Sicherheit und Frieden SFSecurity and Peace

Herausgeber: Themenschwerpunkt: Dr. habil. Michael Brzoska und Innere Führung Prof. Dr. Hans J. Giessmann Die gespaltene Ausrichtung der Bundeswehr – oder: Prof. Dr. Heiner Hänggi warum sich die Bundeswehr mit der „Inneren Führung” seit 1950 schwer tut Heinz-Dieter Jopp Detlef Bald Dr. Erwin Müller Innere Führung in Zeiten des Umbruchs: Zur Aktualität Andreas Prüfert einer für obsolet erklärten Konzeption Martin Kutz Innere Führung und Transformation der Bundeswehr. Anmerkungen zu 50 Jahren Innere Führung in der Bun- deswehr Thomas R. Elßner Grundlagen für das Thema Frieden in Baudissins Werk Claus von Rosen

Weitere Beiträge von ...

Michael Brzoska, Miao-ling Hasenkamp, Detlev Wolter

2005 4 23. Jahrgang ISSN 0175-274X Nomos IMPRESSUM INHALT

Schriftleitung: Prof. Dr. Hans J. Giessmann EDITORIAL ...... III

Redaktion: Dr. Erwin Müller (V.i.S.d.P.) Susanne Bund THEMENSCHWERPUNKT Dr. Patricia Schneider Dr. Thorsten Stodiek BUNDESWEHR UND INNERE FÜHRUNG

Redaktionsanschrift: S+F Die gespaltene Ausrichtung der Bundeswehr – oder: warum sich die c/o IFSH, Falkenstein 1, D-22587 Bundeswehr mit der »Inneren Führung« seit 1950 schwer tut Tel. 0049-40-86 60 77-0 Fax 0049-40-8 66 36 15 Detlef Bald...... 177 E-Mail: [email protected] Druck und Verlag: Innere Führung in Zeiten des Umbruchs: Zur Aktualität einer für Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Waldseestr. 3-5, D-76530 Baden-Baden, obsolet erklärten Konzeption Tel. 0049-72 21-21 04-0, Martin Kutz ...... 180 Fax 0049-7221-2104-27 Anzeigenverwaltung und Innere Führung und Transformation der Bundeswehr. Anmerkungen Anzeigenannahme: Sales friendly • Bettina Roos, zu 50 Jahren Innere Führung in der Bundeswehr Maarweg 48, 53123 Bonn, Thomas R. Elßner ...... 190 Tel. 0228-978980, Fax 0228-9789820, E-Mail: [email protected] Grundlagen für das Thema Frieden in Baudissins Werk Die Zeitschrift, sowie alle in ihr enthaltenen Claus von Rosen ...... 197 einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechts- gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK UND Zustimmung des Verlags. Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen FRIEDENSFORSCHUNG nicht die Meinung der Herausgeber/ Redaktion wiedergeben. Unverlangt eingesandte Manu- skripte – für die keine Haftung übernommen Gezielte Sanktionen als Mittel der Konflikteinhegung in Afrika wird – gelten als Veröffentlichungsvorschlag zu den Bedingungen des Verlages. Es werden nur – Erfahrungen und Aussichten unveröffentlichte Originalarbeiten angenom- Michael Brzoska...... 209 men. Die Verfasser erklären sich mit einer nicht sinnentstellenden redaktionellen Bearbei tung einverstanden.

Erscheinungsweise: FORUM vierteljährlich Bezugspreis 2005: jährlich 59,– € (inkl. MwSt), Friedensmodelle in Asien Einzelheft 17,– €, Jahresabonnement für Stu- Miao-ling Hasenkamp denten 49,– € (gegen Nachweis), zuzüglich ...... 216 Porto und Versand kosten; Bestellungen neh- men entgegen: Der Buchhandel und der Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« im Weltraum: Ein Multilaterales Verlag; Abbestellungen mit Drei-Monats-Frist zum Jahresende. Zahlungen jeweils im Voraus Abkommen über Gemeinsame/Kooperative Sicherheit im Weltraum an: Nomos Verlags gesell schaft, Postbank Karls- (KSW-Vertrag) ruhe, Konto 73636-751 (BLZ 660 100 75) und Stadtsparkasse Baden-Baden, Konto 5-002266 Detlev Wolter ...... 222 (BLZ 662 500 30). ISSN 0175-274X DOKUMENTATION ZUM THEMENSCHWERPUNKT

50 Jahre Bundeswehr, 50 Jahre »Innere Führung«: Anlass zu Reflexion und Reform Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« am IFSH . . . . 230

NEUERSCHEINUNGEN ...... 232

ANNOTATIONEN ...... 234 + Sicherheit und Frieden S F Security and Peace BESPRECHUNGEN...... 235

23. Jahrgang, S. 177–241 4/2005 S+F (23. Jg.) 4/2005 | I EDITORIAL

EDITORIAL

Die Bundeswehr feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Die 50-jährigen Geschichte der Bundeswehr immer wieder als ersten Freiwilligen wurden nämlich am 12. November 1955, Problem auf und manifestierten sich in den Auseinanderset- bewusst an Scharnhorsts 200. Geburtstag, vereidigt. Damit zungen zwischen Reformern und Traditionalisten. wollte man an die damaligen Reformen anknüpfen. In dem Martin Kutz stellt heraus, dass auf die völlig neuen Heraus- vergangenen halben Jahrhundert hat sich die Bundeswehr zu forderungen der letzten Jahre die militärischen Reaktions- einem verlässlichen und professionellen Bündnispartner ent- muster bisher zwei unterschiedlichen Denkwegen folgen: wickelt, der inzwischen auch zu entsprechenden Einsätzen der einem progressiv-rationalen und einem konservativ-tradi- Europäischen Union Truppen stellt und sich 1999 erstmals tionalen. In diesem Zusammenhang gibt es auch eine erneu- seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an einem Kampfeinsatz te Diskussion um die Konzeption der Inneren Führung, bei beteiligt hat. Die Geschichte deutscher Streitkräfte ist dabei der allerdings nicht genügend berücksichtigt wird, dass sie nicht frei von Problemen und Skandalen wie zum Beispiel logischen Analyseschemata folgt, die unabhängig vom hi- das Illerunglück, die Spiegel-Affäre, die Starfi ghter-Affäre, die storischen Kontext gelten. Er stellt dann die Matrix logischer Kiessling-Affäre und jüngst die Günzel- Affäre, sowie Ausei- Bezüge im Denken Baudissins und die zusammenhängenden nandersetzungen wie zum Beispiel um die richtige Organisa- Schlüsselbegriffe dar. Diese Logikmuster wendet er schließlich tion (Wehrpfl icht oder Freiwilligenarmee), die angemessenen auf die Probleme der Gegenwart an. Berufsbilder (Kämpfer oder Denker), die notwendigen Aus- Thomas Elßner befasst sich in seinem Aufsatz mit zentralen bildungsstrukturen (Militärakademien oder zivil anerkannte Fragestellungen der Inneren Führung. Zunächst stellt er noch Bundeswehruniversitäten). Auch politisch geriet die Bundes- einmal die in den Anfangsjahren wesentlichen Problemfelder wehr immer wieder in die breite öffentliche Diskussion wie von Eid und Gewissen und ihre Refl ektion in der Himmeroder zum Beispiel bei der Nachrüstungsdebatte, bei den Auseinan- Denkschrift und im Handbuch Innere Führung dar. Danach dersetzungen um die Formulierung »Soldaten sind Mörder«, werden zwei aktuelle Bereiche (Kommando Spezialkräfte und bei der »out-of-area«-Debatte oder beim Einsatz im ehema- Gewissensurteil zum Irakkrieg) und ihre Zusammenhänge mit ligen Jugoslawien. der Inneren Führung näher beleuchtet. Schließlich wird an In diesem Schwerpunktheft kann es nicht darum gehen, diese zwei Beispielen (Massaker von Srebrenica und Kindersoldaten Geschichte der Bundeswehr in ihrer Breite nachzuvollziehen. im Sudan) herausgearbeitet, dass die Entwicklung ethischer Dies ist umfangreichen historischen Werken vorbehalten. und moralischer Kompetenzen die heutigen Herausforde- Vielmehr widmen sich die Beiträge dieses Heftes der zentra- rungen Innerer Führung sind. len Konzeption der Inneren Führung mit ihrem Leitbild des Claus von Rosen rekonstruiert in seinem Beitrag die geistigen Staatsbürgers in Uniform. Ausgehend von den grundsätzlichen Wurzeln Baudissinschen Denkens, dem die Konzepte der »In- Überlegungen zur Neuaufstellung der Bundeswehr, die bereits neren Führung«, des »Soldats für den Frieden«, des »Staatsbür- 1950 in den geheimen Verhandlungen im Eifelkloster Him- gers in Uniform« und der »Kooperativen Rüstungssteuerung« merod formuliert wurden, werden noch einmal die logischen entspringen. Überlegungen und Denkmuster Baudissins beschrieben, die In der Rubrik »Beiträge aus Sicherheitspolitik und Friedensfor- auch Grundlage für Analyse und Beschreibung einer Konzep- schung« drucken wir einen referierten Aufsatz von Michael tion heutiger Streitkräfte sein müssten. Daneben werden eini- Brzoska ab, der sich mit der Frage von Sanktionen als Mittel ge ethische und moralische Ausnahmesituationen zum Anlass der Konfl ikteinhegung in Afrika beschäftigt. genommen, um auf die Notwendigkeit entsprechender Kom- petenzen aufmerksam zu machen. Im »Forum« bringen wir Beiträge von Miao-ling Hasenkamp und Detlev Wolter, die sich mit der Friedensfähigkeit ver- Detlef Bald analysiert in seinem Beitrag den »Gründungs- schiedener Religionen bzw. »Gemeinsamer Sicherheit« im kompromiss« der Bundeswehr, der sich in der Himmeroder Weltraum befassen. Denkschrift vom Herbst 1950 fi ndet. Da die Gegensätze zwi- schen den Anknüpfungen an die Wehrmacht und der Umset- Die nächste Ausgabe von S+F wird sich im Schwerpunkt mit zung des vierten Versuchs der Demokratisierung der Armee dem Thema »Post-Confl ict Peacebuilding« beschäftigen. nur oberfl ächlich »zugekleistert« wurden, tauchten sie in der Andreas D. Prüfert

S+F (23. Jg.) 4/2005 | III Sicherheit und Frieden 2005 4 23. Jahrgang S+F Security and Peace S. 177–241 Herausgeber Schriftleitung Prof. Dr. Pál Dunay, Genfer Zent- Dr. Martina Fischer, Berghof Dr. habil. Michael Brzoska, Prof. Dr. Hans J. Giessmann rum für Sicherheitspolitik, Genf Forschungszentrum für Kon- struktive Konfl iktbearbeitung, Internationales Konversionszen- Prof. Dr. Wolfgang Gessenharter, trum Bonn (BICC) Redaktion Helmut-Schmidt-Universität, Prof. Dr. Hans J. Giessmann, Dr. Erwin Müller (V.i.S.d.P.) Hamburg Institut für Friedensforschung Susanne Bund Dr. Sabine Jaberg, Führungsaka- und Sicherheitspolitik an der Dr. Patricia Schneider demie der Bundeswehr, Hamburg Universität Hamburg Dr. Thorsten Stodiek Prof. Dr. Charles A. Kupchan, Prof. Dr. Heiner Hänggi, Genfer Zentrum für die Beirat Georgetown University, demokratische Kontrolle der Dr. Alyson Bailes, Stockholm Washington, D.C. Streitkräfte (DCAF), Genf International Peace Research Dr. Martin Kutz, Führungsakade- Institute (SIPRI), Stockholm Kapitän zur See Heinz-Dieter mie der Bundeswehr, Hamburg Jopp, Führungsakademie der Dr. Detlef Bald, München Dr. Krzysztof Ruchniewicz, Bundeswehr, Hamburg Prof. Dr. Joachim Betz, Willy- Brandt-Zentrum für Dr. Erwin Müller, Chefredakteur Universität Hamburg Deutschland- und Europastudien, Andreas Prüfert, Europäische Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Wroclaw Organisation der Militärverbän- Träger des Alternativen Prof. Dr. Susanne Feske, de (EUROMIL), Brüssel Nobelpreises, München Universität Münster

THEMENSCHWERPUNKT

Die gespaltene Ausrichtung der Bundeswehr – oder: warum sich die Bundeswehr mit der »Inneren Führung« seit 1950 schwer tut Detlef Bald*

Abstract: »Innere Führung« is the key word, to differentiate the Bundeswehr from its historic predecessors. The concept to use the constitution’s values and norms in the military today stands for granted in politics and society. But about that in all phases of Bundeswehr there had been heavy disputes. The position of the so called reformers could make its way only hard against that of the traditionalists. In the document of Himmerod from 1950 the foundation’s compromise can already be discovered. This ambivalence of military politics against »Innere Führung« appears again and again as a problem in Bundeswehr’s 50 years of history. The following text examines the secret consultations in autumn 1950.1

Keywords: Innere Führung, Himmeroder Denkschrift, Reformer und Traditionalisten, Gründungskompromiss

1ie deutsch-alliierten Gespräche über Grundzüge der werde seine Sicherheit »nie aus eigener Kraft« gewährleisten, Aufrüstung kamen nach Beginn des Korea-Krieges vo- legten sie den Entwurf für den »Wiederaufbau einer deutschen Dran. Graf Schwerin erhielt Anfang August 1950 von Wehrmacht« als »Kontingent im europäisch-atlantischen Ver- der Hohen Kommission die Zustimmung, das Kabinett kön- teidigungsrahmen« vor.2 Am 17. August stimmte Adenauer in ne offi ziell Fragen der äußeren Sicherheit beraten und Exper- Besprechungen mit den Hohen Kommissaren auf dem Peters- ten der ehemaligen Wehrmacht für die Erarbeitung entspre- berg dem Plan einer europäischen Armee zu. Am 29. August chender Grundlagen heranziehen. Adenauer handelte sofort. wurde in einem Memorandum die politische Linie Adenau- Am 10. August 1950 legten , Adolf Heusin- ers konkretisiert, die »Wiederherstellung der Souveränität« in ger und Hans Speidel für den Kanzler ein Konzept zur äußeren einem »System vertraglicher Abmachungen« zu regeln, um Sicherheit im Bündnis vor. In der Annahme, Westdeutschland die Bundesrepublik an der »gemeinsamen Verteidigung West- europas« zu beteiligen.3 * Dr. phil. Detlef Bald ist Mitglied des Beirats von S+F. Sicherheit und Frieden. Er ist freischaffender Historiker in München. 2 Dokument in Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Frankfurt/M. 1 Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlags aus dem Buch von 1977, S. 481 u. S. 495. Detlef Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, Mün- 3 Dokument in , Erinnerungen 1945 – 1953, Stuttgart 1965, chen 2005, S. 28 ff. S. 358 f.

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Aber noch waren gewisse Hausaufgaben zu erledigen. Die nutzt. Sicherlich war die standesmäßige Privilegierung end- zweite Zusage von McCloy an Adenauer, hochrangige militä- gültig dahin, aber es wurden noch einmal die Regularien der rische Experten zusammenziehen zu können, gewann eben- Vergangenheitspolitik festgehalten, in der Zukunft an eine falls noch im Herbst Bedeutung. Die »Magna Charta der deut- »saubere« Wehrmacht anzuknüpfen. Die Zäsur zum National- schen Wiederbewaffnung« wurde am 6. Oktober 1950 in sozialismus sollte nicht scharf sein, an dem Ziel der »Einstel- Himmerod fertiggestellt.4 Die Abgeschiedenheit der klöster- lung der Diffamierung« der Wehrmacht und der Waffen-SS lichen Umgebung der alten Zisterzienserabtei im Salmtal in wurde festgehalten: An der »Rehabilitierung des deutschen der Eifel schien dem Kanzler geeignet, die Geheimhaltung für Soldaten« durfte nicht gerüttelt werden, im Gegenteil, es wur- die Planung von Streitkräften sicherzustellen. Die politische de eine nationale und internationale Ehrenerklärung einge- Weichenstellung war sensationell genug: Die Militärelite des fordert. Daneben wurde eine entsprechende Lenkung der Ostfeldzugs konnte die Verteidigung Westeuropas mit der Auf- öffentlichen Meinung verlangt. Die alten Sprachfi guren – rüstung der voll demilitarisierten Besatzungszonen West- »Wehrwille«, »Wehrkraft«, »wahres Soldatentum« – wurden deutschlands gemäß der Quintessenz ihrer militär- und sicher- bemüht. Dieses »Ethos der Landesverteidigung muss das ge- heitspolitischen Expertisen aus der Nachkriegszeit verknüpfen. samte Volk erfassen«.11 Der Anspruch auf Rehabilitierung und Ein einzigartiges Panorama tauchte wieder auf. Die operativen auf Ehre der ehemaligen Generale war der Preis, der für ihre Maximen des Generalstabs der vierziger Jahre standen erneut Bereitschaft zur Mitarbeit gezahlt werden sollte. Die Schlag- im Zentrum einer europaweiten »Gesamtverteidigung von worte zur Ehrenrettung des Soldaten waren für die innenpo- den Dardanellen bis nach Skandinavien«. Eine klassische Mas- litische Auseinandersetzung der fünfziger Jahre aktiviert, um senarmee modernen Typs, hoch motorisiert und nach dem die Nürnberger Nachfolgeprozesse der Amerikaner und den Modell eines mobilen Expeditionsheeres, wurde entworfen. Aufsehen erregenden Prozess gegen Manstein 1949 zu be- Die Wehrpfl icht bildete die Basis zur Rekrutierung einer Mil- schweren. Kein Thema erregte die Öffentlichkeit in diesen lionenarmee. Drei Korps zu je vier Divisionen sollten binnen Jahren mehr als der Kampf um die Freilassung des General- kurzem zu drei operativen Armeen mobilisiert werden kön- feldmarschalls und einiger hundert rechtskräftig als Kriegsver- nen.5 Der Kanzler wünschte drei seiner Berater in leitender brecher verurteilter Offi ziere. Im September 1950 bereits, also Funktion in Himmerod: Foertsch, Heusinger und Speidel. Die kurz vor dem Treffen in Himmerod, hatten Heusinger und Auswertung der Kriegführung gegen die Sowjetunion in der Speidel gegenüber einem Vertreter der Hohen Kommission das »Historical Division« bildete den Rahmen für das Militär der Junktim aufgestellt, sollten Todesurteile gegen in Landsberg Zukunft. Heusinger, Stellvertreter von Franz Halder, organi- einsitzende Generale vollstreckt werden, werde es keine Ko- sierte den Transfer der Informationen über Heer und Luftwaf- operation bei der Aufstellung von Streitkräften geben.12 An- fe, die Admiräle Ruge und Otto Schniewind fungierten als fang 1952 saßen noch rund 700 Offi ziere in alliierter Haft. Sie Verbindungsmänner zum »Naval Historical Team«.6 Graf Bau- wurden als so genannte Kriegsverurteilte bezeichnet. Die kol- dissin, als Zeitzeuge »tief beeindruckt«, charakterisierte das lektive Verdammung der Generalität der Wehrmacht konnte vorgelegte Militärkonzept, in dem die »Vorstellungen der Ver- verhindert werden. Die Konfl ikte zwischen dem internationa- gangenheit« die Kategorien des Kriegshandwerks prägten: »In len Bedürfnis nach Gerechtigkeit und der Forderung auf deut- Himmerod bestanden eigentlich kaum Zweifel, dass wir so scher Seite nach einem Schlussstrich und dem Ende der »Sieger- weiter strategisch und operativ und damit eigentlich auch in justiz« traten in dem Medienrummel um Manstein zutage. Er der Struktur und Bewaffnung der zukünftigen Streitkräfte auf nutzte das Verfahren zu einem Plädoyer für die Wehrmacht.13 dem alten Pfad weitergehen sollten.«7 Das Vorbild war, »Krieg Doch noch im Januar 1956 tauchte dieses Junktim bei den führen à la sowjetische Steppe«8 – die Denkschrift wollte Ver- Gründungsfeiern der Marine in Wilhelmshaven auf, als Kapi- teidigung »von vornherein offensiv« und Interventionen im tän zur See Zenker an Bedenken der Offi ziere erinnerte, »ob Hinterland des Gegners mit Atombomben.9 Diese aus dem wir unsere Arbeit aufnehmen dürfen, solange unsere ehema- Geiste des Vernichtungskriegs entworfene Worst-Case-Vertei- ligen Oberbefehlshaber und weitere Kameraden noch in Haft digung erweckte unter den Bedrohungsvorstellungen des Kal- gehalten werden«14. Die Himmeroder Denkschrift bietet ne- ten Krieges keinen Verdacht, »vergangenheitsbelastete Emp- ben dem tonangebenden Bild der Wehrmacht auch exempla- fehlungen« abzugeben oder gar außenpolitisch revisionistisch risch Richtlinien einer liberalen, bundesdeutschen Militärre- zu sein.10 Die politisch gewollte Reintegration der alten Mili- form. Als Anwalt einer demokratischen Verfassung forderte tärelite wurde von ihr in Himmerod für eigene Zwecke ge- Schwerin nicht den Primat des Staates, der in der modernen Geschichte vom Militär immer akzeptiert worden war, son- 4 Institut für Zeitgeschichte (München), ED 337/30 Mitteilung Graf Schwerin dern den Primat des Parlaments als »höchste Staatsautorität an Fischer, 31. Mai 1971. 5 Vgl. das Dokument bei Hans-Jürgen Rautenberg/Norbert Wiggershaus (Hg.), (...) des souveränen Volkswillens (...) über alle Einrichtungen Die Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950. Politische und militärische seiner Wehrmacht« einzuführen.15 Um diese Idee eines Parla- Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur west- deutschen Verteidigung, Karlsruhe 1977. 6 Vgl. Realitätsfl ucht und Aggression im deutschen Militär, Baden-Baden 11 Himmeroder Denkschrift, S. 36, 38, 53. 1990; Jehuda Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren 12 Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indokt- von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, rination, München 1969, S. 399. Frankfurt/M. 1967. 13 Vgl. Oliver von Wrochem, Die Auseinandersetzung mit Wehrmachtverbre- 7 IfZ ED 437/105 Interview K. von Schubert mit Graf Baudissin, 20. April chen im Prozess gegen den Feldmarschall Erich von Manstein 1949, in: 1982. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 329 ff. 8 IfZ ED 447/17, 14 Interview Bernd C. Hesslein mit Graf Baudissin, in: Bernd 14 IfZ ED 437/114 Zenker, Ansprache an die Marine-Lehrkompanie in Wil- C. Hesslein, Vom Kloster in die Kaserne, 6. Nov. 1985. helmshaven, 16. Jan. 1956. 9 Himmeroder Denkschrift, S. 40. 15 IfZ ED 337/24 Graf Schwerin, Grundgedanken über die Einordnung der 10 Diese Einordnung in: Himmeroder Denkschrift, S. 57. Wehrmacht in den demokratischen Staat (o.D.).

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mentsheeres in der konservativ und traditionalistisch ausge- Baudissin hatte nicht einmal die Funktion eines Feigenblatts. richteten Himmeroder Konferenz zu verankern, gewannen er Erst die ultimative Drohung, das fertige Dokument nicht zu und Axel von dem Bussche den ehemaligen Offi zier Baudissin unterzeichnen, erzwang das Zugeständnis, durch bescheidene (1907–1993). Sein Name ist mit der Leistung verbunden, dort Ergänzungen des Textes eine normative Wertewende vorzu- den Ansatz für die demokratische Reform vertreten zu haben. nehmen. Das nennt man den »Gründungskompromiss« der Baudissin fühlte sich aus einer dem Staat dienenden Familien- Bundeswehr. Baudissin konnte einige an zentralen Stellen ein- tradition heraus verpfl ichtet, für eine Politik mit Zukunft und gefügte Regelsätze für die neue Orientierung geben, ohne den also für die Erneuerung der Strukturen und Formen des Mili- fest gefügten Kontext voller Zeugnisse, welche die Wehrmacht tärs zu streiten. Mit freundlichen, aber bestimmten Worten zum Maß aller Dinge nahmen, sprengen zu können. So erklär- begründete er auf der Konferenz das politische Verständnis seiner Aufgabe, »behilfl ich« zu sein, »die 1819 steckengeblie- te er aus Gründen der politischen und historischen Ethik, dass bene Reform« von Scharnhorst »wieder aufzunehmen«.16 Hat- »ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute te die versammelte Runde in Himmerod zunächst noch ange- grundlegend Neues zu schaffen« sei. Daher, den Begriff »neue nommen, mit Berufung auf Scharnhorst solle die »neue Wehrmacht« vermeidend, wurde konkretisiert: »Das deutsche Wehrmacht« in der Tradition der preußischen Armee aufge- Kontingent darf nicht ›Staat im Staate‹ werden.« Die Kongru- baut werden, deren Modernisierung in den Kriegen gegen Na- enz zu Staat, Politik und Gesellschaft kam in dem Kernsatz poleon begonnen hatte, folgte abrupt die Ernüchterung bei zum Tragen: »Das Ganze wie der Einzelne haben aus innerer der Erkenntnis, dass es um den Scharnhorst der politischen Überzeugung die demokratische Staats- und Lebensform zu Reformen in der Stein-Hardenbergschen Ära ging. Das war ein bejahen.«18 Konnten mit derartigen Begriffen ausreichend Bar- Paukenschlag, eine bürgerlich-freiheitliche Verfassung für das rieren gegen das Fortbestehen des vermeintlich bewährten Militär der Bonner Republik zu wollen. Baudissin griff den Soldatentums errichtet werden? Wie sollte das Ideal der Re- alten programmatischen Begriff vom »Staatsbürger in Uni- form verwirklicht werden, das in dem Satz zusammengefasst form« auf, um die Zivilisierung des soldatischen Leitbilds zu benennen, damit Staats- und Gesellschaftsverfassung auch im war: »Streitkräfte repräsentieren die gesellschaftlich-poli- Militär Geltung fänden. Er forderte, die Chance der »Stunde tischen Herrschaftsformen, deren Instrument sie sind«? Die Null« zu nutzen und erklärte die Reform des Militärs zu einer Himmeroder Denkschrift wurde im Kanzleramt vom Leiter der »Schicksalsfrage der Gegenwart«.17 Denn demokratiefähig und Politischen Abteilung, Herbert Blankenhorn, und von der bürgertauglich war das Militär in fast allen Phasen des 19. und rechten Hand Adenauers, Hans Globke, als streng geheimer 20. Jahrhunderts nicht gewesen, weil die Dominanz des Mili- Masterplan für die Aufrüstung sanktioniert. Er begründete das tärischen Staat und Gesellschaft einhegte – bis 1945. Seit dem über Jahrzehnte verdeckte Herrschaftswissen der obersten Pla- Scheitern der Ansätze 1848 und 1919 und dem ersten Konzept ner im Kanzleramt und in den Führungsetagen der Bundes- von Scharnhorst begann 1950 also der vierte Versuch der De- wehr. In traditionellem Verständnis wurde der Staat mit Macht mokratisierung des Militärs, mit dem die Idee parlamenta- assoziiert. Das außerparlamentarische Bündnis von Politik rischer Kontrolle, politischer Verantwortung und liberaler zi- und Militär war geschmiedet. Der geheime Konsens der Exe- vil-militärischer Verhältnisse verwirklicht werden sollte. In kutive wiegt schwer, er ist keineswegs eine Bagatelle der par- Himmerod war alles klar. Der Vorsitzende des Allgemeinen lamentarischen Geschichte der Bonner Republik. Die Posi- Ausschusses hatte der Reichswehr in seinem Bekennerbuch – »Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat« – den Weg tionen der Reformer und Traditionalisten erwiesen sich als ins NS-Regime gewiesen und den Eid des »unbedingten Ge- unvereinbar. Himmerod bot keinen Kompromiss eines ge- horsams« auf die Person des »Führers« formuliert; er hatte im meinsamen Konzepts, da die Gegensätze nur vordergründig Reichswehrministerium das »Innere Gefüge« der Wehrmacht zugekleistert worden waren. Daher bildeten sich zwei »Fronten, geformt. Er – General der Infanterie Hermann Foertsch – ließ (...) wie sie in der einen oder anderen Form« in der gesamten sich doch nicht von einem Major die Leviten lesen. So dik- Geschichte der Bundeswehr immer wieder geräuschvoll her- tierte Foertsch in gewohnter Weise die Regeln des »Inneren vortreten sollten.19 Dass die neue Armee »frei sein würde vom Gefüges« für die »neue Wehrmacht«. Er nutzte seine Zustän- alten Geist – diese Hoffnung erwies sich als Illusion«.20 Bau- digkeit für alle Bereiche der Ausbildung des »Soldatentums sui dissins Wirken stärkte die breite Legitimierung in der Öffent- generis« und der Ausrichtung des militärischen Milieus unein- lichkeit. Doch die Gruppe der Reformer war in Militär und geschränkt. Die gesamte Runde bestätigte diese Ansichten. Als Ministerium eine isolierte Minderheit, auf deren Bedenken nach vier Tagen der Entwurf der Denkschrift vorlag, stand man nicht hörte, wie es Schwerin bereits im Oktober 1950 zu darin nicht ein einziger Satz zur Reform des Militärs. Der mi- spüren bekam, als er den Kanzler warnte, die Militärs könnten litärische Traditionalismus wurde programmatisch gefeiert. »den Aufbau in Form einer Restauration« durchführen.21 16 Gespräch mit , In: Axel Eggebrecht (Hg.), Die zor- nigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1979, 18 Himmeroder Denkschrift, S. 53. S. 208. 19 Abschiedsvorlesung von Baudissin, Universität Hamburg, 18. Juni 1986, in: 17 Wolf Graf von Baudissin, Diskussionsbeitrag, in: ders., Soldat für den Frie- Wolf Graf von Baudissin, Dagmar Gräfi n Baudissin, ... als wären wir nie den. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr, hrsg. von Peter von Schu- getrennt gewesen. Briefe 1941 – 1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, bert, München 1969, S. 24. Auf Akademietagungen suchte Baudissin später S. 267. Unterstützung für das Reformkonzept, wie die Beiträge renommierter Au- 20 Norbert Frei, Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz, in: ders. (Hg.), Hitlers toren bezeugen in: Bundesministerium für Verteidigung (Hg.), Schicksals- Eliten nach 1945, 2. Aufl ., München 2004, S. 284; vgl. dort Jens Scholten, fragen der Gegenwart. Handbuch politisch-militärischer Bildung, 6 Bde., Offi ziere: Im Geiste unbesiegt, S. 117 ff. Tübingen 1957 ff. 21 Schwerin an K. Adenauer, Okt. 1950, in: Himmeroder Denkschrift, S. 60.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 179 THEMENSCHWERPUNKT | Kutz, Innere Führung in Zeiten des Umbruchs

Innere Führung in Zeiten des Umbruchs: Zur Aktualität einer für obsolet erklärten Konzeption Martin Kutz*

Abstract: Innere Führung, that is leadership development and civic education, is considered to be a particularity of the German Forces, the Bundeswehr. It manifests itself in various institutional forms. There are directives on Innere Führung, and in the legal provisions governing the military we fi nd many principles which refer to Innere Führung. The paper is structured as follows: First: Do the new challenges require a reorientation? Secondly, the military patterns of reaction will be addressed. Third: Innere Führung in the context of rearmament during the East-West confl ict. Fourth: Concept of Innere Führung. Finally a possible application of Baudissin’s patterns of logic as »invented« by Count Baudissin in our times will be discussed.

Keywords: Konzeption Innere Führung, Professionalisierung, Logikstrukturen, Transformation

1. Die neuen Herausforderungen – Zwang zur grundsätzlich vertraut und einverstanden sein. Eine in Europa Umorientierung noch weit verbreitete Auffassung, Soldaten hätten unpolitisch zu sein und müssten in jedem Falle fraglos jeden militärischen 1ie Streitkräfte der europäischen Staaten stehen seit ei- Auftrag ausführen, dürfte in Zukunft immer schwerer vermit- nigen Jahren vor z.T. völlig neuen Herausforderungen. telbar sein. Hier werden Armeen der zivilisierten Welt in Zu- DSeit der große industrialisierte Krieg, der im Ost-West- kunft Probleme haben. Konfl ikt noch drohte, den so genannten neuen Kriegen das Feld räumen musste, spielt die Verteidigung der Nation keine Das führt zum vierten Punkt. In den demokratischen Gesell- Rolle mehr. Soldaten werden weit außerhalb des nationalen schaften Europas wird sich auf Grund der Gesellschaftsent- Territoriums mit Aufgaben betraut, die sie noch vor zwanzig wicklung ein immer kleinerer Teil junger Menschen für die Jahren weit von sich gewiesen hätten. Selbst dort, wo wie im militärische Laufbahn entscheiden, weil auch militärische Tra- jüngsten Irak-Krieg Streitkräfte noch mit traditionellen mi- ditionen und Verhaltensmuster im Dienstalltag sich mit den litärischen Kampfaufträgen eingesetzt werden, ist von einer Vorstellungen von einem interessanten und befriedigenden Asymmetrie der Kontrahenten auszugehen und die Auswei- Berufsalltag der heranwachsenden Generation nicht mehr ver- tung der Kampfformen zu Partisanen- und Terror-Krieg mit ins einbaren lassen. Bleibt man beim traditionellen militärischen Kalkül zu ziehen. Die neue Situation zwingt zum Nachdenken Stil, wird das gesellschaftliche Rekrutierungssegment immer über vier Sachverhalte. kleiner und politisch enger. Die Kompatibilität mit Gesell- schaft und Gesellschaftsentwicklung wird so schleichend aber Zunächst gilt es, sich ein rational analysiertes Bild vom Krieg langfristig zwingend zerstört. der Zukunft zu machen. Die neuen Herausforderungen asym- metrischer Kriegführung, von Bürgerkrieg, Bandenkrieg, All diese Probleme haben europäische Streitkräfte schon heute Warlordism und Kriegsökonomie müssen in einem bisher oder müssen davon ausgehen, dass sie ihnen in Zukunft nicht nicht bedachten Ausmaß zum Maßstab militärischer Organi- ausweichen können. sation, Ausbildungs- und operativer Konzepte gemacht wer- den. Darum gilt es, die Legitimationsbasis für den Einsatz der 2. Die militärischen Reaktionsmuster Streitkräfte neu zu bedenken. Will man keine Söldnerarmeen Erkennbar sind derzeit zwei Reaktionen auf diese Problem- haben, sondern den Staatsbürger in Uniform behalten, ist es lage (vgl. Schema »Denkwege des militärischen Professiona- sehr viel schwerer geworden, ihm einen Einsatz in Afrika, im lismus«). Orient oder sonst wo in der Welt als notwendig einsichtig zu machen, zumal die Zivilbevölkerung sich immer weniger für Die erste und am meisten verbreitete ist, auf die technische ihre nationalen Streitkräfte interessiert und engagiert. Seite der Herausforderung mit technokratischen Mitteln zu re- Damit ist das dritte Problemfeld angerissen. Sollen die Streit- agieren. Es werden neue Taktiken entwickelt, Ausbildung und kräfte nicht politisch exterritorial werden, will man eine Ausrüstung angepasst. Die Ursachen und Weiterungen aber Kompatibilität von Streitkräften und nationaler Gesellschaft werden weitgehend ausgeblendet. Hier dominiert ein kon- erhalten, so müssen Soldaten mit der Politik ihrer Nation, servativer Traditionalismus, dessen Ausgangspunkt des Den- mit den politischen Zielen militärischer Einsätze wenigstens kens traditionale Berufsbilder sind. Diese werden historisch legitimiert und sind im Bewusstsein dieser Vertreter in den * Dr. phil. Martin Kutz ist Wissenschaftlicher Direktor a.D. in Hamburg. Vor- Soldatentugenden manifestiert. Sie (allein) garantieren dann abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung des Wissenschaftlichen die Kriegstüchtigkeit. Zu Disziplinfragen wird auf traditionelle Forums für Internationale Sicherheit e.V. (WIFIS). Der Beitrag erscheint in Kürze in der Schriftenreihe von WIFIS in der Edition Temmen, Bremen. militärische Verhaltensmuster verstärkt zurückgegriffen. Da

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das aber im Einsatz selber nicht mehr ohne Weiteres funktio- deutschen Verhältnisse brauchbar. Diese Sicht verkennt, dass niert, wird die Diskrepanz zwischen militärischer Norm und Grundlage für die konkrete historische Ausformulierung strin- militärischer Praxis größer. gente logische Analyseschemata sind, die vom historischen Kontext unabhängig auch in der Gegenwart gelten. Die zweite Reaktion ist bisher in einem kleinen Kreis militä- rischer Planer und Analysten erkennbar. Sie diskutieren die Zweitens, dass auch in der Bundeswehr die Konzeption der Probleme zur Zeit noch theoretisch – was dringend geboten Inneren Führung in ihrer vollen Tragweite nicht überall ver- ist – und versuchen, in ihrem Umfeld die Sensibilität für ihre standen ist, dass sie sogar von Traditionalisten abgelehnt wird, Gedanken und Vorstellungen zu wecken. Sie gehen von einem und dass sie über lange Zeit, besonders seit den 80er Jahren auf modernen Bild des zukünftig zu erwartenden Krieges aus, lei- eine manipulative Motivationstechnologie reduziert wurde. ten daraus konkrete Szenarien ab, berücksichtigen bei der po- Es ist demnach notwendig, die Konzeption Innere Führung litischen Entscheidung Gesellschaftsentwicklung, Wirtschaft in ihrer logischen Stringenz zu verdeutlichen und die Verbie- und kulturelle Faktoren und leiten daraus erst Strategie und gungen und Missverständnisse der militärischen Alltagspraxis Taktik ab. In den deutschen Streitkräften hatten solche Ideen unberücksichtigt zu lassen. in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nur geringe Resonanz. Probleme wurden so verschleppt und Verände- rungen verhindert. 3. Innere Führung im Kontext von Wiederbe- In Deutschland hat letzteres jüngst eher aus politischer Tra- waffnung und Ost-West-Konfl ikt dition als aus theoretischer Einsicht die Diskussion um die Innere Führung wieder belebt. Damit ist hier an Vorstellungen Der »Erfi nder« der Inneren Führung ist Wolf Graf von Bau- aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts angeknüpft, die alle dissin2, Generalstabsoffi zier bei Rommel in Nordafrika bis zu aufgeführten Probleme in einem anderen militärstrategischen, seiner Gefangennahme 1941 bei Tobruk. Erste Überlegungen gesellschaftlichen und politischen Kontext schon einmal in der Gefangenschaft lassen Grundzüge der späteren Kon- stringent durchexerziert haben. Zwar war die Wirkung dieser zeption erkennen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen da- Konzeption Innere Führung begrenzt, weil der politische und mals ist seine moralisch-ethisch begründete Opposition zum vor allem militärische Traditionalismus vehement dagegen op- Hitlerregime. ponierte. Aber wesentliche Aspekte des Konzeptes haben sich dann in den 70er Jahren doch in den deutschen Streitkräften In dieser Opposition sieht er sich nach dem Kriege voll ge- durchgesetzt, sehr zum Nutzen von Armee und Gesellschaft. rechtfertigt, als er den vollen Umfang der politischen und Diesen Prozess der langsamen und teilweisen Durchsetzung militärischen Verbrechen des Regimes erfährt. Für ihn ist der der Grundzüge der Inneren Führung hier darzustellen, würde Weg in dieses Verbrechensregime die Konsequenz einer histo- zu weit führen. Wichtig ist aber zweierlei. rischen Fehlentwicklung des Militärs und des Verhältnisses

Erstens, dass das Konzept aus allgemeinen Prinzipien auf eine 2 Von seinen zahlreichen Denkschriften, Reden, Aufsätzen und Stabsstudien spezielle politische, gesellschaftliche und militärstrategische sind wesentliche Teile in folgenden Veröffentlichungen zu fi nden: Wolf Graf von Baudissin, Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bun- Situation zugeschnitten wurde. Die Folge davon ist, dass mit deswehr, München 1969, ders., Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften dem Konzept die Vorstellung verbunden wird, es sei historisch 1951 – 1981, München 1982; ders. und Dagmar Gräfi n zu Dohna, ...als wären wir nie getrennt gewesen. Briefe 1941 – 1947, herausgegeben mit einer möglicherweise überholt und zudem nur für die speziellen Einführung von Elfriede Knoke, Bonn 2001.

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von Militär und Politik und Militär und Gesellschaft. Für ihn zept zur »kooperativen Rüstungssteuerung«. Aus der atomaren gibt es deshalb in der deutschen Militärgeschichte nur zwei Drohung leitet er ab, dass Soldaten extrem selbständig auf legitime Anknüpfungspunkte für die neuen Streitkräfte. Der dem Schlachtfeld agieren und deshalb intrinsisch motiviert erste sind die preußischen Reformen von 1808/18, so wie sie sein müssen. Auch die traditionellen Befehls- und Gehorsams- Scharnhorst und Gneisenau damals konzipiert hatten, und verhältnisse können so nicht mehr tragen. Sie müssen durch nicht die verstümmelten Formen, wie sie dann tatsächlich einen kooperativen Führungsstil abgelöst werden. Platz griffen. Der zweite Anknüpfungspunkt ist für ihn der Die ethische Fundierung des Soldatenberufes ist bei Baudissin Widerstand gegen Hitler, der sich für ihn im Putsch vom 20. christlich-protestantisch und zugleich philosophisch begrün- Juli 1944 symbolisierte. Bei diesem Putsch waren viele Freunde det. Hier ist seine Bindung an Menschenrechte und Bürger- Baudissins aktiv und haben den Umsturzversuch mit dem rechte letztlich verankert. Dies überträgt er auf die Verfassungs- Leben bezahlt. Beide historische Bezugspunkte zeigen, dass artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik und leitet daraus Baudissin ein konservativer Mensch war, konnte er sich doch wiederum ab, das die oberste Verpfl ichtung des Soldaten der offensichtlich politische Legitimation für eigenes Handeln nur Erhalt des Friedens ist, somit Kriegsverhinderung notwendig als historisch legitimiertes Handeln vorstellen. und zur Sicherung des Friedens die politische Kooperation un- 1951 tritt er in die deutsche Planungsbehörde für die Wieder- umgänglich. Das erzwingt aber auch für die militärische All- bewaffnung ein. Als Bedingung für seinen Eintritt verlangt er, tagspraxis die Einhaltung demokratischer Verhaltensmuster, die gescheiterten Teile der preußischen Reformen von 1808 kurz die Bindung an die Prinzipien der Inneren Führung. bis 1818 zur Grundlage seiner Arbeit machen zu dürfen.3 Dritte Prämisse seines Denkens ist die demokratische Gesell- Diese Teile, die ihn interessieren, betreffen den »Bürgersol- schaft. Das heißt mehr, als der Bezug zum demokratischen daten«. Die ethisch-moralischen und politischen Prinzipien Staat (wenigstens in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in von 1808 überträgt er auf die Situation von 1951/61 in allen Deutschland). Es geht ihm um eine demokratische, im Alltag seinen Arbeiten. Konkret heißt das, dass er ein ethisch fun- praktizierte Lebensform, die er auch fürs Militär einfordert. diertes Konzept einer demokratieverträglichen Armee für die Das tut er in einer Zeit, als die deutsche Gesellschaft selber strategische Situation des Ost-West-Konfl iktes unter der Dro- noch in großer Distanz zur Demokratie lebt. Politisch leitet er hung des Atomkrieges entwirft. Dieses ist allerdings in seinen davon die zivile Kontrolle des Militärs ab, die Sicherung der Studien eher versteckt als offen erkennbar, denn Baudissin Menschen- und Bürgerrechte im Militär selber und die Fest- hat in einem vernetzten Mehrebenendenken nur praktische stellung, dass der Soldatenberuf ein politischer Beruf ist, ein Probleme bearbeitet. Es gibt bei ihm keinen Text, mit Ausnah- Beruf, der ohne den Bezug zur Politik sinnlos wird und Gefahr me eines Aufsatzes über die Konsequenzen des Atomkrieges, läuft, zum Soldknecht zu werden. Die folgende Matrix soll der seine theoretischen Grundlagen systematisch darstellen diese Formalstruktur der logischen Bezüge verdeutlichen. würde. Die Systematik muss aus Texten zu verschiedensten Themen herausgefi ltert werden, und sie zeigt sich dann als logisches Denksystem, das an Carl von Clausewitz’ Buch vom Kriege geschult ist.4 Matrix logischer Bezüge im Denken Baudissins

Diese Matrix lässt auch erkennen, dass es im Prinzip gleich- gültig ist, auf welcher Ebene ein Problem lokalisiert ist. Es ist 4. Die Konzeption der Inneren Führung immer auch erkennbar, wie es in den Gesamtzusammenhang aller Probleme militärischer Sicherheit eingebunden ist. In die- Baudissin geht von drei Prämissen des Denkens aus. Die er- sem Schema denken heißt dann auch, Probleme nicht isoliert ste ist, dass Militär, Militärpolitik und Strategie von einem wahrzunehmen, sondern zugleich auch alle Dependenzen, modernen, zukunftsoffenen Bild vom zukünftigen Krieg aus mit denen sie verknüpft sind. Konsequenz aller Ableitungen gedacht werden müssen. Er ist schon in den fünfziger Jahren in diesem Schema ist aber auch, dass im Militär selber Innere einer der wenigen Militärs, der die Epochenbedeutung der Führung immer gefordert ist. Atomwaffen verstanden hat, sie zu politischen, strategischen Waffen erklärt und daraus Kriegsverhinderung durch militä- Der Begriff Innere Führung ist in gewisser Weise irreführend. rische Abschreckung als zwingende Notwendigkeit ableitet. Ursprünglich wurde vom Inneren Gefüge gesprochen. Die Der Soldat ist also kein Soldat für das Kriegführen, sondern Gegner Baudissins, seine Offi zierskameraden aus der Wehr- seine erste Aufgabe ist der Erhalt des Friedens (Soldat für den macht, die sich eine Demokratisierung der Armee nicht vor- Frieden). Aus der strategischen Situation leitet er den Zwang stellen konnten und wollten, hatten das Wort in Inneres Ge- zur Bündnisorientierung nach Westeuropa und zu den USA würge umgetauft, um Baudissins Vorstellungen lächerlich zu ab, dazu den Zwang zur politischen Kooperation auch mit machen. Das Wort Innere Führung wurde deshalb als Ersatz- dem militärischen Gegner und in späteren Jahren ein Kon- begriff erfunden.5 Der ursprüngliche Begriff ist zutreffender, macht er doch deut- 3 Martin Kutz, Reform als Weg aus der Katastrophe. Über den Vorbildcha- rakter der Preußischen Reformen 1808 – 1818 und die Vergleichbarkeit der lich, dass es nicht nur um eine Führungsphilosophie ging und Situationen von 1806 und 1945 für Arbeit und Denken Baudissins, in: H. geht, sondern die militärische Struktur und die Verhaltens- Linnenkamp, D.S. Lutz (Hg.), Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995. 4 Dazu Martin Kutz, Historische Wurzeln und historische Funktion des Kon- 5 Eine detaillierte Schilderung der Auseinandersetzungen fi ndet sich bei Diet- zeptes Innere Führung (1951 – 1961), in: K. Kister, P. Klein (Hg.), Staatsbürger rich Genschel, Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitung der Inneren in Uniform – Wunschbild oder gelebte Realität?, Baden-Baden 1989. Führung 1951 – 1956, Hamburg 1972.

