Tschaikowsky-Gesellschaft

Mitteilungen Online

Aufsätze:

Čajkovskij im Nationalsozialismus (Wilhelm Büttemeyer)

Publikationsdatum (online): 15. September 2020 URL: http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/mitteilungen-online/2020-09-15- Nationalsozialismus-Buettemeyer-Mitt-Online.pdf

Abkürzungen, Ausgaben, Literatur sowie Hinweise zur Umschrift und zur Datierung: http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/index_htm_files/abkuerzungen.pdf.

Copyright: Tschaikowsky-Gesellschaft e.V. / Tchaikovsky Society http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/impressum.htm [email protected] / www.tschaikowsky-gesellschaft.de

Redaktion: Lucinde Braun und Ronald de Vet ISSN 2191-8627

Čajkovskij im Nationalsozialismus

Čajkovskij im Nationalsozialismus1

Wilhelm Büttemeyer

Vor einiger Zeit habe ich mich mit Petr Čajkovskijs Art der Instrumentierung seiner Or- chesterwerke beschäftigt.2 Dabei konnte ich wegen seiner Bedeutung nicht an einem ei- gentlich recht bekannten Sachverhalt vorbeigehen: der Verwendung der Celesta. Čajkov- skij hatte das erst 1886 von dem französischen Instrumentenbauer Auguste Mustel paten- tierte Instrument als erster in einem Orchesterstück eingesetzt, nämlich 1891 in der kaum bekannt gewordenen Symphonischen Ballade Voevoda (Der Wojewode), und erneut ein Jahr später im Ščelkunčik (Der Nussknacker), einem der meistgespielten Ballette, dessen beliebte Suite zudem im Konzertsaal heimisch wurde. Deshalb war ich sehr überrascht, als ich in der Erstauflage der deutschen Standard-Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart las, der Klang der Celesta sei „vor allem durch Strauss’ Rosenkavalier bekannt geworden“,3 der erst 1911 – also 20 Jahre später – uraufgeführt wurde. Noch erstaunter war ich, als ich dann feststellte, dass Friedrich Blume, der Herausge- ber der Enzyklopädie, 1939 ein Buch über Das Rasseproblem in der Musik veröffentlicht hatte, das 1944, als es in Deutschland kriegsbedingt kaum noch Papier gab, in zweiter Auf- lage erscheinen durfte. Hier sah er darin, dass die Musik – wie jede geistige Tätigkeit – auf „die rassische Zusammensetzung ihrer Träger“ zurückgeht, ein Postulat seiner Welt- anschauung. Und Ludwig K. Mayer, der als Autor des erwähnten Lexikoneintrags dem er- sten Präsidenten der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer unzutreffende Meriten angedichtet hat, betätigte sich schon vor 1933 als Münchner Musikreferent der NS-Zeitung Völkischer Beobachter und seit 1938 als Mitarbeiter in Goebbels Reichsmusikprüfstelle.4 Eine ähnliche Verknüpfung der Celesta mit Richard Strauss findet sich im Musiklexikon des nationalsozialistischen Musikwissenschaftlers Hans Joachim Moser.5 Es sieht demnach so aus, als hätten sich rassistische Vorbehalte und Wertungen noch lange nach dem Zusam- menbruch des NS-Staates negativ auf die deutsche Čajkovskij-Rezeption ausgewirkt.

1 Ausarbeitung eines Vortrags, den der Verfasser am 30. Juni 2017 in Frau Prof. Violeta Dinescus Kompo- nisten-Colloquium an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gehalten hat; zuerst gekürzt erschienen in Mitteilungen 25 (2018), S. 9–35. Für hilfreiche Hinweise dankt der Autor Frau Dr. Lucinde Braun, Frau apl. Prof. Dr. Kadja Grönke und Herrn Ronald de Vet. 2 Wilhelm Büttemeyer, Zur Instrumentierung der Orchesterwerke Čajkovskijs, in: Mitteilungen 23 (2016), S. 19–38, bes. 34 f. 3 Ludwig K. Mayer, Eintrag „Instrumentation“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Abkürzung: MGG), Kassel 1951–86, Bd. 6 (1957), Sp. 1284. 4 Friedrich Blume, Das Rasseproblem in der Musik, Wolfenbüttel / Berlin 1939, S. 3; ²1944, S. 3. Vgl. Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, S. 504–509 (Eintrag „Blume“) und 4501– 4505 (Eintrag „Mayer“). – Zu ähnlichen Fällen in MGG vgl. Roman Brotbeck, Verdrängung und Abwehr. Die verpaßte Vergangenheitsbewältigung in Friedrich Blumes Enzyklopädie ‚Die Musik in Geschichte und Gegenwart‘, in: Anselm Gerhard (Hrsg.), Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin?, Stuttgart 2000, S. 347–384; Ulrich Drüner u. Georg Günther, Musik und „Drittes Reich“. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik, Wien 2012, S. 332–336. 5 Hans Joachim Moser, Musiklexikon, Berlin ²1943, S. 136; Hamburg 31951, S. 167; 41955, Bd. I, S. 189. Ein an Instrumentierung interessierter Autor hätte schon 1922 bei Nikolai Rimsky-Korssakow (Grundlagen der Orchestration, Berlin 1922, Bd. 1, S. 35) lesen können, die Celesta habe „als erster Tschaikowsky angewen- det“.

1

Čajkovskij im Nationalsozialismus

Diese Feststellungen waren der Anlass, das Thema ‚Čajkovskij im Nationalsozialis- mus‘ ins Auge zu fassen – ein recht ungewöhnliches Thema. Denn wer sich überhaupt mit Musik im Nationalsozialismus beschäftigt, nimmt vor allem drei Fragestellungen in den Blick: 1. die Bemühungen des Regimes, die Musik in den verschiedensten Bereichen zu kon- trollieren und zu beeinflussen; 2. das Schicksal derjenigen Musiker, die wegen ihrer Abstammung oder politischen Gesinnung entlassen, verfolgt oder gar zugrunde gerichtet wurden; 3. die Ächtung der sogenannten „entarteten“ Musik. Das Thema ‚Čajkovskij im Nationalsozialismus‘ gehört dagegen in einen eher rezeptions- geschichtlichen Zusammenhang. Es ist weniger brisant als die genannten, weil Čajkovskij schon nicht mehr lebte und weder jüdischer Abstammung noch Anhänger des Marxismus war. Wer deshalb meint, es sei gar kein Thema, weil Čajkovskij als ‚Nicht-Jude‘ durch den Nationalsozialismus nicht betroffen sei, macht es sich aber zu leicht. Denn er übersieht, dass die Nationalsozialisten gegen alles nicht ‚Arische‘ zu Felde zogen und alles nicht ‚Germanische‘ hochmütig mit Verachtung behandelten. – Tatsächlich besitzt mein Thema so viele Facetten, dass ich einige Aspekte ausklammern muss: Zeitungsberichte, Rund- funksendungen, den gesamten Komplex der Musikerziehung und musikalische Aktivitäten in Konzentrationslagern. Um die Vergleichbarkeit mit der Zeit vor 1933 zu wahren, blei- ben auch die Verhältnisse in den von Deutschen besetzten Gebieten (Tschechoslowakei, Österreich, Polen usw.) unberücksichtigt.

Bevor ich mein Thema direkt angehe, dürfte es für den Vergleich von Vorteil sein, den Stand der Čajkovskij-Rezeption in Deutschland vor 1933 in Veröffentlichungen, Konzert- sälen und Opernhäusern in groben Zügen zu vergegenwärtigen. Diese Rezeption galt keineswegs „zuerst den solistischen Konzerten“ – gemeint sind das Erste Klavierkonzert und das Violinkonzert, die im deutschsprachigen Raum ja erst zwischen 1878 und 1881 erstaufgeführt wurden;6 sie setzte, wie Lucinde Braun gezeigt hat, schon früher ein.7 Neben Musikliebhabern waren daran Musikkritiker und -schriftsteller, Verleger, Interpreten und Impresarios in vielfältiger Weise beteiligt. Schon am 26. Mai 1870, knapp drei Wochen nach Čajkovskijs dreißigstem Geburtstag, erschien in der Zeit- schrift Signale für die Musikalische Welt ein Hinweis auf seine Romanzen op. 6.8 Der Ber- liner Musikverlag Bote & Bock veröffentlichte 1871 die zweite Fassung der Fantasie-Ou- vertüre Romeo i Džul’etta (Roméo et Juliette); im Leipziger Musikverlag Portius erschie-

6 Dammann, S. 88; zu den Erstaufführungsdaten vgl. Thomas Kohlhase, Systematisches Verzeichnis der Wer- ke Pëtr Il’ič Čajkovkijs (ČWV) (ČSt 17), S. 239 u. 242. 7 Lucinde Braun, „Mögen diese hübschen Lieder doch auch mit deutschen Worten erscheinen“. Hans Schmidt und die Anfänge der Čajkovskij-Rezeption in Deutschland, in: Mitteilungen 19 (2012), S. 86–97; dies., „Bilder des Nordens“ – Čajkovskijs Klavierzyklus ‚Die Jahreszeiten‘ und seine frühe Verbreitung in Europa, in: Die Musikforschung 66 (2013), S. 130–156. Zur Čajkovskij-Rezeption in Deutschland vgl. Tschaikowsky aus der Nähe; Ljudmila Korabel’nikova, Čajkovskij im Dialog mit Zeitgenossen, in: ČSt 1, S. 187–198; David Brown, Peter Tschaikowsky im Spiegel seiner Zeit, Zürich 1996; Schlagworte, Tendenzen und Texte zur frühen Čajkovskij-Rezeption in Deutschland und Österreich, zusammengestellt von Thomas Kohlhase, in: ČSt 3, S. 327–354; Thomas Kohlhase (Hrsg.), „An Tschaikowsky scheiden sich die Geister“. Textzeugnisse der Čajkovskij-Rezeption 1866–2004 (ČSt 10); Dorothea Redepenning, Zur frühen Verbrei- tung und zur Rezeption der Werke Tschaikowskys in Deutschland, in: Wolfgang Sandberger (Hrsg.), Kontra- punkte. Symposium. Grenzenlos? Tschaikowsky in Deutschland, Lübeck 2016, bes. S. 65–71. 8 F. B., Sechs russische Romanzen für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von P. Tschaikowsky, in: Signale für die Musikalische Welt, Jg. 28, Nr. 30 (26. Mai 1870), S. 466.

2

Čajkovskij im Nationalsozialismus nen 1874 die Six Morceaux op. 19, und ab 1876 brachten die Leipziger Verlage Forberg und Leuckart Klavierwerke, Kammermusik und Lieder in deutscher Übersetzung heraus.9 Damit war ein Grundstock für öffentliches und privates Musizieren gelegt, durch das Čaj- kovskij und seine Musik bekannt werden konnten. Der Pianist und Dirigent Hans von Bü- low, der sich für die Aufführung von Werken Čajkovskijs einsetzte und das Erste Klavier- konzert aus der Taufe hob, äußerte sich auch in einem Artikel der Münchner Allgemeinen Zeitung anerkennend über ihn, wobei er erwähnte, das „schöne“ Erste Streichquartett (von 1871) habe sich „bereits in vielen deutschen Städten eingebürgert“.10 Nach weiteren Aufführungen und Besprechungen seiner Werke kam Čajkovskij als „einer der angesehensten russischen Komponisten der Gegenwart“ mit der Aufnahme ins Musikalische Conversations-Lexicon, in Hugo Riemanns Musik-Lexikon und andere Hand- bücher zu enzyklopädischen Ehren.11 1887 erschien er in Hermann Kretzschmars Konzert- führer, allerdings vorerst nur mit der Streicherserenade und der Zweiten Orchester-Suite.12 Am Ende dieses Jahres reiste er nach Deutschland, um hier Konzerte mit eigenen Werken zu dirigieren, und konnte in den Musikzentren Leipzig, Hamburg und Berlin auf Förderer und begeisterte Zuhörer zählen.13 1890 wurde der „geniale russische Tondichter“ von Max Charles in einem Kapitel seiner Darstellung zeitgenössischer Komponisten gewürdigt. Während Charles festhielt, dass man die „beiden prächtigen Klavierkonzerte“, kleinere Klavierwerke und Lieder gern vortrug, beklagte er, dass Čajkovskijs Opern, seine „herrli- chen Orchester-Suiten“ und andere Orchesterwerke noch „wenig gespielt“ würden.14 Doch schon bald wuchs das Interesse – nicht nur für die musikalischen Werke, son- dern auch für die musiktheoretischen und musikkritischen Arbeiten. Die Opern Evgenij Onegin (Eugen Onegin) und Iolanta (Jolanthe) erlebten ihre deutsche Erstaufführung 1892 bzw. 1893 durch in Hamburg. Später folgten Pikovaja dama (Pique Dame, Darmstadt 1900), Mazepa (Mazeppa, Wiesbaden 1931), Čerevički (Die goldenen Schuhe, Mannheim 1932, und unter dem Titel Der Pantoffelheld ebenfalls 1932 in Köln).15 1895

9 Eine Liste der in Deutschland zwischen 1871 und 1878 veröffentlichten Werke Čajkovskijs findet sich in Lucinde Braun, „Bei Brandus in Paris gibt es alle meine Werke“ – Zur frühen Verbreitung von Čajkovskijs Musik in Frankreich, in: Mitteilungen 19 (2012), S. 45–73, bes. 46–48. 10 Hans von Bülow, Musikalisches aus Italien II, in: Allgemeine Zeitung (München) 1874, Nr. 152 (1. Juni 1874); auch in ders., Briefe und Schriften, hrsg. v. Marie von Bülow, Bd. III, Leipzig 1896, S. 349; auszugs- weise in Kohlhase (Hrsg.), „An Tschaikowsky scheiden sich die Geister“, S. 54 f. Vgl. Marek Bobéth, Pëtr Il’ič Čajkovskij und Hans von Bülow, in: ČSt 3, S. 355–366. 11 Musikalisches Conversations-Lexikon. Eine Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften. Für Gebildete aller Stände, begründet von Hermann Mendel, fortgesetzt von August Reissmann, Berlin 1878, Bd. 10, S. 327 f.; Meyers Konversations-Lexikon, 3. Auflage, Bd. 17, Leipzig 1880, S. 903; Hugo Rie- mann, Musik-Lexikon, Leipzig 1882, S. 941 (²1884, S. 941; ³1887, S. 1019); August Reissmann (Hrsg.), Handlexikon der Tonkunst, Berlin 1882, S. 577. Vgl. Luis Sundkvist, Čajkovkijs Brief an die Redaktion von Meyers Konversations-Lexikon, in: Mitteilungen 21/I (2014), S. 141–147. 12 Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal, 1. Abt.: Sinfonie und Suite, Leipzig 1887, S. 230 f. 13 Vgl. Tagebücher, bes. Tagebuch Nr. 7; Musikalische Essays, Anhang II: Autobiographische Beschreibung einer Auslandsreise im Jahre 1888; LebenTsch, Bd. 2, Teil 3, Kap. I u. X; Kohlhase (Hrsg.), „An Tschaikow- sky scheiden sich die Geister“, S. 97–111; Wolfgang Glaab, Tschaikowsky in Leipzig, Leipzig 2012; Peter Feddersen, Tschaikowsky in Hamburg. Eine Dokumentation (ČSt 8). Čajkovskij dirigierte die Erste Orches- tersuite, das Finale der Dritten Orchestersuite, das Erste Klavierkonzert, die Streicherserenade, Romeo und Julia, Das Jahr 1812 und das Andante des Ersten Streichquartetts in einer Orchesterfassung. Außerdem wurden in Leipzig dieses Streichquartett und das Klaviertrio aufgeführt. 14 Max Chop [= Max Charles], Zeitgenössische Tondichter. Studien und Skizzen. Neue Folge, Leipzig 1890, S. 227–249, bes. 246 u. 247. 15 Vgl. Sigrid Neef, Handbuch der russischen und sowjetischen Oper, Kassel / Basel 1989, S. 677, 702, 699, 684 u. 688.

