Rilke. . Eine Ausstellung als Phantasie über ein Buch. ,

Reviewed by Matthias Hamann

Published on H-Museum (December, 2003)

"Eine Ausstellung als Fantasie über ein Buch" Worpswede-Buch, S. 270-287; das Zitat S. 278). Der lautete der Untertitel des Publikumsmagneten, Zeitpunkt ist günstig gewählt, denn Künstlerkolo‐ den die Bremer Kunsthalle im Kräftefeld des nien haben Konjunktur. Arvika in Schweden, Ausstellungssommers 2003 einsetzte.[1] "Rilke. Grez-sur-Loing in der Nähe von Barbizon, die Worpswede" versprach nicht zuletzt wegen des Fraueninsel im Chiemsee, das Dörfchen Schorn in starken Interesses an Leben und Werk des Dich‐ Mecklenburg-Vorpommern, Ahrenshoop auf dem ters und wegen der intensiven Öfentlichkeitsar‐ Fischland unweit von Rostock--in ganz Europa beit des Museums ein Erfolg zu werden. Die Besu‐ entdecken fast vergessene Künstlerkolonien ihre cherzahlen geben Wulf Herzogenrath und seinem Rolle, die sie in der Kunstgeschichte des späten 19. Team, vor allem Andreas Kreul, der für Ausstel‐ und frühen 20. Jahrhunderts spielten. Worpswede lung und Katalog verantwortlich zeichnet, recht. war sich dieser Rolle immer bewusst, seine Ge‐ Die von der Bühnenbildnerin Nicola Reichert (Es‐ schichte ist bekannt und muss nicht neu geschrie‐ sen) inszenierte Schau vereinte alle verfügbaren ben werden. Dennoch lohnt der Versuch, der in Werke, die sich in Rilkes Worpswede-Buch abge‐ Bremen unternommen wurde, und bietet mit dem bildet fnden und folgte in seiner Ausstellungsar‐ Ausstellungskatalog eine spannende Lektüre.

chitektur den einzelnen Kapitel der Rilkeschen Rilkes Monographie besteht aus fünf biographi‐ Monographie; sie wurden mittels Farben und in‐ schen Beiträgen und einer Einführung. Sie ist szenatorischer Leitlinien konturiert. Das Ergebnis nicht der erste Beitrag über die Künstlerkolonie wurde in der Presse eingehend besprochen, und im Teufelsmoor bei Bremen. Worpswede war es nicht Anliegen dieses Beitrages, ein weiteres durch eine Ausstellung im Münchner Glaspalast Urteil über das Gelingen der Inszenierung hinzu‐ (1895) über Nacht zum vielbeachteten Phänomen zufügen. Zumal das Ereignis Vergangenheit ist. Es geworden. So nimmt es nicht Wunder, dass einer gilt vielmehr danach zu fragen, inwiefern die be‐ der renommierten Kunstverlage der Jahrhundert‐ gleitende Publikation die "Fantasie" abstreift und wende, Velhagen & Klasing, eine Monographie als eigenständiges Werk von nachhaltigem Ge‐ über den Ort in sein Programm aufnahm. Das wicht Bestand hat, also das Flüchtige der Ausstel‐ Buch, für das Rainer Maria Rilke verpfichtet wur‐ lung hinter sich lässt.

