1993 Friedrich Schorlemmer FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

Richard von Weizsäcker ______Laudatio

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhan- ist eine elementare Gefahr für den Frieden. So dels wird in diesem Jahr an einen im deutschen unendlich wichtig und schwer es ist, immer von Gemeindewesen verwurzelten Pfarrer verliehen. neuem Toleranz zu lernen und zu üben, so bleibt Das hat die Paulskirche bisher noch nicht erlebt. sie doch allzuoft passiv und gleichgültig gegen- Ich freue mich darüber und erlaube mir zunächst über Not und Leid und Ungerechtigkeit. einige allgemeine Worte der Begründung. Ein Wall zwischen Kultur und Politik? Was In der ruhmreichen Geschichte des Frieden- sollte er helfen? Kultur lebt ja nicht abgeschottet spreises war schon deutlich von dem »stark be- gegen die harten Tatsachen, Interessen und festigten Wall zwischen Kultur und Religion« Kämpfe des Lebens. Sie ist kein Vorbehaltsgut die Rede (Paul Tillich), von der Abgrenzung für ein paar Eingeweihte, sondern sie ist die zwischen Glauben, Politik und literarischer Fülle unserer menschlichen Lebensweise mit Kunst. Im Zeichen des Friedens, dem der Preis allen ihren Unterschieden. Sie ist damit die we- gilt, ist dies eher merkwürdig, auch wenn man sentliche Substanz, um die es in der Politik ge- Gründe dafür finden kann. - Unsere heutige sä- hen sollte. Wer die Bedeutung begreift, die der kularisierte Gesellschaft bekennt sich mit ihrer Nachbar seiner Kultur zumißt, lernt ihn und lernt politischen Verfassung zum Pluralismus und zur zugleich sich selbst besser verstehen. Er beginnt, weltanschaulichen Neutralität. Es geht um die ihn zu achten, und hört auf, in ihm einen Fremd- Regeln des Zusammenlebens, nicht um die Su- ling oder gar Feind zu sehen. che nach Wahrheit. Der Börsenverein des Deutschen Buchhan- Wer sich als Politiker programmatisch auf dels ist eine Einrichtung unseres kulturellen seinen Glauben beruft, darf damit nur die Maß- Lebens. Mit seinem Friedenspreis gewinnt er stäbe nennen, an denen er sich selbst orientieren gerade damit sein hohes Ansehen, daß er die will und auch von anderen streng gemessen wer- Kultur herausfordert, indem er ihr etwas Zentra- den sollte. Er gerät zu Recht ins Abseits, wenn er les abverlangt und zutraut, nämlich kraftvolle versucht, aus seiner Position eine Überlegenheit Schritte in Richtung auf den Frieden. gegenüber Andersdenkenden abzuleiten oder Könnte und dürfte er da aus rein prinzipiel- intolerant zu werden. Ein Pfarrer wird zunächst len Gründen haltmachen vor dem Bezirk des mißtrauisch beäugt, wenn er in der Politik auf- Glaubens? Doch gerade deshalb nicht, weil die taucht. Kann er dort ein frommer Bekenner sei- Mentalität von Kreuzzügen, Inquisitionen und nes Glaubens bleiben? Wird er der Versuchung kirchlicher Machtpolitik, von Fundamentalisten widerstehen, im Namen des von ihm bezeugten und radikalen Schwärmern die Glaubwürdigkeit Glaubens den Pluralismus in die Schranken zu der Religionen in Frage stellen und den Frieden rufen? Gibt es härtere Widerstände gegen Frie- unter den Menschen bedrohen kann. Die den als die kleinen und großen Kämpfe um letzte menschliche Zivilisation muß von jeder Religion Wahrheiten? Auskunft darüber verlangen, was aus ihrer Und dennoch ist die Abgrenzung der Berei- Wahrheit für das friedliche Zusammenleben der che gerade dann merkwürdig, wenn es um den Menschen und Völker folgt. Frieden geht. Keiner Friedenspolitik bleibt es Unter dem Eindruck schwerer Gefahren für erspart, einen tieferen Grund für die Verständi- den inneren und äußeren Frieden erleben wir gung untereinander zu suchen als das bloße zum Beispiel im Islam gegenwärtig eine geistige Vertrauen auf den Pluralismus. Auseinandersetzung über den tiefen Sinn des Heute leben wir innerhalb unserer liberalen soviel mißbrauchten Begriffs des Heiligen Krie- Demokratien wie auch zwischen den Völkern in ges. Dabei hören wir auch die Stimmen von einer Phase der moralischen Erschöpfung. Das starken, oft einsamen Rufern, die sich aus ihrem

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Glauben heraus dafür verzehren, der Gleichgül- ging er nie die leichteren Wege. Bereits im Alter tigkeit ebenso die Stirn zu bieten wie dem frie- von 14 Jahren wurde er zum erstenmal politisch densgefährdenden Fanatismus. überwacht. Als Jüngling verweigerte er den Die Geschichte des Christentums, das un- Wehrdienst - wissen die jungen Menschen im sere Kultur geprägt hat, gibt uns wahrlich keinen Westen, welcher Mut dazu in der damaligen Grund, uns über andere Religionen zu erheben. DDR gehörte? Aber seine Abirrungen sind unsere wichtigsten In der DDR lebten die meisten Menschen in Lehren, um seine zentrale Botschaft der Liebe einem Winkel. Doch nicht alle taten es zum ei- freizulegen, die ja kein anderes Ziel als den genen Schutz. Der Winkel, in dem Friedrich Frieden verfolgen kann. Und immer wieder be- Schorlemmer lebte, war der »Untergrund«, wie gegnen wir Menschen, die mit ihrem Leben die ihn die Staatssicherheit nannte, deren Abteilung Kraft dieses Glaubens bezeugen. »Politischer Untergrund« für ihn zuständig war. Viele von ihnen bleiben verborgen. Wir Sie führte ihn als gefährlichen operativen Vor- mögen ihre segensreiche Wirkung verspüren und gang, als OV »Johannes«. Wußte die , wie können ihnen doch nicht danken, da wir ihre treffsicher sie mit ihrer Namensgebung war? Namen nicht wissen. An sie alle wollen wir den- Konnte sie ahnen, wie ernst es diesem Johannes ken, da nun heute einer unter uns ist, den wir mit dem Auftrag des gleichnamigen Vierten kennen und dem wir danken wollen: Friedrich Evangeliums war, im Kampf zwischen Wahrheit Schorlemmer. und Lüge Zeugnis von Jesus von Nazareth ab- Er nimmt seinen Glauben ernst und hilft uns zulegen, auch auf die Gefahr hin, dafür verfolgt in unserer Zeit und unserem Land zu verstehen zu werden? und zu tun, worauf es um des Friedens willen Er ließ sich von keiner Überwachung ab- ankommt. In jeder Phase seines Lebens stellt er schrecken. Er nutzte die Abende, um an der sich gegen die wechselnden Gefahren. Die Volkshochschule das Abitur nachzumachen, das Machthaber der Diktatur forderte er heraus mit ihm auf der regulären Schule verweigert worden seinem Kampf gegen die anbefohlene Erziehung war. Er studierte Theologie, kam in eine Ge- der Jugend zur Feindschaft. Er klagte die Rü- meinde, wurde Jugendpfarrer und Dozent am stungsspirale in einem politischen System an, in Predigerseminar in der Lutherstadt . dem man für solchen Freimut verfolgt und nicht, So wuchs er in eine Kirche hinein, die wieder wie im Westen, zumeist nur verfilmt wurde. einmal, wie so oft in ihrer Geschichte, mit aller Als die Freiheit näherrückte, nahm er seine Schärfe einer Spannung zwischen den ewigen ganze Autorität zusammen, um der Revolution und den zeitlichen Fragen ausgesetzt war. ihren friedlichen Verlauf zu gewährleisten. Der Die großen Konflikte der Zeit wären lösbar, erregten Bevölkerung redete er mit aller Kraft wenn wir Menschen die Kraft fänden, persönlich ins Gewissen, aufrecht und gewaltlos für die und politisch gemäß der Bergpredigt zu handeln. Freiheit einzutreten. Und seitdem sich die Verei- Ihren absoluten sittlichen Forderungen zu ent- nigung vollzieht, ringt er um Versöhnung in der sprechen wäre vielleicht die einzige ausrei- Wahrheit und um solidarischen Ausgleich der chende Antwort, um Frieden und Gerechtigkeit Lasten. zu erlangen. Wir Menschen scheitern immer In der Altmark, im heutigen Bundesland wieder an diesen Forderungen. Sachsen-Anhalt, ist Friedrich Schorlemmer 1944 Doch dürfen wir daraus kurzerhand ableiten, nahe der Elbe geboren und aufgewachsen. Er sah mit der Bergpredigt lasse sich die Welt nicht die Dampfer nach Hamburg fahren, ohne daß sie regieren? Können wir uns auf so einfache Weise ihn mitnahmen. Aber auch von sich aus faßte er von ihren hohen Geboten dispensieren, nur weil den Entschluß, nicht in den Westen zu gehen. Er gefährliche Schwärmer Unheil mit ihnen ange- hat sich nie als DDR-Deutscher gefühlt, sondern richtet haben? Uralt und ohne Ende ist die Aus- als ein Deutscher, der nicht zulassen wollte, daß einandersetzung, ob Christus mit der Bergpre- die SED sich einbilden dürfe, die DDR gehöre digt das Reich Gottes verkündet, auf das wir ihr allein. hoffen, das wir aber nicht mit unserer kleinen Im elterlichen Pfarrhaus begegnete er schon menschlichen Kraft schaffen können, oder ob als Halbwüchsiger den politischen Konflikten. wir in der Bergpredigt die bleibenden Maßstäbe Seine Ausbildung wurde staatlich behindert. für unser Denken und Handeln finden, an denen Doch er ließ sich nicht beugen. Von Jugend an wir uns stets von neuem orientieren sollen, sooft

3 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS wir sie auch verfehlen. Am Leben und Wirken zu leben, so gehörte er dazu. Er wollte keine von Friedrich Schorlemmer lernen wir ein- Märtyrerrolle. Er spannte den Bogen, soweit es drucksvoll, daß es sich niemand leichtmachen irgend ging, aber mit der Absicht, gerade noch sollte zu glauben, er könne dieser Spannung außerhalb der Gefängnisse zu bleiben oder nicht wirklich entgehen. Für Schorlemmer ist sie un- außer Landes verwiesen zu werden. Treu nach aufhebbar. Er hält ihr stand, so gut er es vermag, begegnete er den Mächtigen mit ohne in einen bindungslosen Aktionismus zu dem Wort, nicht mit Gewalt. Er wußte, daß sie verfallen, zum Glaubenstyrannen zu werden nichts mehr fürchteten als Gewalt, aber daß sie oder voller Frömmigkeit die Welt sich selbst zu auch auf nichts weniger gefaßt waren als auf überlassen. Gewaltlosigkeit. Die Kirchen in der DDR befanden sich von Heute wissen wir, daß die Stasi trotz aller vornherein im frontalen Widerspruch zu den Perfektion ihrer Mittel Friedrich Schorlemmers Maximen jenes Staates. Sie stellten den einzi- Wirkung unterschätzte. Was die Stasi als »Un- gen, über das ganze Land verteilten, organisier- tergrund« betrachtete, war bei ihm in Wirklich- ten Freiraum in der Gesellschaft dar, der nicht in keit bezwingende Offenheit. Er dachte und han- der Hand und unter der direkten Kontrolle der delte so, daß er seine Nische zum Raum der politischen Herrschaft stand. Deshalb waren sie Auseinandersetzung werden ließ. Die Stasi auch der für die SED wichtigste Gegenstand des überwachte ihn mit den ihr eigenen Waffen. Mißtrauens, der Überwachung und der Unter- Dagegen waren seine Waffen entwaffnend: Er wanderungsversuche. Die SED agierte gegen- gab einfach nur zu erkennen, was er als wahr über den Kirchen mit einem doppelten Ansatz. erkannte. Er wollte Ernst machen mit dem, was Einerseits war es die flächendeckende und indi- das Regime lediglich vorgab zu wollen: Frieden viduell hochnotpeinliche Bespitzelung und und soziale Gerechtigkeit. Öffentlich verbieten Kontrolle, zum anderen bemühte sich die ließ sich das schlecht. Es war der unbeirrbare Staatsmacht im Laufe der Zeit darum, die Kir- und gelassene Weg des kategorischen Imperativs chen zu einer Stabilisierung der immer gefährli- der Aufklärung gegen den hypothetischen Impe- cher schwankenden Stimmung in der Bevölke- rativ der Parteidialektik. rung nutzbar zu machen. Ohne Frage gab es in Denken und Handeln gehören bei Schor- dieser großen Organisation Kirche, wie überall lemmer unmittelbar zusammen. Auf das Han- in der Welt, starke und schwache Menschen oder deln in Freiheit kommt es an. Zur Freiheit gehört Kirchenleitungen, die mehr oder weniger ein- der Mut, sich der Einsicht zu stellen. »Verweige- drucksvoll operierten. Bei einigen Personen ist rung von Einsicht ist Verweigerung konkreter auch eine veritable Unterwanderung gelungen. Verantwortung. Wer sich der Einsicht nicht Doch aufs Ganze gesehen, haben SED und stellt, schränkt seine Handlungsfähigkeit bis zur Staatssicherheit den Kampf um Überwachung Entscheidungsunfähigkeit ein.« Gelegentlich und Aushöhlung, um Gleichschaltung und In- beschreibt er den Kampf für eine demokratische strumentalisierung der Kirche verloren. Jahr- Emanzipation. Um die Erneuerungsbedürftigkeit zehntelang hat sich die Kirche gegen die staatli- eines jeden einzelnen als Voraussetzung für eine che Indoktrinierung der Kinder in der Schule Erneuerung der Gesellschaft zu begründen, zi- gewehrt, gegen die Minderachtung der Behin- tiert er Kant, Marx und Paulus: derten, gegen die Rüstungspolitik, sich für die - »Habe den Mut, dich deines Verstandes Freizügigkeit der Menschen, gegen das un- ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.« menschliche Grenzregime an Mauer und Sta- - »Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen cheldraht und für die Menschenrechte nach Geist der Mensch ein erniedrigtes, geächtetes, ein und Buchstaben der Schlußakte von Helsinki verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« eingesetzt. Seit Anfang der 80er Jahre boten die - »Verändert euch durch die Erneuerung eu- Kirchen auch Dach und Schutz für Bürgerrecht- res Denkens, damit ihr erkennen könnt, was der ler, die den aktiven Widerstand suchten. Der Wille Gottes ist.« Schutz galt Christen und Nichtchristen. Der Kommunismus hat die Erneuerung der Friedrich Schorlemmer ist einer von vielen Gesellschaft verfehlt. Er hat sie erzwingen wol- Bekannten und Unbekannten, denen wir dies zu len, ohne sie auf die Erneuerung des Menschen danken haben. Wenn es Menschen gab, die sich zu bauen. unter jenem Regime bemühten, in der Wahrheit Einen zentralen Raum nahmen bei Schor-

4 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS lemmer die Ziele der Abrüstung, der Entspan- ermutigte auch eine wachsende Zahl von Men- nung und der Friedenspolitik ein. Aus einer blo- schen zu den ersten öffentlichen freiheitlichen ßen Friedensrhetorik der SED machte er mit Demonstrationen auf den Straßen der DDR, die seinen Freunden Ernst. Öffentlich prangerten sie in immer steigendem Umfang ihren Weg durch an, wie der Staat die Kinder und Jugendlichen die achtziger Jahre nahmen. anhand von Feindbildern aufwiegelte. Aktiv »Die Faust des anderen öffnen mit Worten« griffen sie die zur Entspannung ermunternde (Heinz Czechowski), darauf kam es Friedrich Schlußakte von Helsinki mit dem Gedanken auf, Schorlemmer an. Er setzte nicht nur strikt auf daß Frieden nach außen nur glaubwürdig und Gewaltlosigkeit, sondern auch auf die Kraft des haltbar ist, wenn er sich mit Frieden nach innen Wortes, getreu nach Martin Luther. Dankbar verbindet. empfand er die Verse und Texte von Schriftstel- Ein Beispiel, das ich erwähnen möchte, lern, die ihm geholfen haben, in der DDR zu habe ich 1983 aus einiger Nähe selbst miterlebt. existieren und zu bleiben und nicht zu kapitulie- Ich war Gast auf dem Landeskirchentag in Wit- ren beim Versuch, mit der Wahrheit zu leben. Er tenberg. Es war nicht nur das 500. Geburtsjahr nennt Reiner Kunze, Thomas Brasch, Wolf von Martin Luther und das 100. Todesjahr von Biermann, Christa Wolf und andere, von denen Karl Marx, sondern auch das Jahr der Raketen- er bekennt, daß sie nicht das Regime stabilisier- stationierung. Mit erheblichen Bedenken hatte ten, sondern ihn und seine Freunde. die SED den Kirchentag genehmigt. Sie hatte Mit seiner Friedensgruppe verfaßte er zum sich schließlich dazu durchgerungen, weil sie Kirchentag in 1988 zwanzig Thesen. Es sich wohl etwas kirchlichen Rückenwind für war die denkbar klarste Herausforderung an die ihren Feldzug gegen die westliche Nachrüstung Adresse der SED mit dem Ziel einer Erneuerung versprach. Doch wieder nahm Schorlemmer mit der Gesellschaft. Die Freiheit für Erziehung und seinen Freunden das Vokabular der östlichen Bildung wurde ebenso gefordert wie die Freizü- Führung ernster, als sie es selber meinte. Im gigkeit der Begegnungen, der Pluralismus bei völlig überfüllten Lutherhof ließen sie ein ge- Wahlen und die Preisgabe des mit Macht ausge- schmiedetes Schwert feierlich durch die Massen übten Anspruchs und Monopols auf Wahrheit hereintragen, und sie gedachten der Worte des durch die SED. Jedermann wurde zur verant- Propheten Micha: wortlichen Teilnahme an einer Reform der Ver- »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen hältnisse aufgerufen. Der Impuls dieser Thesen und ihre Spieße zu Sicheln machen. war so groß wie die Heftigkeit der staatlichen Es wird kein Volk wider das andere Reaktion gegen diese gefährlichen Feinde des das Schwert erheben, Regimes. und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Vom Sommer 1989 an überschlugen sich Krieg zu führen.« die Ereignisse. Im Juni war es zu den furchtba- So wurde unter den Augen der Stasi - mit ren Gewaltakten in Peking gekommen. Die ihren Infrarotfilmen dokumentiert - das Schwert SED-Führung hatte sich eindeutig und scharf zu zur Pflugschar umgeschmiedet. Die Aktion er- den dortigen Unterdrückungsmethoden bekannt. folgte ohne Gewißheit auf Erfolg, ohne konkrete Die chinesische Angst ging nun um im Land. Perspektive auf Wirkung. Sie war eine Aussaat, Zugleich schwollen die Flüchtlingsströme über ohne Kenntnis, wann und wie es zur Ernte Ungarn in die Bundesrepublik an. Mahnwachen kommen werde, aber in der Zuversicht darauf. und Friedensgebete in den Kirchen und Demon- Haben wir denn jetzt schon geerntet? Oder liegt strationen auf den Straßen nahmen zu. Die Si- die wahre Ernte noch vor uns? Fragen, die noch cherheitsorgane waren in höchster Alarmbereit- offen sind. Doch was damals, vor zehn Jahren, in schaft. Alles war so zugespitzt, daß ein Funke Wittenberg in einer bewegenden Zeremonie genügt hätte, um blutige Auseinandersetzungen konkret geschah, wurde zu einem Symbol, das auszulösen. Und dann wurde die große Demon- dann immer mehr Menschen als Zeichen trugen, stration am 9. Oktober 1989 zum Kulminations- auch wenn es ihnen oft genug durch die soge- punkt der friedlichen Revolution. Die im Land nannten Ordnungshüter von den Jacken gerissen stationierten fremden Truppen wurden in den wurde. Kasernen gehalten. Die Wittenberger Aktion löste also heftige Schorlemmer und alle Gleichgesinnten re- Reaktionen der Sicherheitsorgane aus: Doch sie deten mit ihrer ganzen Macht den Menschen

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Mut zum offenen, aber absolut friedlichen Be- kommend genug? Wie bewahren wir unsere kenntnis des Freiheitswillens zu. Die Kirchen freiheitliche politische und mediale Streitkultur waren in diesen Tagen überfüllt. Die Straßen vor bloßem Papperlapapp? Wie begegnen wir gehörten wieder den Bürgern selbst. der Neigung des Dampfablassens gegen Auslän- Am 4. November, fünf Tage bevor die der oder sonstige Schwächere? Wie halten wir es Mauer fiel, gab es die größte Kundgebung in der beim Umgang mit der Vergangenheit, jedem ganzen Geschichte der DDR auf dem Alexan- eine Wende zuzutrauen und keine Vergeltung derplatz in Berlin, einberufen von Künstlern und obwalten zu lassen? Praktizieren wir eine Tole- spontan befolgt aus allen Schichten der Gesell- ranz, die auf Einsicht in die eigene Fehlbarkeit schaft. Viele Millionen Menschen haben diese beruht? bewegende historische Stunde am Fernseh- Wie kaum ein anderer fragt Friedrich schirm verfolgt. Schorlemmer in Predigten, Reden und Schriften Schorlemmer gehörte zu den Rednern. Seine nach der Wahrheit von Teilung und Einheit, von mehr improvisierten als geplanten Worte trafen Opfern und Lasten, von Wunden und ihrer Hei- die Lage. Die Gefahr des Blutvergießens war lung. Er, der soviel dazu beigetragen hatte, das noch nicht endgültig gebannt. Die Sorge vor geistige Band zwischen beiden Teilen Deutsch- einem letzten gewaltsamen Aufbäumen der lands nicht reißen zu lassen, er spricht es aus, Staatsmacht war groß. Schorlemmer warnte vor daß wir über die Idee des neuen vereinigten der Versuchung des simplen »Dampfablassens«, Deutschland zuwenig vor- und nachgedacht vor der Entartung des Dialogs zum »bloßen Pap- haben. Er mahnt uns, daß wir mit den Grautönen perlapapp des Volkes«, vor der »Ersetzung alter leben müssen, auch mit den eigenen, und daß durch neue Intoleranz«. Er beschrieb Toleranz wir uns dies auch zutrauen können. als die »Erkenntnis, daß wir irren und alten Versöhnung unter Menschen kann ohne Fehlern neue hinzufügen werden«. »Reißen wir Ringen um Wahrheit nicht gelingen. Aber nun nicht neue Gräben auf! Trauen wir jedem Wahrheit wäre unmenschlich ohne das Ziel der eine Wende zu, auch wenn nicht jeder in seiner Versöhnung. Die Richtenden - und das sind wir alten Position verbleiben darf. Aber, bitte, keine alle, nicht nur die Richter - mögen sich hüten vor Rachegedanken.« »Wir werden noch durch ein neuer Ungerechtigkeit bei dem Versuch, endlich Tal hindurchgehen. Wir werden uns nicht durch Gerechtigkeit herzustellen. Nicht die Sündhaf- besonderen Wohlstand auszeichnen können, aber tigkeit ist das Thema, sondern die Bedürftigkeit vielleicht durch mehr Freundlichkeit und und Fähigkeit zur Veränderung. Wärme.« In diesem Sinne plädierte er für eine Friedrich Schorlemmer ist auch nach der Koalition der Vernunft, nun, da die Menschen Wende politisch aktiv geblieben, und zwar dort, im Begriff waren, aus Objekten zu Subjekten des wo die Demokratie wurzelt: in der Kommune. Er politischen Handelns zu werden. Und er, der aus ist ein engagierter Teilnehmer an der demokrati- Wittenberg kam, schloß mit den Worten Martin schen Bürgergesellschaft. Zuerst und zuletzt Luthers: »Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber ist er Pfarrer, Pfarrer aus Wittenberg, ge- aber die Fäuste haltet stille.« prägt von Luther, der darauf baut, daß sich die Das alles hat Schorlemmer ein paar Tage Wahrheit im Streit durchsetzt, und auch von vor dem Fall der Mauer in Ost-Berlin gesagt. Melanchthon, der der Wahrheit eher mit dem Inzwischen sind vier Jahre vergangen. Die kon- Streben nach Harmonie dient. Schorlemmer kreten Gefahren haben sich verändert. Die Auf- vertraut auf die Kraft des Wortes. Er verbindet gaben sind neu. Aber die Maßstäbe, die uns zur sie überdies mit einer Liebe zur Dichtung. Der Orientierung dienen sollten, behalten ihre zwin- Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat ei- gende Gültigkeit. Wie halten wir es mit einer nen Preisträger ausgesucht, dessen zweite Ex- Koalition der Vernunft im Angesicht unserer amensarbeit - als Theologe - die Sprache der großen mitmenschlichen und sozialen Aufgabe modernen Poesie zum Thema hatte. Und so hat der Vereinigung, der gewachsenen Arbeitslosig- er selbst in der Sprache des ja gewiß zur Grob- keit in Ost und West, der notwendigen Hilfe für heit befähigten Martin Luther Poesie entdeckt. die Reformprozesse in Osteuropa, der Leiden Auch von Bertolt Brecht hat er gelernt. Es und Flüchtlingsschicksale auf und aus dem Bal- gilt, den Leser und Hörer ohne Hinterhalt, aber kan? »Wer der Vernunft dient, kommt der Not- mit Geschick dafür aufzuschließen, daß er sich wendigkeit zuvor« (Herder). Sind wir zuvor- der Einsicht öffnen kann.

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Der Stiftungsrat des Börsenvereins sagt in seiner Begründung für den Friedenspreis, das Beispiel von Friedrich Schorlemmer habe ge- zeigt, daß auch weiches Wasser den Stein bricht. Damit bezieht sich die Jury auf das wunderbare Gedicht von Brecht, in dem geschildert wird, wie Lao-Tse beim Verlassen des Reiches seine Weisheitslehre für den einfachen Grenzwächter aufschreibt, der neugierig gefragt und dies zur Antwort erhalten hatte: »Daß das weiche Wasser in Bewegung / mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.« Weich und sanft ist unser Preisträger eigentlich nicht. Aber er hat ein gutes Gefühl für den sprachlichen Tiefsinn des Wortes Sanftmut, wo Sanftsein sich mit Mut paart. Es ist die Stetig- keit, die ihn auszeichnet, die unablässige, ent- waffnende Offenheit, die unerschrockene Ge- waltlosigkeit, mit denen er nach Wahrheit sucht, um Einsicht ringt, mit seinen Worten Fäuste öffnet. Damit setzt er dem Harten zu, bis es un- terliegt. - Der Friedenspreisträger 1993 ist ein Mann der Zuversicht. Sie stützt sich auf seinen Glauben. Neben dem Hebräerbrief des Neuen Testaments zitiert Friedrich Schorlemmer auch einen Inder: »Der Glaube ist wie ein Vogel, der schon singt, wenn es noch Nacht ist.« Ich gratuliere uns, und ich beglückwünsche den Börsenverein des Deutschen Buchhandels zu seinem Preisträger 1993. Friedrich Schorlemmer hat sichtbar gemacht und zur Sprache gebracht, was viele andere Ungenannte und Unbekannte empfunden und durchgehalten haben in einer schweren Zeit. Sie haben sich nicht durch kleine oder große Vorteile korrumpieren lassen. Unge- beugt und solidarisch, die Bergpredigt nicht außer acht lassend, haben sie menschlich gelebt. Wir danken Friedrich Schorlemmer und mit ihm diesen seinen wahren Brüdern und Schwe- stern für ihr Leben und ihr Beispiel.

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Friedrich Schorlemmer ______

Dank Den Frieden riskieren

In einer Bürgerkirche, einem Tempel der sprüche zugunsten anderer gelassen reduzieren. Demokratie sind wir - und Sie erlauben mir, daß Ich spreche hier nicht ex cathedra; ich ich Sie als >Bürger< begrüße und nicht mit Ihren bringe Streitbares in Strittiges ein - aber es ist Funktionen. Ich begrüße Sie in den vorderen wie nicht fertig, sondern will Gespräch. in den hinteren Reihen. So sehr es um Politik geht, so sehr geht es Zwei Bürger darf ich stellvertretend begrü- letztlich um jeden von uns, seine Friedensfähig- ßen. Der eine hat sich noch nachgemeldet - ein keit und Zivilcourage im Konflikt. Hallenser! Ich möchte Hans-Dietrich Genscher Vor acht Tagen erst schlitterten wir - diese sehr, sehr herzlich begrüßen und mit Ihnen alle, vielgestaltige, widersprüchliche Menschheit - die den Weg zur Einheit geschafft haben und wieder am Rande des Abgrunds. Es ist schon sich jetzt den Schwierigkeiten auch stellen, ehr- verwunderlich, daß wir noch einmal knapp da- lich und hoffnungsvoll. vongekommen sind. Ist das geschenkte Gnaden- Verehrter, lieber Herr von Weizsäcker, Sie frist? Gelingt es uns, die Lern-Pausen zu nutzen haben in einer mich berührenden Weise einen oder sollten diejenigen recht behalten, die mei- Weg nachgezeichnet, auf dem ich zusammen mit nen, wir hätten nach wie vor die innere Verfas- anderen versucht habe zu gehen. Ohne uns zu sung und den äußeren Horizont von Neander- erhöhen oder zu erniedrigen, haben Sie es wohl talern, doch mit Verfügungsgewalt über Atom- vermocht, uns gerecht zu werden. Unsere innere waffen? Krieg und fortwährendes zentrifugales Einheit lebt von solchem gesuchten Mit-Verste- Konfliktpotential im Herzen einer Atommacht hen. Das tut mir und gewiß vielen anderen auch mit xfachem Overkill läßt uns den Atem anhal- einfach gut. Danke. ten und weist uns schmerzhaft darauf hin, wie Ich danke allen, die in diesen bewegten Jah- gefährdet der in sich unberechenbare und im ren durch ihren Mut zum Risiko beigetragen Konflikt sich maßlos vergessende Mensch ist. haben, daß ich mit vielen Ostdeutschen zusam- Und dieser Mensch kann über gattungsge- men heute hier überhaupt sein und frei sprechen fährdende Machtmittel verfügen. Bleibt der Kof- kann. Ich erinnere mich, wem wir entronnen fer mit den entscheidenden Zahlenkombinatio- sind. Ich sehe nicht ohne Sorge und nicht ohne nen in »guten Händen«? - 26.500 Nuklear- Hoffnung, was vor uns liegt. sprengköpfe! Wenn dort Armeeteile gegenein- Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich an ei- ander gekämpft hätten... Nicht auszudenken! nem Sonntagmorgen in der säkularisierten Pauls- Und ein Land, das zur Erhaltung der Demokratie Kirche sage: Zuerst HALLELUJA, dann Militär braucht, begibt sich in die Hand des Mi- KYRIE. litärs. Was wird aus der Demokratie werden, was Und das Zweite: In so einer Kirche darf ich aus den Abrüstungsverträgen? als Pfarrer einen solchen Preis nicht annehmen. Es ist wieder komplizierter geworden, dem Paulus sagte: »Was soll das Rühmen; es ist aus- Frieden das rechte Wort zu reden, wo sich Welt- geschlossen.« Aber er fährt dann fort - ich habe Wirrnis und Wort-Wirrnis den Rang ablaufen. nachgesehen, ob ich es darf: »Wir sind euer Mehr denn je spüre ich, wie wahr Satz und Ge- Ruhm.« gen-Satz sind, wie Licht zu Zwie-Licht wird, wie Vergessen wir nicht das Leben zu preisen wir ausgerechnet im hitzigen Streit um den wirk- für jeden Tag, den wir leben dürfen, gar mit samen Weg zum Frieden den Frieden verlieren. Brot, Wohnung, Arbeit. Nichts ist selbstver- Und doch sehe und säe ich - und nicht nur ständlich. Wer das weiß, kann seine Lebensan- ich - unverdrossen das Senfkorn Hoffnung, ge-