3

Čajkovskij im Nationalsozialismus veröffentlichte Iwan Knorr die erste separate Analyse eines Werkes von Čajkovskij, näm- lich Erläuterungen zur Dritten Orchester-Suite, denen sich in schneller Folge mehr als ein Dutzend weitere Analysen zugesellten.16 Eine Übersetzung des Leitfaden[s] zum prakti- schen Erlernen der Harmonie, den Čajkovskij als Lehrbuch für seinen Unterricht am Mos- kauer Konservatorium verfasst hatte, erschien 1899; gleichzeitig kamen seine Musikkriti- ken unter dem Titel Musikalische Erinnerungen und Feuilletons heraus, die der auflagen- starke Reclam-Verlag 1922 sogar in einer erweiterten Sammlung übernahm.17 Am 28. und 29. Juni 1902 fand in Bad Pyrmont eine Čajkovskij-Feier mit mehreren Konzerten und einer Ansprache des bekannten Musikforschers Hugo Riemann statt.18 1907 nannte Ferdinand von Strantz in seinem Opernführer unter den mehr als 200 Opern und Singspielen, „die den Spielplan unserer Bühnen beherrschen“, auch Pique Dame und Eu- gen Onegin, was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sie keineswegs zu den meistgespielten Opern gehörten.19 1912 führten die Ballets russes bei einem Gastspiel am Berliner Theater des Westens Lebedinoe ozero (Der Schwanensee) auf,20 der sich dann in Leipzig und München einen festen Platz in den Spielplänen eroberte.21 Als Indiz für die Beliebtheit im Konzertsaal mag gelten, dass Willem Mengelberg in den Konzerten, die er in den gut 22 Jahren vom Herbst 1907 bis zum Frühjahr 1929 bei der Frankfurter Mu- seums-Gesellschaft gab, 34 Mal Werke von Čajkovskij dirigierte: neben den letzten drei Sinfonien, dem Violin- und Ersten Klavierkonzert, der Streicherserenade sowie Romeo und Julia, die mehrfach wiederholt wurden, auch die Manfred-Sinfonie, die Dritte Orchester- suite, die Nussknacker-Suite und mehrere Orchesterouvertüren.22 Das Erste Klavierkonzert

16 Peter Tschaikowsky, Suite No. 3 (in G-Dur) für Orchester Op. 55, erl. v. Iwan Knorr, Frankfurt/Main [1895; Der Musikführer (Abk.: MF), Bd. 5]; Serenade für Streichorchester Op. 48, Frankfurt/M. [1895; MF Bd. 17]; Sechste Symphonie (H-moll, Symphonie pathétique, Op. 74), erl. v. Hugo Riemann, Frankfurt/M. [1897; MF Bd. 130]; Symphonie ‚Manfred‘ (H-moll) Op. 58, erl. v. Hugo Riemann, Frankfurt/M. [1897 u.ö.; MF Bd. 141]; Hermann Kretzschmar, Symphonie pathétique, Leipzig [1898]; Peter Tschaikowsky, Sympho- nie in E-moll (No. 5) Op. 64, erl. v. C[arl] Beyer, Berlin [1899; MF Bd. 146); Konzert für Violine mit Beglei- tung des Orchesters (D-Dur) Op. 35, erl. v. Adolph Pochhammer, Leipzig [1900; MF Bd. 161]; Hamlet, erl. v. Hermann Teibler, Leipzig [1901; MF Bd. 214]; Romeo und Julia, Ouverture-Fantasie nach Shakespeare, erl. v. Hermann Teibler, Leipzig [1901; MF Bd. 219]; Der Nußknacker. Suite für großes Orchester, Op. 71a, erl. v. Georg Riemenschneider, Leipzig [1902; MF Bd. 229]; Mozartiana-Suite, erl. v. Walter Niemann, Leipzig [ca. 1905; MF Bd. 233]; Francesca da Rimini Op. 32, erl. v. Walter Niemann, Leipzig [1905; MF Bd. 239]; Capriccio Italien für großes Orchester, erl. v. Hermann Teibler, Leipzig [1905; MF Bd. 250]; 1812 Ouverture für großes Orchester Op. 49, erl. v. Hermann Teibler, Leipzig [1902; MF Bd. 254]; Vierte Sym- phonie F-moll für großes Orchester, Op. 36, erl. v. Hermann Teibler, Berlin [ca. 1902; MF Bd. 255]; Erste Suite, D moll für großes Orchester, Op. 43, erl. v. Hermann Teibler, Leipzig [1902; MF Bd. 264]; C[arl] Beyer u.a., Peter Tschaikowsky’s Orchesterwerke erläutert mit Notenbeispielen, Berlin [1911]. 17 P. Tschaikowsky, Leitfaden zum praktischen Erlernen der Harmonie, übers. v. Paul Juon, Leipzig 1899; ders., Musikalische Erinnerungen und Feuilletons, übers. v. Heinrich Stümcke, Berlin 1899; ders., Erinne- rungen eines Musikers, Leipzig 1922. 18 Vgl. Kohlhase (Hrsg.), „An Tschaikowsky scheiden sich die Geister“, S. 233–235. 19 Ferdinand von Strantz, Opernführer. Opern und Singspiele die den Spielplan unserer Bühnen beherrschen [...], Berlin [1907], S. 323 f. u. 416. Nach Wolfgang Poensgen, der sich auf Angaben des Mannheimer Sta- tistischen Amtes stützt, gehörten in der Vorkriegszeit weder Čajkovskij zu den beliebtesten Opernkomponisten noch eine seiner Opern zu den populärsten oder am beständigsten gespielten Bühnenwerken; vgl. seine Dissertation Der deutsche Bühnen-Spielplan im Weltkriege, Berlin 1934, S. 24. 20 Vgl. Otto Keller, Tschaikowsky. Ein Lebensbild, Leipzig 1914, 21924, S. 25; Birgit Zeidler, Die Ballets Russes in der Berliner Kunst (1910–1914), in: Claudia Jeschke u.a. (Hrsg.), Spiegelungen. Die Ballets Russes und die Künste, Berlin 1997, S. 186–254, bes. 247. 21 Vgl. Bogusław Drewniak, Das Theater im NS-Staat. Szenarium deutscher Zeitgeschichte 1933–1945, Düs- seldorf 1983, S. 324. 22 Vgl. Ronald de Vet, Willem Mengelberg als Čajkovskij-Dirigent, in: Mitteilungen 18 (2011), S. 42–203, bes. 109. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Berliner Philharmonischen Orchester, das von 1918/19 bis

4

Čajkovskij im Nationalsozialismus galt als „das Jahrzehnte lang meist gespielteste [sic] Konzert nach Liszt“.23 Es trat vor Čaj- kovskijs anderen Klavierkonzerten und seiner Konzertfantasie immer stärker in den Vor- dergrund; in den Dreißiger Jahren wurde es teilweise sogar ohne Nummerierung oder Ton- artangabe einfach als ‚Čajkovskijs Klavierkonzert‘ angekündigt.24 In der Spielzeit 1932/33 kamen aus Anlass des 40. Todestages etliche seiner Werke zur Aufführung, so dass man zum Beispiel mit Bezug auf Bremen von einer „Woge der Tschaikowskij-Begeisterung“ sprach.25 Tatsächlich erklangen dort innerhalb weniger Monate die Sechste Sinfonie, das Erste Klavierkonzert, das Violinkonzert und die Nussknacker-Suite und wurden zum Teil in mehreren Konzertvereinen wiederholt.26 In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ergänzten deutschsprachige oder ins Deutsche übersetzte Bücher über Čajkovskij und seine Musik die gängigen Opern- bzw. Konzertführer und gedruckten Werkanalysen. So erschien zur Jahrhundertwende das grundlegende zweibändige Werk Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowskys aus der Feder seines Bruders Modest, dem bald fünf weitere Monographien von unterschiedlichem Wert folgten: von Iwan Knorr, Karl Hrubý, Otto Keller, Max Steinitzer und Richard H. Stein.27 Der all dieser Schriften war – mit Abstrichen – weitgehend positiv. Sowohl Čajkov- skijs noble, sympathische Persönlichkeit als auch seine bedeutendsten Werke wurden her- ausgestellt, auch wenn persönliche Vorlieben, Abneigungen und Wertmaßstäbe der Auto- ren zu unterschiedlichen Beurteilungen einzelner Werke oder Sätze führten. Es kamen auch Gesichtspunkte zur Sprache, die schon die frühe Čajkovskij-Rezeption bis 1906 be- stimmt hatten28 und später ebenfalls eine Rolle spielten, wie die Verknüpfung russischer mit westlichen Inspirationsquellen und Kompositionskonzepten, die eher nationale oder eher kosmopolitische Ausrichtung, das Verhältnis von lyrischem und dramatischem Aus- druck, die Instrumentationskunst, die angeblich manchmal etwas gewöhnlichen oder süßli- chen Melodien.

Waren somit in den 33 Jahren zwischen 1900 und 1932 sechs Monographien über Čajkov- skij erschienen, so kamen in den nur zwölf Jahren von 1933 bis 1945 immerhin vier weite- re Bücher hinzu, sehen wir einmal von Klaus Manns Roman Symphonie pathétique ab, der im Exil geschrieben und in den Niederlanden verlegt wurde.29 Das Buch der russischen Schriftstellerin Nina N. Berberova ist eine romanhafte Biographie, die psychologisierend Čajkovskijs vermeintliche Einsamkeit thematisiert. Zwei weitere Veröffentlichungen stüt- zen sich auf den Briefwechsel zwischen dem Komponisten und seiner Mäzenin Nadežda

1931/32 je Spielzeit durchschnittlich acht Werke von Čajkovskij spielte, wobei es sich im Wesentlichen – mit Wiederholungen – um das gleiche gute halbe Dutzend Stücke handelte wie in Frankfurt; vgl. Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester. Darstellung in Dokumenten, 3 Bände, Tutzing 1982, Bd. 3, S. 179–251. 23 Hans Engel, Das Instrumentalkonzert, Leipzig 1932, S. 410. 24 Vgl. die Konzerthinweise in den Zeitschriften Die Musik. Monatsschrift und Zeitschrift für Musik. 25 G. Hellmers, Das Musikleben der Gegenwart. Konzert. Bremen, in: Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 625. 26 Vgl. Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 137, 381 u. 532. 27 LebenTsch; Knorr, 92 S.; Karl Hrubý, Peter Tschaikowsky. Eine monographische Studie, Leipzig 1902, 57 S.; Keller, Tschaikowsky, 71 S.; Max Steinitzer, Tschaikowsky, Leipzig 1925, 72 S.; Stein, 508 S. 28 Vgl. Kohlhase, Schlagworte. 29 Klaus Mann, Symphonie pathétique: ein Tschaikowsky-Roman, Amsterdam 1935; Berberova (1938, weite- re Auflagen 1939, 1940 und 1941 bis zum 18. Tsd.); Die seltsame Liebe Peter Tschaikowsky’s und der Na- djeschda von Meck, nach dem Originalbriefwechsel Peter Tschaikowskys mit Frau Nadjeschda von Meck aus dem Russischen übersetzt von Sergei Bortkiewicz, Leipzig [1938, 21941]; Geliebte Freundin (1938); Pals (1940).

5

Čajkovskij im Nationalsozialismus fon Mekk: zum einen eine Auswahl aus dieser Korrespondenz, die der Komponist Sergei Bortkiewicz unter dem Titel Die seltsame Liebe Peter Tschaikowsky’s und der Nadjeschda von Meck ins Deutsche übersetzte, zum anderen die Biographie Geliebte Freundin. Tschai- kowskys Leben und sein Briefwechsel mit Nadeshda von Meck von Catherine Drinker Bowen und Barbara von Meck. Bei beiden Büchern wirkt störend, dass ihre Titel kontra- faktisch eine Liebesbeziehung zu Frau fon Mekk suggerieren. Das vierte im Bunde ist die Monographie Peter Tschaikowsky des Dirigenten Nikolai van Gilse van der Pals, der das kompositorische Schaffen am Leitfaden der Biographie darstellt und auch auf weniger be- kannte Werke hinweist. Genau genommen erschienen diese vier Bücher sogar in den nur vier Jahren zwischen 1938 und 1941. Diese Häufung erklärt sich dadurch, dass drei von ihnen durch die gerade erfolgte russische Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Čajkovskij und Frau fon Mekk30 veranlasst wurden, das vierte durch den 100. Geburtstag des Komponisten, der 1940 in einer Phase der politischen Annäherung an die Sowjetunion anstand. Keines dieser Bücher hat einen deutschen Autor, und keins von ihnen weist aufdring- lich nationalsozialistische Züge auf. Das ist bei den aus dem Russischen bzw. Englischen übersetzten Arbeiten von Berberova, Bortkiewicz und Drinker Bowen kaum überraschend, auch wenn einer der Übersetzer meinte, Čajkovskijs Charakterisierung als „gentleman“ mit dem Wort „Herrenmensch“ wiedergeben zu müssen.31 Das Amt Rosenberg, für die Über- wachung der gesamten NSDAP-Schulung und -Erziehung zuständig, machte denn auch insbesondere gegen das Buch Geliebte Freundin von Drinker Bowen „weltanschauliche Bedenken“ geltend. Es meinte, „die neue Zeit schein[e] an dem Verantwortlichen des Ver- lags spurlos vorbeigegangen zu sein“, weil dieser die anerkennende Erwähnung der „Ju- den“ Anton und Nikolaj Rubinštejn übersehen habe; es bedürfe folglich „keiner weiteren Erörterung um festzustellen, daß dieses Buch keinen Anspruch auf Verbreitung bei uns er- heben kann“. So erstaunt es kaum, dass es – anders als die Bücher von Berberova und Bortkiewicz – keine zweite Auflage erlebte, obwohl es anfangs „kaum einen Buchladen [gab], in dem man es nicht in mehreren Exemplaren ausgestellt“ sah.32 Den Nationalsozialisten genehme Züge finden sich am ehesten in dem Buch, das, von van der Pals auf Deutsch verfasst, in der Schriftenreihe ‚Unsterbliche Tonkunst‘ erschien. Als deren Zielsetzung nannte ihr Herausgeber Herbert Gerigk, Leiter der Hauptstelle Mu- sik im Amt Rosenberg, den Versuch, „das Leben und Schaffen bedeutender Musiker unter dem Aspekt unserer [d.h. der nationalsozialistischen] Weltanschauung zu vermitteln“.33 Zwar wird Spinoza in dem Buch ohne Zusatz erwähnt, aber andere, wie Anton und Nikolaj Rubinštejn oder der Geiger Leopold Auer, werden durch das Attribut „Jude“ gebrandmarkt oder, wie Adol’f Brodskij, der Čajkovskijs Violinkonzert erstmals öffentlich spielte, gar nicht erwähnt. Als Zugeständnisse an die pathetische nationalsozialistische Rhetorik wir- ken aus heutiger Sicht die wiederholte Erwähnung des „Schicksals“ als „notwendige posi- tive Macht“, die Interpretation der Fünften Sinfonie als „inneres Ringen mit den großen Fragen des Daseins“ und die Deutung des dritten Satzes der Sechsten Sinfonie als „männli-

30 ČM. 31 Drinker Bowen / von Meck, Geliebte Freundin, S. 445: „Aber Peter war ein Herrenmensch“; im Original Beloved Friend. The story of Peter Tchaikowsky and Nadejda von Meck, New York 1937, S. 438: „Yet Peter was a gentleman“. 32 Aus Herbert Gerigks gedrucktem Zusatz zu einer Besprechung des Buches von Drinker Bowen, in: Die Musik. Monatsschrift 30 (1937/38), S. 842. 33 Bundesarchiv Berlin, NS 15/189, S. 3, zitiert nach Rainer Sieb, Der Zugriff der NSDAP auf die Musik. Zum Aufbau von Organisationsstrukturen für die Musikarbeit in den Gliederungen der Partei, Diss. Osnabrück 2007, S. 81, Permalink: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2007091013.

6

Čajkovskij im Nationalsozialismus che Furchtlosigkeit und heroische Siegesbewußtheit“, die so wirken sollen „wie ein uner- schütterlicher Entschluß, tapfer und mit offenem Blick dem Tode zu begegnen“.34 Diese Sinfonie, die mit ihrem Lamentoso-Schlusssatz so gar nicht dem Motto „durch Kampf zum Sieg“ entsprach, wie man es in Ludwig van Beethovens Dritter und Fünfter Sinfonie vor- bildhaft verwirklicht sah,35 erhielt so doch noch eine propagandistisch ausnutzbare Auf- wertung.