"Rilkes Buch ist seit de, ist die erste umfassende Abhandlung über die hundert Jahren im Gespräch und doch ein Brun‐ Worpsweder Künstler , Otto Mo‐ nen geblieben, den auszuloten man sich erst jetzt dersohn, , und Hein‐ anschickt", befndet Bernd Stenzig in seinem re‐ rich Vogeler. Der hier angezeigte Ausstellungska‐ zeptionsgeschichtlichen Beitrag zu Rilkes Worps‐ talog gibt den vollständigen Text von Rilkes Mono‐ wede-Monographie (Zur Aufnahme von Rilkes graphie einschließlich der Einleitung wieder und H-Net Reviews folgt dabei orthographisch der Erstausgabe. An der Aufgabe der Bildbeschafung zu entzie‐ die fünf biographischen Kapitel Rilkes schließen hen--"Mir ist diese Arbeit so zeitraubend und sich unter dem Titel "Kommentare" fünf sorgfältig auch so fremd, daß ich sie nur mit viel Mühsälig‐ recherchierte Beiträge an, die Rilkes Text zum Ge‐ keit [!] zustandebringe" (Rilke briefich am 17. genstand haben und ihn kunsthistorisch untersu‐ März 1902). Dieser redaktionelle Aspekt des Bu‐ chen. Den dritten Teil des Katalogbuches bilden ches scheint den Autor größere Kraftanstrengung "Erinnerungen", vulgo Quellentexte und Stim‐ zu kosten als der Text selbst, der in enger Koope‐ mungsbilder zu Rilkes Worpswede-Aufenthalt. ration mit den "Worpswedern" entstand. In Ge‐ Der vierte Abschnitt "Kontexte" vereint vier wis‐ sprächen gaben die Maler dem Autor Rilke gern senschaftliche Beiträge zu Entstehung und Rezep‐ Auskunft über Biographie, Studium und Arbeits‐ tion der Worpswede-Monographie sowie zu Rilkes weise. Fritz Mackensen äußerte sich sogar schrift‐ ästhetischer Konzeption und zu seinem Kunstver‐ lich, so dass Rilke den Maler passagenweise zitie‐ ständnis. Eine Chronologie zu Rilke und Worps‐ ren konnte. So entstand ein subjektiver, von der wede beschließt zusammen mit einer umfangrei‐ Unmittelbarkeit des Interviews geprägter Text, chen Bibliographie den Band. Rilke, der seit Mai der immer wieder auf die Originalität der Künst‐ 1901 zusammen mit Clara Westhof in Westerwe‐ ler, das Selbststudium, auf den Einfuss der Land‐ de, einem Nachbardorf von Worpswede, lebte, er‐ schaft auf die Malerei abhebt. Besonders deutlich hielt im Jahre 1902 durch Vermittlung von Gustav wird dies in Rilkes Einleitung (S. 17-33), die im Pauli, dem Direktor der Bremer Kunsthalle, vom Ausstellungskatalog bedauerlicherweise keine ei‐ Verlag Velhagen & Klasing den Auftrag für die gene Analyse erfährt, wohl aber verdiente. Die Künstlermonographie über Worpswede. Michael darin aufscheinenden Begrife wie Dasein, Ebene, Fuhr legt in seinem sorgfältigen Beitrag (Zur Ent‐ Himmel oder Landschaft, der summarische Hin‐ stehung der Künstler-Monographie Worpswede, S. weis auf die Schule von Barbizon und die Kunst 260-269) sachkundig dar, welche Aufagen die Pu‐ Millets geraten im weiteren Text zu Leitmotiven. blikationen des Verlags zu zeitgenössischer Kunst Fuhr gelingt der Nachweis, dass dies durchaus im zu erfüllen hatten. So bekamen die zumeist jun‐ Sinne des Verlages ist. In vielen Monographien er‐ gen Autoren den Auftrag, nicht nur das Manu‐ scheine der Topos, dass die Größe eines Künstlers skript--möglichst binnen weniger Wochen--zu er‐ sich daran bemesse, dass er ohne Vorbilder zur stellen, sondern sie hatten auch für das Bildmate‐ Genialität gelange.

"Es stellt in rial zu sorgen. Rilke, der nach seiner Heirat mit diesem Zusammenhang also keine Ausnahme dar, Clara Westhof und der Geburt der Tochter Ruth wenn Rainer Maria Rilke zu behaupten wagt, die in einer fnanziellen Misere steckte und Pauli be‐ Mitglieder der Worpsweder Künstlervereinigung reits eine Stelle beim Bremer Tageblatt verdankte, hätten ihre Werke ohne fremde Hilfe geschafen" nahm den Auftrag gern an, zumal der Museums‐ (S. 267).

Somit ist Rilkes Früh‐ mann ihn bei den Kontakten zu den Worpsweder werk eo ipso keine objektive Darstellung der Künstlern tatkräftig unterstützte. In der Folge ge‐ Künstlerkolonie Worpswede, sondern ein Zeugnis staltete sich die Zusammenarbeit mit den Malern künstlerischen Selbstbewusstseins, verbunden sehr produktiv.

Um die Produktionskosten mit Rilkes dichterischer Sicht auf ein vermeintli‐ niedrig zu halten, war auch Rilke aufgefordert, ches Paradies.

Die Auswahl und Reihenfolge für die Bebilderung zu sorgen. Dies gestaltete sich der Maler in Rilkes Werk--Fritz Mackensen (S. vergleichsweise einfach, denn die Künstler ver‐ 35-55), (S. 57-78), Fritz Overbeck sorgten Rilke mit Abbildungen--zumeist solche ak‐ (S. 81-99), Hans am Ende (S. 101-119) und Hein‐ tueller, noch unverkaufter Werke (Fuhr, S. 266). rich Vogeler (121-141) ist nicht beliebig, sondern Rilke versuchte wiederholt, aber vergebens, sich geradezu kanonisch, wie verschiedentlich, u. a.