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prinzipien mit umschließt. Da Baudissin seine individuelle Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft sind die indi- ethische Orientierung in den Menschen- und Bürgerrechten viduellen Freiheitsrechte, also Menschenrechte und Men- der deutschen Verfassung allgemein verbindlich formuliert schenwürde. Sie konkretisieren sich politisch und organisa- sieht, kann er formal aus der Analyse eines zutreffenden torisch im Rechtsstaat. Auf die militärische Organisation und Kriegsbildes und durch die Ableitungen aus den Prinzipien ei- den einzelnen Soldaten herunter gebrochen heißt das Innere ner demokratischen Gesellschaft Innere Führung als logische Führung. Konsequenz rationalen Denkens formulieren (vgl. Schema »Zusammenhängende Schlüsselbegriffe Baudissins«). Die fol- Ihre Prinzipien sind die Vorstellung vom Soldaten als Staats- gende Zusammenstellung der Schlüsselbegriffe zeigt ihre Bezü- bürger in Uniform, der seine Freiheitsrechte eben nicht am Ka- ge und die Logikstruktur der Konstruktion Innere Führung. sernentor aufgeben muss und auch das Recht auf politische Be- tätigung als Soldat behält. Insbesondere für den militärischen Vorgesetzten, der vor 50 Jahren eher ein Mussdemokrat denn Zusammenhängende Schlüsselbegriffe Baudissins einer aus eigener Überzeugung war, war demokratische Ori- Aus dem Kriegsbild seiner Zeit, einer umfassenden Analy- entierung nur in einem Bildungsprozess zu erwarten. Baudis- se aller damaligen erkennbaren Kriegsformen, die aber alle sins Vorstellung von Bildung schloss traditionelle bürgerliche von der Drohung des Atomkrieges überschattet sind, leitet Bildungsinhalte ebenso ein wie die vehement geforderte poli- er unter Beachtung der neuesten technologischen Trends ab, tische Bildung. Sie sollte zu demokratieverträglichem Verhal- dass moderne Streitkräfte technologieorientierte voll mecha- ten führen und so dem Rekruten wie jedem anderen Soldaten nisierte Organisationen sind. Die Atomwaffen als politische die Erfahrung vermitteln, dass die Freiheit, die er gegen die Waffen und die Situation des Ost-West-Konfl iktes erzwingen totalitäre Bedrohung verteidigen sollte, im militärischen All- die politische Zuverlässigkeit des Militärs als Voraussetzung tag genauso gelte wie im Zivilleben. Diese Erfahrung sollte ihrer Funktionstüchtigkeit. Wegen der die Menschheit gefähr- auch Indifferente zu Demokraten »erziehen«. Erreichbar in denden Vernichtungskraft der Atomwaffen ist Kriegsverhin- der Praxis aber ist dieses Ziel nur, wenn ein kooperativer Füh- derung allererste Aufgabe von Militär, und diese unter den rungsstil die individuellen Fähigkeiten und Orientierungen gegebenen Umständen nur durch militärische Abschreckung der Geführten berücksichtigt. Eine an den technischen Erfor- möglich. dernissen der Moderne orientierte Disziplin muss dann auch

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die traditionale Kasernenhofdisziplin ablösen. Erst wenn alle damals modernen militärischen Strukturen sind hier abgebil- diese Aspekte erfüllt sind, ist nach dieser Vorstellung die Effi - det. Dabei wird eine zweite logische Bezugsebene deutlich, die zienz der Streitkräfte gegeben. sich in der Vertikalen zeigt. Notwendig ist also, dass sich moderne Streitkräfte am Zu- Das moderne Kriegsbild hatte zur Folge, dass die Streitkräfte kunftskrieg und nicht an der Tradition orientieren, dass sie in technologieorientiert und voll mechanisiert waren. Ihre Auf- die demokratische Landschaft eingebettet sind und der einzel- gabe der Kriegsverhinderung konnte aber nur tatsächlich er- ne Soldat seine demokratischen Erfahrungen, Einstellungen füllt werden, wenn sie auch politisch zuverlässig waren. Die und Rechte auch im militärischen Alltag berücksichtigt fi ndet. Bürgerkriegssituation in Deutschland mit zwei Armeen in den Der folgende Überblick über die Baudissinschen Logikstruk- unterschiedlichen Machtblöcken und die ideologische Ausei- turen soll den Gesamtzusammenhang des Denksystems von nandersetzung mit dem Kommunismus, die in Deutschland Baudissin verdeutlichen. Die aufgelisteten Begriffe betreffen auf Grund der Teilung des Landes besonders stark war, nötig- die strategische Situation im Ost-West-Konfl ikt der 50er und te zu dieser Vorstellung. Daraus leitet sich bei Baudissin ein 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. neuer Effi zienzbegriff ab. Effi zient sind nur Streitkräfte, die in sich militärisch funktionale Aufgaben und politische Zuverläs- Logikstrukturen von Begriffsclustern bei Baudissin sigkeit vereinen. Der Soldatenberuf ist danach ein politischer Beruf. Man kann dieses Schema in zwei Richtungen lesen. Nimmt Aus der gleichen Technologieorientierung wird unter Hin- man die Waagerechte, so wird die politisch-strategische Ebene zufügung des neuen Effi zienzbegriffes und der Berücksichti- sichtbar. Aus dem Kriegsbild wird, wie schon erläutert, das Frie- gung von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit auch eine densgebot fürs Militär abgeleitet. Der zweite Ausgangspunkt, neue Disziplin abgeleitet. Sie wird funktional defi niert, von die Demokratie, führt in Verbindung mit dem Kriegsbild eben- den technischen und politischen Erfordernissen des Mili- falls zum Friedensgebot und aus beiden, Kriegsbild und demo- tärs abgeleitet. Die traditionelle Kasernenhofdisziplin, die in kratischer Ordnung wird das demokratieverträgliche Militär Deutschland im vordemokratischen Militär auch zur Erzwin- abgeleitet. Dieses demokratieverträgliche Militär braucht, ja gung fraglosen Gehorsams durchexerziert wurde, wird strikt erzwingt aus der Logik der Sache den Staatsbürger in Uniform, abgelehnt. den Bürgersoldaten. Kriegsbild, Demokratie und demokratie- verträgliches Militär bedingen sich also gegenseitig. Die zweite Die dritte Ableitung aus der Technologieorientierung wird Ebene des Schemas beschreibt die Konsequenzen für das Mili- durch die Hinzufügung der individuellen Freiheitsrechte des tär, die Organisationsebene also. Die Konsequenzen aus den Soldaten vorgenommen. Daraus ergibt sich, dass der fraglose

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Gehorsam und damit der autoritäre Führungsstil vergangener Somit ergibt sich auf der Organisationsebene von Militär ein Zeiten durch kooperative Verhaltensmuster abgelöst werden funktionaler und logischer Zusammenhang von einer neuen muss. Zwei Gründe sind also maßgeblich. Erstens, dass die Effi zienzvorstellung, einer neuen Auffassung von Disziplin demokratische Ordnung das Alte verbietet, zweitens aber, dass und einem ebenso neuen militärischen Führungsstil. die moderne Technik so komplex ist, dass ein autoritärer Füh- rungsstil ihre optimale Nutzung verhindern würde. Haupt- grund ist, dass der militärische Führer gar nicht mehr in der 5. Die Anwendung der Logikmuster Baudissins Lage ist, alle technischen Funktionen korrekt zu bedienen auf die Gegenwart: Erste Überlegungen und somit auch seine Untergebenen nicht mehr kontrollieren kann. Er ist auf Kooperation und guten Willen seiner Soldaten Innere Führung ist mehr als eine Motivationstechnologie für angewiesen. Soldaten und die Denkmuster, die logische Struktur dieses

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Denkens, sind geeignet, auch die Probleme der Gegenwart Über eine Tatsache als Konsequenz dieser Entwicklung muss adäquat zu beschreiben und logisch korrekte Schlüsse für die sich die politische Führung wie das Militär im Klaren sein: militärische Praxis daraus zu ziehen.6 Dies soll nun mit Hilfe Man wird nicht mehr aus einer politischen Interessenabwä- der folgenden Übersicht versucht werden. gung diese Soldaten beliebig in den Krieg schicken können, es sei denn, man hat keine Hemmungen, sich auf professionelle Söldnertruppen einzulassen. Aktuelle Probleme in den Logikstrukturen Baudissins Ausgangspunkte für die Analyse sind, wie bei Baudissin in der Vergangenheit, Kriegsbild, demokratische Gesellschaft 5.1 Innere Führung und Transformation und demokratischer Staat. Darunter sind stichwortartig die Die Auslandseinsätze der Bundeswehr werfen lange Schatten. neu zu bedenkenden Faktoren aufgeführt. Jeder dieser drei Die tradierten Vorstellungen vom Soldatenberuf aber werfen Ausgangspunkte hat für das Militär logisch notwendige Kon- die tiefsten Schatten. In Krisenzeiten, also immer, wenn es un- sequenzen. Sie betreffen die militärischen Strukturen, die Ver- ter veränderten Bedingungen schwierig wird, wird die Flucht änderungen beim Personal, weil Soldaten von heute andere in die Geschichte und die Tradition angetreten. Ein unrefl ek- Sozialisationstypen darstellen als vor 50 oder 100 Jahren, und tierter Teil dieser Tradition ist die Vorstellung vom Soldaten die Erfordernisse einer neuen Legitimation von Militär und als einem unpolitischen Gewalttechnokraten, oder, wie es der militärischen Einsätzen. Inspekteur des Heeres formuliert hat, die vom »atavistischen Wenn diese Überlegungen wirklich in die Praxis umgesetzt High-Tech-Kämpfer«. Das Faszinierende an dieser Flucht ist, werden, werden die Streitkräfte in Zukunft anders aussehen. dass sie umso lauter betrieben wird, je weniger sie in der Re- Sie werden eine neue Struktur haben, ihr Führungspersonal alität eine Entsprechung fi ndet. Denn noch kein Soldat der Bundeswehr ist im Kampf getötet worden, seit die neuerliche aller Ebenen der Hierarchie wird ein neues kooperatives, de- Rede vom Soldatischen und vom Kämpfer grassiert. mokratisches Führungsverhalten lernen und man wird sich der Mühe unterziehen, dem Soldaten den politischen Sinn Dieser Rückzug aufs Historische, auf Tradition und Kämp- und Zweck von Militär und von den jeweiligen Einsätzen zu fertum wird verknüpft mit einem offenen oder versteckten erklären. Angriff auf die Innere Führung. Sie ist entweder nicht mehr

6 Einen Versuch, Geschichte und Zukunft der Inneren Führung im Sinne Bau- dissins neu zu interpretieren fi ndet man bei Martin Kutz (Hg.), Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin. Baden- Baden 2004. In diesem Band haben dreizehn Autoren unter Beteiligung des Generalinspekteurs der Bundeswehr sich dieser Interpretationsaufgabe ge- stellt.

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»zeitgemäß« oder sie ist eine »Friedens- und Kasernenhof- ken ist tabuisiert. Das Beste, was bisher dazu in der Bundes- theorie«, die für den Einsatz nicht taugt. Bestenfalls muss sie wehr produziert wurde, ist die Studie über die Streitkräftefä- »auf den Prüfstand« oder »weiterentwickelt« werden. Innere higkeiten im einundzwanzigsten Jahrhundert vom Zentrum Führung offen abzulehnen hat keiner den Mut, da dies als für Analysen und Studien der Bundeswehr7, auch wenn die politisch nicht durchsetzbar bewertet wird. Manche wären sie Studie nicht in allen Aspekten den Erfordernissen gerecht jedoch gerne auf stille Weise los. Gelänge dies, wäre man auch wird. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Armee, dass so das »Politische« los. Den Primat der Politik garantierten dann etwas überhaupt geleistet wurde. die Generale. Ihre Untergebenen müssten dann nur noch ge- 2. Konsequenz eines solchen Defi zits und der Tabuisierung horchen. Dieser gehorsame Subalterne wäre dann auch die des Nachdenkens über zukünftige Kriege auf politischer und politische Verantwortung für sein Tun los. Die Bundeswehr militärischer Ebene ist, dass als natürliche Folge auch keine könnte dann in eine Spezialfi rma für legitimes Gewaltma- schlüssige Strategie erkennbar ist. Damit wird das nächste De- nagement umgeformt werden. Die Vorbilder dafür gibt es im fi zit produziert. Ausland. Nur fällt auf, dass diese meistens ihre Aufgabe nur schlecht erfüllen. Dort, wo einigermaßen funktioniert, was 3. Ohne konsistente Strategie, oder anders formuliert, ohne Militär leisten soll, ist erstaunlicherweise viel Innere Führung politisches Konzept dafür, was Streitkräfte wo und wie lei- im Spiel. sten sollen, ist auch der Umbau der Streitkräfte für die neuen Heraus forderungen hoch problematisch. So werden kurzfristig Im Augenblick gibt es zwei Hauptaufgaben für die Bundes- absehbare Entwicklungen überbetont und bei der Gesamtpro- wehr, die eng miteinander verkoppelt sind. Die erste besteht blematik nur noch nach Glauben und Hoffen agiert. darin, aus der Bundeswehr wieder ein zukunftstaugliches Instrument zu formen und die zweite in ihren Auslandsein- Diese weitgehend unbeleuchteten Problemfelder sind leicht sätzen, die den Zwang zur Umstrukturierung der Streitkräfte in zwei Komplexen zu systematisieren. Da gibt es die Heraus- ausgelöst und aufrechterhalten haben. Auffällig ist, dass in forderungen in den neuen Einsatzgebieten, in letzter Zeit also beiden Feldern Innere Führung praktiziert wird und nicht er- auf dem Balkan, in Asien und in Afrika. In allen Feldern ist die sichtlich ist, dass es ohne sie überhaupt möglich wäre, die Bundeswehr eingesetzt worden, ohne dass strategische Ziele gewünschten Leistungen zu erbringen. defi niert waren und ohne dass geklärt gewesen wäre, wann Schon seit den 1970er Jahren kann man beobachten, dass der und wie und unter welchen Bedingungen sie wieder heraus- hauptsächliche Impuls, Innere Führung zu praktizieren, aus gelöst werden würde. Außerdem sind die Kenntnisse über die den gesellschaftlichen und individuellen Erfahrungen der Einsatzgebiete meist rudimentär, die gesellschaftlichen Ver- Soldaten erwächst und nicht auf Wissen, Überlegung und hältnisse dort weitgehend unbekannt, die Fremdheit der kul- militärischer Ausbildung beruht. Man verhält sich trotz aller turellen Standards im Einsatzgebiet ein Problem, das sich zu militärisch-folkloristischer Tradition als Demokrat. Das erklärt einer Zeitbombe entwickeln kann, wie sich im Extremfall Irak auch, warum sich diejenigen, die sich zur Inneren Führung immer mehr erweist. Die Ausbildungsdefi zite, insbesondere distanziert äußern oder in Teilbereichen auch distanziert ver- für das Offi zierkorps, in diesem Bereich sind enorm. halten, Innere Führung in vielen Aspekten trotzdem prakti- Das zweite große Problemfeld ist die eigene deutsche Ge- zieren. sellschaft und deren direkte und indirekte Einfl üsse auf die Nun sind die Veränderungsprozesse in der Bundeswehr die Streitkräfte. Auch hier sind die Kenntnisse in der Armee unter- gravierendsten seit Mitte der 70er Jahre des zwanzigsten belichtet. Der konservative Grundzug des militärischen Selbst- Jahrhunderts. Was mit dem Stichwort »Transformation« an- verständnisses lässt gesellschaftliche Entwicklungen meist als gestrebt und beschrieben wird, wird von vielen Soldaten als Störfaktoren erscheinen. So wird ein positiver, konstruktiver ein nur technokratischer Prozess verstanden. Gegenstand der Umgang mit dem Neuen eher blockiert. Überlegungen sind deshalb in erster Linie Organisationsfra- Dass sich derzeit die traditionellen Sinnstiftungsinstitutionen gen, also wie viel von welcher Waffengattung in welcher orga- nicht mehr als hinreichende Orientierungsinstanzen zeigen, nisatorischen Form gebraucht wird. Dazu kommen die Über- ist Konsequenz einer tief greifenden Veränderung des Wirt- legungen zur Umrüstung und praktischen Ausbildung, die auf schaftsprozesses. Die deutsche Gesellschaft ist eine hoch dif- die neuen Aufgaben zugeschnitten werden müssen. Und als ferenzierte Dienstleistungsgesellschaft geworden, in der die wichtigste Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten wird neuen Tätigkeitsfelder auch neue kulturelle Standards und die Haushaltslage bezeichnet. soziale Milieus erzeugt haben. Wenn man aber die interne Diskussion genauer beobachtet, Problematisch für die Streitkräfte daran ist, dass wegen der zeigen sich massive Defi zite in der realitätsgerechten Wahr- traditionellen Fixierungen der Armee der Teil der Gesellschaft nehmung der neuen Situation. Das hat ganz wesentlich mit immer kleiner wird, aus dem sie ihren Nachwuchs rekrutieren der technokratischen Grundorientierung im Offi zierkorps zu kann. Insbesondere für die technische Modernisierung im Be- tun, was heißt, dass wesentliche Zusammenhänge wie sie das reich Kommunikation und die eher unmilitärischen Aufgaben Konzept der Inneren Führung in seiner ursprünglichen Form in den Einsatzgebieten braucht sie Personal, das in den Teilen korrekt analysieren half, heute nicht oder zumindest nicht der Gesellschaft verankert ist, deren Distanz zur Armee größer hinreichend verarbeitet werden: 1. Bis heute gibt es kein konsistentes und zugleich anerkanntes 7 Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologie im 21. Jahrhundert (SFT21), Stabs- studie des Zentrums für Analysen und Studien der Bundeswehr im Auftrag Bild vom zukünftigen Krieg. Darüber systematisch nachzuden- des Bundesministeriums der Verteidigung, Sept. 2002.

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wird. Das geschieht nicht, weil man dort prinzipiell gegen die 2. Was ist die entscheidende Differenz zwischen Militär der Streitkräfte eingestellt ist, sondern weil das Bild, das Militär entwickelten modernen Staaten und den Gewaltorganisati- von sich selber produziert, dort auf Ablehnung stößt. onen in Bürgerkriegs- und Staatsverfallsgebieten mit teilweise erheblichem kriminellem Potential, und was kann und soll Ein solches gesellschaftliches Umfeld ist nicht nur in Rekru- modernes Militär in diesen Gebieten leisten? Oder anders tierungsfragen ein Problem, es ist es auch in Bezug auf die gefragt, was legitimiert militärische Interventionspolitik in Binnenstrukturen und das Führungsverhalten in den Streit- solchen Gebieten? kräften. Selbst unter Soldaten mit dem beschriebenen gesell- schaftlichen Konservatismus sind die neuen Wertemuster weit Die Beantwortung der zweiten Frage wird auch helfen, die verbreitet. Zudem gibt es eine große Differenz zwischen den erste zu beantworten. Was sind also die wichtigsten Merkmale Führungseliten und den Truppenoffi zieren allein schon aus und Funktionen modernen Staatenmilitärs? Altersgründen. Denn bei den im Schnitt jüngeren Truppen- Europäisches Militär wurde im 17./18. Jahrhundert erfun- offi zieren hat der Wertewandel schon weiter gegriffen als in den, um der Brutalisierung privatisierter und entgrenzter der älteren Gruppe der Kommandeure und höheren Stabsof- Gewalt des Dreißigjährigen Krieges ein Ende zu setzen. Sein fi ziere. So spiegelt sich die gesellschaftliche Wertedifferenzie- Zweck war Gewalteinhegung, Gewaltkontrolle und Frieden rung auch im Militär. Dagegen stehen aber die traditionellen innerhalb der Staatsgrenzen und der beherrschbare Einsatz Berufsnormen, deren intensivierte Propagierung immer mehr im Kriege. Dies durchzusetzen ist im Laufe der Jahrhunderte zu Beschwörungsformeln degeneriert. weitgehend gelungen. Die Differenzierung in Militär für den Die Unsicherheit und Unkenntnis in diesen Fragen verleitet, Einsatz nach außen und Polizei für den Erhalt des Friedens im in zwei Richtungen ideologisch auszuweichen. Die erste und Inneren ist eine kulturelle Errungenschaft Europas von größ- auch häufi gste ist, sich zum unpolitischen Gewaltexperten zu ter Bedeutung. stilisieren, dem ein juristisch korrekt zustande gekommener Dieses Militär wird gekennzeichnet durch militärischer Auftrag zur Legitimation reicht. Die zweite Aus- • das legitimierte staatliche Gewaltmonopol, weichbewegung geht in die Vergangenheit. Militär wird in Tra- ditionszusammenhängen defi niert und aus der historischen • die ethisch-moralische und die juristische Legitimierung, »Leistung« deutschen Militärs die Selbstverortung abgeleitet. • die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der Gewaltmittel, • den Schutz bestimmter Güter und Menschengruppen, 5.2 Transformation der Inneren Führung? • völkerrechtskonformen Einsatz der Gewalt.

Diese Frage ist eindeutig zu bejahen, aber mit einer völlig an- Diese Merkmale machen theoretisch Gewalteinhegung und deren Stoßrichtung, als sie derzeit in Teilen der Bundeswehr Gewaltkontrolle und den rationalen, kontrollierten Einsatz diskutiert wird. Es geht vielmehr darum, das ursprüngliche wie auch die Beendigung des Gewaltgebrauchs möglich. Es Konzept, wie es sich aus den Denkschriften und Reden Bau- sind genau diese Merkmale, die die Warlords, Bürgerkriegs- dissins ableiten lässt, wieder zur Geltung zu bringen. Innere kämpfer, Terroristen und die kriminellen Gewalthaufen eben Führung würde so zu einer Denkhilfe für alle militärischen nicht in Anspruch nehmen. Die Regelverletzung ist ihre ein- Probleme, nicht nur für das Motivationsmanagement. Legt zige Stärke, weil sie modernen Armeen sonst hoffnungslos man dieses Analyseschema einer Analyse der derzeitigen Pro- unterlegen sind. bleme zugrunde, lassen sich auf rationale Weise Zusammen- Was haben diese Ausführungen mit Innerer Führung zu tun? hänge, Abhängigkeiten und Erfordernisse ableiten. Man muss 1. Militärische Gewalt ist nur legitim im rechtskonformen Ein- nicht mehr glauben und hoffen, sondern kann analysieren satz. Das schützt Soldaten vor unzumutbaren Forderungen der und wissen, ja man kann sogar ableiten, was zu tun ist. Dann Politik oder von Vorgesetzten. wird aber auch deutlich, dass der Soldatenberuf 2. Rechtskonformität garantiert – zumindest theoretisch –, • ein politischer Beruf ist, moralische Belastungen des Soldaten in Grenzen zu halten. • eines ethischen Fundamentes bedarf, 3. Der instrumentelle Einsatz von Militär lässt – ebenfalls theo- • in demokratische gesellschaftliche Verhältnisse integriert retisch – die Begrenzung von Gewalt zu, kann Eskalation be- sein muss und grenzen, Deeskalation ermöglichen. • politischen Zwecken und Normen unterworfen ist. 4. Der Zusammenhang mit der demokratischen Gesellschaft Mit diesem von Baudissin genutzten Analyseschema lassen bleibt erhalten. sich auch die derzeit vielleicht heikelsten Fragen der Sicher- 5. Der Soldat kann sich zumindest theoretisch darauf verlas- heitspolitik hinreichend analysieren. sen, nur in legitimen, militärisch verantwortbaren und poli- 1. Ist es richtig, sinnvoll und Erfolg versprechend, mit Mi- tisch sinnvollen Einsätzen verwandt zu werden. litär den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen? Die 6. Der Soldat entgeht dadurch entgrenzter und brutalisie- innenpolitische Diskussion dazu hat ja schon vor einiger Zeit render Gewalt, die ihn, die feindliche und die eigene Gesell- auch in Deutschland begonnen, auch wenn sie wieder einge- schaft zerrütten und traumatisieren kann. schlafen zu sein scheint. Wichtig aber bleibt die Frage schon deshalb, weil der wichtigste Verbündete einen solchen Krieg 7. Die Chance zu einer völkerrechtskonformen Auseinander- gegen den Terrorismus führt. setzung wächst.

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8. Mit rechtlich eingehegter Gewalt besteht ein Instrument Verfassungsschutz und die Kriminalpolizei im Vorfeld, und und die Chance, in den Bürgerkriegs- und Staatszerfallsgebie- bei akuter Gefahr die Polizei, insbesondere über ihre Spezial- ten legale und begrenzte Gewalten zu etablieren und so Nati- formationen. Es geht also um Ausbau und Optimierung des onenbildung, Staatsbildung und Frieden zu stiften. Vorhandenen, um die Entwicklung der systematischen Zu- sammenarbeit, um die Aufklärung weit im Vorfeld auch im Mit dieser Aufzählung sind indirekt auch die Leistungsgrenzen Ausland, und um die Konstruktion von Netzen, in denen sich modernen Militärs umschrieben. Will Militär Militär bleiben, Terroristen möglichst frühzeitig verfangen. Dazu ist sicherlich muss es diese Grenzen aufrechterhalten und akzeptieren. Sonst wird es zu einer genauso kriminellen Institution wie auch eine personelle und technische »Aufrüstung« dieser In- die, die es bekämpfen soll. An den Kriegsverbrechen z. B. der stitutionen nötig. Wehrmacht in der Sowjetunion oder auf dem Balkan kann Wer glaubt, einen Krieg gegen den Terror führen zu können, man die Folgen des Tabubruchs ablesen. Die Konsequenz aus oder auf einer niedrigeren Stufe der Auseinandersetzung mit dem Gesagten ist deshalb, sich ganz genau zu überlegen, ob militärischer Gewalt Erfolg zu haben, muss zweifach schei- und wie selbst eine humanitäre Intervention ihren Zweck er- tern: reichen kann. Sie wird es sicher nicht tun, wenn der Intervent im Bürgerkriegsgebiet sich dem völkerrechtswidrigen Verhal- 1. Weil Militär dazu untauglich ist, es sei denn, man verzich- ten seiner Kontrahenten anpasst. tet auf die rechtliche und moralisch-ethische Einbindung von Soldat und Organisation. Dann produziert man aber auch den Moderne Gesellschaften brauchen den Frieden auch außer- Bruch mit den traditionellen Bindungen des Militärs. Histo- halb ihres Territoriums. Er ist die Voraussetzung dafür, die rische Beispiele gibt es reichlich in der Militärgeschichte. kulturellen Standards aufrechterhalten zu können. Dazu wurde auch die Art von Militär geschaffen, die sich an Recht 2. Weil er durch die unspezifi sche Art der dadurch erzwun- und Gesetz, Disziplin und professionelle Regeln hält. Damit genen Gewalteskalation sind aber auch Grenzen beschrieben, über die dieses Militär • die Wirkungen des Terrors multipliziert, nicht hinausgehen darf, weil sonst der Absturz in die Barba- • eine Brutalisierung auch der eigenen Gesellschaft fördert, rei droht, selbst dann, wenn es deshalb bestimmte Aufgaben nicht erfüllen kann. Für das, was dieses Militär nicht leisten • die Traumatisierung von Soldaten und Teilen der Gesell- kann, müssen andere Instrumente geschärft werden, vielleicht schaft mit unabsehbaren Folgen für die politische Psycho- auch einiges neu erfunden werden. Aber Militär muss Militär logie riskiert, bleiben, darf nicht zum Sold- und Gewalthaufen degenerie- • eine Gewöhnung an Gewalt als Mittel der Politik und zur ren. Die sich abzeichnende Privatisierung der Gewalt durch Durchsetzung von Alltagsinteressen herbeiführt, die einen amerikanische Sicherheitsfi rmen im Irak ist aus der Sicht der Verlust derjenigen kulturellen Standards zur Folge hat, die europäischen Tradition und Erfahrung eindeutig der falsche wiederum das Funktionieren komplexer Gesellschaften erst Weg. Denn keiner kann die politische Loyalität solcher Privat- garantieren, armeen garantieren, nicht einmal ihren Erfolg! • die Legitimität des eigenen Handelns vor der Welt verliert Was klärt dies aber in der Terrorismusfrage? Da Terroristen (USA). systematisch den Tabubruch betreiben, ihr Erfolg von der Aus all diesen Gründen gilt es, eine umfassende rationale Ana- Verletzung der Rechtsordnung abhängt. Da Militär das Glei- lyse im beschriebenen Sinne als Grundlage für eine tragfähige che nicht tun darf, wenn es Militär bleiben soll, verbietet sich Transformation der Bundeswehr ohne Verlust an demokra- der Einsatz von Militär gegen Terroristen. Außerdem ist nicht tischer und legitimatorischer Substanz zu entwickeln. Dazu ersichtlich, wie mit Truppenverbänden gegen Einzelkämpfer ist mit dem hier vorgestellten ursprünglichen Konzept der oder Kleingruppen vorgegangen werden kann. Militär kann Inneren Führung eine Hilfe gegeben, zu der es bis heute keine also seiner eigenen Logik nach und auch nach seinen konsti- bessere Alternative gibt. Rückbesinnung ist also notwendig, tutiven Wertbindungen kein geeignetes Instrument sein. aber keine auf historisierende Traditionalismen, sondern auf Was aber dann tun? Die theoretisch wirksamen Instrumente die Grundlagen und das ursprüngliche Konzept der Inneren haben wir längst. Die Frage ist nur, ob sie auch schon faktisch Führung. Nicht sie muss transformiert werden, sondern die hinreichend funktionieren. Es sind die Geheimdienste, der Armee mit ihrer Hilfe und nach ihren Prinzipien.

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Innere Führung und Transformation der Bundeswehr Anmerkungen zu 50 Jahren Innere Führung in der Bundeswehr Thomas R. Elßner*

Abstract: The postwar is 50 years old this year. As part of its leadership structure, it has an advisory body called »Innere Führung«, internal leadership. Its brief encompasses fundamental questions of the rights and duties of soldiers, with particular focus on ethical questions. The German Army is in the midst of structural changes, a process labelled Transformation. The major change is a switch from a purely defensive force to one that is available for operational duties all over the world. This has repercussions on the German soldier’s job description. It has been an essential feature of the post-war German Army that its soldiers remain part of the civic society. A soldier’s right to refuse orders on grounds of conscience has recently come under criticism. A new situation in overseas confl icts is that an army may be confronted by »boy soldiers«, children who take an active part in armed combat. This requires new thinking.

Keywords: Himmeroder Denkschrift, Handbuch Innere Führung, Transformation der Bundeswehr, Kommando Spezialkräfte, Gewissensentscheidung, ethisch und moralisch kompetentes Entscheiden und Handeln

1. Anlaß eingehen. Kurz gesagt, es ging bei jener streng geheimen und abgeschirmten Zusammenkunft knapp fünfeinhalb Jahre nach n diesem Jahr erinnert man an 50 Jahre Deutsche Bun- dem Endes des Zweiten Weltkriegs um die Wiederbewaffnung deswehr, die zugleich auch fünfzigjähriges Bestreben des Westens Deutschlands. Bereits in jener Denkschrift gibt Ipraktischer Umsetzung von Prinzipien der Inneren Füh- es einen eigenen Abschnitt V, der mit »Das innere Gefüge«3 rung sind. Das Jubiläum fällt in eine Zeit, die im Zeichen überschrieben ist. Dieser Abschnitt ist von Wolf Graf von der Transformation der Bundeswehr steht. Und diese Trans- Baudissin, dem Begründer der Inneren Führung, formuliert formation bezeichnet der Bundesverteidigungsminister als worden.4 Im Abschnitt A, der die Überschrift »Vorbemerkung« »die gravierendste Veränderung, die die Bundeswehr jemals trägt, steht der zentrale und eine grundsätzliche Intention der 1 mitgemacht hat«. Von daher steht zu vermuten, daß sich Inneren Führung wiedergebende Satz, welcher gerade auch diese Transformation auch auf die Innere Führung auswirken mit Blick auf die sich gegenwärtig vollziehende Transformati- wird. Anders gewendet: Wie begleitet und gestaltet die Inne- on der Bundeswehr Relevanz beanspruchen darf, »dass Geist re Führung diesen Transformationsprozeß, auch ungefragt? und Grundsätze des inneren Neuaufbaues von vornherein Nicht zuletzt wird dieser Transformationsprozeß Einfl uß auf auf lange Sicht festgelegt werden und über etwa notwendige die Tiefenstruktur des Leitbildes des Soldaten nehmen, wel- Änderungen der Organisation ihre Gültigkeit behalten«.5 Mit cher aber jetzt noch nicht ganz absehbar ist. Von daher gilt anderen Worten, die von Baudissin geforderte und angestrebte es durchaus auch fragmentarisch Rückschau zu halten und Innere Führung ist auf Dauer angelegt, was nicht heißt, daß sich einiger gegenwärtiger Problemfelder Innerer Führung zu sie nach ihrem Selbstverständnis starr und unveränderlich ist. vergewissern. Dies bedeutet zudem, daß die »Himmeroder Denkschrift« die Grundsätze der Inneren Führung im baudissinschen Sinne nicht nur »auf lange Sicht festgelegt« wissen will, sondern 2. Die »Himmeroder Denkschrift« auch »über etwa notwendige Änderungen der Organisation« hinweg. Vom 6. bis 9. Oktober 1950 tagte im Kloster Himmerod in der Eifel ein von Bundeskanzler Adenauer berufener militärischer Der Abschnitt C. ist mit »Ethisches« (sic) überschrieben. Die- Expertenausschuß, welcher sich mit der »Aufstellung eines se etwas vage anmutende Überschrift ist insofern nicht ganz Deutschen Kontingents im Rahmen einer übernationalen ungerechtfertigt, als es in diesem Teil nicht um Ethik, sondern Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas« beschäftigte. Diese vielmehr um spezifi sche ethikrelevante Teilaspekte in Bezug unter jenem Titel verabschiedete, zunächst nicht frei zugäng- auf die Bundeswehr geht. An erster Stelle steht dabei der Eid, liche Denkschrift wird später unter der Bezeichnung »Himme- welcher anscheinend zugleich auch mit dem Ausdruck »fei- roder Denkschrift«2 in die bundesrepublikanische Geschichte 3 Detlef Bald weist darauf hin, daß dieser Terminus an sich bereits in der Wehrmacht verwendet worden ist, vgl. ders., Norm und Legenden einer * Dr. Thomas R. Elßner ist Dozent für katholische Theologie/Ethik am Zen- zeitgemäßen »Inneren Führung«: Was bei der Militärreform nach dem Jahr trum Innere Führung. 2000 zu bedenken ist, in: Detlef Bald/Andreas Prüfert (Hrsg.), Innere Füh- 1 Interview mit Peter Struck »Noch zehn Jahre Afghanistan«, in: Hamburger rung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Forum Innere Führung 19, Abendblatt, 04.07.2005. Baden-Baden 2002, S. 35f. 2 Die »Himmeroder Denkschrift« ist vollständig publiziert in: Hans-Jürgen 4 Vgl. Angelika Dörfl er-Dierken, Ethische Fundamente der Inneren Führung. Rautenberg/Norbert Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift« vom Ok- Baudissins Leitgedanken: Gewissensgeleitetes Individuum – Verantwort- tober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der licher Gehorsam – Konfl ikt- und friedensfähige Mitmenschlichkeit, Berichte Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 77, Strausberg 2005, S. 103. 2 1985, S. 36 – 60. 5 Hans-Jürgen Rautenberg/Norbert Wiggershaus a.a.O., S. 53.

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erliche Verpfl ichtung« umschrieben wird. Welcher Verpfl ich- wird in diesem Handbuch der Eid thematisiert. Auffällig ist, tungsgrad diesem Eid zugemessen und wie er inhaltlich aus- daß hier der Eid von vornherein und fast ausschließlich auf gestaltet werden soll, wird nicht genannt.6 ein Transzendentes, ein dem Menschen nicht einfach hin Zu- gängliches, bezogen wird. Das betreffende Kapitel lautet daher Konkreter äußert sich die Denkschrift zur Frage der Gehorsams- auch: »Der Eid: Vor der letzten Instanz.«10 Auf dieser Linie sprich Befehlsverweigerung. Ausdrücklich ist von »Recht und liegt es, daß der Eid zudem auch mit dem Prädikat »Heilig- Pfl icht zu Ungehorsam« die Rede, welche »nur für den Fall keit« gekennzeichnet wird. Somit kann es dann auch nicht gelten, dass der Untergebene klar und eindeutig erkennt, dass mehr sehr verwundern, daß ein Abschnitt, der grundlegende der Befehl ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Völ- Aspekte eines Eides zu erörtern sucht, mit »Gott mehr gehor- kerrecht oder sonstige militärische und bürgerliche Rechtssät- chen«11 überschrieben ist. Auf diese Weise wird scheinbar wie ze beabsichtigt«7. Hierbei ist zweierlei zu notieren: Zum einen selbstverständlich das Forum genannt, vor welchem der Eid fi ndet das Institut einer Befehlsverweigerung aus Gewissens- geleistet wird, und zwar »vor der höchsten und letzten Instanz gründen expressis verbis keine Erwähnung, und zum anderen dieser Welt«, »vor einer absoluten und unbestechlichen In- wird das Recht der Befehlsverweigerung auf die Befehle ein- stanz«. Deutlich wird, daß das Kapitel Eid, dessen Spiritus rector gegrenzt, die »klar und eindeutig« als massive Verstöße gegen Baudissin ist, nicht nur mit religiösen, näherhin christlichen geltendes Recht erkannt werden. Der Ausdruck »klar« ist im Hintergrundannahmen arbeitet, sondern daß diese als wesent- Original durch Unterstreichung hervorgehoben. Das Junktim liche Voraussetzung auch ausdrücklich artikuliert werden, um »klar und eindeutig«, welches dem Befehlsempfänger schein- Eid fähig sein und sittlich handeln zu können. Wie wesentlich bar entgegenkommt, greift insgesamt letztlich noch zu kurz.8 für das Handbuch diese so genannte »letzte Instanz« ist, die Denn erstens kehrt es in gewisser Weise die Beweislast um, da auch mit Begriffen wie »der Höchste«, »Gott«, und »personaler der Befehlsempfänger in jedem Fall »klar und eindeutig« einen Gott« spezifi ziert wird, veranschaulicht der Satz: »Aber auch zu verweigernden Befehl als rechtswidrig auch dem Befehlsge- der, der nicht an einen personalen Gott glaubt, muß sich da- ber gegenüber kennzeichnen muß. Nicht unbegründete An- rüber im Klaren sein, daß er den Eid vor einer letzten Instanz fangsverdachte, Zweifelsfälle und Grauzonen scheiden somit ablegt.«12 Wer oder was diese letzte Instanz sein kann oder aus. Dem korrespondiert zweitens, daß der einzelne Befehls- soll, bleibt in der Schwebe. Letztlich unternimmt Baudissin empfänger in Bezug auf die Anwendungsmöglichkeiten der modernen Kriegstechnik, wie sie schon im Zweiten Weltkrieg auch mit Blick auf den 20. Juli 1944 den durchaus verständ- bestanden, oft gar nicht »klar und eindeutig« erkennen und lichen, aber dennoch anachronistisch anmutenden Versuch 13 darlegen kann, ob der befohlene Einsatz eines Waffensystems einer Redivinisierung des Eides. Erinnert sei, daß bereits in seinen Auswirkungen tatsächlich nicht völkerrechtswidrig am 12. März 1902 das Reichsmilitärgericht dem Fahneneid ist. Dies trifft auch für den Befehlsgeber selbst zu. »nur die Bedeutung einer äußerlich erkennbaren feierlichen Bekräftigung getreuer Erfüllung der schon im Augenblick der Ein Fazit lautet: Die »Himmeroder Denkschrift« will einerseits Zugehörigkeit zum aktiven Heer (§ 38 RMG) übernommenen das Recht auf Befehlsverweigerung mit Bezug auf die aufzu- Dienstpfl ichten«14 zuerkannt hatte. stellenden Streitkräfte grundsätzlich in Geltung setzen, und anderseits fi ndet sich in ihr die Instanz ›Gewissen‹ nicht. Ob Ein qualitativer Unterschied der »Himmeroder Denkschrift« die Denkschrift dennoch mit der Möglichkeit rechnet, Befehle gegenüber besteht im Handbuch darin, daß in ihm die Fra- auch unter Berufung auf das Gewissen zu verweigern, muß ge nach dem Gewissen aufgegriffen wird. Ausdrücklich wird offen bleiben. hervorgehoben, daß sich der Eidgeber mit seinem Eid nicht dem Eidnehmer total ausliefert und somit auch nicht »seine sittlichen Maßstäbe nunmehr vom Eidträger (d.h. Eidnehmer, ThRE) bezöge« und daß von daher auch nicht »sein Gewissen 3. Handbuch Innere Führung (das des Eidgebers, ThRE) von jetzt an zu schweigen hätte«.15 Damit ist grundsätzlich klargestellt, daß das Gewissen über ei- Das Handbuch Innere Führung, welches in erster Aufl age 1957 nen Eid sowie daraus scheinbar resultierende Verpfl ichtungen im Druck erschien, nennt als primären Adressaten, wie man gestellt ist. Nicht mehr kodifi zierte und im Idealfall klar ein- dem Vorwort entnehmen kann, den Offi zier, zu welchem sehbare und verstehbare Gesetze allein bilden eine nicht zu auch der Offi ziersanwärter gerechnet wird.9 Gleich zu Beginn überschreitende Grenze, welche Befehlsverweigerungen recht-

6 Genannt wird, daß der Eid »das Bekenntnis zu Europa und dem deutschen fertigen und erforderlich machen, sondern auch eine so kom- demokratischen Staat enthält«. Als Eidnehmer werden Staatsoberhaupt und plexe Instanz wie das Gewissen. Die Schwierigkeit bei dieser Verfassung genannt. 7 Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus a.a.O., S. 54. 8 Im Hintergrund dieser Formulierung steht mit Berufung auf die »Rechtspra- 10 Ebenda, S. 7. xis« die Präsumption, daß » – vor allem während des Zweites Weltkrieges 11 Ebenda, S. 9. Im Text selbst wird auf diese Überschrift noch einmal mit dem – dem Untergebenen oft nicht ›bekannt‹ sein konnte, daß er durch die Aus- Satz, welcher letztlich ein Bibelzitat ist (vgl. Apg 5,29), »Wenn wir Gott führung eines Befehls an einer strafbaren Handlung teilnahm«, Hans-Jürgen mehr gehorchen sollen als den Menschen …« wie selbstverständlich Bezug Rautenberg/Norbert Wiggershaus a.a.O., S. 73, Anm. 229. Aufgrund dieser genommen. Sowohl bei der Überschrift als auch bei dem Konditionalsatz Annahme wurde von Rechtsexperten der Dienststelle Blank versucht, den handelt es sich um ein Bibelzitat (vgl. Apg 5,29). Begriff »offensichtliche Rechtswidrigkeit« einzuführen, um so über die Ka- 12 Ebenda, S. 10. tegorie »offensichtlich rechtswidriger Befehl« verfügen zu können. 13 Schon Ernst Friesenhahn konstatierte: »Nachdem dieser allgemeine Gottes- 9 Etwas abgesetzt von diesen Primäradressaten heißt es dann: »Darüber hinaus glaube geschwunden war, mußte selbstverständlich auch der religiöse Eid möge sich jeder Interessierte über die Grundsätze und methodischen Wege als Versicherungsformel fallen. An die Stelle Gottes trat der Staat als letzte der Inneren Führung des Staatsbürgers in Uniform unterrichten«, Bundes- metaphysische Instanz«, ders., Der politische Eid, Bonn 1928, S. 11. ministerium für Verteidigung (Hrsg.), Handbuch Innere Führung. Hilfen zur 14 Zitiert bei Ernst Friesenhahn a.a.O., S. 103. Klärung der Begriffe, o. O. 1957. 15 Bundesministerium für Verteidigung (Hrsg.), a.a.O.,S. 10.

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Instanz, die als ein »real erfahrbares seelisches Phänomen«16 nere Führung gab und gibt. Freilich bilden Eid und Gewissen bezeichnet werden kann, ist, daß sie sich nicht einer für alle zwei besonders hervorgehobene Themenkreise, welche die einsehbaren und nachvollziehbaren Überprüfung unterzie- ethische Refl exion des Soldaten (bisher) strukturier(t)en. Ge- hen, aber auch nicht bloß dem Bereich der Beliebigkeit zuord- genwärtig dominiert seit dem Ende des Kalten Krieges und der nen läßt. Das Problem, welches sich schon 1957 ankündigte Wiedervereinigung Deutschlands mehr als bisher ein rasanter und heute sehr viel deutlicher zur Kenntnis zu nehmen ist, Veränderungsprozeß vor allem im Hinblick auf die Organisa- besteht darin, daß die Instanz Gewissen im Allgemeinen und tion und das Anforderungsprofi l die Bundeswehr. Dieser wird die des Gewissens im normativ christlichen Verständnis im emotional und rational nicht immer von allen mitvollzogen. Besonderen nicht als selbstverständlich und von Akzeptanz Während sich in der Zeit des Kalten Krieges zwei militärische grundiert anzusehen ist. Da aber das Institut des Gewissens Blöcke atomar bewaffnet massiv gegenüberstanden, so daß als aus gutem Grund fest in der Verfassung verankert ist, eine friedens- und sicherheitspolitische Option nur das Nicht-An- plurale Gesellschaft sich aber nicht auf ein Verständnis von greifen bzw. das Verhindern eines Angegriffen-Werdens gelten Gewissen festlegen läßt, ergeben sich hieraus auch für die In- konnte, so wandelt sich die Bundeswehr gegenwärtig zu einer nere Führung refl exive Arbeitsfelder. Armee im Einsatz, um nicht zu sagen zu einer Einsatzarmee. Nachdem im Handbuch mit Bezug auf den Eid jeweils ei- Längst zu einem Gemeinplatz ist der Hinweis geworden, daß gens auf die Bedeutung von »Treue«, »Tapferkeit« sowie von man sich vor 1989 nicht wirklich vorstellen konnte, daß einmal »Recht und Freiheit« eingegangen worden ist, wird unter der bundesdeutsche Soldaten in Afrika eingesetzt (Somalia 1992), Überschrift »Letzte Konsequenzen« noch einmal das Thema über einen längeren Zeitraum auf dem Balkan stationiert und Eid grundsätzlich aufgegriffen. Dabei wird wiederum deut- im Rahmen so genannter Antiterrormaßnahmen sogar nach lich, daß den Hintergrund dafür vor allem der 20. Juli 1944 Afghanistan geschickt werden. Ganz zu schweigen davon, daß bildet. Dies verdient allein insofern schon Beachtung, als es sich Deutschland an einem anfangs völkerrechtlich nicht legi- selbst 1957, also 13 Jahre nach dem mißglückten Attentat, timierten militärischen Vorgehen (Kosovo 1999), ausgerech- in der Bundesrepublik Deutschland nicht selbstverständlich net im fünfzigsten Jahr des Bestehens der NATO, beteiligen war, »die Männer des 20. Juli 1944« tatsächlich auch als Vor- könnte. Vorerst unbeantwortet ist für viele auch die Frage, ob bilder anzuerkennen, auch nicht in der nur wenige Monate die direkte Nichtbeteiligung Deutschlands an dem militärisch zuvor aufgestellten Bundeswehr. Es war noch immer keines- robusten Vorgehen gegen den Irak auf mehr innenpolitische wegs selbstverständlich, ihr Handeln als »die rechte Treue, oder auf grundsätzlich völkerrechtliche Erwägungen (Fehlen de(n) rechte(n) Gehorsam und die rechte Verantwortung vor eines Mandates des UN-Sicherheitsrates) zurückzuführen ist. Gott«17 anzuerkennen. Durchaus hellsichtig wird ausdrücklich Unverkennbar aber ist, daß die Bundeswehr zu einer Armee im Handbuch darauf hingewiesen, daß sich selbst ein in der im Einsatz wird, was die Verteidigungspolitischen Richtlinien Bundeswehr Dienstleistender einer »Illusion hingeben« wür- vom 21.05. 2003 (Nr. 84) bestätigen. de, wenn er verkennt, daß ihm »die Frage nach seiner letzten Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden zwei Ereignisse, Verantwortung in seiner Dienstzeit nicht mehrfach gestellt die man geneigt sein könnte, als so genannte Epiphänomene 18 werden würde«. Die Folgerung, die im Handbuch daher abzutun, als eine ernst zu nehmende Problemanzeige auf un- gezogen wird, lautet, daß derjenige, der jene Frage nach der terschiedlicher Ebene zu verstehen. Diese Beispiele, unabhän- letzten Verantwortung überhört, vor Gott eidbrüchig werden gig von ihren jeweiligen Protagonisten, können illustrieren, kann, selbst wenn er formaliter keinen Eidbruch begeht. Die was es bedeutet bzw. was es nicht bedeuten kann, zu einer gesellschaftliche Situation der fünfziger Jahre, welche man Einsatzarmee zu mutieren. auch mit dem Begriff Restauration zu kennzeichnen versucht, aber auch die zum Teil durchaus persönliche Einstellung Bau- dissins spiegelt die Tatsache, daß das Handbuch zum Abschluß des Kapitels »Der Eid« den Eid selbst wiedergibt, und zwar 4.1 Innere Führung und Kommando übergangslos mit der religiösen Bekräftigungsformel »So wahr Spezialkräfte mir Gott helfe«. Somit wird nicht erkennbar, ob diese Formel unverzichtbarer Bestandteil des Eides ist oder ob es sich bei ihr Integration gehört nach Auskunft des »Lexikon Innere Füh- 19 um ein fakultatives Element handelt. rung« zu »den Schlüsselbegriffen der Bundeswehr«. Folgt man diesem Schlüsselbegriff, so stößt man in diesem Lexikon auf den »Versuch einer Defi nition« in Bezug auf Innere Füh- rung, welcher das Ziel von Integration anzeigt. Dieser »Ver- 4. Transformationen/Zwischenbilanz such einer Defi nition« schließt mit dem Satz: »Ihre Prinzipien (die der Inneren Führung, basierend auf dem »Menschenbild Wenngleich Fragen des Gewissens und des Eides bisher im des Grundgesetzes« und dem »Leitbild vom ›Staatsbürger in Vorgrund dieses Artikels standen, so wird nicht verkannt, daß Uniform‹«, ThRE) bewirken – richtig angewendet und umge- es auch andere ebenso wichtige Diskussionsfelder für die In- setzt – auf vielfältige Weise die Integration der Armee in den

16 So qualifi ziert beispielsweise das Bundesverfassungsgericht das psychische Staat, konkret: des Bürgers in die Bundeswehr, des Soldaten Phänomen Gewissen, vgl. Ulrich K. Preuß, I. Die Grundrechte – Art. 4, in: in die Gesellschaft und – schließlich – der Bundeswehr in Erhard Denninger (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Neuwied; Kriftel 2001, S. 33. 17 Ebenda, S. 12. 19 Hans-Joachim Reeb/Peter Többicke, Lexikon Innere Führung, Regensburg; 18 Ebenda, S. 12. Berlin 22003, S. 145.

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die Demokratie«.20 Neben dem hohen Stellenwert, welcher Leitbild des Staatsbürgers in Uniform sei diesem ehemaligen Innerer Führung insgesamt zukommt, geht es also in jedem Kommandeur zufolge noch nie recht wirklichkeitstauglich ge- Fall um eine zu gelingende Integration des Soldaten in den wesen, und es sei jetzt in der Zeit der Auslandseinsätze gänz- demokratischen Staat und in die demokratische Gesellschaft. lich obsolet geworden. Damit wird die seit Beginn der Aufstel- Anders gewendet, dem Selbstverständnis Innerer Führung wi- lung der Bundeswehr auch von recht unterschiedlichen Seiten derspricht von Beginn an jedwede Konzeption, die strukturell artikulierte Unterstellung wiederholt, daß das baudissinsche und/oder mental eine so genannte »Staat-im-Staat-Bildung« in Konzept des Staatsbürgers in Uniform nur deshalb eingesetzt, den Streitkräften begünstigt. um nicht zu sagen bewußt instrumentalisiert worden sei, »um die Nachkriegsmentalität mit der Wiederbewaffnung zu ver- Die Ablösung eines Kommandeurs des Kommando Spezial- söhnen«.24 Somit wird dem Konzept der Inneren Führung von kräfte 2003 zeitigte u.a., daß dieser sich nach seiner Entlas- vornherein lediglich ein funktional und zeitlich begrenzter sung aus der Bundeswehr publizistisch noch einmal zu Wort meldete und sich auch zu Fragen der Auslandseinsätze und der Auftrag und Rahmen zugewiesen und jetzt als zeitbedingt Inneren Führung äußerte.21 Da diese Wortmeldung sozusagen abgetan: Denn nach den Erfahrungen Deutschlands im und die Führungsphilosophie des ehemaligen Kommandeurs wie- nach dem Zeiten Weltkrieg »mußte man natürlich versuchen, dergibt, wohlgemerkt eines Generals einer sich als Eliteeinheit die Wiederbewaffnung auf irgendeine Art und Weise dem Volk verstehenden Einsatztruppe, kann daraus geschlossen werden, wieder schmackhaft zu machen. Da hat man dann die ›Inne- daß diese auch im Truppenalltag fraglos Anwendung fand. re Führung‹ und den ›Staatsbürger in Uniform‹ aus dem Hut 25 Unabhängig von der Person offenbart diese Führungsphilo- gezaubert« . sophie mindestens zweierlei: Einerseits ist ein abgeschirmter Auch wenn diese Aussagen in der Schärfe dieser Diktion als und ein sich zugleich abschirmender militärischer Bereich, nicht repräsentativ für die Bundeswehr gelten können, so stel- dessen Mitglieder zudem unterschiedlichen extremen Bela- len sie dennoch im Kern keine Einzelmeinung dar und lassen stungen und Einschränkungen ausgesetzt sind (militärisch, mindestens zwei seit 1955 andauernde Probleme erkennen. familiär), offenbar anfällig für Entwicklungen, die einer »Staat Zum einen wird Innere Führung bei einem nicht ganz gerin- im Staat« sowie einer soldatischen Sui-generis-Mentalität Vor- gen Prozentsatz in der Bundeswehr immer noch als letztlich schub leisten und die auch allgemein sowohl mit Prinzipen nicht ganz wirklichkeitstauglich angesehen. Zum anderen der Inneren Führung als auch mit denen einer demokratischen wird ungeprüft unterstellt, daß sich die Prinzipien der Inneren Gesellschaft, vorsichtig formuliert, nur recht unzureichend Führung mit den vermeintlichen Anforderungen eines Solda- vereinbar sind. Andererseits werden diese problematischen ten im Auslandseinsatz erst recht nicht in Einklang bringen Entwicklungen anscheinend von nicht wenigen dort einge- ließen. Diese Behauptungen und Annahmen, die so neu wie- setzten Soldaten eher als unbedenklich empfunden, vielmehr derum der Sache nach nicht sind, erfahren anscheinend eine sogar akzeptiert. Somit griffe eine Analyse, die in diesem Rah- Stabilisierung und Akzeptanz vor allem in doppelt abgeschot- men nicht geleistet werden kann, aber höchst notwendig ist, teten militärischen Bereichen und werden vermutlich gerade- zu kurz, wenn man diese Probleme nur auf die Person eines zu zwangsläufi g entsprechende Auswirkungen auf die Denk- Kommandeurs reduziert oder gar mit einem Hinweis auf ihn strukturen und Handlungsabläufe in diesen Binnenräumen als schon erledigt glaubt. Die Fehlentwicklungen sind nicht insgesamt haben. Doppelt abgeschottet meint: Einerseits die zuletzt auch systemimmanent. Somit sind die Bedingungen, anscheinend vom Gesetzgeber und vom Dienstherrn gewollte die eine entsprechende Entwicklung begünstig(t)en, sine ira institutionalisierte Absonderung der KSK-Einheit selbst gegen- et studio auf den Prüfstand zu stellen. über der »übrigen« Bundeswehr, sozusagen nach innen, und Näher hin stellt jener ehemalige Kommandeur Kommando im Hinblick auf die demokratische Gesellschaft nach außen Spezialkräfte zum »Leitbild des Staatsbürgers in Uniform« fest, hin. Andererseits die Selbstdispensierung gegenüber geltenden, daß es »leider offi ziell immer noch Bestand« habe und daß es im Konsens errungenen Leitbildern (Staatsbürger = »Spießbür- sich dabei im Grunde um ein »idyllische(s) Bild« handle, »das ger in Uniform«26; Innere Führung = »›Blaue Blume‹ des Mi- man aus der Biedermeierzeit entliehen hat«.22 Von daher ist litärs!« sowie »Heilige Einfalt«27) und eine gewollte mentale es in dieser Perspektive nur konsequent, daß das Leitbild des Abgrenzung anderen gegenüber (vormoderner Korpsgeist28). Staatsbürgers in Uniform »mit den heutigen Auslandseinsät- Dem ordnet sich das Bekenntnis ein: »Selbstverständlich ver- zen – ›Verteidigung am Hindukusch‹ – völlig überholt« sei. Da- sucht die Armee, manches heimlich zu verbessern, aber man rum: »Ehrlicherweise hätte der ›Bürger in Uniform‹ mit dem darf natürlich an den großen Gründungsdogmen nichts än- ersten Auslandseinsatz feierlich begraben werden müssen. dern.«29 Zudem steht zu vermuten, daß solche Auffassungen Denn: Jetzt muß auch der deutsche Soldat wieder kämpfen mittel- und langfristig zu einer mentalen Verkrustung führen, können!« Damit wird das Leitbild des Soldaten im schlichten da sie kein ernst zu nehmendes Korrektiv erfahren und/oder Umkehrschluß auf den Kämpfer im Einsatz reduziert.23 Das dulden.