8 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS nieße die Früchte unseres Friedens, blende das unter den Menschen« zu verbinden suchten, wo Weltelend zeitweilig aus, will leben. das Beten nicht das Tun ersetzte, wo Beten Nur unter einem doppelten Vorbehalt kann vielmehr selber ein Tun wird, das durch kein ich annehmen, was mir, einem Verehrer all de- anderes Tun ersetzt werden kann. (Werner Kru- rer, die Sie bisher geehrt haben, zugekommen sche) ist. Das aber ist nicht etwas Rituelles, sondern Ich stehe jetzt hier oben und kann hier nur etwas Expressives: Hoffen und Klagen, Singen stehen, weil ich für Euch und mit Euch hier und Spielen, Fragen und Hadern, Sprechen und stehe, meine lieben Freunde und Weggenossen, Schweigen, Protestieren und Bitten, Danken und damals und jetzt. Wir haben versucht zu tun, was Staunen, Weinen und Lachen und schließlich wir zu tun schuldig waren. Daraus mag uns immer: Wohnung finden im Haus der Sprache, Selbstbewußtsein ohne Selbstüberhebung und in Worten und Geschichten des Glaubens. niederlagengetröstete Gewißheit erwachsen sein. Heute sind hierher viele Menschen gekom- Was wir taten, war so unscheinbar wie wunder- men, die Zivilcourage zeigten, diesen täglich neu bar, so beglückend wie bedrückend, bisweilen aufzubringenden Mut, ein eigenverantwortetes auch so kümmerlich wie jämmerlich, so daß JA oder NEIN zu sagen und danach zu tun: der weder nachträgliche Feiglings-Denunziation Lehrer, der Stasiwerbungen widerstand, die noch eine Opfer-Heroisierung angemessen wäre. Schülerin, die nach ihrem Brief an »den Minister Ich jedenfalls bin dankbar für eine Kirche, für Volksbildung, Margot Honecker« gegen in der mir große Verantwortung auferlegt wurde Wehrunterricht in erniedrigende Verhöre geriet, und die mir stets große Freiheit ließ und läßt. auf sich allein gestellt, tapfer bestand und trotz- Dafür bin ich sehr dankbar. Ein Pfarrer ist ein dem Lehrerin wurde, der Elektriker, der wegen freier Mann. Wenn Sie seine Lasten vergessen, seiner Friedensseminararbeit ins Gefängnis ging, ist es das Schönste, was man sein kann auf die- rauskam, nicht wegging, weitermachte und - ser Welt. macht (er kommt direkt von einem Friedensse- Kirchenleitungen, mit denen ich zu tun minar in Friedenswalde), der Leipziger Nicolai- hatte, bewährten sich zuallermeist - vergessen Kirchen-Pfarrer, der Tierpräparator, der minutiös wir das nicht - als Prellböcke, nach allen Seiten unwürdige Geheimnisse um das strahlende hin. Synoden wurden Ort demokratischer Streit- Wismut offenlegte, der Pflugschar-Schmied, der kultur: auch kleine Gemeindeversammlungen Flanell-Aufnäher-Erfinder, die Ärztin, die auf waren Übungsfelder für aufrechten Gang, für dem Lande Leute für Demokratie und Frieden Friedfertigkeit und Friedensengagement. Das sammelt, der Mathematiker, der in schwierigen soll so bleiben. Konfliktsituationen das Nötige mit dem Machba- Tagtäglich schlägt uns nun soviel Gewalt ren zu vermitteln verstand, der Theologe, der 25 und Armut, Zerstörung und Haß, Tränen und Jahre lang unser horizonterweiternder Vordenker Blut, letztlich so viel Sinn-Losigkeit entgegen, wurde, der Bischof, der mich damals begleitete, daß wir an der Menschheit zu verzweifeln be- schützte, dessen Schüler ich bin und der andere, ginnen, dessen Einzelexemplar jeder selbst ist. der jetzt mein Bischof ist. Oder die Kantorin, die Wir können nur froh sein, wenn wir - noch - Kindern mit Musik das Gemüt zum Frieden hin nicht mittendrin sind. Wo unsere Welt in ge- öffnete, die Freunde, die mit gewitzter Phantasie fährlichen Aufruhr, unwägbare Umbrüche, so- die anstößigen Plakate entwarfen und es jetzt ziale und ökologische Katastrophen taumelt und wieder tun. Sie und viele andere, die aus den unser eigenes Land in eine merkwürdig diffuse östlichen Bundesländern heute hier sein können, Gemütslage, mit irritierenden Anleihen an widersprachen praktisch dem Satz »Man kann dunklere Vergangenheit gekommen ist, da kann doch nichts machen« und taten, was sie für nötig ich diesen »Friedenspreis« nur als Würdigung und richtig hielten, oft allein, ja auch vereinsamt. eines bestimmten Weges, mehr noch als eine Doch wir fanden uns in kleinen, vertrauten Ermutigung verstehen, weiter aus einem Gruppen, in denen Beunruhigung zur Sprache DENNOCH zu leben, unbeirrt dabei zu bleiben, kam und Hoffnung zur (zeichenhaften) Hand- dem inneren und äußeren Frieden mit Mitteln lung wurde. Wir wurden einander eine Ermuti- des Friedens zu dienen. gung. Repressive Folgen selbstverantworteter Aufgewachsen bin ich in einer Religiosität, Einmischung trieb viele, zu viele entnervt aus in der wir »Beten und das Tun des Gerechten dem Land.

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Es ist wahrlich »unendlich viel leichter, im »Nenne mir ein Verbrechen, das ich nicht auch Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu hätte begehen können!« leiden als in der Freiheit eigenst verantwortlicher Kain, der Mensch mit verfinstertem Blick, Tat«. Widerstehen kann scheitern oder gar zu der Andersartigkeit nicht erträgt, Ausschließ- rechthaberischer Eigenbrötelei verkommen - lichkeit beansprucht, den Anruf nicht hört, Ant- auch das ist uns widerfahren. Andere mögen ihre wort und Verantwortung verweigert, Fürsorge Kraft zum Durchstehen woanders her bekom- abweist. Unstet ist er, in sich zerworfen. Am men; für uns Christen beruhte und beruht freie Anfang, erste Tat außerhalb des Paradieses - ein Verantwortung »auf einem Gott, der das freie Mord und nicht nur dies: Verweigerung der Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert Antwort. An unserem Ende könnte die Zerstö- und der dem, der darüber zum Sünder wird, rung des Paradieses »Erde« stehen, des Gartens, Vergebung und Trost zuspricht«. von dem wir leben. Dennoch: Wort-Antwort- Ein Zeuge wie Bonhoeffer hat uns zum ei- Verantwortungswesen sind wir. genen Zeugnis inspiriert. Am Anfang steht nichts anderes als ein ge- Ein von den einen bewunderter, von ande- senkter Blick, der zum bösen wird. Den anderen ren belächelter Glaube hat uns aufrechter und nicht mehr ansehen, sich in sich selbst ver- aufrichtiger leben lassen, als wir uns das selber krümmen, das Gesicht des anderen, des Men- zutrauten in den Landschaften der »dialekti- schenbruders, der Menschenschwester, nicht schen« Lügen und der geballten Friedensfäuste. mehr sehen, den Zorn in sich wachsen und wu- Mein auch leidenschaftliches Plädoyer für einen chern lassen, die inneren Spannungen und äuße- Frieden, der nicht nur Ziel, sondern zunächst ren Verletzungen auf ihn konzentrieren, um Weg ist, kommt nicht zuletzt aus der Begegnung dann, nicht mehr Herr im eigenen Hause, zuzu- mit meinen eigenen Abgründen und mit meinem schlagen und im selben Moment noch die Ver- Scheitern. antwortung für die Tat abweisen - das ist unser Ich - und das sind Erkenntnisse, die mir Li- wiederkehrendes Schicksal, von dem wir uns teratur, neben dem großen Buch der Bücher befreien können, wenn wir rechtzeitig aufsehen, vermittelt hat - ich bin zu allem fähig: Ein im Gesicht des anderen uns selber entdecken, Kreuzritter der Welterlösung und Kleininquisitor auch in der Fratze des anderen, die aus Angst der Wahrheit, Eichmann-Sohn und Mielke- Angst macht, aus Wut Gewalt werden läßt, aus Nachbar, Serben- und Kroatenbruder, ich, Verletzung verletzt, aus Ungerechtigkeitsgefühl Brand-Satz-Sprecher, Befehlender und Gehor- ungerecht wird, sich Gerechtigkeit »holt«. Wo chender eines Schießbefehls, einer Vergeltungs- wir im anderen uns selbst - mit all unseren aktion, einer Brandrodung. Und ich, auf dem Schatten - wiederentdecken, können wir es ler- Wege mit Jesus und Maria, Theresa und Ma- nen, Differenz zu ertragen, einander leben zu hathma, Franz und Nelly, Lew und Edith, Dom lassen! Helder und Rosa∗. Und ich bin ein seliggepriesen Es ist nicht einfach das Verdienst des Op- Sanftmütiger, ein barmherzig Liebenswürdiger, fers, Opfer zu sein, doch Opfer verdienen all ein friedfertig Friedensfähiger. Wohin führt unsere Fürsorge und Vorsorge. mich mein Weg, welche Wahl wird mir gelas- Unversehens verwandeln sich Opfer in Tä- sen, wer geht mit mir? Es ist offen, wunderbar ter, werden vom Abel zum Kain. Auch Kain offen, drohend offen. muß geschützt werden, damit er nicht - selber So wird mir heute eine Dennoch-Urkunde zum Opfer gemacht - nur noch Kinder zurück- verliehen, die mir sagt: Mach einen neuen Ver- läßt, die Kainskinder sind: Gezeichnete. Doch such. Verlier nicht den Mut, wo doch das Er- Kain und seine Kinder bedürfen der Einsicht in schrecken über »den Menschen« zugleich ein das, was sie ausgelöst, angerichtet, hinterlassen Erschrecken über dich selbst wird, der du zufäl- haben. lig, ganz zufällig nicht auf dem Balkan oder im So meinten Antifaschisten, der Ermordung Kaukasus wohnst. Wie steht es um den Welt- Entronnene, auf Dauer einen Bonus zu besitzen, Frieden in dir? Wie dünn ist die Haut deiner der sie berechtigte, Menschenrechte zu verlet- Friedfertigkeit? Wie lange hältst du den anderen zen, weil sie selbst schrecklich Verletzte gewe- aus, du, ich, mit dem Kainsmal Gezeichneter? sen waren. Sie meinten Feinde »liquidieren« zu dürfen, weil sie selbst von Liquidation bedroht ∗ Rosa Parks, die 1955 als farbige Näherin im Bus nicht mehr für einen gewesen waren. Weißen aufstand, aber auch die andere Rosa.