2 H-Net Reviews von Dorothee Hansen (Fritz Mackensen, 144-155), mit denen Rilke die Kunst Mackensens zu fassen ausgeführt wird. Die herausgestellte Führungsrol‐ sucht: "nordisch, schwermütig, ernst und gesund" le Mackensens, die Sonderrolle Vogelers und das kehren immer wieder und fnden ihre Parallele in Wegblenden der in Worpswede tätigen "Malwei‐ der Begrifichkeit von Heimatkunst-Vertretern ber"-- Paula Becker-Modersohn oder die eigene wie Paul Schultze-Naumburg, Hans Müller-Brauel Gattin Clara Westhof beispielsweise-- fndet sich oder Paul Warncke (S. 151). Gerade die Beiträge auch in der zeitgenössischen Kunstliteratur, und Warnckes (Paul Warncke: Worpswede. In: Zeit‐ Rilke erfüllt hier die Erwartungen. Das gängige schrift für bildende Kunst, 11, 1901, S. 147-185 Worpswede-Bild ist deckungsgleich mit den fünf und id.: Worpswede. Berlin 1902) seien als Quelle Künstlern. Neu ist die Gleichbehandlung der Rilkes zu werten. Allerdings sei Rilke die völki‐ Künstlerindividuen. Während die ältere Literatur sche Konnotation fremd. Abschließend kommt aus der Reihung auch eine Wertung macht, oder Hansen zu dem Urteil, dass Rilkes Buch und ins‐ aber, wie Richard Muther, das Gemeinsame der besondere der Beitrag zu Mackensen den etablier‐ Worpsweder Kunst betont (Richard Muther: ten Mythos des Künstlerdorfes Worpswede verfes‐ Worpswede. Erstmals in: Der Tag, Berlin, 27. und tigt habe, dass er den "Klischees von der Ur‐ 28. November 1901), fndet der junge Autor je‐ sprünglichkeit der Landschaft und dem harten, weils einen individuellen Zugang zum Werk. Im ärmlichen Leben der Bauern" folge und die tou‐ Falle Mackensens ist es zwar die gängige Bewer‐ ristische Attraktivität, die Worpswede bereits vor tung als Figurenmaler--ausgehend von der Gold‐ 1900 entfaltete, völlig ausblende (S. 153).

medaille, die Mackensens Bild "Der Säugling" "Langzeilige, rauschende Verse" nennt Rilke die (1892; Abb. S. 39) 1895 in München erhielt, nimmt Werke Otto Modersohns (S. 57). Den Maler selbst dies nicht Wunder--, doch der Ton ist predigthaft, bezeichnet er als "Dichter" (S. 77), der aus der mitunter hymnisch:

"Macken‐ Moorlandschaft und der Erinnerung an seine ei‐ sens Weg ist geradeaus, auf den Menschen zu, auf gene Kindheit und Jugend in Soest und Münster den Menschen dieser einsamen schwarzen Erde, "seine eigenen Märchen", "seine eigene, deutsche, auf der er lebte. Wo er in die Natur sah, fand er nordische Welt" erschafe (S. 78). Das Kapitel scharf umrissene Einzeldinge, aber in den Men‐ selbst gliedert sich in einen allgemeinen und schen, in diesen stillen nordischen Gestalten, war einen biographischen Teil. Gerade letzterem alles zusammengefaßt, was er suchte [...] [D]as ist merkt man das freundschaftliche Verhältnis, das für Mackensen die Figur: der Extrakt der Land‐ zwischen Rilke und Modersohn bestand, an, wie schaft" (S. 50).

In ihrem Essay Anne Buschhof bemerkt (Otto Modersohn, S. geht Dorothee Hansen Rilkes Argumentation im 156-173). Das Worpsweder Auftreten Modersohns Detail nach und kommt zu der Feststellung, dass im Sommer 1889 belegt Rilke mit einer Pathosfor‐ der Dichter mit seinem Verständnis des Malers mel: "Worpswede begann" (S. 70), womit er die Mackensen, dem er die "Entwicklung aus sich Rolle Mackensens als historischem Gründer und selbst" und ein "unmittelbares Naturverhältnis, die Modersohns als Interpret des landschaftlichen verbunden mit dem Hang zur Einsamkeit" be‐ genius loci festschreibt. Buschhofs intelligente scheinige (S. 145), völlig in der Tradition eines ro‐ Analyse des Modersohn-Kapitels fußt auf der Fest‐ mantischen Künstlerverständnisses stehe. Mit ih‐ stellung, dass Rilke darin seine eigenen kunstthe‐ rer Beweisführung gelingt Hansen die klare Ab‐ oretischen Überlegungen fortschreibt. So fände grenzung Rilkes von der kunstwissenschaftlichen sich sowohl das Verständnis der Landschaft als Literatur seiner Zeit, die komparatistisch arbeite‐ auch die Bedeutung der Kindheitserfahrung für te und eine Stilverortung der Worpsweder Kunst das künstlerische Schafen bereits in Rilkes Schrif‐ unternahm. Zugleich arbeitet sie Begrife heraus, ten der Prager Zeit (1898) formuliert. Sie kommt

