1955–1965 STEFAN KARNER

1955–1965 Die „langen 50er Jahre“ STEFAN KARNER

• Der Österreichische Staatsvertrag 1955 mit den Unterschriften der Außenminister und Hochkommissare ­Großbritanniens, Frankreichs, der USA und der UDSSR sowie des österreichischen Außenministers .

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Zu den Kennzeichen steirischer ÖVP-Politik gehörte neben der Betonung der Kultur und der Wegbereitung einer viel beach- teten Avantgarde die Suche nach einer Begegnung mit den Nachbarn über ideologische und politische Grenzen hinweg. STEFAN KARNER

ie Erfahrungen mit der sowjetischen und sen. und dem sensiblen und weltoffenen Kul­ vor allem britischen Besatzung be­ turpolitiker Hanns Koren, auch in relativer Dstimmten bis 1955 wesentlich das ­Ak­kor­dierung mit den steirischen Sozialdemo­ ­politische System des Landes in den „langen“ kraten, vor allem unter Alfred Schachner-Blazi­ 50er Jahren, die in der Steiermark eigentlich erst zek. Das Dreieck konnte wesentliche Akzente mit der „68er-Bewegung“ zu Ende gegangen der steirischen „Innen“-, „Außen“- und Kultur­ waren.1 politik setzen. Der Staatsvertrag 1955, die entscheidende Korens avantgardistische Kulturpolitik, obwohl ­Zäsur, zehn Jahre nach dem Kriegsende, der Ab­ zuerst vielfach abgelehnt, wurde Teil der steiri­ zug der britischen Besatzer, die Rückkehr der schen Identität als einer Symbiose von Weite, letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion Enge und Tiefe, von Tradition und Moderne. erzeugten ein erstes Stimmungshoch. Man war Neben den innerparteilichen Aufgaben und Anlie­ wieder Herr im eigenen Haus geworden und gen hatte die ÖVP in der Steiermark in dieser, für wollte gemeinsam den wirtschaftlichen und geis­ das Land entscheidenden Phase zwischen dem tigen Wiederaufbau gestalten, Fehler der 1930er konservativen Paradigma der 1950er Jahre und Jahre nicht mehr wiederholen, wenn sich auch dem gesellschaftlichen Aufbruch Ende der da und dort die konfrontative, destruktive politi­ 1960er Jahre, der in der 68er-Bewegung seinen sche Kultur der Ersten Republik, etwa in der sichtbaren Ausdruck fand, mehrere Aufgaben zu Konkordanzdemokratie oder im Lagerdenken, bewältigen: zeigte. Die Sozialpartnerschaft und die Fortset­ – die Forcierung und den Abschluss des Wie­ zung des Proporzes zwischen den Großparteien deraufbaus; boten für eine neue politische Kultur ein akzepta­ – den Aufbau einer Nachbarschaftspolitik, um bles Mittel. aus der geografischen Isolation heraus zu Wirtschaftswunder, Aufbau, Marktwirtschaft, kommen; Fortschritt, Sozialpartnerschaft und Leistungsbe­ – eine Belebung und Stärkung des steirischen reitschaft prägten mehr oder weniger auch die Grenzlandes, um eine Abwanderung aus den politischen Denkmuster der zwei großen Parteien südlichen und östlichen Gebieten des Landes im Lande. Das Gefühl des Aufschwungs konnte zu verhindern; den Menschen glaubhaft vermittelt werden: das – einen Brückenschlag zu den europäischen erste Motorrad, das erste Auto, die Garage als wirtschaftlichen Zusammenschlüssen, vor Zubau zum Einfamilienhaus, die erste Waschma­ ­allem der EWG und der EFTA; schine für den Haushalt, der erste Urlaub an der – eine Integration des kritischen, intellektuellen Adria. und künstlerischen Potenzials, wie es sich vor Das Dreiparteiensystem der Steiermark von ÖVP, allem an den Hochschulstätten zeigte. SPÖ und des wesentlich kleineren VdU (ab 1956 Eine Darstellung der ÖVP in dieser Phase hat da­ FPÖ)2 dominierte die Volkspartei mit Josef ­Krainer her die Interdependenz von Landespolitik und

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Parteipolitik zu beachten. Gerade diese Wech­ Nach der Neutralitätserklärung Ungarns began­ selwirkung, die zeitweise auch ein hoher Grad an nen am 4. November schwere Kämpfe zwischen Identifikation von Partei und Land war, hatte die sowjetischen Truppen, ungarischen Freischärlern ÖVP auch durch so viele Jahre zur stärksten und Armee-Einheiten, in deren Verlauf die unga­ Kraft im Land gemacht. rische Freiheitsbewegung niedergewalzt wurde. Zunächst galt es jedoch, die Folgen einer Ent­ 40.000 politische Gegner wurden interniert, wicklung zu meistern, die sich im benachbarten 180.000 Ungarn flüchteten nach Österreich, da­ Ungarn nur ein Jahr nach dem Staatsvertrag dar­ von über 16.000 in die Steiermark. In etwa 140 gestellt hatte. Mit einem Schlag wurde deutlich, steirischen Auffanglagern, in Kasernen und Bun­ in welcher sensiblen Randlage man sich befand. desquartieren, in Tausenden Privatquartieren und Im Osten teilte der „Eiserne Vorhang“ zu Ungarn, Schlafstellen hatte man die Flüchtenden unter­ praktisch in Sichtweite vom Grazer Schloßberg, gebracht. Europa in Ost und West. Im Süden war die Jeder zehnte von ihnen ließ sich im Land nieder. Grenze zum kommunistisch geführten Jugosla­ Unter ihnen etwa die ungarische Eiskunstlauf- wien eine ideologische und vielfach historisch Meisterin Nadine Szilassy und zahlreiche Studen­ belastete Barriere. ten, die hier ihr Studium abschlossen, wie der Architekt Jenö Molnar oder die Ärzte Judith Die Ungarn-Krise 1956 Bärn­thaler und Bela Farkas (Stolzalpe).

