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5/2014 Themen der Katholischen Akademie in Bayern

5 19 25 36 Über Leben und Bedeutung des Theolo- Prof. Dr. Herfried Münkler fragt, warum Verhalten, Denken und Fühlen der Ka- PD Dr. Christian Fuhrmeister berichtet gen Johann Michael Sailer schreibt Prof. im Ersten Weltkrieg ein Friedensschluss tholiken im Ersten Weltkrieg beschreibt über Raubkunst: Akteure, Objekte und Dr. Konrad Baumgartner nicht möglich war Prof. Dr. Andreas Holzem Forschungsgeschichte 12 22 33 41 Johann Michaels Sailers Impulse für die Prof. Dr. Christopher Clark stellt die Ur- Dr. Meike Hopp zeigt aktuelle Problem- Prof. Dr. Michael von Brück zu Rainer Ökumene beschreibt Prälat Dr. Bertram sachen für den Ausbruch des Ersten felder der Provenienzforschung auf Maria Rilkes „Duineser Elegien“ Meier Weltkriegs dar

Johann Michael Sailer als Bischof von Johann Michael Sailer als Bischof Rudolf Voderholzer

Brückenbauer „Man muss sagen, dass dem Bistum Regensburg nur ein beschränkter Teil von Sailers Wirken zugute kam, doch Mit einer Tagung in hat Regensburg die Ehre, die größte, Regensburg erinnerte die wahrhaft überragende Gestalt im deut- Katholische Akademie schen Katholizismus dieser Zeit als Bayern am 5. April 2014 Bischof gehabt zu haben“ (Georg an Johann Michael Sailer. Schwaiger, Johann Michael Sailer. Der Der große Theologe lebte bayerische Kirchenvater, München von 1751 bis 1832 in einer 1982). So beginnt Georg Schwaiger, Zeit großer kirchlicher mein verehrter Münchner Lehrer in der und gesellschaftlicher Kirchengeschichte und selbst Regens- Umbrüche, wurde als Bi- burger Diözesanpriester, seine Darstel- schof von Regensburg ein lung des letzten und gleichsam krönen- Brückenbauer im Geiste den Abschlusses des Wirkens von Sai- Jesu, wirkte als Seelsor- ler, eben als Bischof von Regensburg. ger und Lehrer, war aber Die Bischofszeit von Johann Michael auch ein Vorkämpfer der Sailer ist quellenmäßig gut belegt und Ökumene. auch gut erforscht. Was ich Ihnen hier Aktueller Anlass der aus der Fülle der möglichen Materia- Tagung mit dem Titel lien vorstellen und interpretieren darf, „Johann Michael Sailer speist sich aus den Studien vor allem als Brückenbauer“ im von Georg Schwaiger, Paul Mai, Kon- Vorfeld des Katholikenta- rad Baumgartner und Alexander ges in Regensburg ist die Loichinger. Rudolf Voderholzer, Bischof von „Rückkehr“ von Johann Die Ausführungen über Johann Mi- Regensburg Michael Sailer auf den chael Sailer als Bischof in Regensburg Emmeramsplatz. Das sind folgendermaßen gegliedert: Zu- Denkmal des Theologen, nächst die Vorgeschichte seines Episko- der den Ehrentitel „Bay- pats, dann sein Weg „hinein ins Bistum“ I. Zur Vorgeschichte des Episkopates erischer Kirchenvater“ (Pastoral- und Firmreisen), seine Sorge erhielt, stand dort viele um die Priesterausbildung und die Wie- Im Jahr 1816 war Sailer 65 Jahre alt Jahre, wurde im Zweiten derbelebung der Klöster und schließlich geworden und in den Augen vieler ein Weltkrieg fast einge- Sailer im Spiegel zweier wichtiger Be- hervorragender Kandidat für einen der schmolzen und nach dem zugspersonen (Proske und Diepen- nunmehr neugeordneten Bischofsstühle. Krieg an der Bahnhofs- brock). In all dem wird es hoffentlich Dass Sailer nicht gleich für den durch straße aufgestellt. Heuer, gelingen, Johann Michael Sailer als ei- den Tod von Karl Theodor Reichsfrei- am 20. Mai, dem Todestag nen Bischof vorzustellen, der lange vor herr von Dalberg am 10. Februar 1817 des Bischofs, kehrte das der Zeit das Bischofsideal des Zweiten freigewordenen Regensburger Bischofs- Denkmal nun auf seinen Vatikanischen Konzils, das biblische Bi- stuhl vorgesehen werden konnte, hängt angestammten Platz vor schofsideal, verwirklicht hat, ein Ideal, mit dem Gutachten des Wiener Redemp- Foto: wikipedia der Basilika Sankt Em- das zuletzt durch die Päpste Benedikt toristenpaters und später – trotz und Das Denkmal von Johann Michael Sailer. meram zurück. und jetzt Franziskus beschworen wurde nicht wegen dieses Gutachtens – heilig- und wird. gesprochenen Clemens Maria Hofbauer zusammen, der die Gerüchte, aber na- Paul Mai hat in seinem Aufsatz zur Fest- mit einer von zwei alten Schimmeln ge- türlich auch eigene Interpretationen zu schrift von 1982 das bischöfliche Wir- zogenen Lohnkutsche. einem Gutachten zusammenbraute, das ken Sailers minutiös beschrieben und Dass die Pastoralreisen in die ver- Editorial vor allem den Sailer’schen Mystizismus auch statistisch ausgewertet. An Pfings- schiedenen Regionen des Bistums Re- und auch seine unzuverlässige Ekkle- ten sowie am Dreifaltigkeitssonntag gensburg, dessen Ausdehnung sich seit- Liebe Leserinnen und Leser! siologie brandmarkte und deswegen wieder in Regensburg, spendet Sailer im her nicht wesentlich geändert hat, eine dem Heiligen Stuhl von einer Bischofs- Dom insgesamt 1350 Personen die Fir- körperliche Strapaze sonders gleichen ernennung dringend abgeraten hatte. mung. Aber dann kommt das Unglaub- waren, kann man sich lebhaft vorstel- „Brücken bauen“ ist eine Chiffre Das Gutachten, das in Rom vorlag und liche, das mich, seitdem ich es gelesen len. Sailers Sekretär Diepenbrock für die Herausforderung, Verbindung von den Gegnern Sailers verbreitet wur- und dann auch zu verstehen versucht schrieb im Juli 1825 an den Arzt Johann herzustellen zwischen Bereichen, die de, schien Sailers Zukunft in Richtung habe, nicht mehr loslässt: Es folgt eine Nepomuk von Ringseis: „Das Alter for- zunächst völlig getrennt sind. Und eines bayerischen Bischofsstuhles end- Pastoralreise in die Oberpfalz, und dort derte bei Sailer allmählich seinen Tri- zwar in ganz unterschiedlichen Be- gültig zu verbauen. stehen wir vor folgenden phänomena- but, zumal es ihm nie in den Sinn kam, reichen. So greift z.B. jene bekannte Umso mehr bemühte man sich in len Zahlen: in Schwandorf 600 Firmun- sich körperlich zu schonen. Überall, wo Ballade schon uralten Sagenstoff aus: Preußen, angeregt durch Sailers Freund gen, in Amberg am 16. Juni sage und er hinkam, hielt er Predigten. Dabei „Es waren zwei Königskinder, / die und ehemaligen Kollegen Friedrich Carl schreibe 6800 Firmungen, in Stadt wiederholte er sich niemals. Und wenn von Savigny, Sailer für den Erzbischofs- Eschenbach am 19. Juni 2300 Firmun- ihm auch das Predigen wenig Mühe be- hatten einander so lieb, / sie konn- stuhl in Köln zu gewinnen. Sailer hätte gen usw. (vgl. Paul Mai, Johann Michael reitete, weil er durch seine umfangrei- ten zusammen nicht kommen, / das wohl mit einer kurzen Zwischenstation Sailers Wirken als Weihbischof und Bi- che pastoral-theologische Schriftstelle- Wasser war viel zu tief.“ als Professor in Bonn Erzbischof in Köln schof im Bistum Regensburg, in: Beiträ- rei und sein beständiges Studium der Nicht zuletzt das „viel zu tiefe werden können, wenn er rechtzeitig zu- ge zur Geschichte des Bistums Regens- Heiligen Schrift und der Meister des Wasser“ zwischen unserer Wirklich- gesagt und die Sache selber dann auch burg, Bd. 16, Regensburg 1982, 168). geistlichen Lebens immer aus dem Vol- keit und der Wirklichkeit des Göttli- zielstrebig weiterverfolgt hätte. Aber er Das Firmalter war zu dieser Zeit be- len schöpfen konnte, eine körperliche chen – so war immer die Ahnung – zögerte, auch mit Blick auf seine bayeri- kanntlich nicht so festgelegt wie in un- Anstrengung war es für den doch schon sche Heimat und die hier bestehenden seren Tagen, wo die Firmung in der Re- mittlerweile 75-Jährigen allemal“ (zit. braucht eine Verbindung ganz eige- persönlichen Beziehungen. Als dann gel in der 5. oder 6. Klasse gespendet nach Konrad Baumgartner, Johann Mi- ner Art. Im antiken Rom war es der der bayerische Nuntius auch in Preußen wird. Es war in diesen Zeiten üblich, chael Sailer. Leben und Werk, Kevelaer „oberste Brückenbauer“, der „Ponti- zu intrigieren begann, war die Perspek- dass der Bischof, wenn er auf Pastoral- 2011, 32). fex Maximus“, der als Haupt der tive definitiv verbaut. In dieser Situation reise kam, im Grunde alle ab einem be- Man hat ihm dann geraten, er möge Priesterschaft die religiösen Rituale wird der Kronprinz Ludwig aktiv. Eine stimmten Alter firmte, auch Erwachsene sich doch ein bequemeres Gefährt zule- verantwortete, die die Verbindung zu Berufung Sailers auf den Bischofsstuhl und Greise, wenn sie das Firmsakrament gen, und er hat sich fast dazu überreden den Göttern herstellten. Wenn sich in Augsburg, immerhin Heimatbistum noch nicht empfangen hatten. Wer weiß, lassen. Georg Schwaiger berichtet aller- Sailers, wird 1819 noch hintertrieben. ob man noch einmal im Leben einem dings vom missglückten Neukauf einer dann ab Leo dem Großen auch die Nach schwierigen Verhandlungen der Bischof begegnen würde! In manchen Kutsche: 900 Gulden hatte er auf die Päpste diesen Titel zulegten, schlu- Regierung mit dem Heiligen Stuhl 1821 auch größeren Orten war hier im Bis- Seite gelegt, um sich ein bequemeres gen sie nicht nur die Brücke zurück gelingt es aber schließlich, Sailer in das tum Regensburg seit 10, 15 oder noch Gefährt zuzulegen, und der Kauf war in die große heidnische Vergangen- Regensburger Domkapitel zu berufen, mehr Jahren kein Bischof mehr gewesen. schon beschlossene Sache. Da bekommt heit Roms, sondern definierten damit mit der Aussicht, dort auch die Haupt- Auch die Mobilität der Leute war umge- Sailer aus der Schweiz einen Bettelbrief gleichsam das Selbstverständnis ihres verantwortung übernehmen zu können. kehrt nicht so groß, dass sie ihrerseits eines armen Theologiestudenten, dessen Amtes: eine Brücke zu bauen zwi- Das Bistum Regensburg ist in einem zum Bischof hätten kommen können. Familie er noch gekannt hatte, und des- schen der Kirche auf Erden und der vergleichsweise guten Zustand. Der von Die Sailer-Biographien sprechen im sen Vater sich nun in der größten wirt- Mainz nach Regensburg transferierte Hinblick auf die ersten Pastoralreisen schaftlichen Misere befunden hat. Was himmlischen Wirklichkeit Gottes. Kurfürsterzbischof von Dalberg reprä- von Triumphzügen. Der Jubel etwa in macht Sailer? Er zieht die 900 Gulden „Mit Christus Brücken bauen“ lau- sentierte gewissermaßen die große Kon- Cham oder in Lam muss unbeschreib- zurück, schickt sie in die Schweiz und tet auch das Motto des Katholikenta- tinuität und hatte auch für Stabilität lich gewesen sein. Der Eindruck, den fährt weiterhin mit seiner alten Kutsche. ges 2014 in Regensburg. Dieses Bild- und geistliche Ausrichtung gesorgt, was der würdige Greis mit seinem jugendli- Kronprinz Ludwig erfuhr von dem wort spricht natürlich für sich selbst. man von den meisten Bistümern im üb- chen Elan hinterließ, war tief und nach- vorhin zitierten Brief von Diepenbrock Aber gerade das Selbstverständliche rigen Deutschen Reich damals so nicht haltig. Es gab, wie schon gesagt, Orte, und von Sailers physischer Belastung ist häufig gar nicht so einfach. Denn sagen konnte. Am 22. Oktober 1822 die jahrzehntelang keinen Bischof mehr und der geschilderten gesundheitlichen wird Sailer kurz vor seinem 71. Ge- gesehen hatten, und dann kommt ein Situation, und als er drei Monate später genau genommen kann ich ja – ganz burtstag in Regensburg zum Bischof ge- solcher Sailer als Bischof: Diener des König wurde, wies er umgehend Sailer simpel gedacht – eine Brücke auf weiht. Er ist fortan Weihbischof und Wortes, ein seeleneifriger Hirte, der die das Schloss Barbing südöstlich von Re- dreierlei Arten bauen: entweder vom Koadjutor des greisen Bischofs Johann Menschen spüren lässt, dass er als Bi- gensburg als Land- und Erholungssitz einen Ufer aus, oder vom anderen Nepomuk von Wolf, der das Bistum schof ihnen Segen, das Wort Gottes, das auf Lebenszeit zu. Heute ist in diesem Ufer aus, oder mitten im Fluss ste- vom Bett aus regiert, wie er selbst zu sa- Heil in Christus bringt und sich in die- Schloss das Rathaus von Barbing unter- hend. Viele Fragen der Selbstverge- gen pflegte. Nach dessen Tod 1829 wird sem Dienst auch wirklich verzehrt. Sai- gebracht. wisserung schließen sich da an: Ist er ihm als Diözesanbischof nachfolgen. ler stand im 72. Lebensjahr, und er fuhr Zwischenzeitlich wird Sailer Dompropst mein Ufer stabil für einen Brücken- und Generalvikar, leitet also faktisch pfeiler? Geht es am anderen Ufer bereits das Bistum, ehe er 1829 schließ- überhaupt weiter, oder ist vielleicht lich Diözesanbischof von Regensburg die Stelle, an der meine Brücke ent- wird. Er wird dieses Amt bis zu seinem stehen soll, schlecht ausgewählt, weil Tod am 20. Mai 1832 innehaben. Sailer am jenseitigen Ufer wo anders mit ei- war im Grunde schon ein Pensionär, je- ner Brücke begonnen wurde? Oder mand, der den Ruhestand verdient hät- te, als ihm diese große Aufgabe hier in wäre es nicht anmaßend, zwei Seiten Regensburg übertragen wurde. dadurch zu verbinden, dass ich mich zwischen sie stelle, mitten im reißen- II. Sailers Weg „hinein ins Bistum“ den Fluss? (Pastoral- und Firmreisen) Fragen durchaus von Relevanz, wenn wir innerkirchlich über „Brü- Schon das Konzil von Trient hat in ckenbauen“ sprechen. Wie gut, dass seinen entsprechenden Dekreten ein es da Vorbilder gibt. Der Regensbur- ganz klares Bild vom Bischof als ersten Prediger, als ersten Seelsorger seiner Di- ger Bischof Rudolf Voderholzer hat özese entworfen. Wenn Papst Franzis- Johann Michael Sailer als „Brücken- kus in seiner bildhaften Sprache den bauer“ vorgestellt. Wenn Sie sich auf neuen Bischöfen anlässlich ihres Ein- dessen Leben und Verständnis des führungskurses, an dem ich auch teil- christlichen Glaubens einlassen, neh- nehmen durfte, ans Herz legt, sie sollten men Sie etliche Anregungen wahr, den Geruch ihrer Schafe annehmen, was es heißen könnte, über „tiefe also nahe am Leben der Menschen sein, ihre Bistümer gut kennen, dann ent- Wasser“ hin Verbindungen herzustel- spricht das bereits dem Ideal des Bi- len zwischen sehr unterschiedlichen schofsbildes von Trient und natürlich „Königskindern“ unserer Tage, die erst recht dem des Zweiten Vatikani- nicht „zusammen kommen“. schen Konzils, aber es dauerte, bis gera- de in deutschen Landen den Bischöfen Viele Interessierte waren in den Saal im Ihr der Fürstenhut definitiv genommen Priesterseminar St. Wolfgang am Re- wurde. gensburger Bismarckplatz gekommen. Sailer geht sein Amt ganz im Sinne In der Mitte: Prof. Dr. Helmut Altner, dieses Bischofsideals an. Kaum sind der ehemalige Rektor der Universität Herbst und Winter vorüber, macht er Regensburg. Dr. Florian Schuller sich im Frühjahr 1823 auf eine erste große Pastoralreise nach Niederbayern.

2 zur debatte 5/2014 IV. Sailer und die Wiederbelebung der Klosterlandschaft

Im Konkordat von 1817 stellte der Themen „zur debatte“ König von Bayern die Errichtung eini- ger Klöster in recht allgemeinen Wen- Editorial 2 dungen in Aussicht. Doch ist in den ru- higen letzten Jahren der Regierung Kö- nig Max Josephs nichts mehr in dieser Johann Michael Sailer Richtung passiert. als Brückenbauer König Ludwig dagegen engagierte sich leidenschaftlich für die Wiederrich- Johann Michael Sailer als tung einer reichen und vielfaltigen Klos- Bischof von Regensburg terlandschaft in Bayern. Mit einer aller- Bischof Rudolf Voderholzer 1 dings ihm recht eigenen Weise hat sich auch Johann Michael Sailer als Bischof Johann Michael Sailer – an dieser Wiederbelebung der Kloster- Leben und Bedeutung landschaft beteiligt. Er hat den König in Konrad Baumgartner 5 erster Linie in seinem Engagement ge- bremst. Sailer, der auch in dieser Frage Bischof Johann Michael Sailer den ungestüm drängenden König klug wieder auf dem Emmeramsplatz beriet, empfahl zunächst nur die Er- Eberhard Dünninger 6 richtung eines einzigen Klosters. Durch König Ludwig I. und seine besonnene Art und seinen Realis- Johann Michael von Sailer mus hat Sailer womöglich wesentlich Bernhard Lübbers 9 dazu beigetragen, dass dieses von König Ludwig I. so massiv betriebene Anlie- Befreundung in Jesus Christus: gen nachhaltig durchgesetzt werden Johann Michael Sailers Impulse konnte. für die Ökumene Sailer hat sich keinen Illusionen hin- Bertram Meier 12 gegeben. Von den noch lebenden Mön- chen, die 1802 und 1803 aus ihren Klöstern, den Benediktinerklöstern und anderen, vertrieben worden waren und Wirtschaft – nachhaltig und denen man ihre Klöster, ihr Eigentum auf sozialethischer Basis 16 weggenommen hatte, waren nur insge- samt 11 bereit, wieder ein Benediktiner- kloster mitaufzubauen und beleben zu Reihe „Wissenschaft für Jedermann“ helfen. Man wird das verstehen müssen: Power to gas Da hat man erst erlebt, wie einem alles genommen wird, und dann war man Katalysator für einen Epochen- doch auch in die Jahre gekommen. wechsel in der Energieversorgung Also, mich wundert das nicht; das hat, Markus Vogt 17 wie mir scheint, nichts mit einer prinzi- piellen Abkehr vom Ideal des Mönch- tums zu tun, sondern ist einfach auch Der Erste Weltkrieg realistisch. Wir wissen heute darum, wie es im 19. Jahrhundert zu einem Aufblü- Der Große Krieg. Warum der hen kam. Diese Perspektive hatten die Erste Weltkrieg nicht im betreffenden Mönche nicht. Herbst 1914 beendet wurde Jedenfalls kam es dann, nachdem Herfried Münkler 19 auch König Ludwig nicht locker gelas- Der Regensburger Bischof Professor sen hat, im Jahre 1830 zur Wiederbele- Die Schlafwandler Rudolf Voderholzer (li.) und Akade- bung des Benediktinerklosters in Met- Christopher Clark 22 miedirektor Dr. Florian Schuller freuten ten. Bischof Sailer nimmt selber die sich über das Interesse an der Tagung Wiedereröffnung und die damit verbun- „... wenig gebetet, aber heißer zu Johann Michael Sailer. dene Erneuerung der Ordensgelübde als je“: Katholiken im Ersten entgegen. Nur zwei Mönche bezogen in Weltkrieg (1914–1918) großer Armut die notdürftig hergerich- Andreas Holzem 25 teten Gebäude, Pater Ildefons Nebauer Der Erste Weltkrieg – als Prior und Pater Roman Raith. Als „Urkatastrophe des einziges Besitztum des jungen Kon- 20. Jahrhunderts“ oder III. Sailers Sorge um die als freies Eigentum an das Seminar, ge- vents, so lesen wir bei Schwaiger, brach- Geschichtsbruch“? Priesterausbildung gen Abtretung des Hauses am St.-Kas- te Pater Roman eine Kuh mit, die man Lucian Hölscher 30 siansplatz an den Staat. Bereits Ende aber bei fremden Leuten einstellen Auch für die Priesterausbildung hat Oktober 1822 zogen 48 Alumnen in die musste. Am 25. Dezember 1831 schrieb Johann Michael Sailer in seiner Verant- stattlichen Gebäude mit der prächtigen der König an Eduard Schenk, den Re- wortung als Bischof entscheidende Wei- Stiftskirche ein. gierungspräsident in der Oberpfalz: Energiewende – chen gestellt. Die Zahl der Priesterwei- Sailer gelang es in dieser Zeit darüber „Viel liegt mir an dieses Benediktiner- Vision und Realität 32 hen stieg sprunghaft an. Hintergrund hinaus, den Alumnatskurs aus dem klosters Erhaltung. Sie muss stattfin- war gewiss auch die neue Beheimatung Georgianum in Landshut nach Regens- den!“ 1832, im Todesjahr Bischof Sai- des Priesterseminars und Sailers Sorge burg zurückzuholen. Sailer setzte sich lers, zählte Metten dann immerhin NS-Raubkunst. Spätschuld um diese Ausbildung. Zunächst finden auch entschieden für die Errichtung schon den Prior, den Subprior, einen Folgen und Konsequenzen wir das vom Konzil von Trient geforder- oder Wiederherstellung der Lyzeen und Pater, einige Novizen und einen Laien- te Priesterseminar seit 1787 im ehemali- Priesterseminare in ganz Bayern ein bruder. Doch ein Anfang des benedikti- Aus aktuellem Anlass: gen Jesuitenkolleg St. Paul. Nachdem und kann als geistiger Vater der neuen nischen Mönchtums in Bayern war wie- Problemfelder der dies dem verheerenden Regensburger Lyzeen, der späteren Philosophisch- der gesetzt, und der alte Bischof Sailer Provenienzforschung Brand im Französisch-Österreichischen Theologischen Hochschulen, gelten. Er hatte maßgeblich und vielleicht auch Meike Hopp 33 Krieg im April 1809 samt zugehöriger sah in den Lyzeen, zwischen dem Gym- entscheidend durch seine Besonnenheit Kirche zum Opfer gefallen war, stellte nasium und der Universität und deren mitgeholfen. Vermögensentzug / Kunstraub / Erzbischof Dalberg 1809 zunächst das Fakultäten stehend, eine Vorstufe zur Als der König aus eigenen Mitteln Raubkunst: Akteure, Objekte Haus seines Ministers Albini zur Verfü- Universität und die beste, die praktika- 50.000 Gulden zur Dotation gab, be- und Forschungsgeschichte gung, dann seine eigene Residenz am belste Form für die Ausbildung des gann allmählich der Wiederaufstieg des Christian Fuhrmeister 36 Domplatz. Bald musste das Seminar Seelsorgsklerus. Natürlich kannte und Klosters, und schon Anfang der 1840er nach St. Emmeram wandern, 1811 in schätzte Sailer die Universität und die Jahre war man in Metten so weit, dass die Dompräbende, 1816 zurück in die dortigen Theologischen Fakultäten – man wieder zwei Mönche nach Welten- Rainer Maria Rilkes räumlich engen Verhältnisse des ehema- immerhin lehrte er ja selbst in Landshut burg schicken konnte, und langsam ging „Duineser Elegien“ ligen Seminargebäudes am St.-Kassians- an einer der beiden bayerischen Univer- es auch mit Weltenburg wieder auf- platz. sitätsfakultäten der katholischen Theo- wärts. Religionswissenschaftliche Dieser Unbehaustheit machte Sailer logie. Die Ausbildung der künftigen Sailer bemühte sich mit Erfolg um die Zugänge schnell ein Ende. Auf persönliche Vor- Priester der acht bayerischen Diözesen Neukonstituierung mehrerer Zentral- Michael von Brück 41 stellung noch des Koadjutors Sailer hin nur an diesen beiden Universitäten hät- oder besser gesagt Aussterbeklöster auch übertrug König Max Joseph am 25. Sep- te zu erheblichen Schwierigkeiten in weiblicher Orden, auch um die Erhaltung Impressum 14 tember 1822 den ganzen Komplex des den Bistümern geführt. der Schottenabtei St. Jakob, bis ihr dann ehemaligen Reichsstiftes Obermünster Bischof Senestrey ein Ende bereitet hat.

zur debatte 5/2014 3 brock: Ein Spaziergang verändert das schnitt in seinem Leben. Das kann man Leben. Die Begegnung mit Sailer brach sich denken. Wieder stellte sich die bei Melchior den gehegten äußeren und ernsthafte Frage, ob er sein Domkano- inneren Widerstand. Er legte wohl eine nikat behalten oder Regensburg verlas- Art Lebensbeichte bei Sailer ab. „Sailer sen sollte. Kurz vor seinem Tod hatte gewann das Herz, die Zuneigung und der Nachfolger Sailers auf dem Bischofs- das Vertrauen Melchiors in einer Weise, stuhl von Regensburg, Bischof Witt- wie er selber das zuvor nicht geahnt mann, den Vorschlag ausgesprochen, hatte. Das war der spätere in Sailer’- Diepenbrock solle sein Nachfolger wer- schen und Diepenbrock’schen Kreisen den. Aber dazu kam es nicht. Nach ei- gleichermaßen berühmt gewordene ner langen Zeit unerquicklicher Ausein- Spaziergang“ (Alexander Loichinger, andersetzungen mit Bischof Valentin Melchior Diepenbrock. Seine Jugend von Riedel in Regensburg wurde Die- und sein Wirken im Bistum Regensburg penbrock am 15. Januar 1845 vom (1798–1845), Regensburg 1988, 60). Domkapitel in Breslau zum dortigen Dieser Spaziergang entschied über Die- Fürstbischof gewählt. Nach energischen penbrocks ganzes Leben und war der Versuchen der Ablehnung willigte Die- Anfang einer Zukunft, von der beide penbrock schließlich doch ein. Anläss- noch nichts ahnen konnten. lich seiner Ernennung zum Erzbischof Diepenbrock macht einige Versuche, schenkte Diepenbrock der Pfarrei Are- sein Theologiestudium mit dem Ziel, sing, also der Heimatpfarrei Sailers, Priester zu werden, abzuschließen. Aber 1000 Gulden für eine Kirchenerweite- weder in Mainz noch in Münster hält es rung, Zeichen der Dankbarkeit für sei- ihn im Priesterseminar. Alle, die ihm nen verehrten Lehrer und väterlichen dort begegnen, werden an Johann Mi- Freund. Wenige Jahre später ist dann Der Regensburger Generalvikar Michael Regensburg und Mitglied der Guardini- chael Sailer gemessen. Jedenfalls muss tatsächlich auch die Pfarrkirche St. Fuchs (li.) im Gespräch mit Prof. Dr. Kommission der Katholischen Akade- es dann wieder Sailer sein, der ihn auch Martin in Aresing erweitert worden. Alfons Knoll, Professor für Funda- mie Bayern. wirklich mehr oder weniger alleine auf mentaltheologie an der Universität das Priestertum vorbereitet. Nachdem VI. Würdigung des Lebens und Sailer am 28. Oktober 1822 zum Bi- Wirkens durch seinen Nachfolger schof geweiht worden war, konnte er als Bischof von Regensburg Georg dann etwa ein Jahr später, am 27. De- Michael Wittmann zember 1823, Diepenbrock selber die Priesterweihe erteilen. Am Dreikönigs- Die letzten Lebensjahre Sailers wa- V. Sailer im Spiegel zweier wichtiger pastoraltheologischer Rücksicht unmiss- fest 1824 feiert er seine Primiz im Klos- ren gekennzeichnet von Phasen der Bezugspersonen (Proske und verständlich und sehr klar zum Aus- ter Pielenhofen bei Regensburg, und Krankheit, aber auch wieder erstaun- Diepenbrock) druck gebracht: Kirchenmusik, das bald nach der Priesterweihe zieht Die- licher Erholung. Der 80-jährige Greis Liedgut der kirchenmusikalischen Tra- penbrock ganz zu Sailer, um bei ihm als vermochte immer wieder neue geistige Im Folgenden sollen, wenigstens dition, ist nicht schmückendes Beiwerk Sekretär zu arbeiten, nur bezahlt mit und körperliche Kraft zu schöpfen. Am ganz kurz, auch zwei wichtige Personen zur Liturgie, sondern integraler Bestand- Kost und Wohnung. Beide, Diepen- 20. Mai des Jahres 1832 vollendete sich vorgestellt werden, in denen sich gewis- teil derselben. Und das, was er selbst er- brock und Sailer, lebten von der unmit- das irdische Leben Bischof Sailers. Ich sermaßen das Wirken Johann Michael lebte, und da war er sich mit Proske ei- telbaren tagtäglichen Begegnung mitei- zitiere aus den Feierlichkeiten und vor Sailers als Bischof spiegelt. Wir müssen nig, entsprach dem durchaus nicht. nander, Sailer selig im Vaterstolz auf allem der Predigt von Bischof Georg uns Folgendes vor Augen halten: Aus Proske kam über verschiedene Statio- den jungen und begabten Schüler und Michael Wittmann, dem unmittelbaren rein menschlicher Sicht war es für Sai- nen schließlich, auf den Rat und die Freund, Diepenbrock ganz erfüllt von Nachfolger Johann Michael Sailers. In ler zunächst einmal gar nicht einfach, geistliche Führung Sailers, aus seiner der Gegenwart und Zuneigung des ver- dieser Predigt haben wir eine schöne nach Regensburg zu kommen und hier schlesischen Heimat nach Regensburg, ehrten Vaters Bischof. Ich stelle mir das Zusammenfassung eigentlich auch des Fuß zu fassen. In Landshut war er der und ist dann von Sailer selbst zum so vor: Für Diepenbrock war das sozu- gesamten Lebens und Wirkens. Mittelpunkt einer großen Gesellschaft. Priester geweiht worden. sagen auch das Bischofsnoviziat. Er Wittmann formulierte seinerzeit so: Meine erste Seminararbeit habe ich über Proske hat, und darin dürfte sein sollte im Jahre 1845 Erzbischof in Bres- „Er hat durch seine zahlreichen Schrif- den Sailer-Kreis in Landshut schreiben Hauptverdienst liegen, seine kirchen- lau werden, 1850 Kardinal, bis er 1853 ten ganz Deutschland erbaut. Auf der dürfen. Man muss sich das vorstellen: musikalische Kompetenz, seine Quel- dann gestorben ist. Universität hat er viele hundert Jünglin- In seinem Haus, das es leider in der da- lenkenntnis in eine Reihe von Samm- Diepenbrock führte für Sailer viele ge zu einem christlichen Lebenswandel maligen Form nicht mehr gibt, war all- lungen einfließen lassen. Da ist vor al- amtliche und persönliche Korrespon- gebildet, nicht nur im Hörsaale, son- abendlich ein Kreis von Professoren un- lem eine vierbändige Sammlung „echter denzen. Es ist bekannt, dass Sailer ihm dern auch in Privatunterredungen auf terschiedlichster Konfessionalität, aber Kirchenmusik zum Gebrauche und für immer mehr überließ. Drei Stichworte seinem Zimmer. Seine Majestät unser auch von Studenten und Pfarrern zu- die Bedürfnisse des ganzen Kirchenjah- genügten, und Diepenbrock verfasste geliebter König hat ihn beharrlich als sammengekommen. Man hat sich bei res“ unter dem Titel „Musica Divina“ dann auch den Hirtenbrief. Sailer ließ seinen Lehrer dankbar geehrt. Große Sailer getroffen; die einen haben Schach und vier- bis achtstimmige Messen un- ihn sich vorlesen, genoss auch die hohe Männer geistlichen und weltlichen Stan- gespielt, die anderen haben diskutiert, ter dem Titel „Selectus Novus Missa- sprachliche Kompetenz Diepenbrocks des in Bayern, Österreich, der Schweiz, und wer noch nicht zu Abend gegessen rum“, die von ihm zusammengestellt und war selig, dass er solche wichtigen Württemberg, Baden, auch preußischen hatte, ist auch nicht hungrig heimgegan- und 1855 publiziert wurden. Vor allem Aufgaben tatsächlich auch schon sei- Ländern, hat er gebildet. Als Bischof gen. Sailer war der Mittelpunkt des ge- die eigenen Bibliotheksbestände bear- nem Sekretär anvertrauen konnte. hier hat er das ganze Bistum visitiert auf sellschaftlichen Lebens, so wird man beitete Proske für die kirchenmusikali- Als Sailer dann im Jahre 1829 Johann abgelegenen, beschwerlichen Wegen. fast sagen müssen. Jetzt kommt er nach sche Praxis. Noch im Sommer 1861 Nepomuk von Wolf als Diözesanbischof Er hat geistliche Versammlungen in der Regensburg und hat eigentlich kaum sprach der Gründer und erste General- in Regensburg nachfolgte und schon im Diözese eingeführt und hier selbst ge- Kontakte. Seine beiden Nichten, die präses des Cäcilienvereins Franz Xaver 79. Lebensjahr stand, ernannte er Die- halten. Er hat strenge Wachsamkeit ihm zur Seite standen, spielen hier eine Witt mit Proske über eine Reform der penbrock offiziell zu seinem bischöfli- über die Geistlichkeit durch vierteljähr- Rolle, aber vor allem Carl Proske und Kirchenmusik, die auch die einfachen chen Sekretär. Nach längerem Wider- lich von den Dekanen und Pfarrern ein- Melchior von Diepenbrock. Pfarrgemeinden einbeziehen sollte. Carl stand willigte Diepenbrock schließlich zusendenden Sittenzeugnisse eingeführt. Erst ganz kurz zu Carl Proske. Wenn Proske ist als „musicae divinae restaura- in den Vorschlag ein, Mitglied des Re- Seine Lebensart war still und einsam. Regensburg heute als Welthauptstadt tor ingeniosissimus“ in die Geschichte gensburger Domkapitels zu werden, den Als Jesuitennoviz hat er sie angefangen der Kirchenmusik gilt, wenn wir mit der der katholischen Kirchenmusik einge- vor allem Sailer befürwortete. Am 3. und bis zu seinem Ende fortgesetzt. Aus Hochschule für Kirchenmusik und auch gangen. Ohne Sailer wäre er nie nach Februar 1830 erfolgte seine Ernennung Liebe des klösterlichen Lebens hat er mit den Domspatzen hier eine bestimm- Regensburg gekommen. durch König Ludwig I. Nun war Die- das meiste zur Wiederherstellung des te kirchenmusikalische Tradition haben, Melchior Diepenbrock: Im Spiegel penbrock umso vorbehaltloser für den Klosters Metten mitgewirkt und für ein dann hängt das nicht unerheblich mit dieses Mannes sehen wir Sailer auch als alternden Sailer eine echte Hilfe und stilles, einsames Leben der angehenden einem Mann zusammen, der zum engs- Seelsorger, Lehrer und Vater in einer Stütze geworden. Aber schon am 8. Mai Diözesangeistlichkeit hat er vom höchst- ten Vertrauten von Sailer gehörte, ein Person. Stellen Sie sich einen 20-jähri- 1831 trat Diepenbrock von seinem Amt selig verstorbenen Könige das Ober- Mann, der wahrlich vielseitig begabt gen Heißsporn vor, hochbegabt, sensi- als Domkapitular zurück. Er versuchte münsterstift mit Kirche und Garten er- war: Arzt, Priester, Musikwissenschaft- bel, mit einer glänzenden Aussicht auf es wenigstens, denn von vielen Seiten halten. Seine Verdienste werden für Re- ler, eben der Schlesier Carl Proske. In eine militärische Karriere, respektlos ge- war er, der junge, in der praktischen gensburg noch lange bleiben.“ seinem Testament hat er geschrieben, genüber jeder falschen Autorität, aber Seelsorge vermeintlich unerfahrene, Johann Michael Sailer ist für mich und hier kommt der große Dank gegen- auf der Suche nach seiner Berufung und noch dazu aus dem Ausland kommende ein großes und sicher nicht zu errei- über Sailer zum Ausdruck: „In der Er- seinem Platz im Leben. Melchior von Mann beneidet und angefeindet worden. chendes Vorbild. Aber nur an solchen weckung und Wiedereinführung der Diepenbrock: Ein ausgedehnter Spa- Es war wohl seine eigene innere Abnei- großen Gestalten kann man reifen und alten Kirchenmusik habe ich meine ziergang mit Johann Michael Sailer auf gung gegen dieses Amt, die ihn zu dem selber lernen, was es heißt, Bischof zu Lebensaufgabe erblickt, und was ich in dem elterlichen Gut im Münsterland im Entschluss bewogen hat, zurückzutreten. sein. „ dieser Richtung gesammelt, unternom- Jahre 1818, den er zugleich gefürchtet Aber auf intensives Drängen, wahr- men und gearbeitet, ist nicht ohne be- und herbeigesehnt hatte, veränderte sei- scheinlich nicht zuletzt von Sailer selbst, Es handelt sich um eine leicht überar- deutende Opfer möglich gewesen. Dem ne Leben. Es war die Reise, in der Sai- nahm er seine Resignation dann doch beitete Form des mündlichen Vortrages. höchstseligen Bischof Sailer, der mir ler sich eigentlich seinen Lehrstuhl in wieder zurück. Ein schwieriger und stol- Auf einen wissenschaftlichen Apparat mehr war als Lehrer und Berater, bin Bonn hätte anschauen und dann in zer Mann ist er zeitlebens geblieben. wurde für die Drucklegung verzichtet. ich zu ewigem Dank verpflichtet.“ Köln bleiben sollen. Aber das wichtige- Der Tod Sailers bedeutete für Die- Sailer hatte schon als Professor unter re war wohl die Begegnung mit Diepen- penbrock natürlich den tiefsten Ein-

4 zur debatte 5/2014 auf, ehe er in Ebersberg eine dauerhafte hatte. Sailer erfuhr davon und verfasste Johann Michael Sailer – Leben und Bleibe für die zweite erzwungene Brach- ein umfassendes Rechtfertigungsschrei- zeit fand, die bis zum Wintersemester ben, das über die Nuntiatur nach Rom Bedeutung 1799 gehen sollte. Es waren wiederum kam. Dort aber setzte sich schließlich Jahre intensivster schriftstellerischer Tä- Kronprinz Ludwig entschieden für sei- Konrad Baumgartner tigkeit, aber auch der Kontaktpflege mit nen früheren Lehrer ein. Zwar war eine seinen Freunden. Berufung auf den Bischofsstuhl von Als angeblicher Aufklärer war Sailer Augsburg gescheitert, doch 1821 wurde in Dillingen entlassen worden, als ver- Sailer schließlich Domkapitular in Re- meintlicher Aufklärer wurde er nun von gensburg mit der Aussicht, Koadjutor der bayerischen Regierung an die Lan- des dortigen Bischofs zu werden. Am desuniversität berufen, die 21. Oktober 1821 legte Sailer sein Lehr- I. Leben und Werk von Johann ein Jahr später, im Jahre 1800, nach amt in Landshut nieder, bei einer gro- Michael Sailer Landshut verlegt wurde, ehe sie 1826 ßen Abschiedsfeier wurde er von Uni- nach München kam. versität und Stadt als überragender Leh- Johann Michael Sailer (1751–1832) Dem nun fast 50-jährigen Sailer fiel rer gewürdigt. war der 69. Bischof von Regensburg in der Wiederbeginn in Landshut nicht den Jahren von 1829 bis 1832. Zuvor leicht. Schon bald musste er erleben, III. Bischof in Regensburg war er 1821 Domkapitular in Regens- wie er auch da im Kreuzfeuer der Kritik burg und ein Jahr später Weihbischof stand, nun freilich im Widerstreit zwi- Sailers Wirken im Bistum Regens- und Koadjutor des altersschwachen Bi- schen der Partei der von der Regierung burg (– das im Vortrag von Bischof Ru- schofs Johann Nepomuk Wolf (1821– gestützten Aufklärer und der um eine dolf Voderholzer ausführlich dargestellt 1829). Am 20. Mai 1832 verstarb Sailer geistige Neuorientierung ringenden ist. Anmerkung der Redaktion –) um- in der Bischöflichen Residenz zu Re- Gruppe um Savigny, Röschlaub, Rings- fasste insgesamt rund zehn Jahre. Viel gensburg. Seine letzten Worte waren: eis und Schelling, der Romantiker, wie beachtet waren seine Pastoralreisen „Wie Gott will. Herr, da bin ich“. man sie später nannte, deren geistiges durch das Bistum, die Visitationen und Mit Johann Michael starb ein Fähr- Haupt Sailer war. vor allem die Feier des Firmsakramen- mann des Glaubens, der das Schiff der Sailer litt außerdem zunehmend an tes, die mancherorts schon Jahrzehnte Kirche in sturmbewegter Zeit an neue der Ausrichtung der Priesterbildung, nicht mehr abgehalten worden war. Ufer geleitet hatte. In radikaler Hinwen- wie sie staatlich unterstützt vor allem Auch als begeisternder Prediger blieb dung zum einzigen Quellgrund des vom Regens des Herzoglichen Georgia- Sailer dem Volk in Erinnerung. Zuneh- Glaubens, Jesus Christus, hat er in le- nums, Matthäus Fingerlos, betrieben mend forderte freilich das hohe Alter bendiger Unmittelbarkeit aus diesem und vom Liturgiker Vitus Anton Winter seinen Tribut, angesichts der strapazier- Glauben geschöpft und mit erneuertem umgesetzt wurde. Nicht „Zeit-Geistli- ten Gesundheit musste sich Sailer zu Wasser den Strom der Überlieferung che“, wie Sailer die von jenen ausgebil- Kuraufenthalten begeben, so nach Wies- aufbereitet, belebt und weitergetrieben. deten Priester nannte, wollte er bilden, baden, Karlsbad oder Marienbad. Wich- Er, der „bayerische Kirchenvater“, der Prof. Dr. Konrad Baumgartner, sondern „Geistlich-Geistliche“, nicht tige kirchenpolitische Maßnahmen fie- „Heilige einer Zeitenwende“, hat dem Regensburg Diener des Staates, sondern Diener Jesu len in seine Regensburger Zeit: So die Christsein und dem pastoralen Handeln Christi. Von solchem Geist war seine Wiedereröffnung der in der Säkularisa- damals entscheidende Impulse vermit- Priesterschule geprägt, mit solchen Pries- tion aufgehobenen Klöster, vor allem telt, die in ihrer Wirkkraft bis in unsere tern waren in den folgenden Jahrzehn- des Benediktinerordens, wie das Kloster Zeit hereinreichen. Wer war dieser dort Professor für Ethik und Pastoral- ten die verantwortlichen Seelsorgestel- in Metten 1830, oder der sog. Misch- Mann, worin besteht sein Werk, worin theologie. Dieses Jahrzehnt sollte die len überall im Land und die Lehrstühle ehenstreit. Und nach wie vor lag Sailer seine Wirkung über seine Zeit hinaus, große Zeit seines Wirkens werden. Er an den Hochschulen besetzt, ehe ab der die Priesterbildung am Herzen, aber welche Bedeutung hat er für uns heute? war der gefeierte, aber eben darum auch Mitte des 19. Jahrhunderts ein anderer auch die Sorge für Arme und Kranke Am 17. November 1751 wurde Sailer beneidete und zuweilen verleumdete Priester- und Bischofstyp vorherrschend durch eine tätige Caritas. als Sohn eines Schuhmachers in Are- Lehrer, der erstmals als einziger an der wurde: der ultramontane, der an den Seit Beginn der Dreißiger Jahre ver- sing bei Schrobenhausen im Kreise ei- Fakultät die bislang lateinischen Trakta- römischen Weisungen und am römi- schlechterte sich der Gesundheitszu- ner gläubigen Familie geboren. Nach te in deutscher Sprache vortrug, der mit schen Stil starr ausgerichtete. Sailer stand von Sailer zunehmend. Nach zwei der Zeit der Volksschule kam der junge den Studenten im Hörsaal Bibelgesprä- aber lebte und lehrte nach der Kurzfor- Hansmichel nach München ans Gym- che führte, der auch außerhalb des Lehr- mel des Glaubens „Gott in Christus – nasium. Zwei Schnepfen, unterwegs er- betriebs fröhlichen Umgang mit ihnen das Heil der Welt“. Über seine Schüler und sei- worben, halfen werbend dabei nach, pflegte, der die Kranken unter ihnen be- Sailer hat in seiner Landshuter Zeit dass der kleine Studiosus bei seinen suchte und vielen auch ein spiritueller immer wieder Einladungen zu berufli- ne Schriften wurde Johann Gasteltern gut aufgenommen wurde. Begleiter und Ratgeber war, der unge- chen Tätigkeiten anderswo erhalten, die Michael Sailer in vielen Immer wieder erzählte der spätere Pro- zählte Priester ausbildete – weit über finanziell verlockender und mit kirchli- fessor und Bischof die Geschichte von das Bistum Augsburg hinaus und so ei- chen Würden verbunden gewesen wä- Ländern Europas bekannt. den beiden Schnepfen: „Gott hat mich nen Kreis von Schülern und Freunden ren, z. B. die Stelle eines Domherren in durch sie zu dem gemacht, was ich bin.“ formte, mit denen er Brief- und Be- Klagenfurt oder eines Professors an den Noch das Grabdenkmal Sailers im Dom suchskontakt pflegte. Sailer war in den Universitäten Heidelberg, Luzern, Müns- Schlaganfällen verfiel er am 19. Mai zu Regensburg zieren flankierend rechts Beichtstühlen der Kirchen und auf de- ter und Breslau. 1818 war an ihn ein 1832 in Bewusstlosigkeit, bis er spiritu- und links diese Vögel. ren Kanzeln zu finden, am Bett von Ruf an die neu errichtete Universität in ell und sakramental begleitet durch sei- Das Vorbild der Jesuiten an seinem Kranken und Sterbenden – oder auch Bonn ergangen. Man stellte ihm dabei nen Freund, Weihbischof Georg Michael Gymnasium ließ in Sailer den Wunsch in der Gefängniszelle, wo er einen Mör- die mögliche Nachfolge als Erzbischof Wittmann, am nächsten Morgen ver- aufkeimen, selbst der Gesellschaft Jesu der die ganze Nacht auf seine Hinrich- von Köln in Aussicht. starb. anzugehören. Von 1770 bis 1773, dem tung am frühen Morgen vorbereitete, ja, Aus all dem wird ersichtlich, dass Am 23. Mai wurde Sailer im vorde- Jahr der Aufhebung des Ordens, war er mit dem er gemeinsam auf dem Hin- Sailers Ruf im Laufe der Zeit weit über ren südlichen Seitenschiff des Domes dessen Mitglied. Nachdem er von 1772 richtungskarren fuhr und auf dessen Bayern hinaus gedrungen war, schließ- beigesetzt. Als König Ludwig I. einige bis 1775 an der Universität Ingolstadt Schafott er der schaulustigen Menge lich galt er als einer der fähigsten Theo- Zeit später am Grabe Sailers stand, sag- Philosophie und Theologie studiert hat- eine erschütternde Predigt hielt. logen in Deutschland. Über seine Schü- te er: „Hier ruht der größte Bischof te, wurde er 1775 in Augsburg zum Pries- Seine bedeutenden philosophischen, ler und seine Schriften wurde Johann Deutschlands.“ Links vom Grab aber ter dieser Diözese geweiht. Es war eine ethischen, theologischen und spirituellen Michael Sailer in vielen Ländern Euro- ließ der König ein Grabdenkmal errich- stürmische Zeit des Kampfes zwischen Schriften umfassen eine Gesamtausgabe pas bekannt: in der Schweiz, in Italien ten, das den Lehrer und Bischof sitzend Jesuiten und ihren Gegnern, auch Sailer in vierzig Bänden, dazu kommen noch und in den Niederlanden, in Preußen zeigt, neben ihm zwei Kinder. Das eine wurde als Exjesuit mit hineingezogen. ungezählte ungedruckte und inzwischen und Schlesien. Mit der Entscheidung, hält das Neue Testament in Händen, 1780 wurde Sailer neben seinem Leh- gedruckte Briefsammlungen. Verständ- ob er eine der Berufungen außerhalb das andere zeigt die aufgeschlagene rer Benedikt zum zweiten Professor für lich, dass Sailers faszinierendes Wirken, Bayerns annehmen sollte, kämpfte Sai- Seite eines Buches, in dem zu lesen ist: Dogmatik ernannt. Er stand noch ganz sein Erfolg im literarischen Schaffen und ler oft lange. Wenn er schließlich ab- „Gott in Christus – das Heil der sündi- im Schatten seines Lehrers und musste seine geistige Überlegenheit Neider und lehnte, gab er als Grund an, er möchte gen Welt.“ Am Sockel sind das Wappen wie er viele Angriffe erleiden. Schon ein Verleumder auf den Plan riefen, die bei seinen Freunden bleiben und in sei- Sailers und die beiden Schnepfen zu Jahr später wurden die beiden als „Ex- schließlich seinen Sturz und seine Ent- nem Vaterland. sehen. Jesuiten“ von der Universität entfernt. lassung aus dem Lehrfach auslösten. Seit seiner Entlassung in Dillingen Drei Brachjahre folgten, die Sailer zu aber gab es immer wieder Misstrauen, IV. Johann Michael Sailer im Urteil intensiver Arbeit nutzte: zum Studium II. Wechselhafte Jahre in Landshut Argwohn und Verdächtigungen gegen von Zeitgenossen und der Nachwelt und zur Erstellung eines vielbeachteten ihn, nicht zuletzt wegen seiner Kontak- „Lese- und Gebetbuches“. Selbst bei Am 4. November 1794, als Sailer auf te zu den evangelischen und reformier- Aus den vielen Würdigungen Sailers Protestanten wie der gräflichen Familie dem Weg zum Eröffnungsgottesdienst ten Christen oder auch wegen seiner von Seiten seiner Freunde und Schüler Stolberg in Wernigerode und bei Refor- für das neue Studienjahr war, wurde Beziehungen zur Allgäuer Erweckungs- seien ein paar charakteristische zitiert. mierten wie Lavater in der Schweiz ihm vom Pedell der Hochschule auf der bewegung. So schrieb Johann Kaspar Lavater 1786: fand Sailer damit Anerkennung – und Treppe das Entlassungsschreiben über- Solche Skepsis verstärkte noch das „Ich habe seit mehreren Jahren Herrn lebenslange Freunde, aber auch Feinde, reicht, adressiert „An Johann Michael berühmt-berüchtigte Gutachten von Professor Sailers von Ingolstadt Brief- die ihn der „Proselytenmacherei“ be- Sailer Benefiziat in Aislingen“. Klemens Maria Hofbauer, der nach nur wechsel und Freundschaft genossen und zichtigten. Sailer ging nach München, sein einem und noch dazu sehr kurzen Be- ihn immer als einen edlen, guten, wei- Die nächste Station im Leben Sailers Freund aus Ingolstädter Zeiten, Sebas- such bei Sailer vor Jahren in Ebersberg sen Mann angesehen und war ihm durch war Dillingen: von 1784 bis 1794 war er tian Winkelhofer, nahm ihn zunächst sich äußerst negativ über ihn geäußert mein sittliches Gefühl verbunden.“

zur debatte 5/2014 5 Beeindruckend ist auch das Zeugnis Paul II. zu sehen, das dieser – sicher in- von Joseph Beck, der seinerzeit in spiriert von Joseph Kardinal Ratzinger – Bischof Johann Michael Sailer wieder auf Ebersberg Sailer Zuflucht gewährte: an Bischof Rudolf Graber 1982 nach „Johann Michael Sailer war ein Theolo- Regensburg schrieb. Darin heißt es: dem Emmeramsplatz ge von tiefer christlicher Überzeugungs- „Johann Michael Sailer wird nicht nur treue, der mit gewinnender Wärme des als Kirchenlehrer von Deutschland, Eberhard Dünninger Gefühls und dem Zauber seiner Rede sondern von ganz Europa verehrt ... Mit die Herzen der Zuhörer zu bewegen Recht lautet das Urteil über ihn: Erfolg- und an sich und seine Sache zu fesseln reicher Urheber der katholischen Er- wusste.“ Und Ferdinand Stolberg notier- neuerung in seinem Vaterland, scharf- te 1800: „Unter allen Menschen, die ich sinniger Verfechter der rechten Lehre, kennengelernt habe, ist keiner, der mir schließlich geradezu Vorbote der neue- das sein könnte, was Sailer mir ist.“ ren ökumenischen Bewegung.“ I. Verbundenheit von Ludwig I. mit Eduard Schenk, der Sailer von Lands- Regensburg und Sailer hut her kannte und dessen Briefwechsel V. Sailers bleibende Bedeutung für mit Sailer noch 2014 veröffentlicht wird, Theologie und ihre Disziplinen Die Rückkehr des Standbildes von schrieb 1820: „Sailer war in einer Zeit, Johann Michael von Sailer auf den Em- wo alle kirchlichen Anstalten zertrüm- Wenigstens in Andeutungen soll zur meramsplatz ist ein Anlass zu freudiger mert oder verkümmert waren, die bleibenden Bedeutung von Sailer festge- Dankbarkeit. Dieser Dank gilt vor allem Hauptstütze der katholischen Kirche in halten werden: König Ludwig I., der dieses Denkmal in Bayern, ihm verdankt das Vaterland ei- • Der Christ lebt wie Sailer aus der Auftrag gegeben und der Stadt Regens- nen großen Teil des religiösen inneren Heiligen Schrift und mit ihr. Theorie burg geschenkt hat. Sein Standbild für Lebens, namentlich unter dem Klerus, und Praxis der gemeinsamen Geistli- Sailer ist ein bemerkenswertes Zeugnis das sich aus jenen Stürmen noch her- chen Schriftlesung gehen auf Sailer zu- für seine Beziehung zur Stadt Regens- übergerettet hat.“ rück (Peter Scheuchenpflug). burg und zu dem Bischof, seinem einsti- Solange Schüler und Freunde Sailers • Der Christ antwortet wie Sailer auf gen Lehrer an der Universität Landshut, lebten und in seinem Geiste wirkten, die Offenbarung Gottes, auf „Gott in dem er den Weg nach Regensburg ins solange Männer aus seiner Schule auf Christus – das Heil der Welt“, durch das bischöfliche Amt geebnet hat. Bischofsstühlen waren (Passau, Eich- gemeinsame und persönliche Gebet. Es ist gut, bei diesem Anlass an die stätt, Regensburg), solange blieben auch „Sailer hat unser Volk damals wieder Verbundenheit des Königs mit Regens- die Erinnerung an ihn und die Vereh- beten gelehrt. Dies ist sein Vermächtnis burg zu erinnern, die begründet war in rung seiner Person lebendig. Nach der auch an unsere Zeit: dass wir von ihm seinem Geschichtsbewusstsein und in Mitte des 19. Jahrhunderts aber wurden her und mit ihm wieder beten lernen, seiner Überzeugung von der über ein sein irenischer Geist und seine ökume- die Freundschaft mit Christus erlernen, Jahrtausend zurückreichenden Ge- nische Gesinnung mehr und mehr in die die wahre Mitte des Lebens ist“ schichte dieser Stadt als einem Mittel- Frage gestellt, ja, von neuem verdächtigt (Joseph Ratzinger). punkt Bayerns. 1830 richtete er an die und bekämpft. • Der Priester soll ein „geistlicher Stadt und ihre Bürger ein königliches Prof. Dr. Eberhard Dünninger, Mensch“ und ein „ menschlicher Geist- Wort: „Ich freue mich, nach Regensburg Regensburg licher“ sein (Konrad Baumgartner). Der zu kommen; ich war schon längst wil- Bibelorientierung und „Geistlich-Geistliche“ ist für die Pries- lens, diese Stadt zu besuchen, ich wollte terbildung eine Zentralgestalt. Dabei aber zugleich die Legung des Grund- Christozentrik sind die neu- lebt der Priester in der Welt, aber nicht steins zur damit verbinden. an seinem Grabe lässt ihm König Lud- en Akzente seiner Lehre von der Welt, sondern für Jesus Chris- Ich kenne euere Lage sehr wohl; Re- wig durch die Hand des sinnvollen tus, seinen Freund und Bruder. Dies gilt gensburg hat viel durch den Reichstag Bildhauers Konrad Eberhard setzen, – und seiner Praxis. auch, wie Sailer vorbildhaft zeigt, für verloren; diesen kann ich nicht erset- als letzten Beweis liebender Verehrung die Begegnung des Priesters mit den zen, was ich aber tun kann, soll gesche- für den verewigten, dessen Gestalt auf Menschen. hen und tue ich gern. Regensburg hätte demselben in bischöflichem Ornate sit- Es war vor allem einer seiner Nach- • Sailers „spirituelle Ökumene“ bei seiner vorteilhaften Lage an dem zend, an einem Buche schreibend und folger auf dem Regensburger Bischofs- (Franz Georg Friemel) ist geprägt vor mächtigen Donaustrome mit seinem zum Himmel emporblickend gleich ei- stuhl, Ignatius Senestrey (1858–1906), allem von Begegnungen: Er besucht die milden Klima der Regierungssitz der nem Kirchenvater, dargestellt ist.“ der das Andenken Sailers zu zerstören nichtkatholischen Christen, tauscht sich bayerischen Regenten bleiben sollen.“ Bewegend ist die Erinnerung an Sai- suchte. 1873 reichte er persönlich in mit ihnen aus, betet mit ihnen und sucht Ludwigs Verhältnis zu seinem Lehrer ler von Melchior von Diepenbrock, der Rom eine von dem Redemptoristen- mit ihnen die Mitte der Heiligen Schrift, Sailer war geprägt von Vertrauen und Generalvikar in Regensburg und später Provinzial Schmöger verfasste Anklage- Jesus Christus. So entsteht eine geistliche tiefer Frömmigkeit, aber auch von Fürstbischof und Kardinal in Breslau schrift ein, welche zum erklärten Ziel Freundschaft mit ihnen, sie schauen ge- freundschaftlicher Beziehung. Als kö- war: „Er genoß weithin durch Deutsch- hatte, die Werke Sailers auf den Index meinsam auf Christus. Visionär ist das niglicher Besuch hatte sich Ludwig I. land bei den Edelsten und Besten den zu bringen. Hintergrund war das Bemü- Wort von Sailer: „Wer die Zeichen der im Mai 1829 im bischöflichen Sommer- wohlverdienten Ruf und Ruhm eines hen der Redemporisten Klemens Maria Zeit zu forschen nicht ganz untüchtig sitz in Barbing eingefunden und sich ausgezeichneten Lehrers, eines beredten Hofbauer zur Ehre der Altäre zu erhe- ist, wird längst wahrgenommen haben, „bei dem lieben, hochgeschätzten Bi- Predigers, gelehrten Theologen, frucht- ben. Diesem Vorhaben stand aber das dass der große Kampf der Geister sich schof Sailer“ zu Tische geladen. „Wie baren Schriftstellers, erleuchteten See- seinerzeitige Urteil über Sailer im Weg: nicht so fest um die einzelnen Unter- sehr ich mich freue, Sie wieder zu se- lenführers, frommen Priesters und apos- Entweder hatte er diesen damals zu Un- scheidungslinien zwischen Christen und hen, dieses braucht hoffentlich nicht zu tolischen Bischofes, kurz eines treffli- recht verleumdet, dann war dies ein Christen, sondern ... um den lebendigen versichern der so viel auf Sailern hal- chen großen Mannes; er war dies alles Hinderungsgrund für seine Kanonisie- Glauben an einen lebendigen Gott dre- tende Ludwig“, hieß es im Vorfeld des in hohem Grade; aber noch viel größer rung, oder sein Urteil über Sailer war he.“ Besuchs aus Ludwigs Feder. In Regens- erschien er mir im täglichen vertrauten richtig, dann konnte man diesen zum • Sailer wendet sich als Seelsorger im burg und seinem Umland wird die Erin- Umgange als Mensch, als Christ. Elf Ketzer erklären. Senestrey aber war von Geiste Jesu den Menschen zu, vor allem nerung an Sailer bis heute mit dem Jo- Jahre hindurch habe ich in ununterbro- der Seherin Luise Beck, die in Altötting auch den Kranken und Leidenden, den hann Michael Sailer-Brunnen und der chenem Verkehre mit ihm gelebt, die neben den Redemptoristen wohnte und Sündern und Ausgestoßenen. Sein Um- Namensgebung der Volksschule in Eh- letzten acht Jahre als sein nächster Haus- Beraterin von so manchen kirchlichen gang mit Frauen ist vorbildhaft: Er ist ren gehalten. und Tischgenosse, habe ihn bei seinem Persönlichkeiten war, zugesichert wor- ihnen geistlicher Freund und spiritueller sommerlichen Landaufenthalte im na- den, dass seine privaten Probleme nicht Begleiter. II. Einblicke in die schriftlichen hen Schlosse Barbing (das ihm König ans Licht der Öffentlichkeit kommen Sailer hat die „Orientierung am Volk“ Zeugnisse Ludwig freundlich angewiesen hatte) würden, wenn er Sailer bekämpfte. Rom als Aufgabe der Pastoraltheologie und und auf mehreren größeren Reisen in freilich hat diese Anklage nicht weiter der Seelsorge verstanden – und zwar Wer heute an Sailer und die ihm von die Schweiz und an den Rhein begleitet, verfolgt, die Anklageschrift verschwand aus der Perspektive „Gott in Christus – König Ludwig I. gewidmeten Denkmä- habe unter seiner Leitung seinen weit- im Geheimarchiv des Heiligen Offizi- das Heil der Welt“. Bibelorientierung ler erinnern will, muss dies mit einem ausgebreiteten Briefwechsel mit den ums, bis sie in unseren Tagen wieder und Christozentrik sind die neuen Ak- Blick auf die Zeugnisse seiner Wegge- verschiedensten Menschen über die ver- entdeckt wurde. zente seiner Lehre und seiner Praxis. fährten und Zeitgenossen tun. Regie- schiedensten Verhältnisse größtenteils So wird klar, dass 1882 zum 50. To- Biblische Impulse hat Sailer auch der rungspräsident Eduard von Schenk er- geführt, bin in alle seine Freundschafts- destag in Regensburg das Andenken Moraltheologie gegeben. Das gesamte innert sich noch 1838 an die Beisetzung und Geschäftsbeziehungen eingeweiht Sailers nicht erwähnt wurde, ja, dass Leben des Christen steht für ihn unter von Sailer: „Groß war die Theilnahme worden, habe ihn stündlich beobachtet dieses Andenken bis ins 20. Jahrhundert dem Anspruch der Gnade zur Bekeh- der Bewohner von Regensburg aus allen in gesunden und kranken Tagen, in hei- hinein verdunkelt blieb. Auch der 150. rung (Johannes Gründel). Sailers Erzie- Ständen und Glaubensbekenntnissen tern und trüben Stunden, in Monaten Geburtstag Sailers 1901 fand – immer hungslehre darf als erste Religionspäda- bey seiner feyerlichen, mit dem ganzen der höchsten Anerkennung und wieder noch war Senestrey Bischof – keine gogik im modernen Sinn bezeichnet Pomp der Kirche umgebenen Beerdi- der bittersten Kränkung, gegenüber den Aufmerksamkeit. Erst in den nachfol- werden (Johann Hofmeier). „Bischof gung; die auch seine Schriften nicht ge- verschiedensten Menschen, Großen und genden Jahrzehnten erfolgte eine all- Sailer ist zu jeder Zeit besonders geeig- lesen, seine Person nicht näher gekannt, Kleinen, Freunden und Gegnern, Gön- mähliche Wiederentdeckung und Reha- net, und er verdient es, dass Lehrer und sein Wirken nicht beobachtet hatten, nern und Neidern, begeisterten Bewun- bilitierung Sailers – im Umfeld des 100. Seelsorger auch unserer Zeit auf ihn wußten doch von seinem Ruhme und derern und kalten Beobachtern und Todestages 1932, des 200. Geburtstages schauen, ihn durch und durch kennen- Alle sahen mit ihm die erste Leuchte Lauschern – und ich kann vor Gott ver- 1951, des 150. Todestages 1982 und des lernen, dass sie ihn durch das eigene der katholischen Kirche in Bayern zu sichern: ich habe ihn nie klein, nie sich 250. Geburtstages 2001. Als Höhepunkt Wirken zu neuem Leben erwecken und Grabe tragen. Sein Grab war bereitet in ungleich, nie stolz oder eitel, nie gereizt, der positiven Würdigungen von Sailer ihn ständig vor Augen haben“ (Johan- seiner Domkirche im Seitenschiffe zur nie entmutigt, nie erzürnt oder ver- ist das Schreiben von Papst Johannes nes Paul II.). „ Linken des Hochaltars; … das Denkmal drießlich, und wenn auch zuweilen tief

6 zur debatte 5/2014 verletzt und betrübt, doch nie außer Fassung, nie leidenschaftlich bewegt, stets aber seiner selbst würdig gefunden, habe ihn stets als ein Musterbild vor mir stehen sehen, an dem man sich erhe- ben, erbauen und lernen konnte, ein Mann, ein Christ zu sein.“ Über ein öffentliches Denkmal in Regensburg, das Ludwig I. neben dem Grabdenkmal von Anfang an zu errich- ten beabsichtigte, schrieb Max von Gut- schneider, Regierungspräsident in Re- gensburg, am 4. Juni 1866 an Ludwig: „Der Emerans-Platz ist in Regensburg der einzige, welcher denen mir durch Euerer Majestät Kabinetssekretariat be- zeichneten Eigenschaften für Aufstel- lung eines Standbildes vollkommen ent- spricht. Er bildet ein fast rechtwinkli- ches [!] Viereck, ist ganz eben und frei.“ Der Emmeramsplatz sei an drei Seiten von hohen Regierungsgebäuden umge- ben. „Das Standbild“, so der Regie- rungspräsident weiter, könne „in dessen Mitte gegen Süd- nach der Emerans- Kirche“ aufgestellt werden.

III. Zur Errichtung des Standbildes

Mit der Gestaltung des Standbildes beauftragte Ludwig den bekannten Münchner Bildhauer Professor Max Widnmann. Dieser sollte „in der Größe der bisherigen Standbilder das Stand- bild des Bischofs J. M. v. Sailer für S. Majestät modellieren, im langen Talar, ohne Mitra, aber auch nicht mit kahlem Kopfe, sondern der leichten Perücke, welche er in seinen letzten Lebensjah- ren trug.“ Als Muster könne der Künst- ler eine „Gypsbüste nach dem Leben, modelliert von Haller 1825“ benutzen, die sich in der Büsten-Sammlung der Neuen Pinakothek befinde. Als Hono- rar wurden 1500 Gulden in Aussicht ge- stellt. In einem Schreiben vom 11. Sep- tember 1867 sagte Widnmann die Ein- haltung dieses Termins zu und gab sei- ner Freude darüber Ausdruck, „einen der bedeutendsten Kirchenfürsten die- ses Jahrhunderts, dessen segensreiche Wirksamkeit noch heute im Andenken des jetzt lebenden Geschlechtes fort- wirkt“, darstellen zu dürfen. Kurze Zeit später war das Projekt in Regensburg öffentlich bekannt. Am 3. November 1866 meldete das „Re- gensburger Morgenblatt“, das Denkmal für den Lehrer des Königs werde eine Höhe von zehn Metern haben. Bildhau- er Widnmann habe die „diesbezügliche Skizze bereits vollendet, und ist solche von dem kunstsinnigen Fürsten geprüft und genehmigt worden.“ Der Bildhauer werde seinem Auftrag entsprechend „das Modell“ bis zum Mai 1867 fertig haben, um es dann an die königliche Foto: Michael Wingenfeld Erzgießerei übergeben zu können, da Die Statue auf dem Transport zu ihrem für 1868 die Enthüllung des Denkmals Standort auf dem Sankt Emmerams- vorgesehen sei. platz Im Januar 1867 schrieb der Kabi- nettssekretär Ludwigs an den Magistrat von Regensburg: „Wie dem verehrtesten Stadtmagistrate aus Zeitungsberichten bereits bekannt seyn dürfte, haben Se. Majestät der König Ludwig I. vor, Aller- Georg Zöllner aus Friedenfels den Auf- Der Guss des Denkmals, der dem re- der Enthüllungsfeier bekannt. Zu dieser höchst Seinem ehrwürdigen Lehrer, trag für die Lieferung und Setzung des nommierten Erzgießer Ferdinand von waren das gesamte Domkapitel, die bei- dem Bischof von Sailer in Regensburg Fußgestells erhielten. Miller übertragen worden war, erfolgte den Gemeindekollegien und hohe kö- ein ehernes Standbild aus Allerhöchst Ludwig I. hatte in einem Schreiben im Januar 1868. Es geriet letztendlich nigliche Beamte geladen, an der Spitze Seinen Privatmitteln zu errichten.“ Lud- aus Rom vom 19. Februar 1867 für den wesentlich kleiner, als ursprünglich vom der Regierungspräsident, dem die Ge- wig habe sich für den Emmeramsplatz 20. Mai des darauf folgenden Jahres, König vorgesehen. Die Figur hat eine staltung und der Ablauf der Festlichkeit entschieden und zwar „der Art, daß die dem 36. Todestag Sailers, die Enthül- Höhe von ca. 2,80 Metern, der Sockel oblagen. Der „Kalender für katholische Vorderseite des Standbildes, wenn nicht lung des Denkmals vorgesehen. Von ist 2,40 m hoch und misst in Tiefe und Christen“ schrieb dazu: „Nachdem um gewichtige Gründe dagegen sprechen, dessen Inschrift hatte Ludwig I. auch Breite je 1,26 m. 9 ½ Uhr unter Assistenz des Bischofs gegen Süden gekehrt seyn solle.“ Der genaue Vorstellungen. Sie sollte lauten: und des Gesammtklerus ein Hochamt, Stifter wünsche, dass im Mai 1868 die „Joh. Mich. v. Sailer IV. Feierliche Enthüllung welchem die Behörden und das Offi- Enthüllung stattfinden könne. Mit der Bischof v. Regensburg ziercorps anwohnten, in der Em- Fundamentierung und Ausführung des Errichtet von Ludwig I. König v. Bayern Die Enthüllung des Denkmals fand meramskirche abgehalten worden war, „Fußgestells“ sollte nach seinem Willen 1868“ dann wirklich am 20. Mai 1868 statt. bewegte sich um 10 ½ Uhr der Zug aus der städtische Architekt Eduard Pahl Die vorhandene Inschrift auf der Ludwig I. erlebte den Abschluss des der Kirche an den daran stoßenden beauftragt werden. Ludwig stellte dafür Vorderseite des Sockels ist allerdings Werkes nicht mehr, da er wenige Wo- reich beflaggten Emmeramsplatz, wo al- 3.500 Gulden zur Verfügung. Die Stadt deutlich kürzer: chen vorher verstorben war. Der Gene- ler Augen sich auf das noch verhüllte führte ein Ausschreiben durch, das dazu JOH. MICH. V. SAILER ralleutnant und Hofmarschall des ver- Monument richteten. Nachdem eine führte, dass die Steinmetzmeister Er- BISCHOF storbenen Königs Freiherr von La Ro- Festhymne erklungen, übergab Regie- hard Ackermann aus Weißenstadt und VON REGENSBURG che gab der Stadt die Programmfolge rungspräsiden v. Gutscheider im Namen

zur debatte 5/2014 7 des Königs, in kurzen Worten Sailers Bedeutung und des verstorbenen Kö- nigs Dankbarkeit hervorhebend, das Denkmal der Stadt, in deren Namen ein Magistratsmitglied dankte. Hierauf sank die Hülle und zeigte der überraschten Menge die milden Züge des gefeierten Kirchenfürsten. Es erschallte nun eine zweite Hymne, welcher ein donnerndes Hoch auf seine Majestät den König folgte. Hiermit war die Feier geschlos- sen.“ Die enorme Wertschätzung Sailers kam auch in Berichten der Regensbur- ger Tagespresse über die Denkmalsent- hüllung zum Ausdruck. Das „Regens- burger Morgenblatt“ zitierte ausführlich die Ansprache, die Regierungspräsident von Gutschneider im Auftrag des Kö- nigs hielt. Er dankte Ludwig I. als dem hochherzigen Stifter dieses Denkmals und rühmte Sailer, der seine Pflicht „lie- bevoll und duldsam, ohne Ehrgeiz und Eigennutz, unerschöpflich im Wohltun“ erfüllt habe. „Seine zahlreichen literari- schen Werke und noch mehr die Früch- te seines Waltens und Wirkens als Mensch, Priester und Gelehrter haben sein Ansehen und seinen Ruhm weit über die Grenzen seiner Diözese und des Vaterlandes hinaus getragen.“ Selbst das „Regensburger Tagblatt“, ein „Organ des Regensburger Liberalis- Professor Kunibert Schäfer (Mi.) leitete & Kirchenpädagogik Regensburg. Die mus“, das in Konfrontation zu Klerus den „Neuen Kammerchor“ der Hoch- Sängerinnen und Sänger gestalteten die und Katholizismus stand, befasste sich schule für katholische Kirchenmusik Tagung musikalisch. sehr wohlwollend mit dem Vorgang. Es erwähnt eingangs die Teilnahme des Bi- schofs, des Domkapitels, von königli- chen und städtischen Behörden sowie der in Regensburg stationierten Offizie- re und zitiert dann neben der Rede des Regierungspräsidenten auch die des Rechtsrates Fux, der die Stadt vertrat: V. Unehrenhafter Fortgang der Ereig- die am Schlachthof „an verdeckter Stel- VI. Probleme bei der Rückführung „Die Stadt Regensburg,“ so dieser Red- nisse um das Denkmal le unter Schutt gelegene Denkmalsfigur ner, „für welche der höchst selige König nicht die des Bischofs Sailer“ sei. Eine Allerdings konnte das Monument Ludwig I. schon so Großes gethan, ist Der Ungeist des Nationalsozialismus Überprüfung ergab, dass es sich bei die- nicht mehr an seinen alten Standort am in diesem Augenblick um eine neue hat sich von der Überzeugung, die in ser Figur, bei welcher der Kopf fehlte, in Emmeramsplatz zurückkehren. Dort herrliche Kunstschöpfung reicher ge- diesem Denkmal zum Ausdruck kam, Wirklichkeit um eine Darstellung des war in der Zeit des „Dritten Reiches“ worden. Das vor unserem entzücktem losgesagt. Er verkannte und missachtete Abtes Bonifaz Wimmer handelte, die ein Löschteich angelegt worden. „Der Blicke stehende Denkmal wird in späte- offensichtlich auch den künstlerischen nach Thalmassing gehörte. Der Verbleib Teich wurde nach dem Kriege abgelas- ren Jahrhunderten noch erinnern an die Rang des Standbildes. Ludwig I. hatte des Sailer-Standbildes blieb zunächst sen und eingefüllt.“ Laut Dolhofer Liebe des verewigten Monarchen zu sei- mit Bedacht den erfahrenen Bildhauer ungeklärt. musste er erhalten werden. Nach eini- nem Volke; es wird erinnern an seinen Max von Widnmann als Schöpfer zahl- Ende Juli 1948 erreichte das Regens- gen Beratungen und Verhandlungen mit noch von keinem Fürsten übertroffenen reicher Standbilder, auch für Würzburg burger Ordinariat ein Schreiben eines dem betreffenden Grundstückseigentü- Sinn für alles Edle, Schöne, Gute, es und , und den Meister der Erz- nicht näher bezeichneten Friedrich mer, der Deutschen Bundesbahn, ent- wird erinnern an den hohen Grad der gießerei, Ferdinand von Miller, mit sei- Schilling aus Hamburg mit der Bitte, ein schloss sich die Stadt schließlich, das Vollendung und Blüthe, zu welcher die nem königlichen Auftrag bedacht. Die auf einem beiliegenden Foto abgebilde- Denkmal an der Maximilianstraße, in Kunst im Bayerlande im 19. Jahrhun- Nationalsozialisten verdrängten das tes Denkmal als das Bischof Sailers zu den Anlagen vor dem Hauptbahnhof, dert unter dem Schutz bayerischer Re- Reiterstandbild von König Ludwig, das bestätigen. Das Ordinariat erkannte es aufzustellen. genten gediehen.“ „Den Schluß der Fei- ihm 1902 die „dankbaren Bürger Re- mit Bestimmtheit als eben solches und Die neuerliche Enthüllung des Denk- er“, so wieder das „Regensburger Mor- gensburgs“ gewidmet hatten, 1936 vom ließ Schilling bitten, „durch seine tat- mals fand in feierlichem Rahmen am genblatt“, „bildete der 98. Psalm für 8 Domplatz in die Anlagen vor dem kräftige Mithilfe das Denkmal für Re- 11. November 1951, dem 200. Geburts- Männerstimmen von Mendelsohn, wel- Hauptbahnhof. Von dort kehrte es erst gensburg zurückzugewinnen.“ Am 27. tag Sailers, statt. Erzbischof Dr. Michael chen die Sänger unter der Direktion des vor wenigen Jahren wieder an seinen al- September 1948 teilte Friedrich Schil- Buchberger und Oberbürgermeister H(er)rn Inspectors Witt meisterhaft vor- ten Platz zurück. Das Standbild von ling dem „Generalvikariat“ in Regens- Georg Zitzler luden mit folgenden Wor- trugen.“ Sailer wurde 1942 abmontiert. Es sollte burg mit, dass „das Bronzestandbild des ten gemeinsam zu der Veranstaltung „Der Platz für das Denkmal“, so Josef auf dem „Glockenfriedhof“ von Ham- Bischofs Joh. Mich. von Sailer zur Rück- ein: „Am 17. November jährt sich zum Dolhofer, „war gut ausgewählt worden. burg für Kriegszwecke eingeschmolzen gabe freigegeben worden ist“. Die Aus- 200. Male der Geburtstag des um Kir- Eine eiserne, 80 Zentimeter hohe Um- werden. lieferung hing allerdings „vom Rückkauf che und Vaterland hochverdienten Bi- friedung in einer weiteren Entfernung Es gilt als Verdienst des für Regens- von den Zinnwerken Wilhelmsburg“ ab. schofs Johann Michael Sailer. In einer vom Denkmal gab dem Standbild den burg so segensreich wirkenden Muse- Diese Firma hatte „im Krieg den Mate- Zeit des tiefsten Verfalls war er Wieder- Charakter einer geschützten Ruhe. Die umsdirektors Dr. Walter Boll, dass das rialwert des Denkmals an das Reich be- erwecker des christlichen Glaubens, erste Umfriedung wurde 1870 und die vor der Zerstörung durch Zufall be- zahlt und macht jetzt ihre Ansprüche Apologet seiner Kirche, treuer Berater zweite, erneuert im September 1894, in wahrte Denkmal ausfindig gemacht und geltend“. Generalvikar Franz leitete die- und Freund seines Königs, Lehrer und Halbkreisform aufgestellt. Das Denkmal nach Regensburg zurückgeführt werden se Nachricht an den Stadtrat von Re- Erzieher des Volkes, der Jugend und be- in seiner ganzen Erscheinung zeigt konnte. Die im Bischöflichen Zentralar- gensburg weiter, da das Standbild „vor sonders der Priester, Mittelpunkt und Würde und Selbstbewusstsein.“ Die Sta- chiv überlieferten Archivalien korres- der Beanspruchung Eigentum der Stadt- Seele eines Kreises, der das religiöse tue von Sailer stehe „in gut gestalteter, pondieren jedoch nicht mit dieser An- gemeinde Regensburg war“ und bat ihn, und geistige Leben und Schaffen in männlicher und aufrechter Haltung auf sicht: Schon Anfang des Jahres 1946 be- das „zur Wiedergewinnung des Denk- Bayern und weit über Bayern hinaus zu dem Sockel aus Granit. Die hohe Stirn, mühte sich das Bischöfliche Ordinariat mals Erforderliche veranlassen zu wol- hoher Blüte brachte. Die 200. Wieder- die kühn gebogene Nase und das ener- bei der Militärregierung um die Wieder- len“. kehr seines Geburtstages soll die dank- gisch vorspringende Kinn sollen Geist, errichtung des Monuments auf dem Vermutlich wurde erst danach von bare Verehrung für ihn beleben und Unerschrockenheit und Mut zum Aus- Emmeramsplatz und erhielt die Aus- der Stadt deren Museumsdirektor Dr. sein geistiges Erbe wieder zum Besitz druck bringen. Der bischöfliche Mantel kunft, dass ein diesbezüglicher Antrag Boll eingeschaltet. Diözesanarchivar Jo- des Volkes, der Gebildeten und der legt sich in kräftigen Falten um Schul- beim Kulturamt der Stadt Regensburg hann Baptist Lehner erwähnt in seinem Priester machen, die er so innig geliebt tern und Arme. Die Brustkette und die zu stellen sei. Das Ordinariat kam die- Bericht „Ein Denkmal kehrt zurück“ und für die er sich ganz geopfert hat.“ Beffchen unterstützen die bischöfliche ser Empfehlung nach und erwähnte in vom 23. Oktober 1949 keinen Anteil Bei der Gedenkfeier vor dem Denk- Würde. In seiner linken Hand hält er seinem Gesuch an das Kulturamt, das Dr. Bolls an der Rückführung. Das mal hielt der Rektor der Philosophisch- ein mit dem Zeigefinger eingemerktes „von der nationalsozialistischen Regie- Denkmal sei vor einiger Zeit „auf dem Theologischen Hochschule Regensburg, Buch, ein Symbol seines geistlichen rung beseitigte“ Denkmal befinde sich Glocken- und Denkmälerfriedhof in Professor Dr. Heinz Fleckenstein, die Amtes. Sailer soll sich in der Pose des „noch erhalten, wenn auch beschädigt, Hamburg aufgefunden und wieder nach Festrede zum Thema „Sailer, der Erzie- lehrenden, gütigen Vaters darstellen. nach zuverlässigen Angaben im Lösch- Regensburg zurückgebracht“ worden. her.“ Die Enthüllung des Standbildes Darauf ist auch die Haltung seines rech- teich hinter dem Schlachthof“. Ober- „Leider fehlen die Hände. Bis zur Wie- nahm der Bayerische Staatsminister ten Armes abgestimmt.“ bürgermeister Titze antwortete, dass derherstellung befindet sich das Denk- für Unterricht und Kultus, Dr. Joseph nach Angaben der Schlachthofdirektion mal im Hof des städtischen Baustadels.“ Schwalber, vor. Damals konnte man

8 zur debatte 5/2014 dem neuen Denkmal-Standort einiges Gebsattel. Schulkinder aus Stadtamhof abgewinnen. Minister Schwalber erklär- König Ludwig I. und Johann Michael sangen zu Ehren des neugeweihten Bi- te, nun stünde Bischof Sailer neben Kö- schofs ein Lied, das auch gedruckt er- nig Ludwig, nun stünden staatliche und von Sailer schien. Hier heißt es: „Unsrer heil’gen kirchliche Autorität beisammen. Kirche Pfeiler/ Ist der neue Bischof Sai- Der neue Platz für das Monument Bernhard Lübbers ler“. Wenige Tage später, am 1. Novem- stieß jedoch in der Folgezeit zunehmend ber 1822, ernannte Bischof von Wolf auf Kritik. So äußerte Dietrich Schubert seinen neuen Weihbischof auch zum 1979 in einer Arbeit, in der er sich spe- Generalvikar. Damit „war die Leitung ziell mit Standorten Regensburger Denk- des Bistums Regensburg de facto in die mäler befasste: „Die Neuaufstellung Hand Sailers gelegt“. desselben im Jahre 1951 … in die Anla- gen vor dem Bahnhof bedeutete wegen I. Ludwigs lyrische Hommage III. Die Regierungszeit Ludwigs I. des Wegfalls der umräumlichen Ach- an Michael von Sailer tungszone eine starke Verminderung Kronprinz Ludwig setzte sich nicht der Wirkung; es muß sich nun gegen die König Ludwig I. von Bayern hat be- nur maßgeblich für Sailers Ansehen in Bäume behaupten. Die Einheit von kanntlich zahlreiche Gedichte veröf- Rom sowie seinen Aufstieg in der kirch- Platzgestaltung und Denkmalssinn ist fentlicht, die ihm nicht nur Anerken- lichen Hierarchie ein, er bereitete sich zerstört. Seitdem ist das Monument ge- nung, sondern mehr noch die Häme ei- insgesamt so intensiv auf seine Regie- gen unsere Aufmerksamkeit gleichsam niger Zeitgenossen eintrugen. Insbeson- rungsübernahme vor wie kaum ein Mo- imprägniert“. dere Heinrich Heines bissige, ja teils narch vor ihm. Unzählige Pläne lagen Der Ort erwies sich als würdelos und brutal gehässige Parodien sind in Erin- ausgearbeitet bereit. In der inhaltlichen zudem schädlich für die Erhaltung des nerung geblieben. Spätestens seit Wolf- Ausgestaltung seiner Politik sollte nach Denkmals. Im Stadtrat von Regensburg gang Frühwalds grundlegender Untersu- Ludwigs Vorstellung Sailer eine zentrale wurden daher in den Jahren 2002 und chung dieser Werke ist klar, dass jedes Rolle spielen. Entscheidend sollte ferner 2008 Anträge gestellt, nicht nur das Rei- veröffentlichte Stück königlicher Poesie werden, dass sich um Sailer ein Kreis terstandbild König Ludwigs I. auf den nicht nur mit voller Absicht publiziert zumeist junger Männer geschart hatte, Domplatz zurückzuführen, sondern wurde, sondern für Historiker auch eine welcher auch dem Kronprinzen zuge- ergiebige Quelle für die Denkweise neigt war, darunter Johann Nepomuk Ludwigs darstellt. Die Gedichte erlau- von Ringseis und Eduard von Schenk. ben seltene Einsichten in das Denken Mit der Thronbesteigung Ludwigs I. im Die Stadt Regensburg steht und Fühlen des Wittelsbachers. In dem Oktober 1825 konnte dieser Kreis nun gewissermaßen in einer dritten, 1839 erschienenen Band seiner seine Wirkkraft entfalten. Gedichte findet sich auch ein Poem Auch äußerlich wurde jetzt die enge Schuld gegenüber diesem Ludwigs I. auf Bischof Sailer, das in be- Beziehung zwischen dem neuen König großen Bischof. merkenswerter Weise offenbart, was und Sailer herausgestellt. So ernannte Ludwig über seinen Lehrer dachte. Dort Dr. Bernhard Lübbers, Direktor der Ludwig am 1. Januar 1826 „als erstes heißt es: Staatlichen Bibliothek Regensburg öffentliches Zeichen Königlicher Aner- auch dem Standbild Sailers wieder sei- kennung“ Sailer zum Kommandeur des nen angemessenen und angestammten „Dir ertheilet war der Seelenfrieden, Zivilverdienstordens der Bayerischen Ort am Emmeramsplatz zurückzugeben. Den die Welt zu geben nicht vermag, Krone. „Der Würdigste macht den An- Während sich für den Antrag zum Denk- In dem Glauben nur ist er beschie- Bereichen reiche Früchte tragen sollte. fang“, schrieb Ludwig seinem ehemali- mal von König Ludwig I. dann doch eine den; In der folgenden Skizze soll versucht gen Lehrer. Stadtratsmehrheit fand, blieb es für das Dich umfing bereits des Himmels Tag. werden, einen Beitrag zum Verständnis Ludwig und Sailer pflegten ein enges, Sailer-Denkmal zunächst bei einer Ab- Wie der Sonnenstrahl verbreitet der Beziehung zwischen dem Wittelsba- vertrauensvolles Verhältnis, das auch lehnung. Dabei wurde vor allem das Wärme, cher und dem Kirchenmann zu geben. den Zeitgenossen nicht verborgen blieb. Projekt einer Tiefgarage unter dem Em- Theilte deine Nähe solche mit, Dem Regensburger Kirchenmann kam meramsplatz und die Nutzung dieses Daß sich, gottbeseligt, nimmer härme II. Die erste Begegnung 1803 in nun eine zentrale Rolle zu, da Ludwig I. großen Stadtplatzes als Parkplatz dem Das erstarrte Herz, das trostlos litt. Landshut in ihre Folgen „alsbald in allen wichtigen Angelegen- Wunsch, ein Unrecht des Nationalsozia- Wie die Wolken an dem Himmels- heiten der Kirche und der religiösen Er- lismus wieder gutzumachen, entgegen- bogen Johann Michael Sailer und Kronprinz ziehung den Rath Sailers hören“ wollte. gestellt. Schnell verweh‘n, wie schnell ent- Ludwig waren sich 1803 an der Univer- Dabei war Sailer weit davon entfernt, flieht die Nacht, sität Landshut erstmals begegnet. Der ein bloßer „Hofbischof“ zu sein. Im Ge- VII. Aus aktuellem Anlass So die Jahre auf der Zeitfluth Wogen, Wittelsbacher sollte damals für wenige genteil, bei aller Verehrung und Aner- Und das Leben es ist bald vollbracht. Monate an der bayerischen Landesuni- kennung der Stellung des Monarchen Dass Dr. Rudolf Voderholzer als der- Macht und Hoheit immerhin verwe- versität in Landshut studieren. Ludwig führte Sailer seinem König gegenüber zeitiger Bischof von Regensburg sich hen, erhielt bei Johann Michael Sailer ein ein offenes Wort. entschieden zu seinem Vorgänger be- Was du sprachest wirket aber fort, Privatissimum über die „Moral des Re- Insbesondere sein Einfluss auf den kannte, hat im Vorfeld des Katholiken- Neue Früchte segensvoll entstehen; genten in christlichen Maximen“. Aus führenden Minister Eduard von Schenk tags im Jahr 2014 dem Gedanken der Denn ein kräft’ger Saamen ist das einem Brief an die Gräfin von Stolberg- und damit mittelbar wie unmittelbar auf Rückführung des Denkmals neuen Auf- Wort. Wernigerode ist bekannt, dass Sailer den König selbst machte Sailers Bedeu- trieb gegeben. Der Verein „Welterbe Was du hier gefühlet und empfunden, dem jungen Wittelsbacher drei Mal wö- tung in jenen Jahren aus. Man kann da- Kulturfonds Regensburg – Die Förde- Was auf Erde sich beseligt schon, chentlich dieses Privatissimum erteilte. her mit Fug und Recht „den Zeitab- rer“ erklärte sich gegenüber dem Stadt- Mit dem Leben ist es nicht ent- Die zutiefst religiöse Persönlichkeit Sai- schnitt von der Thronbesteigung Lud- rat von Regensburg am 12. Dezember schwunden, lers hat Ludwig zeitlebens beeindruckt. wigs I. bis zur Mitte der dreißiger Jahre 2013 bereit, die auf ca. 50.000 Euro ge- Dich durchdringet es vor Gottes Die Wirkung war so nachhaltig, dass des 19. Jahrhunderts in der bayerischen schätzten Kosten für die Restaurierung Thron. der Wittelsbacher sich den Kirchen- Kirchen- und Kulturpolitik als die ‚Ära zu übernehmen. Gleich dem Jünger, den geliebt vor mann fortan als Vertrauensmann in reli- Sailer’ bezeichnen. Immer wieder wird So wird das Denkmal für den großen allen giösen Fragen erwählte. hinter den Entscheidungen des Königs Bischof der Stadt Regensburg zum zwei- Hat der Herr, dess‘ Leben Liebe blos, Seit jener ersten Begegnung in Lands- und den Plänen des Ministers Schenk ten Male geschenkt, womit auch dem War von ihr erfüllt dein Erdenwallen, hut scheint die Verbindung nicht mehr Sailers Einfluss erkennbar“. ursprünglichen Willen von König Lud- In der heil’gen, ew’gen Liebe groß. abgerissen zu sein. Die enge Verbindung wig I. entsprochen wird. Die Blickrich- Ein Verfolgter warst du, einst Ver- des Kronprinzen und des Theologen IV. Im Dienst der kirchlichen tung von Bischof Sailer geht dann wie- bannter, sollte den weiteren Lebensweg Johann Restauration im Königreich Bayern der nach St. Emmeram, wie sie ja eben- Feindschaft hörte mit dem Tod nicht Michael Sailers, vor allem seine letzten falls von König Ludwig I. festgelegt auf, Lebensjahre, maßgeblich bestimmen, Der König war entschlossen, der Kir- worden war. Die Wiedererrichtung des Noch von Vielen immer ein Verkann- denn „wenn Sailer einen Bischofsstuhl che in Bayern zu einer Restauration zu Denkmals ist freilich mit einem Wegfall ter, besteigen konnte, so dankte er es allein verhelfen. Dabei sollte die „religiöse von Parkplätzen verbunden. Nicht we- Wie in deinem langen Lebenslauf. dieser Begegnung mit Ludwig I.“. Der Wiedergeburt“ Bayerns in diesen Jahren nige Bürger sind indes der Auffassung, Aber nicht wie Leidenschaft es richte, Kronprinz war auch die entscheidende ganz im Geiste Sailers erfolgen. Wenn dass für das Denkmal mehr Raum auf Nicht auf Menschenurtheil kömmt es Kraft, die bewirkte, dass Sailer 1821 in der Regierungszeit Ludwigs I. die dem ursprünglichen Platz geschaffen an; „zum Ersten Canoniker bei dem Bischöf- „Regeneration der Sancta“ be- werden sollte. Die Stadt Regensburg Dünste wehren ewig nicht dem lichen Domkapitel zu Regensburg“ er- gann, so war das nicht zuletzt auch das steht gewissermaßen in einer Schuld ge- Lichte, nannt wurde und dafür sein Professo- Verdienst Sailers. genüber diesem großen Bischof. Das gilt Wahrheit siegt, und es verschwind’t renamt in Landshut aufgab. Doch mit Ein Herzensanliegen war König Lud- auch für die „Sailer-Straße“ in Kumpf- der Wahn.“ einer Domherrenstelle für seinen ver- wig I. dabei die Klosterpolitik. Es war mühl, die in einem Viertel liegt, in dem ehrten ehemaligen Lehrer Sailer gab ihm um die Heilung der durch die Fol- viele Straßennamen an Bischöfe erin- Dieses Gedicht zeigt, welche tiefe sich Kronprinz Ludwig nicht zufrieden, gen der Säkularisation geschlagenen nern. Ein Parkplatz vor einem Hotel Verehrung Ludwig seinem ehemaligen im Mai 1822 erfolgte die offizielle Er- Wunden ebenso zu tun wie ganz prak- und, durch eine Betonmauer davon ge- Lehrer entgegenbrachte. Ludwig I. und nennung zum Bischofskoadjutor von tisch etwa um die Hebung des Bildungs- trennt, ein Fußweg bilden indes keine Johann Michael Sailer waren zwei be- Regensburg durch König Maximilian I. niveaus. Eine nicht geringe Rolle spiel- würdige Straße für diesen großen Re- merkenswerte Persönlichkeiten, deren Joseph. Die Bischofsweihe fand am ten überdies seine persönliche Fröm- gensburger Bischof. „ außergewöhnliche Bedeutung schon 28. Oktober 1822 im Regensburger migkeit, aber auch sein Sinn für Ästhe- von den Zeitgenossen erkannt wurde Dom statt, die Weihe vollzog der Mün- tik und nicht zuletzt sein vom Geist der An dem Artikel wirkte Johann Gruber mit. und deren Zusammenwirken in vielen chener Erzbischof Lothar Anselm von Romantik durchdrungener Historismus.

zur debatte 5/2014 9 Seine eigene Karriere hingegen war – wie es in einem Brief des Monarchen für Sailer nachrangig. Als ihm der Kö- heißt – „durch den Genuß der gesun- nig im November 1826 über Schenk den Luft und durch die freie Bewegung den Passauer Bischofsstuhl anbot, gab daselbst“ Sailers Gesundheit gestärkt Sailer zur Antwort, dass ihn die „über- und sein Leben verlängert werde. Bar- väterliche Vorsorge Sr. Majestät rühre“, bing wurde nun zum zentralen Ort der er aber sein „Herz an die Kirche Re- Zusammenkünfte Sailers mit seinen Be- gensburg so fest angeklammert“ habe, kannten und Besuchern. Hier verbrach- dass „nur der Tod“ ihn „von ihr tren- te Sailer fortan seine Sommermonate. nen“ könne. Als er in Regensburg Ko- Auch der König ließ es sich nicht neh- adjutor geworden war, habe er sich in- men, Sailer dort einmal zu besuchen. So nerlich gesagt: „Liebe Kirche von Re- etwa Ende Mai 1829, um inkognito zu- gensburg, dir weihe ich mein ganzes Le- sammen mit Leo von Klenze den end- ben, in deinem Dienste will ich ster- gültigen Standort für die geplante Wal- ben“. Darum könne er dem königlichen halla auf dem Bräuberg bei Donaustauf Angebot nicht folgen, er habe dem Bis- zu bestimmen. Dabei blieb der König tum Regensburg „den Eid ehelicher auch über Nacht. Treue geschworen und werde diesen Eid nie brechen, - auch wenn er immer V. Vom Koadjutor zum Bischof nur bleiben sollte“. Indessen entwickelte sich die Verle- Eine große Freude für König Ludwig I. gung der bayerischen Landesuniversität und seinen Minister Eduard von von Landshut nach München zu einem Schenk war es, als 1829 der Weg auf zentralen Projekt der neuen Kulturpoli- den Regensburger Bischofsstuhl frei tik unter Ludwig I. und zu einem Beleg wurde. Da Bischof Johann Nepomuk für das enge Zusammenwirken zwi- von Wolf am 23. August 1829 im Alter schen dem König, Sailer und Schenk. von 86 Jahren verstorben war, konnte Der vom König mit der Universitätspo- der gut acht Jahre jüngere Sailer als Ko- litik betraute Eduard von Schenk er- adjutor mit dem Recht der Nachfolge stellte dazu am 13. April 1826 eine dessen Amt ohne erneute königliche Denkschrift und bereits am 15. Novem- oder päpstliche Bestätigung sofort über- ber des gleichen Jahres konnte die Uni- nehmen. Schenk teilte dem König am versität in München mit etwa 900 Stu- 27. August 1829 mit, dass nun „endlich dierenden eröffnet werden. Für Ludwig der ehrwürdige Bischof von Germani- I. ging es dabei nicht nur darum, seine copolis Bischof von Regensburg gewor- Residenzstadt München weiter aufzu- den“ sei. Hierauf antwortete der König werten und auch zu einer Stadt der nur drei Tage später: „Die Nachricht Wissenschaft zu machen. Mit einer von daß der verehrungswürdige Sailer Re- einem christlich-konservativen Grund- gensburgs Bischof geworden entzückt charakter geprägten Hochschule sollte mich“. sein ganzes Königreich „mit dem positi- Ludwig war von Sailers irenischer ven Geist einer christlichen, gläubigen, Persönlichkeit und seiner tiefen Fröm- geschichtsfrohen, konservativen Kultur“ migkeit fasziniert. Auf dem Schreibtisch durchdrungen werden. Es sollte auch des Monarchen lag stets zu seinem per- im universitären Bereich die „Vereini- sönlichen Gebrauch eine Ausgabe des gung der Religion und der monarchisti- von Sailer herausgegebenen Gebet- Diese Büste des „Bayerischen Kirchenvaters“ stand während schen Grundsätze mit der Freiheit, des buchs. Kaum ein Tag vergehe, so be- der Tagung im Foyer. Sie ist das Werk eines unbekannten Glaubens mit dem Wissen“ gelingen, kannte der Wittelsbacher seinem ehe- Künstlers. wie Schenk 1828 die „glorreiche Aufga- maligen Lehrer gegenüber einmal, an be der Regierung meines allergnädigsten dem er nicht in dessen Schriften lese. Königs“ charakterisierte. Die angespro- Diese Praxis sollte er ein Leben lang chene Versöhnung von Glauben und beibehalten. In einem Brief an Chris- Wissen war ein zentrales Anliegen Sai- toph von Schmid ließ diesen der König lers und sollte zu einem Kernthema der noch 1854 wissen, er lese täglich, „Mor- Bezeichnend, was er in einem Signat forderte Berichte, trieb an. „Beharrlich- Kulturpolitik Ludwigs I. und seines Mi- gens und Abends“ in Sailers Gebetbuch. vom 8. September 1828 niederschrieb: keit ist ein Teil meines Wahlspruches“, nisters Schenk werden. „Wie die Franziskaner in München, so ließ er Schenk wissen. Sailer versuchte, So zielte auch die von Schenk orga- die Schotten, so was für die Griechen innerhalb des Weltklerus für eine bene- nisierte Berufungspolitik ganz entschie- geschieht, geschichtlicher Erinnerung, diktinische Wiederbesiedelung des den darauf ab, ein Professorium zu bil- Ludwig war von Sailers ire- Dankbarkeit, nach Jahrhunderten nach Klosters Metten zu werben, jedoch half den, das diese hohe Zielvorgabe mittra- nischer Persönlichkeit und Jahrtausenden.“ auch „all seine Beredsamkeit und Auto- gen und unterstützen würde. Es über- Mit der (Wieder-)Errichtung von 132 rität“ nicht, die erforderliche Zahl an rascht daher wenig, dass der persönli- seiner tiefen Frömmigkeit Männer- und Frauenklöstern aus 23 ver- Kandidaten zusammenzubringen. che Einfluss Sailers, der vom König in fasziniert. schiedenen Orden ging er als Kloster- Schließlich gelang es, die ehemaligen die Kommission für alle Personalfragen gründer in die Geschichte ein. Unmit- Benediktinermönche Ildefons Nebauer der neuen Universität berufen wurde, telbar nach seinem Regierungsantritt und Romuald Raith zum Wiedereintritt und des von ihm „brieflich in allen Ludwig verschenkte selbiges auch ger- machte er sich daran, seine diesbezügli- zu bewegen. So feierte Bischof Sailer wichtigen Fragen, auch über den Kreis ne, da er der Meinung war, ein „gutes chen Pläne in die Realität umzusetzen. am Pfingstdienstag des Jahres 1830 in der Universitätsinteressen hinaus in all- Buch“ könne „herrlich wirken, nach Von Anfang an unterstützte Eduard von der Abteikirche ein Pontifikalamt, bei gemeinen Kulturangelegenheiten“ bera- Jahrhunderten noch“. Und seiner Ver- Schenk, weniger später auch Bischof welchem die beiden Ex-Benediktiner tenen Schenks für die Zusammenset- waltung legte er nahe, mehrere von Sai- Sailer den König, der hier großen Wi- zum Zwecke der Neueröffnung des zung des Lehrkörpers eine zentrale Rol- lers Büchern würden sich als Preis- derstand von einem Großteil seiner Mi- Klosters ihre Gelübde erneuerten und le spielten. Gerade die Berufung von schriften eignen; diese „athmen aposto- nister, der Presse und von kirchlicher fünf weitere Kandidaten neu eintraten. Görres auf den Lehrstuhl für Geschich- lischen Geist“, vermerkte er. Seite erfuhr. Bereits im August 1826 Trotz aller noch auftretenden Schwie- te, die durch Schenk bezeichnenderwei- Der große Theologe hat sich über die machten Schenk und Sailer eine Reise rigkeiten war ein neues benediktini- se direkt von Barbing aus erfolgte, ge- ihm entgegengebrachte Verehrung des durch das Bistum Regensburg, um die sches Fundament in Bayern durch die schah auf direkte Einflussnahme Sai- Monarchen nicht nur sehr gefreut, son- Möglichkeiten für Klosterwiederbegrün- Mithilfe Schenks und Sailers in dessen lers, Schenks und Ringseis hin. Sailers dern auch noch zu Lebzeiten erkennt- dungen zu eruieren. Dabei wollten sie Diözese gelegt worden. Darüber hinaus besonderes Augenmerk galt naturgemäß lich gezeigt. Das Büchlein der „Christli- sowohl Weltenburg als auch Metten engagierte sich Sailer bei weiteren Klos- der theologischen Fakultät, nicht nur in che Monat“, Sailers Spätwerk, gleich- aufsuchen. Nur wenige Tage später, am terneugründungen oder Neubelebungen seinem Gutachten über die Zusammen- sam die „Summe“ seines Lebens, wid- 9. September 1826, schlug Sailer, der innerhalb und außerhalb seines Bis- setzung, auch in zahlreichen Briefen mete der Verfasser dem König. Ludwig die Aussichten auf eine Wiederbelebung tums. Ähnlich wie bei den Neuberufun- brachte er in seinen Augen geeignete hatte die Abfassung dieses Buches auch der bayerischen Klosterlandschaft an- gen auf die Lehrstühle der Münchener Kandidaten Namen ins Spiel und mach- angeregt. Geradezu rührend ist, wie fänglich als wenig erfolgversprechend Universität – auf die noch zurückzu- te sich für deren Berufung stark. Auch Ludwig sich um die Gesundheit seines einschätzte, in einem Gutachten vor, kommen sein wird – nahm Sailer in die- im Bereich des allgemeinen Schulwe- ehemaligen Lehrers sorgte. Viele Briefe vorerst nur eine Benediktinerniederlas- ser Zeit Einfluss auf die anstehenden sens legten Ludwig I. und Schenk gro- enthalten entsprechende Passagen. Und sung als eine Art Musterkloster neu ein- Bischofsernennungen sowie eigentlich ßen Wert auf eine christliche Erziehung selbst in den Briefen, die Ludwig nicht zurichten und dessen Entwicklung zu auf alle für das Verhältnis von Kirche der Kinder. Es kam zu einer Rekonfessi- eigenhändig verfasste, ließ er es sich beobachten. Die Reaktionen der 293 und Staat in Bayern zentralen Perso- onalisierung der Volksschulen, auch die nicht nehmen, nebst seiner Unterschrift noch lebenden Ex-Benediktiner schie- nalangelegenheiten bis hin zu den Be- Lehrerausbildung folgte fortan konfessi- oftmals auch einen auf Sailers Wohlbe- nen ihm Recht zu geben, denn von die- setzungen einzelner Pfarrstellen. Dies onellen Gesichtspunkten. finden gemünzten Satz eigenhändig an- sen zeigten nur elf Interesse, wieder ins führte dazu, dass viele Geistliche aus 1826 wurde das der Krone Bayerns zufügen. Kloster zurückzukehren. Sailers Umfeld Bischofsstühle oder an- zugehörige Schlösschen Barbing unweit Sailer war umgekehrt zutiefst vom Doch davon ließ sich der König nicht dere bedeutende kirchliche Stellen ein- von Regensburg von König Ludwig I. an Gottesgnadentum und der wichtigen entmutigen. Immer wieder mahnte er, nahmen. Sailer auf Lebenszeit übergeben, damit Rolle des Königs für Staat und Kirche

10 zur debatte 5/2014 VI. Tod und Memoria mehr erlebt, er starb Ende Februar 1868 in Nizza. In den frühen Morgenstunden des 20. Mai 1832 starb Sailer in Regens- VII. Fazit burg. Drei Tage später wurde er im süd- lichen Seitenschiff des Regensburger Sailer war die zentrale Gestalt des Doms zu Grabe getragen. Ludwig war Katholizismus im Kurfürstentum und erschüttert. Bei seinem Besuch des fri- später Königreich Bayern im ersten schen Grabes Anfang Juli 1832 soll er Drittel des 19. Jahrhunderts. Er war der nach einem Zeugnis Clemens Brenta- „Heilige einer Zeitenwende“, wie ein nos die berühmten Worte gesprochen Buchtitel lautet. Johann Michael Sailer haben: „Hier ruht Deutschlands größter trug entscheidend dazu bei, dass nach Bischof […] Mir ist ein Schutzgeist ge- den grundstürzenden Umbrüchen an storben.“ In seinem Tagebuch notierte der Wende vom 18. zum 19. Jahrhun- der König über seinen Besuch am Grab: dert der Katholizismus sich in Bayern, „Er war Teutschlands bester Bischof.“ ja in ganz Deutschland wieder aufrich- Am Grabe Sailers gab er das Verspre- ten konnte. Insbesondere das König- chen, ihm ein Grabmal zu setzen. Er reich Bayern profitierte dabei von den löste es auch ein: Am 2. September 1837 gemeinsamen Bemühungen des Königs konnte Bischof Franz Xaver Schwäbl und des Kirchenmanns. Ihnen ist es zu das aus Steingadener Sandstein gefertig- verdanken, dass die „religiöse Wieder- te Grabmal segnen. Es zeigt Sailer sit- geburt“ Bayerns in diesen Jahren ins zend im bischöflichen Ornat; die beiden Werk gesetzt werden konnte. In der Re- zu seinen Seiten knienden Knaben ver- gierungszeit Ludwigs I. begann mit der Pause zwischen zwei Vorträgen: der Diözese Regensburg, und der Leiter des weisen auf seine Wirkungen als Theo- Hilfe Sailers und anderer, darunter Edu- ehemalige Schulrat i.K. