allen voran Frankreich, prinzipiell kei in den UNSicherheitsrat 20062008, in gegen einen möglichen Beitritt der Türkei dem das Land seit 56 Jahren nicht mehr ver seien und mit dieser Haltung früher gemachte treten gewesen war. Zusagen nicht einhalten würden.

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Zwar verlangsamte sich auch deshalb der Re schen und religiösen Spannungen innerhalb formeifer der AKP im Laufe der Jahre ihrer der Gesellschaft abgebaut sowie die Bezie Regierungszeit, da gleichzeitig zum Abkühlen hungen zu allen Nachbarn befriedet und die der Beziehungen zur EU die Zahl und Härte Aufnahme der Türkei in die EU gesichert – so der innenpolitischen Konflikte mit den alten ist die Bilanz der Regierung dennoch beacht Kräften, allen voran dem Militär, den Gerich lich und zeugt von der Ambition, das Land im ten und den nationalistischen Parteien zu Positiven verändern zu wollen, es gegen die nahmen. Streitpunkte waren dabei nicht nur negativen Effekte der Globalisierung zu schüt typische Reizthemen des islamistischen Dis zen und es „fit“ für das 21. Jahrhundert zu ma kurses wie das Verbot des Kopftuchs und die chen. Dabei wäre es falsch, die positiven wachsende Rolle der Religion im öffentlichen Entwicklungen der Türkei in den vergangenen Raum, sondern auch das langsame Aufbre Jahren nur der AKPRegierung zuzuschrei chen von Tabus wie etwa die Unterdrückung ben. Auch haben die Wirtschaft und die Fi der Kurden und Repression gegen System nanzwelt, die Zivilgesellschaft und die Medien kritiker, die Diskriminierung von religiösen und ebenso wie auch reformbereite Gruppen ethnischen Minderheiten sowie die ständig innerhalb der kemalistischen Eliten ihren An von den alten Kräften geschürte Angst vor in teil am Erfolg, indem sie die Regierung bei neren und äußeren Feinden der kemalisti ihrer Arbeit entweder unterstützen oder Kor schen Staatsordnung. Wenngleich bis heute rekturen anmahnen.10 keines der Konfliktfelder ausreichend befrie det werden konnte, hat die AKPRegierung III. Fazit unter Erdoğan dazu beigetragen, ein Klima weitgehend offener und friedlicher Diskussion Obgleich die politische Geschichte im 20. zu schaffen und stieß dadurch auf Zustim Jahrhundert die Türkei und die Länder des mung in der Bevölkerung und im Ausland. Er Nahen und Mittleren Ostens deutlich vonein doğans Reformpolitik und seine Versprechen, ander entfernt hatte, ermöglichte das Ende den Weg Richtung EUBeitritt trotz allen des OstWestKonflikts und die Globalisierung Gegenwinds aus Europas Hauptstädten neue Gelegenheiten der Wiederannäherung weiterzugehen und am Ziel einer Demokrati – auf politische, wirtschaftliche und soziokul sierung und Modernisierung des Landes turelle Art und Weise. Wie kaum eine andere innerhalb der bestehenden Ordnung festzu politische Kraft hat sich die AKP diese Chan halten, brachten seiner AKP weitere Siege bei cen zu Nutze gemacht, auf die arabischen den Kommunalwahlen 2004 und 2009 sowie Staaten und Gesellschaften einen Schritt zu bei den Parlamentswahlen 2007 und 2011 zugehen, sich vermittelnd in schwelende ein. 2007 konnte sogar – nach zum Teil hefti Konflikte einzuschalten, interdependente gen Konflikten mit den kemalistischen Kräften Wirtschaftsbeziehungen auf und auszubauen – Abdullah Gül zum neuen Präsidenten der und die kulturelle und religiöse Nähe der Tür Republik gewählt werden.9 kei dazu zu verwenden, mit Hinweis auf den eigenen schwierigen, aber erfolgreichen Ent Wenngleich die Bilanz der AKP zehn Jahre wicklungsweg von den Regimen der Region nach ihrer Gründung und im achten Jahr ihrer dementsprechende demokratische Reformen Regierung insgesamt also ambivalent ausfällt einzufordern. Angesichts des 2011 angebro – weder ist der Umbau der Staatsordnung chenen „Arabischen Frühlings“ ergeben sich und die Reform einer neuen Verfassung im zi so folgende Resultate: vilen, demokratischen Geist beendet noch sind die Menschen und Bürgerrechte umfas Strukturell, aber auch inhaltlich stand die AKP send und ausreichend gestärkt, die haus vor anderen Voraussetzungen als die heuti halts und wirtschaftspolitische Ordnung gen (post)islamistischen Akteure in den sich nachhaltig stabilisiert, die sozialen, ethni transformierenden Staaten des Nahen und

9 Die Befürchtungen und Vorwürfe der alten Eliten und der AKPKritiker im Vorfeld der Wahl, mit dem „Fall dieser letzten Bastion der kemalistischen Ordnung“ würde der Partei die Chance gegeben werden, ihre islamistischen Vorstellungen von einem Umbau des Staates in die Tat umsetzen zu können, erweisen sich bislang als haltlos. (Vgl. Hale/ Özbudun: Islamism, democracy, and liberalism in Turkey: The case of the AKP, 2010, S. 148151) 10 Zudem sei darauf hingewiesen, dass in der republikanischen, parlamentarischen Systemstruktur und dem Modernisierungsgebot des Staatsgründers Atatürk sowie in der verfassten Rechtsstaatlichkeit und der vom EUBeitrittsprozess geförderten Demokratisierung grundlegende Bedingungen für die Ordnung des türkischen Staates und für die Gesellschaft bestehen, die nicht ohne weiteres von einer politischen Kraft im Land verändert werden können.

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Mittleren Ostens, da sie sich von Anfang an in und international große und vor allem kriti eine republikanische und streng laizistische sche Aufmerksamkeit zukommen. Wie auch Staatsordnung integrieren musste, die nicht nach der ersten Wahl der AKP an die Regie unter der Kontrolle einer autoritär geführten rung 2002 wird es mit Hinweis auf den Fall Al Staatsspitze stand, sondern deren Ordnung geriens 199211 dazu kommen, dass die alten, eher diffus von etablierten Eliten des Militärs etablierten Kräfte, allen voran das Militär, und der Bürokratie aber auch des Parlaments, gegen einen möglichen Wahlsieg von Isla der Wirtschaft, Medien und der Zivilgesell misten vorgehen könnten. Vor dieser Ent schaft gegen vermeintliche innere und äußere wicklung, die der Türkei in den Jahren nach Feinde bewahrt werden sollte. der Wahl durchaus gedroht hatte,12 war das Land nur aus drei Gründen gefeit: Zum einen War das politische System in den 1990er Jah stand der Armee mit Hilmi Özkök ein relativ li ren von diesen Kräften zwar weitgehend sta beraler Generalstabschef vor, der zwar im ke bil gehalten worden, mangelte es dagegen an malistischen System beheimatet war, sich Stabilität in der Wirtschaft und der Gesell aber mit der Anwendung undemokratischer schaft. So kann zweifellos behauptet werden, Mittel zu dessen Schutz zurückhielt und ent dass es wegen des diffusen, indirekten Auto sprechende Strömungen innerhalb des Mili ritarismus in der Türkei während der 1990er tärs unter Kontrolle hatte. Zum zweiten hatten Jahre durch die alten Eliten zu keiner direk sich die AKPVertreter um Recep Tayyıp Er ten Revolution der Bevölkerung kam, da diese doğan bei der Parteigründung und im Vorfeld Kräfte, insbesondere das Militär, in weiten Tei der Wahl deutlich von ihren islamistischen len der Gesellschaft als systemstabilisierende Vorgängerparteien, vor allem der Wohlfahrts Akteure anerkannt oder als Folge vergange partei Necmettin Erbakans, distanziert und ner repressiver Maßnahmen gegen system sich für die demokratische Reform des politi feindliche Gruppen für ihr hartes Durchgreifen schen und gesellschaftlichen Systems inner bekannt waren. halb der bestehenden kemalistischen Ordnung ausgesprochen. Und drittens konn Zur „indirekten Revolution“ gegen das defizi ten sie zum Ausdruck ihres Reformwillens und täre politische System der Parteien und der zur Mobilisierung von liberalen Gruppen und weitgehend korrupten Verwaltung kam es je Kräften, die der Partei zunächst skeptisch doch bei der Parlamentswahl 2002, aus der gegenüberstanden, darauf verweisen, dass die unbescholtene, auf demokratische Refor sie die Annäherung der Türkei an die Europä men setzende AKP als deutliche Siegerin her ische Union vorantreiben wollten und hierfür vortrat. Auf die arabischen Länder bezogen auch die Unterstützung der westlichen Part heißt das, dass sich somit erst im Zuge der ner, allen voran den USA, besaßen. angesetzten oder beabsichtigten sowie als frei versprochenen Wahlen in Tunesien, Obwohl diese Faktoren auf die Transforma Ägypten und gegebenenfalls anderswo wird tionsländer des Nahen und Mittleren Ostens zeigen können, inwieweit die Wählerinnen nicht eins zu eins übertragbar sind, zeigt das und Wähler dem türkischen Beispiel folgen türkische Beispiel, dass es sowohl innerhalb und jene Kräfte stärken, die glaubhaft für Re des Lagers des alten Regimes als auch bei form und Demokratisierung stehen. Dabei den aufstrebenden, neuen Gruppierungen wird gerade auf diejenigen Bewegungen und echte Versicherungen zu demokratischen Re Parteien, die im islamistischen Lager verwur formen, Bereitschaft zu Verhandlungen und zelt sind oder diesem entstammen, national Kompromiss innerhalb der Grundstrukturen