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Schwerstes und riskantestes Unterfangen: fahren durften, werteten wir auch als Ergebnis Gnade für Kain, damit er nicht auf sein Kainsein längerer »Graswurzelarbeit des Friedens«, in der reduziert wird. Und die Aufgabe der Nachkom- bestimmte Haltungen Wurzeln geschlagen ha- men Abels ist, nicht die Rollen zu wechseln. ben, die wir auf der vereinten deutschen Wiese Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, daß Kain nicht ausreißen (lassen) wollen. Erinnerung tut nicht weitermacht. not und tut gut, wenn sie nicht verklärt, aber uns Unbestechliche lebten und leben mitten un- erklärt, was war, was mit uns war, was aus uns ter uns, Menschen, die sich nicht zu Tätern ma- werden kann. chen lassen, durch nichts und niemand. Viele, Wenn ich das auf eine Formel bringen die sich rächen könnten, vergessen nicht, was es wollte, könnte ich sagen, wir wollten lieber Jona hieß, ein Opfer zu sein. Sie sind die Hoffnung als Kassandra sein, lieber belächelt werden, weil des Friedens. Wie schnell wird andererseits unter wir eine falsche böse Voraussage gemacht ha- der Zunge, unter der Hand der Zorn dessen, der ben, eben weil die Leute gehört haben. Es ist sich gerecht wähnt, zu Unrecht, zur Untat. Aus furchtbar, als Kassandra Recht haben zu wollen. Vor-Wurf wird flugs der erste Stein. Wer von Lieber Jona als Kassandra wollten wir sein euch ohne Schuld ist, der werfe. Wie nah kom- und haben vieles gesagt und gewagt, getan und men sich alsbald individuelle Tragik, persönli- verweigert, erbeten und gefordert, erträumt und che Rivalität und gesellschaftliches Verbrechen! erprobt, was von den einfallslosen Realisten der Wer Opfer wurde, ist deshalb nicht schon Macht als utopisch belächelt, von blindwütigen besser als der Täter - oft wurde er nur davor Ideologen kriminalisiert, von den bestallten bewahrt, Täter zu werden, weil er nicht konnte. Verwaltern des Status quo als naiv abgetan Wir erleben es - und ich sage das sehr zö- wurde. Und wir waren naiv, utopisch, machten gernd, ohne den Richtfinger - wie auch Moslems uns lächerlich, wurden lächerlich gemacht, so werden können wie die Serben, die wie wirkten subversiv, störend auch für die große Kroaten von damals wurden. Wir lassen uns Mehrheit eingeduckter Mitbürger. Wir hatten teil polarisieren. Wir sagen zu leicht: DIE Serben, an Irrtümern, litten an Selbstüberschätzung und DIE Kroaten, DIE Moslems. Wir teilen ein, ver- hausgemachtem Unfrieden. Wir aßen stets mit stärken die Fronten durch Einteilungen, die töd- Judas. Wir verbissen uns in unsere Feinde. Wir lich werden. Unsere Erschütterung und unsere lebten im täglichen, gegenseitig nadelstichigen Ohnmacht verleitet dazu, aus Mitgefühl Macht- Kleinkampf mit dem übermächtigen Apparat. Es mittel einzusetzen, unsererseits dreinzuschlagen, waren kleine Minderheiten, die opponierten, damit endlich Friede wird. Die Vereinten Natio- mitten in einer stimmlos-stummen Mehrheit. nen finden nicht die Kraft, den Krieg auszu- Leicht zählbar waren die Gegner des Stendaler trocknen. Die friedlichen Mittel werden nicht Atomkraftwerks oder die Umweltschützer gegen ausgeschöpft. Die Waffenhändler sind unter uns. den Braunkohlenhöllenschlund von Espenhain, (Deutschland ist der drittgrößte Waffenexpor- die Initiatoren der »persönlichen Friedensver- teur.) Wenn uns die Mittel des Friedens zu teuer träge« oder die Gruppen der europäischen Frie- werden, werden wir an den Mitteln des Krieges denswanderungen durch Mecklenburg. Wenige zugrunde gehen. Was wir an zivilem Einsatz tausend Flanellaufnäher mit dem alten Prophe- versäumt haben, werden wir nicht durch kriege- tenwort und neuerem sowjetischen Denkmal auf rischen gutmachen können. Deshalb plädiere ich Jacken genäht, gegenüber den hunderttausend- für ein Friedenskorps, einen internationalen Zi- fach gedruckten, geklebten, offiziellen Aufkle- vildienst. Gewalt muß wirklich ultima ultima bern »Frieden schaffen gegen Natowaffen«. Ein, ratio bleiben. zwei Dutzend beim Friedensfrühstück in Jena Was heute im Fernseh-Rückblick auf mar- oder beim Friedensspaziergang in Wittenberg, tialische Rituale der DDR nahezu operettenhaft- doch schon tausend bei nächtlichen Hammer- komisch erscheint, war angst-disziplinierende schlägen unter Luthers Wohnstube, vor einem Realität, perfekt von verführten Überzeugungs- Quellwasser, zehn Jahre zurück nun, bei friedli- tätern inszeniert. Auch bei uns hätte im Herbst chem Gesang: '89 ein Funke genügt, um destruktiven Selbstlauf von Haß und Gewalt auszulösen. Wir wurden Ein jeder braucht sein Brot sein Wein verschont. Nach allem, was zu befürchten war, und Frieden ohne Furcht soll sein. kam dies einem Wunder gleich. Was wir da er- Pflugscharen schmelzt aus Gewehren und

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Kanonen, rechtfertigen dürfte und ob es dann überhaupt daß wir in Frieden beisammen wohnen. noch einen »gerechten Krieg« gäbe. Kritische (Dieter Trautwein) Reflexionen auf frühere kirchliche Kriegssank- tionierung führte uns zusammen mit Friedens- Tränen der Anrührung, Traum der Erfül- bewegten anderer Grundanschauungen und Län- lung, List und Lust des Widerstands. (Herr Bun- der. Vor allem Schriftsteller wurden Verbündete, despräsident, Sie haben das in einer wunderba- durchbrachen die mit Macht gehüteten Tabus, ren Weise nachvollziehen können, was wir da- leiteten den Dialog der Vernunft ein. So Stephan mals wollten!) Dann wieder am Tag das kleine Hermlin mit seiner »Begegnung zur Friedensför- einzelne, aus selbstverantworteter Einsicht derung« im Dezember 1981. Der Weg führte uns kommende NEIN gegen die vielen JA's organi- in einem breiten konfessionsübergreifenden sierter Verlogenheit und verlogener Organisatio- Diskussionsprozeß bis zum Abschluß der nen. »Ökumenischen Versammlung für Gerechtig- Je weniger Überzeugungskraft das System keit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« in hatte, desto mehr proklamierte es Schutzbedürf- Dresden (April 1989). Dort gelang es uns, die tigkeit. Die forcierte Militarisierung war die Binnenperspektive mit der Weltperspektive Antwort auf fortschreitenden Plausibilitätsver- ebenso zu verbinden wie die Anforderungen an lust. Selbstveränderung mit Aufgaben der Weltverän- Gegen die fettgedruckte Propaganda in der derung. Was damals angestoßen wurde, steht Einheitspresse des SED-Blocks stand die kleine weithin aus und weiter an. Was bleibt? Diese spielerische Zeile im Schaukasten: »Wir lieben zwölf Texte, fortgeschrieben nach erfolgter po- unser Land. Grenzenlos.« Einfache Verse er- litischer Demokratisierung! füllten unser Inneres, gaben Grundorientierung »The Day After« wurde bei uns der 10. in schwierigen Entscheidungsfragen. Sie halfen, Oktober 1989. Da fiel in der Angst-Nacht keine vereinfachenden Parolen nicht zu folgen. Die Bombe, da fiel kein Schuß - da begann ein bank- Poesie des Friedens hat uns begleitet, be- rottes Gewaltsystem sich gewaltlos zu verab- schwingt, orientiert. So auch der epigrammati- schieden. Weil in jener Nacht Gewalt ausblieb, sche Text des Jugoslawen Zvonko Plepelic: war der Weg zur Demokratie frei. Dieser 9.Oktober 1989 ist ein Tag, den Ostdeutsche in Zeug das Kind die friedliche deutsche Demokratisierungsge- Pflanz den Baum schichte eingebracht haben. Doch wurde er der Bau das Haus gesamtdeutschen Vergeßlichkeit überantwortet, Zerbrich das Gewehr um dann alles - ob Fahne, Hymne und Verfas- Und sung, ob Parteienstaat, Rechtssystem und Wirt- Sag es weiter schaftsordnung - auf unsere vierzigjährig umge- stülpte Ordnung zu übertragen. »Was sich be- Tu! Das Tun geht voraus, das Weitersagen währt hat, hat sich bewährt.« Dem Tag eines ist der zweite Schritt, aber beides hängt zusam- Rechtsakts von Regierungen, über den ich nicht men. unglücklich bin, nicht aber dem Geschichtstag Herausgestrichene Zeilen aus den Frank- couragierten Bürgersinns ließ man die Ehre des furter Vorlesungen der Christa Wolf offenbarten, Nationalfeiertages angedeihen. In einer wunder- wo die Achillesferse war: im Offenlegen der bar kontrastierenden Korrespondenz zum gestri- Absurditäten. »Wem soll man sagen, daß es die chenen 17.Juni 1953 steht der 9.Oktober 1989. moderne Industriegesellschaft, Götze und Fe- Daß nichts bleibt, was wir waren? tisch aller Regierungen, in ihrer absurden Aus- Die Mauer fiel. Durch die deutsche Haupt- prägung selber ist, die sich gegen ihre Erbauer, stadt bleibt länger noch ein Riß. Wir Ostdeut- Nutzer und Verteidiger richtet: wer könnte das schen haben nicht nur von unserem »Ähren- ändern. Der Wahnsinn geht mir nachts an die kranz« gelassen; wir wurden und werden völlig Kehle.« gerupft. Viel war nicht da, zugegeben. Wenn der Friede die »Lebensbedingung des Der Bonner Republik fällt es schwer, sich technischen Zeitalters« war, mußten wir uns von Bonn zu lösen, real und symbolisch. Die fragen, ob es überhaupt noch ein Ziel geben ost-westliche Schieflage würde zementiert, wenn könne, das den Einsatz der Vernichtungswaffen der Schwerpunkt am Rhein bliebe. In Berlin

12 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS müßten wir allerdings zeigen, daß wir unserer andern Völkern wolln wir sein - Geschichte nicht ausweichen und alte Gespen- ster in ihren Gräbern ruhen lassen, daß deutsche also weder Herren noch Knechte, sondern Kultur und Multi-Kultur sich befruchten können, Freie, die ihr Land lieben, so wie die anderen daß die große Bundeshauptstadt etwas anderes Völker ihrs. ist und bleibt als eine Reichs-Hauptstadt. Und Da verschwistert sich die Liebe fürs Eigene schließlich wird Berlin »Werkstatt der Einheit«, mit der Toleranz fürs Andere, Fremde. Da wird wenn sich Regierung, Parlamentarier und Be- jede neue, erschreckende Größe abgewiesen und amte dazu entschließen, ein wenig von der Müh- jeder Grenzrevisionismus ausgeschlossen... »von seligkeit des Alltags der (Ost-)Berliner auf sich der Oder bis zum Rhein«. Stolz aufs Eigene und zu nehmen. Der Abstand zwischen »den« Politi- selbstverständliches Geltenlassen des Fremden kern und »dem« Volk wird in dem Maße gerin- sind hier vereint. Darin bestünde Vereinigung! ger, wie erstere Anteil haben am Geschick derer, Alles für immer entschieden? die verräterisch »Normalbürger« genannt wer- Wo wir inzwischen unsere Probleme beim den. Berlin auf dem Wege zur »Hauptstadt der Zusammenleben mit Fremden wegreden, kann deutschen Einheit« setzte ein Signal, wenn es ein Tabu, trotz bester Absicht, gären: Freundbil- von Anfang an eine bescheidene Hauptstadt derwirken wie Feindbilder: verzerrend, kon- würde. fliktverschärfend. Es muß aussprechbar sein, Aus Berlin kam der Verfassungsentwurf des was uns an Fremden fremd ist, was uns stört und Runden Tisches, dessen Grund-Sätze mit Mehr- auch Angst macht, ohne gleich als »fremden- heit weggewischt wurden. Mit Verweis auf das - feindlich« etikettiert zu werden. Es muß klärbar sicher bewährte, aber doch nicht festgeschrie- sein, was wir uns gegenseitig zumuten können, bene, sondern fortzuschreibende - Grundgesetz damit nicht das aufkommt, was wir verhindern wurde dieses »Wende-Produkt« zur Verfas- wollen. sungslyrik erklärt. Auch das gehört zu den lang- Öffentliche Worte werden Signale für Ge- und tiefwirkenden Kränkungen derer, die unver- walt oder für Verständigung, für Abschottung drossen am »Haus der Demokratie« gebaut hat- oder Öffnung, für Hilfe oder für Vertreibung. ten und sich gern in ein vereintes »neues Achten wir sehr genau auf unsere Sprache, prü- Deutschland« einbrächten. Wiederum über- fen wir uns und andere, was bei uns mit- stimmt, ziehen sich viele, deren Stimmen wir schwingt, - damit nicht indirekte Brandsätze zu brauchten, wieder zurück. direkten Brandsätzen ermuntern. Nicht wenigen von uns ist immer noch Dabei ist die Würde des Menschen, jedes schwer begreiflich, warum nichts bleiben Menschen unantastbar. Wo ein Haus mit Men- konnte, was uns Ostdeutsche doch auch aus- schen angezündet wird, brennt auch unser machte neben allem Verkehrten und Verqueren. Grundgesetz, verbrennt die Würde. Merkt Herr Warum wir nicht ein gemeinsames Drittes Biedermann nicht, was die Brandstifter uns an- suchten - nicht den dritten Weg! -, sondern aus- tun? - Wo doch auch die anderen Öfen noch zu schließlich auf altbekanntes, westwärts Eta- besichtigen sind! bliertes zurückgriffen, bleibt uns unverständlich. Wo Probleme aber zum verkaufsträchtigen Verpaßte Chance. sensationslüsternen Skandalanlaß mißbraucht Hätte es uns beispielsweise für unser werden, wirkt das so abschreckend wie anstek- Selbstverständnis und unsere Selbstverständi- kend. Glücklicherweise gibt es viele Jahre, ganz gung nicht gut angestanden, wenn wir im Tenor unspektakulär gelingend, das Mit- und Neben- der Bescheidenheit unsere Hymne gesungen einander von Deutschen und Nichtdeutschen in hätten! Ich höre es immer noch von der ersten unserem Land, auch im Osten! Normalität Strophe auf die dritte herüberdröhnen, zumal scheint nicht nachrichtenwürdig. Insofern ver- dann, wenn Deutsche zuviel getrunken haben. zerrt die notwendige Nachricht über (Gewalt- Wie anders ist der Gestus eines toleranten )Konflikte die eigentlich genauso berichtens- Selbstverständnisses, einer die anderen respek- werte Normalität. tierenden Vater-Mutter-Landsliebe in einfach- Bei unserer deutsch-nationalen Vorge- sten Zeilen: schichte nimmt es nicht wunder, daß wir zwi- schen Verharmlosung und Dramatisierung Und nicht über und nicht unter schwer das richtige Maß finden können. Wir