Meine Ausgangsfrage bei der Beschäftigung mit dem Thema ‚Čajkovskij im Nationalso- zialismus‘ lautete: Wie ging der Nationalsozialismus mit Petr Čajkovskij und seiner Musik um? Und meine erste Arbeitshypothese war die folgende: Vermutlich wurde der weltbe- rühmte, auch in Deutschland, wie wir gesehen haben, gut eingeführte Komponist ab 1933 als slawischer, also – wie es damals hieß – ‚fremdrassischer‘ Musiker abgewertet und seine Werke folglich ignoriert. Diese Abwertung könnte nach der Unterzeichnung des deutsch- russischen Nichtangriffspakts im August 1939 einer etwas neutraleren Einschätzung Platz gemacht haben, bis Čajkovskij dann nach dem Angriff auf die Sowjetunion und die dorti- gen sogenannten ‚Untermenschen‘ im Juni 1941 endgültig totgeschwiegen wurde. Rassenideologische Grundsätze und außenpolitische Rücksichtnahmen hätten nach dieser Hypothese miteinander konkurriert – mit negativen Auswirkungen bis in die Nach- kriegszeit, weil frühere Nationalsozialisten auf allen Ebenen (auch in der Musikwissen- schaft) wieder zu Amt und Würden kamen. Tatsächlich müssen erste Äußerungen von Nationalsozialisten über Musik in den Oh- ren von Čajkovskij-Liebhabern beunruhigend geklungen haben. So hieß es nach einem Konzert der Frankfurter Museumsgesellschaft, in dem auch Čajkovskijs Fünfte Sinfonie gespielt wurde, im Frankfurter Volksblatt agitatorisch: „Dieses Konzert kann man summa- risch nur als ‚Ostjüdischen Abend‘ bezeichnen. […] Wann endlich wird das deutsche Pu- blikum gegen die unwürdige Bevorzugung ausländischer Musik und ausländischer Musi- ker Stellung nehmen?“36 Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler häuften sich Reden und Zeitschriftenaufsätze, in denen eine radikale Neuordnung des deutschen Musiklebens und seiner verschiedenen Sparten unter deutsch-nationalen Gesichtspunkten gefordert wur- de. „Es ist not“, so wurde propagiert, „wieder Anschluß an den Blutstrom unseres eigenen Volkstums zu gewinnen“, sich am „Schaffensprinzip einer traditionsgebundenen, volksver- wurzelten Kunst“ zu orientieren, die mystisches und heroisches Pathos miteinander verbin- det, und sich vor einer „Musikentwicklung […] im Schlepptau artfremder internationaler Tendenzen und Strömungen“, vor einem „verwaschenen musikalischen Internationalismus ohne innere Bindung an den Blutstrom der heimatlichen Scholle“ zu hüten.37 Konnten sol-

34 Pals, S. 118, 17, 23, 80, 66, 70, 109, 108 u. 128. 35 Vgl. Reinhold Brinkmann, The Distorted Sublime: Music and National Socialist Ideology – A Sketch, in: Michael H. Kater u. Albrecht Riethmüller (Hrsg.), Music and Nazism. Art under Tyranny, 1933–1945, Laaber ²2004, S. 43–63, bes. 52. 36 Frankfurter Volksblatt, 17.2.1932, zitiert nach Eva Hanau, Musikinstitutionen in Frankfurt am Main 1933 bis 1939, Köln 1994, S. 33. 37 Willi Hille, Nationalisierung der deutschen Musik, in: Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 666–669, bes. 667 u. 666; man beachte die Stilblüte „Blutstrom der heimatlichen Scholle“. Vgl. Peter Raabe, Vom Neu- bau deutscher musikalischer Kultur, in: Kultur Wirtschaft Recht und die Zukunft des deutschen Musiklebens. Vorträge und Reden von der Ersten Arbeitstagung der Reichsmusikkammer, hrsg. v. Presseamt der Reichs- musikkammer, Berlin 1934, S. 204–240; Hans Bullerian, Das deutsche Konzertleben und seine Erneuerung, in: Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 652–656; Karl Hasse, Nationalsozialistische Grundsätze für die Neugestaltung des Konzert- und Opernbetriebes, in: Kultur Wirtschaft Recht, S. 261–276; Werner Lad- wig, Oper im neuen Zeichen, in: Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 643–649; Wilhelm Altmann, Für einen deutschen Opernspielplan, in: Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 901–904; Hans Költzsch, Der

7

Čajkovskij im Nationalsozialismus che seinerzeit positiv besetzten Schlagwörter, wie „Blutstrom“, „Volkstum“, „Tradition“, „heroisches Pathos“ und „heimatliche Scholle“, oder negativ besetzten Reizwörter, wie „artfremd“ und „Internationalismus“, auch nicht erklären, weshalb die eine Komposition eines deutschen Komponisten gut, die andere schlecht sein sollte, so errichteten sie doch vor Komponisten, die – wie Čajkovskij – nicht zum deutschen Volke gehörten, eine un- übersehbare Schranke. Im Hinblick auf diesen hieß es unmissverständlich, seine Fünfte Sinfonie habe „mit ih- rer teils pathetisch-reißerischen, teils süßlich abgeschmackten Melodik sich aber nun end- gültig überlebt“38 und seine Oper Eugen Onegin habe „im deutschen Hause so wenig noch etwas zu suchen, wie Makartmöbel im Heim unserer jungen Menschen“.39 Alle diese Äußerungen verhießen nichts Gutes, auch wenn nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. Auf Bewährtes, wie die Werke Chopins, dem man von offizieller Seite eindeutschend den Vornamen ‚Friedrich‘ beilegte,40 konnten die Klavierlehrer ebenso wenig verzichten wie die Intendanten der Opernhäuser auf den Publikumsmagneten Carmen, deren Komponist manchmal einfach ignoriert wurde.41 Rainer Schlösser, der sogenannte ‚Reichsdramaturg‘ in Goebbels Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, suchte denn auch abzuwie- geln: Die Pflege der Oper […] vermittelt uns aber auch die Kenntnis der anderen Nationen, die wir dadurch in ihrem Besten schätzen lernen und anerkennen. Solcherweise erfüllt sie uns […] mit jener auf Achtung vor fremden Werken begründeten Friedfertigkeit, die unser unvergleichli- cher Führer, und wir mit ihm, vom deutschen Volke, ebenso sehr aber auch von der Welt for- dern.42 Nun, was von der Friedfertigkeit der Nationalsozialisten zu halten war, weiß inzwischen jeder; und wie es um die Anerkennung der Musik anderer Völker stand, wird sich gleich zeigen. Das Erste, das sich konstatieren lässt, ist eine gewisse Zwiespältigkeit und Wider- sprüchlichkeit. Sieht man nämlich in das gern konsultierte Atlantisbuch der Musik, das 1934 erstmals erschien und wiederholt aufgelegt wurde, dann liest man dort, Čajkovskij sei es gelungen, „eine russische Musik von bleibender internationaler Gültigkeit zu schaffen“; die Fünfte Sinfonie und Eugen Onegin gehörten zusammen mit der Sechsten Sinfonie und der Oper Pique Dame zu seinen „besten Werken“.43 Insbesondere das Hauptthema des langsamen Satzes der Fünften Sinfonie zeige „eine melodische Eingebung von nicht alltäg- neue deutsche Opernspielplan, in: Zeitschrift für Musik 100 (1933), S. 996–1000; Roderich von Mojsisovics, Gedanken zur Bildung eines nationaldeutschen Opernspielplanes, in: Musik im Zeitbewußtsein. Amtliche Zeitschrift des Fachverbandes ‚Reichsmusikerschaft‘ 1 (1933), H. 1, S. 14–15. 38 Otto Steinhagen, [Besprechung eines Furtwängler-Konzerts], in: Die Musik. Monatsschrift 25 (1932/33), S. 442. 39 Hans Esdras Mutzenbecher, Der Opernspielplan im Dritten Reich, in: Der Neue Weg. Zeitschrift für das deutsche Theater 64 (1935), S. 224–226, bes. 225. 40 Vgl. Herbert Gerigk, Friedrich Chopin, in: ders. (Hrsg.), Meister der Musik und ihre Werke, Berlin 1936, S. 138–144; Paul Egert, Friedrich Chopin, Potsdam 1936 (Schriftenreihe ‚Unsterbliche Tonkunst‘). 41 Erwin Völsing (Aus dem Berliner Musikleben, in: Nationalsozialistische Monatshefte 14 [1943], S. 292– 294) berichtet ohne Namensnennung über eine Carmen-Neueinstudierung und lobt in diesem Zusammenhang „die hohen Güter unserer unvergänglichen Kunst, deren lebendige Pflege […] immer wieder Zeugnis ablegt von der Kraft und Größe des deutschen schöpferischen Geistes“ (S. 294). 42 Rainer Schlösser, Die nationalpolitische Bedeutung der Oper, in: Der neue Weg. Zeitschrift für das deut- sche Theater 63 (1934), S. 226–227, bes. 227. Zum Autor vgl. Boris von Haken, Der „Reichsdramaturg“: Rainer Schlösser und die Musiktheater-Politik in der NS-Zeit, Hamburg 2007; Stefan Hüpping, Rainer Schlösser (1899–1945): der „Reichsdramaturg“, Bielefeld 2012. 43 Fred Hamel, Geschichte der Musik im europäischen Kulturkreis, in: Fred Hamel u. Martin Hürlimann (Hrsg.), Das Atlantisbuch der Musik, Berlin / Zürich 1934, S. 101–394, bes. 331 u. 332.

8

Čajkovskij im Nationalsozialismus licher Intensität“.44 Handelt es sich also doch nicht (nur) um „süßlich abgeschmackte Me- lodik“, die sich „endgültig überlebt“ hat?

Meine oben erwähnte Arbeitshypothese wollte ich zunächst anhand von Äußerungen füh- render Nationalsozialisten überprüfen. Dabei stellte sich erneut der Eindruck widersprüch- licher Positionen ein. Zwar forderte der Chefideologe Alfred Rosenberg „die staatsrechtlich festgelegte Aus- scheidung alles Afrikanischen und Asiatischen aus dem deutschen Leben“; und der SS- Führer Heinrich Himmler, der die „brutalen, von keiner Gemütsbewegung irgendwie ge- hemmten Asiaten“ für eine „Masse Untermensch“ hielt, strebte eine Trennung von germa- nischen und ‚fremdrassischen‘ Menschen an.45 Auch Herbert Gerigk, der Leiter der Haupt- stelle Musik im Amt Rosenberg, wertete das Slawische im Vergleich mit dem Deutschen ab; er sprach zum einen von der „Musik […] der Slawen, die sich auf wenige Grundlinien festlegen lässt“, zum anderen von der „auch für den Fachmann kaum übersehbaren Fülle und Vielfalt der Erscheinungsformen unserer Musik, die ihre Ursache in der faustischen, alles ergründenden Natur des deutschen Menschen hat“.46 Adolf Hitler begeisterte sich schon als junger Mann vor allem für Sinfonien von Anton Bruckner, Operetten von Franz Lehár und Opern von Richard Wagner, wogegen die Werke ausländischer Komponisten kaum Eindruck auf ihn machten.47 Er meinte, „alle großen Tondichter von Beethoven bis Richard Wagner sind Arier“, und schränkte dies noch weiter von den Ariern auf die Deut- schen ein; denn „die Musik, soweit sie überhaupt etwas bedeutet, haben Deutsche ge- macht“.48 Der Name ‚Čajkovskij‘ kommt in Mein Kampf und Hitlers sonstigen Äuße- rungen nicht vor. Aber andererseits gehört zur Plattensammlung des Führerhauptquartiers ein Čajkov- skij-Album, eingespielt mit dem international gefeierten polnischen Geiger Bronislaw Hu- berman. Es enthält Čajkovskijs (etwas gekürztes) Violinkonzert, begleitet von einem Or- chester aus Mitgliedern der Berliner Staatskapelle (dem Orchester der dortigen Staatsoper) unter Hans Wilhelm Steinberg, und wohl auch die ‚Mélodie‘ aus Souvenir d’un lieu cher (op. 42, Nr. 3) mit Siegfried Schultze am Klavier.49 Allerdings ist nicht bekannt, ob Hitler es sich jemals angehört hat, und erst recht nicht, was er davon hielt. Aufschlussreicher für unsere Fragestellung sind die Tagebucheinträge des Propagandaministers Joseph Goebbels.

44 Karl Laux, Orchester- und Kammermusik, in: Hamel / Hürlimann (Hrsg.), Atlantisbuch der Musik, S. 556– 608, bes. 581. 45 Alfred Rosenberg, Das Wesensgefüge des Nationalsozialismus. Grundlagen der deutschen Wiedergeburt, München 1932, S. 18. Heinrich Himmler, Rede in Sonthofen, 5. Mai 1944, im Bundesarchiv Berlin NS 19/4013, zitiert nach Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 842 f.; Josef Acker- mann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, bes. Kap. VI,2 und Dokument 38. 46 Herbert Gerigk, Von der Einheit der deutschen Musik, in: Nationalsozialistische Monatshefte 9 (1938), S. 629–634, bes. 633. Annkatrin Dahm hat darauf hingewiesen, dass das Schlagwort „faustisch“ von Oswald Spengler eingeführt und dann in antisemitische musikalische Erörterungen einbezogen wurde; vgl. ihre Dis- sertation Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musik- schrifttum, Göttingen 2007, S. 226 f. 47 Vgl. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 61997, S. 98. 48 Hitler, Reden Schriften Anordnungen, hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte, München 1992–2003, Bd. II/1, S. 229 (1927); Bd. IV/1, S. 103 (1930). 49 Zur Entdeckung von Schallplatten aus der Sammlung des Führerhauptquartiers vgl. Georg Bönisch u. Mat- thias Schepp, Souvenir aus dem Bunker, in: Der Spiegel Nr. 32 (6. August 2007), S. 4 f. u. 113 f. Diethelm Paulussen, dem ich für die Klärung einiger Punkte dankbar bin, hat Fragen der Zugehörigkeit zu jener Samm- lung, diskographischen Zuordnung und Datierung erörtert unter http://www.dpmusik.de/straw/rahmstrt.html, „Und außerdem“, Teil 2–3 (zuletzt abgerufen am 4. August 2020).

9

Čajkovskij im Nationalsozialismus

Er empfand die Musik von Pique Dame als „stellenweise sehr schön“, wenngleich die Oper als ganze einem Vergleich mit Wagner nicht standhalte. Wilhelm Furtwänglers Diri- gat der Sechsten Sinfonie von Čajkovskij nannte er „wundervoll“. Ihn entzückte auch die „wunderbare Musik“ des Balletts Der Nussknacker, das er sich mit seinen Kindern 1935 und erneut 1936 ansah. Nach dem Auftritt eines russischen Balletts, zu Musik von Čajkov- skij und anderen Komponisten, war er 1938 von „unerhörtem Fleiß und großem Können“ so hingerissen, dass er meinte: „Wieviel müssen wir da noch lernen“.50 Dass die Meinungen so stark auseinandergingen, muss nicht überraschen. Denn in der Geschichtswissenschaft setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass der Nationalso- zialismus kein monolithischer Block war, wenngleich man damals einen solchen Eindruck zu erwecken versuchte; und diese Einsicht kommt immer stärker auch in musikgeschichtli- chen Untersuchungen zum Dritten Reich zum Ausdruck.51 Selbst auf der Führungsebene konkurrierten offensichtlich unterschiedliche Auffassungen, Strategien oder persönliche Vorlieben und Aversionen miteinander. In musikalischer Hinsicht auffällig ist insbesonde- re der Gegensatz zwischen dem Amt Rosenberg mit der von Herbert Gerigk geleiteten Hauptstelle Musik auf der einen Seite, wo eher rigorose Vorstellungen herrschten und durchgesetzt werden sollten, und auf der anderen Seite Goebbels’ Ministerium für Volks- aufklärung und Propaganda mit dem Reichsdramaturgen Rainer Schlösser, wo man dann und wann auch pragmatische Gesichtspunkte gelten ließ. Hinzu kam oft noch der vorsichti- ge Blick auf die erwartete oder schon eingetretene Wirkung im Ausland. So konnten sich leicht ideologische Brüche und Inkonsequenzen ergeben. Ich werde mein Thema deshalb unter fünf Gesichtspunkten angehen: 1. Welche rechtlichen Rahmenbedingungen besaßen damals Gültigkeit? 2. Welche Bedeutung hatte die Rassenideologie für die Čajkovskij-Rezeption? 3. Wie wirkte sich die Tendenz aus, alles nationalistisch aus ‚völkischer‘ Sicht zu be- urteilen? 4. Wie ging man 1940 mit Čajkovskijs 100. Geburtstag und 1943 mit seinem 50. To- destag um? 5. Welchen Einfluss hatten die außenpolitischen Verhältnisse?

Verschaffen wir uns zunächst einen ersten Überblick, wie die Kultur im Allgemeinen und das Musikleben im Besonderen in der Zeit des NS-Regimes gegängelt wurden.52 Nachdem Rosenbergs nationalsozialistischer „Kampfbund für deutsche Kultur“ schon ab 1928 ver- sucht hatte, vor Ort Einfluss auf einzelne Bühnen- oder Konzertaktivitäten zu nehmen, setzte 1933 der unausweichliche Druck von oben auf der ganzen Linie ein. Schon am 7. April 1933, nur gut zwei Monate nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und zwei Wochen nach dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes, ver- abschiedete die Reichsregierung das sogenannte ‚Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs- beamtentums‘. Daraufhin wurden nicht nur Beamte, sondern auch zahlreiche rassisch oder

50 Joseph Goebbels, Die Tagebücher, hrsg. v. Elke Fröhlich, München 1998–2007, Teil I, Bd. 2/I, S. 79; Bd. 2/III, S. 358 (auch Bd. 8, S. 394); Bd. 3/I, S. 350; Bd. 3/II, S. 283; Bd. 5, S. 272. 51 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozia- listischen Herrschaftssystem, München ²2006, Kap. IV.1; Erik Levi, Music in the Third Reich, New York 1996 [Nachdruck der Ausgabe New York 1994], S. 15–24, 34 f. u. 172–174; Pamela M. Potter, Dismantling a Dystopia: on the Historiography of Music in the Third Reich, in: Central European History 40 (2007), S. 623–651. 52 Vgl. hierzu Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963; Drewniak, Thea- ter im NS-Staat; Konrad Dussel, Ein neues, ein heroisches Theater? Nationalsozialistische Theaterpolitik und ihre Auswirkungen in der Provinz, Bonn 1988.

