Čajkovskij Im Nationalsozialismus (Wilhelm Büttemeyer)
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Tschaikowsky-Gesellschaft Mitteilungen Online Aufsätze: Čajkovskij im Nationalsozialismus (Wilhelm Büttemeyer) Publikationsdatum (online): 15. September 2020 URL: http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/mitteilungen-online/2020-09-15- Nationalsozialismus-Buettemeyer-Mitt-Online.pdf Abkürzungen, Ausgaben, Literatur sowie Hinweise zur Umschrift und zur Datierung: http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/index_htm_files/abkuerzungen.pdf. Copyright: Tschaikowsky-Gesellschaft e.V. / Tchaikovsky Society http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/impressum.htm [email protected] / www.tschaikowsky-gesellschaft.de Redaktion: Lucinde Braun und Ronald de Vet ISSN 2191-8627 Čajkovskij im Nationalsozialismus Čajkovskij im Nationalsozialismus1 Wilhelm Büttemeyer Vor einiger Zeit habe ich mich mit Petr Čajkovskijs Art der Instrumentierung seiner Or- chesterwerke beschäftigt.2 Dabei konnte ich wegen seiner Bedeutung nicht an einem ei- gentlich recht bekannten Sachverhalt vorbeigehen: der Verwendung der Celesta. Čajkov- skij hatte das erst 1886 von dem französischen Instrumentenbauer Auguste Mustel paten- tierte Instrument als erster in einem Orchesterstück eingesetzt, nämlich 1891 in der kaum bekannt gewordenen Symphonischen Ballade Voevoda (Der Wojewode), und erneut ein Jahr später im Ščelkunčik (Der Nussknacker), einem der meistgespielten Ballette, dessen beliebte Suite zudem im Konzertsaal heimisch wurde. Deshalb war ich sehr überrascht, als ich in der Erstauflage der deutschen Standard-Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart las, der Klang der Celesta sei „vor allem durch Strauss’ Rosenkavalier bekannt geworden“,3 der erst 1911 – also 20 Jahre später – uraufgeführt wurde. Noch erstaunter war ich, als ich dann feststellte, dass Friedrich Blume, der Herausge- ber der Enzyklopädie, 1939 ein Buch über Das Rasseproblem in der Musik veröffentlicht hatte, das 1944, als es in Deutschland kriegsbedingt kaum noch Papier gab, in zweiter Auf- lage erscheinen durfte. Hier sah er darin, dass die Musik – wie jede geistige Tätigkeit – auf „die rassische Zusammensetzung ihrer Träger“ zurückgeht, ein Postulat seiner Welt- anschauung. Und Ludwig K. Mayer, der als Autor des erwähnten Lexikoneintrags dem er- sten Präsidenten der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer unzutreffende Meriten angedichtet hat, betätigte sich schon vor 1933 als Münchner Musikreferent der NS-Zeitung Völkischer Beobachter und seit 1938 als Mitarbeiter in Goebbels Reichsmusikprüfstelle.4 Eine ähnliche Verknüpfung der Celesta mit Richard Strauss findet sich im Musiklexikon des nationalsozialistischen Musikwissenschaftlers Hans Joachim Moser.5 Es sieht demnach so aus, als hätten sich rassistische Vorbehalte und Wertungen noch lange nach dem Zusam- menbruch des NS-Staates negativ auf die deutsche Čajkovskij-Rezeption ausgewirkt. 