Im Spätherbst 1956 flüchteten Tausende Ungarn Landtagswahl 1957 in die Steiermark. Es galt blitzschnell für sie Not­ quartiere und Verpflegung zur Verfügung zu stel­ Kaum waren die größten Probleme mit den un­ len; im Spätherbst 1956, zu einer Zeit, als die garischen Flüchtlingen behoben, ging es um die Steirer selbst vielfach nur das Notwendigste zum Neuzusammensetzung des Landtages in der Leben hatten. Doch die Menschen, besonders in Wahl am 10. März 1957. Die ÖVP war wegen der Oststeiermark, zögerten keinen Augenblick, des schlechten Abschneidens vier Jahre zuvor die Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen. nervös, die SPÖ angriffslustig, die KPÖ nur noch Ungarn war bald nach Kriegsende sozialistisch- in den größeren Industriestädten der Obersteier­ planwirtschaftlich ausgerichtet, die Landwirt­ mark sichtbar. Das große Fragezeichen war die schaft kollektiviert, die Betriebe verstaatlicht, die FPÖ, die erstmals zu einer landesweiten Wahl zahlreichen Parteien verboten, jegliche Opposi­ antrat. Zudem sollte der Landtag, wie schon der tion zu den Kommunisten verfolgt und das Land Nationalrat, auf Wunsch der SPÖ vorzeitig für die kommunistisch geführt worden. Moskau be­ ersten Neuwahlen „in Freiheit“ aufgelöst werden. stimmte die Politik in Ungarn. Dennoch waren Landeshauptmann Krainer, der gerade seine große Teile der ungarischen Bevölkerung gegen erste USA-Reise absolvierte, unterbrach seinen die sowjetische Herrschaft im Lande, traten für Amerika-Besuch, eilte zurück nach , um in freie Wahlen, für die Verwirklichung von westli­ jedem Fall eine gleichzeitige Durchführung von cher Demokratie, für die Entlassung und Rehabi­ Nationalrats- und Landtagswahl zu verhindern. litierung aller politischen Häftlinge, für Meinungs-, Er hatte diese Linie – trotz anfänglicher Wider­ Rede- und Pressefreiheit und nicht zuletzt für den stände, auch aus den eigenen Reihen und nach Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn ein. dem ÖVP-Erfolg bei der Nationalratswahl 1956 Es kam zu Kundgebungen, Manifestationen, De­ – gemeinsam mit Landesparteisekretär Franz monstrationen und zu einem Generalstreik. Imre Wegart3 durchgesetzt: „Das ständige Anhängen Nagy, ein Kommunist der ersten Stunde, 1917 der Landtagswahlen an Nationalratswahlen ver­ noch im Erschießungskommando des russi­ wischt der Bevölkerung gegenüber die Beson­ schen Zaren in Jekaterinburg, hatte eine Kehrt­ derheiten der Landespolitik und schadet damit wendung gemacht, wurde Ministerpräsident und dem föderativen Gedanken; wem es damit ernst galt als Hoffnungsträger einer neuen, von Mos­ ist, der muß auch darnach handeln, d.h. der Be­ kau abgewandten, sozialistischen Politik. völkerung Gelegenheit geben, im Allein­gang über

16 politicum 118 STEFAN KARNER 1955–1965 die Landespolitik zu entscheiden“, wurde die ÖVP-Position festgelegt und, bis auf die auch prompt verlorene Wahl 1995, auch in den folgen­ den Jahren eingehalten. Zudem wollten SPÖ und VdU den belasteten, ehemaligen Nationalsozialisten das aktive, den Minderbelasteten das passive Wahlrecht zurück­ geben. Eine Forderung, der sich auch die Volks­ partei nicht verschließen wollte. Ein zusätzlicher Knackpunkt wurde der neue • Landesparteisekretär Franz Wegart und amtliche Stimmzettel, auf dem alle wahlwerben­ Josef Krainer sen. konzipieren den Wahlkampf den Parteien in alphabetischer Reihenfolge auf­ für die ersten „Krainerwahlen“. gelistet wurden. Um nicht hinter die Sozialisten gereiht zu werden, setzte die ÖVP ein „Die“ vor Das Ergebnis der Landtagswahl zeigte als Haupt­ den Parteinamen, was Landeshauptmann Krai­ gewinner die ÖVP, die mit 46,6 % der Stimmen ner seitens der SPÖ eine, allerdings erfolglose, und 24 Mandaten ihren Mandatsvorsprung auf Ministeranklage einbrachte.4 die SPÖ ausbauen konnte. Die SPÖ schaffte Die ÖVP fertigte erstmals für eine Wahl Redner­ 43,6 % der Stimmen und 21 Mandate. Deutlich skizzen an, die den Funktionären als Wahlbehelf unzufrieden äußerte sich daher Parteivorsitzen­ dienten und eine einheitliche Argumentationslinie der Reinhard Machold: „Diese Wahlen [...] zeitig­ sichern sollten: Die ÖVP als die staatstragende ten ein für uns unbefriedigendes Ergebnis.“6 Die Partei (Staatsvertrag, Raab-Kamitz-Kurs), die Hoffnung, aus dem Schatten der ÖVP zu treten, steirische Eigenständigkeit (eigener Wahltermin), erfüllte sich nicht. Auch die erstmals kandidie­ die Betonung der ÖVP-Leistungen in der Landes­ rende FPÖ blieb deutlich gegenüber dem VdU politik (Förderung von Wohnbau, Gewerbe, Kultur zurück, brachte es nur noch auf 6,7 % der Stim­ und Landwirtschaft) sowie eine scharfe Abgren­ men und drei Abgeordnete im Landtag und flog zung zur SPÖ: „Sie versuchen zugleich Regie­ aus der Landesregierung. rungspartei und Opposition zu spielen und durch Dies war auch die entscheidende Veränderung Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichtes der Wahl. Die Volkspartei hatte nunmehr mit fünf jene Not und jenes Elend zu schaffen, in dem der Landesräten auch die absolute Mehrheit in der Marxismus allein gedeihen kann. Die Marxisten Landesregierung. Neuer ÖVP-Landesrat für Kul­ sind die Partei der Not.“5 Die FPÖ war zu scho­ turpolitik wurde – auch auf Druck des CV und der nen. Krainer selbst wurde, in einer Art erstem Per­ Katholischen Aktion – Hanns Koren.7 sönlichkeitswahlkampf nach US-Muster, als Lan­ Der steirische Wahlerfolg gab der ÖVP auch für deshauptmann für alle Steirer, als Sinnbild einer die Bundespräsidentenwahl drei Monate später breiten Zusammenarbeit dargestellt. Hoffnung, erstmals gegen die Gleichgewichtspa­ Die Propaganda der SPÖ war nach ihrem ideo­ role erfolgreich zu sein und die Wahl zu gewin­ logischen Spektrum gefächert und auf die nen. Gemeinsam mit der FPÖ hatte man den Stammwählerschaften ausgerichtet. Sie strich parteilosen Arzt Wolfgang Denk aufgestellt und die Leistungen der verstaatlichten Industrie in der hoffte, mit ihm eine breite Wählerallianz von Obersteiermark hervor, propagierte mehr Staat christlichen, bürgerlichen bis zu den nationalen und weniger Privat. Mit Norbert Horvatek an der Gruppen bilden zu können. Auch die SPÖ hatte Spitze machte sich die SPÖ auch zur Verfechte­ mit ihrem Kandidaten, Vizekanzler Adolf Schärf, rin des neuen Stimmzettels und verquickte sich der noch im Jahr zuvor als Kanzlerkandidat im so in eine Detaildebatte. Ihren Spitzenkandidaten Wahlkampf gewesen war, versucht, an einen Teil konnte sie damit nicht als Vaterfigur aufbauen. des rechten Wählerspektrums heranzukommen. Die FPÖ orientierte ihre Wahlwerbung an ihrer An den Wirtshaustischen hörte man die Parole: wesentlichen Klientel und betonte ihre deutsch­ „Wer einmal schon für Adolf war, wählt Adolf nationalen Wurzeln. auch in diesem Jahr.“ Ein entsprechendes Plakat

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• Besuch des jugoslawischen Staatspräsidenten Josip Broz Tito 1967 in der Steiermark. Landeshauptmann Josef Krainer sen. forcierte eine regionale Nachbarschaftspolitik. oder Flugblatt wurde allerdings nicht affichiert. Steiermark war, wenn es galt, Länderinteressen Den besonders in der Steiermark spürbaren gegen Zentralinteressen zum Durchbruch zu ver­ Nachteil Schärfs, zweimal aus der Katholischen helfen, meist führend, oft initiativ. Das Land hatte Kirche ausgetreten zu sein, konnte die SPÖ in die zweitgrößte Stadt Österreichs, ein vielfältiges Gesprächen mit der Kirchenführung im Wesent­ Kunst- und Kulturleben, zahlreiche höhere Schu­ lichen ausräumen. Die Annäherung von SPÖ und len und mehrere Universitäten, eine starke Katholischer Kirche war die Folge. Schärf ge­ Medien­szene, den Typ eines selbstbewussten, wann die Wahl knapp mit 51 % der Stimmen und reformfreudigen Landesbürgers und eine starke wurde Bundespräsident. Landesidentität. „Steirerblut ist kein Himbeersaft“ Der Konzentrationsgrad der ÖVP in der Steier­ oder „In Wien mit den Leuten [oft mit den Par­ mark war hoch, ihre Mitgliederentwicklung kons­ teifreunden] steirisch reden“ waren gerne ge­ tant stark. Die ÖVP rekrutierte ihre Wähler vor brauchte Redewendungen und konnten auch als allem über ihre Bünde in der Ost-, Süd- und Mit­ Drohungen verstanden werden. telsteiermark. Ab 1957 setzte die Partei auf eine Krainer entwickelte ein „kräftiges Druck- und Ver­ starke Personalisierung, besonders auf die Per­ weigerungspotential gegenüber dem Bund, mit son Josef Krainers, der seit 1948 als Landes­ einem fast missionarischen Zungenschlag gegen hauptmann das Land geführt und die Politik we­ Wien“8. Die ÖVP Steiermark positionierte sich so sentlich bestimmt hatte. Die Personalisierung als innerparteiliche Opposition und brachte nicht wurde in den 60er Jahren, durchaus nach ame­ nur den Antagonismus zwischen Bund und Land rikanischem Vorbild, weiter gesteigert. Landtags­ auf den Punkt, indem sie etwa Ende der 50er wahlen waren „Krainer“-Wahlen. Jahre eine Obmanndiskussion gegen Raab lan­ cierte, sondern kritisierte auch offen das System „In Wien steirisch reden …“ der Großen Koalition und damit Bundeskanzler Raab. Die steirischen Verfassungs- und Verwaltungs­ Die Führungs- und Identitätskrise der ÖVP auf reformen entsprachen den föderalistischen Ten­ Bundesebene 1959 und die Krankheit von ÖVP- denzen, die in allen österreichischen Bundeslän­ Obmann und Bundeskanzler be­ dern stärker geworden waren und in Vorarlberg günstigten geradezu Tendenzen zu Reformen, etwa zur „Fussach“-Affäre geführt hatten. Die wie sie in einer von Krainer mitgegründeten

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• Festakt zur Eröffnung des Forum Stadtpark 1960. In der ersten Reihe Josef Krainer sen. und Kulturlandesrat Hanns Koren (2. von rechts).

„Neuen Österreichischen Gesellschaft“ gefordert sollte und 1960 eine Ablöse von Raab zum stei­ wurden. Die „Neue Österreichische Gesellschaft“ rischen ÖVP-Obmann Alfons Gorbach brachte. (unter Krainer und Außenminister Karl Gruber), Gleichzeitig folgte in der Bundes-ÖVP auf Alfred die sogleich innerparteiliche Kritik auf sich zog, Maleta als Generalsekretär Hermann Withalm. entpuppte sich dabei als erste große Reformbe­ Im Jahr darauf wurde Gorbach auch Bundes­ wegung innerhalb der ÖVP nach dem Krieg und kanzler, wobei er von vielen in der Partei als verband drei Gruppen: den Österreichischen Ge­ Übergangskandidat gesehen wurde. Mit seinem werbeverein unter Rigobert Plass, den Akade­ bundes­politischen Engagement ging jedoch sein mikerbund unter Georg Zimmer-Lehmann und Machtverlust in der steirischen Landespartei ein­ große Teile der Parteijugend. Primäres Ziel dieser her, was Krainer noch beschleunigte, indem er Vereinigung war es, die ÖVP mit wirtschaftslibe­ mit Theodor Piffl-Perčević einen geschäftsfüh­ ralen und antibürokratischen Ideen wieder auf renden Landesparteiobmann installierte. Gor­ Erfolgskurs zu bringen und gleichzeitig das Ge­ bach war bestrebt gewesen, die Position des wicht der Länder innerhalb der Bundespartei zu Landesparteiobmannes und damit den Dualis­ stärken. So wurden ein modernes Wirtschafts­ mus zwischen ihm und Krainer so lange wie programm, ein klares Bekenntnis zum Föderalis­ möglich zu halten. mus und eine effiziente Verwaltungsreform für den Staat postuliert. Außenpolitisch urgierte man Die Landtagswahl 1961 – neben der Nachbarschaftspolitik – eine Annä­ herung an die EWG. Die „Neue Gesellschaft“, der Genau den Krainer-Bonus versuchte die ÖVP im u.a. auch Peter Reininghaus, Fritz Molden oder Wahlkampf für die Landtagswahl 1961 auszu­ „Tagespost“-Chefredakteur Helmut Schuster an­ spielen und Krainer in den Mittelpunkt des Wahl­ gehörten, lebte später als „Ennstaler Kreis“ wei­ kampfes zu rücken. Die SPÖ trat heftig dagegen ter, der von Alfred Rainer mitbegründet wurde. auf und warf der ÖVP vor, Wahlschwindel zu be­ Auch wenn Krainer nie selbst Ambitionen zeigte, treiben: „Das Merkwürdige an dieser Wahl ist, Bundeskanzler zu werden, so war es doch das daß der Wähler gerade von der ÖVP, die doch die durch die „Neue Österreichische Gesellschaft“ Mehrheit in unserer Landesregierung hat, bewußt initiierte Moment der Erneuerung, das letztlich gar nicht vor die eigentliche Wahl gestellt wird. den Reformern in der ÖVP den Rücken stärken Man tut so, als ob es allein um die Person von