20 Ebenda, S. 320. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus: H.P. Jermer, Inne- 24 Ebenda, S. 73. re Führung – auf den Punkt gebracht. Gedanken zu Wesen und Wirkung 25 Ebenda, S. 73. der Führungskultur der Bundeswehr, in: Oskar Hoffmann/Andreas Prüfert 26 Ebenda, S. 73. (Hrsg.), Innere Führung 2000, Forum Innere Führung 11, 2001, S. 49. 27 Ebenda, S. 86. 21 Vgl. Reinhard Günzel, Und plötzlich war alles politisch – Im Gespräch mit 28 »Dieses Offi zierkorps muß mit seinen Wertmaßstäben, seinem Ehrenkodex, Brigadegeneral Reinhard Günzel, Schnellroda 2004. seinen Maximen praktisch die militärische alma mater sein, an der sich der 22 Ebenda, S. 72, passim. junge Offi zier grundsätzlich und in allen Zweifelsfragen ausrichtet«, ebenda, 23 »Die Nagelprobe für eine Armee ist nun einmal der Krieg, und sonst nichts. S. 93. Darauf müssen alle Maßnahmen abzielen«, ders. a.a.O., 66. 29 Ebenda, S. 74.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 193 THEMENSCHWERPUNKT | Elßner, Innere Führung und Transformation der Bundeswehr

Die Gretchenfrage lautet daher, welches Leit- und Berufsbild einer Zwangslage befi ndet (z. B. Abwehr eines Angriffs).35 Jene des Soldaten besonders im Hinblick auf Auslandseinsätze sei- Eskalationsgefahr wird umso mehr akut, »je länger die Gewalt- tens der Bundeswehr kommuniziert und welches tatsächlich phase andauert und je mehr sich die wechselseitige Gewaltan- gewünscht wird. Denn vor dem Hintergrund, daß ein Einsatz wendung intensiviert«. Hinzu kommen Gewöhnungseffekte von militärischer Gegengewalt strengen völkerrechtlichen Kri- an Gewalt, welche »die anfangs vielleicht noch gegebenen terien unterliegt und nur als Ultima Ratio in Betracht kommt30 ethischen Sensibilitäten zunehmend an handlungsleitender und von daher instrumentell nicht einfach hin ein politisches Wirksamkeit einbüßen«36 lassen. Noch einmal: Welcher Typ Mittel unter anderen sein kann, ist grundsätzlich auch einem von Soldat ist gefragt? Schließlich ist nicht zu verschweigen, berufsgruppeninternen Begründungs- bzw. Motivationsansatz daß auch jeder militärische Einsatz stets ein irrationales Ele- für Auslandseinsätze entgegenzutreten, daß Soldaten der Aus- ment in sich birgt: »Unexpected situations arise during con- landseinsatz »wesentlich besser gefällt, als der Routinedienst in fl icts, and the individuals that react to these situations will der Heimat, weil er (der Einsatz; ThRE) also ihrem soldatischen not have the luxury of time and hindsight to anticipate the Selbstverständnis entspricht«.31 Eine solche Begründung ver- consequences. This is why war will never be truly rational- 37 fehlt grundsätzlich, weshalb Auslandseinsätze der Bundeswehr ized, humanized, or contained by law.« Die Ereignisse im bisher überhaupt als notwendig eingestuft worden sind, und Irak belegen diese Einsicht täglich aufs Neue. gerät zudem mit dem Grundsatz strikter Völkerrechtskonfor- mität von militärischen Auslandseinsätzen, dem Grundgesetz, aber auch mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien des 4.2 Das Gewissensurteil Verteidigungsministeriums in Konfl ikt.32 Somit verdeutlichen gerade die Ereignisse und Berichte, die mit dem Kommando Einem Paukenschlag gleich kam für einige das Urteil des Spezialkräfte in Verbindung stehen33, zumal es sich bei ihm zweiten Wehrdienstsenates des Bundesverwaltungsgerichts bereits um ein Element der vollzogenen Neuausrichtung der in Leipzig vom 21. Juni 2005, welches einen Stabsoffi zier Bundeswehr handelt, die Schwierigkeit mit der Beibehaltung von dem Vergehen freisprach, gegen seine Gehorsampfl icht der Leitbilder Innerer Führung, die man nach baudissinschem (Soldatengesetz § 11 Abs. 1) verstoßen zu haben (BverwG 2 Konzept mit »Soldat für den Frieden, Staatsbürger in Uniform, WD 12.04). Dieser Offi zier hatte sich unter Berufung auf sein Gewissen geweigert, weiterhin an der Entwicklung eines mili- Autonome Persönlichkeit im soldatischen Dienst«34 bzw. ge- tärischen Software-Programms mitzuarbeiten. Der Vorgesetzte wissensgeleitetes Individuum bestimmt. Als Problemanzeige des Soldaten konnte nicht ausschließen, daß »mit der Arbeit läßt sich hier als These formulieren: Die Grundsätze Innerer an dem Projekt eine Beteiligung der Bundeswehr an dem von Führung gelten in allen Bereichen der Bundeswehr oder sie ihm als völkerrechtswidrig angesehenen Krieg gegen den IRAK gelten letztlich nicht. Wird ihnen in einigen vorerst auch nur unterstützt werde«38. Sieht man einmal von der konkreten wenigen Bereichen ihre Relevanz und Tragfähigkeit abgespro- Person des Offi ziers und der Frage ab, inwieweit tatsächlich chen, so ist dies als ein Einstieg zum Ausstieg aus jenem Kon- jenes Computer-Programm direkt/indirekt geeignet war und zept zu werten. ist, Anwendung für den Einsatz im Irak zu fi nden, so stimmt Es darf nicht verkannt werden, daß mit jenen problemati- zumindest ein Teil der Reaktionen auf dieses Urteil genauso schen Äußerungen eine Vorentscheidung dafür kommuniziert nachdenklich wie das Urteil selbst. Daß dieses Urteil einem wird, welcher Soldatentypus mittel- und langfristig mit Blick mittleren Beben scheinbar gleichkommt, vermögen seismo- auf die Anforderungen von Auslandseinsätzen, welche zudem graphisch einige Stimmen anzuzeigen. Ein nicht näher ge- Kampfeinsätze sein können (Stichwort »battle groups«), der nannter Soldat, anscheinend in gehobener Position, wird geeignetere sei. Daher ist ebenso unmißverständlich festzu- mit den Worten wiedergegeben: »Niemand will den Bürger halten, daß gewisse Kämpfertypen von vornherein proble- in Uniform abschaffen«, »(a)ber unter Feuer kann ich nicht matisch sind, gerade auch im Hinblick auf Einsätze. Denn in auf irgendwelche Gewissensnöte Rücksicht nehmen.«39 An an- diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Kri- derer Stelle werden weitere vermeintliche Befürchtungen wie terien des so genannten Ius in bello stets und ständig wäh- folgt artikuliert: »Jeder, der aus welchen Gründen auch immer rend des gesamten Einsatzes einzuhalten sind und daß jeder mit seiner derzeitigen Verwendung unzufrieden ist, wird nun Einsatz zudem die Gefahr von Eigendynamiken in sich birgt, nachlesen können, wie er einen Gewissenskonfl ikt glaubhaft 40 die dann aufgrund gewaltförmiger Eskalationen das einmal darlegen kann.« Der Innenminister von Brandenburg wird anfangs gerechtfertigte Anliegen obsolet werden lassen. Die- mit den Worten zitiert: »Wenn Bundeswehrsoldaten in wich- ser Gefährdung ist von daher auch der ausgesetzt, der zum tigen Funktionen plötzlich anfangen, sich auf ihr Gewissen zu Mittel der (Gegen-) Gewalt greift, vor allem wenn er sich in berufen, dann weckt das Zweifel an unserer Verlässlichkeit« in Bezug auf die Bündnisfähigkeit in der NATO. Und in die- 30 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede, September 2000, Nr. 151. 31 Reinhard Günzel a.a.O., S. 75. 35 Vgl. Thomas Hoppe (Hrsg.), Schutz der Menschenrechte. Zivile Einmischung 32 »Das Völkerrecht und insbesondere die Charta der VN bilden die Grund- und militärische Interventionen, Berlin 2004, S. 26. lage für das Handeln im Kampf gegen den Terror«, Verteidigungspolitische 36 Ebenda, S. 108. Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, 37 Michael W. Lewis, The Law of Aerial Bombardment in the 1991 Gulf War, Berlin, 21.05. 2003, 28, vgl. zudem Nr. 37. in: American Journal of International Law 97 (2003), S. 509. 33 Vgl. Uli Rauss, Diesmal wird es Tote geben, in: Stern Nr. 28/2005, S. 28 – 40. 38 www.bverwg.de – Pressemitteilung Nr. 38/2005. 34 Klaus Ebeling, Die Einsatzarmee in der Perspektive ethischer Refl exionen 39 Vgl. Bernd Stadelmann, Das Urteil ist ein Problem für uns, in: Kölnische zur Inneren Führung (Teil I), in: Martin Kutz (Hrsg.), Gesellschaft, Militär, Rundschau 24.06.2005. Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin, Forum Innere 40 Reinhard Müller, Ein Tor geöffnet. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Führung 23, Baden-Baden 2004, S. 74. könnte der Gewissensfreiheit schaden, FAZ 24.06.2005.

194 | S+F (23. Jg.) 4/2005 Elßner, Innere Führung und Transformation der Bundeswehr | THEMENSCHWERPUNKT

sem Zusammenhang auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr ernsthafte Erörterung sowohl in der Bundeswehr als auch in angesprochen: »Aber Soldaten müssen den Wandel der Bun- der Gesellschaft verdient. Polarisierungen als Reaktionen auf deswehr zu einer Einsatzarmee mittragen. Jeder Soldat muss jenes Urteil, die nicht selten von Vorurteilen und Invektiven wissen, dass er auch zu Einsätzen militärischer Gewalt heran- begleitet sind, werden dem hier verhandelten Fall nicht ge- gezogen werden kann.«41 Und schließlich läßt sich der Vor- recht und wirken sich eher kontraproduktiv aus. Somit schält sitzende des Bundeswehrverbandes dahingehend vernehmen: sich auch für die Innere Führung als Aufgabe heraus, das im- »Wenn jeder Soldat bei jedem Befehl einen Gewissenskonfl ikt mer wieder wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen geltend machen kann, dann können wir den Laden dichtma- einer Geltendmachung des Grundrechts der Gewissensfreiheit chen.«42 Ohne zu übertreiben läßt sich der Grundtenor dieser (Art. 4 Abs. 1 GG) seitens Zeit- und Berufssoldaten, ohne so- Stellungnahmen wie folgt zusammenfassen: Wo kämen wir gleich in jedem Fall auf die Anerkennung als Kriegsdienstver- denn hin, wenn sich plötzlich jeder Soldat auf sein Gewissen weigerer auszuweichen (Art 4 Abs. 3 GG), und der Gehorsam- beriefe? Bei all jenen Äußerungen hat man außerdem mitun- pfl icht des Soldaten (§ 11 Abs. 1 Soldatengesetz) eingehender ter den Eindruck, daß sie das eigentliche Problem aus dem und vorbehaltlos zu thematisieren. Vor dem Hintergrund der Blick verloren haben und somit die konkreten Koordinaten Transformation der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee ist dies verkennen, in denen jene konkrete Gewissensentscheidung besonders wichtig. Denn die erwähnten Reaktionen auf das zu verorten ist. Worum geht es also nicht: 1. Niemand spricht Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestätigen nur zu deut- Bundeswehrsoldaten das Recht auf Verteidigung und Notwehr lich die Vermutung, daß sich der Transformationsprozeß der gegebenenfalls auch »unter Feuer« ab. 2. Der verhandelte Fall, Bundeswehr auf weit mehr als auf die Struktur und das Anfor- ist, richtig analysiert, wenig dazu geeignet, bei berufl icher Un- derungsprofi l auswirken wird. zufriedenheit als Anleitung dafür zu dienen, unter Angabe von Gewissensgründen in eine andere Verwendung zu kommen. 3. Geht es auch nicht darum, daß jemand »plötzlich« anfängt, sich auf sein Gewissen zu berufen. Denn der vor dem zweiten 5. Herausforderungen für die Innere Führung Wehrsenat in Leipzig verhandelte Fall ist so kommuniziert Die Zunahme von militärischen Einsätzen der Bundeswehr worden, daß es eben nicht darum ging, »bei jedem Befehl weltweit aufgrund einer verstärkten, wenn auch selektiven einen Gewissenskonfl ikt geltend machen« zu können. Wahrnehmung von massiven Menschenrechtsverletzungen Vergegenwärtigt man sich also jene Reaktionen mit ihrem im Kontext von Staatszerfall sowie bürgerkriegsartiger Ausei- unverkennbaren Tenor, so stellen sie selbst eine ernst zu neh- nandersetzungen, auch mit terroristischem Hintergrund, hat mende, wenngleich eher unfreiwillige Problemanzeige dar, in Deutschland einerseits in rasanter Zeit zu einer Gewöhnung welche auch die Innere Führung sehr hellhörig machen muß. an gewaltförmige Einsätze geführt. Andererseits haben nicht Denn die konkreten Eckdaten, zwischen welchen sich jene Ge- wenige Soldaten aus unterschiedlichen Gründen und mit un- wissensentscheidung verortet sieht und auch wahrgenommen terschiedlichen Konsequenzen den damit einhergehenden werden will, sind nicht irgendwelche: 1. Der UN-Sicherheitsrat Wandel der Bundeswehr nicht mit vollzogen. Mit Blick auf erteilt kein Mandat für einen militärischen Einsatz gegen den die sich zu einer Einsatzarmee transformierende Bundeswehr Irak. Somit ist 2. eine militärische Intervention im Irak nicht stellt sich noch einmal die Frage, mit welcher Art von Solda- durch das Völkerrecht gedeckt. 3. Der Bundeskanzler der Bun- ten die Bundeswehr mittel- und langfristig die vom »Primat desrepublik Deutschland spricht sich 2002 gegen eine Beteili- der Politik« gestellten Aufgaben bewältigen wird. Dabei spielt gung Deutschlands an einem militärischen Eingreifen gegen hinein, daß einerseits die Indifferenz breiter gesellschaftlicher den Irak aus: »Spielerei mit Krieg und militärischer Interventi- Gruppen der Bundeswehr gegenüber – nicht zuletzt auch un- on, davor kann ich nur warnen«43 und »es kommt weder eine ter dem Vorzeichen einer sich weiter zunehmend hochgradig direkte noch indirekte Beteiligung an einer offensiven militä- ausdifferenzierenden Gesellschaft – zunimmt und daß sich rischen Maßnahme in Frage«.44 Außerdem wird 4. seitens der andererseits die Erweiterung des Aufgabenspektrums der Bun- Bundesregierung darüber hinaus auch dann eine Beteiligung deswehr nicht synchronisieren läßt mit »einer Veränderung an einem militärischen Einsatz gegen den Irak ausgeschlossen, der subjektiven Pfl ichteneinstellung des einzelnen Bürgers im selbst wenn es ein entsprechendes UN-Mandat geben sollte.45 Sinne einer Erweiterung der Wehrpfl icht zu einer weltpolizei- 5. Artikel 26 GG qualifi ziert »Handlungen, die geeignet sind lichen Dienstpfl icht«.46 Wer also wird in dieser sich verän- und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zu- dernden Bundeswehr seine berufl iche Perspektive erblicken? sammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung Wird es vor allem mit Blick auf die unteren Dienstlaufbahnen eines Angriffskrieges vorzubereiten« als verfassungswidrig und der »›Kämpfertyp‹ mit moralisch desensibilisierter Söldner- stellt sie daher unter Strafe. Und schließlich ist 6. nach Art. mentalität«47 und wird es bezüglich der höheren Dienstlauf- 4 GG das Grundrecht der Freiheit des Gewissens unverletz- bahnen der sich reibungslos anpassende karriereorientierte lich. Die Angabe dieser Gründe zusammen, worauf sich jene effi zient arbeitende und einseitig höchstausgebildete Mana- Gewissenentscheidung bezieht, ist so gewichtig, daß sie eine gertyp sein (Manager im Flecktarn)? So unterschiedlich auch beide Typoi sind, gemeinsam ist ihnen nicht selten, daß sie 41 Interview »Schönbohm: Krieg gehört zum Dienst«, in: SZ 24.06.2005. 42 Mit diesen Worten wird Oberst Bernhard Gertz im Nachrichtenmagazin Fo- ethische und moralische Kompetenzen als effektivitätshem- cus Nr. 26, 27.06. 2005, S. 33 zitiert. mende Faktoren ansehen. 43 Lisette Andreae, Deutschland als Motor einer europäischen Politik in den Vereinten Nationen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 48/2002, S. 37. 44 Schweriner Volkszeitung 29.01.2003, S. 3. 46 Klaus Ebeling a.a.O., S. 76. 45 Vgl. Lisette Andreae a.a.O., S. 37. 47 Ebenda, S. 78.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 195 THEMENSCHWERPUNKT | Elßner, Innere Führung und Transformation der Bundeswehr

Wie unerläßlich aber ethische und moralische Kompetenzen größere Übel. Eine solche Entscheidung verantwortungsvoll für den Soldaten sind, läßt sich an Hand zweier von Matthias zu treffen, erfordert ethische und moralische Kompetenz. Viel- Gillner vorgestellter Fallbeispiele verständlich machen. Wenn leicht ist es schwierig nachzuvollziehen, daß man auch dann wir in diesem Jahr auch des zehnten Jahrestages des Massa- ethisch und moralisch kompetent handeln kann/muß, wenn kers von Srebrenica gedenken, so wird schmerzhaft deutlich, es sich bei einer solchen Handlung um ein Übel, wenngleich wie notwendig es ist, nicht nur Rules of Engagement (RoE) um ein geringeres Übel handelt. Daß man sich solche Kompe- zu formulieren und sie sicher zu kennen, sondern auch stets tenzen nicht ad hoc vor Ort erwirbt, ist einsichtig. Daher be- damit zu rechnen, daß sie sich gegebenenfalls einmal als un- darf es einer stetigen ethischen Refl exion über solche Fragen. zureichend erweisen können. Das bedeutet, daß sie in ganz Daraus erhellt, daß verantwortete Innere Führung weit mehr konkreten Fällen zugunsten auch von weiterhin allgemein ist als Motivationstechnologie.51 geltenden Pfl ichten zurückzutreten haben. Bosnisch-serbische Freischärler haben 1995 in Gegenwart von UN-Soldaten aus Vor dem Hintergrund eines möglichen Bundeswehreinsatzes den Niederlanden an der bosnisch-muslimischen Zivilbevöl- im Sudan, jenseits einer Beobachtermission, ist grundsätzlich kerung ungehindert ein Massaker angerichtet. Dies konnte ein weiteres von Gillner angeführtes Fallbeispiel für eine ent- geschehen, weil sich die UN-Soldaten an den Wortlaut des sprechend anstehende refl exive Durchdringung auch seitens UN-Mandates hielten, welches ein gewaltsam-militärisches der Inneren Führung zu nennen. Es geht grundsätzlich um Eingreifen nicht autorisierte. Von daher konstatiert Gillner, eine Konfrontation mit so genannten Kindersoldaten.52 Wie daß sich in diesem Fall jene Regel der RoE als illegitim er- bewältigt ein Bundeswehrsoldat die Situation, wenn er im wies.48 Anscheinend ist die Wahrnehmungskompetenz und Sudan plötzlich Kombattanten gegenübersteht, die Kinder das Empathievermögen der Vorgesetzten der UN-Soldaten sind.53 Erschwert wird ein solches Aufeinandertreffen situa- schlicht dahingehend überfordert gewesen, daß es sich beim tiv und normativ durch zwei Aspekte. Situativ dadurch, daß Vorgehen der bosnisch-serbischen Freischärler um ein mas- diese Kindersoldaten mitunter äußerst grausam vor allem sives Verbrechen handelt, was das Überschreiten einer Regel gegen Kinder und Frauen vorgehen. Normativ dadurch, daß hin zu Notwehr/Nothilfe zwingend erforderlich macht. Die einerseits auch die Kindersoldaten als Kinder aufgrund eines Folgen wirken bis heute nach. Dieses Beispiel veranschaulicht, völkerrechtlichen Übereinkommens dem allgemeinen Schutz wie katastrophal sich in einer solchen Situation unerläßliche Minderjähriger unterliegen, daß sie andererseits aber zugleich Regelkenntnis, aber gepaart mit einer textpositivistischen Auf- Kombattanten-Status besitzen. Das Dilemma besteht nun da- 49 fassung auswirken kann. Der Soldat muß befähigt sein zu rin, daß sich auf jene Situation keine Regel beziehen läßt. Eine erkennen, daß es Situationen geben kann, die einen verein- solche Dilemmasituation wird sich nicht allgemein, sondern barten Verzicht »auf Gewaltanwendung zugunsten akut an nur konkret von Fall zu Fall bewältigen lassen. Bezüglich sol- Leib und Leben bedrohter Dritter«50 auch einmal inakzeptabel cher nicht unwahrscheinlichen Szenarien wird es auch der werden lassen. Dementsprechend hat er dann zu entscheiden Inneren Führung zukommen, sich einer solchen Thematik so und zu handeln. In jenem konkreten Fall, der sicherlich eine präzise wie nur möglich zu widmen. Dabei wird es u.a. darum Ausnahmesituation darstellen mag, hätte das Nothilferecht gehen, Soldaten bei der Entwicklung und Ausbildung ihrer Vorzug vor dem Verbot, Waffengewalt anzuwenden, gehabt. Wahrnehmungs- und Empathiekompetenz strukturiert und Die Schwierigkeit besteht darin, daß ein Soldat auch dann methodisch zu begleiten. Aber nicht zuletzt bedarf die Innere eine Entscheidung für ein Übel trifft, selbst wenn er massiv Bedrohten mit Waffengewalt zu Hilfe kommt. Aber bei diesem Führung selbst stets vieler Verständigungsprozesse über ihre Übel handelt es sich um ein geringeres Übel gegenüber einer eigenen ethischen Grundlagen und Profi le. brutalen Abschlachtung von Menschen. Dies ist das weitaus 51 Vgl. Detlef Bald, Norm und Legenden einer zeitgemäßen »Inneren Führung«: Was bei der Militärreform nach dem Jahr 2000 zu bedenken ist, in: Detlef 48 Vgl. Matthias Gillner, Die Einsatzarmee in der Perspektive ethischer Refl e- Bald/Andreas Prüfert (Hrsg.), Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite xionen zu Innerer Führung (Teil II), in: Martin Kutz (Hrsg.), Gesellschaft, Militärreform, Forum Innere Führung 19, Baden-Baden 2002, S. 40f. Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin, Forum 52 Vgl. Matthias Gillner a.a.O., S. 88f. Innere Führung 23, Baden-Baden 2004, S. 87. 53 Wiederholt beschäftigte sich der UN-Sicherheitsrat mit der Zwangsverpfl ich- 49 Ebenda, S. 89. tung und Eingliederung von Kindern unter 15 Jahren in Streitkräfte. Die 50 Thomas Hoppe a.a.O., S. 110. jüngste Resolution 1612 datiert vom 26.07.2005.

196 | S+F (23. Jg.) 4/2005 von Rosen, Grundlagen für das Thema Frieden in Baudissins Werk | THEMENSCHWERPUNKT

Grundlagen für das Thema Frieden in Baudissins Werk Claus von Rosen*

Abstract: The spiritual turning point in Baudissin’s life is shown in his works »East or West – thoughts about a vital German- European question«, written during his imprisonment in 1946. He received essential impetus from Wilhelm Röpke’s »Civitas Humana« and Emil Brunner’s »Justice«. Baudissin’s worries were about a general new ethic orientation. Thus, peace on earth has become a decisive normative and objective category of thinking. He views this peace of the individual as »inner peace« as well as a political one, both being interlinked. In the face of a »common peacelessness« he looks for political possibilities of improvement and recommends to focus on the immediate objective, the political concrete. These are the foundations of his further work as the creator of »Inner Leadership« with the model of a »Soldier for Peace« as well as the peace researcher coun- selling politicians on the strategies of deterrent and cooperative steering of armament.

Keywords: Innere Führung, Ernstfall Frieden, Soldat für den Frieden, Kooperative Rüstungssteuerung

olf Graf von Baudissin, Schöpfer der Führungs- verfasste.3 Sein Denken in dieser Denkschrift »Ost oder West« philosophie der Bundeswehr Innere Führung und ist trotz vieler unkonventioneller Gedanken und tieferen WFriedensforscher, verstand sich als Vierzigjähriger, Durchleuchtungen der geschichtlichen Gegebenheiten bis in d.h. noch nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als Jung-Kon- ethische Dimensionen noch deutlich konservativ.4 servativer. Geboren 1907, war er in seinem Elternhaus ent- sprechend geprägt worden.1 1926 trat er als Offi zieranwärter Die Zeit der Gefangenschaft und besonders die Arbeit an der in das Infanterie-Regiment 9 der Reichswehr in Potsdam ein, Denkschrift werden dann aber augenfällig zum Wendepunkt unterbrach diese Ausbildung für drei Jahre zum Studium der in Baudissins Denken, Verstehen und Erkenntnissen, bis dass Landwirtschaft und tat dann wieder Dienst als Zugführer, Ba- er sich nun selber als »aufgeklärten Anhänger von Karl Marx« taillonsadjutant und Regimentsadjutant im IR 9, bis er 1938 verstand.5 Damit stellt sich allgemein die Frage, welche An- zur Generalstabsausbildung kommandiert wurde. Im Krieg in regungen aus dieser Zeit für seine späteren Arbeiten zur In- Frankreich und in Afrika als Generalstabsoffi zier eingesetzt, neren Führung und Friedensforschung bedeutsam geworden kam er 1941 in britische Gefangenschaft und wurde erst in sind, und hier speziell: wie das Thema Frieden für Baudissins Palästina und danach bis kurz vor seiner Entlassung im Som- weiteres Denken und Handeln die hervorragende und bestim- mer 1947 in Australien gefangen gehalten. mende Kategorie geworden ist. In der Gefangenschaft befasste Baudissin sich intensiv mit der von ihm so genannten »Schicksalsfrage« seiner Zeit. Dazu nahm er Anregungen aus Seminaren und Vorlesungen auf, die er selber im Gefangenenlager gestaltet und gehalten 1. Baudissin-Anknüpfungspunkte bei Emil Brunner bzw. an denen er als Hörer teilgenommen hatte. Weiter ließ Während der Arbeit an der Reinschrift von »Ost oder West« er sich durch diverse Lektüre anregen, die er auf Umwegen stieß Baudissin auf das Buch von Wilhelm Röpke »Civitas Hu- über Großbritannien sowie Argentinien angefordert oder sich im Lande selber beschafft sowie – vermutlich nach Ende des 3 Vrgl. Baudissin 2001 a.a.O. S. 131. Das Original der Denkschrift befi ndet Krieges – von Hilfsorganisationen aus der Schweiz erhalten sich im Baudissin-Nachlass im Baudissin-Dokumentation-Zentrum bei der Führungsakademie der Bundeswehr. Über die Denkschrift wurde erstmalig hatte. Insbesondere der tiefe geistige Gedankenaustausch per berichtet in: Claus von Rosen: Ost oder West – »Gedanken zur deutsch-eu- ropäischen Schicksalsfrage«. In: Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hrsg.): Brief mit seiner späteren Braut Dagmar Gräfi n zu Dohna führte Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin. Baden-Baden ihn dabei zu wesentlichen Einsichten.2 Seine Gedanken fasste 1994. – Künftig zitiert: Baudissin 1947, unter Angabe von Kapitel bzw. Ab- schnitt. er im Laufe des Jahres 1946 zu einer Denkschrift: »Ost oder 4 Hierzu s. Martin Kutz: Aus den Katastrophen der Geschichte lernen: Über den historischen Ort der Konzeption Baudissins. In: Ders. (Hrsg.): Gesellschaft, West – Gedanken zur deutsch-europäischen Schicksalsfrage« Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin. Band zusammen, die er im Winter 1946 in Maschinen-Reinschrift 23 der Reihe: Forum Innere Führung, Baden-Baden 2004, S. 13 – 24. – Dieses (Jung-)Konservative kann auch manche Bemerkungen in der Denkschrift über den Nationalsozialismus erklären, die bei Baudissins sonst gegenüber * Dr. Claus Frhr. von Rosen ist Leiter des Baudissin-Dokumentation-Zentrums dem Nazi-Regime ablehnender Haltung (s.a. ders. 1947, Abschn. 7.2) höchst bei der Führungsakademie der Bundeswehr. auffällig sind. So schreibt er in Abschn. 6.4: »Mit dem Ende des National- 1 Baudissin, Wolf Graf von: Als aus Neustadt Wejherowo wurde. In: Rudolf sozialismus ist Deutschland für immer verloren« u.a.: »Das Dritte Reich Pörtner (Hrsg.): Mein Elternhaus. Ein deutsches Familienalbum. Düsseldorf, war ein großartiger Versuch, unsere deutschen und später die europäischen Wien 1984, S. 69 – 78. Baudissin hat in seiner Abschiedsvorlesung von 1986 Probleme mit den deutschen Mitteln seiner Zeit zu lösen, zu dem sich je- selber einen kurzen Lebensrückblick gegeben, s. Baudissin, Wolf Graf von der wirklich Deutsche bekennen wird; es hatte damit alles Großartige eines und Dagmar Gräfi n zu Dohna: ... als wären wir nie getrennt gewesen. Briefe solchen kühnen Unterfangens, aber naturgemäß auch die Mängel eines 1941 – 1947. Bonn 2001, S. 258 ff. Versuchs, welcher unter schwierigsten Verhältnissen und in einer Zeit un- 2 Wolf Graf von Baudissin: 23-Zeilen-Briefe. Hamburg (Selbstverlag 1994. S.a. ternommen wurde, wie die heute geltenden Regeln bereits morgen überholt ders. a.a.O. 2001. In dem Brief vom 10.2.1946 fällt auch der Begriff des Jung- sein können.« Konservativen. 5 Baudissin 1947, Abschn. 3.22. S.a. Rosen 1994 a.a.O. S. 113f.

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mana«.6 Röpke seinerseits drückt im Vorwort von Dezember dem »Pastorenbrief« Nummer 114 vom 19. Oktober 194611 1943 sein Bedauern aus, dass er erst zum Zeitpunkt des Kor- an die Braut deutlich wird. Dort schreibt Baudissin u.a., dass rekturlesens auf das Buch »Gerechtigkeit« von Emil Brunner7 die Zukunftsaufgabe einen Standpunkt zwischen zwei Polen gestoßen sei, »so dass ich mich einstweilen damit begnügen fordere, »dass aus einer eindeutigen Beziehung gleich Verant- muss, meine hohe Wertschätzung dieses Werkes und meine wortung des Einzelnen zu Gott sich ebenso klare Beziehung wesentliche Übereinstimmung mit dem Verfasser zum Aus- zur Umwelt wie zur werten Eigenperson ergeben. Demut zu druck zu bringen«. Neben einigen anderen Ergänzungen arbei- Gott gleich Liebe zu den Mitmenschen, Achtung vor ihren tet Baudissin im Winter 1946/47 die Gedanken aus beiden Bü- Leistungen und der Natur überhaupt bzw. das Empfi nden, sich chern nachträglich als zum Teil umfangreiche Anmerkungen selbst zur Aufgabe gestellt zu sein«. Zum anderen sind mit den Bücherspenden aus der Schweiz nach Kriegsende wohl sowie wörtliche Zitate in die Denkschrift ein.8 D.h. die Lektü- erstmals aktuelle Schriften im Gefangenenlager zu lesen ge- re dieser beiden Autoren hat besonders große Bedeutung für wesen und haben von daher wohl ganz generell für geistig Baudissins Nach-Denken gehabt. Man kann sie daher bildlich neuen Wind gesorgt.12 Natürlich ist es auch das Thema des als den Initialfunken bezeichnen, der Baudissins jahrelange Buches: »Gerechtigkeit« selber, das Baudissin nicht nur auf- Vorarbeiten plötzlich zum Lodern gebracht hat. grund seiner Herkunft aus einem Juristen-Haus stets von sehr Die Frage, wieso Brunners Buch »Gerechtigkeit« – und nur großer Bedeutung gewesen ist. Ebenso hat Brunners Ansatz, dies soll im Weiteren betrachtet werden – diese enorme Wir- dekliniert über die verschiedenen sozialen Ordnungsebenen, kung bei Baudissin gezeigt hat, wird von Kutz mit Brunners Baudissin bei der Suche nach Neuorientierung für die gene- konservativ-bürgerlichem Gesellschaftsbild erklärt, das dem rell zerstörte Wertewelt nahe gelegen. Es sind schließlich auch Baudissins in jener Zeit noch sehr nahe stand.9 Dieser Erklä- Brunners einzelne Aspekte und Fragestellungen, die von Bau- rungsansatz verlangte ein gedanklich-emotionales cross-over dissin zu dem Zeitpunkt bereits ähnlich gesehen und gedacht d.h.: im Konservativen Brunner Anregungen für die eigene wurden, so dass hierüber sich ein sachlich-emotionaler Bezug leichter bilden und Baudissin den Weg zur Aufnahme des Neuen Progression zu erfahren und diese dann zu entwickeln, um ebnen konnte. die eigenen Konservativismen zu überwinden. Dieser nicht undenkbare Grundgedankengang ist aber nicht nur schwerfäl- Ein gutes Beispiel für diese thematische Nähe ist der nicht lig, sondern wäre für Baudissins Gedankenarbeit im abgeschie- unbedeutende Gedanke der »Erschütterbarkeit« im Brief- denen »Gewächshausdasein« der Gefangenschaft besonders wechsel Baudissin – Dohna: Baudissin schreibt am 17.7.1943 schwierig.10 im Zusammenhang mit der Suche nach Neuansätzen: »...ich bin ganz Deiner Ansicht, dass ›Erschütterbarkeit‹ etwas sehr Baudissin ist von Brunner sehr viel direkter angesprochen Positives – für den, der nicht erschüttert und nicht erschla- worden: gen wird, – sie ist für den wirkenden Menschen sogar eine Zum einen hat Brunner als Vertreter eines anthropologischen Notwendigkeit. Ohne diese Möglichkeit ist eine Weiterent- Ansatzes der dialektischen Theologie, geistig der Bekennenden wicklung wie auch wesentlicher Einfl uss auf die Umwelt nicht Kirche und als Lehrer von Gerstenmeier dem Kreisauer Kreis denkbar. Formung und Formen sind ja letztlich nur Aus- bzw. nahestehend, Baudissins tiefe christlich-ethische Gebunden- Umwertung solchen ›Erschüttert-Gewesen-Seins‹. Wer kein Organ für Derartiges hat, erhält keinen wirklich fördernden heit und Gedanken unmittelbar angesprochen, wie z. B. aus Ansporn und bleibt in sich stecken – das Über-Sich-Hinaus

6 Wilhelm Röpke: Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirt- als erster Schritt bleibt ihm verwehrt. Allerdings sehe ich Dich schaftsreform. Erlenbach-Zürich 1944. Das Exemplar aus Baudissins Nach- verzeihend lächeln, wenn ich die unbegrenzte Erschütterbar- lass ist gestempelt: »Fonds Européen de Secours aux Ètudiants; 13, rue Cal- vin; Genève (Suisse)« und handschriftlich gewidmet: »Tartura 1946 F.v.G. keit als zu weit gehende Forderung einschränken möchte. ... «. Ein Preisvermerk auf dem Umschlag ist mit dem Datum 16.2.45 Gelegentliche Unerschütterbarkeit (nicht nur äußerlich, was versehen. Baudissins Arbeitsexemplar aus der Gefangenschaft befi ndet sich in seinem Nachlass.– In einer Anmerkung zum Abschnitt 2.2. »Begriffe der nicht zur Debatte, ist doch notwendig, schon um zu sich bzw. Politik« in der Denkschrift stellt Baudissin diese »Verspätung« mit Bedauern zu etwas (Unterschied?) kommen zu können. ... Vielleicht fest. Dort befasst Baudissin sich mit Röpkes Gedanken zum »idealen moder- nen Staatsaufbau«; im Abschnitt 3.22 »Der soziale und staatliche Aufbau als versuchen wir es weiter mit erschütterbarer Erkenntnis, mit asiatische Lösung« nimmt er Röpkes Ausführungen zum dritten Weg einer demütiger Offenheit den letzten Dingen glaubend, während Wirtschaftsordnung zwischen entartetem Liberalismus und Kollektivismus auf und im abschließenden Abschnitt 7.4 »Die deutsche Aufgabe im Abend- man der übrigen – gleichgeordneten – Welt erkenntnismäßig land« bemüht er Röpke mehrmals als Kronzeugen für seine Gedanken. zu Leibe geht.«13 Brunner seinerseits geht im Schlusskapitel 7 Emil Brunner: Gerechtigkeit. Eine Lehre von den Grundgesetzen der Ge- sellschaftsordnung. Zürich 1943. Das Exemplar aus Baudissins Nachlass ist von »Gerechtigkeit« der Frage nach, wie denn die vorher ent- gestempelt: »Buchspende der Weltstudentenhilfe World Student Relief; 13, worfenen »Folgerungen« praktisch werden könnten, denn es rue Calvin; Genf/Schweiz«. Das Exemplar in der Staatsbibliothek Hamburg ist gestempelt: »Schweizer Bücherhilfe für Kriegsgefangene. Swiss Book sei »ein weiter Weg von der Erkenntnis bis zur Verwirklichung Donations for Prisoners of War«. Baudissins Arbeitsexemplar befi ndet sich des Gerechten«14. Um die dabei bestehenden Hindernisse aus ebenfalls in seinem Nachlass. Es kann nicht mehr festgestellt werden, wel- ches der beiden Bücher Baudissin als erstes in Händen gehabt hatte; seine Anmerkung über den Fund von Röpke und dessen Verweis auf Brunner las- 11 Baudissin 2001 a.a.O. S. 156 ff. Dort wird auch deutlich, dass Baudissin sen jedoch vermuten, dass Baudissin Röpke zuerst gelesen hat. Zur Person während der Gefangenschaft darüber nachdachte, nach dem Krieg Theologe Emil Brunners: Hans Heinrich Brunner: Mein Vater und sein Ältester. Emil zu werden. Brunner in seiner Zeit. Zürich 1986. 12 Über die Bedeutung dieser Büchersendungen äußert der Mitgefangene Glo- 8 Bedeutsam ist, dass mehr als die Hälfte der Nachträge in der Denkschrift big sich an Baudissin in seinem Antwortbrief nach dem Lesen von »Ost oder Texte von Röpke und Brunner betreffen. West«. 9 Kutz a.a.O. 13 Baudissin 2001 a.a.O. S. 65. Im Brief vom 6.4.1944 setzt Baudissin die Dis- 10 Baudissin bemerkt häufi g in seinen Briefen an Gräfi n Dohna, wie wichtig kussion fort und spricht dort vom »richtigen Maß der Erschütterbarkeit«, für ihn bei seiner Gedankenarbeit der unmittelbare tiefergehende Gedan- ders.1994 a.a.O. kenaustausch mir ihr wäre. 14 Brunner a.a.O. S. 309.

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dem Weg zu schaffen, brauche es »Erschütterungen der See- Völkerrecht« und »3. Das gerechte Völkerrecht« abstützt.19 le, die nicht durch Erkenntnis, sondern nur durch ›Buße und Realisierbare Möglichkeiten einer »moralisch-praktischen Glauben‹ hervorgerufen werden können«15. Souveränitätsbegrenzung« aus dem Willen zum Frieden für die Völker und die Menschheit generell werden von Baudis- sin – ähnlich Brunner – noch nicht gesehen. Er sieht jedoch Möglichkeiten für eine Organisation der Völker im begrenzten 2. Spurensuche in Baudissins Exemplar von Rahmen eines europäischen Zusammenschlusses; dabei sei es Brunners »Gerechtigkeit« »vielleicht unser deutsches Schicksal, unsere äußere Einheit und Großmachtstellung auf dem Altar dieser europäischen Ei- In dem von Baudissin in der Gefangenschaft benutzen Ex- nigung zu opfern«. Diese Union fordert er geradezu als einzig emplar von Brunners »Gerechtigkeit« befi nden sich keine mögliche Lösung für Europa: »Darüber hinaus gebietet gerade direkten Lesespuren wie Lesezeichen, Anstreichungen oder der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, d.h. die Forderung der Bemerkungen. Was Baudissin von Brunner verarbeitet hat, ist Stabilität, Formung einer solchen Union«, da andere Denk- daher in einem ersten Zugang nur über die Brunnerzitate in ansätze über des »Selbstbestimmungsrecht der Völker« oder der Denkschrift zu erfahren. Dies geschieht an drei Stellen der über »die historische Ableitung von Ansprüchen« von »voll Denkschrift: souveränen Staatsgebilden« wieder nur »neue oder alte Unge- Im 3. Kapitel »Deutschland und Russland«, Abschnitt 3.11 rechtigkeiten aufrichten muss«. »Der Ostraum als Schauplatz der Heerzüge und Bildner des Sucht man weiter nach indirekten Lesespuren, so fällt beim Preußentums«, merkt Baudissin zum Begriff »Preußentum« an, Durchblättern von Baudissins Arbeitsexemplar der Brunner- dass dies seit der Entwicklung des Luthertums zur Staatskir- schen »Gerechtigkeit« auf, dass aus dem ersten Teil »Grundla- che durch die zunehmende Gleichsetzung von irdischer und gen« nur wenige Stellen sich von selber öffnen. Dies sind: göttlicher Autorität in sich eine Gefahr der »Mechanisierung« berge. Diesem hält er dann mit Luther – indirekt zitiert bei Deckblatt Brunner16 – den Gedanken des Widerstands entgegen: »Jedoch Vorwort eine Widerstandspfl icht mit dem Worte besteht immer, ein Inhaltsverzeichnis Widerstandsrecht mit Gewalt nur in besonders krassen Fällen, wenn eine tyrannische Obrigkeit Handlungen verlangt, die Seiten 30/1 zu »Gerechtigkeit und Gleichheit« offensichtlich im Gegensatz zu Gottes Wort stehen.« Dieses Seiten 62/3 zu »Das Göttliche Gesetz der Gerechtigkeit« Verständnis von Widerstand ergebe sich aus dem »besonders fruchtbaren Spannungsverhältnis des Individuums Gott ge- Seiten 114/5 zu »Die geschichtliche Relativität« in »Statische genüber«, das zunehmend seit Beginn des 19. Jahrhunderts und dynamische Gerechtigkeit« sowie in Preußen verloren gegangen sei. Seiten 144 – 147 zu »Die zehn Gebote« in »Die Gerechtigkeit Ein weiteres Mal nimmt Baudissin im Abschnitt 3.22 »Der so- und die biblische Offenbarung« mit Übergang zu »Gerechtig- ziale und staatliche Aufbau als asiatische Lösung« beim Thema keit und Liebe«. »Individuum und Kollektivwesen« Brunner auf und zitiert ihn Im Gegensatz dazu schlagen sich im zweiten Teil »Folge- weitgehend wörtlich zu Geschichte und Äußerungsformen des rungen« wesentlich mehr Seiten auf: Kollektivismus aus Brunners entsprechendem 11. Kapitel.17 Seiten 158/9 zu »Der gerechte Aufbau der Ordnungen« Dabei geht es Baudissin besonders um die zweite von Brun- ner herausgearbeitete Form, den so genannten mechanischen Seiten 210/1 zu »Die gerechte Ordnung der Wirtschaft« in Kollektivismus18, der nur vom »radikalen Individualismus« »Kapitalismus und Kommunismus« her zu verstehen sei. Aufgrund der daraus sich entwickelnden Seiten 222/3 zu »Der Massenmensch und die gerechte Gesell- »Atomisierung der Gesellschaft« und verbunden mit der Pro- schaftsordnung« letarisierung der Massen im liberalen Kapitalismus habe sich daraus der Kommunismus entwickelt. Seiten 240 – 243 zu »Ungerechtigkeit des totalen Staates«

Als Drittes fügt Baudissin gegen Schluss des Kapitels 5 »Aus- Seiten 252 – 257 zu »Gerechte Macht« in »Die gerechte Ord- nung des Staates« wertung der politischen Betrachtung« eine umfangreiche Anmerkung zur Frage der »Neuordnung der Welt und Eu- Seiten 268 – 271 zu »Die gerechte Völkerordnung« ropa« ein, in der er sich weitgehend auf Brunners 21. Kapitel Seiten 272/3 zu »Die Friedensordnung« in »Die gerechte Völ- »Die gerechte Völkerordnung« und dabei besonders auf die kerordnung« Abschnitte »1. Die Friedensordnung«, »2. Das Gesetz: Das Seiten 280/1 zu »Die gerechte Völkerordnung« 15 Dass. S. 311. 16 Brunner a.a.O. Anm. 30. Dies wird von Brunner im Zusammenhang mit Sou- Seiten 288 – 291 zu »Das gerechte Völkerrecht« veränität und dabei dem Gedanken bemerkt, dass der Staat Gottes Ordnung sei und darum seine Grenzen am Gotteswillen habe. Das Thema Widerstand Seiten 306/7 zu »Schluss: Grenzen« sowie nimmt er dann noch einmal im 12. Kapitel in Zusammenhang von Gerech- tigkeit und Naturrecht auf, s. dass. S. 110 – 112. Seiten 318 – 321 Anmerkungen 27 – 34 zu Kapitel 10 – 12 aus Teil I. 17 S. Brunner a.a.O. S. 94ff. 18 Die beiden anderen Formen sind der organische sowie der universalistische Kollektivismus. 19 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 268 – 297.

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Bei aller Behutsamkeit der Interpretation dieser Befunde wird der gesamten Welt war.22 Dennoch darf hier der Gleichgang deutlich, dass Baudissin die »Folgerungen« besonders interes- von Gedanken im weiten Bereich bei Brunner und Baudissin siert haben. Dabei ging es ihm eindeutig um die Fragen der nicht übergangen werden, der sich in Baudissins Denken ge- gerechten Völkerordnung mit der nach einer Friedensordnung nerell fi nden lässt, besonders auch festzumachen an seiner sowie des gerechten Völkerrechts. Dies stimmt mit seiner aus- Gesamtkonzeption der Inneren Führung, der aber sich in dieser giebigen Anmerkung zum Thema Friedensordnung in Kapitel Denkschrift aufgrund ihrer Themenstellung nur sehr bedingt erschließt.23 5 der Denkschrift überein. Auf die leitende Frage ist hier als erste Antwort festzuhalten: Ebenso haben ihn anscheinend die Fragen nach der Staatsord- Aus diesen Spuren tritt ganz besonders die der Suche nach ei- nung und dabei nach der Ungerechtigkeit des totalen Staates ner Friedensordnung hervor. Dieses Thema hat Baudissin sich stärker beschäftigt, was zum einen im Zusammenhang mit erst mit der Lektüre von Brunners »Gerechtigkeit« erschlossen. seinen Zitaten in Abschnitt 3.22 der Denkschrift über den Frieden ist für Baudissin seitdem bis an sein Lebensende das Kollektivismus stehen könnte. Zum anderen passen dazu die bestimmende Thema für sein gesamtes Denken und Handeln Spuren bei der Anmerkung 30, da dort die von Baudissin in gewesen ist: Bald nach der Entlassung aus der Gefangenschaft Abschnitt 3.11 der Denkschrift zitierte Stelle über das Wider- trat Baudissin verschiedentlich in der kirchlichen Arbeit mit standsrecht nach Luther zu fi nden ist. Vorträgen zum Thema Frieden auf.24 Die Arbeiten zur Kon- zeption Innere Führung beim Aufbau der Bundeswehr hatten Anhand der Anmerkung 30 wird zusätzlich deutlich, dass Bau- als einen der – um nicht zu sagen: den – zentralen ethischen dissin den I. Teil nicht nur überfl ogen haben kann, da ihn Eckpunkte ebenfalls das Thema Frieden.25 Baudissins von das Thema Widerstand aus sehr persönlichen Gründen stark Flexibilität bestimmten militärstrategischen sowie politisch- 20 betroffen hatte , diese Fundstelle bei Brunner sich aber nicht strategischen Vorstellungen als Stellvertretender NATO-Be- einfach logisch erschließt. fehlshaber in der Zeit der Massiven-Vergeltungs-Strategie und Der Leseschwerpunkt beim 14. Kapitel über das Thema Ge- bei der Entwicklung der Strategie der fl exible response waren rechtigkeit in der biblischen Offenbarung und besonders im davon gekennzeichnet, Instrumente zur Bewahrung und Wie- derherstellung des Friedens zu entwickeln.26 Und nach seinem Dekalog sowie beim Kapitel 15 über »Gerechtigkeit« und Liebe Ausscheiden aus dem militärischen Dienst befasste Baudissin entspricht zum einen Baudissins christlicher Grundhaltung sich in seinen letzten 25 Lebensjahren als Forscher und Hoch- und wirft zum anderen ein Licht auf die Bedeutung von Äu- schullehrer mit friedensrelevanten Fragen zur sicherheitspoli- ßerungen wie »Liebe« und »bloß ein guter Christ sein wollen«, tischen Beratung der Politik. die er für dritte häufi g unverständlich oder zumindest erstaun- licherweise als letzte Antworten für praktische Lösungen bei Sachfragen immer wieder bis an sein Lebensende gemacht 3. Frieden in Baudissins Denkschrift »Ost oder hat.21 West« von 1947 Die Spur in den Anmerkungen deutet schließlich auch auf 27 Baudissins grundsätzlich rechts-orientiertes Denken hin, da Baudissin beginnt seine Anmerkung in der Zusammen- sich dort die zweieinhalbseitige Anmerkung 34 über die Dis- fassung der Denkschrift mit einem Zitat aus Brunner: »Die kussion des Naturrechts aus Sicht der theologischen sowie Konzentration der Machtmittel im Staat, vor allem die Mo- nopolisierung des Tötungsrechtes, war zwar notwendige Vo- juristischen Disziplinen befi ndet. raussetzung zur Überwindung anarchischer Zustände, des bel- In umgekehrtem Sinne ist auch festzuhalten, dass Baudissin lum omnium contra omnes zwischen den Individuen, ist aber die Seiten 225 bis 227 wohl nicht mit besonderem Schwer- nunmehr im zwischenstaatlichen Bereich der entscheidende punkt gelesen hat, in denen Brunner sich eingehend mit der Faktor internationaler Anarchie – »der nach innen segensreich- Ordnung der Armee beschäftigt und sie modellhaft als ein 22 Beredtes Zeugnis dieser generellen Neuorientierung ist Baudissins Briefwech- »Beispiel echter Ordnung« herausstellt. Daraus ist zu schlie- sel mit seiner Braut – s. Anmerkung 2. Vergl. auch: Gespräch mit Wolf Graf ßen, dass Baudissin sich 1946 nicht vordergründig mit Fragen von Baudissin. In: Axel Eggebrecht (Hrsg.): Die zornigen alten Männer. Ge- danken über Deutschland seit 1945. Hamburg 1979, S. 203 ff, besonders S. aus seinem Berufsfeld, nämlich der Reform von Streitkräften, 207 f. und 211 ff. beschäftigt hatte, sondern dass er mit der Denkschrift zur 23 Hier geht es u.a. um Fragen zum Neuanfang aus einer ethischen Neuori- entierung allgemein und in der Art einer Renaissance im speziellen, zum »Schicksalsfrage« wirklich auf der Suche nach genereller Neuo- Primat des Individuums, zum Individualismus gegenüber Kollektivismus, zur gerechten Ordnung gegenüber dem Totalitären, zum Föderalismus, zur rientierung, nach einem geistig-ethischen Neuanfang für sich, Demokratie, zur Ordnung und Gerechtigkeit in Gesellschaft, Staat und des- die Gesellschaft in Deutschland und Europa, wenn nicht gar sen Gliederungen, zur Ungleichheit und deren strukturbildender Bedeutung allgemein wie auch speziell in der Arbeitswelt und dem Militär sowie zur Staatsbürgerlichen Erziehung. 20 Dazu s. Claus von Rosen: Frieden – Widerstand – Demokratie. Geistige und 24 S. Rosen 1982 a.a.O. S. 13 ff. So ist auch in der Bibliographie von 1982 als sittliche Gründe in Baudissins Konzeption Innere Führung. In: Martin Kutz erstes schriftliches Dokument Baudissins Vortrag von 1950/51 über »Frieden (Hrsg.): Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf auf Erden?« aufgeführt, dazu s.u. von Baudissin. Band 23 der Reihe: Forum Innere Führung, Baden-Baden 25 Vrgl. Rosen 2004. 2004, S. 25 – 44. 26 Dies ist das Ergebnis der Lehrgangsarbeit vom Major Renk an der Führungs- 21 Vrgl. Claus von Rosen: Wolf Graf v. Baudissin zum 75. Geburtstag. In: Wolf akademie der Bundeswehr: Baudissins Wirken als General bei AFCENT und Graf von Baudissin: Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften 1951 – 1981. SHAPE. Hamburg 1998. Vrgl. a. Axel F. Gablik: Strategische Planungen in München 1982, S. 7 ff. Siehe auch Rosen, Claus v.: Geistige Grundlagen in der Bundesrepublik Deutschland 1955 – 1967: Politische Kontrolle oder mi- Werk und Wirken von Wolf Graf v. Baudissin. In: Führungsakademie der litärische Notwendigkeit? Baden-Baden 1996, besonders S. 299 ff. Bundeswehr (Hrsg.): Jahresschrift 1994/1995. Hamburg 1995, S. 49 ff. 27 Baudissin 1947, Anm. zu Kap. 5. S.a. Rosen 1995b, S. 53 ff.