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Deutschen müßten uns indes eher vor Verharm- menten vor leerem Saal, aber laufenden Kameras losung hüten. Gleichzeitig gilt es, unsere Tole- rübergebracht wird, scheint die zu Protokoll ranzkräfte zu mobilisieren, statt vorzeitig vor der gegebene, gegenseitig vorgewiesene Fähigkeit Wiederkehr alter Muster zu resignieren. Wer die zu sein, die Abschlachtsprache zu beherrschen, Lage heute mit der vor sechzig Jahren ver- wobei beidseitig-gleichzeitig wortreich »Sach- gleicht, mag mit guten Gründen zu dem Schluß lichkeit« angemahnt wird. kommen, daß wir gelernt haben und keinesfalls Wir wollten im Herbst '89 eine liberale und dazu verdammt sind, unsere Schrecken zu wie- soziale Demokratie. Bürger aus allen Berufen derholen. Wer aber vorgestrige Muster variiert, hatten sich plötzlich ohne jede Erfahrung ins kann auf keiner Ebene unser Repräsentant sein politische Geschäft drängen lassen oder ge- wollen. drängt. Sie alle haben wohlgemut eine Karre Wir setzten wieder alles aufs Spiel, wenn angepackt, die tief im Dreck steckte. wir dem Geist, der Logik und der Praxis der Aufs Äußerste haben sich viele gefordert Abschottung nicht widerstehen. Die Öffnung und überforderten sich, waren bald dem Spott zueinander schließt Respektierung unterschiedli- preisgegeben, auch von solchen, die klug bei- cher Identitäten nicht aus, sondern gerade ein. seite blieben oder gar von denen, die die Karre Integration kann ohne Verwischung der Unter- dahin gefahren hatten. Wie viele haben sich schiede und Interessenlagen gelingen. Gerade inzwischen verschlissen oder sind verschlissen der Schutz der Fremden und der Minderheiten worden! Mancher merkte erst zu spät, daß er gehört zu den immer wieder gefährdeten sich übernommen hatte. Doch wo bleiben die, menschlichen Kulturleistungen. die den Forderungen gewachsen wären? Ist nicht Unsere Sprache mit ihren vorurteilsgesät- jeder zunächst unseres Respekts würdig, der tigten Redewendungen verrät uns nicht nur; sie zupackte, sich beherzt für das Gemeinwohl ein- wird der Nährboden für Ausgrenzung und Ge- setzte, statt selbst-klug-gewandt und gewendet walt. zuzusehen, wie unter DM-Bedingungen dem Ei- Wir im Osten spüren Langzeitwirkungen gen wohl am besten zu dienen wäre? Das inzwi- der Sprache der Verfeindung, die Spätfolgen der schen massenhaft-hämische Besserwissen der jahrzehntelangen Entwürdigung, der Diffamie- Nichtstuer, das kluge Kommentieren derer, die rung des Dialogs unter der Überschrift »es gibt sich aus der praktischen Gestaltung unseres Ge- keine ideologische Koexistenz«. Das hieß prak- meinwesens heraushalten, das mäklige Sichzu- tisch, daß es nur die eine von den Siegern der rückziehen derer, die die richtige Lösung in der Geschichte für allmächtig erklärte Wahrheit gibt. Tasche haben, doch in ihrer Tasche behalten, das Wer eine Rede des Chefs des Orwellschen wohlfeil gewordene - so berechtigte wie pau- Wahrheitsministeriums Erich Mielke hört, spürt schale - Schimpfen auf »die Parteien«, ohne psychisch, wie Sprache geradezu zum Maschi- ihnen selber zu zeigen, wie man's anders und nengewehr wird, weil sie bloß noch dazu ge- besser macht - das alles wird zur teilnahmslosen braucht wird, überall »die Feinde« zu liquidie- Totengräbergemeinde unserer Demokratie; sie ren. Wer vierzig Jahre in einem solchen System lebt von denen, die sich in den Streit um die gelebt hat, mittuend oder erduldend eingebunden bessere Lösung begeben, sie stirbt an denen, die war, in dem hat sich viel Haß angesammelt und sie sich selbst und damit den Machtmenschen dem steht noch ein längerer Weg innerer Ent- überlassen. Gewissermaßen als demokratieer- feindung bevor. tüchtigenden Hausflurspruch wünschte ich uns Nun haben auch wir Demokratie als eine je- allen das Jefferson-Wort: »Frage nicht nur, was dermann angebotene Möglichkeit, für wider- dein Land für dich tut, sondern frage auch, was streitende politische Richtungen und ökonomi- du für dein Land tun kannst.« sche Interessen so zu wirken, daß wir dabei nicht Obwohl wir in mancher Hinsicht inzwi- nur einander leben lassen, sondern jedem sein schen vereint sind, sind wir Ostdeutschen in Recht zukommen lassen, das nur von den Rech- einer etwas schwierigeren Demokratieübung, ten des anderen begrenzt ist. weil sich vertikales Denken - nach langer deut- Wer mehr will, will keine Demokratie. Wer scher Tradition - nun noch in zwei Diktaturen an den Mühen der Demokratie vorzeitig resi- nacheinander verfestigt hat. Da meint man, daß gniert, gibt Demokratie vorzeitig auf. alles Gute wie alles Böse »von oben« kommen Was uns allerdings bisweilen aus Parla- muß. Das führt stets zur Delegierung von Ver-

14 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS antwortung nach oben und zeigt sich rückwärts Hunderttausende in einen Abbruch. Es gab Auf- in der Selbstrechtfertigung massenhaften Mitläu- fang- und Aufbauprogramme. Aber der große fertums, das durchaus in mehr oder weniger Aufschwung blieb aus. Das Land wurde farben- beflissener Mittäterschaft bestand. Der Kampf froher - und wurde so erst seines maroden Zu- um Demokratie muß der tägliche Kampf gegen standes gewahr. Auch Erhaltbares wurde platt- den Spruch sein: »Man kann sowieso nichts konkurriert, ausgeschlachtet, scheinprivatisiert. machen«. Die Folge solcher Kleinmutsweisheit Der Westen versuchte, dem Osten schnell zu zei- ist, daß man nichts macht. Mancher versucht gen, »wie man's macht« - da kam der »Wessi« einmal etwas, findet nicht genug Gehör, findet auf, dem der »Ossi« sein Los vorjammerte, bis nicht genug Mitstreiter, findet im Streit nicht er ihn als »Besserwessi« erkannte und bald alle genügend Zustimmung und zieht sich alsbald als solche brandmarkte. Da waren diese nun wieder zurück und läßt »die da oben machen«, enttäuscht oder beleidigt, weil nicht mehr zwi- um weiter kritisieren zu können. So verwandelt schen gerissenen Absahnern und unersetzlichen sich dann politisches Denken in Stimmung. Fachleuten, einsatzbereiten Idealisten und mit- Manche Politiker meinen nun, daß es am besten telmäßigen Karrieristen unterschieden wurde. Da sei, solchen Stimmungen oder anderem allge- hatten wir unsere schöne Teilung wieder - mitten meinen Volksempfinden nachzugehen und nach- in der Einheit. zugeben, statt sich nach den Ursachen zu fragen Wer wollte übersehen, wie sich das Gesicht und jeder irrational-nationalen Entladung, noch der Menschen, ja unserer Städte und Dörfer er- dazu auf altbekannte Sündenböcke, zu widerste- hellt hat, wie Ostdeutsche ihre Begabungen ent- hen. decken und entfalten können. Und wer wollte Die graue Trennungsmauer ist zerbröselt. regierungsamtlich wieder gutreden, was Die Mauerbauer sind schmählich abgedankt und schlechter läuft als es brauchte, weil viel Kom- mählich abgestraft. Der antifaschistische petenz und Potenz brachliegt. Wir haben da Er- Schutzwall ist mit der Einheit gefallen. Sollte innerungen, die überempfindlich machen bei nun die Neuordnung Europas mittels Einordnung jedwedem Partei-Bonzen-Macht-Gebaren und unserer Geschichtsurteile allmählich wieder herzloser Ministerialbürokratie. Da kommt es zu beginnen? Sollte ein in der ummauerten Provinz schnellen, zu zu schnellen Gleichsetzungen. überwintertes nationales Volksempfinden ge- Unser Denken und Empfinden, unsere Vor- samtdeutsch wieder salonfähig werden? Sollte stellungen und unsere Sprache, - nicht nur das aus den Tälern deutscher Ahnungslosigkeit eine der einst »überzeugten DDR-Bürger«! - wurden abständige Vorgesternantwort die angemessene anders geprägt, viel nachhaltiger, als wir das Reaktion auf drängende Übermorgenfragen 1989 beim plötzlichen Befreiungsschlag und sein? Wenn historischer Revisionismus einen 1990 beim hastigen Vereinigungsakt dachten. politischen nach sich zöge, dann Gnade unserem Das offizielle gesellschaftliche Klima der DDR Kontinent! war verkrampfend, schuf die Friedhofsruhe Mit Sorge und Respekt zugleich sehe ich die struktureller Gewalt und verlogener massenhaf- Abrieb- und Zerreibungsprozesse bei denen, die ter Zustimmungsrituale, versuchte Menschen sich ins politische Geschäft begeben. Ich weiß ihrer Individualität zu berauben und ihr Denken um alte Probleme im neuen Gewand, auch um in eine geschlossene Ideologie mit bipolarem die Abgründe, die sich auftaten, nachdem der Denken einzupferchen. Mundtot gemacht, ihrer Aufbruch gelungen schien. Mich beunruhigt der Würde beraubt, zu Kriechern degradiert, zu Ja- Unfrieden in der Freiheit nach dem Zwangsfrie- sagern dressiert, zu einem »wissenschaftlichen« den in der Diktatur, auch die wütende Frem- Glauben verführt, zu Schweigern erzogen, haben dentlastungs- wie die schale Selbstrechtferti- sich dieselben Menschen schließlich selbst auf- gungspose. gemacht, sind aufgestanden, haben Mut zu sich Die alten Beschädigungen reichen tief, neue gefaßt und den Mut, etwas - sich! - zu riskieren. sind hinzugekommen. Den Demütigungen in der Solch endlich aufgeweckter Bürgersinn, der Diktatur folgten alsbald die Demütigungen in Gewalt widerstehend, bleibt nötig, darf nicht der Freiheit. Den Wettbewerbsbedingungen des erlöschen, zumal zu häufig die tapferen Schwei- Westens waren wir nicht gewachsen. Die recht- ger von gestern neue Schweigegebote vorausei- mäßigen Eigentumsregelungen brachten und lend einhalten, so behende buckeln wie treten, bringen viel Bitternis. Der Aufbruch mündete für Mitläufer und Mittelmäßige sich geschickt in