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• Die erfolgreiche Personalisierung der ÖVP-Wahlwerbung. Plakatwand zur Landtagswahl 1961.

LH Krainer ginge, obwohl der Landeshauptmann mensschwachen Gruppen ein. Krainer: „Ich will unmittelbar überhaupt nicht gewählt wird.“9 Vor­ Landeshauptmann für alle Steirer sein. Ich werde getragen wurden die Argumente der Wahlkampf­ mich stets dagegen wehren, daß irgend jemand linie vom SPÖ-Vordenker Rupert Gmoser in der aus der Arbeit anderer ungerechtfertigte Vorteile Parteizeitung „Neue Zeit“, der propagierte: „Allein zieht, und werde ebenso darauf achten, daß sich der Sozialismus hat den Menschen eine Zukunft keine Klasse, kein Stand auf Kosten des anderen ohne Angst und ohne Hunger in Frieden und Privilegien anmaßt.“11 Freiheit zu bieten. Mit ihr wird eine Generation Das Wahlergebnis brachte Gewinne für die ÖVP, von Menschen erwachsen frei von Furcht und leichte Gewinne für die FPÖ und die Kommunis­ Not, in Wohlstand und Sicherheit, das eigene ten, die wieder mit einem Mandatar in den Land­ Geschick in demokratischer Selbstverantwor­ tag einzogen sowie deutliche Verluste für die tung formend.“10 Daneben warf die SPÖ Krainer SPÖ, die rund 15.000 Stimmen und ein Mandat vor, er hätte sich 1945 unter den Schutz der Tito- an die KPÖ verlor. Die Zusammensetzung der Partisanen gestellt, was dieser empört zurück­ Landesregierung änderte sich nicht, die ÖVP be­ wies. hielt ihre absolute Mehrheit. Der SPÖ-Wahlkampf wurde am 11. März 1961 mit einer Großkundgebung in den Räumen der Die Überraschung in Graz Grazer Arbeiterkammer beschlossen. Der neue Spitzenkandidat Alfred Schachner-Blazizek und Die eigentliche Überraschung war jedoch das der populäre Grazer Bürgermeister Gustav Grazer Wahlergebnis: Hier wurde die SPÖ erst­ Scherbaum geiselten dabei die Wahlkampfunter­ mals von der ÖVP überholt. Fritz Csoklich sprach stützungen der ÖVP, die in die Millionen gingen. in der Kleinen Zeitung von der „Superlative eines Die ÖVP stellte die Person Krainers heraus, Urnenganges“ und wies in diesem Zusammen­ schrieb die steirischen Leistungen in Wirtschaft hang auf die bis zu diesem Zeitpunkt nicht ge­ und Kultur (wie das Linz-Donawitz-Stahlverfah­ kannten materiellen Mittel hin, die im Wahlkampf ren oder den „Puch 500“) vor allem ihrer Politik eingesetzt wurden. Csoklich betonte jedoch zu und trat für eine weitere Förderung von Leis­ auch das bis dahin nicht gekannte Ausmaß an tung und eines sozialen Netzes für die einkom­ gegenseitiger Diffamierung. Ebenfalls sensatio­

20 politicum 118 STEFAN KARNER 1955–1965 nell konnte die ÖVP in den traditionellen Hoch­ Die 50er Jahre dauern länger burgen der Sozialisten und den Arbeitervierteln gewinnen.12 Csoklich: „In erfrischender Deutlich­ Die abermalige Wahl Krainers zum Landeshaupt­ keit zeigte sich vor allem, welchen entscheiden­ mann am 11. April 1961 war eine reine Form­ den Einfluß eine echte Persönlichkeit gerade sache. Die personelle Zusammensetzung der heute im Zeitalter der anonymen Massen-Demo­ Landesregierung blieb nahezu unverändert. Lan­ kratie hat. [...] Die steirischen Wähler haben auch desrat Brunner wurde Landtagspräsident, an eine Antwort auf die so beliebt gewordene Koa­ seine Stelle kam Franz Wegart. Die „langen“ 50er litionsflunkerei gegeben: Sie gaben jenem Mann hielten in der Steiermark, auch bei den politi­ die Stimme, der die Schwächen der Koalition schen Machtverhältnissen weiter an. Der Auf­ deutlich aufzeigte, um sie im Interesse einer ech­ bruch, den die neue Generation in den USA mit ten Zusammenarbeit beseitigen zu können. In John F. Kennedy vollbrachte, die kritische Hinter­ Graz gab die SPÖ die Parole aus: Galgen oder fragung alter Werte, ihre Infragestellung und Zusammenarbeit. Das Ergebnis der Krainer-Wahl Überwindung, fand noch keine Entsprechung im zeigt wie schief und unernst diese Alternative Land. Die steirische Politik wurde daher wesent­ liegt. Der Österreicher will keinen Galgen. Er hat lich beherrscht von den Themen der österreichi­ genug von Bürgerkriegsgeschrei und Parteien­ schen Innenpolitik: Habsburg-Einreise, Olah- haß. Er will Zusammenarbeit. [...] Es ist auch Krise in der SPÖ (die zu seinem Parteiausschluss keine Frage, daß die vom Westen importierten und einer Verurteilung des ÖGB-Präsidenten und neuartigen Wahlmethoden den Wahlausgang Innenministers wegen Manipulationen mit ÖGB- maßgeblich beeinflußt haben. [...] Die steirische Geldern zum Vorteil der „Kronen-Zeitung“ führte), Volkspartei hat mit diesen Methoden ihre Gegner Rundfunk-Volksbegehren (zu dessen Speer­ überrollt. Vielleicht haben wir wirklich zu wenig spitze die „Kleine Zeitung“ mit Fritz Csoklich ge­ getan, sagte in der Wahlnacht ein sozialistischer hörte) sowie dem Streit Bundesländer – Zentral­ Spitzenmandatar düster. Die Sozialistische Partei staat (der sich besonders in Fussach am Boden­ in der Steiermark ist durch den Wahlausgang see bei der geplanten Taufe eines Schiffes auf in keine beneidenswerte Situation geraten. [...] den Namen „“ entzündete). Dr. Schachner-Blazizek meinte am Sonntag Gleichzeitig hatte die Steiermark mit Alfons Gor­ Abend, die Stimmenverluste der SPÖ an die KP bach erstmals einen ihrer Spitzenpolitiker als bedeuteten eine Radikalisierung des politischen Bundeskanzler in Wien. Er war auf Raab gefolgt, Klimas.“ der am Tag der Angelobung Krainers zum Lan­