10

Čajkovskij im Nationalsozialismus politisch unerwünschte Musiker entlassen und trotz ihrer Verdienste von einem Tag auf den anderen ins existentielle Nichts gestürzt oder wegen ihrer unhaltbaren Lage zur Emi- gration gezwungen. Dieses Gesetz und die weiteren Maßnahmen der Reichsmusikkammer konnten Čajkovskij zwar nicht persönlich treffen, wohl aber – aus unterschiedlichen Grün- den – etliche der Interpreten, die sich für seine Werke im Konzert-, Bühnen- oder Schall- plattenbereich eingesetzt hatten. Zu diesen gehörten neben anderen die weltberühmten Te- nöre Joseph Schmidt und , außerdem Beata (Beate) Malkin, Sopranistin an der Städtischen Oper in Berlin-Charlottenburg, die sich (neben der Leonore in Giuseppe Verdis Il Trovatore) als Tatjana in Eugen Onegin und als Olga in Pique Dame einen Namen gemacht hatte53, aber auch die Dirigenten Leo Blech, Oskar Fried, , Selmar Meyrowitz, Joseph Rosenstock, Hans Wilhelm Steinberg, Eugen Szenkar, Bruno Walter und Frieder Weissmann,54 um nur diese zu nennen. Während die Dirigenten Lovro

53 Vgl. Eintrag „Malkin, Beate (Beata)“, in: Karl Josef Kutsch u. Leo Riemens (Hrsg.), Großes Sängerlexi- kon, 3. erw. Aufl. Bern / München 1997–2002, Bd. 3, S. 2181. 54 Die folgenden biographischen Hinweise sind chronologisch angeordnet: Bruno Walter, der nach verschie- denen Engagements – unter anderem als (General-) Musikdirektor der Münchner Hofoper und der Berliner Städtischen Oper – 1929 Leiter des Leipziger Gewandhaus-Orchesters geworden war, verließ Deutschland im Frühjahr 1933, nachdem mehrere geplante Konzerte auf nationalsozialistischen Druck hin abgesagt wer- den mussten und er in Deutschland keine Perspektive mehr für sich sah; vgl. Rudolf Möbius u.a., Bruno Wal- ter – Leben, Wesen, Musiker, Wilhelmshaven 2017. – Frieder Weissmann wirkte an verschiedenen Opern- häusern, dirigierte u.a. die Dresdner Philharmonie und das Berliner Symphonie-Orchester, spielte viele Schallplatten für die Labels Odeon und Parlophon ein, sah sich aber angesichts des rüden Antisemitismus in seiner Existenz bedroht und reiste im Juni 1933 aus; vgl. Rainer Bunz, Der vergessene Maestro Frieder Weissmann, Norderstedt 2016. – Eugen Szenkar, nach Verpflichtungen in Frankfurt/M. und Berlin seit 1924 Generalmusikdirektor der Städtischen Oper Köln, wo er Čajkovskijs Oper Čerevički (unter dem Titel Der Pantoffelheld) 1932 zur Erstaufführung gebracht hatte, wurde aufgrund des Berufsbeamtengesetzes am 7. April 1933 entlassen und verließ Deutschland im Dezember des Jahres; vgl. Elisabeth Bauchhenß, Eugen Szenkar (1891–1977). Ein ungarisch-jüdischer Dirigent schreibt deutsche Operngeschichte, Köln 2016. – Selmar (Salomon Reinmar) Meyrowitz hatte sich als Dirigent u.a. an der Berliner Staatsoper und beim Berli- ner Philharmonischen Orchester einen Namen gemacht und war 1929 Hausdirigent der neu gegründeten Schallplattenfirma Ultraphon geworden, musste sich aber 1933 in Paris in Sicherheit bringen; vgl. P. Walter Jacob, Selmar Meyrowitz. Zum sechzigsten Geburtstag, in: Pariser Tageblatt Jg. 3, Nr. 492 (18. April 1935), S. 3; P. Walter Jacob, Der Mikrophon-Dirigent. In memoriam Selmar Meyrowitz, in: Argentinisches Tage- blatt (8. April 1941). – Oskar Fried war im In- und Ausland als Dirigent tätig, wobei er sich sehr für neue Musik einsetzte und von der Deutschen Grammophon unter Vertrag genommen wurde; da er in Deutschland nicht mehr dirigieren durfte, emigrierte er 1934; vgl. Gregorij Pantielev, Russische Quellen zum Exil deut- scher Dirigenten in der Sowjetunion 1933–1945, in: Horst Weber (Hrsg.), Musik in der Emigration 1933– 1945. Verfolgung – Vertreibung – Rückwirkung. Symposium Essen, 10. bis 13. Juni 1992, Stuttgart / Weimar 1994, S. 175–182. – Erich Kleiber, seit 1923 Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, stand wegen sei- nes Einsatzes für neue Musik und die geplante Lulu-Premiere, auch wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau Ruth Goodrich, so unter Druck, dass er, zumal Furtwängler gleichzeitig die Uraufführung der Oper Ma- this der Maler untersagt wurde und dieser auf sämtliche Ämter verzichtete, seine Stelle ebenfalls aufgab und im Januar 1935 ins Exil ging; vgl. John Russell, Erich Kleiber: a memoir, London 1957; dt.: Erich Kleiber: eine Biographie, übers. v. Andreas Razumovsky, München 1958. – Joseph Rosenstock, seit 1930 General- musikdirektor am Nationaltheater Mannheim, wo er Čajkovskijs Oper Čerevički (unter dem Titel Die goldenen Schuhe) 1932 zur Erstaufführung gebracht hatte, wurde aufgrund des Berufsbeamtengesetzes am 7. April 1933 entlassen. Bis zu seiner Emigration im Jahre 1936 leitete er noch das Orchester des Jüdischen Kulturbundes Berlin; vgl. Irene Suchy, Joseph Rosenstock, in: Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen (Hrsg.), Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Hamburg 2007, Permalink: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002420; Karl Stengel, [Besprechung der Čerevički-Premiere], in: Zeitschrift für Musik 100 (1933), S. 74. – Hans Wilhelm (später: William) Steinberg, von 1925 bis 1929 Musikalischer Leiter des Deutschen Landestheaters Prag und dann der Oper in Frankfurt/M., wurde aufgrund des Berufsbeamtengesetzes am 23. Mai 1933 entlassen; er leitete noch im Jüdischen Kulturbund zuerst das Frankfurter und dann das Berliner Orchester, bis er 1936 emigrierte; vgl.

11

Čajkovskij im Nationalsozialismus von Matačić und Willem Mengelberg oder die US-amerikanische Geigerin Guila Bustabo sich unbekümmert zeigten, traten andere bekannte Čajkovskij-Interpreten, wie die Geiger Bronislaw Huberman und Fritz Kreisler, der Pianist Vladimir Horowitz und der Dirigent Arturo Toscanini, aus Solidarität nicht mehr im nationalsozialistischen Deutschland auf. Um nachvollziehbar zu verdeutlichen, um welch einen Verlust es sich hierbei handel- te, sei auf einige durchaus interessante Schallplatten-Einspielungen hingewiesen, die sich vor 1933 im Handel befanden und zum Teil auch heute noch erhältlich sind:55 Arien aus Eugen Onegin mit Beata Malkin, Joseph Schmidt und Richard Tauber; die Sechste Sinfo- nie mit der unter Frieder Weissmann (1924, 1925) und Bruno Walter (1925), ebenfalls mit diesem Orchester: das Violinkonzert mit Eddy Brown und dem Diri- genten Frieder Weissmann (1924) sowie mit Bronislaw Huberman und dem Dirigenten Hans Wilhelm Steinberg (1928); die Nussknacker-Suite unter Oskar Fried (1927); die Fünfte Sinfonie, die Streicherserenade und das Capriccio Italien unter Leo Blech (1928– 30, letzteres auch mit Mitgliedern des Orchesters der Städtischen Oper Berlin, ca. 1923/24). Mit dem Berliner Philharmonischen Orchester spielte Selmar Meyrowitz Sätze aus der Fünften und der Sechsten Sinfonie ein (1932), Erich Kleiber das Capriccio Italien (1933). Die Festouvertüre Das Jahr 1812 wurde von Weissmann sowohl mit dem Blüth- ner-Orchester (1923–24) als auch mit Mitgliedern der Berliner Staatskapelle (1928) aufge- nommen. Die dirigistischen Maßnahmen der Nationalsozialisten machten sich im Fall Čaj- kovskijs also sehr schnell indirekt insofern bemerkbar, als etliche hervorragende Interpre- ten und Interpretationen nicht mehr zur Verfügung standen. Ein Indiz für diesen Versuch, jüdische Identität auszulöschen, ist auch, dass die Firma Telefunken Meyrowitz’ Einspie- lungen zunächst noch im Katalog führte, doch ohne Nennung des Dirigenten.56 Zurück zu den rechtlichen Rahmenbedingungen! Im September 1933 erließ das Dra- maturgische Büro des NS-Kampfbundes für deutsche Kultur Richtlinien für eine lebendige deutsche Spielplangestaltung. Sie liefen darauf hinaus, dass ausländische Werke nicht mehr als 10% des Gesamtspielplans einer Bühne ausmachen sollten.57 Allerdings waren die Planungen für die Spielzeit 1933/34 zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen abgeschlos- sen, und der ‚Kampfbund‘ hatte längerfristig keine Weisungsbefugnis gegenüber den The- atern. Denn das Theatergesetz vom 15. Mai 1934 bestimmte, dass der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, also Goebbels, „die Aufführung bestimmter Stücke im allgemeinen oder einzelnen Falle untersagen oder verlangen“ kann.58 Eröffneten diese Be- stimmungen Eingriffsmöglichkeiten in den Bühnenbetrieb, so schränkten sie solche Ein- griffe andererseits auf Goebbels’ Propagandaministerium ein und schlossen andere Institu-

Prieberg, Handbuch, S. 6838–6841; Lily E. Hirsch, William Steinberg, in: Maurer Zenck/Petersen (Hrsg.), Lexikon, Permalink: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003094; Barbara von der Lühe, Die Musik war unsere Rettung! Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra, Tübingen 1998, ad indicem. – Leo Blech, seit 1913 Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper auf Le- benszeit, durfte seine Tätigkeit trotz seiner jüdischen Abstammung mit Genehmigung Hermann Görings aus- üben, bis er 1937 zwangspensioniert wurde und 1938 ins Exil ging; vgl. Jutta Lambrecht (Hrsg.), Leo Blech: Komponist – Kapellmeister – Generalmusikdirektor, Berlin 2015. 55 Zu diskographischen Details vgl. http://en.tchaikovsky-research.net. 56 Vgl. Telefunken-Platten 1933. Alphabetisches Verzeichnis einschließlich April-Neuerscheinungen, o.O. 1933, S. 3, 4, 18 u. 21; Telefunken Schallplatten. Hauptverzeichnis, Berlin 1933, S. 14; Im Rhythmus der Freude. Telefunken. Schallplatten-Hauptverzeichnis 1935/36, Berlin 1935; Die Ernte. Hauptverzeichnis der Telefunkenplatten 1937/38, Berlin 1937; jeweils die Plattennummern F 1218, F 1191, E 1157 u. F 1141 mit Čajkovskij-Einspielungen von Meyrowitz. 57 Vgl. Echo der Gegenwart (Aachen) vom 2.10.1933, nach Heinz-Rüdiger Spenlen, Theater in Aachen, Köln, Bonn und Koblenz 1931 bis 1944, Phil. Diss. Bonn 1984, S. 48 f. 58 Theatergesetz, in: Reichsgesetzblatt Teil I, 1934, Nr. 56 (19. Mai 1934), S. 411–413.

12

Čajkovskij im Nationalsozialismus tionen aus, wie den von Rosenberg geleiteten Kampfbund für deutsche Kultur, die Reichs- statthalter, die z.T. willkürlich handelnden Gauleiter und vor allem das Amt Rosenberg. Auf dieser Grundlage übersandte der Deutsche Bühnenverein seinen Mitgliedern am 8. April 1935 eine etwas entschärfte Anordnung des in Goebbels’ Propagandaministerium angesiedelten Reichsdramaturgen Rainer Schlösser. Nach dieser Anordnung sollte dem „Übel“ der „Überfremdung des Spielplanes der deutschen Bühnen“ dadurch begegnet wer- den, dass das Verhältnis zwischen Stücken deutscher und ausländischer Herkunft mindes- tens 4:1 betrug.59 Richtlinie oder Anordnung – was das Eine wie das Andere für Čajkovskij bedeuten würde, wenn man die damalige Beliebtheit von Carmen, Pagliacci (Der Bajaz- zo), Cavalleria rusticana oder Opern von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini berück- sichtigt,60 liegt auf der Hand. Am 21. Juni 1935 ließ Schlösser einen Deutschen Opernspielplan mit 275 Werken überwiegend deutscher Komponisten folgen, die er – in drei Gruppen eingeteilt – zur Auf- führung empfahl. Nach dieser Aufstellung gehörten Čajkovskijs Kompositionen weder zum ‚beizubehaltenden Repertoire‘ noch zu den ‚aufführungswerten‘ oder ‚zu beachten- den‘ Bühnenwerken. Allerdings ist er – anders als zum Beispiel Alban Berg oder Erik Sa- tie – auch nicht in einer Liste „keinesfalls erlaubte[r] musikalische[r] Werke“ enthalten, die die Reichskulturkammer am 1. September 1935 vorlegte61 und die weitere Verbotslisten später ergänzten.

Die Aufzählung solcher staatlichen Eingriffe in den künstlerischen Bereich ließe sich be- liebig fortsetzen. Statt dessen sollen nun inhaltliche Fragen zur Sprache kommen: zunächst solche, die sich auf die Rassenideologie beziehen. Houston Stewart Chamberlain, Hitlers Gewährsmann in Rassenfragen, unterschied u.a. ‚germanische Kelten‘, ‚Germanen im engeren Sinne‘ und ‚Slaven‘. Er behauptete, dass „die ursprüngliche Identität der Kelten, der Germanen (im engeren Sinne) und der Slaven eine unwidersprechlich erwiesene Tatsache“ sei, und sprach deshalb von „Slavokeltoger- manen“.62 Damit im Einklang steht, dass Adolf Hitler im Gespräch gesagt haben soll: „Die Grundlagen wirklich schöpferischer Musik sind einmal das Musikalische an sich und dann das Konstruktive. Letzteres ist germanischen, das Musikalische slawischen Ursprungs. Wo sich das paart, gibt es große Meister“. An anderer Stelle stellte Hitler aber die „harten“ Deutschen den Slawen wegen deren „weibischen und weiblichen Veranlagung“ gegenüber und meinte, sie seien einander innerlich vollkommen fremd.63

59 Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe, Signatur 57a/243, zitiert nach Dussel, Ein neues, ein heroisches Theater?, S. 257. 60 Vgl. Franz-Heinz Köhler, Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896 bis 1966. Eine statistische Analyse, Koblenz 1968, S. 33–37 u. 53–56; Drewniak, Theater im NS-Staat, S. 328 ff.; Dus- sel, Ein neues, ein heroisches Theater?, Kap. 3.41. 61 Beide Auflistungen im Staatsarchiv Coburg, Bestand Theater, 3015; erwähnt in Konrad Dussel, Provinz- theater in der NS-Zeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 38 (1990), S. 75–111, bes. 96 f. Vgl. Friedrich Geiger, Die „Goebbels-Liste“ vom 1. September 1935. Eine Quelle zur Komponistenverfolgung im NS-Staat, in: Archiv für Musikwissenschaft 59 (2002), S. 104–112; von Haken, Der „Reichsdramaturg“, S. 141–147. 62 Houston Stewart Chamberlain, Die Rassenfrage, in ders., Rasse und Persönlichkeit. Aufsätze, München 1925, S. 66–80, bes. 76 f.; ders., Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, München 141922, Vorwort zur 14. Auflage, Bd. I, S. XV. 63 Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, hrsg. v. Werner Jochmann, München 2000, S. 208 (25.6.1943); ders., Reden Schriften Anordnungen, Bd. III/1, S. 16 (1928).