3 H-Net Reviews zu dem Urteil, dass der Dichter "Modersohns stark, breitschultrig und voll von innerer Werk an den Kategorien seiner eigenen Kunstäs‐ Schweigsamkeit" (S. 81).

Rilkes thetik zu messen" versuche (S. 158). Zugleich aber Urteil über Fritz Overbeck gründet auf der Beob‐ bietet der Kontakt zu Modersohn für Rilke eine achtung, der Maler habe sich der bloßen Wirk‐ lang ersehnte Identifkationsmöglichkeit mit lichkeitswiedergabe verschrieben (Barbara Nier‐ Gleichgesinnten. Indem der Dichter Worpswede hof: Fritz Overbeck, 174). Nierhof führt jedoch zur "Heimat" nimmt (S. 161), wird er unmittelba‐ weiter aus, dass es--anders als im Falle Moder‐ rer Zeuge der Auseinandersetzung der Landschaf‐ sohn--zu keinem engeren Austausch zwischen ter mit der Natur. Und so gewinnt er im Falle Mo‐ Maler und Autor gekommen war. Daher konnte dersohns die Überzeugung, dass sich diese Aus‐ Rilke die Schweigsamkeit Overbecks, die seine tie‐ einandersetzung gleichsam dichterisch äußere. In fere Teilhabe an den Gedanken des Malers ver‐ Rilkes Beschreibungen zu Modersohn verdichten hinderte, nicht in sein System des subjektiven Zu‐ sich poetologische Begrife, worin Buschhof zu gangs integrieren. Folglich fällt sein Essay über Recht eine Fortschreibung des "ut pictura poesis "- Overbeck kritischer aus als bei den anderen Ma‐ Topos sieht (S. 165). Sie betont--wie bereits Han‐ lern (S. 174-175). Zugleich nähert er sich der Wer‐ sen--das Herkommen Rilkes aus romantischer tung an, die die ältere Worpswede-Literatur über Kunsttheorie (S. 165) und geht schließlich auf Ril‐ Fritz Overbeck gefällt hatte. Wie Nierhof aus‐ kes Bildbeschreibungen im einzelnen ein, die dar‐ führlich darlegt, verursacht das vermeintliche auf abzielen, Modersohn als "Werdenden" zu be‐ Wirklichkeitsbedürfnis des Malers bei Rilke ein schreiben, "der seine Kunst formuliert, aber noch abschätziges Urteil, denn der Autor vermisst das nicht vollständig umgesetzt hat" (S. 168). Moder‐ Einfießen der Innenwelt des Malers in sein Werk. sohn selbst war mit der Beschreibung seiner Per‐ In seiner Argumentation übergeht er aber Over‐ son nicht recht zufrieden. Die von Buschhof sorg‐ becks stimmungsvolle und poetische Landschafts‐ fältig herangezogenen Quellen belegen dies ein‐ gemälde, die ihm sehr wohl bekannt gewesen sein deutig. Nach anfänglicher Euphorie-- mussten:

"Die vielschichtige und

"[...] ich fnde das ganze Buch nuancenreiche Landschaftsaufassung Overbecks vorzüglich, voll treficher Erfassung der einzel‐ zwischen Naturalismus und Spätromantik blieb nen Gestalten und Dinge" (briefich am 20. Febru‐ so seitens des Schriftstellers ungesehen" (S. 179).

--wird Moder‐ blockquote>

Jenseits der kunsthistorischen sohn bald skeptischer:

"Rilkes Irrtümer, die sich bei Rilke im Falle Overbecks Buch ist sehr fein ohne Frage--es hat natürlich al‐ nachweisen lassen, ofenbart sein Text jedoch lerlei schiefes" (Tagebucheintrag vom 2. März neues methodisches Potential. Rilke bricht be‐ 1903).