• Josef Krainer sen. freut sich über den Erfolg • Die VP-Spitze in der Steiermark 1961: Koren, Udier, bei der Landtagswahl 1961. Krainer sen., Prirsch, Wegart und Brunner.

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• Bundespolitik trifft Landespolitik. Bundeskanzler • Bundeskanzler Alfons Gorbach im österreichischen ­Alfons Gorbach und LH Josef Krainer sen. Parlament 1962. deshauptmann, am 11. April 1961, aus gesund­ weil die ÖVP sich letztlich für eine weitere Zusam­ heitlichen Gründen und wegen der Wahlnieder­ menarbeit mit der SPÖ entschloss. lage 1959 zurückgetreten war. Gorbach, der seit 1945 Landesparteiobmann der ÖVP in der Die ÖVP-Reformer Steier­mark gewesen, jedoch nie Mitglied der Landesregierung geworden war, versuchte als Während Krainer, der einer Regierungsbeteili­ Bundeskanzler den starren Zentralismus Raabs gung der FPÖ letztlich doch skeptisch gegen­ durch eine Aufwertung der Länderrechte und überstand, sich aufgrund der immer brüchiger eine Stärkung des föderalen Elementes aufzu­ werdenden Koalition für eine Mehrparteienregie­ lösen. rung nach Schweizer Muster aussprach – ein Der zwar indirekt geführte, aber doch erkennbare Vorbild, das nach 1970 von der ÖVP in der Machtkampf zwischen Krainer und Gorbach Steier­mark immer wieder artikuliert wurde –, setzte sich indes weiter fort. Die permanenten war die Ablöse Gorbachs an der Parteispitze Spannungen zwischen den Regierungsparteien Thema bei diversen konspirativen Treffen, etwa in führten auf Bundesebene schließlich zu vorgezo­ St. Martin bei Graz. So wurde Gorbach, dessen genen Neuwahlen, die am 18. November 1962 Posi­tion bereits vor der Nationalratswahl 1962 der ÖVP einen Zuwachs von drei Mandaten be­ angeschlagen war, im Herbst 1963 der Rücktritt scherten. Trotz dieses Erfolges blieb die innerpar­ nahe­gelegt, wobei ihm vorgeworfen wurde, ein teiliche Kritik an Gorbach, auch weil sich die Koa­ schlechtes Verhandlungsergebnis bei den Koali­ litionsverhandlungen, an denen auch Krainer teil­ tionsverhandlungen erzielt zu haben. Die Refor­ nahm, mit der SPÖ äußerst schwierig gestalteten. mer, an ihrer Spitze der neue Bundesparteiob­ Die Alternative zur Großen Koalition war in dieser mann , aber auch Josef Krainer, ur­ Phase eine Zusammenarbeit mit der FPÖ. Tat­ gierten eine rasche und bindende Lösung. Sie sächlich kam es im Sommer 1962 zu einem „ge­ sollte auf dem Klagenfurter Reformparteitag be­ heimen“ Treffen wichtiger Proponenten beider schlossen werden. Parteien im Grazer Hotel „Erzherzog Johann“. „Am 22. Februar 1964 wurde Gorbach zum Auf ÖVP-Seite nahmen Gorbach, Krainer und Rücktritt gezwungen und demonstrativ fallenge­ Rainer teil, die FPÖ entsandte Bundesparteiob­ lassen.“13 Nach dem Rücktritt Gorbachs als Bun­ mann Friedrich Peter sowie Vater und Sohn Götz. deskanzler 1964 und dem Wechsel Piffls nach Ergänzt wurde diese Runde durch einige Vertre­ Wien als Unterrichtsminister in das Koalitions- ter der Wirtschaft. Die Gespräche über die Mög­ Kabinett Klaus übernahm 1965 Josef Krainer lichkeit einer Kleinen Koalition und die unverbind­ den Parteivorsitz. Alfred Rainer wurde nach Franz lichen Vereinbarungen scheiterten schließlich, Wegart Landesparteisekretär.14