13

Čajkovskij im Nationalsozialismus

Obwohl die Rassenideologie offensichtlich in sich widersprüchlich ist, unternahm Ri- chard Eichenauer 1932 den Versuch, sie auf die Musik anzuwenden. Er unterschied ver- schiedene Rassen, darunter die nordische Rasse der Germanen und die ostbaltische Rasse der Slawen, und glaubte, die Menschen aufgrund äußerer Merkmale diesen Rassen zuord- nen zu können. So sollen beim linken Bild „Kopf und Gesichtszüge vorwiegend ostbal- tisch“ wirken; es handelt sich aber um Max Reger, einen von den Nationalsozialisten be- sonders geschätzten deutschen Komponisten. Čajkovskij, rechts dargestellt, erscheine da- gegen „in seinem Aeußeren viel mehr nordisch als ostbaltisch“.64 Muss man nun Reger und seine Musik der slawisch-ostbaltischen Rasse, Čajkovskij und seine Musik der nordisch- germanischen Rasse zuordnen?

Max Reger (Theo Schafgans, 1913) Petr Čajkovskij (E. Bieber, 1888) Nach Eichenauer besitzt jede Rasse eine besondere „Rassenseele“ mit spezifischen Eigen- schaften. Diese rassenseelischen Eigenschaften fänden ihren Ausdruck in einer rassenspe- zifischen Musik, was zu „grundsätzlichen, nicht zu überbrückenden Unterschiede[n] zwi- schen den Rassen in musikalischer Hinsicht“ führe.65 Die Merkmale der „ostbaltischen Rassenseele“ sieht er in „einer ganz eigenartigen Schwermut“, „einer grenzenlosen, ziellos verschwimmenden Sehnsucht“; und diese Schwermut zeige sich sowohl in der (nicht näher charakterisierten) Melodielinie als auch in der „hartnäckigen Wiederholung gewisser kur- zer Motive“. Mit Bezug auf Čajkovskijs Musik meint er dann, es gebe bei diesem Kompo- nisten neben den starken westeuropäischen Anklängen genügend Dinge, die uns ‚echt russisch‘, d.h. ostbaltisch, anmuten […]. Die ‚russischen‘ Züge dürften sich bei ihm, der doch im ganzen mehr ein Nachempfinder als ein Eigener war, mehr aus Umwelteinflüssen erklären.66 In dieser Beurteilung finden wir die typische Nazi-Rhetorik in ihrer ganzen Widersprüch- lichkeit wieder. Čajkovskij sei vom Äußeren her eher nordisch und seine Musik stark west- europäisch geprägt. Das mag ja sein. Aber woran denkt Eichenauer bei den zusätzlichen Dingen (sic) russisch-ostbaltischer Art? Ist die im Äußeren sich manifestierende Rasse gar nicht das Ein und Alles? Wie entscheidend sind andere persönlichkeitsbildende Faktoren,

64 Richard Eichenauer, Musik und Rasse, München 1932, S. 264 f. 65 Richard Eichenauer, Über die Grundsätze rassenkundlicher Musikbetrachtung, in: Guido Waldmann (Hrsg.), Rasse und Musik, Berlin-Lichterfelde 1939, S. 22–47, bes. 38. 66 Eichenauer, Musik und Rasse, S. 260 f. u. 264. Nach Annkatrin Dahm (Der Topos der Juden, S. 229) ver- binden sich bei solchen Überlegungen drei Bezugssysteme: „Hypothesen über biologische Dispositionen, spekulative Übertragungen von naturwissenschaftlichen Thesen auf die Musik und mystisch verklärte Begrif- fe wie ‚Rassenseele‘ und ‚Rassenbewusstsein‘ finden sich in enger Zusammenstellung“.

14

Čajkovskij im Nationalsozialismus wie zum Beispiel die genannten Umwelteinflüsse? Und wie kommt es, dass die grundsätz- lichen, nicht zu überbrückenden Unterschiede zwischen der nordischen und der ostbalti- schen Rasse in einem Menschen plötzlich doch überbrückt sind? Unverständlich ist auch, dass der eher nordische Čajkovskij mehr ein Nachempfinder als ein Eigener sein soll. Ein ‚Eigener‘ ist natürlich ein nordischer Mensch. Ein Angehöriger einer anderen Rasse ist bestenfalls ein ‚Nachempfinder‘, der, wie es schon Richard Wagner in seinem rassistischen Pamphlet Das Judenthum in der Musik erklärt hatte, „nie eine eigene Kunst gehabt“ hat und „sie [d.h. die von Deutschen geschaffenen musikalischen Erscheinungen] als Künstler uns zurückspiegelt“.67

Die deutsch-nationale Ideologie machte sich musikbezogen in dreifacher Hinsicht bemerkbar: – als Behauptung von der wertmäßigen Vorrangstellung der deutschen Musik – verbun- den mit der Behauptung, alle gute Musik weise deutschen Einfluss auf; – als abwertende Gegenüberstellung von deutscher und nicht-deutscher Musik und – bei der Verwendung des Nationalcharakters, des Volkhaften der musikalischen Werke als Kriterium der Beurteilung. Seit 1933 häuften sich Bücher und Aufsätze über Musik, in deren Titeln die Wörter ‚deutsch‘ oder ‚Deutschtum‘ vorkamen – und zwar nicht in sachlicher, deskriptiv-abgren- zender Bedeutung, wie man auch von französischer oder italienischer Musik spricht, son- dern mit wertender Akzentsetzung.68 Zum Beispiel veröffentlichte der Dirigent und Musik- historiker Robert Pessenlehner ein Buch mit dem Titel Vom Wesen der Deutschen Musik, in dem er – wie Hitler – die unbescheidene Auffassung vertrat: „Die höchste Formvoll- endung in den [musikalischen] Werken aller Zeiten und Epochen findet sich nur in den Werken der Deutschen Tonkunst“. Er versuchte, Wesensmerkmale der deutschen Musik zu bestimmen, und nannte diesbezüglich unter anderem die Synkope. Auf kaum mehr als drei Seiten ging er dann auf das russische Musikleben ein und meinte, die italienischen und französischen Einflüsse vernachlässigend: „[W]iederum ist es die Deutsche Musik, an der sich ein anderes Volk aufrichtet, von der es so lange abhängig bleibt, bis es schließlich ei- nen eigenen Ausdruck erreicht“. Insbesondere falle die Synkope immer wieder in russi- schen Werken auf „und dies auch dann, wenn ein Komponist wie z. B. Tschaikowsky sich gerne mit französischem Zierrat umgibt“.69 Mit anderen Worten, trotz ‚französischem Zier-

67 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869, S. 21 u. 23. 68 Vgl. Karl Grunsky, Der Kampf um deutsche Musik, Stuttgart 1933; Willibald Gurlitt, Vom Deutschtum in der Musik, in: Musik im Zeitbewußtsein 1 (1933), H. 4, S. 1–2; Ernst Bücken, Musik aus deutscher Art, Köln 1934; ders., Deutsche Musikkunde, Potsdam 1935; Walter Abendroth, Deutsche Musik der Zeitwende, Ham- burg 1937; Hans Joachim Moser, Kleine Deutsche Musikgeschichte, Stuttgart 1938; Josef Müller-Blattau, Geschichte der deutschen Musik, Berlin-Lichterfelde 1938; Hans Engel, Das Deutsche in der Musik, in: Deutsche Musikkultur 3 (1938/39), S. 185–205; Walther Vetter, Zur Erforschung des Deutschen in der Mu- sik, in: Deutsche Musikkultur 4 (1939/40), S. 101–107; Adolf Seifert, Von Art und Wesen deutscher Musik, Reichenberg 1940; Jahrbuch der deutschen Musik (1943, 1944); Friedrich Blume, Wesen und Werden deut- scher Musik, Kassel 1944. – Zu dieser Thematik vgl. Albrecht Riethmüller, Deutsche Musik aus der Sicht der deutschen Musikwissenschaft nach 1933, in: Marion Demuth (Hrsg.), Das Deutsche in der Musik. Kollo- quium im Rahmen der 5. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik vom 1.–10. Oktober 1991, Leipzig 1997, S. 68–76; Pamela Potter, Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, aus dem Amerikanischen v. Wolfram Ette, Stuttgart 2000, Kap. 7; Bernd Sponheuer, The National Socialist Discussion on the ‚German Quality‘ in Music, in: Kater / Riethmül- ler (Hrsg.), Music and Nazism, S. 32–42. 69 Robert Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik, Regensburg 1937, S. 85, 156, 157 und 159.

15

Čajkovskij im Nationalsozialismus rat‘ sollen ausgerechnet die Synkopen in Čajkovskijs Kompositionen seine Abhängigkeit von der ‚höchstvollendeten Deutschen Musik‘ beweisen. Zur Frage, wie das Deutsche zum Nicht-Deutschen in der Musik sich verhalte, haben sich – neben Politikern und Musikschriftstellern – auch Bühnenschaffende geäußert. So machte sich Hans Esdras Mutzenbecher70 Gedanken über den „Opernspielplan im Dritten Reich“ und überlegte dabei, „welche Kunstwerke anderer Völker für unsere Art seelisch bereichernd und für den inneren Menschen fruchtbar seien“. Auf der Grundlage „heutiger Anschauungen vom Wert national gebundener Kunstwerke“ meinte er, zunächst beispiel- haft auf Charles Gounods Margarethe und Ambroise Thomas’ Mignon Bezug nehmend, zur „Deutung goethischen Geistes in der Musik“ bedürfe es keiner französischen Autoren. Ihre „oberflächliche Ausdeutung“, ihre „sentimentale Effekthascherei“, ihre „geschmäck- lerisch-seichten und charakterlich völlig unbildsamen Allerweltsunterhaltungen“ könnten „nicht strenge genug“ aus den Programmen ausgeschlossen werden. Immerhin gestand er Georges Bizets Carmen als „zutiefst französisch-volkliche[m] Lebens- und Kunst- ausdruck“ eine Sonderstellung zu. Dann nahm er sich Čajkovskijs Oper Eugen Onegin vor: Wie im Falle ‚Margarethe – Mignon‘ auf der einen, ‚Carmen‘ auf der anderen Seite, so wer- den sich auch an zwei russischen Werken bald die Geister scheiden. Tschaikowskys ‚Eugen Onegin‘ hat im deutschen Hause so wenig noch etwas zu suchen, wie Makartmöbel im Heim unserer jungen Menschen. Diese genialische Musik ist in allen europäischen Salons zu einer Art Esperanto der Töne geworden, überall gleich willkommen, gefühlsselig einschläfernd und ohne jeden charakterlichen Bezug, weder Volks- noch Kunstmusik, sondern spätbürgerliches Zivilisationsdokument. Dem glatten Europäer Tschaikowsky ist der wirkliche Ur-Russe Mus- sorgsky gegenüberzustellen, dessen ‚Boris Godunow‘ z.B. uns immer wieder interessieren wird als Ausdruck der östlichen Volksseele.71 Mit anderen Worten, der Gegensatz ‚deutsch – nicht-deutsch‘ wurde ergänzt durch den Ge- gensatz ‚volkhaft – nicht-volkhaft‘. Das Volkhafte, Nationale sollte, auch wenn es nicht- deutsch war, immer noch mehr wert sein als das Internationale. In diesem Sinne bemängel- te der Musikwissenschaftler Ernst Bücken „jenes musikalische Westlertum, wie es […] vornehmlich Peter Iljitsch Tschaikowski (1840–93) verkörperte“. Dieser sei „der echte Vertreter jener nach Lebenshaltung und Empfinden internationalisierten russischen Kul- turschicht, welche die Bindungen an das Volkstum ihres Landes preisgegeben hatte“.72 Wer nun versucht, Kriterien wie ‚volklicher Kunstausdruck‘, ‚Ausdruck der Volkssee- le‘ oder ‚Bindung an das Volkstum‘ auf die Musik anzuwenden, wird schnell ihre rein sub- jektive Natur erkennen, aus der sich handfeste Widersprüche ergeben können. Mutzenbe- cher hatte, wie erwähnt, in Čajkovskijs Oper Eugen Onegin keine Volksmusik, keinen „Ausdruck der östlichen Volksseele“ gesehen und sie von den deutschen Bühnen verban- nen wollen. Aber gleichzeitig nannte der Musikbibliothekar Wilhelm Altmann eben diesen Eugen Onegin eine „Volksoper“ und erklärte, man dürfe „an Volksopern, wie […] Tschai- kowskijs ‚Eugen Onegin‘ nicht vorübergehen“.73 Bemühte sich Mutzenbecher außerdem

70 Hans Esdras Mutzenbecher war Dramaturg, Regisseur und zeitweise geschäftsführender Direktor der Deut- schen Kunstgesellschaft, einer „gemeinnützigen Gesellschaft für die künstlerischen Beziehungen Deutsch- lands zum Auslande“, die als privatrechtliche Gesellschaft der „Tarnung unserer Kulturpropaganda“ diente. So Mutzenbecher in einem Schreiben an Richard Strauss vom 23. Juni 1934, veröffentlicht in Wulf, Musik im Dritten Reich, S. 149–151, bes. 150. 71 Mutzenbecher, Opernspielplan, S. 225. 72 Ernst Bücken, Die Musik der Nationen. Eine Musikgeschichte, Leipzig 1937, S. 410. Hervorhebungen im Original. 73 Wilhelm Altmann, Kritische Opernstatistik, in: Die Musik. Monatsschrift 26 (1933/34), S. 903–908, bes. 903.

16

Čajkovskij im Nationalsozialismus

(ebenso wie der Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser74), Čajkovskijs Schaffen in der Frage des ‚Urrussentums‘ gegenüber Musorgskij abzuwerten, so sprach Nikolai van Gilse van der Pals von dem „slawischen Grundton seiner Musik“: „Das nationale Element ist bei Tschaikowsky vielleicht nicht so handgreiflich wie bei Mussorgsky oder Rimsky-Korssa- koff, aber es durchdringt seine Musik in mannigfaltiger Weise“.75 Nun gut, hier handelt es sich um einen Widerspruch zwischen den Herren Mutzenbe- cher und Moser auf der einen Seite, Altmann und van der Pals auf der anderen. Aber was soll man sagen, wenn sich ein Autor in einer seiner Schriften selbst widerspricht? Der schon erwähnte Moser zieht als Beispiel für das „wahrhaft russische Wesen“ – wie zu er- warten – nicht Čajkovskij, sondern Musorgskij heran, schreibt allerdings in demselben Buch: „Nur Große wie Chopin, Berlioz, Liszt, Verdi, Tschaikowski waren gleich in ihrem völkischen Tonbereich bodenständig erwachsen“.76 Alles andere als klar war auch die Argumentation, wenn es darum ging, den deutschen Einfluss auf nicht-deutsche Musiker zu bewerten. Ist es als positives Zeichen aufzufassen, wenn ein Komponist durch die als höchstvollendet unterstellte deutsche Musik beeinflusst wurde? Oder sollte ein solcher Einfluss als nicht eigenständig eher negativ beurteilt wer- den? In einem Aufsatz von Friedrich Adolf Kerrl über Musik und Rasse heißt es: [M]an muß auch in allem und jedem deutsch-rassisch empfinden, nur dann wird uns deutsche, also nordrassisch geborene Musik seelisches Empfinden sein […]. Denn wer würde wohl die Musik eines Grieg, Sinding, Tschaikowsky, Bizet, Berlioz, Verdi, Rossini, Mascagni nicht be- wundern, lieben und mit seelischer Freude erleben. Sind doch alle diese Künstler, wenn auch nicht deutsch, so doch ohne Zweifel nordrassisch bestimmt und ihre Kunst daher der unserigen verwandt, wenn auch nicht gleich [...].77 Dagegen kommt Walter Georgii, Pianist und Professor an der Kölner Musikhochschule, beim Vergleich der Klavierwerke Čajkovskijs mit denen von Musorgskij und Balakirev zu dem folgenden Ergebnis: „Mit diesen Vollblutrussen kann es der in seiner Klaviermusik unter dem Pantoffel der deutschen Romantik stehende Tschaikoffski nicht aufnehmen“.78 Musikschriftsteller, die über die Feststellung, Beschreibung, Analyse, sozialhistorische und kulturgeschichtliche Einordnung hinaus ideologische Bewertungen vornehmen zu können meinen, verlieren sich offenbar schnell in einem Labyrinth von Widersprüchen.

Wir können an dieser Stelle versuchen, eine erste Bilanz für die Zeit bis 1939 zu ziehen. Nach dem musikalischen Verbalradikalismus des ersten Jahres, der allerdings für viele in diesem Bereich Tätige dauerhafte existenzielle Probleme mit sich brachte und sie in Deutschland – mit Ausnahme des Jüdischen Kulturbundes – als Čajkovskij-Interpreten ver- stummen ließ, stabilisierte sich die Lage im musikalischen Feld ein wenig. Um die Einnah- men nicht zu gefährden, griffen Intendanten und Dirigenten auf das bewährte Repertoire zurück, zu dem auch Čajkovskijs Werke gehörten. Zwar war das Verhältnis zur marxisti-

74 Nachdem in Hermann Kretzschmars Führer durch den Konzertsaal die Menge urrussischer Themen und Motive in Čajkovskijs Werken hervorgehoben worden war, schränkte H. J. Moser (Musiklexikon, zweite, völ- lig umgearb. Aufl., Berlin 1943, S. 967) ein: „Wir werden heute, zumal seit dem Erleben Mussorgskijs, diese Kennzeichnung hinsichtlich des Urrussentums von Tsch[aikowsky] nicht mehr ganz unterschreiben“. 75 Pals, S. 6 u. 5. 76 Hans Joachim Moser, Die Epochen der Musikgeschichte im Überblick, Stuttgart / Berlin 1930, S. 165 u. 148. 77 Fr. Adolf Kerrl, Musik und Rasse, in: Volk und Welt. Das deutsche Monatsbuch, Jg. 1, H. 7 (Juli 1934), S. 53–55, bes. 55. 78 Walter Georgii, Klaviermusik, in: Hamel / Hürlimann (Hrsg.), Atlantisbuch der Musik, S. 453–473, bes. 469.

17

Čajkovskij im Nationalsozialismus schen Sowjetunion gespannt, aber es wurden durchaus russische – wenn auch kaum sowje- tische79 – Musikwerke aufgeführt. Da es kaum möglich ist, sich vom Konzertwesen ein umfassend zutreffendes Bild zu machen,80 seien hier Opern- und Ballettaufführungen zweier vergleichsweise ruhiger Spielzeiten nach den Angaben des Deutschen Bühnenspiel- plans miteinander verglichen: Anzahl der Spielstätten 1931/32 1934/35 Eugen Onegin 7 8 Pique Dame 4 3 Mazeppa 1 1 Dornröschen 1 0 Der Nussknacker 1 3 Nussknacker-Suite 2 0 insgesamt 16 15 Wie man sieht, reduzierte sich die Anzahl der aufgeführten Werke in der Spielzeit 1934/35 gegenüber 1931/32, weil Spjaščaja krasavica (Dornröschen) und Choreographien zur Nussknacker-Suite entfielen. Dennoch blieb die Anzahl der Bühnen, auf denen die Auffüh- rungen stattfanden, fast unverändert. Eugen Onegin wurde am 10. November 1934 (also in der ersten komplett nationalsozialistisch beeinflussten Spielzeit) sogar erstmals an der re- präsentativen Berliner Staatsoper gegeben und blieb dann mit Erfolg im Repertoire.81 Zwei Jahre später sollten die Olympischen Spiele Deutschland von der besten Seite zeigen, wozu auch die Musik ihren Beitrag zu leisten hatte. In diesem Rahmen leitete Hans-Felix Husa- del, der auch sonst Werke von Čajkovskij in seine Konzertprogramme aufnahm, am 14. August 1936 ein Großkonzert der Luftwaffe; neben Stücken von Edvard Grieg, Franz Liszt und deutschen Komponisten dirigierte er dabei den ‚Blumenwalzer‘ aus der Nussknacker- Suite.82 So konnte man 1937 konstatieren: „Tschaikowskys reiches Schaffen, das alle Gebiete vom Lied bis zur Oper umfaßt, hat in unserem Musikleben einen festen Platz“.83 Selbst Herbert Gerigk, der schon erwähnte Leiter der Hauptstelle Musik im Amt Ro- senberg, äußerte sich zwischen 1936 und 1939 verschiedentlich positiv über Čajkovskij. Er sah in ihm den „Meister der Sinfonie aus slawischem Blut“,84 was durchaus anerkennend gemeint war, hatte er doch schon vorher – offenbar das ‚Volkstum‘ neben der ‚Rasse‘ gel- ten lassend – geschrieben, Čajkovskij sei „einer der größten Musikschöpfer, weil er Aus- druck eines reinen Volkstums ist“.85 Insbesondere die langsamen Sätze der Sinfonien bil-

79 Vgl. Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt/M. 1982, S. 371–374; Drewniak, Theater im NS- Staat, S. 324 f. 80 Als Indikator mag gelten, dass Čajkovskij in den Konzerten des Berliner Philharmonischen Orchesters in den Spielzeiten 1934/35 und 1938/39 als einziger ausländischer Komponist neben Berlioz mit einer zweistel- ligen Anzahl an Werken vertreten war; vgl. Bundesarchiv Berlin R 55/245 u. R 55/197: Berichte betr. Berli- ner Philharmonisches Orchester vom 31. Mai 1935 u. 1938/39, erwähnt in Misha Aster, „Das Reichsorches- ter“. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus, übers. v. Reinhard Lüthje, München 2007, S. 238 u. 247; Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, Bd. 3, S. 262–269 u. 288–292. 81 Vgl. Drewniak, Theater im NS-Staat, S. 324. 82 Vgl. Fred K. Prieberg, Eintrag „Husadel, Hans-Felix“, in: ders., Handbuch, S. 3246–3254, bes. 3247–3249. 83 Friedrich Welter, Führer durch die Opern, Leipzig 1937, S. 316; vgl. ders., Musikgeschichte im Umriß vom Urbeginn bis zur Gegenwart, Leipzig 1939, S. 234 f. 84 Herbert Gerigk, Die Schallplatte. Neuaufnahmen in Auslese, in: Die Musik. Monatsschrift 31 (1938/39), S. 264. 85 Herbert Gerigk, Die Meister des Auslandes, in: ders. (Hrsg.), Meister der Musik und ihre Werke, S. 271– 285, bes. 277.

18

Čajkovskij im Nationalsozialismus deten „Tongemälde von höchster Ausdruckskraft, die sich bereits im Thema anzeigt, die aber durch die Verarbeitung des Themas noch viele Steigerungen erfährt“.86 Gerigk nannte das Violinkonzert „eines der Hauptwerke der Geigenliteratur“ und rechnete das Capriccio Italien wegen seiner Orchesterwirkungen zu den „bemerkenswertesten Werken des damali- gen Rußlands“. Auch ließ er sich durch die wirkungsvolle virtuose Bläserbehandlung im Slavischen Marsch beeindrucken, den „nur ein Meister vom Range Tschaikowskys“ so aufzubauen imstande sei, und hob an der Streicherserenade „Tschaikowskys geniales Stim- mengewebe“ hervor.87

1939 setzten die Nationalsozialisten Čajkovskij mit dem Film Es war eine rauschende Ballnacht ein viel beachtetes Denkmal. Der Film verdankte sein Entstehen, wie im Vor- spann zu lesen ist, der „unsterblichen Musik des Komponisten“, die tatsächlich ausgiebig zu hören ist. Regie führte Carl Froelich, der im gleichen Jahr Präsident der Reichsfilmkam- mer wurde. Viele Rollen waren hochkarätig besetzt: In den beiden weiblichen Hauptrollen sind Zarah Leander (als Čajkovskijs Geliebte und Mäzenin Katharina Murakina) und Mari- ka Rökk (als Tänzerin Nastassja Jarowa) zu sehen; Hans Stüwe, damals als Schauspieler und Opernregisseur recht bekannt, spielt den Komponisten; Aribert Wäscher, der von Goebbels in die Gottbegnadeten-Liste aufgenommen wurde, und Fritz Rasp sind ebenfalls dabei (als Katharinas Ehemann Michael Murakin bzw. als Musikkritiker Porphyr Krugli- kow); der berühmte Tenor Leo Slezak verkörpert einen Musikprofessor und früheren Leh- rer Čajkovskijs mit dem deutsch klingenden Namen Hunsinger, was eine biographische Entsprechung in Čajkovskijs Klavierlehrer Rudolph Kündinger hat und wohl die Bedeu- tung der deutschen Musikkultur auch für Russland unterstreichen soll. Es spielt das Or- chester der Staatsoper Berlin unter der Leitung von Theo Mackeben. Mit den Dreharbeiten zu dem Film wurde im Januar 1939 begonnen. Er war vielleicht als Hommage zu Čajkovskijs 100. Geburtstag gedacht, kam aber schon am 15. August 1939 in die Kinos, neun Tage vor der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts. Goebbels, der sich den Film zwei Monat vorher angesehen hatte, war begeistert: Ein herrlicher Film über Tschaikowsky. Wunderbar im Milieu, ergreifend in der Musik, glän- zend im Spiel. […] Ich bin sehr glücklich über diesen großen Wurf.88 Das Drehbuch des Films orientiert sich nur vage an der tatsächlichen Biographie des Kom- ponisten. Zur Erinnerung: 1876 nahm die musikliebende Unternehmerwitwe Nadežda fon Mekk brieflich Kontakt zu Čajkovskij auf, den sie als Person und Komponisten sehr schätzte und fortan finanziell unterstützte. Wenig später gestand eine ehemalige Schülerin des Moskauer Konservatoriums Čajkovskij ihre Liebe. Dieser hatte schon öfter mit dem Gedanken gespielt zu heiraten, weil er hoffte, so seinen sexuellen Trieben Zügel anlegen und möglichem Tratsch vorbeugen zu können. Deshalb ging er darauf ein und ehelichte sie 1877, stürzte aber sofort in eine schwere seelische Krise, die zur Trennung von seiner Frau führte. Soweit der biographische Hintergrund. Im Mittelpunkt des Films steht dagegen das angebliche Bemühen zweier Frauen, Čaj- kovskij für sich zu gewinnen. Die eine ist die Tänzerin Nastassja Jarowa, die ihrerseits von dem Musikkritiker Kruglikow begehrt wird, die andere die Ehefrau des Industriellen Mura-

86 Ebd. 87 Herbert Gerigk, Die Schallplatte. Neuaufnahmen in Auslese, in: Die Musik. Monatsschrift 32 (1939/40), S. 104; 30 (1937/38), S. 331; 31 (1938/39), S. 403 u. 820. 88 Goebbels, Tagebücher, Teil I, Bd. 6, S. 379. Vgl. Guido Heldt, Hardly Heroes: Composers as a Subject in National Socialist Cinema, in: Kater / Riethmüller (Hrsg.), Music and Nazism, S. 114–135, bes. 122.

19

Čajkovskij im Nationalsozialismus kin, die Čajkovskijs Jugendliebe gewesen sein soll und ihn nun heimlich finanziell unter- stützt. Nachdem dieser ein etwas zu langes Tête-à-tête mit ihr gehabt hat, will ihr Mann – von dem eifersüchtigen Kruglikow unterrichtet – sich mit Čajkovskij duellieren. Dieser kann sich dem nur dadurch entziehen, dass er das Ganze als Missverständnis ausgibt und die Tänzerin heiratet. Aber weil er ja eigentlich die andere liebt, kann er mit Nastassja nicht zusammenleben und flieht aus der Verbindung. Das Faktum der gescheiterten Ehe wurde also mit einer angeblich geliebten anderen Frau erklärt, die es in Čajkovskijs Leben so aber nie gab. Seine Homosexualität wurde nicht nur nicht thematisiert, sondern sogar mittels einer frei erfundenen Liebesgeschichte vertuscht. Auf diese Weise heterosexuell verbrämt, konnte der Streifen 1939 als „großer Wurf“ in die deutschen Kinos kommen, während gleichzeitig Homosexuelle auf der Grundlage des verschärften § 175 StGB in Konzentrationslagern umkamen.

Nach Kriegsbeginn gab es nicht mehr nur die gewohnten Konzertveranstaltungen. Denn es sollten sich „auch die deutsche Kunst und im besonderen die Musik in die geistige Landes- verteidigung ein[reihen]“. Es ist kaum zu glauben, dass sogar Čajkovskijs Violinkonzert in einem Berliner Konzert dazu beitrug und seine Fünfte Sinfonie im Mittelpunkt stand, als das Niedersachsen-Orchester sechs Konzerte an der Front gab.89 Die Konzertkritik machte sich jetzt zum Teil ebenfalls die propagandistische Rhetorik zu eigen und akzentuierte dabei auch den völkischen Aspekt, wie exemplarisch die von Ronald de Vet zusammengetragenen Besprechungen von Konzerten Willem Mengelbergs erkennen lassen. Schon 1936 war der Dirigent anlässlich eines Berliner Konzerts mit der Fünften Sinfonie als „Orchesterkommandeur“ (aber auch als „Orchesterbezwinger“) be- zeichnet worden; „das slawische Temperament feiert Orgien“, meinte der eine Rezensent, und ein anderer erblickte im letzten Satz „das einstige, volkhaft ungeheure Rußland“.90 Als Mengelberg im Dezember 1939 das Orchester des Mannheimer Nationaltheaters dirigierte, schwärmte man von „suggestiver Führergabe“ bzw. „männlich klarem Gestaltungswillen“, der „das slawische Schweifen und die gelegentlich ausbrechende Wildheit dämpft“,91 und begeisterte sich für das zu „sieghaftem Jubel aufsteigende Finale“ der Fünften.92 Bei einem Frankfurter Museumskonzert, das einen Monat später stattfand und mit der Vierten Sinfo- nie „asiatische Musik, Pathos eines steppenhaften Volkstums“93 bot, waltete Mengelberg „[w]ie ein Feldherr seines Amtes auf diesem Schlachtfelde der Seele“94: „Die Eleganz des Pizzikato-Scherzos und die Lyrik der Holzbläseridyllen waren wie Schmuck und Ge- schmeide über einem leidenschaftlichen Temperament, das endlich doch die Steppenluft dem Salon vorzieht – so erlebte man Tschaikowsky als echten Russen.“95

89 Berliner Konzerte, in: Die Musik. Monatsschrift 32 (1939/40), S. 100–104, bes. 101; Zeitschrift für Musik 107 (1940), S. 370. 90 De Vet, Willem Mengelberg, S. 114, 115, 114 u. 116. 91 Konzertbesprechung v. Fritz Bommas, in: Rhein-N.S.Z.-Front, Dezember 1939, zitiert nach De Vet, Wil- lem Mengelberg, S. 121. 92 Konzertbesprechung v. Carl J. Brinkmann, in: Hakenkreuzbanner: das nationalsozialistische Kampfblatt Nordwestbadens, 13. Dezember 1939, zitiert nach De Vet, Willem Mengelberg, S. 120. 93 Konzertbesprechung von Dr. Hendel, in: Frankfurter Volksblatt, 28. Januar 1940, zitiert nach De Vet, Wil- lem Mengelberg, S. 121. 94 Konzertbesprechung von Karl Holl, in: Frankfurter Zeitung, 28. Januar 1940, zitiert nach De Vet, Willem Mengelberg, S. 121 f., bes. 122. 95 Wie Anm. 93.

20

Čajkovskij im Nationalsozialismus

1940 stand der 100. Geburtstag Petr Čajkovskijs an. Nachdem der deutsch-russische Nicht- angriffspakt im August 1939 unterzeichnet worden war, kann es kaum überraschen, dass man auch im nationalsozialistischen Deutschland des beliebten russischen Komponisten gedachte. Nikolai van Gilse van der Pals veröffentlichte, wie schon erwähnt, seine Čajkov- skij-Monographie in der offiziellen Schriftenreihe ‚Unsterbliche Tonkunst‘, die von Her- bert Gerigk herausgegeben wurde; und das Amt Rosenberg beurteilte dieses Buch als „eine unbedingt positive Erscheinung in der Musikliteratur“.96 Gerigk selbst ließ zum Geburtstag einen Beitrag in der NS-Zeitung Völkischer Beobachter erscheinen. Die nicht selten anzu- treffende „überhebliche Ablehnung“ Čajkovskijs in Frage stellend, deutete er dessen Werk als Ausdruck der „russischen Rassenseele“; trotz westlicher Anregungen im Zusammen- wirken von Melodik, Rhythmik und Instrumentierungskunst besitze es „russische Eigen- art“. Folglich sprach er sich – anders als andere Autoren – dagegen aus, ihn gegenüber Mu- sorgskij oder sonstigen russischen Komponisten abzuwerten: Das Werk Peter Tschaikowskys gleicht einem Prisma, in dem sich die russische Seele in ihrer Eigenart spiegelt […]. Es wäre abwegig, eine Rangordnung bei ihm, Mussorgsky, Rimsky- Korssakow oder Borodin zu versuchen. […] Was bedeuten diese Werke für unsere Zeit? Sie gehören zum festen Bestand. Sie behaupten ihren Platz wohl kaum auf Grund der Angleichung an die Schaffensprinzipien unserer Meister, sondern ihrer russischen Eigenart wegen. Wir wis- sen, daß Tschaikowsky namentlich von der Kunst Mozarts, Schumanns und Berlioz’ entschei- dende Anregungen erhalten hat. Wichtiger für seinen Personalstil blieb jedoch alles das, was sich aus der russischen Rassenseele ergab.97 Anzahl der Spielstätten 1931/32 1939/40 Eugen Onegin 7 3 Pique Dame 4 10 Mazeppa 1 2 Der Schwanensee 0 2 Dornröschen 1 2 Der Nussknacker 1 1 Nussknacker-Suite 2 2 Romeo und Julia 0 1 (in einem Ballettabend) Capriccio Italien 0 1 (in einer Tanzmorgenfeier) Tanzpantomime 0 1 insgesamt 16 2598

96 Bundesarchiv Berlin, NS 15, Nr. 101, o.S.: Beurteilung des Buches von van der Pals vom 17. Juni 1940, zitiert nach Drewniak, Theater im NS-Staat, S. 325. 97 Herbert Gerigk, Ich bin Realist und Russe. Zum 100. Geburtstag Peter Tschaikowskys, in: Völkischer Be- obachter Jg. 53, Nr. 128 (7. Mai 1940), S. 5. Berlioz wird hier noch genannt; der Westfeldzug begann erst am 10. Mai 1940. 98 Drewniak (Theater im NS-Staat, zit, S. 325) und Levi (Music in the Third Reich, S. 260, Anm. 26) erwäh- nen für die Jahre 1939 bis 1941 nur elf Bühnen, nämlich Aufführungen des Balletts Der Nussknacker in Han- nover sowie der Opern Eugen Onegin in Essen, Kassel und Cottbus; Pique Dame in Nürnberg und Cottbus, Mazeppa in Hannover, Die goldenen Schuhe in Duisburg und Die Zauberin in Berlin, Mannheim und Frei- burg/Br. Dagegen gibt der Deutsche Bühnenspielplan für 1939/40 an: Eugen Onegin in Cottbus, München und Osnabrück; Pique Dame in Heidelberg, Allenstein (Olsztyn), Freiburg/Br., Münster, Stettin (Szczecin), Kiel, Krefeld, Nürnberg, Gera und Stuttgart; Mazeppa in Duisburg und Chemnitz; Der Schwanensee in Leip- zig und Köln; Dornröschen in Hamburg und Leipzig; Der Nussknacker in Hannover; die Nussknacker-Suite in getanzter Version in Zittau und Koblenz; Romeo und Julia in einem Düsseldorfer Ballettabend; Capriccio Italien in einer Berliner Tanzmorgenfeier; Tanzpantomime in Koblenz.

21

Čajkovskij im Nationalsozialismus

In dieser Phase der deutsch-russischen Annäherung kamen Čajkovskijs Opern und Ballette vergleichsweise häufig auf die Bühne. Das mag die vorangehende Tabelle für die Spielzeit 1939/40 belegen. Ins Auge fällt darin die Vielzahl der Aufführungen der Oper Pique Dame, die sonst eher im Schatten des bevorzugten Eugen Onegin stand. Es waren aber auch alle drei Ballette vertreten und zusätzlich choreographische Präsentationen einzelner Orchesterwerke. Hervorzuheben ist noch, dass Čajkovskijs Oper Čarodejka (mit dem Titel Die Zauberin) am 31. Januar 1941 unter der Leitung Paul van Kempens in der Berliner Staatsoper zur ersten Aufführung außerhalb Russlands und der Sowjetunion kam und an- schließend auch in Mannheim und Freiburg aufgeführt wurde.99

In den Spielzeiten 1939/40 und 1940/41 wiesen die Programme der deutschen Sinfonie- konzert-Reihen in fast allen Städten mindestens ein Werk von Čajkovskij auf. Manchmal gab es sogar reine Čajkovskij-Gedenkfeiern oder Konzerte nur mit russischer Musik, bei denen neben dem Jubilar auch Aleksandr Borodin, Michail Glinka, Nikolaj Rimskij- Korsakov oder Aleksandr Skrjabin Berücksichtigung fanden. Von Čajkovskijs Werken er- freuten sich die Vierte, Fünfte und Sechste Sinfonie, das Violinkonzert und das Erste Kla- vierkonzert weiterhin besonderer Beliebtheit;100 gelegentlich erklangen die Zweite Sinfo- nie, die Rokoko-Variationen, die Fantasieouvertüre Romeo und Julia, die sieghaft-vaterlän- dische Festouvertüre Das Jahr 1812 oder Kammermusik. Als Solisten traten übrigens beim Violinkonzert Guila Bustabo und Georg Kulenkampff, beim Ersten Klavierkonzert Conrad Hansen und Rosl Schmid am häufigsten auf. Čajkovskijs bekannteste Werke waren damals auf Schallplatten verfügbar. Dazu ge- hörten die Vierte, Fünfte und Sechste Sinfonie (letztere in Einspielungen von Furtwängler, Karajan und Mengelberg), das Erste Klavierkonzert (mit Conrad Hansen), das Violinkon- zert (mit Georg Kulenkampff), das Capriccio Italien, die Streicherserenade, der Slavische Marsch, Das Jahr 1812, die Nussknacker-Suite sowie einzelne Nummern aus Eugen One- gin, Pique Dame, Die Zauberin und Dornröschen. Telefunken ehrte Čajkovskij – ebenso wie Grieg, Liszt und Albert Lortzing – mit einem Komponisten-Bildnis, das die gängigsten Werke in Auszügen enthielt.101

Eine Besonderheit stellt die Čajkovskij-Rezeption in den jüdischen Gemeinden dar. Nach- dem den Personen jüdischer Abstammung 1933 durch Gesetze, Boykott und sonstige Maß- nahmen die Berufs- und Existenzgrundlage entzogen worden war, stellte sich für diejeni- gen, die Deutschland nicht verlassen konnten oder wollten, die Frage des Überlebens. In dieser Lage strebte der Arzt und Musiker Kurt Singer102 in Verhandlungen mit Hans Hin- kel, Staatskommissar im Preußischen Erziehungsministerium ‚z.b.V. für die Entjudung des kulturellen Lebens‘, für Berlin die Gründung eines ‚Kulturbundes deutscher Juden‘ an, der am 16. Juni 1933 genehmigt wurde, später den Namen ‚Jüdischer Kulturbund‘ verordnet

99 Neef, Handbuch, S. 692; Thomas Salb, „Trutzburg deutschen Geistes?“ Das Stadttheater Freiburg in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg/Br. 1993, S. 319 f.; von Haken, Der „Reichsdramaturg“, S. 172. 100 Dass das Bekannte wieder im Vordergrund stand, wogegen „das unbekanntere Schaffen des Meisters un- berücksichtigt blieb“, wurde durchaus kritisiert; vgl. Fritz Stege, Berliner Musik, in: Zeitschrift für Musik 107 (1940), S. 336 f. 101 Vgl. Die Ernte. Hauptverzeichnis der Telefunkenplatten, zweite Kriegsausgabe [Berlin 1942]; Herbert Ge- rigk, Die Schallplatte. Neuerscheinungen in Auslese, in: Die Musik. Monatsschrift 30 (1937/38), S. 331 u. 481; 31 (1938/39), S. 212, 264, 403 u. 820; 32 (1939/40), S. 104; 33 (1940/41), S. 333 u. 427. Das Telefun- ken-Album hatte die Nummer E 1588. 102 Vgl. Gabriele Fritsch-Vivié, Kurt Singer. Arzt, Musiker und Gründer des Jüdischen Kulturbunds, Berlin 2018.

22

Čajkovskij im Nationalsozialismus bekam, weil Juden angeblich keine Deutschen sein könnten, und bis zum 11. September 1941 existierte. In § 1 der Satzung heißt es: Der Jüdische Kulturbund verfolgt den Zweck, die künstlerischen und wissenschaftlichen Inte- ressen der jüdischen Bevölkerung zu pflegen und für die Arbeitsbeschaffung zugunsten jüdi- scher Künstler und Wissenschaftler nutzbar zu machen. Er soll zu diesem Zweck für seine Mitglieder insbesondere Theateraufführungen und Konzerte, Vorträge und Kunstausstellungen veranstalten, deren künstlerischer und wissenschaftlicher Teil grundsätzlich von Juden be- stritten wird.103 Der Errichtung des Berliner Kulturbundes folgte seit dem Herbst 1933 die Gründung wei- terer lokaler oder regionaler Kulturvereine. Die damit verbundene grundsätzliche Proble- matik und die Vielzahl der sich diesbezüglich stellenden Fragen können an dieser Stelle nicht behandelt werden. Ließen sich soziale Fürsorge und kultureller Anspruch – auch an- gesichts der Abwanderung guter Kräfte – miteinander verbinden? Boten solche Vereine Unterhaltung und stärkten zugleich mit Nathan der Weise, Judas Maccabaeus, Fidelio, Na- bucco und ähnlichen Themen die Widerstandskraft? Oder dienten sie letztlich nur dem NS- Regime – teils durch Isolierung und Registrierung der Mitglieder sowie Überwachung der kulturellen Aktivitäten, teils als Vorzeigeobjekte, die nach außen ein ‚normales‘ Leben der jüdischen Bevölkerung zur Schau stellen sollten? Welchen Spielraum ließ die „furchtbare Spannweite zwischen Selbstbehauptung und Selbsttäuschung“,104 zwischen Überlebens- strategie und der Alternative einer Flucht ins Ausland? Aus musikalischer Sicht verfügten die einzelnen Kulturbünde über eine unterschied- lich gute Ausstattung.105 Oft gab es nur Kammermusikgruppen und Chöre für geistliche oder Volksmusik. Im Vergleich damit stand der Berliner Kulturbund von Anfang an sehr gut da. Ihm stand das ‚Berliner Theater‘ an der Charlottenstraße, später das (Herrnfeld-) Theater an der Kommandantenstraße zur Verfügung, so dass dank eines leistungsstarken Ensembles und Orchesters neben Schauspiel, Vorträgen und Filmvorführungen auch Opern-/Operettenaufführungen und Sinfoniekonzerte stattfinden konnten. Als Leiter des Orchesters fungierten Michael Taube (1933–34), Joseph Rosenstock (1934 bis Anfang 1936), dann Hans Wilhelm Steinberg und schließlich Rudolf Schwarz (Herbst 1936 bis 1941); die Chorleitung lag in den Händen von Berthold Sander. Daneben gab es noch das Orchester der Künstlerhilfe der Jüdischen Gemeinde Berlin, das unter wechselnden Diri- genten auftrat.106 In Frankfurt besaß der Jüdische Kulturbund Rhein-Main außer Chören,

103 Herbert Freeden, Jüdisches Theater in Nazideutschland, Tübingen 1964, S. 19 u. [22]. 104 Bernd Sponheuer, Musik auf einer „kulturellen und physischen Insel“. Musik als Überlebensmittel im jü- dischen Kulturbund 1933–1941, in: Weber (Hrsg.), Musik in der Emigration, S. 108–135, bes. 110; vgl. Free- den, Jüdisches Theater, Epilog; Fred K. Prieberg, Musik unterm Davidsstern, in: Akademie der Künste (Hrsg.), Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933–1941, Berlin 1992, S. 113–126. 105 Vgl. Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 78–106; Horst J.P. Bergmeier u.a., Vorbei. Dokumentation jüdischen Musiklebens in Berlin 1933–1938 / Beyond Recall. A Record of Jewish Musical Life in Nazi Berlin 1933– 1938, Hambergen 2001; Volker Dahm, Kulturelles und geistiges Leben, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1996, S. 75– 267; Stephan Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat, hrsg. v. Andor Izsák, Han- nover 2001. 106 Zur Lage in Berlin vgl. Akademie der Künste (Hrsg.), Geschlossene Vorstellung; Eike Geisel u. Henrik M. Broder, Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941. Texte und Bilder, Berlin 1992; Ga- briele Fritsch-Vivié, Der Bund – Soziales, Solidarität, Verbundenheit. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941 in seiner Entwicklung, Aufgabenstellung und Wirkung, in: Adriane Feustel u.a. (Hrsg.), Die Vertreibung des Sozialen, München 2009, S. 178–199; dies., Gegen alle Widerstände. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941, Berlin 2013; Lily E. Hirsch, A Jewish Orchestra in Nazi Germany. Musical Politics and the Berlin Jewish

23

Čajkovskij im Nationalsozialismus einem Streichquartett und anderen Kammermusikensembles seit Mai 1934 ein eigenes Or- chester, das zunächst Hans Wilhelm Steinberg und im Anschluss an dessen Wechsel nach Berlin Julius Prüwer leiteten, bis finanzielle Gründe eine Weiterführung über 1938 hinaus unmöglich machten.107 In Köln108 und Hamburg lag der Schwerpunkt auf dem Schauspiel. Aber neben dem Tempelchor gründeten Hermann Cerini die ‚Jüdische Orchestervereini- gung von 1933‘ und Edvard Moritz im Herbst 1934 das gelegentlich konzertierende, nur aus Streichern bestehende ‚Jüdische Kammerorchester‘, das Čajkovskij mindestens zwei- mal berücksichtigte. Zusätzlich gastierten hier, wie auch an anderen Orten, die Berliner und Frankfurter Orchester, das Frankfurter Streichquartett und das Leipziger Mendelssohn- Trio mit Noten von Čajkovskij im Gepäck.109 In Mannheim widmete sich Max Sinzheimer neben der Kammermusik einem Chor und einer ‚Instrumentalgemeinschaft‘; in Stuttgart leitete Karl Adler von 1934 bis 1938 einen Chor und ein Sinfonieorchester, in München Erich Eisner (Künstlername: Erich Erck) seit 1931 ein Jüdisches Kammerorchester, das von 1934 bis 1938 als Kulturbund-Orchester weiter bestand und zumindest im letzten Jahr die Fünfte und die Sechste Sinfonie brachte, in Breslau Kurt Havelland (und nach ihm Fritz Berend, Berthold Sander und Kurt Singer) ein Laienorchester, sowie in Danzig Henry Prins den Synagogenchor und ein hauptsächlich aus Laien bestehendes Kulturbundorches- ter.110 Die Konzertprogramme orientierten sich zunächst am gängigen Repertoire – mit einer gewissen Bevorzugung deutscher und jüdischer Komponisten. Schon bald aber ergaben sich Schwierigkeiten. Abgesehen von Behördenschikanen und erheblichen Kosten durften Bruckner und Wagner nicht gespielt werden, bald auch Beethoven und dann die übrigen deutschen Komponisten nicht mehr, weil ihre Eigenart von Interpreten jüdischer Abstam- mung angeblich nicht angemessen erfasst werden könne; und nach der Annexion Öster-

Culture League, Ann Arbor 2012. Zu Michael Taube vgl. von der Lühe, Die Musik war unsere Rettung, ad indicem. 107 Vgl. Judith Freise u. Joachim Martini, Jüdische Musikerinnen und Musiker in Frankfurt – 1933–1942. Musik als Form geistigen Widerstandes. Ausstellungsbegleitheft, Frankfurt/M. 1990; Eva Hanau, Musikinsti- tutionen in Frankfurt am Main 1933 bis 1939, Köln 1994; dies., Die musikalischen Aktivitäten des Jüdischen Kulturbundes in Frankfurt am Main, in: Joachim Braun (Hrsg.), Verfemte Musik. Komponisten in den Dikta- turen unseres Jahrhunderts. Dokumentation des Kolloquiums vom 9.–12. Januar 1993 in Dresden, Frank- furt/M. 1995, S. 79–89. Zu Prüwer vgl. Antje Kalcher, Julius Prüwer, in: Maurer Zenck/Petersen (Hrsg.), Le- xikon, Permalink: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002153. 108 Vgl. Kurt Düwell, Der Jüdische Kulturbund Rhein-Ruhr 1933–1938. Selbstbesinnung und Selbstbehaup- tung einer Geistesgemeinschaft, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hrsg.): Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 427–441, Nachdr. in: Maritta Hein-Kremer u.a. (Hrsg.): Landes- und Zeitgeschichte im Westen Deutschlands. Ausgewählte Beiträge von Kurt Düwell zu sei- nem 65. Geburtstag, Essen 2004, S. 219–236. 109 Vgl. Barbara Müller-Wesemann, Theater als geistiger Widerstand. Der jüdische Kulturbund in Hamburg 1934–1941, Stuttgart 1996, bes. S. 239 u. 533–535; Bettina Frankenbach, Hermann Cerini, in: Maurer Zenck/Petersen (Hrsg.), Lexikon, Permalink: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002799; Sophie Fetthauer u.a., Edvard Mo- ritz, in: ebd., Permalink: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002075. 110 Vgl. Freeden, Jüdisches Theater, Kap. 10; Susanne Schlösser, „Ein Dirigent von Bedeutung“ – der jü- dische Musiker Max Sinzheimer in Mannheim und in der Emigration, in: Mannheimer Geschichtsblätter N. F. 12 (2005), S. 137–146; Fritz Richert, Karl Adler. Musiker – Verfolgter – Helfer. Ein Lebensbild, Stuttgart 1990; Dana Smith, Der Jüdische Kulturbund in Bayern, Ortsgruppe München 1934–1938, in: Münchner Bei- träge zur jüdischen Geschichte und Kultur 8 (2004), H. 2, S. 26–39; Stompor, Jüdisches, S. 129; zu Breslau vgl. Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 88–92; Erwin Lichtenstein, Der Kulturbund der Juden in Danzig 1933– 1938, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden 10 (1973), S 181–190.