15 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS den Wind drehen, neue Parolen eifrig lernen, das unterschiedliche Wege für richtig hielten, ist es institutionelle Ebenendenken peinlich einhalten, nach der äußeren Vereinigung entscheidend, Privilegien mit bestem demokratischem Gewis- unsere gegenseitigen Verflechtungen und Ver- sen genießen und bürokratisches Machtgebaren fehlungen im damaligen Kontext wahrzuneh- in rechtsstaatlicher Diffizilität erst richtig ausle- men, ohne Verantwortlichkeiten zu verwischen. ben und auf diese Weise die endlich errungene Die nun gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben Demokratie beschädigen. sind beherzt anzupacken. Dabei ist keiner prin- Paßt auf, liebe Mitbürger! zipiell auszuschließen, der mit seiner Begabung Der Selbstfindungs- und Neuorientierungs- die vereinigte demokratische deutsche Republik prozeß wird langwieriger sein und wird uns noch mitgestalten will. viele innere Differenzen offenbaren. Gegenseiti- Nachdem wir der befürchteten Härte von ges Mißverstehen wird noch länger schmerzen. Gewalt und Gegengewalt im gnädig-milden Da ist es schon wunderbar, daß schon so viel Herbst und Winter der Jahre 89/90 entronnen glückt, daß schon so viel Durchmischung ge- sind, geht es nun darum, auch unsere Gefühle lingt, daß so viel innerstes Mitverstehen bei al- allmählich zu enthärten, besonders wenn wir lem Abstand gewachsen ist, daß so viel echte zurücksehen auf vermauerte Jahre und auf die Hilfe kommt, verfallene Städte wieder erblühen, sehen, die mit gefühlloser Härte gegen uns vor- und gleichzeitig muß ich fragen, wer das bezah- gingen. len kann, wer dort wird wohnen können. Die Wer sich jahrelang der Mühe der Entfein- Schere darf nicht zu groß werden. dung unterzogen hat, indem er dem Gegner nicht Was uns vielfach als Larmoyanz- und No- alles Böse unterstellte und sich selbst nicht alles stalgievorwurf begegnet, ist mir nüchterne Ein- Gute zurechnete, der steht vor der nicht leichten sicht geworden: Noch immer leben wir Ostdeut- Aufgabe, diese Mühe zu vollenden durch den schen stark mit und in der Vergangenheit, zehren Verzicht, den Sieg über den damaligen Gegner bisweilen von diesen gewiß schwierigen Jahr- auszukosten. Man sollte den, der am Boden zehnten - mit ihren mühsam gewonnenen Er- liegt, nicht noch treten, sondern ihm aufhelfen, kenntnissen, ihren verlorenen Hoffnungen (ge- ihm seine Würde zurückgeben, ihn nicht auf sein nau in einem Moment, in dem soviel Anfang Unterlegensein reduzieren. Das Risiko ist nicht war!). Aus den schnell aufeinanderfolgenden gering, daß Skrupellose Großherzigkeit scham- emotionalen Wechselbädern resultieren manche los ausnutzen. Trotzdem! Um der vielen anderen unserer Empfindlichkeiten. »Wir sollten doch willen ist dieses Risiko gerechtfertigt. endlich umlernen«, sagen uns häufig Westdeut- Nach einem friedlichen Umbruch wird man sche, die selber nichts dazulernen zu müssen inneren Frieden am besten erreichen, wenn man meinen. Das ergibt Ver-Stimmung und unnöti- sich auch in die Lage der Unterlegenen hinein- gen Trotz. versetzt: Der Selbstbetrug - ich werfe das niemand Wer von den Fesseln ideologischer Ver- anderem vor, das muß jeder sich fragen - über blendung befreit wurde und gleichzeitig von Länge und Schwere des Weges zueinander mün- dem lassen mußte, was ihm geradezu als unum- det vielfach in das altbekannt-deutsche Gemisch stößlich galt, von der Macht seiner Wahrheit und aus Selbstmitleid und Selbstüberhebung. der Wahrheit seiner Macht nämlich, der vermag Dabei lassen sich die Vereinigungshürden nicht sofort klar zu sehen, sich frei zu bewegen, nehmen, wenn man die Latte ostwärts nicht seine Sprache mitsamt seinem Gebaren zu ent- gleich so hoch legt und wenn man sie westwärts rümpeln. Wir anderen aber sollten wissen: Auch etwas niedriger zu legen bereit ist - das ist für Antiideologie ist Ideologie, die verblendet. Zu- beide Teile schwer -, oder gar die gesamte Be- dem frage ich uns: Muten wir uns denn zu, klar messung ändert, lebensverträglicher justiert, für zu sehen? Immer noch wohlstandsbetört, ver- uns und die nächsten Generationen: sozialver- schließen wir die Augen vor Bevölkerungsex- träglicher, naturverträglicher, friedensverträgli- plosionen und heraufziehendem Weltelend, vor cher. den Folgen des Welthandeldiktates der Reichen, Und verspielen wir das Geschenk der Ver- vor politischen Einbrüchen, technischen und einigung nicht im Gezänk nach rückwärts! Auch ökologischen Katastrophen. Die Folgen unserer wenn wir Deutschen in den vierzig Teilungsjah- Freiheit sind längst zu Ursachen unserer Un- ren - mit Bedacht oder mit Berechnung - sehr Freiheit geworden. Unsere Macht wird zur Ursa-

16 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS che selbstzerstörerischer Ohnmacht. Gewonnene aber zu viele sind durchs Netz gefallen. Freiheit wird unversehens zur Fiktion, wo sie Arbeit zu teilen wird zu einem humanen nicht mehr von einer Vision gefüllt wird, aus der Gebot, es sei denn, wir ordnen den Menschen selbstverantwortetes Handeln folgt und längeren ganz und gar Effizienzkriterien unter. Solches Atem gewinnt. Wir kommen unter die Fuchtel Arbeit-Teilen wird nicht bei vollem Lohnaus- von Gralshütern der Realität, die uns die gleich möglich sein. Lassen sich die extremen Schwingen jeglicher Utopie zu kappen suchen. Einkommensdifferenzen nicht vermindern? Eine Der Sozialismus hat der Menschheit unter Gesellschaft, die sich tendenziell in Arme und vielen Opfern und jäh enttäuschten Hoffnungen Reiche spaltet, wird für sich selbst gefährlich. doch einen nicht zu unterschätzenden Dienst Der notwendige Sparkurs darf nicht zuerst und erwiesen: Er hat gezeigt, was nicht geht. Nun ist zumeist die Ärmeren und Schwächeren treffen. es an uns, zu zeigen, was geht, nicht zu zeigen, Eine Konkurrenzgesellschaft ohne ein entwik- daß nichts geht. Darum kann es jetzt nicht um keltes Solidaritätsgefühl, ein Sozialstaat, der die Diffamierung jeder Utopie gehen, sondern Absahnern nicht beizukommen vermag, führt um eine verantwortungsgeläuterte Utopie, die zur Verhärtung der menschlichen Beziehungen. uns einen Weg weist, ohne falsche Versprechun- Die hunderttausendfach aus dem Arbeits- gen zu machen, uns aber mit einer orientieren- prozeß herauskatapultierten (Ost-)Deutschen den Perspektive leben läßt. fühlen sich unversehens aus dem Lebensprozeß Zwei Probleme werden unseren Frieden herauskatapultiert, verbittern, verbiestern sich. unmittelbar tangieren: die gerechte Verteilung Wer vorzeitig rausgesetzt ist, hat es nach aller der Arbeit und die Suche nach einem gerechten Erfahrung schwer, sich noch irgendwo einzuset- Frieden. zen. Er wird anfällig für Parolen vereinfachender Arbeit als anerkanntes Teilhabenkönnen am Schuldzuweisung und gehört zum Potential po- gesellschaftlichen Lebensprozeß ist wesentlicher litisch Unberechenbarer, die inneren Frieden und Teil inneren Friedens. Das ist, glaube ich, noch die demokratische Freiheit latent gefährden. nicht genügend Allgemeingut. Es geht um mehr Durch Arbeit am Lebensprozeß teilhaben zu als um finanziellen Ausgleich im Sozialstaat. können, gehört offenbar zur Würde des Men- Arbeit ist auch eine Art, uns zu entfalten, aber schen. Wo Menschen an wirtschaftlichen Ent- auch uns selber »in Schach« zu halten, destruk- scheidungen, die sie selbst und eine ganze Re- tive Antriebe in konstruktive Anstrengung zu gion existentiell betreffen, nicht nur nicht betei- lenken. Arbeit als eine gemeinsame sinnerfüllte, ligt werden, sondern auch im verborgenen bleibt, wenngleich anstrengende Tätigkeit hilft uns, warum hier über sie entschieden wurde, fühlen menschlicher zu werden, wenn sie sich mensch- sie sich nurmehr als Manövriermasse von Kapi- liche Ziele setzt. talinteressen und als Objekte von Sozialpolitik. Durch unsere Gesellschaft geht ein Riß, der Wir haben politische Demokratisierung erreicht; trotz unseres noch so großen Wohlstands die die ökonomische steht aus, wo Transparenz und gesellschaftlichen Beziehungen belastet. Hun- Rechenschaft unterbleiben. Wer verhindern will, derttausende fühlen sich nicht mehr gefragt, daß Hunderttausende Mitbürger entweder in vereinsamen, bekommen Selbstwertprobleme, Lethargie und DDR-Nostalgie zurückfallen oder verkriechen sich, bauen sich Schuldige auf, wer- enttäuscht in den Rechtsradikalismus abdriften, den schließlich für Feindbild- und Sündenbock- muß mehr Teilungs-Gerechtigkeit herstellen. parolen empfänglich. Arbeitslose werden all- Perspektivlos gewordene Menschen verlie- mählich zu Erwartungslosen. Doch untätiges ren ihre Selbstachtung. Aus Depression wird Klagen hilft nichts. Innovation, Bereitschaft zum weckbare und lenkbare Aggression. Das »Lied Umlernen braucht unsere hochmobile Gesell- vom Teilen« besteht für sie nur noch aus Disso- schaft. nanzen. Indes hatte der Planungs- und Versorgungs- Sollten wir es nicht schaffen, unsere Arbeit staat viele Menschen zur Initiativlosigkeit erzo- so zu teilen, daß die einen sich nicht weiter ka- gen und hinterläßt viele mit einer gewissen puttschuften, während die anderen daran zerbre- strukturellen Hilflosigkeit. Nun ist Initiative, chen, daß sie keine Arbeit mehr finden? Das Selbstbewußtsein und Durchsetzungsfähigkeit geht freilich nicht ohne Opfer, die der »kleine zusammen mit Kompetenz und Wendigkeit ge- Mann« sicher leichter zu bringen bereit wäre, fragt. Viele haben sich dem erfolgreich gestellt, wenn »die Großen« damit anfingen.