11 Bei den Kommunal und Parlamentswahlen in Algerien Anfang der 1990er Jahre war die oppositionelle islamistische Front Islamique du Salut (FIS) zur stärksten Kraft aufgestiegen. Gegen diesen Trend schritt im Dezember 1991 die Regierung auf Druck des Militärs ein und annullierte das Wahlergebnis. Im Januar setzte daraufhin die Armee das Wahlverfahren außer Kraft und verdrängte die Regierung von der Macht. Die Etablierung einer Militärdiktatur hatte einen Bürgerkrieg zur Folge, bei dem schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen ums Leben kamen. (Vgl. bspw. Werenfels, Algeriens legale Islamisten: Von der „fünften Kolonne“ zur Stütze des Regimes, 2008) 12 Seit 2008 ermitteln türkische Staatsanwälte gegen ein radikalnationalistisches Netzwerk namens „Erge nekon“, das sich in weite der Teile des Militärs, der Bürokratie und der Politik, aber auch der Wirtschaft und der Gesellschaft erstreckt und ab 2004 durch Anschläge und Anstiftung zu sozialen Unruhen einen Militärputsch gegen die AKPRegierung anzetteln wollte. Angesichts der Schwere der Vorwürfe gegen teilweise hoch dekorierte und vormals als unantastbar geltende Offiziere fällt dem Verfahren ein großes öffentliches Interesse zu. Dabei machen die Ermittlungen mittlerweile auch keinen Halt mehr etwa vor Wissenschaftlern oder Journalisten, die sich mit den Fällen und der Rolle der Regierung beim Vorgehen gegen das Netzwerk befassen, was zu nationaler und internationaler Kritik führt. Dies kontert die Regie rung wiederum mit dem Verweis auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. (Vgl. bspw. Cizre, Ümit/ Walker, Joshua: Conceiving New Turkey after Ergenekon, in: The International Spectator, 45 (2010) 1, S. 8998; Hermann: Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei, 2008, S. 233249.)

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des bestehenden Systems sowie die Einbin söhnungsversuche der jeweiligen Gesell dung aller Schichten der Bevölkerung in den schaften mit ihrem Staat und der politischen Transformationsprozess braucht, damit dieser Klasse Einfluss zu nehmen. Gerade letzteres stabil und nachhaltig erfolgreich verlaufen – die Schaffung einer demokratischen, parti kann. Ebenso kommt der internationalen Ge zipativen politischen Kultur durch Versöhnung meinschaft, den europäischen Organisatio der polarisierten Gesellschaft – ist auch in der nen, der EU und ihren Mitgliedsstaaten sowie Türkei Hauptaufgabe nicht nur der regieren den Nachbarländern der Transformations den Partei und der Politik, sondern aller staaten eine hohe Bedeutung dabei zu, die Kräfte, die an einer stabilen und prosperie Wandlungsprozesse aktiv und glaubhaft zu renden Zukunft des Landes interessiert sind. begleiten, ohne auf die Aushandlungen der Machtfrage und die Annäherungs und Ver Ludwig Schulz

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207 Deutsches Orient-Institut Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutschland, die EU und sein sollte, um so gleichzeitig langfristig Sta- der „Arabische Frühling” bilität und demokratische Öffnung zu errei- chen. Im zweiten Teil werden vergangene I. Einleitung Handlungsstränge europäischer Außen- und Entwicklungspolitik im Rahmen des 1995 an- Einige arabische Staaten wie Tunesien, Ägyp- gestoßenen Barcelona-Prozesses skizziert ten, Libyen oder Syrien, befinden sich mo- und auf bestehende Strukturen und Institutio- mentan in einem epochalen Umbruch. Die nen in diesen Politikfeldern aufmerksam ge- jahrzehntelang von ihren repressiv-auto- macht. Es wird auf Fehl- und Mangel- ritären Regimes unterdrückten Gesellschaf- entwicklungen verwiesen, die es in Zukunft zu ten verlangen mit noch nie da gewesener vermeiden gilt, möchte man eine nachhaltig Vehemenz nach neuen wirtschaftlichen und stabile und sich demokratisierende Region sozialen Perspektiven, mehr politischer Teil- schaffen. Im Anschluss daran werden die ak- habe, rechtsstaatlichen Strukturen sowie ele- tuell initiierten sowie mittel- und längerfristig mentaren Menschenrechten wie freie geplanten deutschen und europäischen Maß- Meinungsäußerung und ein Ende von Kor- nahmen zur Unterstützung der politischen ruption. Dies beeinflusst auch nachhaltig und und wirtschaftlichen Transformationsprozesse direkt Europa und Deutschland, schafft neue dargestellt, bevor abschließend ein kurzer Herausforderungen, lässt althergebrachte Ausblick gegeben werden soll. außenpolitische Strategien überholt erschei- nen, fordert zum Um- und Weiterdenken auf II. Deutsche und europäische Interessen in und bietet Chancen und Risiken für eine der Region nachhaltige konzeptionelle Neuausrichtung der deutschen und europäischen Nahostpoli- Ohne einen differenzierten Blick auf die Be- tik. So sollte die deutsche und die europäi- deutung der Region für die deutsche und eu- sche Politik diese historische Zäsur als ropäische Politik scheint ein Verständnis für einmalige Chance betrachten, ihre Politik in das Handeln der Bundesregierung und der dieser Region kritisch zu überprüfen und mit EU gegenüber den aktuellen Umbrüchen Blick auf ihre Interessen neu auszurichten. nicht möglich und politische Handlungsem- Das folgende Kapitel versucht darzustellen, pfehlungen willkürlich und zusammenhangs- dass die Schnittmenge zwischen den deut- los.2 schen und europäischen Interessen in der Region und den Interessen der aufbegehren- Eine konsistente deutsche Strategie bezüg- den Gesellschaften größer ist, als es von lich ihrer Nordafrika-, Nah- und Mittelostpolitik außen auf den ersten Blick scheint, dass per- hat es in den letzten Jahren nicht gegeben. manente deutsche und europäische Forde- Die Bundesregierungen vermieden es zudem, rungen nach mehr Demokratie und möglichst transparent ihre Interessenagenda Menschenrechten keine leeren Phrasen, son- in der Region darzulegen, da der Begriff „stra- dern ein ernstes Anliegen sein müssen. Wei- tegisches Interesse” mittlerweile in der Öf- terhin stellt es überblicksartig die deutsche fentlichkeit allzu oft mit „harter Machtpolitik“ und europäische Unterstützung für die ange- gleichgesetzt wird. Dieses Vorgehen sorgt auf stoßenen politischen und wirtschaftlichen der anderen Seite nicht gerade für den Ein- Transformationsprozesse im Rahmen des druck von transparenter und kohärenter „Arabischen Frühlings“ dar.1 Außenpolitik. In den vergangenen Jahren ent- stand der Eindruck, deutsche Nahostpolitik Zuerst wird ein Blick auf deutsche Interessen orientiere sich aufgrund der historischen Fak- in der Region Nordafrika, Nah- und Mittelost ten am Sicherheitsbedürfnis Israels als we- geworfen, um zu zeigen, dass auf lange Sicht sentliches handlungsleitendes Moment, was nur ein demokratischer Wandel mit einherge- realpolitisch differenziert werden muss. Der henden wirtschaftlichen Reformen das vor- nachfolgende Teil dieses Kapitels versucht, in rangigste deutsche Interesse in der Region dieses „schwarze Loch“ ein wenig Aufklärung

1 Hierbei soll darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den präsentierten Programmen, Maßnahmen und Strategievorschlägen nur um einen Überblick handeln kann, da es sich um einen fortlaufenden, sich täglich ändernden Prozess handelt, wie das Beispiel Libyen und der Sturz des Diktators Muammar al- Gaddafi eindrucksvoll zeigt. 2 Für deutsche Interessen in der Region siehe unter anderem: Steinberg, Guido: Deutsche Nah-, Mittelost- und Nordafrikapolitik. Interessen, Strategien, Handlungsoptionen, Berlin 2009. Siehe auch: Bertelsmann- Stiftung: Deutschland, Europa und die arabisch-islamische Welt. Interessen und Handlungsschwerpunkte, Gütersloh 2006.

Deutsches Orient-Institut 208 Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