Hier spiegelt sich die Er‐ wusst mit der tradierten Kunstkritik des 19. Jahr‐ nüchterung des Malers, dem Rilkes Interpretation hunderts, verzichtet auf bewährte Bewertungspa‐ als "Märchenmaler" zu eindimensional war. Zu rameter und setzt ihnen einen "psychologischen bemerken bleibt, dass Stenzig zu einem anderen Ansatz der Kunstbetrachtung" entgegen (S. 180). Urteil kommt (S. 281-282). Bei Erscheinen des Bu‐ Nierhofs Beitrag zu Rilke ofenbart die Moderni‐ ches war übrigens auch das freundschaftliche tät des Worpswede-Buches, auch wenn der Dich‐ Verhältnis zwischen beiden bereits merklich ab‐ ter im Falle Overbecks an seiner selbst gewählten gekühlt.

"[...] er war kein Dich‐ Methodik scheitert. Donata Holz sieht sich in ihrer ter. Es träumte irgendwo in ihm hinter einer di‐ Analyse des Rilke-Kapitels zu Hans am Ende (S. cken Schale von Schweigsamkeit und er brauchte 184-191) vor das Problem einer schlechten For‐ ein Gegengewicht dafür in der Welt. Deshalb mal‐ schungslage gestellt. Der Ende des Ersten Welt‐ te er, malte die Dinge nach seinem Ebenbilde, krieges Gefallene wird in der älteren Kunstlitera‐

4 H-Net Reviews tur höchst ambivalent beurteilt. Während Rilke rückgreifen. Seine Bewertung gipfelt in der Fest‐ angesichts der farblichen Delicatesse zu dem Ur‐ stellung: "Er ist der Meister eines stillen, deut‐ teil kommt, Hans am Ende habe "großes Verständ‐ schen Marienlebens, das in einem kleinen Garten nis für das Wesen malerischer Werte" (S. 113), ja vergeht" (S. 141). In Verbindung mit Maria erin‐ male geradezu Musik (S. 117), wertet ihn Gustav nert das Bild des Gartens an das Symbol des hor‐ Pauli als "weniger deutlich ausgeprägte Persön‐ tus conclusus. Tatsächlich evoziert Rilkes Inter‐ lichkeit" (zit. bei Holz, S. 184) ab. Letztlich aber pretation von Vogeler das Bild einer abgeschlosse‐ bewegt sich Rilke mit seiner Einschätzung auf un‐ nen Welt, in die sich der Künstler ohne äußere sicherem Grund, wie Holz nachweisen kann. Der Störung versenken kann (sinngemäß nach Drude, Dichter hatte kaum Kontakt zu dem Maler, kannte S. 192). In der Metaphorik des gesamten Vogeler- nur wenige Ölgemälde und verließ sich auf die Kapitels spielt der Garten und die damit verbun‐ Kenntnis des druckgraphischen Werks. Auch aus denen Assoziationen folgerichtig eine zentrale heutiger Sicht ist Hans am Ende schwierig zu be‐ Rolle (S. 202-203). Realiter war diese abgeschlosse‐ urteilen. Der Verbleib der meisten Werke ist unbe‐ ne Welt Vogelers Barkenhof in Worpswede. Rilke kannt, ein Nachlass hat sich nicht erhalten. Inso‐ bemisst den Künstler nach seinem Grad der In‐ fern ist der Beitrag von Holz in erster Linie keine nerlichkeit, des Hineinfühlens in die Dinge: Analyse Rilkes, sondern vielmehr eine kunsthisto‐

"Er weiß in das Leben der rische Verortung des Malers Hans am Ende. Als kleinsten Blumen hineinzublicken: er kennt sie Schüler der Münchner Akademie, der bei Wil‐ nicht von Sehen und vom Hörensagen [...] Die helm Diez studierte, prägte die innovative Sicht Kunst, in einer Blume, in einem Baumzweig, einer auf die Landschaft sein malerisches Werk. Die Birke oder einem Mädchen, das sich sehnt, den von Rilke konstatierten Einfüsse von Rembrandt, ganzen Frühling zu geben, alle Fülle und den Böcklin und Millet kann Holz verifzieren und um Überfuß der Tage und Nächte,--diese Kunst hat eine französische Komponente erweitern: Erhel‐ keiner so wie Heinrich Vogeler gekonnt" (S. 129). lend ist ihr Bildvergleich mit Daubigny (S.