17 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

Alle politischen Streitbegriffe, in denen mit Menschenleben. dem Wort »Solidarität« hantiert wird, wecken Wer helfen will, braucht mehr als Gelände- Mißtrauen und Widerstand, wenn sie zuvörderst kenntnisse: Menschenkenntnis, Kenntnis der Sozialabbau bedeuten. Andererseits fragen sich Kultur und Tradition der Krisengebiete, braucht die vielen Arbeitslosen zunehmend, warum sich kooperative und gewaltvermeidende Strategien, die Gewerkschaften vornehmlich der Arbeiten- konzeptionelle Arbeit an der Ursachenbeseiti- den annehmen und so wenig Mut bei der Suche gung. nach mehr und anderem als Lohnzuwächsen - Einen unmittelbaren humanitären Sinn mit haben. politischem und wirtschaftlichem Gewinn in den Sozialer Friede ist ein Eckpfeiler des inne- (bürger-)kriegsgebeutelten Ländern würde z.B. ren Friedens, und innerer Friede sprach allemal die Aufstellung von Minenräumbrigaden ma- und spricht auch künftig für den »Wirtschafts- chen. Sogar alte NVA-Minenräumfahrzeuge standort Deutschland«. könnten sofort tätig werden. (Sie haben sich Innere Probleme aber - das zeigt unsere Ge- bereits an der verminten deutschen Grenze be- schichte - lassen sich nicht mit Aktionen nach währt.) Wenn Deutsche in besonders minenbela- außerhalb, gar mit militärischen, verdrängen. steten Ländern diesen millionenfachen Schrek- Predigten einst meine pastoralen Vorgänger ken mindern helfen, können sie eine ganz eigene Identität aus einem gemeinsamen Feldzug gegen Tapferkeit zeigen, und brauchen sich nicht den den »Erz-Feind«, so schienen pickelhäubige Vorwurf eines »feigen Heraushaltens« machen Schnauzbart-Herrlichkeiten nach Verdun zu lassen. verstummen. Nach Bergen-Belsen und Au- - Statt nun die Lehre vom »gerechten schwitz, Dresden und Hiroshima dachte man, Krieg« fortzuschreiben (dieser diffizilen, stets das NIE WIEDER gelte generationenübergrei- mißbrauchbaren Legitimierung einer Gewalt, die fend. sich Unrechtsgewalt rechtmäßig in den Weg stellen will, aber selber in die Gewalt- und Un- Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen rechtsspirale hineingerät), brauchen wir eine Als ob die alten nicht gelanget hätten: außerordentliche Anstrengung, um eine interna- Ich bitt euch, habet mit euch selbst Erbar- tionale Lehre und Praxis des »gerechten Frie- men! dens« zu entwickeln. Ist es inzwischen nicht für jedermann offensichtlich, daß es Frieden nicht Diese Zeilen, Bert Brechts Zeilen, will ich ohne Gerechtigkeit gibt und daß Ungerechtigkeit »an meine Landsleute« in Belet-Huen und Bonn eine der Hauptursachen von Krieg ist? richten. Was als UNO-Hilfsaktion gemeint war, Im übrigen plädiere ich für die Einführung ist längst zu einer hilflosen Intervention geraten - eines SOZIALEN JAHRES für alle, um zivile und Blauhelmsoldaten werden im Gewaltkon- Tapferkeit an den Bruch- und Notstellen unserer flikt Soldaten, Unschuldige bei Präventiv- oder Gesellschaft zu üben. Vergeltungsschlägen ihre Opfer, Wohn- und Ziviler Dienst muß schrittweise der Normal- Krankenhäuser wurden zerstört. So ziehen sie fall werden. So viele müssen umlernen - warum Feindschaft von denen auf sich, als deren Helfer nicht das Militär, um sich für zivilen Einsatz in sie kamen. Schreckliche Bilder von gelynchten Friedenskorps vorzubereiten? Dafür hatten wir UNO- oder US-Soldaten mußten wir fern-sehen. uns in der DDR schon ausgesprochen. Die Auf- Es geht nicht um feiges Heraushalten, son- näher waren nur das äußere Zeichen dafür. dern um einen anderen Weg des »Eingreifens«. Eine enge Kooperation der Staaten mit den Statt mobiler Eingreiftruppen, die unter Führung zivilen Hilfsorganisationen an den Brennpunkten der nationenbestimmenden Großmacht in den von Nöten und Konflikten muß in eine Friedens- diversen Krisenherden der Welt meinen, Frieden politik einmünden, die mehr ist als Interessen- mit modernsten Waffen schaffen zu müssen, politik und die die militärische ultima ratio durch plädiere ich für INTERNATIONALE die zivile prima ratio ersetzt. FRIEDENSKORPS, die menschliche und fachli- Auch ziviler Friedensdienst ist riskant und che Kooperation in den Konfliktgebieten suchen braucht gewiß keinen geringeren Mut als »frie- und einen auf Gerechtigkeit beruhenden Frieden denerzwingende Maßnahmen« durch Kampfein- aufbauen helfen. Das kostet viel Einsatz, viel sätze. Geld, viel Phantasie, aber gewiß viel weniger Wir geteilten Deutschen wurden nach 1945

18 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS durch unsere »Schutzmächte« davor bewahrt, Wir sind »dem bösen Ende näher« (Hans Jonas) einem neuen Stärkekult zu verfallen, wenngleich und immer wieder am Anfang. bestimmte deutsche Traditionen samt altem Per- Es kommt schon einem Wunder gleich, sonal reaktiviert wurden, waren wir muster- wenn jahrzehntelang auf den Tod Verfeindete schulartig den Schutzmächten des Kalten Krie- einen Schritt aufeinander zugehen, den niemand ges angepaßt. (Besonders makaber wirkten die mehr erwarten mochte. Der Mut des Friedens ist Zeremonien der »roten Preußen«.) Das geeinte nach allen Blutbädern weit größer als der Mut, Deutschland täte gut daran, allen Anfängen wieder einen Krieg zu führen. neuen Stärkekults zu wehren und nicht wieder Vor den Augen aller Welt haben zwei Män- kriegerische Ritterlichkeit, sondern konsequente ner etwas gewagt. Sie taten, was keiner mehr für zivile Tapferkeit zu suchen. möglich hielt. Beide tun etwas Kühnes, gegen- Ich möchte für ein Deutschland einstehen, über dem einstigen Todfeind, aber auch gegen- das sich mit ziviler Courage nach innen eine über ihren eigenen Lands- und Gefolgsleuten. lebendige Demokratie erhält und für ein Land, Sie wissen ganz genau um den Doppelsinn die- das mit zivilem Engagement seine wirtschaftli- ses »den-Frieden-riskieren«. Frieden zwischen che Kraft für einen gerechten Frieden einsetzt. Todfeinden zu machen, ist etwas Wag-halsiges; Wenn Schwerter Pflugscharen werden sol- es wagt den eigenen Hals. Es ist möglich, daß sie len, dann meint das, daß Frieden Brot bringt. bald der Häme derer ausgesetzt sind, die immer Die prophetische Konversionsvision schon vorher wissen, daß das alles nicht gehen (Jes.2,2-5), die den Gedanken wie den Werkzeu- kann, daß der sich ein blaues Auge holen wird, gen des Friedens gleichermaßen gilt, bleibt aktu- der so blauäugig ist. ell, bis unsere umgeschmiedeten Schwerter in Ich meine, sie verdienen unseren tiefen Re- der (ver-)hungernden Welt für Brot sorgen, bis spekt, bedürfen unserer Hilfe und ermuntern zur wir nicht mehr lernen, wie man Kriege führt, Nachahmung in anderen todbringenden Kon- sondern wie man Frieden erhält und wir alle - fliktzonen. statt unsere eigensinnigen Ziele zu verfolgen - Für Amos Oz muß dieser endlich erreichte auf ein gemeinsames Ziel zugehen: die Völker- Kompromiß etwas Beglückendes haben. Vor versammlung im SCHALOM. einem Jahr sagte er an dieser Stelle: »Ich arbeite Diese große Perspektive hat - zumal in un- für einen kläglichen, nüchternen, unvollkomme- serer Durchsetzungs-, Distanz- und Anspruchs- nen Kompromiß zwischen einzelnen Menschen kultur - sehr persönliche Entsprechungen. Un- und Gemeinschaften, die immer getrennt und sere Haltungen prägen unsere Handlungen. Eine unterschiedlich sein werden, die aber gleichwohl Differenz bleibt, wo Haltungen ethischen Maxi- fähig sind, ein unvollkommenes Miteinander men folgen, die sich nicht in bloßen Interessen herbeizuführen... Frieden ist nicht mehr und erschöpfen. Aber sollten wir wegen dieser Diffe- nicht weniger als ein gerechter und vernünftiger renz darauf verzichten? Kompromiß unter Gegnern.« Wo aus Übermut Sanftmut und aus Wankel- Wo über uns nicht mehr der Himmel von Mut ein Wandel-Mut wird, wo aus Eigen-Sinn Bethlehem aufginge, aus dem der Engelsgesang Gemein-Sinn, aus Leid Mit-Leid, aus Harther- des Friedens für die Erde kommt, bliebe uns nur zigkeit Barmherzigkeit, aus Vergeltung Verge- Sorge. (Und Beth-Lehem, Haus des Brotes, liegt bung, aus Sorge Fürsorge, aus Vorherrschaft im Westjordanland!) Partnerschaft und aus dem Geschöpf das Mitge- Bitten wir, hoffen wir, helfen wir, daß ge- schöpf wird - da erst wird aus dem Menschen ein lingt, was so mutig begonnen wurde. Ein grünes Mitmensch, das »Tier, das Zivilcourage hat« Signal für eine todbedrohte Welt, beruhend auf (Hilde Domin). Da wird aus unproduktiver Zer- der Erkenntnis, daß »die beste Verteidigung der strittenheit eine produktive Einheit. Der umge- Abschluß eines gerechten Friedens« ist (Shimon kehrte Weg mag noch so wahrscheinlich sein; Peres). Wahrscheinlichkeit ist kein ethisches Argument, Was wird aus unserer Erde? sondern statistische Resignation. Hungernde frieren. Bomben fallen. Die Hoffnung kann sich gegen Erfahrung stel- Natur seufzt. len, wo sie Bedrängnis aushält, sich in Geduld Die Saat wächst. Das Wort schlichtet. Die bewährt. Schließlich ist alles »Vertrauen gegen Hand ist ausgestreckt. den Augenschein«, abgrund-tief, himmelhoch. Einen Augen-Blick scheint alles gut, und

19 FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS alles bittet um die Gnade des Friedens, allen zugute. Haben wir ein Ohr zu hören?

Könnten wir doch hören, heißt es in Psalm 85, daß Gott Frieden zusagt, damit wir nicht in Torheit geraten, daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen, und unser Land seine Frucht gebe. und unserer Erde Nahrung gebe, allen, allen. Könnten wir doch hören! Wir können.

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