und Struktur zu bringen. der irakischen Flüchtlinge eine direkte Folge der instabilen politischen Verhältnisse rund Primäres deutsches Interesse in der Region um den Golf. Insofern ist es im deutschen In- war es in der Vergangenheit neben der Ga- teresse, auch hier eine friedliche Konfliktlö- rantie israelischer Sicherheitsbedürfnisse, so- sung herbeizuführen. wohl zwischenstaatliche als auch innerstaatliche Stabilität zu unterstützen und Legitime deutsche Interessenpolitik im Nahen aufrechtzuerhalten. Die starke Konzentration und Mittleren Osten und Nordafrika wäre je- auf Stabilität rührt daher, dass ihr Mangel oft- doch verfehlt, wenn dies gleichbedeutend mit mals mit zahlreichen Folgeproblemen ver- der Stabilisierung autoritärer Regime in der knüpft ist. Maßgeblich für das starke deutsche Region interpretiert werden würde. Die deut- Interesse an regionaler Stabilität ist dement- sche Terrorismusbekämpfung steht exempla- sprechend die Vermeidung von gewaltsamen risch für dieses Dilemma. Auf der einen Seite zwischenstaatlichen Konflikten, Bürgerkrieg war sie – so zumindest die einhellige Perzep- und fragiler Staatlichkeit. Instabile Staaten mit tion – kurzfristig auf die Kooperation mit den bürgerkriegsähnlichen Szenarien – wie in der autoritären Regimes oder Diktaturen der Re- jüngeren Vergangenheit im Libanon, Jemen gion angewiesen, um für den Moment eine oder im Irak – generieren nicht nur Flücht- angeblich effektivere Bekämpfung von mili- lingsströme, die temporäre oder dauerhafte tanten islamistischen Gruppierungen und Zuflucht in Nachbarländern und den europäi- nicht-staatlichen Gewaltakteuren zu gewähr- schen Staaten suchen. Häufig sind diese leisten. Auf der anderen Seite muss sie aber Flüchtlingsströme auch geeignetes Umfeld für eine Graswurzelursache des islamistischen terroristische Zellen und organisierte Krimina- Terrorismus anpacken, was längerfristig lität. Fragile Staatlichkeit und fehlendes staat- gleichbedeutend mit einem Wandel der vor- liches Gewaltmonopol in einigen Teilen dieser herrschenden autoritären Regierungssysteme Staaten bieten auch islamistischen Terror- hin zu partizipativen, demokratischen politi- netzwerken wie Al-Qaida Zufluchtsorte und schen Strukturen bedeutet, dem sich die Re- Operationsgebiete. Aufgrund dessen interve- gime aber allzu oft verschlossen haben oder nierende Nachbarstaaten handeln vielleicht nach wie vor verschließen. Hier sollten die mit der Intention, Stabilität wiederherzustel- Prioritäten statt auf marginale, kurzfristige Er- len. In der Praxis verschlimmern sie die Lage folge auf längerfristigen Wandel gesetzt wer- meistens nur noch und verschärfen die regio- den. Mit dieser Neuausrichtung, einer nalen Konflikte. besseren, nachhaltigeren und konsequente- ren Verzahnung von Demokratisierung und Regionale Konflikte – zuallererst der israe- Stabilisierung sieht sich die deutsche Nah- lisch-arabische Konflikt – bilden einen wichti- ostpolitik seit Beginn der Aufstände im Nahen gen Faktor bei der Motivierung und und Mittleren Osten konfrontiert und sollte Mobilisierung islamistischer Terroristen, tra- hier geeignete Antworten finden. gen zur Destabilisierung von Staaten bei, be- feuern die Auseinandersetzungen zwischen Hierbei befindet sich die deutsche und eu- anti- und pro-westlichen Regierungen in der ropäische Politik in einem traditionellen Di- Region und verursachen ebenso Flüchtlings- lemma aus Eigeninteressen und Förderung ströme. Die Kausalität zeigt nachvollziehbar, der demokratisch-partizipatorischen Entwick- dass eine friedliche Regelung zwischen Israel lungen in den Transformationsstaaten. Dies und seinen arabischen Nachbarn oberste Pri- zeigt sich deutlich anhand der Flüchtlings- orität auf der regionalen außenpolitischen frage: Irreguläre Migration nach Europa und Agenda der Bundesregierung haben muss. Deutschland zu vermeiden ist ebenso ein vi- tales Interesse deutscher und europäischer Der zweite große zwischenstaatliche Konflikt Politik wie die Rückkehr von Flüchtlingen in in der Region ist seit den 1970er Jahren das ihre Heimat. Flüchtlingsströme sind für die Ringen um regionale Vormachtstellung am Staaten der Region oft eine enorme innenpo- Golf, das aufgrund negativer Beeinflussung litische Herausforderung, der sie nicht immer der Energieversorgung der Weltwirtschaft gewachsen sind. Diese Überforderung sorgt schon mehrmals eine US-amerikanische In- schnell für Destabilisierung der Ausreisestaa- tervention herausforderte. Er wird in Zukunft ten, weshalb sich zwischen- oder innerstaat- vermutlich weiter an Bedeutung gewinnen. So liche Konflikte auf eine weitere Ebene sind der Atomkonflikt mit Iran und die Vielzahl ausdehnen können. Zudem wurde die Pro-

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blematik von Terrorismus und organisierter handelswirtschaft insgesamt waren jedoch Kriminalität durch Flüchtlinge bereits ange- die VAE und Saudi-Arabien am bedeutend- deutet. Bisher wurde dem Flüchtlingsproblem sten.4 Das heißt im Umkehrschluss nicht, zumeist reaktiv begegnet, indem Abwehr- dass die Umbrüche und Proteste in Tunesien, maßnahmen getroffen wurden. Im Zuge der Ägypten, Libyen und Syrien nur sekundär die Transformationsprozesse im Nahen und Mitt- deutschen Wirtschafts- und Außenhandelsin- leren Osten sollten hier auch prophylaktische teressen in der Region beeinflussen, weil sie Maßnahmen eine höhere Bedeutung im poli- jeweils – für sich allein genommen – für die tischen Kalkül Deutschlands und der EU ein- deutsche Außenhandelswirtschaft nur geringe nehmen, indem die wirtschaftlichen Bedeutung haben. In der Summe sorgt diese Bedingungen in den nordafrikanischen und unsichere Zukunft der Außenhandelsbilanzen arabischen Ländern verbessert, Verteilungs- mit mehreren Staaten, in denen infolge des mechanismen und Klientelnetzwerke neu mo- „Arabischen Frühlings“ instabile Lagen ent- difiziert und durchbrochen, Ausbildung- und standen sind, dafür, dass das wirtschaftliche Weiterbildungsniveaus angehoben und der Interesse an dieser Region ebenso im Blick Zutritt zum Arbeitsmarkt für alle gesellschaft- behalten werden muss wie andere Interes- lichen Gruppen transparenter werden. sen, die nur durch Stabilität dauerhaft ge- währleistet werden können. Ein weiteres Interesse deutscher Politik in die- ser Region ist energiepolitischer Natur. Die Letztendlich konnte bislang innerstaatliche Energieressourcen der Region, insbesondere und regionale Stabilität in Nordafrika, Nah- in Nordafrika, bieten Deutschland und Europa und Mittelost als primäres Interesse Deutsch- eine Gelegenheit, sich von einseitigen Gas- lands und Europas sowie gleichzeitig ele- lieferungsabkommen zu emanzipieren und in mentare Grundlage für andere Interessen diesem Bereich ein Stück weit mehr Unab- dieser Akteure in der Region gesehen wer- hängigkeit, insbesondere von Russland, zu den. Diese anderen Interessen sind zusam- erlangen. Einen viel versprechenden Ansatz mengefasst die Vermeidung von Flüchtlingen, in diese Richtung stellt die Nabucco-Pipeline der Kampf gegen den internationalen Terro- dar, die mit ihrem Verlauf beginnend in der rismus und organisierte Kriminalität, die Osttürkei, über Bulgarien, Rumänien und Un- Deckung des Energiebedarfs und die Konso- garn Gas aus Iran oder dem Irak nach Mittel- lidierung der Außenwirtschaftsbeziehungen. europa liefern kann. Weiterblickend wird das deutsche Interesse an der Förderung erneu- Ferner würde auch Israel mit seinem Sicher- erbarer Energien, an erster Stelle Solarener- heitsbedürfnis von einem Umfeld demokrati- gie aus Nordafrika, wachsen, um den sierter arabischer Staaten profitieren. Dies ist Energiebedarf Europas und Deutschlands zu für deutsche und europäische Außenpolitik in- decken. Zu nennen ist hier das auf deutsche sofern von Bedeutung, als dass damit eine Initiative angeregte Milliardenprojekt Desertec Hürde für deutsche und europäische Unter- zur Förderung von Solarenergie aus den stützung arabischer Transformationsstaaten Maghrebstaaten.3 wegfällt. Israelische Sicherheitsinteressen sind ein bestimmender – allzu oft beschrän- Der Energiebedarf Deutschlands führt auto- kender – Faktor vor allem für deutsche Nah- matisch zu deutschen Wirtschaftsinteressen ostpolitik. Bezüglich der Forderung und in der Region. Im Jahr 2010 waren die Verei- Unterstützung demokratischer Transformation nigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien müsste das Sicherheitsinteresse Israels aber – die Türkei außen vor gelassen – vor Iran, in diesem Fall ein verstärkender Faktor sein, Ägypten und Israel die wichtigsten regionalen statt eines Hindernisses. Vor dem Hintergrund Exportstaaten im deutschen Außenhandel. der jüngsten gewaltsamen Übergriffe auf is- Bedeutendster regionaler Importstaat war Li- raelische Zivilisten bei Eilat und in Tel Aviv byen aufgrund seiner Erdölimporte in die Bun- scheint es jedoch derzeit unwahrscheinlich, desrepublik. Für die deutsche Außen- dass sich diese Wahrnehmung auch bei den

3 Für nähere Informationen über das Desertec-Projekt siehe auch: Desertec Foundation, http://www.desertec.org/ de/, Hamburg 2011, abgerufen am 23.08.2011. 4 Für eine ausführliche Statistik über die deutsche Außenhandelswirtschaft im Jahr 2010 siehe: Statisti- sches Bundesamt: Außenhandel 2010. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesre- publik Deutschland, http://www.destatis.de, Wiesbaden 2011, abgerufen am 11.08.2011.

Deutsches Orient-Institut 210 Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