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Die Große Koalition von ÖVP und SPÖ war je­ parteisekretär Alfred Rainer. Seine Funktion über­ doch bereits in Agonie. Der Wunsch nach einem nahm Franz Hasiba16, der die Öffnung und politischen Wechsel wurde immer stärker hör­ Moder­nisierung der Partei im Sinne Rainers wei­ bar, wobei Mitte der 60er Jahre die ÖVP wegen ter vorantrieb und gegen Ende der 60er Jahre mit ihrer starken Persönlichkeiten und ihres eher dem Einverständnis Krainers auch Nichtmitglie­ dem Zeitgeist entsprechenden Programms die der und der Partei fern stehende zu Gesprächen besseren Karten hatte, obwohl sie 1963 mit und zur Mitarbeit einlud, was der ÖVP zu Beginn ­ihrem bereits schwer kranken Kandidaten Julius der 70er Jahre einen Generationenkonflikt ­er Raab die Bundespräsidentenwahlen gegen den sparte. Im Umfeld Rainers und Hasibas setzte die amtierenden Bundespräsidenten Schärf verloren Wachablöse der jungen Generation ein, wobei hatte. zur Partei zunehmend auch Freunde und Mit­ arbeiter um den gleichnamigen Sohn des Lan­ Die Landtagswahl als Ouverture deshauptmannes, vor allem aus den Reihen der zum ÖVP-Wahlsieg 1966 Katholischen Aktion, stießen. Zu den Kennzeichen steirischer ÖVP-Politik ge­ In dieser auf die zwei Großparteien zugespitzten hörten neben der Betonung der Kultur und der innenpolitischen Entwicklung hatten die Kleinpar­ Wegbereitung einer viel beachteten Avantgarde, teien FPÖ und KPÖ kaum Chancen, entspre­ die sich vor allem im „Trigon“-Gedanken, im chend wahrgenommen zu werden. Am 14. März „steirischen herbst“ und im „Forum Stadtpark“ 1965 erreichte die ÖVP bei der Landtagswahl ausdrückte, die Suche nach einer Begegnung dann erstmals seit 1945 wieder die absolute mit den Nachbarn über ideologische und politi­ Mehrheit an Mandaten und mit 48,41 % ihr bis sche Grenzen hinweg sowie die bewusste Stär­ dahin bestes Ergebnis, wobei die Anzahl der kung des Grenzlandes im Süden und Osten, ge­ Mandate im Landtag von 48 auf 56 angehoben genüber Burgenland/Ungarn und an der Mur wurde und der Abstand zwischen ÖVP und SPÖ gegenüber Tito-Jugoslawien. nach dieser Wahl nun fünf Sitze betrug. Die SPÖ schaffte 24 Mandate, die FPÖ verlor ein Mandat Nachbarschaftspolitik und die KPÖ behielt ihren einzigen Landtagssitz weiter.15 Die ÖVP konnte überraschend – beson­ Die offizielle Beilegung des Grenzkonflikts mit ders in Graz – Stimmen auf Kosten der SPÖ ge­ Jugos­lawien im Jahr 1955 ermöglichte eine wei­ winnen. tere Normalisierung der Beziehungen über die Krainer wurde am 7. April erneut zum Landes­ „tote“ Grenze, trotz aller historischen Belastun­ hauptmann gewählt. Anstelle des wenige Wochen gen auf beiden Seiten. Zunächst standen ökono­ vor der Wahl verstorbenen Landesrates Ferdinand mische Interessen im Vordergrund. Die Grazer Prirsch kam der Feldbacher Bezirkshauptmann Messe wurde zu einer wesentlichen Verbin­ Friedrich Niederl in die Landesregierung. dungsachse in den Süden und Südosten. Bei der Nationalsratswahl 1966, die mit einer ab­ Proponenten dieser „regionalen“ Außenpolitik soluten Mehrheit für die ÖVP unter Klaus endete, waren besonders Landeshauptmann Krainer und erreichte die Volkspartei in der Steiermark mit Landesamtspräsident Alfons Tropper. Beide ver­ 49,7 % der Stimmen ihr bestes Ergebnis bei Na­ suchten mit kleinen Schritten zerstörte Brücken tionalratswahlen in der Zweiten Republik. Am wieder aufzubauen und ein gewisses Zusam­ Wahlsieg der ÖVP 1966 hatte die ÖVP Steier­ menleben an der Grenze zu ermöglichen. Die mark damit einen wesentlichen Anteil. Der Kärnt­ Nachbarschaftspolitik und die grenzüberschrei­ ner Josef Klaus, der neue starke Mann in der tende Zusammenarbeit bauten auf den vielfälti­ ÖVP, der erstmals einer Alleinregierung vorstand gen, jahrhundertealten Gemeinsamkeiten auf. und bis 1970 regierte, kam aus der von Krainer Selbst die 1960 von Hanns Koren ins Leben ge­ mitinitiierten „Reformer­gruppe“. rufene „Steirische Akademie“ im Schloss Eggen­ Wenige Monate später, im Herbst 1966, starb berg (aufbauend auf der „Grazer Sommerakade­ jedoch ein Motor der ÖVP Steiermark, Landes­ mie“), als Ort eines jährlichen wissenschaftlichen

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• Bundeskanzler Gorbach bei US-Präsident • Bundeskanzler Gorbach im Gespräch mit John F. Kennedy, 1962. Nikita S. Chruschtschow, 1962.

Diskurses zu Themen der Zeit, beschäftigte sich Auf der kulturellen Schiene kamen – teilweise in der Auftaktveranstaltung mit der Steiermark als aufbauend auf der historischen Bedeutung der einem „Land der Begegnungen“. Steiermark – in „Innerösterreich“ (mit Kärnten, Die Politik der kleinen Schritte hatte Erfolg. Krain und Görz bis zur Adria) in den 60er Jahren Ein erstes Abkommen mit Jugoslawien vom mit Italien die Dreiländerbiennale „trigon“, mit 19. März 1953 wurde in Bad Gleichenberg unter­ ­Ungarn und Kroatien das „Mogersdorf Sympo­ zeichnet und betraf die Regelung der Doppelbe­ sion“ (als burgenländische Gründung mit starker sitzer, also jener Österreicher, die diesseits und steirischer Beteiligung) sowie die Zusammen­ jenseits der Grenze Liegenschaften besaßen.17 arbeit im Bereich „Alpen-Adria“, basierend auf Der kleine Grenzverkehr ermöglichte es Doppel­ entsprechenden Initiativen der Universitäten besitzern, die Grenze zu überschreiten und sich Graz, Marburg/Maribor und Triest, zustande. im jenseitigen Grenzbezirk aufzuhalten. Abgese­ Über die unmittelbare Nachbarschaftspolitik hin­ hen davon konnten die Doppelbesitzer wieder in aus forcierte die Steiermark unter LH Krainer eine ihre ursprünglichen Rechte eintreten, was be­ Hinwendung zur Europäischen Wirtschafts­ deutete, dass Grundstücke dem jeweiligen frü­ gemeinschaft (EWG), die 1957 aus sechs Staa­ heren Eigentümer zurückgestellt bzw. wieder ten gebildet worden war und langsam die Spal­ übergeben wurden. tung zwischen Deutschland und Frankreich Ein Zusatzabkommen sieben Jahre später be­ überwinden sollte. rechtigte 1960 österreichische und jugoslawi­ sche Staatsangehörige, die ihren ständigen Wohnsitz in den Grenzbezirken hatten, viermal im Zeitraum von einem Monat die Staatsgrenze zu überschreiten und sich im jeweiligen Grenzbezirk 60 Stunden aufzuhalten. Mitte der 60er Jahre wurde eine ständig tagende Regionalkommission zwischen der jugoslawi­ schen Teilrepublik Slowenien und der Steiermark eingerichtet, die sich besonders mit Fragen von Straßen- und Eisenbahnverkehr, Gewässerbe­ wirtschaftung, Wirtschaft, Tourismus, Raumpla­ nung und wissenschaftlich-kultureller Koopera­ • Hanns Koren und Josef Krainer sen. bei der tionsmöglichkeiten befasste. Eröffnungsausstellung von TRIGON 63.