Der Dichter hat umfassende 186-187). Rilke stellt die Radierungen am Endes in Kenntnisse von Vogelers Werk. So geht er am Bei‐ den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und liegt spiel der Mappe "An den Frühling" ein auf Linien‐ dabei richtig. Im Bereich der Druckgraphik spielte duktus und Bildkomposition, bespricht Vogelers der Künstler innerhalb des Worpsweder Bezie‐ Buchgestaltungen, die Farbwirkungen früher Ge‐ hungsgefechtes eine zentrale Rolle und übte auf mälde, nennt aber auch die kunsthandwerklichen Vogeler großen Einfuss aus. Zugleich zeigt er sich Arbeiten des Allrounders Vogeler. Die Beschäfti‐ von den Radierungen Klingers beeinfusst, was gung Rilkes mit diesem Künstler beginnt bereits Rilke bereits bemerkt, und Holz unter Heranzie‐ vor den Arbeiten zur Worpswede-Monographie. hung brieficher Quellen (S. 188-189) nochmals In seinem Kommentar verweist Christian Drude belegt. Holz gelingt mit ihrem Beitrag eine Reha‐ (Heinrich Vogeler, S. 192-211) auf Rilkes Aufsatz bilitierung des weitgehend Unbekannten, sie be‐ von 1902,[2] aber auch auf die seit 1898 intensiv tont, "daß die dichterische Ernsthaftigkeit eines verlaufende Künstlerfreundschaft (S. 193-194). Böcklin neben der Leichtigkeit und Frische der Die Nähe der ästhetischen Positionen, die sich impressionistischen Manier eines Daubigny" steht vereinzelt in künstlerischen Kooperationen nie‐ (S. 191). So bestätigt sich in der aktuellen kunst‐ derschlägt, machen das Vogeler-Kapitel zum Über‐ historischen Sicht Rilkes Urteil zu Herkunft und zeugendsten in Rilkes Schrift. Anders als die übri‐ Stellung des Malers.

Im Falle Heinrich Voge‐ gen Künstler, die immer als "Werdende" bezeich‐ lers kann Rilke (S. 121-141) hingegen auf einen net sind, gilt Vogeler für Rilke als Frühvollendeter, reichen Fundus persönlicher Erfahrungen zu‐ dessen geistige Entwicklung "ein geradezu som‐

5 H-Net Reviews nambules Aufnden geistesverwandter ästheti‐ sich durchaus positiv. Das Urteil Vogelers ist zu‐ scher Einfüsse impliziert" (S. 195). Rilke, so Dru‐ nächst bestimmt vom seelischen und ästhetischen de, interpretiert Vogelers Realitätsferne als "Be‐ Gleichklang zwischen dem Maler und dem Dich‐ gründung einer zweiten Wirklichkeit" (S. 196), die ter. So bestätigt er Rilkes Deutung gänzlich, erst durch und durch narzisstisch geprägt ist (S. 202). mit zunehmender Entfremdung sieht Vogeler sei‐ Damit setzt er dem Künstler jedoch auch Grenzen, ne Darstellung kritischer. Im Spätwerk des inzwi‐ Grenzen, die er selbst zu nutzen weiß. Indem Dru‐ schen in die Sowjetunion Emigrierten kommt es de spätere Quellen heranzieht und die weitere Be‐ aber zu einer merkwürdigen Annäherung an Ril‐ ziehung zwischen beiden beleuchtet, kann er dies ke--eine Beobachtung, die zu den spannendsten belegen. In seiner Autobiographie schreibt Voge‐ Passagen bei Stenzig zählt. Auf der Suche nach ei‐ ler:

"Hatte er doch meinem Le‐ ner neuen Kunst, die die Lehren des Leninismus ben und meiner Arbeit Grenzen gesetzt, in denen adäquat abzubilden erlaubt, verfasst Vogeler eine auch er der Romantik seiner eigenen Träume Schrift über Paula Becker-Modersohn (Stenzig, S. nachgehen konnte, so wie er auch über mich und 284-285), die zwar am Wesen der Malerin vorbei‐ meine künstlerische Arbeit geschrieben hatte" zielt, in ästhetischer Hinsicht, so Stenzig, aber als (zit. bei Drude, S. 198).

Die Ent‐ Fortentwicklung Rilkes zu sehen sei.