israelischen Entscheidungsträgern durch- Entwicklungen in der Region eine einmalige setzt. Dieser Teil des Kapitels zeigt in erster Chance. So kann der „neue Stabilitätsbegriff“ Linie, wie sehr die Interessen in der Region auf der festen Überzeugung basieren, dass Stabilität bedingen. Stabilität auf der einen mehr Demokratie und Menschenrechte in der Seite und die weiteren Interessen auf der an- Region auf Dauer tatsächlich positive Auswir- deren Seite unterscheiden sich bezüglich kungen für Europa mit sich bringen und deren ihrer Funktion und ihrer Priorität. Stabilität fun- Forderung und Unterstützung sich nachhaltig giert als Grundlage für die dauerhaft erfolg- lohnt, was sich zweifelsohne in den letzten reiche Verfolgung der anderen aufgeführten Jahren in der deutschen und europäischen Interessen. Sie sind nicht gleichwertig zu ver- Außenpolitik und ihrer Erfolgsbilanz kaum nie- folgen, weil sie aufeinander aufbauen bzw. dergeschlagen hat. Außerdem wird deutlich, Stabilität die unerlässliche Grundlage für an- dass die Schnittmenge der Interessen deut- dere Interessen ist. scher Außenpolitik und der arabischen Ge- sellschaften in einem demokratischen und Die Grundannahme und feste Überzeugung, wirtschaftlichen Wandel bestehen. dass nachhaltige und dauerhafte Stabilität je- doch nicht durch autoritäre Regimes gewähr- Vor diesem Hintergrund deutscher – und leistet werden kann, sondern nur durch hauptsächlich kongruenter europäischer – In- langfristig unterstützte Transformationen hin teressen, insbesondere an langfristiger regio- zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung naler und innerstaatlicher Stabilität, müssen von Menschenrechten, Ende von Klientelis- die Maßnahmen Deutschlands und Europas mus und Korruption als auch auf Breitenwir- zur Unterstützung für die momentan stattfin- kung angelegtes Wirtschaftswachstum, denden Transformationsprozesse bzw. für die impliziert zugleich, dass Stabilität den erfolg- Forderung nach ihnen gemessen werden. reichen Übergang zu diesen Zielen bedingt. Dass Deutschland und Europa dieses Anlie- Daran anknüpfend ist es notwendig, den bis- gen nicht nur mit Lippenbekenntnissen be- her in der Nahostpolitik gebrauchten Begriff gleiten, sondern ein ernstes Anliegen und von Stabilität wesentlich zu verbreitern, ihn konkrete Pläne und Projekte dahinter nicht nur als Stabilität für ausschließlich stra- stecken, die teilweise bereits angelaufen sind, tegische Eigeninteressen zu interpretieren wird im vierten Teil aufgezeigt. Zuvor wird je- und zu gebrauchen, da die Anwendung die- doch die europäische Außen- und Entwick- ses „alten Stabilitätsbegriffs” zu Lasten der lungspolitik vor dem „Arabischen Frühling“ gesellschaftlichen Entwicklung in den Trans- skizziert, um einen Überblick über bisher exi- formationsstaaten ging. Das Ringen um Sta- stierende Strukturen in diesen Politikfeldern bilität zur Gewährleistung der deutschen und zu bieten. europäischen Eigeninteressen in der Region wurde teilweise auf den Schultern der jeweili- III. Europäische Außen- und Entwick- gen Bevölkerung ausgetragen und dabei ihre lungspolitik vor dem „Arabischen Früh- Bedürfnisse vergessen, was auch als ein Aus- ling“ löser für die momentanen Umwälzungen gilt. Diese Entwicklungen zeigen unweigerlich, Im Jahr 1995 wurde im Rahmen des gestar- dass der „alte Stabilitätsbegriff“ in einer aus- teten Barcelona-Prozesses die Euro-Mediter- schließlich sicherheitspolitischen Dimension rane Partnerschaft (EMP) mit dem Ziel der wohl keine Zukunft für außenpolitische Stra- Demokratisierung der nordafrikanischen und tegien im Nahen und Mittleren Osten haben nahöstlichen Staaten eingeleitet. Gründungs- wird. Für die deutsche und europäische mitglieder waren damals die 15 EU-Mitglieds- Außenpolitik kann es demnach kein Zurück staaten, darunter Deutschland, und zwölf zu diesen Praktiken geben, autoritär-repres- Mittelmeeranrainer: Marokko, Algerien, Tune- sive Regimes zu stützen. Der „neue Stabi- sien, Ägypten, Israel, Libanon, Syrien, Jorda- litätsbegriff“ muss ebenso die Bedürfnisse der nien, die palästinensischen Autonomie- Gesellschaften vor Ort einschließen und auf gebiete, Türkei, Zypern und Malta. In der Demokratisierung als Basis für Stabilität aus Schlusserklärung der Europa-Mittelmeer- dem jeweiligen Land heraus setzen. Für diese Konferenz von Barcelona erstreckt sich die Umdefinierung und den damit einhergehen- Partnerschaft auf vier Bereiche: die politische den Strategiewechsel deutscher und europäi- und Sicherheitspartnerschaft, die Wirtschafts- scher Nahostpolitik bieten die derzeitigen und Finanzpartnerschaft sowie die Partner-

211 Deutsches Orient-Institut Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

schaft im kulturellen, sozialen und menschli- liche Definition von Terrorismus, die bislang chen Bereich als auch eine Partnerschaft in fehlt. den Feldern Migration, soziale Integration, Ju- stiz und Sicherheit. Dass Deutschland und die EU ein langfristi- ges Interesse an Demokratisierung aufgrund Als konkrete Maßnahme wurde im Bereich damit einhergehender Stabilitäts- und Sicher- der politischen und Sicherheitspartnerschaft heitsinteressen haben müssten, wurde be- ein multilaterales Gesprächsforum unter Ein- reits im vorangegangenen Kapitel ausgeführt. schluss der Konfliktparteien des Nahostkon- Entwicklungszusammenarbeit mit autoritären flikts geschaffen, dessen Fundament zum Regimes hat sich spätestens seit Ende des Gründungszeitpunkt in der Aussicht auf einem Kalten Krieges als ineffektiv erwiesen, wes- aussichtsreichen israelisch-arabischen Frie- halb man neben diesem Strang vermehrt auf densprozess lag. Mit der Stagnation dieses Demokratieförderung als bisher vernachläs- Prozesses und seit dem Ausbruch der zwei- sigte Entwicklungsressource setzte und sie ten Intifada im Jahr 2000 kam die Partner- auch als verbindliches Ziel im EU-Vertrag schaft in diesem Bereich jedoch fast komplett festschreiben ließ. Im Zuge dieser Erkenntnis zum Erliegen, da ihr eine wesentliche Grund- wurde Demokratisierung zunehmend Teil der lage entzogen wurde. Insbesondere die ara- deutschen und europäischen Strategie im bischen Staaten sahen die Partnerschaft in Kampf gegen den internationalen Terroris- diesem Kontext nicht mehr als gewinnbrin- mus, die dabei an der Wurzel des Problems gend, da sie damit nur den für sie ungünsti- anpacken sollte. Nur mit Demokratie und gen Status quo zementiert hätte. Trotzdem Menschenrechten könne es in der Region konnte zumindest auf den unteren Ebenen Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Ent- eine Zusammenarbeit mit positiven Auswir- wicklung geben, so die Annahme Deutsch- kungen aufrechterhalten werden. lands und der europäischen Staatengemeinschaft. Ihre Förderung als Ziel Misstrauen seitens der Mittelmeeranrainer ge- durchzieht die Dokumente nahezu aller Poli- genüber der Europäischen Sicherheits- und tikfelder der EMP, wenngleich diese nur de- Verteidigungspolitik (ESVP) konnte durch ihre klaratorischen Charakter besitzen. Praktische graduelle Integration in diese erreicht werden, Instrumente zur Umsetzung finden sich in den was durchaus als Teilerfolg gewertet werden Bereichen II und III der Barcelona-Schlusser- kann. Sogar ein ESVP-Mittelmeerdialog kam klärung. Die EU verfolgte dabei zwei Ansätze: zustande, in dem die EU und die Mittel- meeranrainer bezüglich Konfliktverhütung Der erste Ansatz nimmt die Regierungen in und Krisenmanagement kooperierten. die Pflicht, indem er auf institutionelle Refor- men, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit Seit dem 11. September 2001 stand der und verantwortliches Regieren setzt. Einfluss Kampf gegen den internationalen Terrorismus übt die EU durch finanzielle Konditionierung vor allem im Rahmen der EMP auf der si- gegenüber den einzelnen arabischen Staaten cherheitspolitischen Agenda der EU. Zum aus, je nach tatsächlichem Fortschritt im poli- größten Teil entfielen die Instrumente und tischen Reformprozess. Zudem hat die EU Strategien in diesem Kampf gegen den inter- die Option, die Kooperation mit einzelnen nationalen Terrorismus auf das Politikfeld der Staaten teilweise oder komplett auszusetzen. inneren Sicherheit. Gleichzeitig schottete die Solche Suspensionsklauseln finden sich auch EU in diesem Sinne ihre Außengrenzen ab. in den Euro-Med-Assoziierungsabkommen, Schon 1999 erklärte die EU in Amsterdam die mit einzelnen Staaten der Region verein- das Ziel, in Europa einen Raum der Freiheit, bart wurden. der Sicherheit und des Rechts (RFSR) zu schaffen, was sich unter den Entwicklungen Der zweite Ansatz versucht, gesellschaftspo- der folgenden Jahre als nicht immer kompati- litischen Einfluss über einen Zugang zu den bel mit den Intentionen der EMP heraus- Zivilgesellschaften geltend zu machen. Je- stellte. Das Interesse an Sicherheit schien im doch entfernte sich die EU über die Jahre zu- Kampf gegen den internationalen Terrorismus nehmend von Programmen expliziter alle Mittel zu rechtfertigen. Gerade dies war Demokratisierungs- und Menschenrechtspo- aber eine Fehlentwicklung, der Deutschland litik. Stattdessen dominierten mit der Zeit Pro- und die EU hätten entgegenwirken müssen, jekte zur Förderung des kulturellen Dialogs. beispielsweise durch eine universell verbind- In 2005 gaben sich die Zivilforen innerhalb der

Deutsches Orient-Institut 212 Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