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machtvolle Staat wird nach außen zum brutalen Vergewaltiger Großmacht in der Ausführung ihres Willens hindern, sondern und Räuber«. Die Beziehungen der Völker werden praktisch nur die Erkenntnis, dass ein machtegoistisches Benehmen den nur vom staatlich nationalen Egoismus bestimmt, d.h. jeder Keim eines nächsten Weltkrieges in sich birgt.«33 Staat nimmt soviel an Macht und irdischen Gütern, als irgend Baudissin referiert bis hierher Brunner, ohne dabei dessen ana- möglich, und gibt nur ab, wenn und was unvermeidlich.«28 lytische Gliederung der Gedanken zur »gerechten Völkerord- Brunner indirekt zitierend, geht Baudissin dann weiter aus von nung« aufzunehmen: Brunner entwickelt seine Ausführungen der Ablehnung der moralisierenden Unterscheidungskriterien in diesem Kapitel als Antwort auf anarchische Zustände von »friedliebend« und »kriegerisch« für Schuld und Unschuld am Gewalt anhand eines Stufenmodells im Hinblick auf die Reali- Krieg und kommt zu der Feststellung, dass die entscheidende sierung von Gerechtigkeit im Verkehr zwischen den Völkern34: Dominante der zwischenstaatlichen Beziehungen der natio- 1. Die Friedensordnung 2. Das Gesetz: Das Völkerrecht 3. Das nale und imperiale Machtegoismus in zwei Formen sei, der gerechte Völkerrecht 4. Die gerechte Machtverteilung 5. Die konservativ-unkriegerische und der aggressiv-kriegerische. außer- und überpolitischen Möglichkeiten. Dabei ist entschei- Angesichts der 1945 augenscheinlichen »Existenzfrage« der dend, dass Brunner keiner der fünf Stufen-Möglichkeiten eine abendländischen Zivilisation oder gar der Menschheit über- Chance zur Garantie des Friedens zumisst, wenn sie nicht vom haupt müsse »mit allem Ernst und guten Willen an die Ein- Friedenswillen der Beteiligten getragen werde. Brunner betont 29 richtung einer Völkerordnung gegangen werden« . Brunner sogar, »dass in Zukunft der Wille zum Frieden die Dominante folgend, sucht er nun, »analog der innerstaatlichen Entwick- aller zwischenstaatlichen Politik sein muss«35. Baudissin über- lung, eine einigermaßen gerechte Verteilung der Pfl ichten und geht nicht nur dieses Muss bei Brunner, sondern überhaupt Rechte der einzelnen Staaten zu fi nden, wie einen Weg zur dessen Auffassung, dass auf allen Stufen und bei jedem der laufenden Anpassung und Organisation an die unaufhaltsame drei Modelle der ersten Stufe zu einer Friedensordnung der Weiterentwicklung bzw. Mittel zur Verhinderung anarchischer Friedenswille konstitutiv für die Verwirklichung von Frieden Tendenzen«. sei.36 Die drei im Weiteren nach Brunner dargestellten Möglichkeiten Brunner fasst im Schlussgedanken über »Grenzen« der theo- einer Friedensordnung – durch zwingende Macht in Form der logischen Gedanken seinerseits Überlegungen für die Realisie- Pax Romana, durch völkerrechtlichen Friedensvertrag wie rung von Frieden in der Welt zusammen, die jedoch vermut- durch föderalistisch-kooperative Bildung einer überstaatlichen lich nur bedingt Antworten auf Baudissins politisch-praktische Macht30 – bieten auch für Baudissin keine »institutionelle Lö- Fragen zu jener Zeit liefern konnten. Brunner spricht über sung des Anarchieproblems« zwischen den Völkern. Dies zu die Wiederentdeckung der »Willensziele« und deren Hervor- erkennen sei die Pfl icht jedes Menschen, der verantwortungs- hebung vor den Mitteln, weiter über die Hoffnung auf den voll am Problem des Völkerfriedens zu arbeiten habe und sich »uneigennützigen Willen zur Gerechtigkeit« wenigstens einer nicht mit utopischen Phantasien zufrieden gebe.31 Minderheit von Parteigängern, über »staatsbürgerliche Erzie- Dem dritten Modell scheint Baudissin jedoch eine gewisse hung« zum Gerechtigkeitssinn als »Geschehnis der ›Wiederge- Chance der Realisierung zuzubilligen, wenn er weiter, auf burt‹«, über das »Neuwerden und Anderswerden«, über einen Brunner verweisend, ausführt, dass die einzige Friedensgaran- Willen zur Tat aufgrund einer »Erschütterung der Seele, die tie der Zukunft darin liege, »den jetzt maximalen Friedens- nicht durch Erkenntnis, sondern nur durch ›Buße und Glaube‹ willen aller« zu nutzen, »der Friedenswille der Staaten und hervorgerufen werden können« sowie über Liebe, »ist doch Völker, der als solcher auch der Wille sein muss, für gerechte Gerechtigkeit nichts anderes als die Gestalt der Liebe, die in Ansprüche anderer nationale Opfer zu bringen«32. Dazu sei der Welt der Ordnungen und Institutionen Kurs hat«37. All »von innen her auf die Menschheit einzuwirken, um des Frie- diese Gedanken haben aber dennoch Platz in denen von Bau- dens, d.h. der eigenen Existenz willen auf eine rein egoistische dissin gehabt, wie seine späteren Aussagen über Frieden zeigen Machtpolitik zu verzichten und im Interesse dieses Friedens, werden. gewisse minimale Forderungen völkerrechtlicher Gerech- tigkeit und Friedlichkeit zu er füllen, auch wenn sie Opfer Im Gegensatz zu Brunner sieht Baudissin jedoch in seiner kosten«. Wie Brunner hofft Baudissin anscheinend, dass aus Denkschrift – wie bereits gesagt – gewisse Möglichkeiten zur einer solchen »moralisch-praktischen Souveränitätsbegren- praktischen Verwirklichung einer Friedensordnung der Völker zung« sich gewisse Institutionen überstaatlicher Zusammen- 33 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 283 – 287. arbeit ergeben, die dann mit der Dauer ihres Bestehens immer 34 Die dabei benutzten Kriterien hat Brunner bereits bei der Darstellung der mehr Autorität erlangen. »Zwar kann kein Schiedsgericht eine »gerechten Ordnung des Staates« verwendet, vrgl. ders. a.a.O. S. 233ff. 35 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 272 und S. 296. 36 So resümiert Brunner bereits im einleitenden Abschnitt zu Kapitel 21, dass 28 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 273. neben unbestechlichem Wirklichkeitssinn der unbedingte Wille zum Ge- 29 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 275. rechten den christlichen Staatsmann ausmache – vrgl. ders. a.a.O. S. 271f. 30 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 277 ff. Die dritte Möglichkeit, Friede durch das mit Und im vierten Abschnitt betont er, dass ausschließlich der »einsichtige Macht verbundene Recht, scheint für Baudissin am ehesten erfolgverspre- Friedenswille der Großmächte« eine Garantie böte. Dazu sei »die Mitsprache chend zu sein. Nach Brunner geht es dabei um die »föderalistisch-koope- aller Völker allerdings notwendig«. Dass. S. 298. Baudissins Zitate stammen rative Bildung einer überstaatlichen Macht, die den Frieden gewährleistet, mit Masse aus den beiden ersten Abschnitten zur »Friedensordnung« mit indem sie, nach dem gemeinsamen Beschluss der Kooperanten, den einzel- den drei Modellen sowie zum »Völkerrecht« (allgemein); die Zitate zum nen Friedensstörer, das heißt den, der sich dem Beschluß der Völkerunion Friedenswillen stammen zum einen aus Brunners erstem Abschnitt zur »Frie- nicht beugt, zum Gehorsam zwingt«. Vergl. Brunner a.a.O. S. 280ff. densordnung« und zum anderen aus dem dritten zum »gerechten Völker- 31 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 282. recht«. 32 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 283 f. Bei Brunner sind die Worte ›Friedenswille‹ und 37 Brunner a.a.O. S. 307 – 312. Auch der kurz davor von Brunner geäußerte Ge- ›solcher‹ gesperrt gedruckt. Dies weist darauf hin, welchen Stellenwert er danke, dass »Gerechtigkeit ohne Macht ohnmächtig« sei, wird von Baudissin dem Friedenswillen gegenüber institutionellen Möglichkeiten gibt. hier übergangen – trotz entsprechender Überlegungen vorher.

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»in wirkungsvoller Form«38 für einen Zusammenschluss Eu- zu erringen und zu stärken« sowie zur »Schaffung und Auf- ropas. Er verfolgt somit einen ganz anderen Ansatz als Brun- rechterhaltung gerechten Ordnung (Augustin), die ner. Er hat damit das Thema Frieden insgesamt für sich – neu von den meisten anerkannt« wird. Dabei sieht er aber auch – entdeckt und ihm für sein weiteres Denken und Wirken das Problem »vorsätzlicher Friedens-Störer«, denen man als entscheidende Bedeutung und Richtung gegeben: Er ist sehr »Hauptweg« – das »Wasser abgraben«, dabei »aber auch viel stärker auf die politische Praxis bezogen; seine Gedanken Schwert als Damm (Vakuum) einsetzen« müsse; der andere kreisen eindeutig um die Frage der Realisierung von Frieden. Weg sei der »echter Intoleranz (Wahrheit und Ordnung) als Dennoch: Brunners Gedanken und Ideen zu Frieden sind für Vertrauenshilfe«, der dritte Weg heißt »Vergeben, Nachgeben Baudissin dabei nicht nur anregend neu, sondern wirken auf und Aufgeben« und der vierte bedeute »Übertragung an Staat – doch Notwehr – Notstand – ohne eklektisch wie aus einem Steinbruch auf und arbeitet sie in Rache zur Wiederherstellung status quo«. seine Denkschrift ein. Bei der nächsten Frage nach Aussagen der Bibel zu Krieg und Frieden benutzt Baudissin zu weiten Teilen dieselben Bibel- 4. Frieden in Baudissins Vorträgen im Rahmen stellen wie Brunner und unterscheidet – Brunners Gedanken- der Evangelischen Kirche 1950/1951 gang z. B. zum Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit folgend – nach dem biblischen Frieden und Frieden auf Erden. Der In Vorträgen im kirchlichen Bereich Anfang der 1950er Jahre be- biblische sei nur endzeitlich und biete kein »Rezept« zur Ver- tont Baudissin eine individuelle christliche Sichtweise für die wirklichung des Friedens auf Erden.40 Frage nach »Frieden auf Erden«39 – wie er sein Thema nannte. Auch wenn Baudissin in diesem Vortragsmanuskript an keiner Baudissin fragt nun angesichts der »gemeinsamen Existenz- Stelle Brunner namentlich erwähnt, so ist doch deutlich zu er- bedrohung« weiter nach möglichen Konsequenzen. Wie kennen, dass er bei Erstellung des Manuskriptes sich noch sehr Brunner verwirft Baudissin die Gedankenmodelle des Hei- genau an die Lektüre von »Gerechtigkeit« knapp vier Jahre ligen sowie des Gerechten Krieges. Er ist davon überzeugt, vorher erinnert hatte. Manche Begriffe oder Wendungen wie dass es eine »Tatsache : Keine noch so hohe Frage Kriegsgrund nur neues Unrecht und »Freiheit und Ordnung in Gerechtigkeit«, die Verneinung von Leid«. Daraus folgert er, dass Frieden »doch nur aus freiem Rezepten für die Schaffung des Friedens auf Erden aus dem Entschluss und Verantwortung von opferbereiten verantwor- biblischen, »Opferbereitschaft«, »suum cuique«, »gemeinsame tungsvollen Menschen« möglich sei. Und, auf die politische Existenzbedrohung« oder dem Friedensstörer das »Wasser ab- Ebene zielend, spricht er von »neuem gelenkten Gebrauch graben« weisen unmittelbar auf Brunner hin. der Macht«, von einer »neuen Aufklärung«, die die Grenzen Baudissin geht von einer »negativen« Bestimmung von Frie- des Menschen deutlich mache – wie bereits von den Atom- den aus als Abwesenheit von Gewalt und Spannungen und physikern beschritten – sowie von »sozialer Gerechtigkeit in bezeichnet dies als eine »Illusion«. Dann beschreibt er Frieden Demokratie«. Dazu empfi ehlt er, den »Blick vom Fernziel zum »positiv« als eine Sehnsucht der Menschheit und defi niert ihn Nahziel«, auf das »politisch Konkrete« zu richten, »Gemein- als allgemein menschliches, individuelles Problem: »Frieden sames und Anknüpfungspunkte« der einander gegenüberste- ist gegeben, wenn Ich gewillt , alle Spannungen henden Systeme zu suchen, um »Möglichkeiten , ohne Gewalt zu überwinden (Opferbereitschaft), Polarität Zustände zu bessern«. zu bejahen (Individualität), und im Vertrauen, dass Nach Baudissins Verständnis von Frieden haben Christen ein Du gleichen Willens d.h. wenn alle Partner bestimmte Ordnungsprinzipien anerkennen. nur mög- tragisches Verhältnis zur Welt: Frieden bedeute für ihn »stets lich, wenn jeder den Nächsten und seine Sphäre genau so Leiden«. Dabei sei es eine für Christen typische Aufgabe, das achtet wie eigene und das Anderssein des anderen als »Durcheinander zu ordnen falsche Gegensätze ... zu fruchtbar bejaht – suum cuique – achte Deinen Nächsten wie überbrücken, längst überholte Fronten zu durchbrechen, Frei- Dich selbst.« Dazu müsse man sich bewusst sein, dass Gewalt heit und Ordnung in Gerechtigkeit zu vereinen, Bild entstehe, »wenn Spannungen nicht ertragen werden«. Kampf Christlichen Abendland ... zu leben«. Der Beitrag der dürfe aber nicht gegeneinander, sondern nur »nebeneinander Christen – als Kirche, Gemeinde wie Einzelner – zum »Frieden um des Besseren Willen« – geführt werden. des Geistes und des Gewissens« sei es, allgemein gesprochen, »aus dem Anti zum friedlichen Pro« zu kommen. Konkreter Damit betont Baudissin den inneren Frieden, den »Friede mit sich selbst«, vor dem politischen Frieden. Jener sei »nur bedeute das, den Frieden zu stabilisieren durch: aus dem freien Entschluss und der Verantwortung von op- 40 In diesem Zusammenhang ist auf Baudissins handschriftliches Vortragsma- ferbereiten, vertrauensvollen Menschen zu schließen«; der nuskript »Christ und Wehrdienst«, ders. 52,6, hinzuweisen, in dem er sagt, politische Frieden könne aber »nur in uns selbst beginnen«. dass die »Bibel keine Rezepte für Frieden auf Erden« liefere, »sondern Raum für ernste Selbstprüfung + Entscheidung im konkreten Fall. Klar, dass die Er appelliert an die »Verantwortung der Friedliebenden zum Kinder Gottes Friedensstifter sein sollen, nicht generell gesagt, wie Verhal- Frieden-Stiften«, d.h. zur »Arbeit an sich selbst, um Vertrauen ten in friedloser Zeit«. – Baudissins Schriften von hieran zitiert anhand der Zählung in der Bibliographie in: Wolf Graf von Baudissin: Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften 1951 – 1981. Hrsg. von Cornelia Bührle und 38 Vrgl. Brunner a.a.O. S. 280 f. Claus von Rosen, München 1982, S. 272 – 312. Die ersten beiden Ziffern 39 Baudissin 51,1. S.a. Rosen 1982, S 13f. – Aus dem handschriftlichen Stich- stehen für das Entstehungsjahr, die folgenden für die laufende Nummer. wortmanuskript wird der folgende Lauftext rekonstruiert.

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• Verhandlungsbereitschaft, tegie im Atomzeitalter, dort greift Baudissin immer wieder an 41 • Aufhebung der Angst im Wissen um eine letzte, nicht ir- zentraler Stelle auf Frieden als Letztbegründung zurück. dische Instanz, In seiner ersten öffentlichen Äußerung als Mitarbeiter des • Aufhebung der Vergeltungskette im Wissen um die eigene Amtes Blank im Dezember 1951 an der Evangelischen Aka- Schuld und die Bedürftigkeit der Vergebung sowie demie in Hermannsburg42 formulierte Baudissin, was wie ein • Mut zum Wagnis neuer Wege aus dem Wissen um die Un- Paukenschlag gewirkt haben muss: Für künftige Streitkräfte sei Frieden43 das Ziel und Abschreckung44 dazu das politische zulänglichkeit der bisherigen und um die eigene Unabhän- Mittel. »Wir haben ernsthaft und redlich umzudenken und gigkeit vom Erfolg sowie uns bewusst zu machen, dass der Soldat in aller erster Linie • Gebet. für die Erhaltung des Friedens eintreten soll; denn im Zeital- Enthalten der zweite, dritte und fünfte Punkt eine scheinbar ter des absoluten Krieges mit seinen eigengesetzlichen, alles ausschließlich menschlich-individuelle Komponente mit stark vernichtenden Kräften gibt es kein politisches Ziel, welches transzendentaler Implikation, so wird anhand des ersten und mit kriegerischen Mitteln angestrebt werden darf und kann, vierten in Verbindung mit den politisch-allgemeineren Bemer- außer der Verteidigung gegen einen das Leben und die Freiheit kungen vorher deutlich, dass Baudissin hiermit – wie schon zerstörenden Angriff.« in seiner Denkschrift von 1947 angedeutet – ganz handfeste Und weiter heißt es in dem Vortrag ganz praktisch – bis hin zu politisch-praktische Forderungen und Institutionen im Auge Gedanken für die Entwicklung eines positiven Friedens in der hat. eigenen Gesellschaft und in Europa: »Die Streitkräfte können Baudissins eigener, auf praktische Politik zielender Ansatz wird Wesentliches zur Stärkung und Wahrung des Friedens beitra- in den Vorträgen dieser Zeit weiter konkretisiert: Der Gedanke gen, indem sie an Stabilisierung des gerade bestehenden Friedens als Nah- • durch ihre militärische Abwehrstärke dem Gegner die Ver- ziel, die Betonung von Verhandlungsbereitschaft, die Frage suchung eines risikolosen Angriffs nehmen; nach Möglichkeit zur Wiederherstellung des Status quo nach • durch die Existenz das Klima der Angst abbauen helfen und Störung des Friedens, aber auch die individuellen, deutlich so die Menschen aus der Reaktion zur Aktion freimachen; christlich bestimmten Gedanken zum Frieden sind eindeutig • durch vielfältige menschliche Begegnung und sachliche Zu- praktisch. Die duale Betrachtung von Frieden kennzeichnet sammenarbeit das europäische Gemeinschaftsbewusstsein dabei über die Praxisorientierung hinaus Baudissins Ansatz: verbreitern und vertiefen; Die individuellen Aspekte von Frieden werden von Baudissin in das Politikfeld eingebracht. Dies wird besonders an den • die Jugend an den Staat heranführen; Ausführungen zur Überwindung – so verstanden falscher – • den Wurzellosen einen Zugang zum späteren Zivilberuf öff- Gegensätze zwischen den Systemen und dem Aufruf zum Mut nen; zum Wagnis neuer Wege aus dem Wissen um die Unzuläng- • durch ehrliche Bemühungen um den Menschen und ein lichkeit deutlich. Seine Auffassung vom tragischen Verhältnis Leben in neuen Formen der fortschreitenden Funktionali- des Christen zum Frieden beinhaltet, dass für Baudissin Frie- sierung und Enthumanisierung einen Damm entgegenstel- den niemals als konfl iktfreier ›friedlicher‹ Zustand zu denken len.« ist. Und dennoch – das ist hier bereits festgestellt – gibt es In einem Vortrag in Bad Boll von 1952 fasste er die politischen für Baudissin zu Frieden auf Erden als politischem Zustand und individuellen Aspekte von Frieden – noch für die Streit- keine Alternative. Beides hat auch für seine Grundgedan- kräfte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – zusam- ken zur Konzeption Innere Führung der neu aufzustellenden men: »Dieser Soldat der E.V.G. soll sichtbar dem Frieden in Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland wesentliche

Bedeutung. 41 Dies hatte dazu geführt, dass sein Mitarbeiter Dr. Will 1953 bei den Vorarbei- ten zum Soldatengesetz – vergeblich – forderte, in der Präambel die »Pfl icht zur Friedenswahrung nach innen und außen« aufzunehmen. S. Tagebuch der Gruppe Inneres Gefüge am 29.9. und 1.10.1953. 42 Baudissin 51,5; ders.: Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr. Hrsg. von Peter v. Schubert. München 1969, S 23 ff. S.a. Detlef 5. Frieden in Baudissins Überlegungen zur Inne- Bald: Graf Baudissin und die Reform des deutschen Militärs. In: Hilmar Linnen- ren Führung und Strategie 1951 – 1968 kamp/Dieter S. Lutz (Hrsg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin. Reihe: Demokratie, Sicherheit, Frieden Band 94, Baden-Baden 1995, S. 19 – 53, hier: S. 38ff. Die Bedeutung, die Baudissin Frieden bei seinen Arbeiten zum 43 Im Vortrag vor dem Einweisungslehrgang für höhere Stabsoffi ziere und Ge- Inneren Gefüge und der Konzeption Innere Führung für die nerale 1956 in Sonthofen führte Baudissin entsprechend aus: »Vom Frieden her bekommt die Kriegführung ihren Auftrag und ihre Grenzen.« ders. 56,1. Bundeswehr beimaß, ist nicht unmittelbar aus den Themen S.a. Bundesministerium für Verteidigung, Führungsstab der Bundeswehr I 6 seiner Beiträge aus den Jahren seines aktiven Dienstes im Amt (Hrsg.): Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe. Bonn 1957a, S. 59 sowie Bundesministerium für Verteidigung: ZDv 11/1. Leitsätze Blank, im Verteidigungsministerium, als Brigadekommandeur für die Erziehung des Soldaten. Bonn 1957b, die unter seiner Leitung entstan- sowie in seinen Verwendungen in NATO-Stäben und dem den ist. Dort heißt es in Ziffer 1 programmatisch: »Die Bundeswehr schützt Frieden und Freiheit des deutschen Volkes. Sie sichert gemeinschaftlich mit NATO-Defence-College zu entnehmen. Wo es um die von ihm den Soldaten der freien Welt die auf Recht begründeten Lebensordnungen, so genannten geistig-sittlichen Grundlagen des Soldaten der die der europäische Geist seit Jahrhunderten formt.« 44 In einem Brief an Herrn Pansius-Heide vom 13.6.1952 schreibt Baudissin Bundeswehr geht, um dessen ethisches Fundament, sowie um als Begründung für seinen Entschluss, »doch« ins Amt Blank gegangen zu die Frage nach der politischen Legitimation von Streitkräften, sein: »Da ich aber zu der Erkenntnis kam, dass der Frieden nur über eine Verteidigungsbereitschaft zu bewahren ist, glaubte ich, mich der praktischen nach deren politischem Zweck, nach dem Kriegsbild und Stra- Konsequenz dieser Auffassung nicht entziehen zu dürfen.«

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Freiheit dienen in dem Bewusstsein, dass im Zeitalter des au- ne.50 Wesentlich bestimmt sei dieser davon, »dass hier der tonomen45 Krieges kein politisches Ziel so wichtig sein kann, andere gezwungen wird oder meint, zu einer Kampfweise ge- als dass es mit kriegerischen Mitteln angestrebt werden darf. Er zwungen zu sein, die im Grunde genommen nicht die Seine muss wissen, dass die beste Friedenssicherung in seiner Kraft ist«51. sowie: »Allgemeine Friedlosigkeit ist das Kennzeichen und Bereitschaft zur Abwehr liegt, aber auch davon überzeugt dieser Auseinandersetzung, die auf allen Lebensgebieten aus- sein, dass er für eine trotz aller Gebrechlichkeit verteidigungs- getragen wird.« und weiter: der Soldat sei »in ganz besonde- werte Ordnung und ganz konkret für seinen Nächsten steht. Dieses kann der Soldat nur, wenn er im menschlichen Frie- rem Maße Ziel, Mittel und Träger dieser Auseinandersetzung, den zu seinen Vorgesetzten, Kameraden und Untergebenen obwohl die militärische Verteidigung nur noch eine Form des lebt. Dafür soll das ›Innere Gefüge‘ Sorge tragen. Aber darü- Schutzes nach außen und nicht einmal die aussichtsreichste ber hinaus muss sich der Soldat des deutschen Kontingents darstellt«52. Mehr fragend und dennoch bestimmt, stellt er auch im Frieden mit seinem Volke fühlen, aus dem er nicht resümierend fest: »Es ist auch in keiner Weise für jeden mehr auszusondern ist. Somit richtet sich die Frage nach dem Inne- sicher, dass der Krieg ein vernünftiges Mittel der Politik ist, für ren Gefüge nicht nur an den zukünftigen Soldaten und seine eine Anzahl Menschen nicht einmal mehr dann, wenn es um nächsten Angehörigen, sondern an alle verantwortlich den- die Verteidigung der durch einen Angriff bedrohten gesamten kenden Menschen.«46 Existenz geht.«53 Die individuelle Komponente von Frieden wird von Baudissin auch in den folgenden Jahren weiter betont. So sagte er 1953 Der andere Ausgangspunkt für Baudissins strategie-bestimmte bei einer Tagung zur Vorbereitung der »Leitsätze für Erzie- Überlegungen zur Inneren Führung war das Szenario des hung«: »Der Zustand den wir heute Frieden nennen, scheint Atomkrieges: »Wie weit es im Zeitalter der Atombombe noch alles andere als friedlich zu sein. Der permanente Bürgerkrieg Sieger und Besiegte gibt, ist fraglich; und die Aufgabe des Frie- ohne räumliche und zeitliche Grenzen und ohne Beschrän- dens ist mit militärischem Sieg noch nicht gelöst. Ich halte kung der Kampfmittel stellt uns vor schwerwiegende Pro- es auch für gefährlich, (einfach so) den militärischen Sieg als bleme, die wir gerade im soldatischen Raum als etwas wirklich letztes Ziel des Krieges hinzustellen, als etwas auch, was ohne Neues nicht übersehen dürfen. Denn die Grenze zwischen den Lagern, die Grenze zwischen den beiden Lebensordnungen weiteres und ohne Folgen zu erwarten ist. ... Er kann nur dann läuft tatsächlich in den Herzen des Einzelnen, also auch durch als letzte Möglichkeit gerechtfertigt sein, wenn wir uns gegen die Herzen der Soldaten.«47 Entsprechend formulierte er bei einen Gegner verteidigen müssen, der die Existenz der Ge- seinem Abschied aus der Unterabteilung des Ministeriums meinschaft und damit zugleich die Existenz jedes Einzelnen 1958 ein »Erziehungsziel zum Freiseinsollen«: »Doch von zu vernichten droht. Die Streitkräfte sind nach meiner Auffas- den Freien allein hängt es ab, ob wir die Lage bewältigen und sung kein Instrument mehr dafür, einen aggressiven Willen ob wir eine Ordnung schaffen werden, die unter den verän- durchzusetzen, sondern sie sind allein dazu da, dem Gegner derten Bedingungen ein Höchstmaß an Freiheit, Recht und durch ein Höchstmaß an Kampftüchtigkeit die Verlagerung Menschenwürde bietet. Das wäre der entscheidende Beitrag zum Frieden der Welt.«48 der geistigen Auseinandersetzung in die Sphäre des heißen Krieges unratsam erscheinen zu lassen. Dieses Höchstmaß an Und zu Ende seiner militärischen Dienstzeit stellte Baudissin Kriegstüchtigkeit geht weit über das Technisch-Taktische hi- im Vortrag »Beitrag des Soldaten zum Dienst am Frieden« fest: naus. Sie macht es der Politik erst möglich, den Frieden zu be- »Auch der Soldat hat seinen Beitrag zum Frieden zu leisten, 54 wenngleich er noch immer als Sachwalter des Krieges gilt. In wahren.« In seinem vielbeachteten Aufsatz über das Kriegs- der Konzeption der Inneren Führung fi nden sich – zumindest bild von 1962 schrieb er: »Soviel dürfte freilich feststehen: hat im Ansatz – viele der nachfolgenden Gedanken. Das ist kein die Abschreckung erst einmal versagt, so ist die Entwicklung Zufall, war diese doch von Anbeginn auf Friedenserhaltung zum Äußersten mehr als wahrscheinlich. Dies liegt im Wesen angelegt. Als Grundvoraussetzungen für einen nicht-gewalt- des Krieges überhaupt, wird aber durch das Risiko eines heu- tätigen Austrag zwischenmenschlicher Spannungen wurden tigen und durch das tiefe gegenseitige Misstrauen der Kriegfüh- Freiheit und Recht zu Maßstäben der Menschenführung ge- renden noch erheblich gesteigert.«55 Und zusammenfassend setzt.«49 heißt es dort: »Zweck des Krieges ist heute wie ehedem: den Die Gedanken zu Frieden auf der anderen Seite aus politischer Sicht entwickelte Baudissin in der Folgezeit politisch- und 50 Baudissin 51,5; ders. 1969, S. 23. 51 Baudissin 53,18. militär-strategisch fort. Der eine Ausgangspunkt dazu ist sein 52 BMVg 1957a, S. 34ff , hier: S. 35. Bezüglich dieser Funktion des Soldaten sagt Verständnis vom künftigen Krieg, den er als »permanenten er weiter vor dem Sonthofener Lehrgang 1956: »So steht zunächst als solda- tische Aufgabe im Vordergrund: Durch ein Höchstmaß an abwehrbereiter Bürgerkrieg« bezeichnete und der – wie gesagt – keine räum- Kriegstüchtigkeit Schutz in der latenten Bedrohung zu geben. ... Daß auch lichen, zeitlichen oder sachlichen Abgrenzungen mehr ken- dieser Teil der militärischen Aufgabe nur in der Bereitschaft zu erfüllen ist, sich der akuten Drohung mit ganzer Entschlossenheit entgegenzuwerfen, bedarf keiner weiteren Begründung.« Dass, S. 36. 45 In dieser Quelle Baudissin 52,5; ders. 1969, S. 140 heißt es »autonom«, an 53 Baudissin 53,18. anderen Stellen spricht Baudissin in diesen Jahren vom »absoluten Krieg«. 54 Baudissin 53,18. Vergl. auch derselbe 66,2 in seinem Vorwort zu André Be- 46 Baudissin 52,5; ders. 1969, S. 140. aufre: Totale Kriegskunst im Frieden, Berlin 1966, ders. 1969, S. 263 ff, in 47 Baudissin 53,8; ders. 1969, S. 143. dem er besonders auch Beaufres Vorstellungen zu Frieden und Vorschläge 48 Baudissin 58,6. zur Lösung des politisch-strategischen Dilemmas zustimmend aufnimmt. 49 Baudissin 68,8; ders. 1969, S. 28. 55 Baudissin 62,2; ders. 1969, S. 69.

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Gegner zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen56. Da- Erziehung oder anders: durch politische Bildung zu befördern ran ändert auch die Verlagerung der Auseinandersetzung auf ist. Und zum anderen eine neue politisch-geistige und gesell- die geistig-politische Ebene nichts. ›Kriegsziel‘ der freien Welt schaftliche Ordnung. In diesem Zusammenhang entwickelt er ist es, zumindest militärisch, den Frieden zu erhalten und je- auch sein Verständnis von Frieden fort hin zu einem positiven des Antasten der freiheitlichen Ordnung zu verhindern. So Friedensbegriff, wenn er als politisches Ziel von »Stärkung und bleiben auch die Streitkräfte ein Mittel der Politik, aber eben Wahrung des Friedens« spricht. Hier klingen wieder Gedanken nur noch eines im politischen Krieg neben Wirtschaft, Recht, von Brunner an. Gesellschaft, Technik und Wissenschaft; sie entwickeln ihren höchsten politischen Wert, wenn sie abschrecken, ohne ein- gesetzt zu werden.«57 6. Frieden in Baudissins friedensrelevanten Vor- Die starke Bedeutung von Frieden für Baudissins Arbeiten die- stellungen als Friedensforscher 1968 – 1984 ser Jahre steht außer Zweifel. Er spitzt seine Gedanken für die Führungspraxis in den Streitkräften sowie für deren politisch- Baudissin begann im Frühjahr 1968 – bereits kurz nach seinem militärische Strategie sogar in einer Weise zu, dass manche Ausscheiden aus dem militärischen Dienst – als Lehrbeauf- Mitstreiter ihm dabei nicht folgen können. Das gilt sowohl bei tragter an der Hamburger Universität Vorlesungen zu halten. der Formulierung des Bildes vom »Soldat für den Frieden« als Sein erstes Thema war »NATO-Strategie im Wandel«.58 Die auch für die Feststellung, dass Krieg kein vernünftiges Mittel Frage nach dem Kriegsbild ist gleichermaßen Ausgangspunkt der Politik sei, sondern Streitkräfte die Aufgabe haben, den wie Ziel seiner Überlegungen, an dem »Friedensstreitkräfte« Frieden zu bewahren. Dieser apodiktische Ausschluss jeglichen mit deren Strategie und Taktik zu orientieren seien. Mit Aron politischen Grundes für Krieg – ausgenommen der Abwehr spricht er vom »Ohnmachtsfriede«59, »in dem gegenseitige von Aggressionen – beinhaltet das Paradoxon, dass Friede nur Abschreckung die dialektische Situation schafft, dass eine nie durch höchste Kriegstüchtigkeit, militärische Abwehrstärke erlebte Machtfülle den Weltmächten gleichzeitig Beschrän- oder strategisch durch Abschreckung zu erhalten sei. Dieser kungen in der Machtanwendung auferlegt«. Seine weiteren zweite Gedanke scheint wieder mit Brunners Überlegungen Ausführungen markieren einen Übergang von Vorstellungen zur Friedensordnung in Verbindung zu stehen. Da Baudissin der Kriegsverhinderung mit entsprechender politisch-militä- aber den von Brunner betonten Friedenswillen nicht mit an- rischer Strategie der Abschreckung hin zu friedenspolitischen spricht, müssen wir hier eine weitere Konkretisierung des pra- Fragen nach einer politischen Strategie der Friedenserhaltung xisorientierten Ansatzes zum Umgang mit – auch von Brunner und einer dementsprechenden beständigen Friedensord- so gesehenen – »Friedensstörern« bei Baudissin feststellen. nung.

Baudissins Bild von der friedenspolitischen Großwetterlage Damit betrat er den damals in der deutschen Gesellschaft neu- scheint sich in dieser Zeit jedoch im Sinne des berufsbezo- en Weg der Friedensforschung. Sein Ansatz für Friedensfor- genen Verwertungsinteresses deutlich verschoben zu haben. schung ist von Anfang an auf Politik-Beratung ausgerichtet. 1947, bei der Lektüre von Brunner, konnte er mit diesem all- Er beschreibt ihn als »pragmatische Schule«: gemein von einer Sehnsucht nach Frieden unter den Völkern ausgehen. Jetzt scheint für ihn Frieden alles andere als fried- »Die Friedens- und Konfl iktforschung aller Richtungen geht lich zu sein; denn er spricht von allgemeiner Friedlosigkeit so- davon aus, dass der Krieg weder ein Naturgesetz noch ein wie von einem permanenten Bürgerkrieg ohne räumliche und notwendiger Bestandteil menschlichen Lebens ist, sondern zeitliche Grenzen und ohne Beschränkung der Kampfmittel. das Ergebnis ganz bestimmter Haltungen, Erwartungen und Handlungen. Damit muss es möglich sein, den Krieg zu über- Der bereits in der Zeit vorher von Baudissin entwickelte dop- winden wie weiland Kannibalismus und Sklaverei, pelte Zugang zu Frieden aus individueller und aus politischer Sicht wird von ihm im Hinblick auf die praktischen Anforde- – die pragmatische Schule meint, dass harte Interessengegen- rungen seiner militärischen Aufgaben noch stärker herausge- sätze zum menschlichen Leben gehören, dass es daher nicht arbeitet. Dadurch entsteht für ihn deutlicher als vorher die um Abschaffung, Ächtung oder Verdammung von Konfl ikten Frage der Vermittlung beider Bereiche. Die Antwort darauf gehen kann, sondern um ihre Rationalisierung, wenn Sie so beinhaltet sowohl individuelle als auch politische Lösungs- wollen, um ihre Humanisierung, also um ihren gewaltfreien möglichkeiten: Zum einen das mitmenschliche friedliche, Austrag nach gegebenen Normen und Regeln.60 angstfreie Verhältnis und einen nicht-gewalttätigen Austrag zwischenmenschlicher Spannung, was gegebenenfalls durch 58 Ders. 68,3. In überarbeiteter Form ist dies als »NATO-Strategie im Zeichen der Friedenserhaltung« in ders. 1969, S. 267 – 302ff abgedruckt. 59 In ders. 72,9 heißt es dazu: »Die militärische Abschreckung ist zwar imstan- 56 Diese Maxime entwickelte Baudissin sieben Jahre später weiter: »Nach wie de, mit einiger Wahrscheinlichkeit Nichtkrieg zu halten, nicht aber, den vor gilt das Wort von Clausewitz, dass es Ziel des Krieges ist, dem Gegner Frieden zu gestalten. Das ist Aufgabe der Politik, die den strategisch stabilen den eigenen politischen Willen aufzuzwingen. Nur, dass der politische Wille Zustand zu Entspannungspolitik und Friedensgestaltung nutzen muss.« nicht mehr darauf abzielt, dem anderen etwas aufzuzwingen, was dessen 60 Diesen Gedanken hatte er bereits 1972 anlässlich der Rede zum Volkstrau- politische Existenz bedroht. Es geht heute darum, sich dem Willen des An- ertag in Flensburg formuliert, s. ders. 72,27:» Wer aber Gewaltanwendung greifers nicht selbst zu unterwerfen; nicht mehr um ›Siegen‘ geht es, sondern – und damit auch Krieg – in dieser spannungsgeladenen Welt ablehnt, muss um ›Nicht-besiegt-Werden‘.« Baudissin 68,8; ders. 1969, S. 39. Vrgl. ders 68,3 auf andere Mittel zur lebensnotwendigen Konfl iktregelung sinnen, muss ders. 1969, S. 293f: Es gehe nicht um das »militärische Siegen – dies diene Strukturen und Mechanismen gewaltfreien Konfl iktaustrags anbieten. Die keinem politischen Zweck –. »Das militärische Nicht-Besiegt-Werden wird entscheidenden Voraussetzungen für das Funktionieren solcher Regelungen häufi g genügen, um den Angreifer zu hindern, seinen politischen Willen liegen freilich im Menschen selbst. Nur wenn es den Menschen gelingt, in dem Angegriffenen aufzuzwingen. Ein solcher ›Sieg‹ genügt.« sich selber friedlichere Haltungen und Verhaltensweisen zu entwickeln, nur 57 Ebd., S. 75. dann können auch Krieg und Gewalt überwunden werden.«

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– Erziehung zum Frieden ist also nichts anderes als Erziehung Sicherheitspolitik hat für Baudissin ausschließlich eine »frie- zur Konfl iktfähigkeit. Diese Erreichen wir: densbewahrende Zielsetzung«. »Ihr Mittel ist strategische Stabilität; sie wird durch die Militärstrategien gegenseitiger • wenn wir anerkennen, dass zu unserem Leben Konfl ikte aller Abschreckung und kooperativer Rüstungssteuerung gewähr- Art in Familie, in kleineren wie größeren Gruppen, in der leistet. Streitkräfte üben unter diesen Bedingungen eine ledig- Gesellschaft und zwischen Staaten gehören; lich prohibitive Funktion aus.«66 • wenn wir in demjenigen, mit dem wir Konfl ikte haben, nicht gleich den Bösewicht sehen, der künstlich Gegensät- Die Aufgabe der Sicherheitspolitik bestehe darin, Symmetrie ze aufbaut, sondern jemanden, der genauso subjektiv wie des militärischen Kräfteverhältnisses herzustellen und zu er- wir selbst bestimmte Interessen und bestimmte Positionen halten. Dabei gehe es nicht um »klare Symmetrien in allen vertritt; Ebenen, Sektoren oder Systemkategorien«, sondern um eine • wenn wir zugeben, dass auch die eigene Position weder »belastbare Gesamtstabilität«, die für jeden Beteiligten aus 67 absolut, noch subjektiv ist, sondern ebenfalls als relativ zu einem »kalkuliert untragbares Risiko« entstehe. Der Ent- bewerten ist; spannungsprozess verlange darüber hinaus, Instabilitäten der anderen Seite ernst zu nehmen und bei ihrem Abbau zu • wenn wir uns darauf einlassen, die Konfl ikte nicht mehr helfen. Das fordere auch »die Bereitschaft, Interdependenzen mit Gewalt zu ›lösen‘, sondern in einem oft frustrierenden einzugehen, also Einbußen an klassischer Souveränität hin- Schritt-für-Schritt-Prozess mühsam zu regeln, und begreifen, zunehmen« und mache Vertrauensbildende Maßnahmen bei dass die heute brennenden Spannungen häufi g nur dadurch Kooperativer Rüstungssteuerung notwendig.68 erträglich werden, dass noch brennendere auffl ammen.«61 Entscheidend sei dafür die Erkenntnis, dass beide Konfl ikt- Frieden ist für Baudissin zum einen – noch immer – »bewaff- Seiten aufeinander angewiesen sind: »Beide Seiten sind dazu neter Frieden« und »nur relativ und alles andere als konfl ikt- verurteilt, sich mit der Dynamik und der Belastung des dialek- freies Leben«62. Frieden stellt für ihn zum anderen aber die tischen Prozesses abzufi nden, der zwischen den Leitplanken Herausforderung schlechthin dar: »Die Vorstellungen von der Annäherung und Abgrenzung verläuft. Die Annäherung dient Unvermeidbarkeit großer Kriege sind, nach wie vor, virulent der Stabilisierung der Systeme durch erhöhte Kooperation, die – Frieden dagegen erscheint als Utopie.« »So ist es keine gro- Abgrenzung durch verschärfte Kontrolle der Gesellschaft und be Vereinfachung zu behaupten, dass Frieden heute zur Not- Wiederbelebung des Feindbildes.« Dies verlange einen beider- wendigkeit geworden ist, sofern die Menschheit sich nicht seitigen Lernprozess: »Es geht darum, in dem Gegenüber nicht selbst zerstören, zumindest falls sie unter einigermaßen men- allein den Antagonisten, sondern zugleich den Partner zu er- schenwürdigen Bedingungen weiter existieren will.«63 Dabei kennen, ohne dessen Kooperation immer weniger Probleme erhalten seine Gedanken eine deutliche Zuspitzung: »In Kon- geregelt werden können.«69 Im Interview mit Cornelia Bührle sequenz dieser Strategie ist der Soldat auf den Frieden bezogen. fasst Baudissin entsprechend zusammen: »Die Schaffung fried- Der eigentliche ›Feind‘ ist nicht mehr der Soldat des anderen licherer Beziehungen setzt freilich vor allem ein neues Verhält- Bündnisses, sondern der alle Existenz bedrohende Krieg. Den nis zu Konfl ikten im allgemeinen, zu Opponenten und zur Ernstfall können also nicht mehr Krieg und Kampf bedeu- ten, die zu verhindern gerade die Aufgabe der Streitkräfte auf eigenen Position im besonderen voraus. Eine Rationalisierung beiden Seiten geworden ist. Ernstfall ist hier und jetzt, wenn menschlicher Beziehungen ermöglicht es, die vielerlei Span- der Soldat seinen Beitrag zur strategischen Stabilität, d.h. nungen als unabänderliche Fakten zu akzeptieren. Sie erlaubt zur Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch gewissenhafte es, sich geduldig auf Regelungsprozesse einzulassen, anstatt Funktionserfüllung im alltäglichen Dienst leistet.«64 Damit schnelle und defi nitive Lösungen zu erwarten; sie befähigt uns betonte er das Paradoxon des »Soldat für den Frieden«, das er schließlich dazu, den jeweiligen Kontrahenten nicht mehr als bereits 1956 vor dem Sonthofener Lehrgang formuliert hatte, den Störenfried oder gar Bösewicht zu betrachten, sondern dass die Erhaltung des Friedens von der Bereitschaft zum Krieg als jemanden, der seine andersgearteten Interessen mit glei- abhängt. Als eine Konsequenz daraus stellt er den Soldaten cher Berechtigung vertritt wie wir die unseren. Eine solche entsprechend vor die herausfordernde Frage: »Sollten Soldaten Relativierung der Positionen entschärft und humanisiert die nicht auch den Mut haben, sich heute für die Sache des Frie- Beziehungen; sie gibt den Weg frei zu schrittweise Regelungen 70 dens zu engagieren, und sollten sie nicht eine lohnende Auf- von Differenzen.« gabe darin fi nden, im Frieden den Frieden zu bewahren und Baudissin verknüpft diese politischen Aspekte zu Frieden wie- 65 im Krieg den Rückweg in den Frieden offenzuhalten ...?« der mit individuellen, wenn er sagt: »Die Gestaltung einer friedlicheren Zukunft ist eine Aufgabe, die wir nicht den an- 61 Wolf Graf von Baudissin: Vortrag im Rahmen der Hamburger Universitäts- tage, 16. – 17. November 1981; MS vom 14.9.1981, S. 3f. deren, auch nicht den politischen Machtträgern überlassen 62 Baudissin 76,27. Vergl. auch ders.79,5: »Frieden ist kein konfl iktfreier ›Zu- dürfen. Der Krieg und damit auch der Frieden beginnt im Her- stand‘, der sich durch verbale Ächtung von Krieg und Gewalt ein für allemal herbeizaubern lässt. Frieden ist ein ungewöhnlich dynamisches Gesche- hen«. 66 Baudissin 76,27, S. 2. 63 Baudissin 1969, S. 32 und 35. 67 Baudissin 76,1; ders. 76,28. In der Denkschrift von 1947 spricht Baudissin 64 Baudissin 71,18; s.a. ders. 1982, S. 148. – Das Wort »Frieden ist der Ernstfall« vom »unverantwortbaren Risiko«. geht auf den dialektischen Theologen Karl Barth zurück, s. ders.: Kirchliche 68 Wolf Graf von Baudissin: Bemerkungen zu den Heidelberger Thesen. In: Dogmatik Band III/4: Ethik der Schöpfungslehre, Es hat durch den späteren Detlef Bald (Hrsg.): Europäische Friedenspolitik – Ethische Aufgaben. Baden- Bundespräsidenten Gustav Heinemann allgemein-gesellschaftliche Bedeu- Baden 1990, S. 31 – 34, hier: S. 32. tung erlangt. 69 Baudissin 76,28. 65 Baudissin 69,9. 70 Baudissin 81,43.

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zen des einzelnen.«71 Dieser müsse deswegen konfl iktfähig, »Gerechtigkeit« entwickelte Verständnis von Liebe aus christ- d.h. sich der Subjektivität der eigenen Vorstellung bewusst licher Sicht wird jedoch von Baudissin vollkommen geteilt und daher tolerant und zu Kompromissen bereit sein. Anders und hier in seine Überlegungen zu Frieden als Letzt-Forderung ausgedrückt: »All das fordert Selbstüberwindung, Engagement, an das Individuum eingeführt. Zivilcourage und einen erheblichen Schuss Optimismus – um Auch die Herangehensweise an die Frage nach Möglichkeiten nicht zu sagen: Liebe.«72 zur Bewahrung, ggf. Wiederherstellung sowie zur Gestaltung An seinem Lebensabend – bei der Auseinandersetzung mit den des Friedens, ausgehend von einer Extrem- oder Grenzbetrach- Heidelberger Thesen von 1959 – fasste Baudissin diese Ge- tung her, weist auf Brunner, der diesbezüglich den fi ktiven Ur- danken in drei Möglichkeiten zur Überwindung von Konfl ikt zustand der Anarchie sowie das seiner Zeit aktuelle Bedürfnis 73 zusammen : nach Frieden betont hatte. Baudissins Grenz-Gedanken sind Als erstes eine Geisteshaltung, die mit sachlicher Offenheit jedoch eher sach- und auch stärker zukunftsbezogen, wenn für das Gegenüber zu beschreiben wäre. Sie begründet sich er von Krieg als dem beiderseitigen Feind und von »kalkuliert für Baudissin darin, dass es nur eine »gemeinsame Sicherheit« untragbarem Risiko« spricht. gebe: »Das Sicherheitsbedürfnis des Gegenüber ist zu einem Die bei Baudissin immer schon beobachtete eher auf politische wesentlichen Element der eigenen Sicherheit geworden.«74 Praxis ausgerichtete Sichtweise wird auch hier wieder deutlich. Dies schließt an die Forderung nach moralisch-praktischer Das schon 1950 formulierte »Schwert als Damm« nimmt er Souveränitätsbegrenzung an: »Der Entspannungsprozess ver- als politische Strategie der Abschreckung im Rahmen von langt darüber hinaus, Instabilitäten der anderen Seite ernstzu- Sicherheitspolitik auf. Zum anderen ist er davon überzeugt, nehmen und bei ihrem Abbau zu helfen. ... Wichtig wird die dass Frieden auf Erden machbar ist, wenn auch nur in klei- Bereitschaft, Interdependenzen einzugehen, also Einbußen an nen Schritten, sprich: durch gewaltfreie Zwischenregelungen. klassischer Souveränität hinzunehmen.« Daraus entwickelt er seine Überlegungen zur »präventiven Als zweites eine menschliche Qualität der Handelnden, die Kooperativen Rüstungssteuerung« – so der von ihm anstelle sich für Baudissin aus dem Verständnis von Konfl ikt – generell von arms control eingeführte Begriff – als die ergänzende Stra- wie auch politisch – ergibt: »Frieden scheint mir primär Kon- tegie der Sicherheitspolitik. Deren Einzelaspekte wie einseitige fl iktfähigkeit zu fordern. Diese verlangt zunächst einmal die Schritte, relative Stabilität oder belastbare Gesamtstabilität er- Anerkennung der bitteren Tatsache, dass Konfl ikte Phänomene innern ebenfalls wieder an Brunners Forderung nach »mora- menschlicher Existenz sind und auf allen Ebenen unseres Da- lisch-praktischer Souveränitätsbegrenzung«. seins auftreten. ... Wer eine friedliche Regelung der Konfl ikte anstrebt, sollte zumindest vor sich selbst die Bedingtheit auch der eigenen Position zugeben und der Gegenseite mit Empa- thie und Verständnis begegnen, ihr also mit christlicher Näch- 7. Schluss stenliebe und Verständnis gegenüberstehen.« Die Antwort auf die generelle Ausgangsfrage nach der Bedeu- Und schließlich – unter Hinweis auf einen transzendentalen tung von Baudissins gedanklichen Auseinandersetzungen mit Bezug – die zusätzliche Forderung an den Handelnden nach der »Schicksalsfrage« aus seiner Zeit in der Gefangenschaft für Realitätssinn wie Selbstbeschränkung: »Gottvertrauen sollte seine späteren Arbeiten zur Inneren Führung und Friedens- optimistisch stimmen, die Nächstenliebe Konfl iktfähigkeit forschung und speziell, wie das Thema Frieden für Baudissins entwickeln helfen und das Wissen von der Bedingtheit allen weiteres Denken und Handeln die hervorragende und bestim- menschlichen Tuns sie vor idealistischen, sprich ideologischen mende Kategorie geworden ist, lautet zum einen allgemein: Die Wunschträumen bewahren.«75 Arbeit an seiner Denkschrift »Ost oder West« ist der geistige Der Forschungsschwerpunkt Frieden führt Baudissin augen- Wendepunkt zur Neuorientierung in seinem Lebenswerk in scheinlich wieder näher an Gedankengänge, die er bei Brun- Gesellschaft und Politik, für Strategie sowie für die Streitkräfte ner kennen gelernt hatte. Dies wird bereits deutlich an der und Soldaten der Bundeswehr. Und zum anderen konkret zum Betonung einer freiwilligen Beschränkung der klassischen Thema Frieden: Baudissin hat in Brunners »Gerechtigkeit« den Staaten-Souveränität sowie des individuellen Vertrauens z. B. entscheidenden Anstoß erfahren, das Thema Frieden insge- als Toleranz, Offenheit, Verständnis oder Empathie, als auch samt für sich neu und als revolutionär zu entdecken. Brun- des politisch-gesellschaftlichen Vertrauens z. B. als »Vertrau- ners Gedanken über Frieden sind der generelle Denkanstoß zu enbildende Maßnahmen« oder dem Bewusstsein, aufeinander Baudissins Friedensorientierung, die Initialzündung zu seiner angewiesen zu sein. Auffällig ist auch die Benutzung der Be- Beschäftigung mit dem Thema Frieden; denn bis zur Lektüre griffe Störenfried und Entspannungswille. Besonders springt von »Gerechtigkeit« war Baudissins Suche nach Neuorientie- die Nähe zu Brunner ins Auge bei der Betonung von Liebe und rung für die Zeit nach dem geistig-sittlichen Zusammenbruch Nächstenliebe; diese hat zwar bei Brunner keinen direkten Be- inhaltlich ohne die Frage nach Frieden ausgekommen. Von zug zu seinen Ausführungen über Frieden; das von ihm in nun an bis an sein Lebensende ist Frieden für Baudissin die bestimmende normative und sachliche Denkkategorie, sie ist 71 Baudissin 72,27. 72 Dass.; vrgl. a. Baudissin 79,5. für ihn gesellschaftlich-politisch ohne Alternative und eine 73 Baudissin 1990, S. 32ff. individuelle Herausforderung an jedermann. Frieden ist der 74 Baudissin 72,9. 75 S.a. Baudissin 68,8. Ernstfall des Lebens.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 207 THEMENSCHWERPUNKT | von Rosen, Grundlagen für das Thema Frieden in Baudissins Werk

Dabei ist zu sagen: Baudissin hat Brunner nach 1947 nie wie- hat er im weiteren Verlauf seiner Arbeit einerseits sozialpsy- der in seinen Reden und Schriften zitiert oder namentlich er- chologisch praktische politische Maßnahmen wie Vertrauen wähnt, so dass Verbindungen zwischen Baudissins Aussagen bei Vertrauensbildenden Maßnahmen oder Kooperieren bei über Frieden und denen von Brunner nicht eindeutig zu be- Kooperativer Rüstungssteuerung entwickelt und andererseits legen sind. Das Buch »Gerechtigkeit« hat für Baudissins wei- individuell Nächstenliebe und Liebe als letzte tiefe Handlungs- teres Wirken und seine konkreten Arbeiten auch im Detail normen aus christlich-ethischer Sicht für jedermann – auch in aber grundlegende Bedeutung erlangt. Es hat ihm – je nach der Politik – aufgestellt. Nicht zuletzt sieht er wie Brunner für Verwertungsinteresse fortentwickelt und ausgearbeitet – ein politische Bildung eine große Aufgabe zur Entwicklung von umfangreiches Angebot von neuen Gedanken für viele seiner Friedensfähigkeit der Akteure. späteren detaillierten Überlegungen zu einem friedlichen Um- Was bedeuten diese Ergebnisse nun für uns heute über das gang der Völker miteinander abgegeben. Bereits 1947 fi nden rein historische Interesse der Wirkungsmacht von Brunners wir in Baudissins mehr praktisch orientierten Gedanken zu Gedanken auf Baudissins Werk hinaus? Sie beinhalten eine Frieden viele Einzelüberlegungen von Brunner. War Frieden Botschaft, die heute wieder wie damals 1943–1947 aktuell für ihn dann im Rahmen seiner Arbeiten in Bundeswehr und – vielleicht sogar noch aktueller – ist und von daher bei der NATO jedoch mehr ein letzter normativer und ethischer Be- derzeitigen Neuorientierung von Politik und Reform der Streit- zugspunkt für Handeln in Politik sowie mit und von Streitkräf- ten, so kennzeichnen ein sachlich-rationales Herangehen an kräfte aufzunehmen ist: den Gegenstand Frieden und dessen differenzierte Behandlung • Frieden aus christlich-ethischer Sicht ist der normative Ori- – soweit Brunner ähnlich – die Ausführungen des Friedensfor- entierungspunkt für Handeln und Erwarten in Gesellschaft schers Baudissin. Dabei führt ihn das Grundverständnis von und Politik, für Strategie sowie für die Streitkräfte und Sol- Paradoxa, Gegensätzen und Konfl ikt mit der Suche nach und daten der Bundeswehr. Betonung von Gemeinsamkeiten »um des Besseren willen« • Frieden ist nicht nur eine reale Utopie, sondern der Ernstfall zu einem neuartigen, einem sozialen Verständnis von Frieden und machbar. und Krieg als höchst dynamisches Verhältnis, wie wir es bei Brunner nicht erkennen können. Ansätze dazu, die in dessen • Die Verknüpfung von individuellen und politisch-sozialpsy- Gedanken über Friedenswille und moralisch-praktische Sou- chologischen Aspekten bietet praktische Handlungsmöglich- veränitätsbegrenzung zu fi nden sind, mag Baudissin bei sei- keiten im Rahmen einer friedensorientierten Sicherheitspoli- ner eklektischen Aufbereitung von Brunners »Gerechtigkeit« tik mit entsprechender politisch-militärischer Strategie sowie empfunden und dann weiter ausgearbeitet haben. Ebenso in Führungsstrukturen und -prozessen der Streitkräfte. wird Baudissin bei der Lektüre von Brunners »Gerechtigkeit« • Das christlich-soziale Verständnis von Konfl ikt bietet prak- dessen deutlich getrennte Betrachtungen nach allgemeinen tische Möglichkeiten zur Behandlung nicht nur von indivi- politischen sowie nach individuellen Aspekten aufgenommen duell-zwischenmenschlichen Konfl ikten in überschaubaren haben. Er hat diese dann aber bereits in seinen Vorträgen um Gruppen und Organisationen, sondern auch von gesell- 1950 – über Brunner hinausgehend – auf die Behandlung von schaftlich-politischen im zwischengesellschaftlichen bzw. Frieden übertragen und betont miteinander verknüpft. Daraus zwischenstaatlichen Rahmen.

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Schriften des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes – Rechtswissenschaft 63 Spionage

Satish Sule Spionage Völkerrechtliche, nationalrechtliche und europarechtliche Bewertung staatlicher Spionagehandlungen unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsspionage Völkerrechtliche, nationalrechtliche und europarechtliche Bewertung staatlicher Spionagehandlungen unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsspionage Von Dr. Satish Sule, LL.M. Eur. 2006, 430 S., brosch., 78,– €, ISBN 3-8329-1756-X (Schriften des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes – Rechtswissenschaft, Bd. 63)

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208 | S+F (23. Jg.) 4/2005 Brzoska, Gezielte Sanktionen als Mittel der Konflikteinhegung in Afrika | BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK UND FRIEDENSFORSCHUNG

BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK UND FRIEDENSFORSCHUNG

Gezielte Sanktionen als Mittel der Konfl ikteinhegung in Afrika – Erfahrungen und Aussichten Michael Brzoska*

Abstract: Sanctions have been frequently used as an instrument to end, or at least reduce the intensity of confl icts in Africa. Several of these have been stand-alone arms embargos. Most of the more recent sanctions, however, combine arms embargoes with other measures from the menu of »smart sanctions« such as travel restrictions and fi nancial sanctions. Another noticeable trend in the recent past has been the use of asymmetrical sanctions by the United Nations – sanctions against one of the parties in a confl ict. Not all confl icts in Subsaharan Africa have triggered sanctions. No sanctions are, for example, noted for some cases that have not been in the spotlight of international attention. In other cases, strong international partners prevented countries from being sanctioned, at least over some time. The assessment of the effectiveness depends highly on the yardstick of effec- tiveness. Some effects on sanctions on the targeted goods, particularly arms, can be noted in nine out of 13 sanction episodes, however, there is only one case, Angola, were the political goal seems to have been reached through sanctions.

Keywords: Afrika, Sanktionen, Konfl ikte, internationale Beziehungen

1. Einführung schaft sind Sanktionen, die Unterbrechung von Beziehungen mit einem Gegenüber, dessen Verhalten verändert werden 1 n keinem Kontinent der Welt war in den 1990er Jahren soll. die Inzidenz der Kriege – ihre Zahl gemessen an der Zahl Ider Staaten – so hoch wie in Afrika. Während für die Welt Sanktionen rufen ein seltsam zwiespältiges Echo in der po- insgesamt die Zahl der Kriege seit der Mitte der 1990er Jahre litischen und akademischen Diskussion hervor. Zum einen abnimmt, ist sie in Afrika bis in das 21. Jahrhundert hinein werden sie als sehr schwaches Instrument zur Beeinfl ussung angestiegen2. des Verhaltens von »Zielen« angesehen, insbesondere in Kriegsregionen in Afrika. Die Kritik zielt dabei auf die »naive« Schlimmer noch: Die Prognosen für die Zukunft Afrikas sind Theorie der Sanktionen, bei der ohne viel Evidenz davon aus- düster. Macht man etwa die Arbeiten der Forschungsgruppe gegangen wird, dass die Unterbrechung von Beziehungen Ent- um Paul Collier zu den Ursachen von Kriegen zur Grundlage scheidungsträger dahingehend beeinfl usst, ihr inkriminiertes einer Schätzung der Inzidenz von Kriegen in der Zukunft, so Verhalten zu ändern5. Zum zweiten wird auf die Schwierig- ist damit zu rechnen, dass auch in Zukunft Afrika der Konti- keiten der Umsetzung solcher Maßnahmen in Afrika mit sei- nent mit den meisten Kriegen sein wird. Wesentliche Faktoren nen porösen Grenzen und vielen korrupten Offi ziellen hinge- nach Collier und anderen sind niedriges Pro-Kopf-Einkom- wiesen6. Gleichzeitig wird bei aktuellen Krisen schnell nach men, geringes oder gar negatives wirtschaftliches Wachstum, Sanktionen gerufen, jüngstes Beispiel seit Sommer 2004 ist die hohe Abhängigkeit vom Export von Rohstoffen und die Do- minanz einer ethnischen Gruppe über eine oder mehrere Min- Krise in Darfur im Sudan. Nicht zuletzt deutsche Regierungs- derheiten3. In Untersuchungen anderer Autoren werden zum vertreter, wie etwa Bundesministerin Heidemarie Wieczorek- Teil andere Faktoren in den Vordergrund gestellt, wie fehlende Zeul, machten sich zu Fürsprechern von gezielten Sanktionen oder marode politische Institutionen, schwache Staaten oder gegen die Regierung in Khartum. regionales Weitertragen von Konfl ikten, aber immer wieder Es gibt mehrere Gründe für die sehr unterschiedliche Einschät- 4 sind die Prognosen für Afrika besonders negativ . zung von Sanktionen. Ein wichtiger Grund ist der Mangel an Internationale Akteure haben ein breites Spektrum an Maß- fundierten Untersuchungen der Effekte von Sanktionen. Ein nahmen zur Verminderung der Zahl der Kriege und ihrer Wir- weiterer, damit zusammenhängender Grund sind die sehr kungen diskutiert, durchgeführt und analysiert, von der Rolle unterschiedlichen Erwartungen und Maßstäbe, die an Sankti- der Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu militärischen onen angelegt werden. Schließlich sind Sanktionen, als eine Interventionen. Ein Instrument der internationalen Gemein- von verschiedenen Maßnahmen die von außen zur Einhegung von Kriegen ergriffen werden können, auch immer Gegen- * Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicher- stand politischer Auseinandersetzungen. heitspolitik an der Universität Hamburg. Er dankt Marc von Boemcken für die Assistenz bei der Erstellung der Daten. 2 Mikael Eriksson und Peter Wallensteen, Armed Confl ict, 1989 – 2003, Journal 5 Johan Galtung, On the Effects of International Economic Sanctions: With of Peace Research, 41 (5), 2004. Examples from the Case of Rhodesia, World Politics, 19 (3), S. 26 – 48; David 3 Paul Collier, Lani Elliott, Håvard Hegre, Anke Hoeffl er, Marta Reynal-Querol Lektzian, Making Sanctions Smarter, Norwegian Committee for the Red and Nicholas Sambanis, Breaking the Confl ict Trap, Oxford, 2003. Cross, Oslo, 2003. 4 Macartan Humphreys, Economics and Violent Confl ict, Confl ict Prevention 6 Andrew W. Knight, The United Nations and Arms Embargo Verifi cation, Initiative, Harvard University, 2003. Lewiston, 1998.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 209 BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK | Brzoska, Gezielte Sanktionen als Mittel der Konflikteinhegung in Afrika UND FRIEDENSFORSCHUNG

Tabelle 1: Internationale Sanktionen in Afrika seit 1990

Quelle: Archiv BICC Aktive Sanktionsregime, Stand Oktober 2005

* UN-Sanktionen sind automatisch auch Sanktionen einzelner Staaten bzw. Staatengruppen.

In diesem Text soll der Beitrag von internationalen Sankti- 2. Sanktionen gegen Kriegsbeteiligte onen zur Kriegseinhegung in Afrika untersucht werden. Dabei wird folgenden Fragen nachgegangen: Insgesamt sind in Afrika seit 1990 gegen »Ziele« in 13 Staaten • In welchen Fällen sind Sanktionen verhängt worden, in wel- internationale Sanktionen verhängt worden, mit den Ausnah- chen nicht? men Libyen und Togo7 alles Kriegsbeteiligte8 (siehe Tabelle 1). • Welche Effekte hatten die Sanktionen in den Fällen, in de- nen sie verhängt wurden? 7 Die Sanktionen gegen Libyen waren Reaktionen auf terroristische Anschläge, deren Urheberschaft Libyen angelastet wurde. Die Sanktionen von ECOWAS • Welche Lehren lassen sich aus der Analyse der Sanktionen und AU gegen Togo wurden im Februar 2005 auf Grund der nichtverfas- sungsgemäßen Machtübernahme nach dem Tod von Gnassigne Eyadema der Vergangenheit für die Verbesserung von Sanktionsregi- durch seinen Sohn Faure verhängt und nach der Ankündigung (ECOWAS) men ziehen? bzw. Durchführung (OAU) von Wahlen wieder aufgehoben. Damit setzten die beiden Organisationen ihre Ankündigungen durch, auf nichtdemokra- Mit dieser Untersuchung soll ein Beitrag zur Beantwortung der tische Machtwechsel mit Sanktionen zu reagieren. Schon wenige Monate später, im August 2005, blieb allerdings eine entsprechende Reaktion auf Frage geleistet werden, welche Rolle gezielte Sanktionen bei den Militärputsch in Mauretanien aus. der Einhegung von kriegerischen Konfl ikten in der Zukunft 8 Im Falle des Sudans wurden die Sanktionen der Vereinten Nationen im Jahre 1996 wegen eines terroristischen Anschlages in Ägypten verhängt, nicht spielen können. wegen der Kriegsbeteiligung der Regierung in Khartum.

210 | S+F (23. Jg.) 4/2005 Brzoska, Gezielte Sanktionen als Mittel der Konflikteinhegung in Afrika | BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK UND FRIEDENSFORSCHUNG

Die Zahl der »Sanktionsregime«, die sich auf Grund des 3. Kriege ohne Sanktionen Sanktionstyps, der Zielsetzungen und »Ziele« unterscheiden Sanktionen sind nicht in allen Fällen kriegerischer Auseinan- lassen, ist deutlich höher, da in einigen Fällen die »Ziele« mit dersetzungen11 verhängt worden (siehe Tabelle 2). Keine Sank- der Übernahme (Sierra Leone) bzw. dem Verlust (Ruanda) der tionen wurden während der Kriege in Uganda, Mozambik, politischen Macht wechselten und in einer Reihe von Fällen Kongo-Brazzaville, Senegal/Casamance und Guinea-Bissau die Sanktionstypen geändert wurden (in der Regel Ausweitung verhängt. In anderen Fällen gab es Sanktionen von regionalen der Sanktionen). Staatengruppen, nicht aber von den Vereinten Nationen, wie Auffällig ist zunächst die hohe Zahl der Waffenembargos. In etwa durch die Nachbarstaaten im Fall von Burundi. Schließ- jedem der in Tabelle 1 aufgeführten Fälle von Sanktionen war lich wurden Sanktionen der Vereinten Nationen häufi g relativ ein Waffenembargo ein Teil der von internationalen Organi- lange nach Kriegsbeginn ausgesprochen, während andere Ak- sationen beschlossenen Maßnahmen (in Burundi als Teil des teure sehr viel früher Sanktionen verhängt hatten, so in den Handelsembargos der Nachbarstaaten). In fünf der Fälle blieb Fällen Angola, Äthiopien/Eritrea, Sudan und DR Kongo. es beim Waffenembargo, ebenfalls in fünf Fällen (Liberia, Si- Zwei Gründe scheinen vor allem für das Fehlen, oder die späte erra Leone, UNITA in Angola, Côte d’Ivoire, Sudan) wurde das Verhängung, von internationalen Sanktionen relevant gewe- Embargo schrittweise auf weitere Bereiche ausgeweitet. Ein sen zu sein: umfassendes Wirtschaftsembargo gab es nur in einem Fall • Geringe internationale Wahrnehmung der Kriege. Die Auseinan- (Burundi) und dann auch nur durch Nachbarstaaten, wenn dersetzungen in Kongo-Brazzaville, Guinea-Bissao, Senegal/ auch mit Duldung durch die Organisation für Afrikanische Casamance und auch der Konfl ikt im Norden Ugandas haben Einheit (OAU). nie besonders große internationale Aufmerksamkeit gefun- den. Dies lässt sich zum einen damit erklären, dass die Zahl Eine Reihe der von den Vereinten Nationen verhängten Em- der Opfer im Vergleich zu anderen Auseinandersetzungen, bargos richteten sich nicht gegen alle Kriegsparteien, sondern etwa in der Demokratischen Republik Kongo, deutlich ge- waren »asymmetrisch«. Hierzu gehören neben den Sanktionen ringer war (wobei der Krieg im Norden Ugandas durch seine gegen die UNITA in Angola auch diejenigen gegen bewaffnete lange Dauer inzwischen auch zu den blutigeren Konfl ikten Gruppen im Nordosten des Kongo, gegen RUF/AFRC in Sierra in Afrika zu zählen ist). Zum anderen war der »CNN-Faktor« Leone, gegen bewaffnete Hutu-Gruppen aus Ruanda und die nicht im Spiel, keiner der Kriege war Gegenstand einer aus- im Juli 2004 beschlossenen Sanktionen gegen die Janjawid im gedehnten Medienberichterstattung, insbesondere nicht in Sudan sowie im Kongo. Die Sanktionen gegen Äthiopien/Eri- den »globalen Medien« wie den großen Fernsehsendern oder trea – die einzigen im Falle eines zwischenstaatlichen Krieges – der internationalen Presse12. Auch in einer Reihe von Fällen, und die gegen Liberia, Somalia, Ruanda, Côte d’Ivoire, und, ab in denen Sanktionen spät im Verlauf eines Krieges verhängt März 2005, Sudan9, richteten sich gegen alle Kriegsbeteiligten. wurden, wie in Somalia, Liberia oder Ruanda, scheint erst Alle eigenständigen, nicht auf VN-Beschlüssen beruhenden wachsende internationale Aufmerksamkeit notwendig ge- Sanktionen der Europäischen Union und afrikanischer Staa- wesen zu sein, bevor es zu Beschlüssen kam. tengruppen gegen Kriegsbeteiligte waren symmetrisch. • Politik von »Schutzmächten« der Kriegsparteien. Während des Kalten Krieges verhinderten Schutzmächte fast ausnahms- Die Betrachtung nur der im Oktober 2005 aktiven Sanktions- los die Verhängung von Sanktionen. Der Krieg in Mozam- regime macht die Bedeutung asymmetrischer Sanktionsregime bique, dessen Wurzeln in die Zeit des Kalten Krieges hinein- in der Praxis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen deut- reichen, ist ein Beispiel hierfür auch noch in den frühen lich (Tabelle 1). Aktiv waren die Sanktionen gegen bewaff- 1990er Jahren. Aber auch nach dem Ende des Kalten Krieges nete Gruppen im Kongo, aus Ruanda, in Sierra Leone und war Widerstand einzelner Staaten, insbesondere solcher mit im Sudan, sowie gegen alle Akteure in Liberia, Somalia, Côte Vetomacht im VN-Sicherheitsrat für die Verhinderung von d’Ivoire und im Sudan. Drei asymmetrischen Sanktionen stan- Sanktionen ursächlich. So verhinderte Russland eine frühere den vier symmetrische gegenüber. Dies belegt den Eindruck, Verhängung von Sanktionen gegen Äthiopien/Eritrea. Im dass die Mitglieder des VN-Sicherheitsrats zunehmend bereit Fall Sudan waren China und Russland lange gegen Sankti- waren, kollektiv in einem Krieg Partei zu ergreifen und mit der onen, bevor sie dann im Juli 2004 sehr schwachen Sankti- Verhängung von Sanktionen auch die Vereinten Nationen mit onen zustimmten, die im April 2005, nach einem kritischen dieser Parteinahme zu identifi zieren. Allerdings gab es weiter- Bericht des VN-Generalsekretärs über die Lage in Darfur, ver- hin Fälle, bei denen die Einhegung eines Krieges durch Druck schärft wurden. auf alle Kriegsparteien im Vordergrund stand.10 Im Sudan wur- • Wahrnehmung der Rolle von Sanktionen in der internationalen de ein zunächst asymmetrisches Embargo im März 2005 auf Politik. Die eingangs geschilderte oft sehr widersprüchliche alle Kriegsbeteiligten ausgedehnt. Einschätzung von Sanktionen, insbesondere von Waffenem- bargos, spiegelt sich sehr deutlich in der internationalen 9 1995 wurden die Beschränkungen gegenüber der neuen, Tutsi-dominierten Regierung aufgehoben, aber gegenüber Hutu-Rebellen – ohne territoriale Abgrenzung – aufrechterhalten. 11 Für die Tabelle 2 wurde die Kriegsliste von Uppsala/PRIO benutzt, die im Ver- 10 Ein Faktor, der Einfl uss auf das Fehlen asymmetrischer Sanktionen in der gleich zu anderen derartigen Listen relativ hohe Hürden für die Aufnahme Sanktionspraxis der EU hat, ist die Ablehnung von Waffenlieferungen an einer bewaffneten Auseinandersetzung setzt, Ericsson und Wallensteen, a.a.O. andere Abnehmer als Regierungen durch die Mitgliedstaaten der EU. Auf 12 Der Konfl ikt in Nord-Uganda ist eine partielle Ausnahme, wobei die Be- Grund dieser in allen Mitgliedstaaten verankerten Rechtslage sind Waf- richterstattung vor allem über Zwangsrekrutierung von Kindern seit 2004 fenembargos der EU gegen nichtstaatliche Akteure überfl üssig. deutlich zunahm.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 211 BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK | Brzoska, Gezielte Sanktionen als Mittel der Konflikteinhegung in Afrika UND FRIEDENSFORSCHUNG

Tabelle 2: Kriege in Afrika südlich der Sahara, internationale Sanktionen und internationale Peacekeeping-Truppen seit 1990

Quelle: Uppsala/PRIO Datensatz zu Kriegen, Archiv BICC

* Militärische Auseinandersetzung mit mind. 25 Toten in Kampfhandlungen in einem Jahr und Tausend Toten während des gesamten Krieges.

Sanktionspraxis. Multilaterale Waffenembargos wurden 4. Die Wirkung von Sanktionen gelegentlich dann verhängt, wenn die internationale Staa- In der Beurteilung der Sinnhaftigkeit von Sanktionen steht tengemeinschaft Aktivität zeigen wollte, zu größerem poli- die Frage nach deren Effektivität oft im Vordergrund, ohne tischen und/oder fi nanziellen Engagement aber nicht bereit dass allerdings immer klar ist, was damit gemeint ist, und wie war. Beispiele hierfür sind die Embargos gegen die UNITA in sie gemessen werden soll. Effektivität, allgemein defi niert als Angola und gegen Ruanda bzw. Huturebellen aus Ruanda Grad der Zielerreichung, erfordert die Bestimmung der Ziele sowie das Embargo gegenüber Äthiopien und Eritrea. Das von Sanktionen. Embargo gegenüber Somalia wurde auch nach Abzug aller Grob lassen sich zwei Arten von Zielen von Sanktionen un- VN-Truppen aufrechterhalten. Andererseits wurden in ei- terscheiden. Die erste Art von Zielen betrifft die Umsetzung nigen Fällen, in denen internationale Truppen stationiert der Sanktionen. Hier geht es darum, inwieweit die Sanktions- wurden, keine Waffenembargos verhängt. Dies war z. B. in beschlüsse internationaler Organisationen befolgt werden der DR Kongo der Fall. Auch in Burundi gibt es seit 2003 und ob es Schlupfl öcher und Ausweichmöglichkeiten für die Peacekeeping ohne Waffenembargo. Sanktionierten gibt (Sanktionsziel). Die zweite Art von Zielen

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Tabelle 3: Effektivität von internationalen Sanktionen in Afrika seit 1990

betrifft die Änderung des inkriminierten Verhaltens, Fragen Fällen (Burundi, Côte d’Ivoire, Liberia, Sierra Leone und nach dem Umfang der Änderung des Verhaltens und des Ein- Südafrika) wurden auch die Politikziele zumindest teilwei- fl usses der Sanktionen darauf (Politikziel). se erreicht, wobei nicht klar ist, ob Sanktionen dabei eine wichtige Rolle spielten. Die Wirkungen der Sanktionen in Afrika sind in Tabelle 3 be- schrieben. Daraus geht hervor: • In vier Fällen wurden die Sanktionsziele nicht erreicht (Kon- go, Ruanda, Somalia, Sudan). • In vier Fällen wurden Sanktionsziele weitgehend erreicht. • In den meisten Fällen, in denen Sanktionsziele und Poli- Allerdings hatte dies nur in einem Fall auch merkliche Aus- tikziele erreicht wurden, wurden mehrere Sanktionstypen wirkungen auf die Politikziele (Angola), in drei Fällen war miteinander kombiniert (Liberia, Sierra Leone, Côte d’Ivoire) dies nicht der Fall (Äthiopien, Eritrea, Togo). bzw. umfassende Sanktionen umgesetzt (Burundi). In den • In fünf Fällen wurden die Sanktionsziele teilweise erreicht. Fällen, in denen weder bei Sanktions- noch bei Politikzielen Die Mengen an importierten Waffen gingen deutlich zurück, Erfolge zu verzeichnen sind, handelt es sich in der Regel um die Preise für Waffenimporte stiegen merklich. In diesen fünf allein stehende Waffenembargos.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 213 BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK | Brzoska, Gezielte Sanktionen als Mittel der Konflikteinhegung in Afrika UND FRIEDENSFORSCHUNG

Tabelle 4: Bewaffnete nicht-staatliche Gruppen in der ECOWAS-Region und ihre Bezugsquellen für Waffen

Quelle: Nicolas Florquin und Eric G. Berman (Hrsg.), Armed and Aimless: Armed Groups, Guns, and Human Security in the ECOWAS Region, Genf, 2005, Part II.

• Der Nachschub an schweren Waffen konnte vermindert wer- • Ein Grund für diesen tendenziell zunehmenden Erfolg von den (Südafrika, Äthiopien/Eritrea), während der Nachschub Waffenembargos ist die Entwicklung von »intelligenten an kleinen und leichten Waffen sowie Munition kaum ver- Sanktionen« in zumindest einigen Fällen, wie Angola, Sierra mindert werden konnte. Leone und Liberia. Die Ende der 1990er Jahre bei den Ver- einten Nationen initiierte Sanktionsreform hat zumindest in einigen Fällen zu einem differenzierteren Umgang mit 5. Lehren aus der Sanktionspraxis in Afrika diesem Instrument internationaler Politik geführt, der auch Internationale Sanktionspolitik und -praxis der letzten Jahr- einige Erfolge gezeitigt hat. zehnte weisen kein einheitliches Muster auf. Weitgehend wir- • Ein wesentliches Element der Sanktionsreform ist die Suche kungslosen Waffenembargos stehen Fälle gegenüber, in denen nach und Kombination von Sanktionen, von denen erwar- Sanktionen Auswirkungen in die gewünschte Richtung gehabt tet wird, dass sie den Sanktionierten gezielt treffen, Unbe- haben. Einige Trends lassen sich erkennen: teiligte hingegen weitgehend schonen13. Insbesondere Fi- • Waffenembargos sind im Laufe der 1990er Jahre in Bezug nanzsanktionen und selektive Beschränkungen des Exports auf das Sanktionsziel effektiver geworden. Das heißt weder, haben sich als wirkungsvolle Elemente umfassender gezielter dass der Erfolg durchschlagend war, noch dass dadurch auch Sanktionspakete erwiesen. Reisebeschränkungen und Im- die Politikziele erreicht wurden. Dennoch zeigen die Daten im Untersuchungszeitraum eine leicht ansteigende Zahl von 13 David Cortright und George Lopez, Smart Sanctions. Targeting Economic State- craft, Lanham, 2002; Michael Brzoska, From dumb to smart? Recent sanc- Fällen, in denen Waffenembargos Wirkungen hatten. tions reform at the United Nations, Global Governance, 9 (4), 2003.

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portsanktionen für Öl trugen in einigen Fällen ebenfalls zur der sanktionierten Staaten und Gruppen, über deren Territo- Wirkung von Sanktionspaketen bei. rien die Waffen und andere sanktionierte Güter fl ießen, sie • Die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht ernsthafter und mit größerem Einsatz von Kontrollin- haben sich mit Sanktionen relativ häufi g auf die Seite einer strumenten implementieren. Auch im besten Fall allerdings Kriegspartei geschlagen (asymmetrische Sanktionen). Durch können Waffenembargos nur einen Beitrag zur Verhinderung solche Parteinahme stieg die Wahrscheinlichkeit des Erfolges und Eingrenzung von Konfl ikten leisten, isoliert sind sie dazu von Sanktionen. in aller Regel nicht geeignet. Waffenembargos sind sinnvoll, • Ein anderes Element, das zu einer tendenziell zunehmenden wenn sie in umfassende politische Strategien des Konfl ikt- Wirksamkeit von Waffenembargos beitrug, sind die inter- managements eingebettet sind. Umgekehrt sind Ansätze des nationalen Bemühungen um die Kontrolle von Klein- und Krisenmanagements problematisch, wenn sie nicht von Waf- 14 Leichtwaffen . Der Grad der Verfügbarkeit von Waffen in fenembargos begleitet werden. Afrika ist weiterhin hoch. Allerdings hat sich der Charak- ter des Nachschubs von Waffen und Munition in Krisen- In den letzten Jahren haben sich, nicht zuletzt auch wegen der und Kriegsregionen in den letzten Jahren stark verändert. verstärkten Diskussion über die Umsetzung von Waffenembar- Während in den 1990er Jahren die Waffen vornehmlich gos, die Exportpolitiken einer Reihe von früher besonders prob- aus Osteuropa kamen und von privaten Waffenhändlern lematischen Exporteurstaaten verbessert. Beispiele dafür sind vermittelt wurden, die auch den Transport in die Krisen- vor allem ost- und südosteuropäische Länder, die seit 2004 und Kriegsgebiete Afrikas in der Hand hatten, fl ießen diese Mitglieder der Europäischen Union sind oder die diese Mit- Quellen zunehmend spärlicher. Länder wie Bulgarien und, gliedschaft anstreben. Obwohl weiterhin Lücken in der Kon- mit Abstrichen, auch Serbien und die Ukraine, haben ihre trolle von Exporteuren bestehen, etwa in der Ukraine oder in Waffenexportkontrollen verbessert. Die bekanntesten Waf- Moldawien, kommt die überwiegende Menge des Nachschubs fenhändler, wie Victor Bout und Alexander Minin, haben an Waffen und Munition in afrikanischen Kriegen gegenwär- ihre Geschäftstätigkeit auf andere Felder verlagert. tig vermutlich aus Nachbarstaaten. • Der Nachschub von Waffen und Munition ist in Afrika wie- Für eine weitere Verbesserung von Sanktionspolitik und -pra- der stärker »verstaatlicht« worden. Rebellen werden in Afrika xis in Afrika scheint deshalb ein verstärktes Engagement von gegenwärtig vor allem von Regierungen aus Nachbarländern versorgt. Das lässt sich etwa an Hand der wichtigsten Re- Regionalorganisationen besonders hilfreich. Bisher haben Re- bellenbewegungen in Westafrika zeigen (Tabelle 4). gionalorganisationen nur eine untergeordnete Rolle bei der Formulierung und Umsetzung von Sanktionen gehabt. So ha- • Sehr widersprüchlich ist das Verhältnis von Sanktionen, ins- besondere Waffenembargos, und dem Einsatz multilateraler ben inzwischen praktisch alle Regionalorganisationen mehr Truppen. So hatten internationale Missionen in der Ver- oder weniger effektive Kleinwaffenprogramme. Regionalorga- gangenheit kein Mandat, Waffenembargos zu überwachen, nisationen könnten vor allem drei Aufgaben übernehmen: selbst in den Fällen, in denen ein solches Waffenembargo • Die Beratung der Vereinten Nationen bei der Entscheidungs- von den Vereinten Nationen verhängt worden war. Der erste fi ndung über Sanktionen. Immer noch werden Sanktionen Fall, in denen eine VN-Mission ausdrücklich auch mit der ohne gründliche Analyse ihrer wahrscheinlichen Wirkungen Überwachung eines Waffenembargos betraut wurde, ist der verhängt. Die VN selber haben nur begrenzte Möglichkeiten der DR Kongo, danach folgte Côte d’Ivoire. Fast zeitgleich eigenständiger Analyse; vielen Mitgliedstaaten des VN-Si- hat der VN-Sicherheitsrat im Frühjahr 2004 im Fall Burun- cherheitsrates geht es genauso. Selbst die großen Mitglied- di einen internationalen Truppeneinsatz beschlossen, ohne staaten verfügen oft nur über unzureichende Informationen, dass es ein Waffenembargo gibt. Eine bessere Koordination von Sanktionen, insbesondere von Waffenembargos und in- insbesondere wenn ein Konfl ikt neu ins Blickfeld gerät oder ternationalen Truppeneinsätzen, scheint dringend geboten. Großmachtinteressen nicht betroffen sind. • Praktische Unterstützung von Nachbarstaaten eines sanktio- nierten Landes bei der Umsetzung von Sanktionen. Beispiele 6. Ausblick sind die Stellung von Grenzpolizisten und Hilfe bei der Überwachung des Luftraumes. Diese Unterstützung wird, Sanktionen, vornehmlich Waffenembargos, sind seit den aus fi nanziellen Gründen, ohne die westlichen Staaten kaum 1990er Jahren häufi g als Instrument zur Einhegung von Kon- möglich sein, könnte aber regional organisiert werden. Ein fl ikten in Afrika eingesetzt worden, trotz einer insgesamt we- Beispiel aus Europa für derartige Hilfe bei der Umsetzung nig überzeugenden Erfolgsbilanz. Obwohl eine Reihe von Re- von Sanktionen ist die Sanctions Assistance Mission (SAM) formmaßnahmen, insbesondere bei den VN selber, eingeleitet der Westeuropäischen Union während des Krieges im ehe- worden sind, bleiben wesentliche Mängel der Umsetzung maligen Jugoslawien15. bestehen. Waffenembargos und andere Sanktionen werden weiter hinter den, oft sehr hohen, Erwartungen hinterherhin- • Ausbildung von Beamten, in Ministerien, bei Zoll und Poli- ken, wenn die wichtigsten Akteure, nämlich die Staaten, aus zei, in Nachbarländern des sanktionierten Landes, zur Ver- denen Waffen geliefert werden, und die regionalen Nachbarn besserung und Vereinheitlichung der Sanktionspraxis.

14 Small Arms Survey, Oxford, 2004. 15 Knight, a.a.O.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 215 FORUM | Hasenkamp, Friedensmodelle in Asien

FORUM

Friedensmodelle in Asien Miao-ling Hasenkamp*

Abstract: As the gravity of world politics moves toward Asia following the rise of China and India as infl uential players, the Asian actors are asked to assert their role in promoting regional and world peace. What kind of Asian-style peace models can be derived from their post-war history? The essay discusses the idea of »peace« in different Asian cultural backgrounds and examines the relevance and problems of fi ve important peace models (the Confucian model with its authoritarian culture, the Japanese model with its modernization, the Indian model in showing democracy and unity in diversity, the Indonesian Muslim democracy model and the economic integration model). The essay concludes that despite the merits of these models, they suffer from serious defi cits. Asia lacks a critical and compre hensive review of its own past not only in the bilateral relations among states (the question of Japan’s war responsibility toward its neighbors during World War II), but also in domestic affairs (the government-made atrocities in China and Indonesia).

Keywords: Konfuzianismus, Einheit in Vielfalt, Indonesischer Islam, wirtschaftliche Integration, Aufarbeitung der Vergangenheit

1. Einleitung tet einen sublimen ontologischen Zustand inniger Ruhe, in dem Körper und Seele durch die moralische und refl exive 1 enn sich die Gewichte in Demographie, interna- Vernunft in Einklang miteinander sind.3 Ähnlich beinhaltet tionaler Politik und Weltwirtschaft dem jetzigen Friede im chinesischen I-Ging das »Buch der Wandlungen« die WTrend folgend weiter gen Asien verschieben, so ist Vereinigung der Kräfte zwischen dem Himmel (Yan) und der auf Dauer ein größerer asiatischer Beitrag zum Frieden unent- Erde (Yin) in inniger Harmonie. Die Ordnung des Himmels, behrlich. Und wegen der wachsenden Bedeutung ihrer Region die ewig gleichbleibende, gibt auch dem Handeln auf Erden werden asiatische Akteure auch die Inhalte dieses »Friedens« seine Maße vor.4 Es ist das Tao, das Gesetz des Seins und der weit stärker selbst prägen. Wirklichkeit, das die Menschen erkennen und im Handeln Was verstehen Chinesen, Japaner, Koreaner, Inder, Indonesier aufnehmen müssen. Das Tao ist ebenso kosmisches wie sittli- etc. unter »Frieden«? Welche Friedenserfahrungen haben die ches Gesetz. Es verbürgt nicht nur die Harmonie von Himmel asiatischen Staaten gemacht? Gibt es hier Barrieren, welche und Erde, sondern auch die Harmonie des politischen und 5 ein Friedenprojekt oder das Bemühen um langfristigen Frie- gesellschaftlichen Lebens. den auf regionaler Ebene beeinträchtigen oder gar verhindern Allerdings verblasst eine solche Zielvorstellung gegenüber der können? Der Aufsatz erklärt zuerst den Begriff »Frieden« in Realität. Chinesische Dichter schilderten das ewige Dilemma verschiedenen asiatischen Kulturkreisen, stellt anschlie ßend zwischen Krieg und Frieden und äußerten ihren Abscheu ge- die wichtigsten Modelle dar (das konfuzianische Modell, das genüber kriegerischer Politik.6 Die japanische Kultur bezieht japanische Modell, das Indien-Modell, das indonesische De- den Begriff des Leidens ein und betrachtet ihn als Heilungs- mokratie-Modell und das wirtschaftliche Integrationsmodell) bzw. Transformationsprozess im Sinne des endgültigen Guten. und diskutiert ihre Relevanz und Problematik. Das Leiden wie Krankheit und Opfer der Gewalt verwandelt sich durch Mitleiden und Besinnung und schenkt dadurch den Betroffenen und der Gesellschaft heilende Kräfte. Für 2. Frieden als Begriff in verschiedenen asia- M. Kasai kann die Perspektive und Erfahrung von der Kultur tischen Kulturkreisen des Friedens nicht vollständig sein ohne den Bezug auf solche Leidens- und Heilungserfahrungen.7 Für viele Asiaten gilt Frieden als eine kosmische und philoso- Aus kultur-geographischer Sicht ist Asien vor allem der Ort, phische Zielvorstellung mit hohem moralischem Anspruch, wo die großen Weltreligionen entstanden, Blütezeiten und in der jeder Mensch durch Prozesse der Refl exion und Lei- Rückschläge erlebten. Wie B. Saraswati andeutet, war Indien dens-Trans for mation die Harmonie mit dem Kosmos, mit der Natur und vor allem mit den Mitmenschen anstreben soll und 3 Über die Zivilisation des Hinduismus siehe Jnanendranath Ray, Eternal Rel- kann.2 Im indischen Sanskrit heißt shanti Frieden und bedeu- evance of Sanatana Dharma: Hinduism and Neo-Hinduism to Mankind, Kolkata, Firma KLM, 2004, xiv, 510 p. 4 Siehe Richard Wilhelm, I-Ging. Das Buch der Wandlungen, München: Die- * Dr. Miao-ling Hasenkamp ist Lehrbeauftragte des Instituts für Politikwissen- derichs, 1998. schaft (IfPol) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 5 Laotse, Tao Te King und Tschuang Tse, Dichtung und Weisheit, gebundene 2 Vgl. Baidyanath Saraswati, »Introduction. Diffusing Glory with Peace,« 1999, Ausgabe, Marixverlag, 2004. Indira Gandhi National Centre for the Arts, New Delhi, . 7 Zitiert in Saraswati, ebd.

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das Land, wo Buddha erklärte, sich von Angst und Leiden be- gierung, nämlich, die Errichtung einer toleranten, gerechten freit zu haben.8 Der Buddhismus sieht die ganze Welt als einen und menschlichen Herrschaft. Für H. Yahya führt die Kombi- Kreislauf des Leidens; das Heil ist nicht im Kosmos, sondern nation der moralischen und sozialen Philosophie dazu, dass es im Heraustreten aus ihm zu suchen. Insofern das Heilsstreben in der Geschichte des Islams eine große Anzahl von gerechten, nicht-weltlich – aufs Nirwana gerichtet – gefasst ist, hat der barmherzigen, demütigen und reifen Herrschern gab.14 Buddhismus keine weltliche politische Vision geschaffen. Dies Asien weist konkurrierende geistliche Traditionen, Weltan- ist vermutlich der Hauptgrund dafür, dass es in der Ge schichte schauungen und Glaubensbekenntnisse auf, für die sich des Buddhismus auch keinen Fall eines buddhistisch begrün- der Positivgehalt von Frieden nur im Rückgriff auf ein je deten Angriffskriegs gab.9 Hinzu kommt die Tatsache, dass der bestimmtes Politik- und Gesellschaftsverständnis festlegen Buddhismus sich, im Unterschied zu den monotheistischen lässt. Frieden wird in diesen Traditionen als kosmisches bzw. Religionen, in keinem Land Asiens als einzige Religion durch- göttliches Ordnungsprinzip, als überhistorischer Ausdruck gesetzt hat, sondern die bestehenden oder sogar neu hinzu- eines leidensfreien (Ideal-) Zustands begriffen. Je nach den kommenden Religionen (Islam, Christentum) tolerierte oder moralisch-ethischen Grundannahmen und Normen des In- gar in sich aufnahm. dividuums sowie gesellschaftlichen Wertvorstellungen wird Das Christentum hat viele Teile Asiens kulturell und poli- der Friedensbegriff unterschiedlich gefasst. Dabei handelt sich tisch beeinfl usst. Die biblische Tradition enthält auch diesen entweder um eine Kombination kosmischer und geschichtli- Grundsatz: Innerer und äußerer Friede sind nur möglich, cher Philosophie von Frieden und Krieg oder um einen dyna- wenn die wesentlichen Rechtsgüter des Menschen und der mischen Transformationsprozess mit dem Ziel der Schaffung Gemeinschaft gesichert sind.10 Nach dem Neuen Testament einer gerechten Ordnung. ist der Christ an die Rechtsordnung des Staates als eine sittli- che Ordnung gebunden, sofern die Staatsorgane Frieden und Recht garan tieren. Zugleich ist eine Begrenzung des Staates 3. Friedenserfahrungen und -modelle in Asien enthalten: Er hat seinen Bereich, den er nicht überschreiten darf. Dieses Prinzip geht zurück auf eine Synthese von kos- Welche Friedenserfahrungen haben die einzelnen asiatischen mischer und geschichtlicher Sicht im Friedensverständ nis des Staaten in ihrer Staatsbildung gemacht und welche Modelle Christentums. Die christliche Lehre sieht die Geschichte nicht haben sich dort herausgebildet? Warum blieben große Staa- einfach kosmisch, sondern interpretiert sie als Dynamik von ten mit enormen sozialen Spannungen und/oder ethnisch- Gut und Böse in fortschrei tender Bewegung, so J. Ratzinger.11 kulturellen Zerklüftungen wie beispielsweise Indien oder Die Dynamisierung der Geschichte verdeut licht die sittlichen Indonesien, trotz der anhaltenden Konfl ikte in Teilgebieten Maßstäbe der Politik und zeigt die Grenzen der politischen (die Kaschmir-Frage in Indien sowie Aceh in Indonesien), von Macht an. Hierfür ist das Leiden Christi von zentraler Bedeu- umfassenden Bürgerkriegen verschont?15 tung. Der gekreuzigte Christus zeigt die Grenze staatlicher Ge- walt an und zeigt, wo seine Rechte enden und der Widerstand im Leiden zur Notwendigkeit wird. 3.1 Das konfuzianische Modell Der Islam als gestaltende Kraft ist auch in Asien wichtig, be- denkt man, dass die bevölkerungsstärksten islamischen Länder Die Lehre des Konfuzianismus strebt danach, eine ethische wie Indonesien, Bangladesch und Pakistan in Südost- bzw. Süd- Sozialordnung zu bilden. Konfuzius suchte »politische Ord- asien liegen.12 Auf der Grundlage der Moral des Korans war nung durch sittliche Ordnung« und »politische Harmonie der Islam von Anfang an eine bewegende Kraft für eine soziale durch moralische Harmonie beim einzelnen Menschen« zu Reform mit dem Ziel, eine ethisch gerechte Gesellschaft zu erreichen. Der humanistische Gedanke, den Menschen am schaffen. Für Muslime gehören Glaube, Wissen, gute Tat und Menschen zu messen, verlangt, das wahre Selbst zu entde- Gerechtigkeit zusammen.13 Verantwortung für sich und ande- cken und mündet bei Konfuzius in die »Goldene Regel« der 16 re wird betont. Im weiteren Sinne bildet die Treue gegenüber Gegenseitigkeit. Doch erst die Verbindung der Selbstverwirk- Allahs Geboten die Grundlage der islamischen Sicht von Re- 14 Vgl. Harun Yahya, »Der Islam hat im Verlauf seiner ganzen Geschichte dem Mittleren Osten Frieden und Harmonie gebracht«, 8 Ebd. unter: . 9 Allerdings gibt es aus dem vergangenen Jahrhundert Beispiele, wo kriege- 15 Allerdings hat sich die politische Lage in beiden Konfl ikten seit dem Früh- rische Handlungen als Akte der Verteidigung der buddhistischen Kultur oder sommer 2005 stark entspannt. Indien betrachtet Kaschmir inzwischen als der Kultur Asiens gerechtfertigt wurden. Vgl. Franz-Johannes Litsch, »Der bilaterales Problem und nicht mehr nur als innere Angelegenheit. Indien Beitrag des Buddhismus zur Überwindung der Gewalt,« Vortrag auf dem und Pakistan sind sich bewusst, dass ein Frieden in Kaschmir entscheidend Seminar der Landeszentrale für Politische Bildung: »Brücken in die Zukunft ist für den Wachstumskurs ihrer Volkswirtschaften und für eine effi ziente Über den Zusammenhang von Religions- und Weltfrieden«, 20.4. 2002, Mag- Armutsbekämpfung ihrer Länder. Nach 29 Jahren Bürgerkrieg haben die deburg. indonesische Regierung und die Rebellen der Bewegung Freies Aceh (GAM) 10 Siehe Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Her- im August in Helsinki ein Friedensabkommen unterzeichnet. Das Friedens- ausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2005, abkommen sieht eine Demilitarisierung der Rebellen und den Abzug in- S. 20. donesischer Truppen aus der Provinz vor. Siehe Christian Wagner, Jenseits 11 Die Dynamisierung der Geschichte schildert besonders das Buch Daniel. von Kaschmir. Chancen einer Annährung zwischen Indien und Pakistan, 12 Klaus H. Schreiner (Hg.), Islam in Asien, Horlemann Verlag, 2001. SWP-Aktuell 46, Okt. 2004; Joachim Hoelzgen, »Der beklemmende Frieden«, 13 Über die Grundlage des Islam, das Konzept »Frieden« im Islam siehe »The Spiegel Online, 9.10.2005; »Friedensabkommen für Aceh unterzeichnet«, in: concept of freedom in Islam«, presented by the Al-Balagh Foundation, un- entwicklungspolitik online, 15.8.2005. ter: ; Harun 16 Diese Regel (Schu) besagt: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füge kei- Yahya, »Der Islam ist nicht die Quelle des Terrorismus, sondern seine Lö- nem andern zu«. Siehe Robert E. Allison, »The Golden Rule as the Core Value sung«, unter: in Confucianism and Christianity: Ethical Similarities and Differences«, in: (12.8.2005). Asian Philosophy, Vol. 2, Nr. 2, 1992, S.173 – 85.

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lichung mit der sittlichen Ordnung oder Zucht führt zur »zent- trauen und soziale Unruhe zwischen verschiedenen sozialen ralen Harmonie«. So ergäbe sich schließlich eine Gleichheit Schichten.23 von Politik und Ethik.17 Dabei betonte Konfuzius vor allem Schließlich ist der Aspekt der Diesseitsorientierung in der die hohe Verantwortung des Herrschers. Mit dieser Ideal- konfuzianischen Kultur zu erwähnen. Konfuzianismus war vorstellung eines ausgewogenen Humanismus lassen sich die weniger eine politische Lehre als eine moralische Lehre der Bedeutung und Problematik eines konfuzianischen Modells in Selbst-Kultivierung24 zum Streben nach dem Wohl der Familie drei Aspekten erfassen. und der Gesellschaft bis zum guten Regieren des Staates und Das Gesellschaftsbild von Konfuzius orientiert sich an einem zur Friedensstiftung unter dem Himmel. Das Zusammenleben hierarchisch gegliederten Gemeinwesen, in dem jeder gemäß in ethischer Verantwortung gegenüber der gruppendefi nierten seiner Stellung eine bestimmte Funktion mit entsprechenden Gesellschaft spielte eine viel größere Rolle als Gottes- und Jen- Verhaltensnormen wahrnimmt. Wie Kinder gegenüber ihren seitsglaube.25 Die konfuzianische Dies seits orien tierung erklärt Eltern, so sind Niedriggestellte gegenüber Höhergestellten zu viel. Einerseits, da es keine Aussicht auf ein Leben nach dem Gehorsam verpfl ichtet. Kindlicher Gehorsam und Loyalität Tod gibt, lebt man nur einmal hier und jetzt. Dies ist ein bilden daher die Grundtugenden. Die Merkmale dieser auto- starker Ansporn, das Beste aus dem eigenen Leben zu machen. ritären Kultur – Fleiß, Disziplin und Unterordnung – werden Andererseits erschwert die Diesseitsorientierung die gemein- als asiatische Werte in die Wertedebatte eingebracht und pro- same Ausrichtung auf ein alle verbindendes Ziel. Die verbrei- pagiert.18 Allerdings steht das autoritäre Erbe der konfuzia- tete Rücksichtslosigkeit des digitalen Kapitalismus26 in China nischen Ordnungs- und Rechtstradition im Widerspruch zu in- sowie die fehlende soziale Solidarität unter den Chinesen sind ternationalen Normen und Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit dadurch zu erklären. und Menschenrechte. Das traditionelle Gesetzesrecht Chinas Die konfuzianische Tradition hat mit ihren autoritären Ele- stand im Dienste der Schaffung eines mächti gen Staates. Recht menten, massiven Investitionen in Bildung sowie Diesseitsori- hatte in China kaum die Funktion des Schutzes individueller entierung eine wichtige Grundlage für die Wirtschaftsdynamik Freiheiten, weshalb ein traditionelles Misstrauen gegenüber der Region geliefert. Dennoch fehlen gerade der konfuziani- institutionalisiertem formalem Recht existiert. Vor allem war schen ethischen Ordnung konstruktive Auseinander setzungen der Gedanke einer Gleichheit vor dem Gesetz im Rahmen der mit Konzepten wie Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, wel- konfuzianischen Soziallehre unvorstellbar, da Menschen als che für die Bekämpfung struktureller Gewalt wie Ausbeutung, Träger ungleicher sozialer Rollen mit ungleichen Rechten und Ungerech ti gkeit und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Pfl ichten verstanden wurden.19 Reich von zentraler Bedeutung sind. Ein weiterer Aspekt des konfuzianischen Modells ist die Wert- schätzung für die Bildung. Konfuzius war anerkannt als der erste große Erzieher, der seine Schüler zu unermüdlichem 3.2 Das japanische Modell Lernen antrieb.20 Die auch von den Bauern bis auf den heuti- gen Tag geteilte Bewunderung für Bildung und Gelehrsamkeit, Mit der Öffnung gegenüber westlichen Einfl üssen begann das traditionell respektierte Schul- und Bildungs system, die 1868 in Japan die Epoche der Modernisierung. Nach den Schre- Hoffnung, über Prüfungen politischen und wirtschaf tlichen cken des Zweiten Weltkrieges sowie seiner Kriegsverbrechen Erfolg zu erzielen, trugen und tragen dazu bei, das Prestige ist Japan mit seiner Friedensver fassung durch wirtschaftlichen 21 der Intellektuellen zu festigen, wie G. Paul schildert. F. Fuku- Wiederaufbau zu einem der reichsten demokra tischen Industrie- yama hebt diesen Aspekt hervor, der in der Modernisierungs- staaten geworden.27 Japan war und ist vor allem wirtschaf t lich 22 theorie als demokratiefördernd angesehen wird. Bildung eine führende Macht in Asien. China, Taiwan, Südkorea und ermöglicht den sozialen Aufstieg im hierar chischen poli- die südostasiatischen Länder (besonders Indonesien) sahen in tischen und gesellschaftlichen System und erhöht dadurch die Japan ein Modell für ihren wirtschaftlichen Modernisierungs- Chancen der Beteiligung an politischen Entscheidungen. Die prozess. Die dynamischen Entwicklungsprozesse in Süd- und Betonung der Bildung hat jedoch die Wertvorstellungen und Ostasien lassen sich mit dem Wildgänse-Modell erklären, in- Einsichten über Sitten in konfuzianischer Tradition verengt. dem Japan mit seiner offensiven Entwicklungshilfepolitik, Nicht selten sorgten und sorgen die höhere Bewertung der Auslandsinvestitionen und kulturellen Diplomatie beim Auf- »konfuzianischen« Gelehrten- und Beamtenschicht für Miss- 23 Vgl. Paul, Traditionelle Kultur. 17 Ebd. 24 Der konfuzianische Idealmensch äußerte sich in der Erfüllung der überlie- 18 Der frühere Premierminister Singapurs, Lee Kuan Yew, und der früherer Pre- ferten Pfl ichten. Siehe Max Weber, Die Wirtschaftethik der Weltreligionen. mierminister Malaysias, Mahathir bin Mohamad, propagierten in den 1990er Band I, Konfuzianismus und Taoismus, VIII Resultat: Konfuzianismus und Jahren ihre autoritäre Politik als »den asiatischen Weg«. Siehe Lee Eun-Jeung, Protestantismus (1915, 1920), unter: . . 25 Wie Konfuzius damals zur Frage nach dem Tod sagte: »Wenn man über das 19 Sebastian Heilmann, »Volksrepublik China: Regierungssystem und politische Leben nichts weiß, wie kann man dann etwas über den Tod wissen?« (Lunyu Entwicklungen«, unter: . 26 Die Digitalität des angeblich futuristischen Kapitalismus erweist sich rasch 20 »Lernen ist eine Tätigkeit, bei der man das Ziel nie erreicht und zugleich als hinlänglich bekanntes Novum. Beschleunigung wird durch den Einsatz immer fürchten muss, das schon Erreichte wieder zu verlieren«. (Lunyu – Ge- von elektronischer Datenverarbeitung und vom Datentransfer erzeugt. Vgl. spräche 8.17). Peter Glotz, Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München: Kindler, 21 Gregor Paul, »Traditionelle Kultur, nationales Wirtschaftssystem und 1999. internationales Geschäft Anmerkungen zum deutsch-chinesischen Mit- 27 Japan darf laut seiner Verfassung von 1947 keine Armee unterhalten, doch und Gegeneinander«, in: China-Journal, Ausgabe 1, 2002 – 04, unter: gelten die »Selbstverteidigungskräfte« (SDF) als modernste Streitkräfte Asiens. . Vgl. Karl Grobe, »Japans Verfassung wird umgeschrieben«, in: Frankfurter 22 Francis Fukuyama, »Ich oder die Gemeinschaft«, in: Die Zeit, 11. 11. 1999. Rundschau, 15.4. 2005.

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holprozess seiner unterent wickel ten Nachbarn für die räum- Als Stabilisierungsfaktor ersten Ranges im gelungenen wirt- liche Expansion und die Vertiefung industrieller Zusammen- schaftlich-politischen Transformationsprozess Indiens ist die arbeit in der Region eine Schlüsselrolle gespielt hat.28 enorme gesellschaftliche Vielfalt zu erken nen. Laut J. Betz erschwerte die starke Fragmentierung die Heraus bil dung ge- Den Grundstein für das Aufblühen der Wirtschaft Japans legte samtindischer Konfl iktlinien.33 Indien gilt als historisches die Meiji-Reform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Modell für Multikulturalität. Das Land ist die volkreichste Kaiser Meiji erließ 1868 eine Verfassung, die sich an den mo- Demokratie mit über 700 Volksgruppen, ebenso vielen Dia- dernen Grundsätzen der Gleichheit und Freiheit orientierte. Es lekten und 30 Sprachen. Hier haben fast alle großen Religions- folgte eine »Reform von oben« nach westli chem Vorbild, die gemeinschaften über Jahrhunderte in engster Nachbarschaft sowohl die Bewahrung der Unabhängigkeit Japans als auch das gelebt: Hinduismus, Christentum, Islam und Budd his mus. Gleichziehen mit den anderen Großmächten zum Ziel hatte.29 M. Gandhis Strategie des »zivilen Ungehorsams« durch »ge- Die Lernprozesse, welche die Japaner bei ihrer begeisterten waltfreien Widerstand« verlieh Indien das Image, ein Vorbild Begegnung mit dem Westen (Kultur, Demokratie und Markt- religiöser Toleranz zu sein. Im Vergleich zum Nachbar- und wirtschaft) durchliefen, ermöglichten den Aufstieg Japans als Bürgerkriegsstaat Sri Lanka fallen in Indien die geringer ausge- regionale Macht. Gleichwohl stieß seine Großmacht-Poli tik prägten Zerklüftungen und deren partielle Überlagerung auf. auf Grenzen und entfachte später mit seiner Politik des »Asien Inwiefern das multikulturelle Erbe des Landes für die Friedens- den Asiaten« den Pazifi kkrieg gegen die USA und ihre Alliier- stiftung von Bedeutung ist, hängt allerdings vom jeweiligen ten. Nach der Niederlage vermied es Japan, sich mit seiner politischen Interesse ab, im gegebenen Fall davon, ob einem kriegerischen Vergangenheit kritisch auseinander zu setzen.30 an der Stärkung kultureller Vielfalt oder vielmehr an der Her- Während Japan den Krieg positiv zu werten sucht, stößt das stellung von Homogenität gelegen ist.34 in Gesellschaft und Politik mangelnde Verantwortungsgefühl immer wieder auf verbitterte Reaktionen in Ostasien, sowohl Auch die Kontinuität des demokratischen Systems erweist in der Öffentlichkeit als auch auf der Regierungsebene.31 Auf sich als sozio-politisch förderlicher Faktor für eine friedli- der Haben-Seite stehen eher wirtschaftliche Faktoren: Die Ent- che Konfl iktbearbeitung. Von der Zerklüftung Indiens ging wicklung Japans in der Nachkriegszeit sorgte sowohl für die unter demokratischem Vorzeichen ein starker Zwang zu ei- Restruk turierung der japanischen Industrie als auch für die ner Politik der Mitte aus, für Säkularismus und sozialen Aus- Industrialisierung seiner ostasiatischen Nachbarn und führte gleich. Mit seinem Föderalismus stellt Indien daher einen der zu wirtschaftlicher Verfl echtung. wenigen leidlich funktionierenden Bundesstaaten der Welt dar, dem es gelang, regionalen Interessen und Loyalitäten le- gale Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen, separatistische 3.3 Das Indien-Modell Eliten einzubinden und periphere Konfl ikte zu mildern.35 Die demo kratische Kontinuität hat vor allem die Wende zur Trotz seiner Größe, verbreiteter Armut, starker sozialer und Markt wirtschaft begünstigt, die politisch geschickt, ohne ethnisch-kultureller Zerklüftung und gewalttätiger Konfl ikte übermäßige Eile und unter Schonung politisch wichtiger ge- ist Indien seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1947 nicht im sellschaftlicher Gruppen sowie der Armen, umge setzt wurde – Krieg auseinander gebrochen. Indien gilt als demokratisch mit dem Ergebnis, dass keine ernst zu nehmende Gruppierung konsolidierter Staat. Zeichen seiner Kontinuität als Demo kratie heute wirtschaftspolitisch den Status quo ante anstrebt. sind das pluralistische Parteiensystem und die seit 1967 häufi - gen Regierungswechsel.32 Zusammen mit China und Brasilien Des Weiteren sind die Charakteristika der staatlichen Herrschaft gehört Indien zu den sich schnell entwickelnden Ländern, sowie die daraus resultierende Ambivalenz zwischen Moder- obwohl marktwirtschaftliche Reformen erst 1985 begannen. nität und Tradition zu erwähnen. Indiens Herrschaftssystem ist eine Mischung aus rationalen und charismatischen Elemen- 36 28 Das von Akamatsu entwickelte »wild-geese-fl ying pattern of economic ten, wobei insgesamt der rationale Typus überwiegen dürfte. growth« geht von der These aus, dass die wirtschaftliche Kommunikati- Wenngleich die traditionalen Elemente (z. B. Herrschaft on einer Nation mit Industrieländern die notwendige Voraussetzung ihrer Wirtschaftsentwicklung ist. Später bezieht Akamatsus Schüler Kojima die einer Kaste) eher auf der kommunalen Ebene vorkommen, hinausgehenden Investitionen (FDI) fortgeschrittener Nationen ein und scheint die Moderne in Indien gerade durch das gemischte modifi ziert das Wildgänsemodell als »catching up product cycle theory«. Hwang Sun-Gil, Das Wildgänsemodell für Ost-Asien, Institut für sozialö- Herrschaftssystem ein janusköpfi ges Gesicht zu zeigen. Die konomische Handlungsforschung, Arbeitspapiere zur sozialökonomischen Moderne wird entweder als politisches Instrument genutzt (mit Ostasien- Forschung, Nr. 3. 1998. 29 Siehe Mark Hudson, Agriculture and language change in the Japanese der Idee, dass der homogene Nationalstaat das notwendige Islands. In: Peter Bellwood/Colin Renfrew, Examining the farming/language Ambiente für Demokratie, Frieden und Wohlstand anbietet) dispersal hypothesis, Cambridge, 2002, pp. 311 – 317. 30 Martin Fackler, »Japan struggles with legacy. Questions of legacy lingers on«, oder als ein Projekt angestrebt. Pointiert gesagt konkurrieren in: International Herald Tribune (IHT), 15.8. 2005, p. 5. heute in Indien zwei dominante Zweckdefi nitionen: Indien 31 In April 2005 gab es mehrere gewaltsame antijapanische Proteste in Südko- rea und China. Auslöser der Proteste war ein kürzlich von Japan genehmigtes als »Einheit in Vielheit« (Nehru) und Indien als »homogener Schulbuch, in dem nach Ansicht Chinas und Koreas die Kriegsverbrechen Einheitsstaat« (Sarvarkar). Welches Ziel sich durchsetzen wird, Japans in China und Korea verharmlost werden. Die Demonstrationen führ- ten zu einer neuen Belastung der Beziehungen zwischen China und Japan. »Tokio und Peking beharren auf gegenseitigen Entschuldigungen«, in: Spiegel 33 »Friedenserfahrungen in Asien, Afrika und Lateinamerika«, Online, 18.4. 2005; Chikako Yamamotot, »Der unverstandene Nachbar«, in: unter: . TAZ, Nr. 7642, 18.4.2005, S 11. 34 Michael Gottlob, »Leitkultur am Ganges? Geschichtspolitik und Revision- 32 Die anhaltende Dominanz der die Unabhängigkeitsbewegung verkör- ismus in Indien«, in: Internationale Schulbuchforschung, Nr. 23, 2001, S. pernden Kongresspartei machte bis 1967 Regierungswechsel auf na- 465 – 476. tionaler bzw. unionsstaatlicher Ebene unmöglich. Siehe Bertelsmann 35 Friedenserfahrungen in Asien, Afrika und Lateinamerika, a.a.O. Stiftung, »Den Wandel gestalten. Ländergutachten: Indien«, unter: 36 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Teil I, Kap. III, Die Typen der . Herrschaft, 1922.

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hängt davon ab, inwieweit es den jeweiligen Vertretern der und die intellektuelle Kultur um Lichtjahre voraus. Den In- beiden »Projekte« gelingt, ihre Mittel möglichst effektiv dafür donesiern ist gelungen, durch kritische und holistische An- einzusetzen (Mobilisierung von Unterstützung, Zuteilung von sätze dem Islam einen Modernisierungsimpuls zu geben. Als Wohlfahrtschancen, außenpolitischer Erfolg etc).37 Beispiel nennt Othman die Erfahrun gen in den islamischen Dorf- und Gemeindeschulen. Dort sieht man in den isla- Die multikulturelle Tradition und die gesellschaftliche Fragmen- mischen Rechtsgelehrten mehr als religiös versierte Gelehrte, tierung, das solide demokratische System sowie das gemischte nämlich eine kulturelle und soziale Kraft.44 Merkmale des in- Herrschaftssystem stellen wichtige Faktoren für die ge lungene donesischen Islam, der sich zwischen Modernisten und Tra- Transformation Indiens dar. Allerdings kann das indische Frie- ditionalisten bewegt und günstig für die demokratische Ent- densmodell durch innenpolitische Faktoren (den stärker wer- wicklung ist, sind Toleranz, soziale Mobilität und Achtung denden religiös-politischen Fundamentalismus und die relativ vor dem Gesetz. Gerade im Verbund mit traditioneller südost- ineffi ziente Armutsbekämpfung) gefährdet werden.38 asiatischer Harmonie- und Konsenskultur haben diese Merk- male dazu beigetragen, den Spielraum für Islamisten erheblich 3.4 Das Indonesien-Modell einzuschränken, so G. Schubert. Gleichzeitig haben sie einen Beitrag zum Überleben der demokratischen Institutionen und Indonesien verdient nicht nur wegen seiner Größe und geo- Verfahren in Indonesien geleistet, trotz vieler Rückschläge.45 strategischen Bedeutung Aufmerksamkeit, sondern auch wegen Allerdings bleibt unklar, inwiefern eine Kombination wirt- der spezifi schen Ausprägung, die der Islam hier genommen schaftlicher Konsolidierung und praktizierter Toleranz als hat. Er weist vielfältigere Erscheinungsformen und größere Friedensmodell nicht nur für die islamische Zivilisation, son- Toleranz auf als dies in einigen arabischen Staaten der Fall dern auch für die Verständigung zwischen Kulturen dienen 39 ist. Vor allem seit den Wahlen vom Juni 1999 befi ndet sich kann. Angesichts der Dominanz konservativer Interessengrup- Indonesien auf dem Weg der demokratischen Transformation. pen und ethnischer, religiöser und regionaler Konfl iktlinien Die Wahlen 2004 erwiesen sich als Durchbruch zur Demokra- befi ndet sich die indonesische Demokratie immer noch in tie.40 Der in den späten 1960er Jahren begonnene wirtschaftliche einer prekären Situation. S. Anwar spricht von einer schlei- Transformationsprozess ging dem politischen voraus und ver- chenden Islamisierung, in der einige Regionen mittels ihres half Indonesien zum Aufstieg von einem der ärmsten Länder Autonomie-Rechts das Scharia-Gesetz forciert haben (z. B. der Welt zu einem »lower-middle income country«. West-Java und Madura). Religion wird leicht als politisches Eines der wichtigsten Charakteristika und zugleich eine He- Instrument populistischer Bewegungen missbraucht.46 rausforderung für Indonesien ist das Zusammenleben in multi- kulturellen Gemeinschaften. Für B. Tibi verkörpert Indonesien ein Modell, in dem verschiedene religiöse und kulturelle Ge- 3.5 Das wirtschaftliche Integrationsmodell meinschaften einander respektieren und friedlich miteinan- der leben.41 Im scharfen Kontrast zur Türkei gewährleistet die Handelsdaten zeigen, dass die Jahre 1970 – 2000 durch den auf der Pancasila gründende Verfassung Kultusfreiheit für die weltwirtschaftlichen Aufstieg Ostasiens und zunehmende in- anerkannten Religionen (Islam, Christentum, Buddhismus, nerasiatische Handelsintegration geprägt waren.47 Ein neues Hinduismus). Obwohl der Islam während des Freiheitskampfs Zentrum der Weltwirtschaft bildet sich heraus: China. Die gegen die holländische Kolonialherrschaft identitätsstiftend wachsende wirtschaftliche Bedeutung der ASEAN-Staaten hat wirkte, spielte er in der Verfassung nach der Unabhängigkeit mehr mit der Dynamik Ostasiens als mit dem ASEAN-Regel- 1945 eine vergleichsweise unbedeutende Rolle.42 Auch haben werk zu tun.48 Vor allem Indien hat 2004 einen Meilenstein die Erfahrungen mit den freien Wahlen seit 1999 gezeigt, dass erreicht: Sein Handelsvolumen mit den Ländern der asiatisch- der politische Islam bislang keine breite Basis hat. pa zi fi schen Region überholte erstmalig dasjenige mit seinem 49 Des Weiteren setzt Indonesien mit seinem Demokrati- US- und seinen europäischen Handelspartnern zusammen. sierungsprozess ein unverwech sel bares Signal, dass der Islam Asien ist eine Region mit großer ökonomischer Dynamik und demokratiefähig ist.43 Nach Ansicht N. Othmans sind die In- Kooperation geworden, d. h. wesentliche Bedingungen für donesier den Malaysiern in Bezug auf das islamische Denken Integration sind vorhanden. Neben der Frage nach der Form (Freihandelsabkommen oder verstärkte Institutionalisierung 37 Andreas Metzger, »Ist Indien ›modern‹? Max Weber und die indische Politik«, mit einheitlicher Währung) stellt sich die nach der Mach- unter: (24.08.05). barkeit. 38 »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«, St. Johanne Frie- denstage 2002 am Beispiel Indien, SoliTat, INTERSOL, Dez. 2002; Klaus Schä- fer, »Religionsfreiheit in Indien unter Druck«, Evangelischer Missionswerk 44 Martina Sabra, »Der Prophet war für die Gleichberechtigung«, Interview mit in Deutschland, 30.8.2005 Norani Othman, in: E+Z, 07/2005. 39 »Aktuelle Situation in der islamischen Welt«, Bundeszentrale für politische 45 Gunter Schubert, Wie demokratiefähig ist der Islam? Konrad Adenauer Bildung, unter: . auslandsinformationen/7_dokument_dok_pdf_250_1.pdf>. 40 Bertelsmann Stiftung, »Den Wandel gestalten. Ländergutachten: Indone- 46 Michael Vatikiotis, »Islamizing Indonesia«, 3 – 4. 9. 2005, in: IHT, S. 5; Seba- sien«; Moritz Kleine-Brockhoff, Indonesien: Durchbruch für die Demokratie, stian Braun/Felix Heiduk/Kay Möller, »Indonesien: Demokratie, Regierbar- Friedrich Ebert Stiftung-Analyse, Dez. 2004. keit und nationaler Zusammenhalt«, SWP-Studie/S 06, Feb. 2005. 41 Bassam Tibi, »Indonesia, a Model for the Islamic Civilization in Transition 47 Patrick Ziltener, Ostasiatische oder pazifi sche Handelsdynamik? Eine Analyse to the 2lst Century«, in: FAZ, 27.10. 1995. von UNCTAD-Handelsdaten, 1970 – 2000, MPIfG Working Paper 02/9, Juli 42 Vgl. Infodienst Indonesien und Osttimor Nr. 29, Mitte Juli – Ende September, 2002. 2004. 48 Ebd. 43 Arnfrid Schenk, »Geht doch. Indonesien hat einen neuen Präsident gewählt«, 49 Anand Giridharadas, »Rising India remains torn between East and West«, in: Die Zeit, 21.9.2004. in: IHT, 15.8. 2005, S. 7.

220 | S+F (23. Jg.) 4/2005 Hasenkamp, Friedensmodelle in Asien | FORUM

Zwei Variationen stehen zur Debatte. Die Idee Greater China als gen reagiert sehr sensibel auf Widerstand seitens der USA und Wirtschaftsraum für Entwicklung und Wachstum steht für eine kann oft seiner angestrebten Rolle in Ostasien nicht gerecht Struktur mittels verstärkter Handels- und Kapitalbeziehungen werden.53 Obgleich China regionale Vormacht werden will, zwischen ethnischen Chinesen im geografi schen Raum von ist es momentan nicht in der Lage, sein eigenes Innovations-, Festlandschina, Hongkong, Macao, Taiwan bis zu den süd- Produktions- und Dienstleistungssystem zu entwickeln und in ostasiatischen Staaten. Das Konzept ist, so seine Verfechter, Asien und der Welt zu verbreiten. Immerhin bietet das tech- international wettbewerbsfähig, lässt die intraregionalen nologisch starke Japan seinen Nachbarn Stimuli an und gilt Entwicklungspotentiale zum Tragen kommen und wird den deshalb als ökonomisch wichtiger als China. Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen gerecht. Diese Idee stößt auf normative und praktische Probleme.50 Hier hat der Begriff oft den Beigeschmack einer »imperialen«, maßgeblich mit China assoziierten Pax Sinica, die den nicht- chinesischen Anrainerstaaten (Südkorea und Japan), aufge- zwungen wird. Auch sind politische Faktoren entscheidend 4. Frieden schaffen in Asien – Aufarbeitung der für seine ge samte Entwicklung. Dazu gehören die Ostasien- Vergangenheit als Priorität politik der USA, das Verhältnis zwischen den USA und China, die japanisch-chinesischen Beziehungen, die Entwicklung in Die Analyse der wichtigsten Modelle zeigt, dass Asien zwar Russland, das Verhältnis zwischen Indien und China sowie positiv zum Frieden beigetragen hat, der Region jedoch eine zwischen Indien und Pakistan, die Entwicklung auf der ko- umfassende Defi nition der Bedeutung Asiens in der Welt fehlt. reanischen Halbinsel und die Taiwan-Frage. Zudem ist durch Die Beziehungen der asiatischen Länder zueinander sind die verstärkte wirtschaftliche Integration sowie die daraus fol- hauptsächlich von der Wirtschaft und dem weltpolitischen gende gegenseitige Abhängigkeit ein Steuerungsproblem für Geschehen diktiert worden. die jeweiligen Regierungen entstanden.51 Die Würdigung der Modelle richtet den Blick auf ihre poli- Als zweites Konzept stellt sich seit Anfang der 1990er Jahre tische Tauglichkeit, die Probleme des jeweiligen Modells und die Idee einer asiatischen Freihandelszone. Sie fördert ihren nicht zuletzt auf ihren Umgang mit kollektiver Erinnerung. Anhängern zufolge das wirtschaftliche Wachstum, stärkt die Denn diese Modelle mit ihrer starken Betonung der Harmo- Wirtschaftsposition Asiens (gegenüber EU und NAFTA) und nie stoßen sich an einer mangelhaften Praxis, die auch jüngst erhält Frieden, Stabilität und Wohlstand. Die Herausbildung regionaler Kooperationsmechanismen in Gestalt der East Asia wieder für teils gewalttätige Konfl ikte sorgte (antijapanische Economic Group (EAEG) und später des East Asian Economic Übergriffe in China und Südkorea). Weit weniger als etwa Caucus (EAEC) bis zur ASEAN-Plus-Three (China, Japan und Westeuropa hat Asiens Bevölkerung Erfahrungen mit Gewalt Südkorea) hat gezeigt, dass die asiatischen Akteure ihre Ge- aufklärend und konstruktiv verarbeitet, weder im Inneren meinsamkeiten im Hinblick auf geteilte Interessen und Kon- (etwa die Verantwortung der eigenen Regierung für die Millio- fl ikte bewusst wahrnahmen und anzupacken versuchten.52 nen Opfer des »Großen Sprungs« oder der »Kulturrevolution« Allerdings kommt die Regionalisie rung Ostasiens politisch in China und des Massenmordes an bis zu einer Million mut- und institutionell nur schleppend in Gang. Die Gründe sind maßlicher Kommunisten unter dem jungen Suharto-Regime) ökonomischer und politischer Natur. Strukturelle Disparitäten noch in den Außenbeziehungen (Japans Umgang mit seiner in der Region, Unterschiede der politischen Systeme, krasse Aggression während des Zweiten Weltkrieges bzw. Nanking- Ungleichheiten in der Einkommensverteilung sowie in der Massaker und Zwangsprostitution). Peking blockiert die Erin- sektoralen Entwicklung der Volkswirtschaften haben Liberal- nerung im Inneren und damit auch die offen-konstruktive isierungs-Vereinbarun gen deutlich erschwert. Politisch pikant Aufarbeitung der Beziehung zu Japan. war nicht nur die vorgeschlagene Führungsrolle Japans im EAEC, die besonders Südkorea nicht goutieren konnte. Aus Gründe für das Fehlen einer kritischen, systematischen und Sicht der meisten ostasiatischen Staaten gilt vor allem unter versöhnlichen Aufarbeitung der eigenen und gemeinsamen ökonomischen Gesichtspunkten der Ausschluss der USA und Vergangenheit liegen nicht zuletzt in der Großmachtpolitik Australiens als unzumutbar. Hinzu kommt Dissens über die und den Überresten der Mentalität des Kalten Krieges. Trotz Rolle der ASEAN-Plus-Three und eines Führungslandes. Malay- der Blockfreienbewegung hat sich das heterogene Asien grund- sia und China neigen dazu, einen ostasiatischen Block gegen sätzlich am dominierenden geopolitischen Diskurs orientiert die USA und die NAFTA zu instrumentalisieren. Japan hinge- und entsprechend reagiert. Ihm fehlt bisher eine autonome

50 Über die Idee Greater China siehe Elena Meyer-Clement/Gunter Schubert, regionale Sicht und Programmatik, um politische Solidarität, Greater China – Idee, Konzept und Forschungsprogramm, Greater China wirtschaftliche Zusammenarbeit und sozial-kultu relle Bezie- Occasional Papers No 1, Okt. 2004, Universität Tübingen; Carsten Hermann- Pillath, »Festlandfi eber«: Politisch-ökonomische Aspekte der Beziehungen hungen in der Region zu entwickeln. Das wirft einen Schatten Taiwans zum chinesischen Festland, Gerhard-Mercator-Universität GH Du- auf die Chancen Asiens, zum Weltfrieden beizutragen. So ist isburg. 51 Vgl. Hermann-Pillath, Festlandfi eber, ebd. bei der Schilderung der Modelle und ihrer wünschenswerten 52 Die Gemeinsame Erklärung zum ASEAN-Plus-Three-Gipfel in Manila 1999 hält fest, dass das Gipfelforum nach Möglichkeiten der Kooperation sucht. Weiterentwicklung besonders darauf zu achten, welchen Platz Vgl. Markus Hund / Nuria Okfen, Vom East Asian Economic Caucus (EAEC) sie der Erinnerung zuweisen. to ASEAN-Plus-Three, unter: ; M. Mayer, Wechselkurspolitik und Wachstumsstabilität in Süd- Ostasien, Trends East Asia, Studie Nr. 4 (Juni 2004). 53 Ebd.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 221 FORUM | Wolter, Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« im Weltraum

Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« im Weltraum: Ein Multilaterales Abkommen über Gemeinsame/Kooperative Sicherheit im Weltraum (KSW-Vertrag) Detlev Wolter*

Abstract: In this article, the author argues for a system of »common space security« and unfolds the necessary basics in regard to politics, concepts and international law to establish such a system. He proposes a treaty about Cooperative Security in Space (KSWV), which shall prevent space weaponization and instead upholds the principles of co-operative and preventive arms con- trol. The treaty would ensure that space will be exclusively used in the »interest of all mankind« and for »peaceful purposes«, as outlined in Article I of the Outer Space Treaty of 1967. The KSWV would also allow the nuclear powers to replace their strategy of »Mutual Assured Destruction« with »Mutual Assured Security«.

Keywords: Gemeinsame Sicherheit, Weltraumrecht, Rüstungskontrolle in den Vereinten Nationen, Wettrüsten im Weltraum

1. Ausgangslage Eine konsequente Anwendung des Artikel I WRV, wonach der Weltraum nur im Interesse aller Staaten und zum Nutzen der 1er Weltraum ist nach Art.I Abs.1 des Weltraumvertrages Menschheit insgesamt zu friedlichen Zwecken genutzt wer- von 1967 (WRV) ein hoheitsfreier Gemeinschaftsraum, den kann, auf den Sicherheitsbereich und die Heranziehung Ddessen Nutzung »im Interesse aller Staaten« und der der Grundsätze von Kooperation und Konsultation bilden »Menschheit als Ganzes« erfolgen muss. Demnach kann Si- die weltraumrechtlichen Grundlagen für ein System Gemein- cherheit im Weltraum nicht ausschließlich im nationalen In- samer Sicherheit im Weltraum. Außerdem gilt die seit 1981 teresse eines Staates oder einer Staatengruppe verfolgt werden. jährlich verabschiedete Resolution der Generalversammlung Vielmehr erfordert es die Schaffung einer Ordnung »Gemein- (GV) zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum inzwi- samer« oder »Kooperativer Sicherheit«. Im Folgenden werden schen als Völkergewohnheitsrecht.3 daher die Grundlagen für ein multilaterales »Abkommen über Gemeinsame/Kooperative Sicherheit im Weltraum« (KSWV) dargelegt. 2.1 Politische Grundlagen

Die Erkenntnis, dass im Atomzeitalter die Sicherung von Frie- 2. Völkerrechtliche Grundlagen den und Sicherheit nur noch gemeinsam möglich ist und der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln durch Horst Fischer2 zeigte in einer Studie für das Hamburger Insti- eine absolute »futility of war« ersetzt wurde, führte folgerich- tut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik auf, dass sich tig zur Entwicklung der Konzeption »Gemeinsamer« oder ko- die Konzeption »Gemeinsamer Sicherheit« völkerrechtlich auf operativer Sicherheit. Deren Ausgangspunkt markierte Helmut 4 einen Strukturwandel des Rechts der Friedenssicherung stüt- Schmidt in seiner Rede vor der Ersten Sonderversammlung zen kann. Demnach gründet das Konzept der Gemeinsamen der Vereinten Nationen zu Abrüstungsfragen 1978 mit dem Sicherheit wesentlich in dem völkerrechtlichen Kooperations- Begriff der Sicherheitspartnerschaft. Sie fand international 5 gebot. Seine konstituierenden Strukturmerkmale sind auch erstmals mit dem Bericht der Palme-Kommission von 1982 aus den völkerrechtlichen Statusregelungen für internationa- Anerkennung. Darin wird festgestellt: »Sicherheit im Kernwaf- 6 lisierte staatsfreie Räume herzuleiten. Neben der verstärkten fenzeitalter heißt Gemeinsame Sicherheit.« Die GV der Vereinten Kooperationspfl icht sind dies die Konsultationspfl icht, die Nationen (VN) begrüßte im selben Jahr in ihrer Resolution 7 Informationspfl icht, die Koordinationsverpfl ichtung und 37/99 den Bericht unter Betonung der zentralen Rolle der verstärkte Organisationstendenzen und Vertrauensbildung VN »in furthering common security« und beauftragte die Abrüs- sowie die für die Rüstungskontrolle typischen Elemente der tungskommission, dessen Empfehlungen mit Blick auf eine Nutzung völkerrechtlicher Verträge und die Funktion einsei- effektive Umsetzung zu prüfen. Auch vor dem Hintergrund tiger Maßnahmen. Alle diese Elemente fi nden sich auch im des 11. September 2001 stellte Außenminister Joschka Fischer Weltraumvertrag von 1967 angelegt. 3 Detlev Wolter, Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« im Weltraum nach universellem Völkerrecht, Berlin 2003; ders., Common Security in Outer * Dr. Detlev Wolter ist Jurist und Diplomat in der deutschen UN-Vertretung in Space and International Law, UNIDIR 2005. New York. Der Artikel gibt ausschließlich seine persönliche Ansicht wieder. 4 Helmut Schmidt, Rede vor der 1. Sonderversammlung der Vereinten Natio- 2 Horst Fischer, Koexistenz und Kooperation im modernen Völkerrecht – »Ge- nen in New York am 25.5.1978, in BPA (Hrsg.), Stichworte zur Sicherheits- meinsame Sicherheit« und die Struktur des Rechts der Friedenssicherung, in: politik (Bonn 1978) S. 7. Egon Bahr/Dieter Lutz (Hrsg.), Gemeinsame Sicherheit, Bd. 2 S. 55; s. auch 5 Palme-Bericht, Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Detlev Wolter, The Peaceful Purpose Standard of the Common Heritage of Sicherheit »Common Security« (1982). Mankind Clause in Outer Space Law, in: ASILS International Law Journal, IX 6 Palme-Bericht, Fn. 4, S. 22. (1985), S. 117; ders. Völkerrechtliche Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« 7 UN Doc. A 37/99 Resolution B zum »Report of the Independent Commission im Weltraum, in: ZaöRV 62 (2002), S. 941. on Disarmament and Security Issues« vom 13.12.1982.

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seine Rede vor der VN-Generalversammlung am 14. Septem- Beide verstärken sich gegenseitig zum Vorteil aller Staaten ber 2002 unter das Leitmotiv der Errichtung eines »Systems »unabhängig von ihrem wissenschaftlichen und wirtschaft- globaler kooperativer Sicherheit«, die er als »zentrale politi- lichen Entwicklungsstand« (Art. I Abs. 1 WRV). sche Aufgabe des 21. Jahrhunderts« bezeichnete.8

2.3 Die fünf Hauptelemente der Gemeinsamen 2.2 Konzeptionelle Grundlagen Sicherheit

Die konzeptionellen Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« 2.3.1 Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit legten Egon Bahr und Dieter Lutz.9 In den USA entwickelte die Brookings-Institution das Konzept unter dem Begriff »Coope- Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit bedeutet die Organisation rative Security« weiter.10 Bahr betonte als eigentlich neue Auf- und Bewaffnung der Streitkräfte in der Weise, dass sie einen gabe, »die faktisch bestehende gemeinsame Sicherheit durch erfolgreichen militärischen Angriff nicht zulassen: Abkommen der Sicherheitspartnerschaft in völkerrechtlich »The important fi rst step is to acknowledge that the national de- verlässliche Verträge« zu bringen. Der zukunftweisende Ge- ployment of military capability must be governed by a strict prin- halt der Konzeption der Gemeinsamen Sicherheit macht sie zu ciple of nonprovocation and be refl ected in force postures accord- dem geeigneten Sicherheitskonzept der neuen internationalen 13 Strukturbedingungen nach Überwindung des Kalten Krieges. ingly.« Nolan11 stellt zu Recht fest: »Cooperative security is the corresponding principle for internati- onal security in the post-cold war era. In the face of the changing 2.3.2 Kooperative Denuklearisierung character of security threats, it [cooperative security] is the new Auf Grund der defensiven Ausrichtung der militärstrategischen strategic imperative.« Kräfte ermöglicht das Konzept eine drastische Reduktion bis Die Verpfl ichtung zur Nutzung des Weltraums zu ausschließ- hin zur Abschaffung der Nuklearwaffen. lich friedlichen Zwecken geht mit der Pfl icht der Staaten ein- »... such a regime would thus put strong constraints on nuclear her, bereits im Stadium der Erforschung des Weltraums zu weapons and seek to severely devalue nuclear forces as a currency diesem Zweck zusammenzuarbeiten. Wenn diese konsequent of statecraft or a tool of power projection ... A key objective guiding durchgeführt würde, wäre dies angesichts der verbreiteten the recomposition of remaining nuclear forces would be to eliminate »dual-use«-Fähigkeit der Weltraumtechnologie bereits ein any perception of vulnerability to nuclear attack among all states, hochwirksames Element der kooperativen Sicherheit. Im Sinne thereby also helping to discourage further production or deployment eines erweiterten Sicherheitsbegriffs kommt auch der durch of nuclear weapons globally. Constraints on the nuclear arsenals den WRV erstmals völkervertragsrechtlich niedergelegten of the established nuclear powers are a necessary, if not suffi cient, Pfl icht zur besonderen Berücksichtigung der Interessen der condition to help persuade other states that nuclear weapons have Entwicklungsländer eine sicherheitspolitische Bedeutung zu. Als Ausdruck eines erweiterten Sicherheitsbegriffs entspricht little compelling utility. As a corollary the regime would seek the 14 das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit der Entwicklung elimination of all weapons of mass destruction.« hin zu gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit. Damit leistet das Konzept einen wichtigen Beitrag zur Erfül- Die Entwicklung Gemeinsamer Sicherheit vollzieht im Sicher- lung der vom IGH bekräftigten nuklearen Abrüstungsver- heitsbereich nach, was im wirtschaftlichen Bereich der Struk- pfl ichtung gemäß Art. VI NVV. turprozess der Internationalisierung der Wirtschaft, in der zum Beispiel Investitionen in Forschung nicht mehr als »na- tional public good«, sondern als »international public good«12 ver- 2.3.3 Transparenz und vertrauensbildende Maß- standen werden müssen, bewirkt. Kooperative Sicherheit im nahmen Weltraum, die mit gemeinsamer Erforschung beginnt, kommt der gemeinsamen wirtschaftlichen Nutzung des Weltraums zu Ein Kernbestandteil Gemeinsamer Sicherheit, die als Prozess Gute. Diese nutzen wiederum der gemeinsamen Sicherheit. zu verstehen ist, sind Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen. Im Nuklearbereich fi nden sich VSBM vor allem 8 Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer vor der VN-Generalver- im INF- und im START-Abkommen. Zu den Hauptelementen sammlung am 14. September 2002 »Für ein System globaler kooperativer Sicherheit«, abgedruckt in: IP 11/2002, Dok. S. 129. gehören die vorherige Notifi kation und Beobachtung poten- 9 Egon Bahr, Gemeinsame Sicherheit: Einführende Überlegungen, in: Bahr/ Lutz (Hrsg.), Gemeinsame Sicherheit, Bd. 2 (1987) S. 18; Lutz, Gemeinsame ziell bedrohlicher Aktivitäten. Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit – das Konzept. Defi nitionsmerkmale und Strukturelemente im Sicherheit sieht eine Multilateralisierung und mögliche Insti- Vergleich mit anderen sicherheitspolitischen Modellen und Strategien, in Bahr/Lutz (Hrsg.), S. 54. tutionalisierung solcher vertrauensbildender Maßnahmen 10 Jane Nolan/John Steinbruner/Kenneth Flamm/Steven E. Miller/David Muss- vor. ington/Bill Perry/Ashton Carter, The Imperatives for Cooperation, in Jane Nolan (Hrsg.), Global Engagement. Cooperation and Security in the 21st Century (The Brookings Institution 1994), S. 33. 13 Nolan (1994), siehe Fn. 10, S. 10; Ashton Carter/Bill Perry/John Steinbru- 11 Jane Nolan, The Concept of Cooperative Security, in: Nolan et al. (1994), ner, »A New Concept of Cooperative Security«, Brookings Occasional Papers S. 9 (siehe Fn. 9). 1992, S. 20 ff. 12 Nolan et al. (1994), siehe Fn. 9, S. 35 sowie S. 38: 14 Nolan (1994), siehe Fn. 10, S. 10.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 223 FORUM | Wolter, Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« im Weltraum

2.3.4 Beschränkung militärischer Ausgaben und Die Vorschläge reichen von gezielten Ergänzungsvorschlägen Nichtverbreitung zum Weltraumvertrag bis zu umfangreichen Vertragsentwür- fen für ein eigenständiges Abkommen über die friedliche Nut- Die Verringerung der Bedrohungsperzeption nach dem Ende zung des Weltraums. Mehrere Staaten sahen die vertragstech- des Kalten Krieges, die Einsicht, dass militärische Macht nicht nisch einfachste Lösung darin, den Art. IV WRV bezüglich mehr beherrschender Faktor der Politik ist sowie wachsende seines Stationierungsverbots von Massenvernichtungswaffen Haushaltszwänge haben bereits zu einer Verringerung der mi- im Weltraum durch eine Ausweitung auf jede Art von WRW litärischen Fähigkeiten der vormaligen Militärblöcke beigetra- zu ergänzen, etwa durch Einfügung von »any kind of weapon« gen, die dem Standard der Gemeinsamen Sicherheit näher in Absatz 1. Dies schlug Italien bereits 1968 und erneut 1978 kommen. Dies ist ein Anreiz, diese Standards zu formalisieren in der VN-Generalversammlung vor und legte dazu 1979 den und ihre Einhaltung zu überwachen. Entwurf eines entsprechenden Zusatzprotokolls zum Welt- raumvertrag in der CD vor.16 Dem Entwurf liegt die Unter- scheidung zwischen passiven militärischen Nutzungen, die 2.3.5 Internationalisierung der Reaktion auf eine weiterhin erlaubt sein sollen (so ausdrücklich Art. 1 Par. 2 des Entwurfs bezüglich Verifi kationssatelliten), und ausdrücklich Aggression zu verbietender aktiver militärischer Nutzung zerstörerischer Zwar würde durch die Umstrukturierung der militärischen Art im Weltraum zu Grunde. Kanada legte erneut 2001 Fähigkeiten zu einer ausschließlich defensiven Konfi guration Arbeitspapiere für einen Vorschlag zur Aushandlung einer und durch Rüstungskontrollbeschränkungen ein Höchstmaß »Convention for the non-weaponization of outer space« vor. Kon- an internationaler Sicherheit erreicht. Doch könnte nicht kret wird »the non-weaponization of outer space, i.e. no positioning 17 gänzlich ausgeschlossen werden, dass ein Staat unter Umge- of actual weapons in outer space« vorgeschlagen. Am 31.5.2001 hung der Regeln insgeheim offensive Fähigkeiten entwickelt. schlug Russland vor »an Ad Hoc Committee to negotiate with a Deshalb bleibt als Rückversicherung das Selbstverteidigungs- view to reaching agreement on a regime capable of preventing an recht im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit not- arms race in outer space. This regime could take the form of an in- ternationally binding instrument«. Am 7.6.2001 legte China ein wendig.15 Gemeinsame Sicherheit schüfe aber die sicherheits- neues Arbeitspapier über einen künftigen Vertrag zur Verhin- politische Voraussetzung zur tatsächlichen Umsetzung der derung der »weaponization« des Weltraums vor. 2002 führten in der VN-Charta vorgesehenen Einrichtung multilateraler Russland und China ihre Vorschläge zu einem gemeinsamen Verteidigungskräfte. Vorschlag für ein Verbot von Weltraumwaffen (WRW) zusam- men.18

3. Ein multilaterales »Abkommen über Gemein- In den USA hat der demokratische US-Kongressabgeordnete Kucinich im Oktober 2001 einen Gesetzentwurf mit dem Titel same/Kooperative Sicherheit im Weltraum »Space Preservation Act« eingebracht, der zugleich einen Impuls (KSWV)« als Ausführungsabkommen zum für eine internationale Initiative für einen »World Treaty to Weltraumvertrag im Sicherheitsbereich Ban Space Weapons« geben will. Der Gesetzentwurf wird in der Tradition der ursprünglichen amerikanischen Weltraumpoli- tik Präsident Eisenhowers und des Weltraumvertrages geleitet 3.1 Bisherige Vorschläge zur vertraglichen Um- von der Absicht »to preserve the cooperative, peaceful uses of space setzung des Gebots der friedlichen Nutzung for the benefi t of humankind by permanently prohibiting the basing und der Menschheitsklausel im Sicherheits- of weapons in space« (Präambel) und sieht in Sektion 4 vor: bereich »The President shall direct the United States representatives to the United Nations and other international organizations to immedia- Eine Reihe von Staaten haben seit den 1970er Jahren Vor- tely work toward negotiating, adopting, and implementing a world schläge für eine vertragliche Absicherung des Grundsatzes der agreement banning space-based weapons.« friedlichen Nutzung vorgelegt. Die Vorschläge konzentrieren sich auf ein ausdrückliches Verbot aktiver militärischer Nut- Auffallend ist, dass die europäischen Staaten in der CD zwar zungen des Weltraums durch ein Verbot von Weltraumwaf- für die Wiedereinsetzung des PAROS-Ausschusses eintreten fen (WRW), insbesondere von Anti-Satelliten (ASAT)-Waffen, und an ihre früheren Vertragsentwürfe erinnern, aber bislang sowie vertrauensbildende Maßnahmen und Immunitätsvor- noch keine neue Initiative gestartet haben. Eine gemeinsame schriften hinsichtlich der zivilen Weltraumnutzungen. Vor europäische Initiative zur Bewahrung der friedlichen Nutzung allem in dem 1985 von der Genfer Conference on Disarmament des Weltraums würde dem Anspruch der internationalen Ge- (CD) eingerichteten Ad-hoc-PAROS-Ausschuss (Prevention of an meinschaft auf Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum Arms Race in Outer Space) standen zunehmend Vorschläge für einen nachhaltigen Schub geben und dessen Realisierungs- vertrauensbildende Maßnahmen im Vordergrund, mit denen chancen erheblich verbessern. die Hoffung verbunden wurde, dass sie als ein erster Schritt 16 Offi cial record of the general Assembly A/ 7221 vom 9.9. 1968; A/AC. 187/97 eine nachfolgende Zustimmung der USA zu darauf aufbauen- vom 1.2.1978. den Verbotsnormen ermöglichen könnten. 17 Kanada, CD, Arbeitspapier »The Non-Weaponization of Outer Space« vom 5.2.2001. 18 Fu Zhigang, »The Joint Working Paper by China and Russia«, in: INESAP 15 Ashton Carter/Bill Perry/John Steinbruner 1992, S. 24 (siehe Fn. 12). Information Bulletin, Nr. 20 August 2002.

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3.2 Vorschläge für eine umfassende Sicherheits- Nichtverbreitung und Abrüstung ordnung zur Gewährleistung der friedlichen Nichtverbreitung und Abrüstung setzen kooperative poli- Nutzung des Weltraums tische Beziehungen voraus. Die Vertragsparteien sollten sich verpfl ichten, militärische Maßnahmen im Weltraum an den 19 Die VN-Generalversammlung beauftragte 1990 eine Gruppe Zielen der Nichtverbreitung und Abrüstung entsprechend Art. von Regierungsexperten (USA, Russland, China, Frankreich, VI NVV auszurichten. Kanada, Indien, Pakistan, Bulgarien, Ägypten, Argentinien, Brasilien und Zimbabwe) mit der Erarbeitung von Vorschlägen für vertrauensbildende Maßnahmen im Weltraum. In ihrem Präventive Rüstungskontrolle umfangreichen Bericht20 entwickeln sie ausführliche Vorschlä- Ein Hauptgrundsatz des KSWV besteht in der Bewahrung des ge für transparenz- und vertrauensbildende Maßnahmen, wel- waffenfreien Status des Gemeinschaftsraums durch das Verbot che von der Stärkung bestehender Verträge, Schaffung von aktiver militärischer Nutzungen des Weltraums. Damit erfüllt multilateralem Satellitenmonitoring bis hin zur Errichtung er zugleich die Zielsetzungen präventiver Rüstungskontrolle, einer neuen Organisation für Weltraumangelegenheiten rei- welcher in dem Hochtechnologiebereich der Weltraumtech- chen. nologie besondere Bedeutung zuwächst. Die Entwicklung von WRW würde sowohl einen quantitativen als auch quali- tativen Rüstungswettlauf auslösen. Durch die Schaffung von 3.3 Hauptelemente des KSWV Rechtsklarheit über ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Stationierung von WRW würde dem Rüstungswettlauf Aufbauend auf die in der CD in Genf unterbreiteten Vorschlä- in beiden Varianten im Sinne präventiver Rüstungskontrolle ge und die zum Teil in verschiedenen Rüstungskontrollverträ- zum Vorteil der Menschheit vorgebeugt. Selbst wenn sich ein gen enthaltenen oder im Ansatz angelegten gilt es, die Grund- Entwicklungs- und Herstellungsverbot als zu ehrgeizig er- sätze Gemeinsamer Sicherheit im Gemeinschaftsraum sowohl wiese, hätte ein vertraglich bekräftigtes Stationierungsverbot inhaltlicher als auch verfahrensmäßiger Art festzulegen und ganz erhebliche dämpfende Wirkung auf die Entwicklung von als sich gegenseitig verstärkende Elemente eines kohärenten WRW. Petermann, Socher und Wennrich22 haben in ihrem kooperativen Sicherheitssystems21 zusammenzuführen. Gutachten für den Bundestag dargelegt, dass die Schaffung kooperativer Strukturen und politische Zusammenarbeit al- lein zur Verhinderung des Wettrüstens nicht ausreichen, wenn 3.3.1 Grundsätze der Kooperativen Sicherheit im sie nicht durch Maßnahmen präventiver Rüstungskontrolle Weltraum ergänzt werden. Im Weltraum geht es vorwiegend um die Entwicklung ganz neuer, sog. exotischer Waffentechnologien unter Anwendung anderer physikalischer Grundlagen, die Transparenz und Vertrauensbildung heute nicht absehbare Rüstungskontroll- und Nichtverbrei- Die Vertragsparteien sollten sich verpfl ichten, sich bei allen tungsprobleme aufwerfen würden, wenn deren Entwicklung militärischen Maßnahmen im Weltraum von den Grundsät- nicht präventiv auf zivile Bereiche gelenkt würde. zen der Transparenz und Vertrauensbildung leiten zu lassen. Schutz vor unautorisierten und versehentlichen Raketenan- griffen und vor Raketenangriffen unter Verletzung des Nicht- Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit verbreitungsregimes für ballistische Raketen und MVW Die Vertragsparteien sollten sich verpfl ichten, militärische Im Interesse der Rechtsklarheit sollte ausdrücklich die Stati- Maßnahmen im Weltraum so durchzuführen, dass sie mit onierung von Sensorensatelliten im Rahmen einer koopera- dem Grundsatz der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit ver- tiven Errichtung eines NMD-Systems zur Bekämpfung von einbar sind. Einzelheiten werden durch den Konsultativaus- ballistischen Raketen in der Startphase (»boost-phase NMD«) schuss ausgearbeitet. gestattet werden. Deren Aufgaben sollten ausdrücklich wie folgt festgelegt und entsprechend begrenzt werden: 19 GV-Res. 45/55 B v. 4. 12. 1990. 20 UN Study of a Group of Government Experts, »Study on the Application of • Schutz vor unautorisierten und versehentlichen Raketen- Confi dence-building Measures in Outer Space«, UN Doc. A/48/305, 1994, S. 41 (Publication Sales No. E 94.IX.6). angriffen. 21 In der Literatur fi nden sich zahlreiche Ansätze: Götz Neuneck/André Roth- • Schutz vor Raketenangriffen unter Verletzung des Nichtver- kirch, »Incentives for Space Security: Technology, Transparency and Com- pliance«, Contribution for the Conference on Outer Space and Security, breitungsregimes für ballistische Raketen. Geneva 25 – 26 March 2003; Götz Neuneck/André Rothkirch, »Space as a New Medium of Warfare? Motivations, Technology and Consequences«, Die Durchführung und Einhaltung des Systems wäre durch Contribution for the XV. Amaldi Conference on Global Security, Helsinki 25 – 27 Sept. 2003 ; S.10; Jürgen Scheffran, »Moving Beyond Missile Defense. einen multilateralen Monitoring- und Verifi kationsmechanis- The Search for Alternatives for the Missile Race«, in: INESAP Information mus zu sichern. Bulletin No.18, September 2001, S. 9; aktuelle Vorschläge zur Verhinderung des Wettrüstens im Weltraum wurden vertieft auf den UNIDIR Conferences on Outer Space Security 2003 und 2005, für 2003 s. United Nations Institute 22 Thomas Petermann/Martin Socher/Christine Wennrich: Präventive Rüs- for Disarmament Research, Safeguarding Space for All: Security and Peaceful tungskontrolle bei Neuen Technologien. Utopie oder Notwendigkeit? Büro Uses, 2004. für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag 1997, S. 137.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 225 FORUM | Wolter, Grundlagen »Gemeinsamer Sicherheit« im Weltraum

3.3.2 Verbot der aktiven militärischen Nutzung 3.3.3 Vernichtung bestehender ASAT-Kapazi- zerstörerischer Art täten/Arsenale

Eine Hauptbestimmung des vorgeschlagenen KSWV sollte ein Bestehende ASAT-Systeme haben bisher nur die Fähigkeit, ausdrückliches Verbot aktiver militärischer Nutzungen zerstö- Satelliten im Near-Earth Orbit (NEO) zu bekämpfen. Die stra- rerischer Art im Weltraum sein,23 um damit die notwendige tegisch bedeutsamen Satelliten für Frühwarnung, Navigation vertraglich gesicherte Rechtsklarheit über die Anwendung und Lenksysteme sind alle im geostationären Orbit (GEO) oder des Rechtsgebots der friedlichen Nutzung zu schaffen. Dieser auf anderen High-Earth Orbits stationiert und deshalb noch Grundsatz sollte durch ein explizites Verbot von WRW, na- nicht gefährdet. Allerdings führen NEO-Satelliten wichtige mentlich als Beispiel aufgeführt von ASAT- und BMD-Waffen, Funktionen in Krisensituationen wie insbesondere »photore- connaissance, ocean surveillance and electronic intelligence« konkretisiert werden. Kanada weist zu Recht darauf hin, dass aus. Außerdem lieferten sie wie im Golfkrieg »real-time intel- ohne einen generellen »space weapon ban« auf Grund des Ge- ligence of unprecedented quality to all military operations«. waltverbots künftig im Falle ihrer Stationierung auch WRW Deshalb kann es in einer Krise wegen der Befürchtung »that de facto und de jure geschützt würden. Ein solches Ergebnis the opponent may at any moment strike one’s own satellites« wäre mit dem Allgemeinwohlgrundsatz der Nutzung des Welt- zu einer »irresistable temptation ... to remove such satellites raums nicht vereinbar. In Bezug auf ein Verbot von WRW, from the sky« kommen. Daher ist eine Vernichtung beste- insbesondere eines BMD- und ASAT-Verbots, sind vor allem hender boden- oder luftgestützter ASAT-Systeme nicht nur aus 24 fünf Problemkomplexe zu lösen: Gründen der Kongruenz mit dem Verbot weltraumgestützter (1) Defi nition: Problematik sog. »non-dedicated systems«, also ASAT-Systeme, sondern auch zur Gewährleistung der Sicher- die Abgrenzung von zu verbietenden ASAT-Systemen von zi- heit im Weltraum und der Krisenstabilität unerlässlich. vilen Raumfl ugkörpern, die jedoch missbräuchlich als ASAT- System eingesetzt werden könnten; 3.3.4 Vertrauensbildende Maßnahmen (2) Verifi kation: Besonders wegen möglicher Rest-ASAT-Fähig- keit sog. »non-dedicated systems« ist eine effektive internatio- Wegen ihrer repräsentativen Besetzung sollte den Vorschlägen nale Verifi kation notwendig, einschließlich von Raketenab- der VN-Expertengruppe25 von 1994 mit Regierungsvertretern schussrampen in situ; aus allen Weltregionen ein besonderer Stellenwert als eine der (3) Geltung des Verbots auch im Falle von Feindseligkeiten; Verhandlungsgrundlagen eingeräumt werden. Der KSWV wür- de außerdem die Ausweitung und Verstärkung der Kontroll- (4) verifi zierbare Zerstörung bestehender ASAT-Fähigkeiten. regime von Trägertechnologien für ballistische Raketen und Dies sollte in der Tendenz ergänzt werden durch eine Begren- MVW erleichtern, insbesondere die Regelung des Transfers zung der Anzahl militärischer Satellitenstarts; von sensibler Technologie mit militärischen Verwendungs- möglichkeiten etwa durch Stärkung und Ausweitung des (5) Immunität der Satelliten. Ein ausdrückliches ASAT-Verbot MTCR-Regimes. Der Einsatz von multilateralem Satelliten-Mo- sollte auch nicht-weltraumgestützte Systeme verbieten und so nitoring könnte dazu beitragen, die bisherige Zurückhaltung eine umfassende Sicherheit der friedlich genutzten, insbeson- einer nicht unbeträchtlichen Zahl von potenziellen Träger- dere auch der kommerziellen Satelliten gewährleisten. technologiestaaten, sich solchen Kontrollregimen zu unter- Die Vertragsbestimmung könnte anknüpfend an die Defi ni- werfen, zu überwinden. Dazu wäre insbesondere die Aussicht tion aktiver militärischer Nutzungen zerstörerischer Art wie auf die Möglichkeit des Erwerbs von Hochtechnologie für folgt lauten: zivile Weltraumzwecke, die sich im Rahmen der kooperativen Sicherheitsordnung eröffnen würde, ein starker Anreiz.26 »Die Vertragsparteien verpfl ichten sich, jede Stationierung oder Verwendung eines Objekts im Weltraum oder auf der Erde zu unterlassen, welches zu dem Zweck hergestellt wur- de, bei einem anderen Objekt im Weltraum eine dauernde 3.3.5 Schutzregime für zivile Weltraumobjekte physische Beschädigung durch die Projektion von Masse oder und für passive militärische Nutzungen Energie herbeizuführen, bzw. welches mit dieser Funktion aus- nicht-zerstörerischer Art gestattet wurde. Insbesondere ist die Stationierung von BMD- Die Schaffung eines Immunitätsregimes für zivile Weltraum- und ASAT-Systemen im Weltraum unzulässig.« objekte und Satelliten mit Aufgaben passiver militärischer Art wäre ein wichtiger Bestandteil vertrauensbildender Maßnah- 23 Der ehemalige US-Botschafter für Abrüstung Jonathan Dean unterstreicht in seinem Kommentar zu meinem Buch »Common Security in Outer Space men im Weltraum im weiteren Sinne. Sie ist darüber hinaus and International Law« die Dringlichkeit solcher Maßnahmen wie folgt: »… auch wegen der spezifi sch weltraumrechtlichen Problematik humanity is on the verge of an irreversible shift to active, destructive, military use of outer space, a global revolution in human security which will almost certainly im Zusammenhang mit der unklaren Rechtslage hinsichtlich surpass in signifi cance the introduction of nuclear weapons.« der Zulässigkeit militärischer Nutzungen erforderlich. Durch 24 Theresa Hitchens, Future Security in Space: Charting a Cooperative Course, 2004. Einen Überblick über Weltraumwaffen geben David Wright/Laura Grego/Lisbeth Gronlund, The Physics of Space Security. A Reference Manual, 25 Siehe Fn. 19. 2005, sowie Bruce M. DeBlois/Richard L. Garwin/R. Scott Kemp/Jeremy C. 26 Edmundo S. Fujita, CSBMs in Outer Space: Some Political Considerations, in Maxwell, »Space Weapons. Crossing the Rubicon«, in: International Security, Pericles Gasparini Alves (Hrsg.), CSBMs and Outer Space Activities (UNIDIR Vol. 29, Issue 2, Fall 2004, S. 50. 1995) S. 81.

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die Festlegung des Kreises der unter den Schutz des Immuni- forderlich. Diese könnte – wie grundlegend Jürgen Scheffran31 tätsregimes fallenden Satellitennutzungen würde die dringend ausgeführt hat – zusätzlich auch zur Überwachung des Verbots erforderliche Rechtsklarheit hinsichtlich dieser Nutzungsarten der WRW eingesetzt und durch Inspektionen der Raketenab- geschaffen. Ein Immunitätsregime ist umso mehr erforderlich, schussrampen in situ ergänzt werden. Die für eine »space-to- als durch die »dual-use«-Fähigkeit der meisten Satelliten in ei- space«-Verifi kation eingesetzten Satelliten eignen sich nach ner internationalen Krise befürchtet werden müsste, dass auch Bhupendra Jasani optimal als »multilateral technical means zivile Weltraumobjekte zum Ziel von Beeinträchtigungen bis (MTM)« zur Verifi kation eines Verbots von WRW. Sie könnten hin zu Angriffen durch ASAT-Waffen werden könnten.27 außerdem die bislang fehlende multilaterale Verifi kation des Ein Immunitätsregime für Satelliten, das durch die Fest legung Vertrages über das teilweise Verbot von Nuklearversuchen von von »rules of the road« im Rahmen eines »space code of con- 1963 sicherstellen. Inzwischen haben auch zivile und selbst duct« konkretisiert würde, wäre außerdem ein wichtiger Bei- kommerzielle Satelliten einen technischen Stand erreicht,32 trag zur »Verkehrssicherheit« im erdnahen und im geostati- 33 onären Orbit, deren Regelung insbesondere auch angesichts dass sie für Verifi kationszwecke genutzt werden können. der rapide zunehmenden kommerziellen Satellitenstarts Zudem wird mit der möglichen Verwendung von Satelliten dringend erforderlich wird. Ein wichtiger Bestandteil solcher für internationale Verifi kationsaufgaben, sei es durch eigene Verkehrsregeln wären Bestimmungen über die Einhaltung Verifi kationssatelliten einer internationalen Verifi kationsa- eines bestimmten Sicherheitsabstands sowie weitere Vorkeh- gentur, sei es durch Bereitstellen der Verifi kationsdaten und rungen gegen Kollisionen, welche auch unter Umweltschutz- gesichtspunkten (»space debris«) notwendig sind. Beispielhaft -bilder von nationalen Satelliten, eine generell für bi- und für mögliche Verkehrsregeln sind die Vorschläge von Richard multilaterale Rüstungskontroll-, Nichtverbreitungs- und Abrü- Dalbello28 vom Offi ce of Technology Assessment des US-Kon- stungsverträge wirksame internationale Verifi kation möglich, gresses zu nennen, der folgende Maßnahmen empfi ehlt: die zur Überwachung weiterer Rüstungskontroll- und Nicht-

• new, stringent requirements for advance notice of launch verbreitungsverträge, insbesondere des CWÜ und des NVV, activities; und zur Krisenprävention eingesetzt werden könnte. • »keep-out« zones around satellites; • rights of inspection; • minimum separation distance between satellites; 4. Geeignete internationale Gremien zur Aus- • registration on low-orbit overfl ight; handlung des Abkommens • limitations on high-velocity fl y-bys or trailing; • »hot line« for space activities. Inzwischen hat die Frage der militärischen Nutzung weitrei- chende Bedeutung für künftige Nutzungen des Weltraums ins- gesamt erlangt. Die Auswirkungen eines möglichen Übergangs 3.3.6 Mechanismen zur Durchführungskontrolle: zu aktiven zerstörerischen Nutzungsarten auf die Sicherheit Monitoring und Verifi kation ziviler Nutzungen wären beträchtlich. Vor allem aber macht die große Bedeutung eines solchen Übergangs für die interna- Die Streitfrage der Verifi zierbarkeit eines Verbots von WRW tionale Sicherheit mit Auswirkungen auf die Nuklearstrategie, kann heute als im positiven Sinn geklärt gelten. Bereits in den das Verhältnis von Defensiv- und Offensivenwaffen und das 1980er Jahren ist im Zusammenhang mit den unterschied- lichen Vorschlägen vor allem in der CD für internationale gesamte bi- und multilaterale Rüstungskontroll-, Nichtverbrei- Verifi kationsverfahren, die auf die Mittel der Satellitenauf- tungs- und Abrüstungsregime eine umfassende Behandlung klärung zurückgreifen, u.a. durch zwei VN-Expertenstudien29 der Frage erforderlich. überzeugend die verlässliche Verifi zierbarkeit eines solchen Daher erscheint die Einberufung einer eigenständigen interna- Abkommens nachgewiesen worden.30 tionalen Vertragskonferenz unter VN-Ägide zur Aushandlung Für das Monitoring des vorgeschlagenen Schutzregimes für des KSWV notwendig. In den Verhandlungsprozess sollten zivile Weltraumobjekte wie die Einhaltung der Sicherheitsab- frühzeitig Nichtregierungsorganisationen und Vertreter der stände wäre in jedem Fall eine »space-to-space«-Verifi kation er- 31 Jürgen Scheffran, »Moving Beyond Missile Defense. The Search for Alterna- 27 Bhupendra Jasani, Security – A New Role for Civil Remote Sensing Satellites, tives for the Missile Race«, in: INESAP Information Bulletin No.18, Septem- in: Marietta Benkö/Walter Kröll (Hrsg.), Liber Amicorum Böckstiegel (2001) ber 2001, S. 80. S. 344. 32 Zur zunehmenden Verwendung kommerzieller Satellitenbilder auch für 28 Richard Dalbello, ›Rules of the Road‹: Legal Measures to Strengthen the militärische Zwecke s. Jasani, Commercial Observation Satellites and Verifi - Peaceful Uses of Outer Space, Proc. 28th Colloq. Space Law (1986) S. 8. cation, in: Michael Krepon/Peter D. Zimmerman/Leonard S. Spector/Mary 29 VN-Studie, Fn. 19, S. 41; Frank Cleminson/Pericles Gasparini Alves: Space Umberger (Hrsg.): Commercial Observation Satellites and International Se- Weapons Verifi cation. A Brief Appraisal, in: Serge Sur (Hrsg.) (1992), Veri- curity, New York, N.Y. 1990, S. 144. fi cation of Disarmament or limitation of armaments, UNIDIR, New York, 33 Jasani, Fn. 31, in: Krepon u.a. (Hrsg.), Commercial Observation Satellites S. 177. and International Security (1990), S. 142 und Jasani, Security – A New Role 30 S. kanadisches Arbeitspapier »The Non-Weaponization of Outer Space« v. 5. 2. for Civil Remote Sensing Satellites, in: Marietta Benkö/Walter Kröll (Hrsg.), 2001, Fn. 16, S. 6. Liber amicorum Böckstiegel (2001), S. 345.

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Wissenschaft einbezogen werden. Kanada34 hat am 5.2.2001 der Satellitenfernerkundung einschließlich einer Schiedskom- seinen Vorschlag erneuert, eine Überprüfungskonferenz zum mission zur Streitbeilegung erhalten. Weltraumvertrag mit dem Ziel einzuberufen, ein Ergänzungs- Angesichts der fehlenden Bereitschaft der militärischen Haupt- protokoll über die militärische Nutzung des Weltraums abzu- weltraummacht USA daran mitzuwirken, gingen die Über- schließen. In Anlehnung an diesen Vorschlag könnte auf einer legungen zu Beginn der 1990er Jahre darauf hin, zunächst solchen Konferenz der Vorschlag für einen KSWV als Ausfüh- durch regionale Satellitenzentren (RSMA) die Grundlage für rungsabkommen zum Weltraumvertrag eingebracht werden. ein späteres universelles System zu schaffen. Vor dem Hin- Im Sicherheitsbereich konzentrierten sich die zahlreichen tergrund neuer Verifi kationserfordernisse auf Grund des im Vorschläge einer institutionellen Sicherung der friedlichen November 1990 unterzeichneten KSE-Vertrages gründeten die Nutzung des Weltraums auf die Errichtung von multilateralen WEU-Mitgliedstaaten im Juni 1991 ein regionales Satelliten-

Satellitenagenturen zu Monitoring- und Verifi kationszwecken. zentrum mit Sitz in Torrejon bei Madrid. Dieses heute als eine eigenständige Agentur in die EU überführte Zentrum führt die im ursprünglichen französischen Vorschlag vorgesehenen 4.1 International Satellite Monitoring Agency Aufgaben der Verifi kation im Sicherheitsbereich aus. Gemäß Bereits 1957 schlug Myers S. McDougal die Einrichtung ei- dem »Concept Paper for the WEU Satellite Centre« umfasst der ner internationalen Satellitenagentur vor, bei der jeder Start- allgemeine Auftrag des Zentrums auch »treaty verifi cation, staat einen Satellitenstart anmelden und die Bereitschaft zur arms control and proliferation control«. Das Zentrum hat be- Unterwerfung unter eine internationale Inspektion erklären reits entsprechende Aufgaben unter Rückgriff auf Satelliten sollte, um sicherzustellen, dass die Ausrüstung des Satelliten der ESA und andere kommerzielle Satelliten wahrgenommen. den Angaben bei der Registrierung des Fluges entspräche. Die Es könnte in ein umfassenderes, auch Navigationssatelliten über entsprechende Weltraumtechnologie verfügenden Staa- einschließendes europäisches Satellitensystem mit vielfältigen ten sollten Satelliten im Namen oder als »trustee« der VN, Fernerkundungsaufgaben einmünden, die auch Verifi kations- die dazu eine besondere Agentur gründen sollten, entsenden. und Frühwarnfunktionen übernehmen könnten. Sollten auch Jasani schlug im SIPRI-Jahrbuch von 1973 vor, die Satelliten- andere Regionen – konkrete Pläne dafür bestehen in Latein- fernerkundung für Zwecke der Rüstungskontrollverifi kation amerika und in Asien – ein RMSA entwickeln, könnten diese einzusetzen. Abram Chayes, William Epstein und Theodore Grundlage für die Errichtung einer universellen ISMA bilden. Taylor richteten auf der 26. Pugwash Conference on Science Hashimoto36 sieht zu Recht die erfolgreiche Arbeit des WEU- and World Affairs 1976 einen eindringlichen Appell an die Satellitenzentrums, insbesondere auch bei der Vertragsverifi ka- Weltraummächte, die Möglichkeiten der Datengewinnung aus tion, als Grund, erneut die Errichtung einer ISMA anzugehen. dem Weltraum zur Förderung des internationalen Vertrauens In der CD haben sich eine Reihe von Delegationen37 im Zu- und der internationalen Sicherheit allen Staaten zugänglich zu sammenhang mit dem TOP »Verhinderung eines Wettrüstens machen. Sie sahen darin einen Schlüssel zu Rüstungskontrolle im Weltraum« mehrfach für eine erneute Prüfung des franzö- und Abrüstung. Zu diesem Zweck sollte ein Konsortium von sischen Vorschlags ausgesprochen. Auch auf der bislang letz- zwölf Nicht-Nuklearstaaten aus allen Weltregionen gebildet ten Sitzung des PAROS-Ad-hoc-Ausschusses der CD im Jahre werden, das ein den VN berichtendes »satellite system for the 1994 haben mehrere Delegationen, darunter Deutschland, an- surveillance of the military activities of all countries« einrichten geregt, dem ursprünglichen französischen Vorschlag erneut sollte. näher zu treten. Diese Vorschläge bildeten den Hintergrund für die Initiative Frankreichs anlässlich der ersten Sondersitzung der VN-Ge- 4.2 PAXSAT A und B und International Space neralversammlung zu Abrüstungsfragen zur Errichtung einer Data Centre internationalen Satellitenagentur ( ISMA).35 Sie sollte als Son- derorganisation der VN im Sicherheitsbereich weitreichende Kanada unterbreitete 1986 einen weithin begrüßten Vorschlag Aufgaben des Monitoring und der Verifi kation bestehender zur Schaffung internationaler Verifi kationssatelliten unter und künftiger Rüstungskontrollverträge durch die Nutzung dem Namen PAXSAT A/B und eines International Space Data Centre. Während PAXSAT B für die »space-to-ground« Veri- 34 Kanada, CD/1569 v. 4. 2. 1999 »Proposal concerning CD action on Outer fi kation regionaler konventioneller Rüstungskontrollverträ- Space« sowie »Working Paper: The Non-Weaponization of Outer Space«, revised 5.2.2001, Fn. 16; entsprechend der Empfehlung des Space Law Com- ge eingesetzt werden sollte, sah das PAXSAT A-Konzept die mittee der International Law Association, Report of its 69th Conference, Schaffung von »space-to-space« Verifi kationssatelliten vor, London (2000), S. 592 sollte der Weltraumvertrag von 1967 unverändert bleiben. Der hier entwickelte Vorschlag für ein KSW-Abkommen zielt wie der die vertragsspezifi sch unmittelbar die Einhaltung eines aus- kanadische auf ein selbständiges Abkommen in Ausführung und Ergänzung zuhandelnden multilateralen Abkommens über ein Verbot des Weltraumvertrages im Sicherheitsbereich. Zu vorbereitenden Optionen in der VN-Generalversammlung s. Secure World Foundation, Achieving Space Security. A Preliminary Action Inquiry for a Canadian Campaign to 36 Y. Hashimoto, Multilateral Verifi cation Organizations – Case of WEU Satel- Prevent the Weaponization of Space, Prepared by the Polaris Institute, Febru- lite Centre, S. 264; für eine solche universelle Agentur unter VN-Ägide auch ary 2005, S. 13. U. Ekblad, Prospects of Verifying Space Weapons Treaties, Proc. 35th Colloq. 35 UN Doc. A/S-10/AC.1/7 vom 1. 6. 1978, dazu Simone Courteix, Les »satellites Space Law (1993), 346; J. Ondrej, Some Legal Aspects of Verifi cation in and bleus« au Service de la Paix et du Désarmement, GYIL 24 (1981), S. 224; Roger from Outer Space, Proc. 33rd Colloq. Space Law (1991), 338; Wulf von Kries, J. Dupuy, Les structures et le role d’une agence internationale de satellites de Satellite Verifi cation and European Arms Control, Proc. 33rd Colloq. Space Law controle, AASL 6 (1981), S. 333: Hubert Feigl, Satellitenaufklärung als Mittel (1991), S. 378 tritt für einen »European Security Satellite (EUSECSAT)« ein. der Rüstungskontrolle. Entwicklungsstand und Einsatzmöglichkeiten, in: EA 37 Statement submitted by the Federal Republic of , CD/PV 318 v. 4.7. 34 (1979), S. 535; Hubertus Feigl/Wolfgang Heisenberg/Joachim Krause, Ar- 1985 S. 16; CD/PV 402, S. 11 (Polen); CD 404, S. 11; s. o. Fn. 73; (Sri Lanka); beitspapier: Zum französischen Vorschlag der Errichtung einer Weltagentur CD/PV 460, S. 15 (Pakistan); CD/PV 426 v. 3.7.1987, S. 12 (Australien); CD/PV für Kontrollsatelliten im Rahmen der Vereinten Nationen, SWP (1979). 516, S. 19 (Schweden).

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von WRW überwachen sollten. Dabei sollte es keine dauernde Wissenschaft38 ist sich jedoch einig, dass hundertprozentige Weltraumüberwachung, sondern Inspektionen »on challenge« Sicherheit durch technische Mittel allein nicht zu erreichen ist. geben, die von einer Treaty Specifi c Consultative Authority Ein grundlegender Strategiewechsel mit dem Ziel der Überwin- jeweils im Einzelfall beschlossen werden sollten. Dieser würde dung der Abschreckung durch ein neues Verhältnis von De- ein Data Acquisition and Processing Centre zugeordnet, welches fensiv- und Offensivsystemen ist nur in einem kooperativen die vertraulichen Satellitendaten auswerten würde. Umfeld möglich.39 Das Konzept bildet ein ideales Substrat für einen kooperativen nuklearen Strategiewandel, der allein die 4.3 UN Verifi cation Monitoring Authority Erfüllung der nuklearen Abrüstungsverpfl ichtung gemäß Art. VI NVV ermöglicht und die Menschheit von der Geißel des Die Überlegung, eine globale internationale Abrüstungsorgani- nuklearen Schreckens zu befreien in der Lage wäre. Gemeinsa- sation mit umfassenden Verifi kationsaufgaben unter der Ägide me Sicherheit eröffnet die Perspektive zur Abrüstung, in dem der VN einzurichten, wurde von den beiden Weltraummäch- sie auf allen Seiten eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit her- ten im Rahmen ihrer Vorschläge für eine vollständige und stellen will. In den Worten von Dieter Lutz:40 umfassende Abrüstung Anfang der sechziger Jahre erstmals in der sog. US-Soviet McCloy-Zorin Erklärung unterbreitet. »Gemeinsame Sicherheit verlangt die Ersetzung der Abschreckungs- strategie durch eine Abhaltestrategie unter Verzicht auf Maßnah- »The United States envisaged the establishment of an international men der Präemption und der Vergeltung (insbesondere mit Massen- organization to ensure that all obligations were observed during vernichtungswaffen).« and after implementation of general and complete disarmament; inspectors of the organization would have unrestricted access to all Abschreckung und Gemeinsame Sicherheit sind nicht ver- places necessary for the purpose of effective verifi cation.« einbar. Die Überwindung der Abschreckung erfordert die dras- tische Reduktion der Gefechtsköpfe und der Trägermittel in In dem Maße, in dem das Ziel einer vollständigen Abrüstung einem einvernehmlichen Übergang zu einem neuen strategi- in die Ferne rückte und durch partielle Rüstungskontrollver- schen Verhältnis von Defensiv-/Offensivsystemen. Die ame- träge ersetzt wurde, nahm auch das Interesse an der Idee einer rikanisch-russische Abrüstungsvereinbarung vom 24.5.2002 globalen Abrüstungs- und Verifi kationsorganisation ab. Statt- kann insoweit mangels Verpfl ichtung zur Vernichtung der dessen wurden vertragsspezifi sche Organisationen bevorzugt Nukleargefechtsköpfe und mangels jeglicher Begrenzung von mit der IAEA als ein Hauptpräzedenzfall für den Bereich der Trägermitteln nur ein erster Schritt sein. Insbesondere ist es Überwachung der zivilen Nutzung der Kernenergie. Durch notwendig, durch eine Multilateralisierung der mit NMD ver- die Möglichkeiten der Satellitenfernerkundung und konkret bundenen Fragen der militärischen Nutzung des Weltraums mit dem französischen ISMA-Vorschlag gewann die Idee einer die notwendige Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen umfassenden Verifi kationsagentur wieder an Bedeutung. Mög- der internationalen Gemeinschaft zu gewährleisten. Ein ko- licherweise ist die Zeit gekommen, beide Überlegungsstränge operativer Strategiewandel ist auch Voraussetzung einer akti- zusammenzuführen, so dass die Satellitenfernerkundung in ven Nichtverbreitungspolitik. Ein multilateraler Vertrag über einem ersten Schritt für die globale und zugleich vertragsspezi- Gemeinsame Sicherheit im Weltraum würde den kooperativen fi sche Verifi kation eines Weltraumabkommens als wichtigem Übergang von MAD zu einer »cooperative threat reduction Beitrag zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum und (CTR)« erleichtern, in dem er den Nuklearmächten ermög- zur nuklearen Abrüstung eingesetzt wird. licht, die gegenseitig erforderlichen strategischen Vertrauens- maßnahmen (»strategic reassurance measures«) zu ergreifen 5. »Gemeinsame Sicherheit«, Nuklearstrategie und zu formalisieren. und Raketenabwehr im Weltraum US-Senator Lugar als Mitinitiator von CTR fordert zu Recht eine Globalisierung der »cooperative threat reduction pro- Nuklearstrategisches Ziel der Konzeption der Gemeinsamen grams«. Dies wird erfolgreich nur in einem multilateralen Sicherheit ist, die nukleare Abschreckungsstrategie der »Mu- Rahmen möglich sein. Dies ist auch das Ziel verstärkter eu- tual Assured Destruction« durch »Mutual Assured Security«, ropäischer Anstrengungen zur Multilateralisierung des im also die »gegenseitig gesicherte Sicherheit« zu ersetzen. Damit MTCR-Rahmen erarbeiteten Internationalen Verhaltenskodex verfolgt das Konzept dieselbe Zielsetzung, die ursprünglich gegen die Proliferation ballistischer Raketen (ICoC) durch Ein- von Präsident Reagan im Zusammenhang mit SDI und der ge- beziehung einer größeren Zahl von Trägertechnologiestaaten, genwärtigen von der Bush-Administration mit dem Übergang darunter China, Pakistan, Indien, Iran und Israel. Eine Auswei- zu strategischen Defensivsystemen im Rahmen einer »strate- tung dieser Programme allein genügt jedoch nicht zur Über- gic transition« verbunden werden. Durch eine landesweite windung der Abschreckung. Sie bedarf der Einbettung in ein Verteidigung gegen Nuklearraketen könnten Nuklearwaffen umfassendes System Gemeinsamer Sicherheit. Der vorgeschla- obsolet und damit letztlich auf nukleare Offensivwaffen ver- gene KSWV bildet dafür den geeigneten Rahmen. zichtet werden. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass die Konzeption der Gemeinsamen Sicherheit dies 38 S. Fn. 20. durch Kooperation und Strukturveränderung erreichen will, 39 Michael Krepon, »Moving Away From MAD«, in: Survival 43, 2001, S. 85; Glaser/Fetter, »National Missile Defence and the Future of U.S. Nuclear während die Protagonisten einer weltraumgestützten Raketen- Weapons Policy«, in: International Security No.26, Summer 2001, S. 40; abwehr meinen, dies durch technologische Schritte in Form Lawrence J. Korb/Alex Tiersky: »The end of Unilateralism? Arms Control After September 11«, in: Arms Control Today No. 31, October 2001, S. 3. neuer Defensivsysteme im Weltraum erzielen zu können. Die 40 Lutz, Fn. 8 in: Bahr/Lutz (Hrsg.), S. 54.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 229 DOKUMENTATION

DOKUMENTATION

50 Jahre Bundeswehr, 50 Jahre »Innere Führung«: Anlass zu Refl exion und Reform Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« am IFSH

1. Die Bundeswehr feiert ihr 50-jähriges Bestehen. 50 Jahre 5. Politische Bildung in den Streitkräften stellt ein zentrales Bundeswehr bedeuten auch 50 Jahre »Innere Führung«. Mit Element der Inneren Führung dar. Sie zielt darauf ab, das diesem Konzept sollte, die Ergebnisse der deutschen Geschich- demokratische Selbstverständnis der Frauen und Männer in te vor Augen, der traditionelle Gegensatz zwischen dem Mi- Uni form zu entwickeln und zu fördern, die unbedingte Be- litär und einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft auf- achtung der Menschenrechte sowie des Völker- und Kriegs- gehoben und die Geltung staatlicher und gesellschaftlicher völkerrechts zu unterstützen, Respekt vor anderen Kulturen Werte und Normen auch in den Streitkräften sichergestellt zu vermitteln, das Verständnis von Konfl iktlagen zu erwei- werden. Das visionäre Leitbild dieser Militärreform von Wolf tern und vieles mehr. Insofern begründet sie ganz wesentlich Graf Baudissin seit dem Jahr 1950 konzipiert war der »Staats- das soldatische Selbstverständnis mit. Indes wird seit Jahren, bürger in Uniform«. wenn nicht Jahrzehnten der desolate Zustand der Politischen Bildung in der Bundes wehr beklagt. Die Folgen zeigen sich 2. Von Anfang an jedoch erfuhr diese Reform grundsätzliche unter anderem darin, dass insgesamt sowohl im Offi ziers- als Ablehnung durch tradi tio na lis tische Gegenpositionen in der auch im Unteroffi zierskorps der Bundeswehr ein bemerkens- Bundeswehr. Der so genannte Gründungs kom promiss von werter Mangel an staatsbürgerlicher Allgemeinbildung und Himmerod im Oktober 1950 sah daher auch schon massive politischer Urteilskraft anzutreffen ist. Dies ma nifestiert sich substanzielle Abstriche an der ursprünglichen Intention vor; in der weiten Verbreitung nationalistischen, konservativ-re- der Reform kam eigentlich nur noch eine Randbedeutung zu. aktionären Ge dankengutes, der unrefl ektierten Huldigung des Entsprechend ambivalent verlief die weitere Geschichte der Kämpferkults bis hin zu rechtsradikalen Vorfällen. Daher ist Bundeswehr. Heute, ein halbes Jahrhundert später, muss man die Politische Bildung in der Bundeswehr dringend zu verbes- alles in allem erkennen, dass der ursprüngliche Anspruch nur sern. Da sie speziell im Hinblick auf die neue Rolle und Funk- unvollständig eingelöst werden konnte und in ganz wesent- tion der Bundeswehr für die Auftragserfüllung entscheidend lichen Punkten sogar gescheitert ist. Das Verständnis von In- ist, muss ihr der gleiche Stellenwert beigemessen werden wie nerer Führung ist in der Bundeswehr häufi g beliebig auf allen der übrigen Einsatzausbildung. Die Kommission empfi ehlt Ebenen. Zumeist wird sie auf eine rein formale, zwischen- daher, den für die Politische Bildung vorgesehenen Zeit- menschliche Führungs- und Motivationstechnik reduziert. und Ressourcenansatz erheblich zu erhöhen. Indes, für eine entwickelte Demokratie ist das zu wenig. 6. Unter allen militärischen Normen ist das Prinzip von Befehl 3. Die deutschen Streitkräfte haben gerade in den letzten und Gehorsam wohl die schwerwiegendste Beeinträchtigung Jahren viele Veränderungen erfahren. Die Innere Führung individueller Freiheitsrechte und demokratischer Werte. Zwar jedoch kam dabei zu kurz, obwohl sie für die de mokratische leuchtet es unmittelbar ein, dass militärische Effektivität nicht Integration der Bundeswehr von zentraler Bedeutung ist. Sie auf Befehl und Gehorsam verzichten kann; gleichwohl muss besitzt noch immer nicht den Stellenwert, den sie ursprüng- die Frage gestellt werden dürfen, ob seine heutige Ausgestal- lich haben sollte. Daher ist heute wieder eine grundlegende tung auch wirklich immer notwendig und gerechtfertigt ist. und umfassende Militärreform notwendig, um Norm und Wer dieses Prinzip als Tabu betrachtet, nimmt von vornherein Realität in eine neue Balance zu bringen. in Kauf, dass Innere Führung Makulatur bleibt. Der Einwand, 4. Der »Staatsbürger in Uniform« ist auch heute kaum mehr als das geltende Befehlsrecht müsse schon deshalb unantastbar eine Fiktion, denn Selbstbestimmung und Eigenver antwortung, bleiben, weil es im militärischen Einsatz schließlich um Leben die dieses Leitbild impliziert, sind im militärischen Alltag nach und Tod gehe, ist zu undifferenziert und kann nicht überzeu- wie vor eher unterbewertete und im Grunde ungeliebte, wenn gen. Auch Gehorsam war schon oft tödlich, und es ist eine nicht unerwünschte Eigenschaften. Stattdessen setzt man wei- keineswegs leicht zu beantwortende Frage, wann in der Ge- terhin auf zwangsrekrutiertes, zwangskaserniertes, mit zahl- schichte des Militärs Gehor sam oder Ungehorsam das größere reichen antiquierten Normen traktiertes und bevormundetes Unglück war. Es muss sich auch innerhalb von Streitkräften Personal, das man »disziplinieren« und »erziehen« zu müssen die Einsicht durchsetzen, dass die Berufung auf einen Befehl glaubt. Die Kommission empfi ehlt daher eine Umkehr auf allein als Rechtfer ti gung für das eigene Handeln niemals aus- allen Feldern der Personalpolitik und die Abschaffung der reichend ist. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Wehrpfl icht als ersten wichtigen Schritt zur Überwindung Juli dieses Jahres, das die Gewissensfreiheit des Soldaten über dieses antiquierten Soldatenbildes. seine Ge horsamspfl icht stellt, bestärkt uns in dieser Auffas-

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sung. Die Kommission empfi ehlt da her, das anachronis- der Äußerungen von Soldatinnen und Soldaten in der Öf- tische Befehlsrecht für die Bundeswehr zu modernisieren, fentlichkeit zu verordnen, dort eher Misstrauen erregen, den Vorgesetztenbefugnisse sachgemäß zu beschneiden und Verdacht erwecken, etwas verheim lichen oder das Publikum dabei auch demokratiekonformere Einzelregelungen eu- hinters Licht führen zu wollen, und somit die Institution des ropäischer Partner zu übernehmen: Zum Beispiel sollten Militärs eher als Fremdkörper in der demokratisch-plurali- wie etwa in den britischen, französischen und niederlän- stischen Gesellschaft erschei nen lassen. Als Lackmustest für dischen Streitkräften sämtliche unrecht mä ßigen Befehle die demokratische Reife und politische Kultur der Institution für die Soldatinnen und Soldaten stets auch unverbindlich Bundeswehr erweist sich der Umgang mit Kritikern gerade in- sein. nerhalb der Streitkräfte. Meinungsfreiheit darf hier nicht miss- 7. Auch das Personalauswahlsystem der Bundeswehr legte in interpretiert werden als die Freiheit, öffentlich die Meinung den vergangenen Jahrzehnten aus demokratischer Perspek- des Bundesministeriums der Verteidigung vertre ten zu dürfen. tive manche gravierenden Defi zite offen. Abwertende Äu ße- Daher fordert die Kommission, dass jeder Angehörige der rungen von hohen und höchsten Militärs über das Konzept Bundeswehr als Indikator für deren demokratisches, libe- der Inneren Führung ziehen sich wie ein roter Faden durch rales Selbstverständnis ohne Angst vor Repressalien auch die 50-jährige Geschichte der Bundeswehr – eine Provokation abweichende Positionen vertreten kann. für jeden Demokraten. In den 1960er Jahren verkündete der 9. Schließlich könnte noch die Frage gestellt werden, ob sei- damalige »Beauftragte des Generalinspekteurs für Erziehung nerzeit der Begriff »Staatsbürger in Uni form« wirklich ganz und Ausbildung«, Freiheit und Demokratie seien »keine letz- glücklich gewählt worden ist oder nicht bereits selbst eine ten Werte«. Und erst kürzlich bewertete der Kommandeur des falsche Akzentuierung ent hält. Dass Soldatinnen und Soldat »Kommandos Spe zialkräfte« die Innere Führung als »unglück- eine spezifi sche Arbeitskleidung tragen und im Einsatz als liche Konstruktion«. Selbst wenn man unterstellt, dass diese Kombattanten erkennbar sein müssen, ist aus demokratiethe- Generale nicht gerade wegen, sondern trotz derartiger Einstel- oretischer Perspektive nicht gerade von alles überragender Be- lungen in ihre Ämter gelangt sind, so bleiben solche Positi- deutung. Im Sinne der Inneren Führung ist vielmehr auch onen inakzeptabel. Die Kommission empfi ehlt daher, der der Soldat Staatsbürger ohne Abstriche, »Staatsbürger ohne Inneren Führung einen signifi kant höheren Stellenwert im Wenn und Aber«. Ausbildungs- und vor allem im Aus wahlsystem der deut- schen Streitkräfte einzuräumen. 10. Innere Führung bleibt eine permanente politische Auf- 8. Meinungsfreiheit ist nach Auffassung des Bundesverfas- gabe; sie ist Bestandteil des demokratischen Prozesses. In der sungsgerichts »als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Demokratie herrscht in dieser Hinsicht immer Handlungs- Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Men- bedarf für den verantwortlichen Minister, das Parlament, den schenrechte überhaupt«. Das gilt auch für die militärische Wehrbeauftragten. In nere Führung braucht ein stärkeres Ge- Binnenkultur. Der Grad der Integration der Bundeswehr in wicht innerhalb des Bundesverteidigungsministeriums. Sie die demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung spiegelt kann auch nicht durch die Filter verschiedener militärischer sich demnach auch darin wider, inwieweit öffentlich geführte Hierarchieebenen hindurch effektiv wahrgenommen werden, Debatten auch in der Bundeswehr ihren Platz haben. Je mehr sondern muss strukturell durchgreifend an gelegt sein. Die Soldatinnen und Soldaten über essenzielle Themen der Sicher- Kommission fordert daher nachdrücklich die Bestellung heit in gleichermaßen kontroverser Manier diskutieren wie einer bzw. eines mit den dazu erforderlichen Befugnissen die zivile Öffentlichkeit auch, desto eher ist die Bundeswehr ausgestatteten Beauftragten für Innere Führung im Vertei- in die kommunikative Lebenswelt aller Bürger integriert. Um- digungsministerium als deutliches politisches Signal für gekehrt gilt, dass Versuche der politischen Leitung und militä- das auch nach 50 Jahren notwendige Bemühen um mehr rischen Führung, von oben Homogenität und Einheitlichkeit Demokratie in den deutschen Streitkräften.

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 231 NEUERSCHEINUNGEN

NEUERSCHEINUNGEN

Jochen Stahnke

1. Völkerrecht/Vereinte 2. Abrüstung/Rüstungskon- Perkovich, George: Universal Götze, Catherine: Rudimentäre Nationen trolle/Militär/Verteidi- compliance. A strategy for Zivilgesellschaften. Das Rote gung nuclear security. Washington Kreuz auf dem Balkan. Mün- Boswell, Christina: The ethics (Carnegie Endowment for In- ster (LIT) 2005. of refugee policy. London Bonn International Center for ternational Peace) 2005. (Ashgate) 2005. Conversion (BICC) (Hrsg.): Hansen, Lene: Security at prac- Schmitt, Burkard (Hrsg.): Ef- tice. Discourse analysis and Brenninkmeijer, Oliver A.J.: The Conversion survey 2005. Glo- fective non-proliferation. the Bosnian war. London OSCE High Commissioner on bal disarmament, demilitari- The European Union and the (Routledge) 2005. National Minorities: Negotiat- zation and demobilization. 2005 NPT review conference. ing the 1992 confl ict preven- Baden-Baden (Nomos) 2005. Iyob, Ruth / Khadiagala, Gilbert Paris (Inst. For Security Stu- tion mandate. Genf (PSIO M.: Sudan: the elusive quest Borrie, John / Randin, Vanes- dies) 2005. for peace. Baden-Baden (No- occasional papers) 2005. sa Martin (Hrsg.): Alternative Terzuolo, Eric: NATO and wea- mos) 2005. Cheru, Fantu / Bradford, Colin: approaches in multilateral pons of mass destruction. Re- The millennium development decision making. Disarma- Ju, Jin-Sook: Tschetschenien- gional alliance, global threats. goals. Raising the resources to ment as humanitarian action. krieg und nationalistischer London (Routledge) 2005. tackle world poverty. London Genf (UN Institute for Disar- Diskurs in Russland am Bei- (Zed Books) 2005. mament Research) 2005. Whitby, Simon M.: Biocontrol spiel von KPRF und Jabloko. agents and plant inoculants. Bremen (Forschungsstelle Cole, David: Enemy aliens. Brown, Frederic J.: Chemical Implications for strengthe- Osteuropa) 2005. Double standards and consti- warfare. A study in restraints. ning the BTWC. Bradford tutional freedoms in the war Kramer, Helmut / Džihi´c, Ve- Somerset (Transaction) 2005. (Department of Peace Studies, on terrorism. New York (The dran: Die Kosovo-Bilanz. Dobson, Andrew / Huysmans, Univ. of Bradford) 2005. New Press) 2005. Scheitert die internationale Jef / Prokhovnik, Raia: The po- Wulf, Herbert: Internationa- Gemeinschaft? Münster (LIT) Fernandéz-Sánchez, Pablo An- litics of protection. Sites of in- lisierung und Privatisierung 2005. tonio (Hrsg.): The new chal- security and political agency. von Krieg und Frieden. Ba- Kübler, Elisabeth: Antisemi- lenges of humanitarian law London (Routledge) 2005. den-Baden (Nomos) 2005. in armed conflicts. Leiden tismusbekämpfung als ge- (Martinus Nijhoff) 2005. Feichtinger, Walter / Hainzl, samteuropäische Herausfor- Gerald: Krisenherd Nordost- derung: eine vergleichende 3. Nationalismus/ethnische Geiß, Robin: Failed states. Die afrika. Internationale oder Analyse der Maßnahmen der normative Erfassung geschei- Konfl ikte afrikanische Verantwortung? OSZE und der EUMC. Wien terter Staaten. Berlin (Dunk- Baden-Baden (Nomos) 2005. Batt, Judy: The question of (LIT) 2005. ker & Humblot) 2005. Serbia. Paris (Inst. For Securi- Gardner, Hall: American glo- Shatzmiller, Maya (Hrsg.): Hilger, Ewelina: Präemption ty Studies) 2005. bal strategy and the »war on Nationalism and minority und humanitäre Intervention terrorism«. London (Ashgate) Colas, Alejandro / Saull, identities in Islamic societies. – gerechte Kriege? Frankfurt Richard: The war on terrorism 2005. Montreal (McGill-Queen’s a.M. (Peter Lang) 2005. and the American »empire« Univ. Press) 2005. Geis, Anna: Den Krieg über- Meißner, Philipp: The Interna- after the Cold War. London denken. Kriegsbegriffe und tional Criminal Court contro- (Routledge) 2005. Kriegstheorien in der Kontro- versy: an analysis of the Uni- Ehrhart, Hans-Georg / Jo- 4. Europa/EU/Osterweite- verse. Baden-Baden (Nomos) ted States’ major objections hannsen, Margret (Hrsg.): rung 2005. against the Rome Statute. Herausforderung Mittelost: Ahrens, Geert-Hinrich: Die Prä- Münster (LIT) 2005. Übernimmt sich der Westen? Hunger, Iris: Biowaffenkon- sidentschaftswahlen in der Baden-Baden (Nomos) 2005. Kocks, Alexander: The fi nanc- trolle in einer multipolaren Ukraine: die schwierige Mis- ing of UN peace operations – Welt. Zur Funktion von Ver- Flint, Julie / De Waal, Alex: sion der OSZE/ODIHR-Wahl- an analysis from a global pub- trauen in internationalen Darfur. A short history of a beobachter (August 2004 bis lic good perspective. Duisburg Beziehungen. Frankfurt a.M. long war. London (Zed Books) Januar 2005). Bonn (Zentrum (INEF report; 78) 2005. (Campus) 2005. 2005. für Europäische Integrations- forschung; C 151) 2005. Pouligny, Béatrice: Peace ope- Kuper, Jenny: Military train- Gberie, Lansana: A dirty war rations from below. UN missi- ing and children in armed in West Africa. The RUF and Hänggi, Heiner / Tanner, Fred: ons and local people. London conflict. Leiden (Martinus the destruction of Sierra Le- Promoting security sector go- (Hurst) 2005. Nijhoff) 2005. one. London (Hurst) 2005. vernance in the EU’s neigh-

232 | S+F (23. Jg.) 4/2005 NEUERSCHEINUNGEN

bourhood. Paris (Inst. For Se- na’s new role in the interna- Peter, Rudolf: George W. ger Beiträge zur Friedensfor- curity Studies) 2005. tional community. Challeng- Bushs außenpolitische Strate- schung und Sicherheitspoli- es and expectations for the gie. Berlin (SWP) 2005. tik; 139) 2005. Hurrelmann, Achim: Verfas- 21st century. Frankfurt a.M. sung und Integration in Eu- Schreiber, Wolfgang (Hrsg.): Irwin, Douglas A.: Free trade (Peter Lang) 2005. ropa. Wege zu einer supranati- Das Kriegsgeschehen 2004. under fi re. Princeton (Prince- onalen Demokratie. Frankfurt Behrens, Kai: Prioritätenwech- Daten und Tendenzen der ton Univ. Press) 2005. a.M. (Campus) 2005. sel in der deutschen Außen- Kriege und bewaffneten Kon- Künzler, Daniel: Wo die Ele- politik? Frankfurt a. M. ( Peter fl ikte. Wiesbaden (VS-Verlag) Lindstrom, Gustav: EU-US bur- fanten tanzen, leidet das Gras. Lang) 2005. 2005. densharing: who does what? Staat und Entwicklung in Paris (Inst. For Security Stu- Biddle, Stephen D.: American Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.): Afrika. Münster (LIT) 2005. dies) 2005. grand strategy after 9/11. An Governance-Forschung: Ver- Riel, Raphael van: Gedanken assessment. Carlisle (Strategic gewisserung über Stand und Olcott, Martha Brill: Central zum Gewaltbegriff: drei Per- Studies Institute) 2005. Entwicklungslinien. Baden- Asia’s second chance. Bristol spektiven. Hamburg (Uni- Baden (Nomos) 2005. (University Presses Marke- Böckernförde, Stephan (Hrsg.): versität Hamburg, IPW, For- ting) 2005. Chancen der deutschen Au- schungsstelle Kriege, Rüstung Rieker, Pernille: Europeani- ßenpolitik: Analysen – Per- und Entwicklung) 2005. spektiven – Empfehlungen. 6. Sonstiges sation of national security Schlichte, Klaus: Der Staat in Dresden (TUDpress Verlag der identity. The EU and the Alemann, Ulrich von: Dimen- der Weltgesellschaft. Poli- Wissenschaften) 2005. changing security identities sionen politischer Koopera- tische Herrschaft in Asien, of the Nordic states. London Engel, Ulf / Jakobeit, Cord / tion: Beiträge zum Stand der Afrika und Lateinamerika. (Routledge) 2005. Mehler, Andreas / Schubert, internationalen Forschung. Frankfurt a.M. (Campus) Williams, Michael J.: On mars Gunter (Hrsg.): Navigieren in Wiesbaden (VS-Verlag) 2005. 2005. der Weltgesellschaft. Fest- and venus. Strategic culture Bleiker, Roland: Divided Korea. Singh, Kavaljit: Questioning schrift für Rainer Tetzlaff. as an intervening variable in Toward a culture of reconcili- globalization. London (Zed Münster (LIT) 2005. US and European foreign po- ation. Minnesota (Univ. of Books) 2005. licy. Münster (LIT) 2005. Herring, Eric / Rangwala, Glen: Minnesota Press) 2005. Tschopp, Edith / Wagen, Eve- Iraq in fragments. The occu- Gießmann, Hans Joachim / line (Hrsg.): Verletzungen. Ein pation and its legacy. London Schneider, Patricia (Hrsg.): Lehrmittel zum Nachschla- 5. Außen- und Sicherheits- (Hurst) 2005. Akademisches Netzwerk gen über Menschenrechte, politik allgemein Hubel, Helmut: Weltpolitische Südosteuropa: Konzept und Diskriminierung und Rassis- Assmann, Hans-Dieter / Filseck, Konfl ikte. Eine Einführung. Masterarbeiten 2002/2003. men. Zürich (Verlag Rüegger) Karin Moser von (Hrsg.): Chi- Baden-Baden (Nomos) 2005. Hamburg (IFSH, Hambur- 2005.

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Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht 30 Militärische Terrorismusbekämpfung unter dem Regime der UN-Charta

Christian Meiser/Christian von Buttlar Militärische Terrorismusbekämpfung Von RiLG Dr. Christian Meiser, Saarbrücken und unter dem Regime der UN-Charta Dr. Christian von Buttlar, Universität des Saarlandes 2005, 104 S., brosch., 22,– €, ISBN 3-8329-1650-4 (Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht, Bd. 30)

Die Autoren untersuchen die völkerrechtlichen Voraussetzungen für militärische Maßnahmen gegen den Internationalen Terrorismus. Im Schwerpunkt werden der Umfang des staatlichen Rechts zur Selbstverteidigung sowie die kollektiven Maßnahmen der Vereinten Nationen seit Nomos den Anschlägen vom 11. September 2001 behandelt.

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S+F (23. Jg.) 4/2005 | 233 ANNOTATIONEN

ANNOTATIONEN

– Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegs- war ohne realen Hintergrund, stellte aufgegriffen. Ebenso ließen sich nam- propaganda, Springe (zu Klampen Ver- jedoch für die Alliierten einen »Glücks- hafte Maler, Karikaturisten und sogar lag) 2004. fall« dar, so der Brite Lord Esher im Komponisten für die Ziele der Kriegsbe- Rückblick, »der sich genau zum rich- richterstattung einspannen. Auf deut- Anne Morellis Auseinandersetzung mit tigen Zeitpunkt ereignete, um die Ein- scher Seite veröffentlichten 93 Vertre- den Mechanismen der Kriegspropa- heit der Nation sowie die der Regierung ter aus Kunst und Wissenschaft den ganda baut auf Lord Arthur Ponsonbys sicherzustellen«. Auch in der amerika- 1928 erschienenem Werk »Les faussaires nischen und italienischen Debatte über »Aufruf an die zivilisierte Welt«, der als à l’oeuvre en temps de guerre« auf, das einen möglichen Kriegseintritt erlangte Replik auf die Propaganda der Alliierten im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg der Bericht große Bedeutung. Weitere dem Reich unbedingten Friedenswillen zehn zentrale Prinzipien der informati- Meldungen von einem gekreuzigten bescheinigt und der Gegenseite Feigheit onellen Beeinfl ussung zu Kriegszeiten kanadischen Soldaten, gezielten Bom- und Grausamkeit vorwirft. Im Zweiten herausarbeitet. Morelli untersucht jede bardements auf Krankenhäuser und Kir- Weltkrieg kam als zusätzliches Element dieser zehn Prinzipien separat und ver- chen sowie brutalster Vergewaltigungen die öffentlichkeitswirksam inszenierte sucht dabei aufzuzeigen, dass sie für kleiner Mädchen fanden auf deutscher Unterhaltung der Frontsoldaten durch alle – »heißen« und »kalten« – moder- Seite Entsprechung in Berichten über Stars der Film- und Musikszene hinzu, nen Konfl ikte Gültigkeit haben. von Franzosen mit Pest- und Cholera- sowie zu Zeiten des Kalten Krieges der Als erstes Ponsonby-Prinzip formu- bazillen verseuchte Brunnen sowie ei- bewusste Einsatz von Comics und Fil- liert Anne Morelli: »Wir wollen keinen nen im Aachener Krankenhaus eigens men für die Ziele der Propaganda. Und Krieg.« Vor dem Ersten Weltkrieg wur- für deutsche Soldaten eingerichteten de von allen Parteien einhellig betont, Saal, denen die Augen ausgestochen wiederum fand auch dieses Ponsonby- der Ausbruch des Konfl ikts entspreche worden waren. Auch in den Kriegen der Prinzip bis in die allerjüngste Geschich- nicht ihren Absichten, sondern laufe jüngsten Geschichte spielte diese Strate- te hinein seine Anwendung; anders im Gegenteil ihrem tiefsten Friedens- gie, der Gegenseite besonders grausame als kritische Stellungnahmen fand im Verbrechen zu unterstellen, eine große willen zuwider. Das gleiche Bild ergibt Februar 2002 ein von sechzig amerika- Rolle. So trug im zweiten Golfkrieg die sich auch im Zweiten Weltkrieg. Am nischen Intellektuellen unterzeichneter 2. September 1939 führt der franzö- Meldung, irakische Soldaten hätten offener Brief ein großes mediales Echo, sische Ministerpräsident Edouard Dala- kuweitische Säuglinge aus ihren Brut- der das »Recht, ja sogar die Pfl icht« zum dier vor dem Parlament aus: »Ich kann kästen gerissen, maßgeblich dazu bei, guten Gewissens behaupten, rastlos, bis in der amerikanischen Öffentlichkeit Afghanistankrieg betonte. die Unterstützung für die Interventi- zur letzten Minute, gegen den Krieg an- Anne Morelli hält die zehn, hier exem- gekämpft zu haben.« Diese auf Seiten on zu sichern. Verbrechen der eigenen plarisch vorgestellten, Ponsonby-Prin- der Alliierten zu erwartende Darstellung Kriegspartei werden hingegen systema- zipien nicht für ein historisches Phäno- fi ndet sich ebenso bei den Achsenmäch- tisch in allen Konfl ikten als »Versehen« ten. Unmittelbar nach dem Angriff bezeichnet und ihre Wiederholung auf men, sondern geht davon aus, dass sie auf Polen erklärt Adolf Hitler vor dem die »Nervosität« der durch die gegne- auch in zukünftigen Konfl ikten – evtl. deutschen Reichstag seinen Entschluss, rische Kriegspartei gezielt provozierten sogar gezielt eingesetzt – ihre Gültig- »dafür zu sorgen, dass im Verhältnis Soldaten zurückgeführt. keit haben werden. Die in Demokratien Deutschlands zu Polen eine Wendung Als achtes wird das Prinzip »Unsere zwingend erforderliche Zustimmung eintritt, die ein friedliches Zusammen- Sache wird von Künstlern und Intel- der Bevölkerung zu bewaffneten Aus- leben sicherstellt«. lektuellen unterstützt« dargestellt. Die einandersetzungen erhöht in ihren Das fünfte Kapitel trägt die Überschrift: besondere Stellung von Künstlern und Augen die Notwendigkeit zur propa- »Der Feind begeht mit Absicht Grau- Intellektuellen in der Gesellschaft wur- gandistischen Beeinfl ussung noch zu- samkeiten. Wenn uns Fehler unterlau- de immer von kriegführenden Parteien sätzlich. Daher erwartet Morelli – auch benutzt, um ihre Propaganda besonders fen, dann nur versehentlich.« In allen wenn Medienberichten zunehmend mit modernen Kriegen war es Strategie der glaubwürdig und nachdrücklich zu ver- Skepsis begegnet werde – für die Kriege Berichterstattung, den Gegner beson- breiten. Besonders im Ersten Weltkrieg, der Zukunft weiterhin die erfolgreiche ders brutaler Gräueltaten zu bezich- als die professionelle Werbung noch in tigen. Herausragendes Beispiel ist die den Kinderschuhen steckte, war dies Anwendung der von ihr dargestellten im Ersten Weltkrieg von den Alliierten von besonderer Bedeutung; so wurde Propaganda-Mechanismen. verbreitete Meldung, deutsche Soldaten der Bericht von den verstümmelten hätten Dutzenden belgischer Säuglinge belgischen Kindern vielfach in Gedicht- die Hände abgehackt. Diese Nachricht form gefasst und als literarisches Motiv Bernhard Klingen

234 | S+F (23. Jg.) 4/2005 BESPRECHUNGEN

BESPRECHUNGEN

Götz Neuneck/Christian Möl- vorgenommen. Aufgeteilt dass das Rüstungskontrollver- mit der Volksrepublik China ling (Hrsg), Die Zukunft der in vergleichsweise kurze Ar- halten einzelner Staaten maß- auseinander, während dem Rüstungskontrolle, Baden- tikel, hat das fast 400 Seiten geblich von deren politischer Nahen und Mittleren Osten Baden (Nomos) 2005. starke Buch den Charakter Kultur geprägt wird, wenig durch Margret Johannsen eines Nachschlagewerks – für überrascht, ist ihre Erklärung, sowie der Zone von Südasien Die Geschichte der Rüstungs- Neulinge ebenso wie für Fort- warum autoritäre Regime im über Südostasien bis Ost asien kontrolle bis zu ihren An- geschrittene. Entsprechend Kantschen Friedensbund ih- durch Christopher Daase und fängen zurückzuverfolgen, soll hier nicht auf jeden der ren Platz haben, durchaus Susanne Feske jeweils nur ein würde eine Zeitreise um 25 Beiträge en detail einge- einen zweiten Blick wert. Artikel gewidmet ist. Eine Ent- mehrere tausend Jahre in die gangen, sondern eher die Theoretisch weniger ausge- zerrung wäre hier besser ge- Vergangenheit. Das Exempel Gesamtkomposition in den feilt, aber dafür sehr solide ist wesen: Während Johannsen Papst Innozenz II., welcher Fokus gerückt werden. der nachfolgende Aufsatz, der von Kleinwaffenproblematik 1139 per Konzilbeschluss den von den Herausgebern selbst bis zu Massenvernichtungs- Diese Fülle an Informationen Einsatz der Armbrust gegen verfasst wurde: Er gibt einen waffen (MVW) das gesamte erweist sich jedoch zugleich Christen verbieten ließ, wäre Überblick über das Gleichge- Themenspektrum in einem als größtes Hindernis. Die damit fast ein neuzeitliches wicht des Schreckens, die er- Artikel unterzubringen sucht, Artikel sind meist unter 20 Beispiel. Jedoch gelangte sie folgreiche »Rüstungskontroll- können Daase und Feske viele Seiten lang, beziehen sich erst im 20. Jahrhundert zur dekade« von 1987 bis 1997 einzelne Themen nur ober- jedoch auf Themen, die vollen »Blüte«, als Atomwaf- sowie den gegenwärtigen fl ächlich behandeln. Es folgt ohne ihren Kontext nicht fen nicht mehr nur die Nie- Stand verschiedener Verträge. ein Überblick über die Arbeit verstanden werden können. derlage im Krieg, sondern die Als Abrundung folgt aus völ- von UNSCOM und UNMO- Beispielhaft dafür ist die Auslöschung der Menschheit kerrechtlicher Perspektive der VIC von Jan van Aken sowie gegenwärtige Haltung der als Ganzes bedeuten konnten. Text Thilo Marauhns, welcher einem Beitrag von Thomas Doch auch im 21. Jahrhundert Bush-Administration zur Rü- statt für beständig neue Initia- Gebauer, inwieweit nicht- hat sie ihre Bedeutung nicht stungskontrolle, die sich in tiven für eine Ausschöpfung staatliche Akteure an inter- verloren: Der vorgeblich um vielen Artikeln wiederholt und Konsolidierung der vor- nationaler Rüstungskontroll- Abrüstung und Entwaffnung und damit den beschränkten handenen Verträge plädiert. politik teilnehmen können. geführte Krieg gegen den Irak, Platz weiter verkürzt. Wer Die beiden abschließenden das Besorgnis erregende Ver- nur einmal kurz etwas nach- Artikel stammen von Jens Während verschiedene inter- halten Nordkoreas und des schlagen will, wird zwar froh Zimmermann und Hans-Jür- nationale Organisationen wie Iran sowie die Bereitschaft darüber sein, doch wer einen gen Hugenschmidt, rangho- die Organisation zum Verbot von Terroristen, massenhaft der fünf Abschnitte komplett hen Offi zieren des Zentrums Chemischer Waffen (OVCW) Tod und Leid zuzufügen, sind liest, wird viele Zeilen einfach für Verifi kationsaufgaben der im folgenden Abschnitt »Rü- nur einige Beispiele. überspringen können. Bundeswehr (ZVBw), und stungskontrolle und Mas- beleuchten sowohl den deut- senvernichtungswaffen« be- Diesen Tatbestand im Hinter- Was die Abschnitte im Ein- schen Beitrag zur Verifi kation schrieben werden, fehlt es kopf, haben Götz Neuneck zelnen betrifft, so beschäf- als auch Möglichkeiten von merkwürdigerweise an einer und Christian Mölling eine tigt sich Abschnitt 1, der Rüstungskontrolle als Krisen- Darstellung der Internatio- beeindruckende Schar von den nüchternen Titel »Die management. nalen Atomenergiebehörde mehr als dreißig deutschen Lage und die Zukunft der Rü- (IAEO) und ihrer Arbeit. Die- wie internationalen Exper- stungskontrolle« trägt, mit Gab der 1. Abschnitt noch ser Mangel wird im ganzen tinnen und Experten zusam- den Grundlagen der gegen- ein relativ ausgeglichenes Buch nicht aufgehoben, ob- mengeführt, um die Perspek- wärtigen Rüstungskontroll- Bild verschiedener Perspekti- wohl Nuklearwaffen einen tiven der Rüstungskontrolle situation. Es handelt sich ven, ist der 2. Abschnitt nicht Schwerpunkt des Buches bil- auszuloten. Dankenswerter- auch um den theoretischsten ganz so kohärent. Unter »In- den. Dies zeigt sich besonders weise haben die Autoren, zu Abschnitt des Buches und ternationale Akteure und ihr am 3. Abschnitt, in welchem denen neben namhaften Wis- ermöglicht damit einen Rüstungskontrollverhalten« vier von sechs Artikeln sich senschaftlern auch Bundes- abstrakten Einstieg in das kann man sich viel vorstel- dem Thema Kernwaffen wid- tagsabgeordnete, Botschaf- Thema. Harald Müller und len, und dieser Rahmen wur- men. ter, Generäle und Mitglieder Una Becker legen dabei den de auch ausgeschöpft. So von Nichtregierungsorgani- Schwerpunkt auf das Theo- behandeln Ulla Jaspers und Den Anfang machen Wolf- sa tionen gehören, auch eine rem des Demokratischen Frie- Clara Portela Europa, set- gang Hoffmann und Bern- Bestandsaufnahme der Ent- dens. Während das Ergebnis zen sich Frank Umbach mit hard Wrabertz, die aus ihrer wicklung der letzten Jahre der beiden Autoren, nämlich Russland und Jeffrey Lewis Position als Mitglieder der

S+F (23. Jg.) 4/2005 | 235 BESPRECHUNGEN

Vorbereitungskommission Russland und die USA im Vor- auf MVW konzentrierten Auf- Dies ist auch die Überleitung für die Organisation zur Ve- dergrund stehen. Außerdem sätzen im Buch. zum Schlussartikel von Götz rifikation des umfassenden fehlt beiden Artikeln ein Blick Neuneck und André Roth- Die Platzierung des letzten Teststoppvertrages eingehend für die terroristische Bedro- kirch: Rüstungskontrolle im Beitrags in diesem Abschnitt über diesen Vertrag, die auf- hung durch B- und C-Waffen, Weltraum, ein Thema, das erschließt sich jedoch nicht: zubauende Organisation und welche spätestens seit den mit den Plänen der gegen- Rolf Mützenich und Matthias die gegenwärtigen Hinder- Anschlägen von Aum Shin- wärtigen US-Administration Karádi geben in ihrem Artikel nisse berichten können. rikyo in den 1990er Jahren wieder zunehmend an Bedeu- einen umfassenden Überblick keineswegs mehr ein Thema tung gewinnt. Hierbei verste- Einem Crescendo gleich folgt zur Gegenwart und Zukunft ist, dem sich nur Autoren wie hen es die Autoren kennt- danach von Rüdiger Lüde- der Rüstungskontrolle, von Tom Clancy widmen sollten. nisreich in die Problematik king eine Betrachtung des Kleinwaffen bis MVW. Der Angesichts der Tatsache, dass und deren mögliche Lösung Nuklearen Nichtverbreitungs- Aufsatz hätte daher eher im dem Nuklearterrorismus ein einzuführen, ohne technisch vertrages (NVV). Trotz des be- fünften und letzten Abschnitt voller Artikel gewidmet wur- weniger beschlagene Leser zu dauernswerten Ausgangs der untergebracht werden sollen. de, erstaunt dieses Faktum. überfordern. letzten Überprüfungskonfe- Dieser beschäftigt sich mit Der 4. Abschnitt wiederum Hier endet das Buch, relativ renz im Mai 2005 hat der Ar- einem besonderen Aspekt der beschäftigt sich mit der Rü- unvermittelt, obwohl der tikel immer noch einigen Ge- Gegenwart und Zukunft von stungskontrolle konventio- Artikel von Mützenich und halt, da Lüdeking eine Reihe Rüstungskontrolle, nämlich neller Waffen. Der Abschnitt Karádi einen runden Ab- interessanter Vorschläge für der Frage inwieweit sie prä- weist dabei einen stark euro- schluss hätte liefern können. eine mögliche Weiterentwick- ventiv angewendet werden. päischen/transatlantischen Nichtsdestoweniger ist es den lung des Vertrages macht. Martin Kahl und Christian Fokus auf, beschäftigen sich Herausgebern gelungen, ein Mölling machen den Anfang Der Komposition treu blei- doch Hans-Joachim Schmidt Handbuch zusammenzustel- mit einem Überblick über bend beschäftigt sich Annet- und Wolfgang Zellner mit len, das den gegenwärtigen die »Revolution in Military te Schaper anschließend mit dem Vertrag über konventi- Stand der Rüstungskontrolle Affairs« (RMA). Schnell er- der Gefahr des Nuklearterro- onelle Streitkräfte in Europa trotz der Breite des Themas schließt sich dem Leser, dass rismus. Neben bekannten (KSE) sowie Ernst Britting sehr gut vermittelt. Obwohl klassische Rüstungskontrolle Elementen weist sie auf die und Hartwig Spitzer mit dem Experten wohl wenig Neues hier versagt, da die RMA an Tatsache hin, dass über- Open-Skies-Vertrag. Beide erfahren, ist es durch seine sich auf der Anwendung zi- raschenderweise in vielen Autorenpaare weisen dabei Fülle an Fakten und seinen viler Technologien basiert. Ländern nach wie vor große nicht nur auf die Vorteile leicht zugänglichen Schreib- Dennoch können beide mit Lücken in der Strafgesetzge- der jeweiligen Verträge hin, stil auf jeden Fall eine Be- Vorschlägen aufwarten, wie bung und bei den Schutzmaß- sondern zeichnen auch ein reicherung für jeden, der an auch an sich zivile Techno- nahmen für entsprechende klares Bild, wie diese »Relik- Rüstungskontrolle und Ab- logien einer präventiven Rüs- Anlagen existieren. Dies wird te« des Kalten Krieges durch rüstung im 21. Jahrhundert tungskontrollprüfung unter- komplettiert, durch Wolfgang die heutige internationale interessiert ist. Der Band gibt zogen werden können, um Liebert, der sich der Frage der Konstellation trotz ihres ver- auch eine klare Antwort auf deren Missbrauch zu vermei- Proliferationseindämmung trauensbildenden Charakters die Frage, ob Rüstungskon- den. Weniger technologisch auf technischer Ebene wid- ins Wanken geraten können. trolle veraltet, überflüssig orientiert, nimmt sich Jürgen met. oder tot sei: Nichts davon ist Wolfgang Richter widmet Scheffran dem Problem der der Fall! Den Schluss des Abschnitts sich als Einziger im Buch horizontalen wie vertikalen bilden Aufsätze von Iris Hun- den größten MVW der Ge- Proliferation von Raketen an, Achim Maas ger, Oliver Meier und Jan van genwart: den kleinen und für deren Beschränkung bis Aken über biologische Waffen leichten Kriegswaffen. Ent- heute kein Vertrag, sondern sowie Ulrike Kronfeld-Goha- sprechend verlässt sein Ar- nur ein informelles Regime Emir Suljagi´c, Postcards from rani und Paul Walker über tikel die Großmächtepolitik existiert. Allerdings weist the Grave, London (Saqi chemische Waffen. Beide Ar- und Überbleibsel des Kalten er auch darauf hin, dass die Books) 2005. tikel sind dicht geschrieben, Krieges, die den Rest des Frage der Raketen und ihrer doch können sie leider nicht Buches kennzeichnen, und Reichweite in verschiedenen Zehn Jahre nach dem Geno- alle Unterthemen abdecken; konzentriert sich mehr auf Verträgen im Prinzip schon zid in Srebrenica erschien das hier wäre mehr besser ge- Kriege und Konfl ikte in Afrika, abgedeckt wurde. Ebenso erste Zeugnis über das Leben wesen. Ein kurzer Überblick Asien und Lateinamerika. Mit weist er auf die Problematik in dieser Stadt in den Jahren über die Geschichte oder Pro- den Hinweisen auf die unge- von Raketen für die Erschlie- vor dem Genozid. Das Buch blematik von biologischen zügelte Verbreitung, die gan- ßung des Weltraums hin: »Postcards from the Grave«, Waffen und zugehöriger ze Staaten destabilisiert und Eine Rakete, die einen Satel- das zugleich eine Reportage, Technologie wäre vorteilhaft Bürgerkriege am Kochen hält, liten ins All bringen kann, eine Zeugenaussage und ein gewesen, während bei che- setzt er einen erfrischenden kann auch einen Sprengkopf Roman ist, stellt in dokumen- mischen Waffen vor allem Kontrapunkt zu den sonst sehr ins Ziel befördern. tarischer Weise die Überle-

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bensstrategie der über 40.000 konnten und töteten alle, musste wie all seine Freunde, gerichtet – schlichte Räume, Menschen dar, die in den Jah- die versuchten, die Stadt zu deren Exekutierung dieser be- die mit einem oder zwei Fern- ren 1992 bis 1995 in Srebreni- verlassen. Da immer mehr fahl. Bei Suljagi´c ist zehn Jahre sehgeräten und Videorecor- ca Zufl ucht gefunden hatten. Flüchtlinge aus der Umge- nach dem Massaker die selbe dern ausgestattet waren. Dort Es ist ein schmerzvoller und bung nach Srebrenica kamen, Art von Schuld zu erkennen wurden dann Filme aus Rest- zugleich wunderschöner Be- wurden die Lebensumstände wie bei den Überlebenden des beständen der Videotheken richt über das Leben in die- unerträglich. So konnte man Holocaust. gezeigt. Suljagi´c beschreibt in ser belagerten ostbosnischen eine Zeit lang für eine Pa- seinem Buch auch, wie zwei Suljagi´c war 17 Jahre alt, als Stadt. Und insbesondere ist es ckung Zigaretten ca. zehn kg Radioamateure die einzige der Krieg begann. Seine Eng- auch eine Hommage an tau- Kartoffeln oder ein kg Käse Verbindung der Einwohner lischkenntnisse aus der Schu- sende von Menschen, über kaufen. Nachts begaben sich mit der Außenwelt organi- le und aus Filmen verhalfen deren Tod viel gesagt wurde, kleine Kinder gemeinsam mit sierten. Menschen warteten ihm zu einem Job als Über- deren Leben aber weitestge- ihren Eltern heimlich auf die tage- und wochenlang, bis setzer bei den UN-Truppen, hend unbekannt ist. Diesen Suche nach Nahrungsmitteln sie endlich an die Reihe ka- die in Srebrenica stationiert Menschen, die nicht besser und wurden dabei oft getötet men, um wenige Minuten waren. Dies wurde später zu oder schlechter sind als an- oder verstümmelt. Lehrer mit ihren Liebsten sprechen seiner Rettung. Das Faszinie- dere Menschen auf der Welt, töteten ehemalige Schüler, zu können. Obwohl niemand rende an seinem Buch ist je- widmet Suljagi´c sein Buch. Ärzte töteten ehemalige Pa- jemals »Ich liebe Dich« in je- doch nicht die Tatsache, dass tienten – die Richtlinie war, nem Raum sagte, gab es laut Emir Suljagi´c wurde 1975 in er Auge in Auge mit Mladi´c zu töten oder getötet zu wer- Suljagi´c nirgendwo mehr Lie- Ljubovija (Serbien-Monteneg- den. Verwundete konnten stand und überlebte, son- be an einem Ort als in jenem ro) geboren. Zusammen mit oft nicht mit dem Nötigsten dern seine sehr persönliche grauen Zimmer. seiner Familie lebte er in Bra- versorgt werden, so dass es Abrechnung mit der Belage- Bei dem Buch handelt es tunac, einem kleinen Ort in vorkam, dass ein Familien- rung. So beschreibt er, wie der sich keinesfalls um eine von Ostbosnien, als im Jahre 1992 mitglied eines Verwundeten Hunger seine Persönlichkeit Selbstmitleid getragene Ge- die serbischen Truppen die für eine einzige Infusion eine gänzlich veränderte und wie schichte von passiven Opfern, Kontrolle über den Ort über- ganze Kuh anbot, jedoch er von einem schüchternen die nur durch die Außenwelt nahmen. Zusammen mit sei- ohne Erfolg. und zurückhaltenden Jun- nem Vater und dem Rest der gen zu einer aggressiven und betrogen wurden. Es ist einer Familie fl oh der Autor nach Nach drei Jahren voller Ago- skrupellosen Person wurde. der vollständigsten Berichte Srebrenica, wo er bis zum Fall nie wurde Srebrenica endgül- Obwohl er selbst über diese über das Leben und Sterben der Enklave und dem darauf- tig zerstört. Im Juli 1995 fi el Veränderung erschrocken in einer belagerten Stadt, die hin erfolgten Exodus im Juli die Stadt, und ca. 8.000 Män- war, begriff er schnell, dass ein schreckliches Schicksal er- 1995 blieb. ner (darunter auch Jugend- dies eine Frage des Überle- eilte. Und trotz alles Schreck- liche und alte Männer) wur- bens war. lichen, das in diesem Buch Seine Geschichte beginnt den kaltblütig ermordet. Das beschrieben wird, fi ndet der Suljagi´c mit folgenden Wor- ICTY in Den Haag hat dieses Sehr detailliert beschreibt Autor zugleich die Kraft, ten: »Ich komme aus Srebre- Kriegsverbrechen eindeutig Suljagi´c die Geschehnisse und ab und zu humorvolle Ge- nica. Eigentlich komme ich als Genozid bezeichnet. Seit- die Art, wie die Verteidigung schichten mit einzubauen. woanders her, aber ich habe dem wurden viele Bücher der Stadt organisiert wurde. Sein bewegendes Zeugnis wid- mich entschieden, aus Srebre- über Srebrenica geschrieben, So zeigt er auch seine Hoch- met Suljagi´c allen Opfern des nica zu sein. Nur von dort darf bislang jedoch keines von achtung für den Komman- Genozids, unter denen auch ich kommen, genauso wie jemandem, der dieses Chaos danten der bosnischen Armee fast alle männlichen Mit- ich nur dorthin gehen durfte er- und überlebt hat. Naser Ori´c, ohne dessen Ein- zu Zeiten, als ich nirgendwo satz Srebrenica voraussicht- glieder seiner Familie sind. Emir Suljagi´c, der heute als sonst hin durfte« (S. 1). lich viel früher gefallen wäre. Am Ende des Buches erfährt Journalist in Sarajewo arbei- Auch wenn Ori´c vom ICTY der Leser, dass sein Großvater Im Mai 1992 flohen Tau- tet, überlebte wie durch ein und sein Vater inzwischen schuldig gesprochen werden sende von Menschen in die Wunder. Am 12. Juli 1995 traf aufgefunden und begraben sollte (derzeit läuft dort ein Stadt – in der Hoffnung, dort er General Mladi´c. Der Gene- wurden. Prozess gegen ihn), ist es für Zufl ucht fi nden zu können. ral sah sich Suljagi´cs Ausweis Suljagi´c eine Tatsache, dass Suljagi´cs Buch ist eine wert- Nachdem sie über Nacht al- an, fragte ihn, was er bei der ohne seine Hilfe noch mehr volle Bereicherung der »Be- les verloren hatten, sollte UN mache und sagte dann, Menschen ums Leben gekom- lagerungslagerliteratur«. Im dies für viele von ihnen eine dass er gehen dürfe. Bis heu- men wären. Gegensatz zu vergleichbaren fatale Entscheidung werden. te wird Suljagi´c von diesen Werken kann ihm jedoch zu- Serbische Streitkräfte setzten wenigen Minuten gequält, Trotz der Belagerung wollten gleich eine literarische Quali- ihre Angriffe auf die Stadt in dem Versuch, sich selbst die Menschen in Srebreni- tät attestiert werden. fort. Sie verhinderten, dass zu erklären, warum er ausge- ca ihr Leben so normal wie Nahrungsmittel und Vorräte spart wurde, er, der für Mladi´c möglich gestalten. So wurden in die Stadt geschafft werden genauso unbedeutend sein auch so genannte Kinos ein- Naida Mehmedbegovic

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Ben Tonra/Thomas Christi- in Folge einer Konferenz an gegenüber dem früheren beste Ausgangsbasis böten, ansen (Hrsg.), Rethinking der Universität von Wales, Jugoslawien heraus. Anhand verbliebe die Untersuchung European Union Foreign an der Forscher aus allen drei der in diesen Arbeitsfeldern europäischer Außenpolitik Policy, Manchester/New genannten Disziplinen teil- diagnostizierten Spezifika aufgrund fehlender umfas- York (Manchester University nahmen, und gibt vorwie- europäischer Außenpolitik send erklärungskräftiger An- Press) 2004. gend die Sicht britischer und entwickelt er einen allgemei- sätze auf vortheoretischem skandinavischer Autoren auf nen methodischen Leitfaden Niveau. die europäische Außenpolitik konstruktivistischer Theorie- Die Forschung zur Außenpo- Aus dem Blickwinkel der wieder. Vor dem Hintergrund bildung für die GASP, den er litik der Europäischen Union Disziplin der Außenpolitik- ihrer verstärkten Institutio- in neun Punkten diskutiert. war lange Zeit überschattet forschung nähert sich Bri- nalisierung, der Ausweitung Seine induktive Methodik von der Dichotomie der klas- an White dem Gegenstand. ihrer thematischen Agenda berührt Fragen normativer sischen Integrationstheorien. Während die Mehrzahl der und der Ausdifferenzierung Die Einschätzung, wie und ob oder empirischer Ansätze, Studien zur globalen Rolle ihrer Entscheidungsproze- Außenpolitik auf der Unions- Unterschiede zwischen po- Europas, so White, zwischen duren suchen die Autoren ebene funktioniere, variierte sitivistischer und konstruk- akteurs- und strukturzent- nach angemessenen theo- je nach Positionierung zwi- tivistischer Theoriebildung rischem Pol mäandert, und retischen Konzeptionen zur schen den beiden Polen In- sowie Probleme des For- demnach die EU entweder Analyse dieses Politikfeldes. tergouvernementalismus und schungsprozesses und der Er- als unitarischen, politikge- Ihr Schwerpunkt liegt hierbei Supranationalismus. Auf der kenntnisgewinnung. Anhand staltenden Akteur oder als auf der konstruktivistischen einen Seite stand die Behaup- von Beispielen aus der GASP Funktion systemischer Im- tung, die GASP arbeite nicht Theoriebildung. untermauert er seine metho- perative sieht, gestatte die und sei nur deklaratorisch, In ihrer Einführung umrei- dischen Ausführungen. Außenpolitikforschung eine da die Mitgliedsländer we- ßen die Herausgeber sowohl Seine implizite Annahme, differenziertere Betrachtung. gen fehlender gemeinsamer das Problemfeld als auch dass die GASP ontologisch sui Allerdings müssen auch hier Interessen nicht effektiv ge- die zentralen Ansätze aus generis zu behandeln sei, hin- einige Grundannahmen revi- nug kooperierten. Die andere verschiedenen Denkschulen, terfragt Jakob C. Øhrgaard im diert werden. White schlägt Seite argumentierte, dass die die bei der Analyse von EPZ folgenden Kapitel. Obwohl hierzu eine dreiteilige Unter- GASP qua faktum existiere und GASP bisher Anwendung gliederung in verschiedene und ihre Mitglieder in der die GASP formal intergouver- fanden. Als ihre Zielsetzung Subsysteme vor: europäische Mehrzahl der Fälle nicht nemental funktioniere, sei verstehen sie, nicht nur den Außenpolitik auf national- nur die außenpolitischen die Praxis der Zusammenar- Status quo europäischer Au- staatlicher Ebene, auf ge- Lageeinschätzungen teilten, beit weitaus komplizierter. ßenpolitik, sondern vor allem meinschaftlicher Ebene und sondern auch gemeinsam Auf Akteursebene führe Ver- die Dynamik und Feinheiten auf Unionsebene. In einem handelten. Diese Forschung netzung und Interaktion bei des außenpolitischen Pro- halben Dutzend Punkten zur EU-Außenpolitik litt lan- der Entscheidungsfindung zesses in der Europäischen fasst der Autor am Ende die ge Zeit insbesondere an zwei zu Koordinationsreflexen, Union zu erfassen. Die Mehr- Schlussfolgerungen aus der Defi ziten: Zum einen expli- die in Politiken resultierten, zahl der hierzu vorgestellten Anwendung dieser Konzepti- zierte sie ihre theoretischen die weit über dem kleinsten konstruktivistischen Ansätze on zusammen. Grundannahmen unzurei- gemeinsamen Nenner mit- grenzt sich – obwohl im De- chend und blieb daher blind gliedsstaatlicher Interessen Der diskursanalytische Ansatz tail in jedem Beitrag unter- für die Rasterung des Analy- lägen. Weiterhin zeigt Øhr- Henrik Larsens ist der einzige schiedlich konzeptualisiert segegenstandes durch den gaard auf, wie im Laufe der an der Grenze zum Poststruk- – sowohl von der »harten« Forscher. Zum zweiten ver- Zeit die GASP selbst zu einem turalismus zu verortende Bei- rationalistischen Theoriebil- nachlässigte sie die Stellung Mittel wurde, das nicht nur trag des Buches. In Abgren- dung auf der einen Seite wie der GASP an der Schnittstelle den eigenen Politikzielen zung von sozio-linguistischen auch von post-strukturali- zwischen Integrations- und diente, sondern sich selbst zu und ethnomethodologischen stischen Varianten auf der Außenpolitiktheorien sowie einem originären Interesse Vorgehensweisen klassifi ziert anderen Seite ab. Ansätzen aus den Interna- nationalstaatlicher Außen- Larsen sein Diskursmodell als tionalen Beziehungen und Im ersten Beitrag identifi- politik entwickelte. In seiner Makrokonzept, das die Rolle nutzte daher kaum additive ziert Knud Erik Jørgensen die Evaluierung verschiedener von Sprache bei der Konstruk- Erkenntnisse aus diesen Dis- Politikbereiche, die bei der theoretischer Ansätze gelangt tion und Beschränkung sozi- ziplinen. Erst in den letzten bisherigen Forschung zum Øhrgaard zu dem Ergebnis, aler Wirklichkeit analysiert. Jahren wurden diese Defi zite Themenfeld im Zentrum der dass sowohl klassische IB- Für die EU-Außenpolitik in- zunehmend erkannt und in Analyse standen. Neben der Konzeptionen als auch Integ- teressieren aus diskursanaly- der Forschung berücksich- Erweiterungspolitik stellt rationstheorien Defi zite bei tischer Perspektive die Fragen, tigt. Der von Ben Tonra und er insbesondere die Bezie- der Erklärung der GASP auf- ob die EU überhaupt als inter- Thomas Christiansen heraus- hungen zu Entwicklungslän- weisen. Obwohl konstrukti- nationaler Akteur konstruiert gegebene Band ist ein Beitrag dern, die Handelspolitik so- vistische und neofunktiona- werde, welche Beschaffenheit zu dieser Debatte. Er entstand wie das Krisenmanagement listische Theorien derzeit die dieser Akteur habe, auf wel-

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chen Werten er basiere und Internationalen Beziehungen ren Variablen leisteten diese einheitlich. Während einige wie die Diskursteilnehmer sei- und der Außenpolitikfor- zwar der steigenden Komple- Beiträge sich auf die GASP ne Entscheidungsprozeduren schung im Hinblick auf ihre xität des Systems Vorschub, beschränken, folgen andere konstruierten. Die Union, so Relevanz für die EU. Seine Zu- seien aber gleichzeitig wich- einem breiteren Verständnis Larsens Erkenntnisse, werde sammenstellung entwickelt tige Elemente in der Weiter- von europäischer Außenpo- sehr wohl als internationaler Hyde-Price an den drei als führung des Integrationspro- litik. Trotz der verschiedenen Akteur konstruiert, dessen zentral defi nierten Faktoren zesses. Forschungsentwürfe gelangen Beschaffenheit zwischen den »Interessen«, »Institutionen« die Studien im Wesentlichen Im Abschlusskapitel analysie- klassischen Konzepten von und »Identitäten«. Trotz ei- zu ähnlichen Ergebnissen und ren Helene Sjursen und Karen Zivil- und Weltmacht liege. niger neuer Fokussierungen runden damit das Gesamtbild E. Smith die Zielsetzung der bietet der Beitrag an dieser der Buchkonzeption ab. Der Diskurs weist dabei jen- EU-Außenpolitik am Beispiel Stelle des Buches leider kaum seits der Akteure liegende der verschiedenen Erweite- Im Ganzen offeriert der Band Kontinuitäten auf. Aus an- neue Einsichten in den For- rungsrunden. Ihre Analyse eine positive Einschätzung derer Perspektive als der der schungsgegenstand. begründen sie mit der zu- der Außenpolitik der Union. Kopenhagener Schule Larsens Anders der Beitrag von Sibyl- nehmend interdependenten Dem Anspruch, verschiedene beleuchtet Lisbeth Aggestam le Bauer und Eric Remacle, Welt, in der außenpolitisches Disziplinen zusammenzu- sich fortsetzende Struktur- die sich das Politikfeld der Handeln nicht mehr allein bringen werden die Heraus- elemente in der Konstruktion Rüstungsexportkontrolle he- durch Referenz auf nationale geber durchaus gerecht, der Europäischen Union. Ihr rausgreifen, um Funktions- Interessen zu rechtfertigen wobei der Fokus eher auf politisch-kultureller Ansatz prozesse und Charakter euro- sei. Zur Legitimierung der Integrations- und Außenpo- weist europäischen Rollen- päischer Außenpolitik näher Politik müssten neue Quel- litikforschung denn auf den identitäten als kognitiven zu beleuchten. Vor dem Ra- len erschlossen werden, die Ansätzen der Internationalen »Mind Maps« und der daraus ster der klassischen Integrati- je nach zugrunde liegender Beziehungen liegt. Die Beiträ- resultierenden Sicherheitsge- onstheorien konzeptualisie- Handlungslogik auf Interes- ge arbeiten die großen Linien meinschaft in der Tradition ren sie die EU-Außenpolitik sen, Werten oder Normen der jeweiligen Forschungsde- Karl W. Deutschs primären als komplexes Multiebenen- fußten. Alle drei Logiken, so signs prononciert heraus. Für Stellenwert zu. Aus kollek- system. Als entscheidende das Ergebnis der Fallanalyse, Details bleibt bisweilen zu tiven Identitäten entstehen Variablen der Formung dieses kämen bei der Formulierung wenig Raum, diese können ihrem Ansatz zufolge spe- Systems identifi zieren sie das der Konditionen für die Mit- aber über die ausführliche Li- zifi sche Rollenkonzepte, in Konvergenzverhalten der gliedschaft zur Anwendung. teraturliste erschlossen wer- denen sich außenpolitische Akteure, weiterhin die Kon- Bei der genaueren Untersu- den. Allerdings wurde bei der Handlungsanweisungen ma- sistenzanforderung zwischen chung der auf Normen ge- Bibliografi e nicht sorgfältig nifestieren. Die Rollenidenti- den verschiedenen Säulen stützten Logik moralischer genug gearbeitet, so dass sich täten werden in europäischen sowie das Prinzip der varia- Rechtfertigung anhand der einige falsche Einträge darin Institutionen stabilisiert, die blen Geometrie. Im Bereich Beitrittsverhandlungen mit fi nden. Dieses Manko wird wiederum als Sozialisanten der Rüstungsexportkontrolle den fünf Mitgliedern der Hel- aber durch einen hervorra- neuer Akteure fungieren. Im beobachten sie signifi kant zu- sinki-Gruppe erheben Sjursen genden Index ausgeglichen. Falle einer hohen Interakti- nehmendes Konvergenzver- und Smith letztlich allerdings onsdichte, wie sie in Europa halten seit Ende des Kalten erhebliche Zweifel an ihrer Heiko Fürst vorhanden sei, könnten Rol- Krieges. Da der Verhaltensko- Arbeitshypothese, die Erwei- lenidentitäten und entspre- dex aber nach wie vor nicht terung folge in erster Linie chende Institutionen auch verbindlich ist, hängt Koope- diesem Handlungsmuster. auf transnationaler Ebene ration weiterhin vom Willen Insgesamt bietet der Band ei- entstehen und sich zu einer der Staaten ab. Anhand des nen umfassenden Überblick Bernhard Rinke/ Wichard Sicherheitsgemeinschaft ver- Rechtsstreits über Güter mit über verschiedene Ansätze Woyke (Hrsg.), Frieden und dichten. In ihrer Analyse der doppeltem Verwendungs- konstruktivistischer und mo- Sicherheit im 21. Jahrhun- GASP-Politiken deutscher, zweck vor dem EuGH legen derat rationalistischer The- dert. Eine Einführung, Opla- französischer und britischer Bauer/Remacle exemplarisch oriebildung in Anwendung den (Leske und Budrich) Akteure zeigt Aggestam al- dar, wie der Gerichtshof in auf die Außenpolitik der Eu- 2004. lerdings auf, dass die Sozia- seiner Rechtsprechung die ropäischen Union. Seine Au- lisationsprozesse keineswegs Konsistenzanforderung zur toren, deren Aufsätze häufi g Im Zeitalter der Globalisie- gleichmäßig verlaufen und Vertiefung der Integration auf umfangreicheren eigenen rung kommt dem Ringen um eine Sicherheitsgemeinschaft nutzte. Überdies treten sie der Studien beruhen, liefern eine die Einhegung der dunklen auf europäischer Ebene noch Auffassung entgegen, die Re- verständliche Einführung in Seiten dieses widersprüch- ambivalente Züge trägt. gelungen variabler Kooperati- den Forschungsgegenstand. lichen Prozesses zunehmende Der Beitrag von Adrian Hyde- onsmechanismen führten zur Diesen Gegenstand defi nie- Bedeutung zu. Das gilt auch Price analysiert verschiedene Fragmentierung der Union. ren allerdings nicht alle Au- und gerade für den Bereich nicht-realistische Ansätze der Ebenso wie die beiden ande- toren in ihren Ausführungen der Friedens- und Sicherheits-

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politik, hat diese doch sicht- die Problematik der äußeren wähnt werden, die jedoch Insgesamt haben Bernhard lich Probleme, angesichts Sicherheit, ihrer Verbindung objektiv von wachsender Be- Rinke und Wichard Woyke neuer Herausforderungen wie mit der Verteidigungspolitik deutung sind. Kritisch ist wie- eine handliches und gut den transnationalen »Hyper- und einige sicherheitspoli- derum anzumerken, dass kein strukturiertes Lehrbuch über terrorismus«, das Wegbrechen tische Konzeptionen. Erstaun- Beitrag über die grassierende »Frieden und Sicherheit im ganzer Regionen durch Krieg lich ist, dass im Zusammen- Herausforderung des Staats- 21. Jahrhundert« vorgelegt. und Staatszerfall oder die hang mit der Thematisierung zerfalls Eingang in das Kapitel Dass die Beiträge durchaus Weiterverbreitung von Mas- der NATO-Strategie weder über Risiken gefunden hat. unterschiedliche Qualität senvernichtungswaffen adä- die neue NATO-Strategie von aufweisen, liegt bei einem Es folgen vier Beiträge, die quate Antworten zu fi nden. 1999 noch die umstrittene Sammelband in der Natur der unter der Überschrift »Kon- Das internationale System be- nationale Sicherheitsdoktrin Sache. Hervorzuheben ist die fl iktregelung und Friedens- fi ndet sich zu Beginn des 21. der USA und die darin enthal- gemeinsame Grundstruktur sicherung« stehen. Wibke Jahrhunderts noch immer in der Aufsätze, die i.d.R. aus- tene Präventivkriegskonzep- Hansen befasst sich mit der einer schwierigen Übergangs- führliche Literaturangaben, tion erwähnt werden. Auch entsprechenden Rolle der phase, deren Antriebskräfte separat auch Internetquellen ist die dem Beitrag zugrunde Vereinten Nationen, Stephan und Struktur von größerer beinhalten, sowie die klare, gelegte Literatur nicht gera- Böckenförde mit der Politik Komplexität gekennzeichnet einer Einführung gemäße de auf dem neuesten Stand. der USA, Martina Fischer mit sind. Sprache. Ein Sachregister am Damit kontrastiert der ausge- dem heiklen Problem der hu- Ende erleichtert zudem noch Darum ist es umso wichtiger, zeichnete Beitrag von Rein- manitären Intervention und die inhaltliche Erschließung sich der alten und neuen hard Meyers über den Wandel der Notwendigkeit nicht-mi- des empfehlenswerten Lehr- friedens- und sicherheitspo- des Kriegsbildes. Darin zeich- litärischer Prävention und Jo- buchs. litischen Herausforderungen net er die Charakteristika der hannes Varwick mit der neuen zu versichern. Genau dazu grundlegenden historischen Rolle Deutschlands. trägt der anzuzeigende Sam- Epochen der Entwicklung Unter der etwas antiquierten Hans-Georg Ehrhart melband bei. Er verfolgt das des Staates und der Herausbil- Überschrift »Neue Europä- Ziel, so die Herausgeber Wich- dung anderer Gewaltakteure ische Sicherheitsarchitektur« ard Woyke und Bernhard Rinke, im internationalen System sind schließlich drei Beiträge »einen Beitrag zum besseren auf und kommt zu zwei für versammelt, die sich mit den Verständnis und zur zukünf- die Lehre von den Internati- Raimund Allebrand (Hrsg.), wichtigsten europäischen tigen Bedeutung der sicher- onalen Beziehungen bedeut- Terror oder Toleranz? Spani- Sicherheitsorganisationen heitspolitischen Herausfor- samen Konsequenzen: die en und der Islam, Bad Honnef befassen. So gibt Wichard derungen und Risiken, der Aufhebung des klassischen (Horlemann Verlag) 2004. Woyke einen konzisen Über- wichtigsten internationalen Interventionsverbotes und blick über die Entwicklung Konfl iktregelungs- und Frie- die Aufhebung der klas- Der Sammelband analysiert des Atlantischen Bündnisses, denssicherungsmechanis- sischen Trennung zwischen die Stationen islamischer seine Organisationsstruktur, men sowie der diesbezüglich den einzelnen Politikfeldern. Präsenz in Südwesteuropa seit sein neues strategisches Kon- relevanten Akteure zu leis- den Anfängen im Jahr 711 Unter der Rubrik »Risiken« zept und seine Erweiterung, ten«. Das Buch richtet sich bis in die unmittelbare Ge- befasst sich Martin Kahl mit wobei insbesondere der ab- vornehmlich an Studierende genwart. Historiker, Orienta- der Problematik der Prolife- schließende problematisie- des Grundstudiums und an listen, Kulturwissenschaftler ration und dem vor diesem rende Ausblick auf die Rolle Leserinnen und Leser mit und Journalisten schildern Hintergrund von den USA der NATO hervorzuheben ist. geringen Vorkenntnissen. Es wichtige historische Etap- forcierten Wandel von koo- Bernhard Rinke analysiert den vereint zwölf Beiträge, die in pen in kurzen und zum Teil perativer zu antagonistischer Werdegang der EU als sicher- die vier Themen Begriffe, Ri- prägnanten Beiträgen. Er- Rüstungskontrolle. Kai Hirsch- heitspolitischer Akteur und siken, Konfl iktregelung und gänzt wird der Band durch mann analysiert die vom Ter- verortet diesen Prozess inno- Friedenssicherung sowie Neue zahlreiche Fotos, Skizzen, rorismus ausgehende sicher- vativ anhand der Leitbilder Europäische Sicherheitsarchi- Karten und historische Da- heitspolitische Bedrohung »Weltmacht«, »Zivilmacht« tektur gruppiert sind. tentabellen. Der Herausgeber und Jörg Waldmann setzt sich und »Friedensmacht«. Wolf- Raimund Allebrand ist Jour- Unter der Rubrik »Begriffe« mit jenen Risiken auseinan- gang Zellner stellt mit der OSZE nalist und geschäftsführender werden mit dem »Sicher- der, die aus Umweltzerstö- – ihren Grundeigenschaften, Vorsitzender der Arbeitsge- heitsbegriff« und dem »Wan- rung, Ressourcenknappheit, ihren institutionellen und meinschaft für interkulturelle del des Kriegsbildes« zwei Bevölkerungswachstum und operativen Aspekten, ihren Begegnung e.V. (AFIB) in zentrale Kategorien der in- Migration entstehen. Mit Vor-Ort-Aktivitäten und ih- Bonn. ternationalen Beziehungen diesem Beitrag werden erfreu- rer Funktionsweise – eine vorgestellt. Ausgehend von licherweise Risiken thema- Sicherheitsorganisation vor, Die Madrider Attentate des der Unterscheidung zwischen tisiert, die in den offi ziellen deren Verdienste wenn nicht 11. März 2004 sorgten für ei- nationaler und kollektiver Si- Sicherheitsstrategien der USA ignoriert, so doch oftmals un- nen nachhaltigen Schock weit cherheit skizziert Dieter Dettke und der EU nur beiläufi g er- terschätzt werden. über die spanische Haupt-

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stadt hinaus. Angesichts des Initialzündung der europä- Auseinandersetzung mit der Der Sammelband weist keine pauschalen Fundamentalis- ischen Renaissance gilt. Dabei islamischen Vergangenheit in stringente Gliederung und musverdachts gegen die is- bietet nicht nur die islamische Spanien aufgrund jahrhun- kein einheitliches Niveau der lamische Religion verweisen Herrschaft im maurischen dertealter Ressentiments und Beiträge auf. Insgesamt wäre Geschichtswissenschaftler al-Andalus eindrucksvolle Vorurteile nicht leicht fällt. auch ein breiterer Kontext der und Intellektuelle auf die his- Beweise religiöser Toleranz; So bietet auch der Aufsatz behandelten Themen wün- torischen Erfahrungen der auch das nordspanische Kö- über das gegenwärtige Ver- schenswert. Ein Vergleich des Iberischen Halbinsel: Acht nigreich Kastilien zeigte sich hältnis Spaniens zu Marokko spanischen Islam mit den an- Jahrhunderte lang wehte die über Jahrhunderte den isla- ein anschauliches Beispiel deren führenden islamischen grüne Fahne des Propheten mischen und jüdischen Be- der spannungsgeladenen Geisteshaltungen und den Muhammad im Südwesten völkerungsteilen gegenüber Nachbarschaft dieser zwei islamischen Weltreichen die- Europas. Im Kalifat von Cór- tolerant. Dies änderte sich (nur 16 Kilometer auseinan- ser Zeit wäre dabei ebenso doba gewann der europäische jedoch spätestens nach der der liegenden) Länder und fruchtbar gewesen, wie eine Islam seine größte Macht- Einnahme Granadas 1492, gibt darüber hinaus zentrale genauere Untersuchung des und Prachtentfaltung. Im dem letzten islamischen Etappen des Dekolonialisie- islamischen Einfl usses auf die Jahr 929 ließ sich der Oma- Herrschaftsgebiet auf der spa- rungsprozesses Marokkos von europäischen (Geistes-)Wis- yaden-Herrscher Abdurrah- nischen Halbinsel. Im Herbst der spanischen Herrschaft man III. zum Kalifen ausrufen 1492 erging ein Edikt, das die senschaften und die abend- wieder. und demonstrierte damit den spanischen Juden aufforderte, ländische Renaissance, etwa Anspruch Córdobas als isla- sich entweder taufen zu las- Der Adressatenkreis dieses am Beispiel des islamischen misches Weltzentrum, das zu sen oder das Land innerhalb Sammelbandes ist sehr groß: Gelehrten Ibn Ruschd (Aver- diesem Zeitpunkt bereits eine von vier Monaten zu verlas- Neben wissenschaftlichen roes), dem berühmten Kom- Einwohnerzahl von mehr als sen. Ab 1499 setzten auch ge- Fachaufsätzen zum Beispiel mentator des Aristoteles. 500.000 aufwies und damit genüber den Muslimen ver- über die Reconquista, das Es ist insofern zu bedauern, die größten Städte nördlich stärkt Zwangsbekehrungen spanische Judentum sowie dass der Band das teilweise der Pyrenäen um ein Viel- und Massentaufen ein. Dies über das jüngste Verhältnis erreichte Niveau nicht durch- faches übertraf. kulminierte schließlich in zwischen Spanien und dem gängig einhalten kann. Das Besonders das 11. und 12. den Jahren 1609-1614, als die Maghreb, in denen eine gute Ziel, die Präsenz des Islam in Jahrhundert sind von einer letzten »Morisken« aus Spa- Übersicht über die behan- Südwesteuropa sowie deren großen gegenseitigen poli- nien vertrieben wurden. Mit delten Themenkomplexe ge- Konsequenzen eindringlich tischen und religiösen To- dem Ende der so genannten boten wird, sind auch allge- zu schildern und dem mit leranz geprägt, so dass in Reconquista wird somit die meinere Beiträge enthalten, diesem Teil der europäischen dieser Hoch-Zeit der »Con- plurikulturelle (in diesem so diverse Aufsätze über das vivencia« al-Andalus als das Fall die islamische, christliche islamische Erbe in der spa- Geschichte wenig vertrauten Land der drei Kulturen – Is- und jüdische Kultur umfas- nischen Architektur und in Leser einen anschaulichen lam, Christentum und Juden- sende) Dimension verdrängt der spanischen Belletristik. Einblick in die spannungs- tum – bezeichnet wird. Dieser und Spanien wird zum Vor- Erwähnenswert ist auch der reiche spanisch-islamische Auseinandersetzung und Koo- reiter eines militanten Katho- Aufsatz von Wilhelm Hoe- Vergangenheit zu bieten, peration zwischen Muslimen, lizismus. Folgen sind die fun- nerbach über den »Univer- konnte so nur zum Teil er- Juden und Christen verdankt damentalistische Inquisition salheiligen Jakobus« und die reicht werden. das iberische Mittelalter eine und die Unterdrückung und Pilgerstraße Jakobsweg, un- kulturelle Dynamik, die über Vertreibung Andersgläubiger, ter anderem aus islamischer Europa ausstrahlte und als so dass selbst heute noch die Sicht. Marc Brümmer

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