Der mit fremdung zwischen Rilke und Vogeler setzte "Erinnerungen" überschriebene Abschnitt des Ka‐ schon bald nach der Abreise Rilkes nach Paris ein taloges (S. 214-257) vereint neun Texte, zumeist (1903). Die Großstadterfahrung führt zum Bruch von Zeitzeugen des Rilkeschen Aufenthaltes im Rilkes mit der umgrenzten Welt Vogelers. Drude Bremer Umland (Fritz Overbeck; Gustav Pauli; skizziert die wichtigsten Stationen der zunehmen‐ Marga Berck, die spätere Magda Pauli; Fritz Ma‐ den Entfernung nach (S. 205-206). Die Verortung ckensen; Otto Modersohn; Martha Vogeler; Rolf Vogelers steht also in starkem Kontrast zu denen Hetsch und Rudolf Alexander Schröder) bzw. von der anderen Künstler. Während Rilke die Kunst dem Barkenhof-Stipendiaten Emmett Williams (A der ersten vier Worpsweder aus dem Erlebnis der Ghost Story, S. 256-257) sowie eine als "Bild-Essay" Landschaft zu erläutern sucht, ist es bei Vogeler überschriebene Serie zeitgenössischer Fotografen das subjektive Weltempfnden, das im Grunde (1900-1902) von Johann Tietjen (S. 236-243). Tiet‐ den hohen Himmel und die Weite der Ebene aus‐ jen arbeitete als Fotograf der Moor-Versuchsstati‐ blendet (Drude, S. 201).

Rilkes Werk hat mit on in Bremen. Gerade dieser letzte Beitrag bedürf‐ der Ausstellung und der Begleitpublikation nach te eines erläuternden Kommentars, auf den je‐ einhundert Jahren die Aufmerksamkeit erfahren, doch, wie auch bei den anderen Texten, verzichtet die ihm gebührt. Darin liegt das Hauptverdienst wird. Es handelt sich um vier großformatige "Pho‐ des Projektes. Die Rilke-Forschung hat das Werk tographien aus dem Moor", die scheinbar den All‐ lange vernachlässigt (vgl. Stenzig, passim), und tag der Worpsweder Moorbewohner zeigen. Wäh‐ auch die Zeitgenossen nahmen eher den Dichter rend die Präsentation der Tietjen-Aufnahmen in des "Cornet" und des Stundenbuches wahr als den der Bremer Ausstellung einen ganzen Raum füllte Kunstschriftsteller. Und die Worpsweder Künst‐ und facettenreich, aber keineswegs immer au‐ ler? Stenzig gibt einen lesenswerten Überblick. thentisch--manche der Bauern posierten für die Paula Becker-Modersohn war "nicht besonders teilweise gestellten Aufnahmen im Sonntagsstaat-- angetan", Modersohn hatte--wie bereits ausge‐ eine romantisierende Sicht auf die Lebenswirk‐ führt (auch Stenzig, 281-283)--ein ambivalentes lichkeit zeigte, kann die Auswahl im Katalog dies Verhältnis, während sich Mackensen entschieden nicht vermitteln. Im übrigen sind die "Erinnerun‐ dagegen ausspricht. Von Hans am Ende ist keine gen" trefend ausgewählt und vermögen es, beim Aussage überliefert, und nur Overbeck äußert Leser das bis dato gewonnene Bild von Rilkes

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Worpsweder Zeit beträchtlich zu erweitern. Glei‐ wede, wenn auch vereinzelt--vor allem bei Busch‐ ches gilt für die von Rieke Marquarding zusam‐ hof--darauf verwiesen wird. Die einleitenden Sei‐ mengestellte Chronologie (Rainer Maria Rilke und ten sind programmatisch zu nennen, gerade in ih‐ Worpswede, S. 310-363). Sie umfasst den Zeitraum rer Bewertung der Landschaftsmalerei und der von der ersten Begegnung Rilkes mit Heinrich Vo‐ daraus abzulesenden Kunsttheorie Rilkes. Auch geler in Florenz (April 1898) bis zum Tod des wäre eine Analyse der Benennung von Vorbildern Dichters im Januar 1927. Sinnvoll mit historischen wie Millet, Segantini, Böcklin oder Puvis de Cha‐ Fotografen von Personen und Dokumenten auf‐ vannes erhellend. Der Verzicht ist umso

be‐ gelockert, ist Marqardings Beitrag eine wertvolle dauerlicher, als dass Rilkes Epilog, der sich dem Ergänzung zu den bereits besprochenen Artikeln. Vogeler-Kapitel anschließt (S. 141), in Drudes Er fängt den kulturhistorischen und biographi‐ Kommentar geistreich interpretiert wird (S. schen Kontext ein, der andernorts nicht erfasst 207-208). Eine Würdigung der Bildbeschreibun‐ werden kann. Bedauerlicher Weise verzichtet Ma‐ gen Rilkes wäre durchaus sinnvoll, zumal der Au‐ rquarding auf einen Anmerkungsapparat, so dass tor hier in den Wettstreit mit der Malerei tritt. In gerade die zahlreich eingesetzten Zitate aus Pri‐ seinen Ekphrasis-Passagen malt der Text die märquellen nicht nachgewiesen sind. Dem neu‐ Landschaft geradezu nach. Eine Untersuchung gierigen Leser bleibt nur die vage Möglichkeit, die der ekphrastischen Komponente im Worpswede- Quellen in der umfangreichen Bibliographie zu Buch bleibt jedoch ein Forschungsdesiderat. Ana‐ suchen, was angesichts des Umfangs des Litera‐ lysen zu Rilkes Kunstanschauung fehlen jedoch turverzeichnisses kaum möglich ist (S. 364-381). nicht. Rita Rios reißt das Thema der Ekphrasis in Dieses ist sorgfältig, umfassend und aktuell, ihrem Beitrag an (Zu Rilkes Ästhetik der Frühzeit, wenngleich die Zuordnung mancher Titel unklar S. 288-297), widmet sich im wesentlichen aber erscheint.