EMP einen lockeren institutionellen Rahmen, reich der Vertrauensbildung zwischen Europa indem sie die Euro-Med Non-Governmental und arabischen Staaten konnte sie einige Er- Platform gründeten. Stärker politisch ausge- folge nachweisen. Die ENP zielte zunächst richtete Programme fanden sich dem ge- nur auf die östlichen Nachbarstaaten ab, ehe genüber außerhalb des EMP-Rahmens in der sie auch auf die Mittelmeeranrainer ausge- überregionalen European Initiative for De- dehnt wurde. Die Euro-Med- mocratisation and Human Rights. Die Fehl- Assoziierungsab-kommen mit einzelnen entwicklung dieses zweiten Ansatzes lag Staaten der Region werden dabei durch so darin, dass sich die EU in ihrer Kooperation genannte Aktionspläne erweitert, die wesent- mit der Zivilgesellschaft lediglich auf säkulare, liches Instrument der ENP sind und den bila- westlich orientierte Eliten der arabischen teralen Beziehungen mit den Nachbarländern Staaten stützte, die keinesfalls einen reprä- dienen sollen. Die Aktionspläne, worin Prio- sentativen Querschnitt durch die Gesellschaft ritäten für politische und wirtschaftliche Re- boten. Moderate islamistische Organisatio- formen festgelegt werden, werden nen, die Pluralismus und Gewaltlosigkeit re- gemeinsam mit den Partnerstaaten ausge- spektieren, hätten dafür in eine Partnerschaft handelt und sind auf drei bis fünf Jahre aus- einbezogen werden müssen. Als problema- gelegt. Die gemeinsame Aushandlung tisch hat sich zudem herausgestellt, dass vermindert die Dominanz der EU, garantiert keine Einigkeit über die Rolle der Zivilgesell- eine den landesspezifischen Situationen an- schaft innerhalb der EMP bestand. gepasste Reformagenda und stellt mehr Ei- genverantwortung für die regionalen Staaten Auf dem Weg zu einer erfolgreichen EMP und Kooperationsbereitschaft in Aussicht. haben sich mehrere Probleme aufgetan: Der erfolglose Osloer Friedensprozess zur Lö- Lange setzte man innerhalb der EU auf wirt- sung des Nahostkonflikts, die starke Asym- schaftliche Liberalisierung, die Basisimpulse metrie der Partnerschaft zwischen der EU als für politische Reformen geben sollte. Doch großem Akteur und den einzelnen Mittel- genauso lange bestätigte sich diese Hoffnung meeranrainern, der Barcelona-Prozess als nicht. Wirtschaftliche Reformen gingen gleich- weitgehende Unbekannte bei den Bevölke- zeitig mit verstärkter staatlicher Repression rungen der EU und der Mittelmeerländer, einher. Dabei hat sich die EU doch recht lern- komplizierte und höchst bürokratische Struk- willig gezeigt, indem sie Erfahrungen aus der turen, unzureichend ausgebildetes Personal, erfolgreichen EU-Erweiterung und der Erfolg- augenscheinlich unüberwindbare Interes- losigkeit der EMP in ihre zukünftige Politik in senskonflikte sowohl zwischen EU und Part- Nordafrika und Nahost einfließen ließ. Mit der nerschaftsländern als auch innerhalb beider ENP versuchte die EU, mehr positive Anreize Lager, das dem Partnerschaftsprinzip diame- zur Einleitung politischer Transformationspro- tral gegenüberstehende Prinzip der Konditio- zesse bei den herrschenden Eliten zu schaf- nalisierung bzw. Sanktionierung, mehrere fen. parallel laufende und sich teils gegenseitig hemmende Instrumente der „westlichen Staa- Im Jahr 2008 wurde die Union für das Mittel- tengemeinschaft“ für den Mittelmeerraum, der meer ins Leben gerufen, die in die Euro-Me- nicht immer geglückte Spagat zwischen Men- diterrane Partnerschaft eingebettet ist und im schenrechtsdurchsetzung und Nichteinmi- März 2010 erstmals ihre Arbeit aufnahm. Das schung in die Angelegenheiten souveräner Ziel der stark projektorientierten Union ist es, Staaten sowie die Misstrauen und Ablehnung im Mittelmeerraum Frieden, Stabilität und gegen Europa geschürte Irakinvasion der Wohlstand zu schaffen. Sie unterstützt wirt- USA im Jahr 2003 als auch die Anschläge schaftliche Integration und demokratische Re- vom 11. September 2001 und danach ver- formen in den 16 EU-Nachbarländern. Die stärkte europäische Tendenzen hin zu Isla- wesentlichen Felder, in denen sie Projekte ini- mophobie. Im Jahr 2004 legte die EU ihr tiiert und unterstützt, sind Wirtschaft, Umwelt, neues Konzept der Europäischen Nachbar- Energie, Gesundheit, Migration und Kultur. schaftspolitik (ENP) zur Gestaltung ihrer Be- Die Arbeit der Mittelmeerunion begann ziehungen mit den Nachbarländern vor. äußerst zögerlich. Das lag zunächst daran, Insgesamt musste der Demokratisierungspo- dass es nicht gelang, die wesentlichen Insti- litik der EU im Rahmen der Euro-Mediterra- tutionen für die Union einzurichten. Erst zwei nen Partnerschaft bis dahin eine erfolglose Jahre später – im März 2010 – konnte das Bilanz konstatiert werden. Lediglich im Be- Sekretariat der Union seine Arbeit aufneh-

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men. Ein Grund dafür lag auch in Israels Mi- gend notwendig, deren Bereitstellung mo- litäroperation im Gazastreifen zum Jahres- mentan oberste Priorität hat. In Syrien ist die wechsel 2008/09, in dessen Folge sich die Aussicht auf einen demokratischen Wandel arabischen Staaten nicht in der Lage sahen, sehr unsicher. Deshalb konzentrieren sich die eine Zusammenarbeit mit Israel fortzusetzen. nachfolgend aufgeführten Maßnahmen auf Die Spannungen im Nahen Osten wirken sich Tunesien und Ägypten. bis heute auf die Arbeit der Mittelmeerunion aus. Ein geplantes Gipfeltreffen der Union IV.1 Kurzfristige Maßnahmen musste bereits zweimal – im Juni 2010 und im November 2010 – deswegen abgesagt Deutsche Unterstützung: Die kurzfristige Un- werden. Daraufhin trat im Januar 2011 der bis terstützung der deutschen Bundesregierung dahin amtierende Generalsekretär der Union, für die Länder Tunesien und Ägypten im de- der Jordanier Ahmed Khalef Masadeh, mit der mokratischen Umbruch hat sich im Wesentli- Begründung mangelnder Handlungsfähigkeit chen auf die Bereitstellung finanzieller Mittel der Union im Zuge der damaligen Umwälzun- und rhetorische Signale bezogen. Das Bun- gen in Tunesien und Ägypten zurück, was für desministerium für wirtschaftliche Zusam- die noch junge Mittelmeer-union einen herben menarbeit und Entwicklung (BMZ) hat in Dämpfer bedeutete. Von einem viel verspre- diesem Rahmen drei Fonds eingerichtet und chenden Beginn kann also nicht die Rede für diese finanzielle Mittel bereitgestellt: sein. Im Gegenteil, noch bevor erste kleine Erfolge verbucht werden konnten, stellt sich Demokratieförderungsfonds bereits die Frage nach der Zukunft der Union für das Mittelmeer. Die Hauptintention des Fonds besteht in der Unterstützung des demokratischen IV. Unterstützung Deutschlands und der Wandels durch Beratung bei struktur- und EU für die Transformationsstaaten ordnungspolitischen Herausforderungen Ägypten und Tunesien vor Ort.

Die Kernbereiche, auf die sich die deutsche 3,25 Mio. EUR werden für politische Stif- Unterstützung für die Transformationspro- tungen und kirchliche Hilfswerke vor Ort zesse in den beiden Ländern der erfolgreich mobilisiert, deren Aufgabe darin besteht, gestürzten Regimes Ben Alis und Mubaraks der Zivilgesellschaft bei ihrer Organisie- konzentriert, sind dabei Good Governance rung und dem Aufbau unabhängiger politi- und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Par- scher Parteien unter die Arme zu greifen. tizipation, Bildung und Ausbildung, Medien- und Meinungsfreiheit, Arbeit und Beschäfti- Zudem wird der Fonds vom BMZ gung, sozial- und marktwirtschaftlich orien- nochmals mit 2,0 Mio. EUR versorgt, um tierte Wirtschaftstransformation, Stärkung der über die Deutsche Gesellschaft für Inter- Zivilgesellschaft sowie Aufbau und Stärkung nationale Zusammenarbeit (GIZ) ein über- demokratischer Kontrolle des Sicherheitssek- regionales Projekt zur Unterstützung tors. Daran orientieren sich bereits initiierte demokratischer Reformen in der gesam- und geplante Maßnahmen zur Unterstützung ten Region zu fördern. Das Programm zielt demokratischer und sozioökonomischer auf eine stärkere Beteiligung von Jugend- Transformation in Ägypten und Tunesien. lichen an politischen Prozessen und ge- sellschaftlichen Reformen sowie eine Die Entwicklungen in Libyen und Syrien sind Stärkung von Zivilgesellschaft, öffentlicher in einem momentanen Zwischenstadium noch Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und Justiz. zu frisch und ungewiss, als dass es hier be- reits länger angelegte Aktionspläne gäbe. In Bildungsfonds anderen Staaten wie Marokko oder Jordanien scheinen die Proteste und umfassendere Um- Dieser Fonds zielt auf die Unterstützung brüche im Zuge des „Arabischen Frühlings“ eines Regionalprogramms, insbesondere durch Reformmaßnahmen der Monarchen in strukturschwachen Regionen, zur ver- gestoppt. In wieder anderen Staaten wurden besserten Qualifizierung und erhöhten Be- die Proteste durch Gewalt erstickt. In Libyen schäftigung junger Menschen, um ihnen ist die NATO noch mit militärischen Operatio- erste oder neue Bildungs- und Entwick- nen aktiv. Dazu ist humanitäre Soforthilfe drin- lungsperspektiven zu eröffnen.