1 Ausarbeitung eines Vortrags, den der Verfasser am 30. Juni 2017 in Frau Prof. Violeta Dinescus Kompo- nisten-Colloquium an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gehalten hat; zuerst gekürzt erschienen in Mitteilungen 25 (2018), S. 9–35. Für hilfreiche Hinweise dankt der Autor Frau Dr. Lucinde Braun, Frau apl. Prof. Dr. Kadja Grönke und Herrn Ronald de Vet. 2 Wilhelm Büttemeyer, Zur Instrumentierung der Orchesterwerke Čajkovskijs, in: Mitteilungen 23 (2016), S. 19–38, bes. 34 f. 3 Ludwig K. Mayer, Eintrag „Instrumentation“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Abkürzung: MGG), Kassel 1951–86, Bd. 6 (1957), Sp. 1284. 4 Friedrich Blume, Das Rasseproblem in der Musik, Wolfenbüttel / Berlin 1939, S. 3; ²1944, S. 3. Vgl. Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, S. 504–509 (Eintrag „Blume“) und 4501– 4505 (Eintrag „Mayer“). – Zu ähnlichen Fällen in MGG vgl. Roman Brotbeck, Verdrängung und Abwehr. Die verpaßte Vergangenheitsbewältigung in Friedrich Blumes Enzyklopädie ‚Die Musik in Geschichte und Gegenwart‘, in: Anselm Gerhard (Hrsg.), Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin?, Stuttgart 2000, S. 347–384; Ulrich Drüner u. Georg Günther, Musik und „Drittes Reich“. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik, Wien 2012, S. 332–336. 5 Hans Joachim Moser, Musiklexikon, Berlin ²1943, S. 136; Hamburg 31951, S. 167; 41955, Bd. I, S. 189. Ein an Instrumentierung interessierter Autor hätte schon 1922 bei Nikolai Rimsky-Korssakow (Grundlagen der Orchestration, Berlin 1922, Bd. 1, S. 35) lesen können, die Celesta habe „als erster Tschaikowsky angewen- det“. 1 Čajkovskij im Nationalsozialismus Diese Feststellungen waren der Anlass, das Thema ‚Čajkovskij im Nationalsozialis- mus‘ ins Auge zu fassen – ein recht ungewöhnliches Thema. Denn wer sich überhaupt mit Musik im Nationalsozialismus beschäftigt, nimmt vor allem drei Fragestellungen in den Blick: 1. die Bemühungen des Regimes, die Musik in den verschiedensten Bereichen zu kon- trollieren und zu beeinflussen; 2. das Schicksal derjenigen Musiker, die wegen ihrer Abstammung oder politischen Gesinnung entlassen, verfolgt oder gar zugrunde gerichtet wurden; 3. die Ächtung der sogenannten „entarteten“ Musik. Das Thema ‚Čajkovskij im Nationalsozialismus‘ gehört dagegen in einen eher rezeptions- geschichtlichen Zusammenhang. Es ist weniger brisant als die genannten, weil Čajkovskij schon nicht mehr lebte und weder jüdischer Abstammung noch Anhänger des Marxismus war. Wer deshalb meint, es sei gar kein Thema, weil Čajkovskij als ‚Nicht-Jude‘ durch den Nationalsozialismus nicht betroffen sei, macht es sich aber zu leicht. Denn er übersieht, dass die Nationalsozialisten gegen alles nicht ‚Arische‘ zu Felde zogen und alles nicht ‚Germanische‘ hochmütig mit Verachtung behandelten. – Tatsächlich besitzt mein Thema so viele Facetten, dass ich einige Aspekte ausklammern muss: Zeitungsberichte, Rund- funksendungen, den gesamten Komplex der Musikerziehung und musikalische Aktivitäten in Konzentrationslagern. Um die Vergleichbarkeit mit der Zeit vor 1933 zu wahren, blei- ben auch die Verhältnisse in den von Deutschen besetzten Gebieten (Tschechoslowakei, Österreich, Polen usw.) unberücksichtigt. Bevor ich mein Thema direkt angehe, dürfte es für den Vergleich von Vorteil sein, den Stand der Čajkovskij-Rezeption in Deutschland vor 1933 in Veröffentlichungen, Konzert- sälen und Opernhäusern in groben Zügen zu vergegenwärtigen. Diese