24

Čajkovskij im Nationalsozialismus reichs entfielen auch Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert.111 So hätte Čajkovskijs Name im Laufe der Zeit neben denen französischer, italienischer, unga- rischer und anderer slawischer Komponisten tendenziell öfter in den Programmen erschei- nen können. Dies trat jedoch nur zum Teil ein; denn er wurde in den Berliner Spielzeiten von 1935 bis 1938 zwar jeweils vier bis fünf Mal, aber 1938/39 nur einmal und 1940/41 gar nicht berücksichtigt.112 So etwas mag mit eingefahrenen Dirigiergewohnheiten zusam- menhängen (die Konzertprogramme der Kulturbünde in Berlin und Frankfurt unterschie- den sich inhaltlich kaum voneinander), aber vielleicht lag es auch an Čajkovskijs Vorliebe für große Orchesterbesetzungen mit starkem Bläserapparat, zumal gerade Bläser in jenen Jahren rar waren. Trotzdem gehörte er bei den Sinfoniekonzerten des Berliner Kulturbundorchesters zu den vier am meisten aufgeführten Komponisten – nach Mozart, Felix Mendelssohn- Bartholdy und Beethoven.113 Zudem kam er mehrfach an hervorgehobener Stelle vor.114 Schon beim ersten Konzert, mit dem sich das Berliner Kulturbund-Orchester am 10. Okto- ber 1933 vorstellte, präsentierte Michael Taube (neben Werken von Händel und W.A. Mo- zart) Čajkovskijs Streicherserenade. Das Programm des Antrittskonzerts, das Hans Wil- helm Steinberg am 1. Juli 1936 in Berlin gab, enthielt (neben E. Bloch und Mahler) die Sechste Sinfonie. Als erste Opernpremiere der fünften Berliner Spielzeit wurde am 19. No- vember 1937 Eugen Onegin gegeben; Regie führte Kurt Singer, es dirigierte Rudolf Schwarz, und die Titelpartie sang der renommierte Bariton Wilhelm Guttmann, der bis 1934 an der Städtischen Oper in Berlin-Charlottenburg gewirkt hatte. Angesichts der dra- matischen Verschlechterung der Lage fand am 17. September 1938 in der großen Synago- ge an der Oranienburger Straße eine Werbeveranstaltung für den Kulturbund statt, bei der unter anderem das Andante aus der Fünften Sinfonie gespielt wurde. Ein Höhepunkt mit acht Werken Čajkovskijs fiel in Berlin in die Spielzeit 1939/40, in der unter anderem die Vierte und die Fünfte Sinfonie, das Violinkonzert mit Josef Philipp, das Capriccio Italien, Sätze aus der Streicherserenade und Lieder erklangen. Erwähnenswert ist noch, dass auch Kammermusikwerke, wie das Erste Streichquartett, das Klaviertrio, die Sérénade mélanco- lique und – in Frankfurt am Main – Klavierwerke Berücksichtigung fanden.115

Wie sich die Einstellung zu Čajkovskij im Laufe der Jahre sowohl zum Positiven als auch zum Negativen ändern konnte, zeigt beispielhaft die Haltung Wilhelm Furtwänglers. Nati- onalistisch eingestellt, blies er zunächst in das deutschtümelnde Horn und hielt die deut- sche Musik für „die letzte originellste und größte Kunstleistung der neueren Völker über- haupt“.116 Obwohl er Čajkovskijs drei letzte Sinfonien in seinen Konzerten mit dem Berli- ner Philharmonischen Orchester bereits seit 1923 dirigiert hatte (die Fünfte sogar zwei- mal),117 meinte er noch 1929, „eine wirkliche Sinfonie [sei] von Nicht-Deutschen über-

111 Dazu Hirsch, A Jewish Orchestra, S. 30. In diesem Zusammenhang ist vielleicht erwähnenswert, dass Hans Pfitzner die Uraufführung seiner Kantate Von deutscher Seele Selmar Meyrowitz anvertraute; vgl. Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, Bd. 3, S. 200. 112 Vgl. Geschlossene Vorstellung, S. 399–402, 407–409, 412, 414, 418 f. u. 424 f. 113 Vgl. Sponheuer, Musik auf einer „kulturellen und physischen Insel“, S. 130. 114 Vgl. Geschlossene Vorstellung, S. 380, 399, 412, 414 u. 420–423. 115 Ebd., S. 392, 401, 402; Freise / Martini, Jüdische Musikerinnen, darin: Jüdisches Gemeindeblatt für die Israelische Gemeinde zu Frankfurt am Main Nr. 4 – Januar 1938 u. Nr. 7 – April 1938. 116 Wilhelm Furtwängler, Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden ³1956, S. 10 (1930). 117 Vgl. Wilhelm Furtwängler. Die Programme der Konzerte mit dem Berliner Philharmonischen Orchester 1922–1954, Wiesbaden 21965, S. 8 (4./5. März 1923), 11 (16./17. November 1924), 14 (18./19. April 1926) u. 17 (13./14. November 1927).

25

Čajkovskij im Nationalsozialismus haupt nie geschrieben worden“, und nannte Čajkovskij – ebenso wie Hector Berlioz und César Franck – „Halbsinfoniker“, die „in allem Wesentlichen gänzlich unter deutschem Einfluß“ gestanden hätten.118 Bis 1940 dirigierte er fast jedes Jahr ein bis zwei Werke Čaj- kovskijs, allerdings neben den letzten Sinfonien nur publikumssichere Werke, wie das Vio- linkonzert, das Erste Klavierkonzert, Romeo und Julia sowie Francesca da Rimini,119 und nahm die Sechste Sinfonie 1938 auf Schallplatte auf. 1940 räumte er sogar ein: „Sibelius ist neben Tschaikowsky eigentlich der einzige, der von Nicht-Deutschen wirklich sinfonisch arbeitet“.120 Obwohl er noch 1942 Čajkovskij mit Mozart und Wagner zu dem guten Alten in der Musik rechnete,121 finden sich von 1941 bis zum Kriegsende keine Werke von Čajkovskij mehr in seinen Berliner Konzertprogrammen.122

Das Jahr 1941 markiert nämlich ganz allgemein einen Wendepunkt in der deutschen Čaj- kovskij-Rezeption. Nachdem Deutschland die Sowjetunion am 22. Juni diesen Jahres über- fallen hatte, machte die Reichsmusikkammer am 12. Juli 1941 eine Anordnung des Reichs- ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda bekannt, wonach „die Werke russischer Komponisten bis auf weiteres ausnahmslos nicht aufgeführt werden“ sollten.123 Das Auf- führungsverbot galt auch für die im Kriegsverlauf besetzten sowjetischen Gebiete, für de- ren Spielplangestaltung gemäß den im Februar 1942 erlassenen vertraulichen Richtlinien galt, dass grundsätzlich die Aufführung, die Veröffentlichung und der Vertrieb von Kunstwerken, die von Angehörigen einer der heute mit Deutschland im Kampf stehenden Feindmächte stam- men, unzulässig sind. Dies gilt nicht nur für zeitgenössische Werke, sondern auch für solche aus früheren Epochen. Ausnahmslos ist die russische Musik und das russische Schrifttum (auch die sogenannten Klassiker wie etwa […] Tschaikowsky […]) nicht mehr zur Auffüh- rung bzw. zum Verkauf zu bringen, oder aus Büchereien zu entfernen.124 Sogar das Schweizer Radio ging ängstlich so weit, keine Werke zeitgenössischer russischer Komponisten zu übertragen, um die Deutschen nicht zu provozieren; und im Sender Basel wurde eine Schallplatten-Einspielung der Nussknacker-Suite mit dem Vermerk versehen: „nicht senden – von Tschaikowsky“.125 Im Gegensatz dazu gab es durchaus Ausnahmen von der Ausnahmslosigkeit. Zum Beispiel erging an Willem Mengelberg 1944 die Bitte,

118 Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hrsg. v. E. Furtwängler u. G. Birkner, Zürich / Mainz 1996, S. 64. 119 Vgl. Wilhelm Furtwängler. Die Programme der Konzerte. 120 Furtwängler, Aufzeichnungen, S. 213. 121 Ebd., S. 224: „[Die Musik der Gegenwart muss sich] gegen das gute Ältere durchsetzen. Hier entsteht je- ner bisher uneingestandene Kampf mit dem Alten, der, im großen ganzen gesehen, zugleich ein Kampf der Mittelmäßigkeit gegen das Gute ist. Man wird immer sehen, wieviel toleranter große Musiker gegen die Ver- gangenheit sind, wieviel verbundener mit ihr als die kleinen. Man frage einmal Strauss, was an Mozart und Wagner ist, Strawinsky nach Tschaikowsky.“ 122 Vgl. Wilhelm Furtwängler. Die Programme der Konzerte. Während Furtwängler ab 1945 zwei Jahre lang nicht auftreten durfte, dirigierte Leo Borchard das erste Nachkriegskonzert der Berliner Philharmoniker und nahm die folgenden Werke in das Programm auf: Mendelssohn-Bartholdys Sommernachtstraum-Ouvertüre, Mozarts Violinkonzert in A-Dur und Čajkovskijs Vierte Sinfonie; vgl. Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, Bd. 3, S. 314; Aster, Reichsorchester, S. 25 u. 331. 123 Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer Jg. 8, Nr. 7 (15. Juli 1941), S. 22, zitiert nach Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 374. 124 Kulturinformationen für das Ostland, Folge 1 (Riga), 1. Februar 1942 (nur für den Dienstgebrauch), zitiert nach Drewniak, Theater im NS-Staat, S. 132 f. 125 Vgl. Theo Mäusli, The Swiss Music Scene in the 1930s: A Mirror of European Conditions?, in: Kater / Riethmüller (Hrsg.), Music and Nazism, S. 258–268, bes. 261.

26

Čajkovskij im Nationalsozialismus

Čajkovskijs Sechste Sinfonie in öffentlichen Konzerten in Amsterdam und Den Haag zu dirigieren, weil die Ehefrau des Reichskommissars für die besetzten Niederlande Arthur Seyß-Inquart den Komponisten so sehr liebte.126 Dem generellen Aufführungsverbot entsprach die Nichterwähnung von Gedenktagen. So stand Čajkovskijs Behandlung zum 50. Todestag im Jahre 1943 in jeder Hinsicht im völligen Gegensatz zu der vorangegangenen Čajkovskij-Begeisterung des Jahres 1940. Ein Beispiel: In dem Aufsatz Musiker- und Musikgedenktage im Jahre 1943, den Wilhelm Virneisel in der Zeitschrift für Musik veröffentlichte, erwähnte der Autor unter den 1893 Verstorbenen zwar so wenig bekannte Musiker, wie den Pianisten Friedrich Brißler oder den Liedvertoner Alfred Dregert, dagegen Čajkovskij mit keinem einzigen Wort.127 Dem entsprach die Anweisung, die bei einer kulturpolitischen Pressekonferenz am 6. November 1943 erging und die Nennung Čajkovskijs in deutschen Zeitungen und Zeitschriften unter- sagte.128 Umso mehr erstaunt dann, dass das Jahrbuch der deutschen Musik, das „im Auf- trage der Abteilung Musik des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ (also Goebbels’ Ministerium) herausgegeben wurde, unter ‚Musikalische Gedenktage 1943‘ zum 50. Todestag verzeichnete: „Peter Tschaikowsky, der große russische Kompo- nist“.129 Aber das könnte ein redaktionell nicht mehr zu verhindernder Ausrutscher gewe- sen sein, wie er bei dem ständigen Hin und Her auch sonst vorkam. Da fast alle nationalsozialistischen Musikwissenschaftler nach 1945 weiter lehrten und ihre Bücher mit wenigen ideologischen Retuschen erneut veröffentlichen konnten, wurde ihre Sicht der Dinge auch nach dem Zusammenbruch des NS-Staates weiter verbreitet. Dies darzustellen, würde aber ein eigenes Kapitel erfordern.130 Deshalb mag hier ein Bei- spiel genügen. Hans Joachim Moser hatte 1936 ein Lehrbuch der Musikgeschichte veröf- fentlicht, in dem er erst in der Nachkriegsausgabe von 1949 Mendelssohn-Bartholdy, Mey- erbeer, Offenbach und Mahler berücksichtigte – Schönberg und Hindemith sogar erst zwei Auflagen später. Auf die „russ[ische] Schollenkunst“ eingehend, sah er Čajkovskij in der Opernentwicklung „auf der Marschhöhe“ „neben Brahms“, von dem allerdings keine Oper bekannt ist. Er wertete Čajkovskij auch, wie gehabt, gegenüber dem „genialen“ Musorgskij ab, dessen „Stellung in der Musik“ angeblich „der Rolle Dostojewskis in der Literatur ent- spricht“.131 Diese Abwertung übernahm er ebenfalls in seinem Musiklexikon aus der zwei- ten Auflage von 1943 in die beiden Nachkriegsauflagen.132

Meine ursprüngliche Arbeitshypothese muss ich abschließend folgendermaßen revidieren. Nationalistische und rassistische Ausfälle, die durchaus an der Tagesordnung waren, haben der Rezeption Čajkovskijs im NS-Staat zunächst wohl weniger stark geschadet, als zu er-

126 Vgl. De Vet, Willem Mengelberg, S. 91–94. 127 Wilhelm Virneisel, Musiker- und Musikgedenktage im Jahre 1943, in: Zeitschrift für Musik 110 (1943), S. 14–16. 128 Boris von Haken (Der „Reichsdramaturg“, S. 173) verweist diesbezüglich auf das Bundesarchiv Berlin, Slg. Sänger, Zsg 102. 129 Musikalische Gedenktage 1943, in: Jahrbuch der deutschen Musik [1. Jg.] (1943), S. 202 f., bes. 203. 130 Vgl. Pamela M. Potter, Die deutscheste der Künste, Kap. 8; Drüner / Günther, Musik und „Drittes Reich“, Kap. 9; grundsätzlicher und über den hier angesprochenen personellen Zusammenhang hinausgehend: Michael Walter, Thesen zur Auswirkung der dreißiger Jahre auf die bundesdeutsche Nachkriegs-Musikwis- senschaft, in: Isolde v. Foerster u.a. (Hrsg.), Musikforschung Faschismus Nationalsozialismus – Referate der Tagung Schloss Engers (8. bis 11. März 2000), Mainz 2001, S. 489–509. 131 Hans Joachim Moser, Lehrbuch der Musikgeschichte, 14. vollst. neubearb. u. erw. Aufl. Berlin 1959, S. 371, 260, 370 f. 132 Zur Zweitauflage des Musiklexikons von Moser vgl. Anm. 74; außerdem Musiklexikon, Hamburg ³1951, S. 1212–14; 41955, S. 1319 f.

27

Čajkovskij im Nationalsozialismus warten war. Zwar gab es über ihn und seine Werke immer wieder abfällige und abwertende Bemerkungen, deren undurchdachte Willkürlichkeit entlarvend wirkt. Dennoch war er ab 1933 in Konzert- und Bühnenaufführungen kaum weniger häufig vertreten als in der Wei- marer Zeit. Das hat anscheinend den folgenden Grund. Zusätzlich zu der von mir anfangs unterstellten Konkurrenz rassenideologischer Grundsätze und außenpolitischer Rücksicht- nahme kam ein weiterer Faktor ins Spiel: musikpragmatische Überlegungen, die vom Pu- blikumsgeschmack und von der Finanzlage der Veranstalter diktiert wurden. Nachdem der Hitler-Stalin-Pakt abgeschlossen war, erlebten Čajkovskijs Musik und Person zwischen 1939 und 1941 eine überraschend starke Aufwertung, die – durch den Film über ihn vorbereitet – 1940 anlässlich seines 100. Geburtstags zu einem Höhepunkt führte. Die kontroverse Diskussion um die Bewertung russischer oder westlicher, nationa- ler oder kosmopolitischer Aspekte der östlichen Musik suchte Gerigk kraft seiner Autorität zu entscheiden, indem er den russisch-nationalen Aspekt in Čajkovskijs Musik, rassistisch zugespitzt, besonders hervorhob und ihrer Abwertung im Vergleich mit Musorgskij eine Absage erteilte, worin ihm aber nicht alle Autoren folgten. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurden Čajkovskijs Werke vom Herbst 1941 an nicht mehr in Deutschland aufgeführt und er selbst in der Musikliteratur kaum noch er- wähnt, was negative Auswirkungen bis in die Nachkriegszeit hatte.

28