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EU-Außengrenzenfonds und Europäischen 8,0 Mio. EUR für 2011 bis 2014 stellt das Flüchtlingsfonds, garantiert Ägypten und Tu- BMZ dafür bereit. Arbeitsmarktorientierte nesien Besuche der Hohen Vertreterin der EU Aus- und Weiterbildungsangebote sowie für Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Kom- Existenzgründungsprogramme für junge missionsvizepräsidentin und organisiert ein Menschen stehen bei diesem Projekt im internationales Koordinierungstreffen als Sig- Mittelpunkt, an deren Ausführung sowohl nale zur Unterstützung des demokratischen die GIZ mit ihren Partnern und der privaten Übergangs.5 Wirtschaft als auch die Außenhandels- kammern und deutsche Unternehmen vor Diese neue Partnerschaft, die mittlerweile von Ort beteiligt sind. den Staats- und Regierungschefs gebilligt wurde, umfasst dabei die drei grundsätzlichen Wirtschaftsfonds Säulen Demokratisierungsprozess und Insti- tutionenaufbau, eine engere Partnerschaft mit Ziel des Regionalfonds ist die Förderung den örtlichen Bevölkerungen und eine wirt- von Kreditvergaben durch Mikrofinanzin- schaftliche Entwicklung, die auf Nachhaltig- stitutionen vor Ort an Kleinst-, Klein- und keit und möglichst breitenwirksames mittlere Unternehmen, damit diese neue Wachstum ausgerichtet sein soll. Arbeitsplätze schaffen können. Zu bereits umgesetzten Projekten mit Part- Das BMZ stellt für die Refinanzierung von nerorganisationen in Tunesien und Ägypten Mikrofinanzinstitutionen 20,0 Mio. EUR zur gehört auch die Einrichtung der so genannten Verfügung, die über die KfW-Entwick- „Tahrir-Lounge“ in Kairo als Anlaufpunkt vie- lungsbank vergeben werden. ler Akteure des demokratischen Wandels im Land, z.B. für Aktivisten von Nichtregierungs- Zudem stellt die BMZ-Menschenrechtsfazilität organisationen und Menschenrechtsgruppen, für Nichtregierungsorganisationen im Jahr Blogger etc. Zudem unterstützt das Auswär- 2011 bis zu 40% ihrer finanziellen Mittel – ma- tige Amt Filmemacher, die mittels Kurzfilmen ximal 3,0 Mio EUR – für die Förderung von vor anstehenden Wahlen die Menschen über Projekten zur Stärkung von Menschenrechten demokratische Rechte aufklären, so ge- in der Region bereit. Fachkräfte des Zivilen nannte „Freiheitsbusse“, die der ländlichen Friedensdienstes unterstützen damit lokale Bevölkerung politische Bildung bringen sowie Menschenrechtsaktivisten oder für lokale Reisen der Jahn-Behörde und der Gedenk- Menschenrechtsorganisationen werden Trai- stätte Hohenschönhausen nach Ägypten und ningsmaßnahmen gefördert. Tunesien, um Erfahrungen bei der Aufarbei- tung von Unrechtsregimes mit den Menschen Auf journalistischer Ebene ist es höchste Pri- vor Ort zu teilen.6 orität, die Presse- und Meinungsfreiheit in der Region zu fördern. Dies geschieht durch ge- IV.2 Mittel- und längerfristige Maßnahmen zielte Weiterbildungsangebote der Deutsche Welle-Akademie, deren Zielgruppe freie Jour- Deutsche Unterstützung: Auf der mittelfristi- nalisten, Blogger, Jounalistikstudierende und gen Agenda der Bundesregierung bzw. des Nutzer von sozialen Netzwerken vor Ort dar- BMZ stehen ebenso bereits einige Maßnah- stellen. men. Die deutsche Entwicklungszusammen- arbeit will die Förderung bereits bestehender Europäische Unterstützung: Im Rahmen einer Menschenrechtsinstitutionen intensivieren neu angedachten „Partnerschaft für Demo- und den Aufbau weiterer Kapazitäten und kratie und gemeinsamen Wohlstand” gewährt Netzwerke in diesem Bereich unterstützen. die EU den Transformationsstaaten 30 Mio. Ebenfalls soll die politische Teilhabe, insbe- EUR humanitäre Soforthilfe, erleichtert die sondere der jungen Generation, verstärkt und konsularische Zusammenarbeit und Evaku- freie Medien sowie unabhängiger Journalis- ierung von Staatsbürgern, öffnet die beiden mus gefördert werden. Diese Aufgabe kommt mit insgesamt 25 Mio. EUR ausgestatteten den politischen Stiftungen zu, ebenso wie

5 Vgl. Europäische Kommission / Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Partner- schaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, Europäische Kommission, Brüssel 2011. 6 Dies ist nur ein Teil der bereits getroffenen Maßnahmen. Für weitere Informationen dahingehend siehe auch: Auswärtiges Amt: Der Umbruch in Ägypten und Tunesien. Vorbild für die arabische Welt – Chance für Europa, Berlin 2011.

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eine beratende Funktion gegenüber neu ent- investiert werden. In seinem Strategiepapier stehenden politischen Parteien und eine be- vom August 2011 erkennt das Auswärtige Amt gleitende Funktion bei anstehenden bzw. die Bundesregierung zudem die Kom- Wahlprozessen. Um Frauen auf längere Sicht plexität der momentanen Situation, die einen besser in wirtschaftliche Strukturen und Pro- klugen Umgang, einen anhaltenden Lernpro- zesse zu integrieren, soll ein Netzwerk von zess und eine Überprüfung aller Instrumente Unternehmerinnenverbänden aufgebaut wer- erfordere. Zudem hat sie darin angedeutet, den. Die Einrichtung einer Sonderinstitution den Fokus ihres Engagements - nicht zuletzt für Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt- aufgrund begrenzter Ressourcen und Kapa- schaft (Public Private Partnerships) zielt dar- zitäten - vorerst auf Tunesien und Ägypten zu auf ab, die lokale Wirtschaft zu stabilisieren beschränken. Zudem verspricht sich die Bun- und Anreize für ausländische Investoren zu desregierung davon eine Modellfunktion. schaffen. Zudem sollen im Bildungsbereich mittels eines Sonderprogramms zur Hoch- Europäische Unterstützung: Auch auf eu- schulförderung, dessen Umsetzung der Deut- ropäischer Ebene haben die EU-Mitglieds- sche Akademische Austauschdienst (DAAD) staaten mittel- und langfristige Unterstützung übernimmt, entwicklungsorientierte Studi- für die Transformationsprozesse in Aussicht engänge und Stipendienprogramme aufge- gestellt. Dies betrifft vor allem Hilfe bei der baut werden. Zudem soll der DAAD dafür Durchführung von Wahlen, Maßnahmen zur sorgen, dass die Qualität der bestehenden Erholung der Wirtschaft und Wiederaufbau Kooperationshochschulen in Tunesien, Ägyp- des Tourismussektors sowie Maßnahmen zur ten, Syrien und Jordanien etabliert wird. einvernehmlichen Regelung von Migration und Mobilität.8 Darüber hinaus hat das Auswärtige Amt mit den Staaten Tunesien und Ägypten so ge- Zwischen 2011 und 2013 wird die Europäi- nannte Transformationspartnerschaften ins sche Nachbarschaftspolitik zudem zusätzli- Leben gerufen, die sich an den landesspezi- che finanzielle Mittel von 1,24 Mrd. EUR zu fischen Bedürfnissen und Prioritäten orientie- den bereits eingeplanten 5,7 Mrd. EUR frei- ren. In deren Rahmen sind bereits zahlreiche setzen, jedoch für den gesamten Nachbar- Projekte in Zusammenarbeit mit ägyptischen schaftsraum, nicht nur für die arabischen bzw. tunesischen und deutschen Nichtregie- Transformationsstaaten. Diese Gelder sollen rungsorganisationen auf den Weg gebracht insbesondere auf den Ausbau der interkultu- worden, die allen voran auf die Förderung des rellen Beziehungen, die sozioökonomische demokratischen Dialogs, unabhängige Men- Entwicklung in ländlichen Gebieten, den Fort- schenrechtsarbeit und freie Medienarbeit ab- schritt beim Aufbau von Institutionen und die zielen.7 Ferner sollen jeweils für die Jahre Erfüllung der Millenniums-Entwicklungsziele 2012 und 2013 im Haushalt des Auswärtigen (MDG) hinarbeiten.9 Amtes 50 Mio. EUR für die Transformations- prozesse in der Region bereitgestellt werden. Um Partnerstaaten bei der Lösung kurzfristi- ger finanzieller Probleme unter die Arme zu Speziell in Bezug auf Ägypten hat die Bun- greifen, ist es möglich, dass makrofinanzielle desregierung zuletzt einen Schuldenerlass in Hilfen bereitgestellt werden. Zudem soll das Höhe von 240 Mio. EUR zugesagt. Die Schul- Zuständigkeitsgebiet der Europäischen Bank densumme soll stattdessen in beiderseitig für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) vereinbarte Reformmaßnahmen, insbeson- auf die Staaten im Mittelmeerraum ausge- dere den Aufbau demokratischer Institutionen, dehnt werden und die maximale Kreditver-

7 Für nähere Informationen zu den Transformationspartnerschaften mit Tunesien und Ägypten siehe die Ho- mepage des Auswärtigen Amtes www.auswaertiges-amt.de. 8 Vgl. Europäische Kommission / Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Partner- schaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, Europäische Kommission, Brüssel 2011. 9 Die acht Millenniums-Entwicklungsziele wurden im Jahr 2000 zusammen mit 21 Unterzielen und 60 Indi- katoren zu ihrer Messung auf dem UN-Millenniumsgipfel beschlossen. Dazu gehören die Beseitigung der extremen Armut und des Hungers, die Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung, die För- derung der Gleichstellung der Geschlechter und Ermächtigung der Frauen, die Senkung der Kinder- sterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheit von Müttern, die Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten, die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit und der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft. Siehe dazu: Deutscher Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen: Offizielle Liste der Indikatoren für die Millenniums-Entwicklungsziele, http://www.un.org/Depts/german/millen- nium/MDG-Indikatoren.pdf, New York 2010, abgerufen am 26.08.2011.

Deutsches Orient-Institut 216 Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

gabe der Europäischen Investitionsbank (EIB) Stützung autoritärer Regierungssysteme in um 1 Mrd. EUR auf 6 Mrd. EUR zwischen der Region ihre Interessen auf Dauer erfolg- 2011 und 2013 angehoben werden. reich verfolgen zu können. Zudem würde sie Zudem engagierten sich die EU-Mitglieder sich in der politischen Öffentlichkeit mit ihren Deutschland, Großbritannien, Frankreich und permanenten Forderungen nach Demokratie, Italien im Rahmen des G8-Gipfel von Deau- Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ville im Mai 2011 für das dort beschlossene selbst diskreditieren und bei den Bevölkerun- Deauville Partnership Programme, das so- gen der Region erheblich an Glaubwürdigkeit wohl ein politisches als auch ein ökonomi- einbüßen. sches Maßnahmenpaket umfasst. Ersteres zielt auf die Unterstützung von Reformen für Will sie sich unangenehme Folgen in Zukunft einen demokratischen Übergang, während ersparen, muss die deutsche und europäi- letzteres parallel Wirtschaftsreformen und sche Politik auf die Karte des langfristigen de- nachhaltiges Wachstum fördern soll. An den mokratischen und wirtschaftlichen Wandels in etwa 20 Mrd. US-Dollar umfassenden Hilfen den arabischen Staaten setzen. Sicherlich beteiligen sich neben Weltbank, Internationa- bringen diese Entwicklungen eine beträchtli- lem Währungsfonds und anderen auch eu- che Menge an Ungewissheit und Unsicherheit ropäische Finanzinstitutionen wie EIB bzw. mit sich. Auf lange Sicht könnten diese Ent- EBRD. Der Betrag ist angedacht für den Zeit- wicklungen aber weitaus mehr Sicherheit be- raum zwischen 2011 und 2013 und wird im züglich einer erfolgreichen Verfolgung Rahmen bereits bestehender Formate und In- deutscher und europäischer Interessen in der stitutionen verwendet. Region entsprechen.