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• von links: Josef Krainer sen., Theodor Piffl-Perčević • Männer der Reform: Bundeskanzler Josef Klaus und der neue Landesparteisekretär Alfred Rainer. und Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević.

1960 war Österreich – aus neutralitätspolitischen EWG oder etwas Gleichwertiges gefunden wird, Gründen – der European Free Trade Association damit wir unsere Erzeugnisse auch in Zukunft ex­ (EFTA) beigetreten. Handelspartner der steiri­ portieren können.“18 schen Wirtschaft sollten damit vor allem in Skan­ Krainer und seine Ratgeber hatten die Chance dinavien gesucht werden. Die westdeutsche der Steiermark erkannt, eine kleine Brücke zwi­ Wirtschaft, eine Säule der EWG, blieb den- schen den Blöcken bilden zu können. Eine feste noch der wichtigste Außenhandelspartner für die Verankerung der Steiermark im westlich-demo­ Steier­mark. Das steirische Ziel blieb daher die kratischen System, in der EWG und im Europarat Integration nach Westdeutschland und in die war für den Westen vertrauensbildend und für die EWG. Position eines vorgeschobenen Postens interes­ sant, für den Osten hingegen war der dadurch „Verhungern in der Neutralität“ über verschiedene Wege zu erhaltende Techno­ logie-Vorsprung aus dem Westen von großem Der Aphorismus Krainers „Verhungern in der Interesse. Eine Aufgabe dieses extrem schwieri­ Neutralität“ war keineswegs bloße Rhetorik in ei­ gen Balanceaktes zwischen den Blöcken des nem innerparteilichen Konflikt mit Bundeskanzler „Kalten Krieges“ hätte die Steiermark wirtschaft­ Raab, sondern entsprang der Befürchtung, die lich noch weiter abdriften lassen. Steiermark könnte den Zug nach Europa verpas­ Äußere Zeichen der steirischen Außenposition sen, der eine Hoffnung auf ein Herauskommen waren auch Kurzvisiten des persischen Schah aus der Randlage am „Eisernen Vorhang“ war. Reza Pahlevi 1960 und des sowjetischen Partei­ Gleichzeitig versuchte Krainer den steirischen chefs und Ministerpräsidenten Nikita S. Chru­ Regionalismus und die Anti-Wien-Stimmung an­ schtschow 1961 (der im Zuge seiner 13-tägigen zusprechen: „Da die Frage der europäischen In­ Österreich-Rundreise nach Graz kam und beim tegration in Wien entschieden wird, ist es unsere Empfang in Eggenberg besonders gegen die Verpflichtung, nicht zu warten, bis dort etwas EWG auftrat) im Lande. Höhepunkte der Nach­ geschieht, sondern wir haben dafür einzutreten, barschaftspolitik waren jedoch der Besuch des daß das Richtige geschieht. Ob EWG oder EFTA jugoslawischen Staatspräsidenten Marschall ist keine Frage der Sympathie oder Antipathie, ­Josip Broz Tito am 17. Februar 1967 in Graz19 sondern schicksalshaft für unser Land. Wir for­ und die mehr als symbolträchtige feierliche Eröff­ dern und werden – auch wenn man es als Ruf nung der neuen Grenzbrücke über die Mur in aus dem steirischen Hinterland empfindet – nicht Radkersburg am 12. Oktober 1969 mit Krainer, davon abgehen, daß eine Assoziation mit der Tito und Bundespräsident .

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Der Brückenschlag über die Mur bedeutete einen Grenzland ausgegeben. 1962 wurden die Förde­ Brückenschlag zu einem anderen, im wesentli­ rungsmaßnahmen auch zur Abfederung der chen sozialistischen Gesellschaftssystem und Kohlenkrise in den Bergbaugebieten Voitsberg, einen Beginn weiterer Kooperationen über die Fohnsdorf und Seegraben ausgeweitet. Den­ „tote“ Grenze hinweg, wobei Gesprächspartner noch blieb besonders das steirische Grenzland zunehmend Laibach/Ljubljana und Graz, weniger bis Anfang der 80er Jahre eine wirtschaftliche die Zentralen in Wien und Belgrad, waren. Ein Problemregion, die erst mit Impulsen des Ther­ Bild, das sich nach der Unabhängigkeitserklä­ mentourismus und der touristischen Vermark­ rung Sloweniens nach 1991 grundlegend än­ tung der Weinbauregion langsam gegenüber derte und Graz von der slowenischen Regie- dem Landesdurchschnitt aufzuholen begann. rung – nicht immer zum Vorteil der Gespräche – weitgehend ignoriert wurde. Resümee

Grenzlandförderung Insgesamt schaffte es die Steiermark im ersten Jahrzehnt nach dem Staatsvertrag, wesentliche Die Wirtschaft der Grenzregionen der Ost- und Akzente in der Wirtschaft und Kultur sowie in den Südsteiermark, mehrheitlich agrarisch struktu­ Beziehungen zu ihren Nachbarn zu setzen. Die riert, litt unter einer verstärkten Abwanderung der ÖVP hatte daran, auch im Zusammenwirken mit Bevölkerung (binnen zehn Jahren bis 1961 um dem Juniorpartner in der Landesregierung und 15 %).20 Der Wiederaufbau und der Marshallplan im Landtag, der SPÖ, dem „steirischen Klima“, hatten hier – mangels entsprechender Indus- einen beachtlichen Anteil. trien – kaum gegriffen. Eine Grenzlandförderung als Gesamtkonzept sollte daher nicht nur die Ab­ wanderung von Arbeitskräften und Gewerbebe­ trieben stoppen, sondern auch gegenüber den Jugoslawen und Ungarn ein wirtschaftlich homo­ genes, starkes Land zeigen. Vor allem die ÖVP forcierte im neugewählten Landtag die Grenz­ landförderung und setzte für das Budget 1958 neben der allgemeinen Wirtschaftsförderung 1 Der gesamte Beitrag fußt auf Stefan Karner: Die Steier­ noch eine besondere Förderung des Grenzlan­ mark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesell­ des fest.21 Unter Krainers Vorsitz wurde ein Beirat schaft – Kultur. Graz/Wien/Köln 2000; ders.: Die Steier­ mark im 20. Jahrhundert. 2. erw. Aufl. Graz/Wien 2005. zur Grenzlandförderung geschaffen. Das Finanz­ Dort auch die einzelnen Quellen- und Literaturnachweise. ausgleichsgesetz 1959 definierte zudem die Be­ Hier werden nur wenige, näher erklärende Hinweise an­ teiligung des Bundes an den Förderungsmaß­ gegeben. nahmen mit rund neun Millionen Schilling für die 2 Die steirische KPÖ verlor analog zur Bundespartei zuse­ hends an Bedeutung und realpolitischer Macht, sodass 22 Steiermark. Die Bundeszuschüsse wurden sich das Parteiensystem aus ÖVP, SPÖ und der aus dem durch Landesmittel ergänzt und für die Stützung VdU hervorgegangenen FPÖ konstituierte. der Landwirtschaft und des Gewerbes insbeson­ 3 Franz Wegart, geboren am 25. Juli 1918 in Graz, kam wenige Wochen später zu seinen Großeltern nach Bad dere durch Besitzfestigung der Kleinlandwirte Radkersburg. Pflichtschule 1938/39, danach ­Wehr und der Kleingewerbetreibenden, die Ansiede­ dienst, u.a. in Kreta, Norwegen und in der Sowjetunion. lung und/oder Erweiterung von industriellen oder 1945 US-Gefangenschaft, Heimkehr schwerkriegsver­ gewerblichen Betrieben, die Verbesserung der sehrt, im September 1945 ÖVP-Sekretär im Bezirk Rad­ kersburg. 1946 ÖVP-Landespartei-Organisationsrefe­ Infrastruktur, vor allem im verkehrstechnischen rent; 1947–1961 Landesparteisekretär. 1949 Landtags­ Bereich (Straßenbau) sowie für touristische Im­ abgeordneter, 1955–1981 Direktor des Österreichischen pulse („Bettenaktion“, Ausbau von Privatzim­ Verlages in Graz. 1961–1985 Landesrat, abwechselnd mern) verwendet. für Personal, Fremdenverkehr, Berufsschulwesen und Sport sowie die Aufsicht über die Sozialversicherung. Von 1960 bis 1964 wurden an Bundes- und Lan­ 1964 ÖAAB-Landesobmann Steiermark, 1971 Zweiter desmitteln an die 50,5 Millionen Schilling für das Landeshauptmann Stellvertreter, 1985–1993 Präsident