Ein gelungenes Werk also? Fast zur dem Verhältnis von Selbst und Natur bei Rilke. Gänze. Was fehlt? Ein Vergleich mit anderen Wer‐ Ausgehend von der Malerei habe Rilke eine Ästhe‐ ken der Kunstliteratur, wie beispielsweise Roeß‐ tik entwickelt, die in der Kunst den Vermittler lers Dachau-Monographie[3] wäre angebracht, zwischen Natur und Mensch sehe (S. 291). Somit um diese Dimension der Rilke-Rezeption auszulo‐ bündelt die Autorin Gedanken, die sich auch in ten. Das fehlende Personen- und Ortsregister ist anderen Beiträgen fnden. Gewinnbringend ist ein wirkliches Manko. Am Rande sei bemerkt, ihre Anbindung an Rilkes späteres, vor allem lyri‐ dass das Layout des Bandes--die Gestalter haben sches Werk. Rilke schreibt:

"[...] sich in Format, Satz und Umschlagsgestaltung am jetzt ist es die Landschaft, die wirkliche Natur, zu Original orientiert--die Möglichkeit einer großfor‐ der die Dinge, seit man sie aufmerksamer be‐ matigen Bebilderung nimmt. Die Abbildungen-- trachtet, langsam hingeführt haben. Der Künstler die Farbauthentizität könnte oftmals besser sein-- von heute empfängt von der Landschaft die Spra‐ erscheinen mitunter sehr klein, mitunter aber che für seine Geständnisse und nicht der Maler al‐ auch auf einer Doppelseite, was den Genuss lein" (S. 61).

Darin liegt der durch den Knick in der Mitte doch trübt. Es wäre Kern späterer ästhetischer Anschauungen. Wenn vielleicht besser, die Form würde der Funktion Rilke in seinen Gedichten der Pariser Zeit das We‐ folgen. Weiterhin wünschte man sich die Tran‐ sen der Dinge sprachlich auszudrücken sucht, so skription einiger im Bild gezeigter Dokumente, ist das ohne die Naturaneignung der Worpsweder vor allem die der "Festspielszene" (S. 299), die Ril‐ Zeit schwer vorstellbar. Zu einem ähnlichen ke anlässlich der Einweihung der Bremer Kunst‐ Schluss kommt auch Sieghild Bogumil-Notz (Rilke halle 1902 schrieb.

Schließlich fehlt eine ein‐ und die Kunst: ein kongeniales Gespräch, S. gehende Analyse von Rilkes Einleitung zu Worps‐ 298-309). "Die Suche nach der analogen Aussage‐

7 H-Net Reviews ebene in der Dichtung, um das sachliche Hervor‐ bringen eines Gegenstandes mittels der Sprache" (S. 301) geschieht bei Rilke über die Kunstan‐ schauung. Greifbar wird dies in seiner Beschäfti‐ gung mit Rodin und Cézanne (S. 301-305), der sich die Autorin--darin den zeitlichen Kontext der Künstlermonographie sinnvoller Weise hinter sich lassend--hauptsächlich widmet. Gleichwohl: Den Nukleus von Rilkes Kunstanschauung bildet "Worpswede".

Anmerkungen

[1]. Rilke. Worpswede. Eine Ausstellung als Phantasie über ein Buch. Kunsthalle Bremen 29. Juni - 24. August 2003. Online unter:

[2]. Rainer Maria Rilke: Heinrich Vogeler. In: Deutsche Kunst und Dekoration, 10/7, 1902, S. 42-44.

[3]. Arthur Roeßler: Neu-Dachau. Ludwig Dill, Adolf Hölzel, Arthur Langhammer, Bielefeld/Leipzig 1905.

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Citation: Matthias Hamann. Review of Rilke. Worpswede. Eine Ausstellung als Phantasie über ein Buch. H-Museum, H-Net Reviews. December, 2003.

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