Rezeption galt keineswegs „zuerst den solistischen Konzerten“ – gemeint sind das Erste Klavierkonzert und das Violinkonzert, die im deutschsprachigen Raum ja erst zwischen 1878 und 1881 erstaufgeführt wurden;6 sie setzte, wie Lucinde Braun gezeigt hat, schon früher ein.7 Neben Musikliebhabern waren daran Musikkritiker und -schriftsteller, Verleger, Interpreten und Impresarios in vielfältiger Weise beteiligt. Schon am 26. Mai 1870, knapp drei Wochen nach Čajkovskijs dreißigstem Geburtstag, erschien in der Zeit- schrift Signale für die Musikalische Welt ein Hinweis auf seine Romanzen op. 6.8 Der Ber- liner Musikverlag Bote & Bock veröffentlichte 1871 die zweite Fassung der Fantasie-Ou- vertüre Romeo i Džul’etta (Roméo et Juliette); im Leipziger Musikverlag Portius erschie- 6 Dammann, S. 88; zu den Erstaufführungsdaten vgl. Thomas Kohlhase, Systematisches Verzeichnis der Wer- ke Pëtr Il’ič Čajkovkijs (ČWV) (ČSt 17), S. 239 u. 242. 7 Lucinde Braun, „Mögen diese hübschen Lieder doch auch mit deutschen Worten erscheinen“. Hans Schmidt und die Anfänge der Čajkovskij-Rezeption in Deutschland, in: Mitteilungen 19 (2012), S. 86–97; dies., „Bilder des Nordens“ – Čajkovskijs Klavierzyklus ‚Die Jahreszeiten‘ und seine frühe Verbreitung in Europa, in: Die Musikforschung 66 (2013), S. 130–156. Zur Čajkovskij-Rezeption in Deutschland vgl. Tschaikowsky aus der Nähe; Ljudmila Korabel’nikova, Čajkovskij im Dialog mit Zeitgenossen, in: ČSt 1, S. 187–198; David Brown, Peter Tschaikowsky im Spiegel seiner Zeit, Zürich 1996; Schlagworte, Tendenzen und Texte zur frühen Čajkovskij-Rezeption in Deutschland und Österreich, zusammengestellt von Thomas Kohlhase, in: ČSt 3, S. 327–354; Thomas Kohlhase (Hrsg.), „An Tschaikowsky scheiden sich die Geister“. Textzeugnisse der Čajkovskij-Rezeption 1866–2004 (ČSt 10); Dorothea Redepenning, Zur frühen Verbrei- tung und zur Rezeption der Werke Tschaikowskys in Deutschland, in: Wolfgang Sandberger (Hrsg.), Kontra- punkte. Symposium. Grenzenlos? Tschaikowsky in Deutschland, Lübeck 2016, bes. S. 65–71. 8 F. B., Sechs russische Romanzen für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von P. Tschaikowsky, in: Signale für die Musikalische Welt, Jg. 28, Nr. 30 (26. Mai 1870), S. 466. 2 Čajkovskij im Nationalsozialismus nen 1874 die Six Morceaux op. 19, und ab 1876 brachten die Leipziger Verlage Forberg und Leuckart Klavierwerke, Kammermusik und Lieder in deutscher Übersetzung heraus.9 Damit war ein Grundstock für öffentliches und privates Musizieren gelegt, durch das Čaj- kovskij und seine Musik bekannt werden konnten. Der Pianist und Dirigent Hans von Bü- low, der sich für die Aufführung von Werken Čajkovskijs einsetzte und das Erste Klavier- konzert aus der Taufe hob, äußerte sich auch in einem Artikel der Münchner Allgemeinen Zeitung anerkennend über ihn, wobei er erwähnte, das „schöne“ Erste Streichquartett (von 1871) habe sich „bereits in vielen deutschen Städten eingebürgert“.10 Nach weiteren Aufführungen und Besprechungen seiner Werke kam Čajkovskij als „einer der angesehensten russischen Komponisten der Gegenwart“ mit der Aufnahme ins Musikalische Conversations-Lexicon, in Hugo Riemanns Musik-Lexikon und andere Hand- bücher zu enzyklopädischen Ehren.11 1887 erschien