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• Landeshauptmann Josef Krainer sen. im Wahlkampf vor den Toren der Alpine Donawitz in den 1960er Jahren.

des Steiermärkischen Landtages. Wegart starb am 30. 13 1965 kandidierte Gorbach nach dem Tode von Bundes­ Jänner 2009 in Graz. präsident Adolf Schärf bei den Bundespräsidentenwah­ 4 Bis dahin hatte noch jede Partei, sofern sie genügend len und unterlag dem SPÖ-Kandidaten Franz Jonas, Geld dazu hatte, Stimmzettel mit ihrem Parteinamen an wobei es als bemerkenswert erscheint, dass gerade das ihre potenziellen Wähler verschickt. Der Wähler sollte Teilergebnis in der Steiermark äußerst schlecht war. Ins­ dann den Stimmzettel zur Wahl mitbringen und einwerfen gesamt erhielt Jonas 2,324.436 Stimmen, Gorbach bzw. vom Wahlleiter die sogenannten amtlichen Stimm­ 2,260.888. Mit dieser Niederlage war Gorbachs politi­ zettel, die allerdings leer waren, verlangen. Diese Vorge­ sche Karriere faktisch beendet. hensweise benachteiligte die Kleinparteien. 14 Vgl. Archiv der ÖVP, Ordner Rundschreiben 1962, 5 Archiv der ÖVP, Ordner zur Landtagswahl 1957, Redner­ ­Schreiben von Dr. Alfred Rainer, 25.6.1962. skizze, 10. 15 Archiv der ÖVP, Ordner Landtagswahl 1965. 6 Archiv der SPÖ, Bericht des Vorsitzenden, 3. 16 Vgl. Kleine Zeitung, 10.12.1966. – Franz Hasiba, geboren 7 Bis dahin war Anton Stephan (VdU/FPÖ) Landessrat ge­ 1932 in Graz, studierte an der Hochschule für Bodenkul­ wesen. – Hanns Koren, geboren 1906 in Köflach, Matura tur in Wien, 1958 Graduierung, 1965 Mitarbeiter von Alf­ am Fürstbischöflichen Knabenseminar Graz, Studium der red Rainer im Landtagswahlkampf, 1983–1985 Grazer Germanistik, Geschichte und Volkskunde in Graz, Schü­ Bürgermeister, 1985–1993 Landesrat, 1991–1993 Lan­ ler von Geramb, Promotion 1932, danach am Institut für deshauptmann-Stellvertreter, 1993–2000 Landtagspräsi­ Volkskunde in Salzburg, 1936 Assistent im Volkskunde­ dent. Hasiba lebt in Graz. museum des Joanneum. Während der NS-Zeit anfäng­ 17 Vgl. BGBl., Nr. 96, 4.8.1953. liche gewisse politische Deckung durch Papesch, 1940– 18 Erklärung LH Krainers: Die Aufgaben des Landes Steier­ 1944 Wehrdienst. Dezember 1945 Habilitation, 1949 mark, in: Kleine Zeitung, 12.4.1961. Leiter des steirischen Volkskundemuseums, 1955–1972 19 Kleine Zeitung, 18.2.1967: In einem gemeinsamen Ordinarius für Volkskunde an der Universität Graz. Paral­ Schlusskommuniqué wurde darauf hingewiesen, „daß lel dazu: 1950–1953 Vorsitzender der KA Steiermark, sich die freundschaftlichen Beziehungen auf der Basis 1953 Nationalratsabgeordneter der ÖVP, 1957 Landes­ der gegenseitigen Achtung und der Nichteinmischung in rat, später Landeshauptmann Stellvertreter und Land­ die inneren Angelegenheiten, ungeachtet der Verschie­ tagspräsident. Koren starb 1985 in Graz. denheit der gesellschaftlichen Systeme, in der beabsich­ 8 Dies betonen vor allem Wolfgang Mantl und Fritz Csok­ tigten befriedigenden Weise entwickelt hätten“. lich in ihren Biografien zu Krainer. 20 Steirische Bewährung 1955–1965. Graz 1965, 120. Aus 9 Neue Zeit, 11.3.1961. den Grenzbezirken wanderten 5.394 Menschen ab. 10 Kleine Zeitung, 9.3.1961. 21 Stenogr. Ber. d. Steierm. Landtages, IV. GP 1957–1961, 11 Archiv der ÖVP, Ordner Landtagswahl 1961, undatiertes 14. Sitzung, 18./19.12.1957. Flugblatt. 22 Steirische Bewährung 1955–1965 (FN 20), 124; Neue 12 Kleine Zeitung, 14.3.1961. Zeit, 20.12.1959.

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