V. Ausblick und Perspektiven Es ist richtig, dass die deutsche und europäi- sche Politik nicht nur auf humanitäre Sofort- Die Entwicklungen, die die arabischen Um- und Stabilisierungsmaßnahmen setzt, son- brüche mit sich bringen, haben keine Auswir- dern bereits angedeutet hat, auch mittel- und kungen auf die deutsche und europäische längerfristige Maßnahmen zur Unterstützung Interessenagenda an sich. Die Interessen, die der Prozesse demokratischer und wirtschaft- Deutschland und die EU vor den aktuellen licher Transformation in der Region anzuvi- Entwicklungen in der Region hatten, bleiben sieren. Zudem muss sie den Zeitraum nach wie vor bestehen. Was sich aber ändert, zwischen Beginn des Barcelona-Prozesses ist jetzt das plötzliche Auftreten einer einmali- 1995 und dem Beginn des „Arabischen Früh- gen Gelegenheit, nach Jahrzehnten überwie- lings” kritisch unter die Lupe nehmen, Ver- gend autoritärer Herrschaft in der Region die säumnisse aufdecken, aus vergangenen Gunst der Stunde zu nutzen und die arabi- Fehlern Lehren ziehen, diese Erfahrungen in schen Transformationsgesellschaften bei ihre aktuellen Entscheidungen einbeziehen ihrer Forderung nach mehr politischer Mit- und ihre bisherigen Programme gegebenen- sprache und Gehör, Demokratie und Rechts- falls korrigieren und anpassen. staatlichkeit, Wahrung von Menschenrechten sowie der Eröffnung neuer sozioökonomi- Allzu viel Zeit sollte sie sich dabei auch nicht scher Perspektiven tatkräftig zu unterstützen lassen, denn es ist wahrscheinlich, dass in und damit den Grundstein für das vordring- Zukunft eher mehr als weniger Akteure in der lichste deutsche und europäische Interesse in Region auf den Plan treten, die ihren Hand- der Region zu legen, nämlich nachhaltige Sta- lungsspielraum einschränken werden. Wie bilität durch demokratische Strukturen und sehr andere Akteure den Handlungsspielraum Prozesse. Dass dieses primäre Ziel die Basis deutscher und europäischer Politik eingren- für die Vermeidung oder Lösung vieler Nach- zen, wird vor allem deutlich an den diversen folgeprobleme ist, wurde oben gezeigt. Sonderbeziehungen, die z.B. die USA oder ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich Nachhaltige Stabilität kann nur durch langfri- oder Großbritannien mit Staaten in der Re- stig angelegte wirtschaftliche und politische gion hegen. Transformationsprozesse in den Staaten der Region verwirklicht werden. Deshalb sollte Dass ein Ansatz, der für alle Staaten in der sich die deutsche und europäische Politik Region gleichermaßen Anwendung findet, nicht der Illusion hingeben, durch kurzfristig kontraproduktiv ist, hat sich während der EMP gedachte Stabilisierungsmaßnahmen zur gezeigt. Die Mittelmeerländer, die die EU um-

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geben, sind äußerst heterogen. Der einheitli- Eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland che Ansatz förderte massive Interes- sens- bzw. der EU und den arabischen Staaten im konflikte zwischen den Mittelmeeranrainern militärischen und im Bereich der inneren Si- zutage, beispielsweise zwischen relativ res- cherheit sollte sich am Grad der umgesetzten sourcenreichen Staaten wie Algerien und auf Demokratisierung des militärpolitischen Sek- Finanzhilfen angewiesene Staaten wie Tune- tors orientieren. Militär darf kein Instrument sien und Marokko. Hier hat sich gezeigt, dass der Machtpolitik eines Regimes sein, insofern große Lösungen nicht greifen, sondern kleine, unterscheiden sich die Sicherheitskulturen aber beharrliche und effektive Schritte ge- demokratisch und autoritär regierter Staaten. gangen werden sollten. Dies sollte berück- Der militärpolitische Sektor muss zuerst ziviler sichtigt werden, indem länderspezifische Partizipation und demokratischer Kontrolle Ansätze gefunden werden. zugänglich gemacht werden.

In Zukunft wird die EU auch einen intensi- Auch der Einbezug zur politischen Realität veren Dialog mit anderen geopolitischen Ak- zweifellos dazugehörender islamistischer Ak- teuren mit gewichtigem Einfluss in der Region teure in partizipative, demokratische Struktu- suchen müssen. Die USA, Russland, China, ren dürfte die Europäer ein gewisses Maß an die Türkei, Iran oder die arabischen Golfstaa- Überwindung kosten, aber er ist absolut not- ten sind hier nennenswerte Staaten, die ihre wendig. Er dürfte auf lange Sicht islamistische Einflusssphären in der Region besitzen und Bewegungen zu mehr politischem Pragmatis- diese auch zukünftig wahren wollen. Demzu- mus drängen und die Terrorgefahr in Europa folge werden Deutschland und die EU eine und Deutschland verringern. Außerdem sollte neue Dialogstrategie im Umgang mit unlieb- vermieden werden, einen indigenen Zusam- samen Gesprächspartnern suchen müssen. menhang zwischen dem Engagement politi- Als Beispiel sei Iran genannt, dessen Einfluss scher Islamisten und einer erhöhten in der Region stetig zunimmt. Mit bleibender Radikalisierung der jeweiligen Gesellschaften Blockadehaltung der „westlichen Staatenge- herzustellen. In vielen arabischen Ländern meinschaft“ dürfte sich der Konflikt mit Iran gehören islamistische Akteure zu einem zivil- nicht lösen lassen und er erschwert gleich- gesellschaftlichen Umfeld, verorten sich als zeitig die Kooperation mit Staaten wie dem Li- pluralistische, wandlungsfähige und kon- banon oder Syrien. Auch die Diskussion um struktiv am Wandlungsprozess partizipie- eine eventuelle militärische Aufrüstung Saudi- rende Akteure und müssen als politische Arabiens ist hierbei wohl ein irritierendes Sig- Alternativen und Realitäten wahr und ernst nal der Bundesregierung, die sich durch die genommen werden. Dies beweist nicht nur öffentliche Diskussion um das umstrittene und die Muslimbruderschaft in Ägypten, die auf- nicht eindeutig belegte Panzergeschäft mit grund ihres sozialen, politischen und karitati- der größten Golfmonarchie in Erklärungsnot ven Engagements längst zu einer wichtigen brachte. und zu integrierenden Größe in der politi- schen Landschaft Ägyptens geworden sind. Eine Herausforderung für die Bundesregie- Die Formel, Muslimbrüder würden zu einem rung wird gleichzeitig darin bestehen, den islamischen Staat und damit zu einer anti- schmalen Grat zwischen hinreichender Un- westlichen und radikalen Ausrichtung sich terstützung und der Wahrnehmung von transformierender Systeme führen, erscheint außen erzwungener Demokratisierung zu fin- eindimensional, pauschalisierend und ent- den. Die Initiatoren und Teilhaber an den ara- behrt nicht nur in Ägypten jeglicher Grund- bischen Umbrüchen wollen am Ende nicht lage. Allerdings wird die Rolle der Religion in den Eindruck haben, man habe sie ihrer „Re- den Transformationsstaaten eine weiterhin volution” beraubt. Dementsprechend wird hier gewichtige Rolle spielen. Ein quasi-automati- seitens deutscher und europäischer Außen- scher Zusammenhang zwischen Islam, Isla- und Entwicklungspolitik ein gewisses Maß an mismus und Terrorismus besteht aber Zurückhaltung außerordentlich wichtig sein, keineswegs. um dem Vorwurf vom „westlichen Werteimpe- rialismus“ und „zwanghaft aufoktroyierter De- Die Tatsache, dass demokratische Systeme mokratie“ zu entgehen. Dieses Erfordernis ihre Konflikte öfter friedlich lösen als autoritäre scheint die Bundesregierung erkannt zu Regime und durch ihren partizipativen Cha- haben, denn im Strategiepapier des Auswär- rakter auch Minderheiten eine Stimme schen- tigen Amtes vom August 2011 bezieht sie sich ken, dürfte die arabischen Staaten weitaus darauf. stabiler machen, vor allem auch auf lange

Deutsches Orient-Institut 218 Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Sicht. Damit könnten sich auch Flüchtlings- Dabei sollte die deutsche und europäische ströme aus Krisenregionen und somit die Ge- Politik diese Entwicklungen in Nordafrika, fahr islamistisch motivierter Gewalt und Nah- und Mittelost weniger als Risiko und Un- organisierter Kriminalität vermeiden lassen. sicherheitsfaktor interpretieren, als vielmehr im Sinne einer Chance oder einer Herausfor- An dieser Stelle muss an die Bundesregie- derung zur Nutzung einer historischen Gele- rung und die Europäische Union appelliert genheit, die ihnen die arabischen werden, mehr auf Nachhaltigkeit ihrer politi- Gesellschaften im Wandel momentan bieten. schen Entscheidungen zu setzen, anstatt nur kurzfristige Auswirkungen im Blick zu haben. Jan Zimmermann

VI. Literaturangaben

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Deutsches Orient-Institut 220 Vorstand und Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung

Vorstand der Deutschen Orient-Stiftung Sheikha Abdulla Al Misnad, Ph.D. Präsident der Qatar University Stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes Dr. Kilian Bälz, LL.M Henry Hasselbarth Vice President North & Central Europe (a. D.) Emirates Airlines Oliver Berben Geschäftsführer Dr. Michael Lüders MOOVIE - the art of entertainment GmbH Islamwissenschaftler Mitglied des Beirates im NUMOV Dr. Ralf Brauksiepe Michael Lüders Nahostberatung Parlamentarischer Staatssekretär Mitglied des Deutschen Bundestages Helene Rang Geschäftsführender Vorstand des NUMOV Peter Brinkmann Helene Rang & Partner Journalist

Weitere Mitglieder des Vorstandes Jürgen Chrobog Vorsitzender des Vorstandes His Excellency Ali Bin Harmal Al Dhaheri BMW Stiftung Herbert Quandt Chairman of the Executive Board of Governors Abu Dhabi University Thomas Ellerbeck Mitglied des Beirates im NUMOV Martin Bay Direktor Unternehmenskommunikation und Politik Deutsche Bahn International Vice Chairman Qatar Railways Prof. Dr. Friedhelm Gehrmann Development Co. Steinbeis Universität Berlin Institut “Global Consulting and Government” Prof. Dr. Christina von Braun Vorsitzende des Lehrstuhls für Kulturgeschichte Abdurrahim Güleç und Gender Studies Stellv. Geschäftsführer im NUMOV Humboldt Universität zu Berlin Kulturwissenschaftliches Seminar Stephan Hallmann ZDF Zweites Deutsches Fernsehen Elke Hoff, MdB HR Politik und Zeitgeschehen Mitglied des Deutschen Bundestags Aussenpolitik

Saffet Molvali Dr. Peter Klaus Eren Holding A.S. Mitglied des Vorstandes der KfW a.D.

Dr. Gunter Mulack Dr. Christian Koch Direktor und Mitglied des Vorstandes Direktor für Internationale Beziehungen Gulf Research Center Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Burkhardt Müller-Sönksen, MdB Mitglied des Deutschen Bundestags Bernd Romanski Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes im NUMOV Prof. Detlef Prinz Mitglied des Vorstands HOCHTIEF Solutions AG Inhaber PrinzMedien Abdulaziz Sager Chairman Dr. Nicolas Christian Raabe Gulf Research Center Vorstand NUMOV Juniorenkreis

Dr. Gerhard Schäfer Gerold Reichle Leiter Wirtschaft und Politik (a. D.) Leiter der Abteilung Luft- und Raumfahrt Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Prof. Dr. Susanne Schröter Dr. Gerhard Sabathil Institut für Anthropologie / Exzellenz-Cluster Direktor für Strategie, Koordination und Analyse „Herausbildung normativer Ordnungen“ Generaldirektion Außenbeziehungen Relex-L Goethe-Universität Frankfurt Europäische Kommission

Prof. Dr. Rainer Schwarz Prof. Dr. jur. Dr. phil. Peter Scholz Sprecher der Geschäftsführung Vizepräsident Amtsgericht Tiergarten Flughafen Berlin-Schönefeld GmbH Honorarprofessor der Freien Universität Berlin

Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung Oltmann Siemens Repräsentant der Weltbank a.D. Präsident Dr. Max Stadler, MdB Günter Gloser, MdB Parlamentarischer Staatssekretär Mitglied des Deutschen Bundestags Dr. Willi Steul Stellvertretender Präsident Intendant des Deutschlandradio

Prof. Dr. Mathias Rohe Juergen Stotz Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Deutsches Nationales Komitee des Weltenergierates (DNK) Juristische Fakultät RA Rainer Wietstock weitere Mitglieder des Kuratoriums PricewaterhouseCoopers Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Prof. Dr. Abdul Ghaffar Yousef Präsident der Kingdom University in Bahrain

Deutsches Orient-Institut 221 Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins NUMOV

Vorstand des Nah- und Mittelost- Dr. Bernd Eisenblätter Mitglied der Geschäftsführung Vereins- NUMOV Deutsche Gesellschaft für Internationale Zu- sammenarbeit (GIZ) GmbH Ehrenvorsitzender Joachim Enenkel Dr. Gerhard Schröder Vorsitzender des Vorstandes Bundeskanzler a.D. Bilfinger Berger SE

Geschäftsführender Vorstand Dieter Ernst Inhaber Helene Rang RWL Water Group Inhaberin Helene Rang & Partner Jürgen Fitschen Mitglied des Vorstandes Vorsitzender Deutsche Bank AG

Martin Bay Michael Glos, MdB Qatar Railway Development Co. Bundesminister für Wirtschaft und DB International Technologie a.D. Mitglied des Deutschen Bundestags Stellvertretende Vorsitzende Marc Hall Dr. Martin Herrenknecht Geschäftsführer Bayerngas GmbH Vorsitzender des Vorstandes Herrenknecht AG Elke Hoff, MdB Mitglied des Deutschen Bundestags Dr. Norbert Kloppenburg Mitglied des Vorstandes Joachim Hörster, MdB KfW Bankengruppe Mitglied des Deutschen Bundestages

Bernd Romanski Michael Ludwig Mitglied des Vorstandes Mitglied des Vorstandes HOCHTIEF Solutions AG Verbundnetz Gas AG

Jens-Ove R. Stier Martin Marsmann Geschäftsführer Head of International Business Winterstein-Kontor GmbH UniCredit Bank AG

Mitglieder des Vorstandes Hartmut Mehdorn Vorsitzender des Vorstandes Martin Bachmann Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG Mitglied des Vorstands Wintershall Holding AG Jürgen Sander Geschäftsführer Jürgen Chrobog VEM Motors GmbH Staatssekretär a. D. Vorsitzender des Vorstandes Maria-Elisabeth Schaeffler BMW Stiftung Herbert Quandt Gesellschafterin Ina-Holding Schaeffler KG Burkhard Dahmen Mitglied des Vorstandes Paul Schockemöhle Pferdehaltung GmbH SMS Siemag AG Paul Schockemöhle Inhaber Klaus Eberhardt Vorsitzender des Vorstandes Werner Schoeltzke Rheinmetall AG ENTRACON AG

222 Deutsches Orient-Institut Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins NUMOV

Matthias Müller Herbert Honsowitz Vorsitzender des Vorstandes Botschafter a.D. Porsche AG Wolfgang Kenntemich Günther Mull Chefredakteur MDR Geschäftsführer DERMALOG Identification Systems GmbH Marc Landau Geschäftsführer Erich Staake Deutsch-Türkische Industrie- und Handels- Vorsitzender des Vorstandes kammer Duisport AG Dr. Michael Lüders, Islamwissenschaftler Prof. Dr. Rainer Schwarz Michael Lüders Nahostberatung Sprecher der Geschäftsführung Berliner Flughäfen Dr. Gunter Mulack Botschafter a.D. Dr. Jochen Weise Direktor Deutsche Orient-Stiftung Mitglied des Vorstandes E.ON Ruhrgas AG Bernd Mützelburg Botschafter a.D. Dr. Monika Wulf-Mathies AAIN – Ambassadors Associates Inhaberin Interntional Networking GmbH wulf.mathies.consult Dr. Jürgen K. Nehls Ehrenvorstandsmitglied, 1998 - 2005 Giesecke & Devrient a.D.

Hans-Jürgen Wischnewski † Dietmar Ossenberg Bundesminister / Staatsminister a.D. Auslandschef der ZDF Redaktion Zweites Deutsches Fernsehen Beirat des Nah- und Mittelost-Ver- eins- NUMOV Michael Pfeiffer Germany Trade and Invest GmbH Peter Dingens Bernhard von der Planitz Botschafter a.D. Chef des Protokolls a.D. Auswärtiges Amt Rudolf Dreßler Botschafter a.D. Klaus Rollenhagen Hauptgeschäftsführer Thomas Ellerbeck Verband Beratender Ingenieure Direktor Unternehmenskommunikation und Politik Andreas von Stechow Vodafone D2 GmbH Botschafter a.D. Arbeitsstab Außenwirtschaftsberatung Dr. Henryk Frystacki Siemens AG, a.D. Knut Witschel Managing Director & Head Near & Middle Wilfried H. Graf East/Africa a.D. Arab Bank AG, a.D. Deutsche Bank AG Dr. Gabriela Guellil, Botschafterin Karl Heinz Wittek Islamwissenschaftlerin Botschaftsrat a.D. Dr. Jürgen Hellner Botschafter a.D. Near and Middle East Consultant

Deutsches Orient-Institut 223 Impressum

IMPRESSUM

Studie des Deutschen Orient-Instituts Der „Arabische Frühling” Auslöser, Verlauf, Ausblick

Herausgeberin: Helene Rang

Gesamtverantwortlicher Projektleiter: Sebastian Sons

Redaktion: Abdurrahim Gülec

Autoren der Analysen: Vorwort: Sebastian Sons (September 2011) Tunesien: Samira Akrach und Tugrul von Mende (August 2011) Ägypten: Sophie Awrege Vender (August 2011) Libyen: Sebastian Sons (September 2011) Algerien: Samira Akrach (September 2011) Marokko: Samira Akrach (September 2011) Syrien: Alexander Rieper mit Bearbeitung von Johannes Struck und Sebastian Sons (September 2011) Libanon: Samira Akrach und Tutku Güleryüz (September 2011) Jordanien: Benedikt van den Woldenberg (September 2011) Irak: Katharina Schmoll (August 2011) Palästinensische Autonomiegebiete: Matthias Canzler (September 2011) Saudi-Arabien: Sebastian Sons (August 2011) Jemen: Peter Schmitz (September 2011) Bahrain: Johannes Pupke (August 2011) Vereinigte Arabische Emirate: Denise Pinquett (September 2011) Katar: Alina Mambrey (September 2011) Oman: Ivo Lisitzki (August 2011) Kuwait: Alina Mambrey (September 2011) Türkei : Ludwig Schulz (September 2011) Deutschland, die Europäische Union und der „Arabische Frühling”: Jan Zimmermann (September 2011)

Layout und Graphiken: Hui Pieng Lie

Deutsche Orient-Stiftung/German Orient-Foundation -Deutsches Orient-Institut/German Orient-Institute- gegründet / founded by NUMOV 1960

[email protected] www.deutsches-orient-institut.de

Jägerstraße 63 D - 10117 Berlin Tel.: +49 (0)30-20 64 10 21 - Fax: +49 (0)30-30 64 10 29 Copyright: Deutsches Orient-Institut Alle Rechte vorbehalten. Es wurden keine Abbildungen, Kopien oder Übertragungen gemacht ohne Erlaubnis der Autoren. Erscheinungsdatum: September 2011

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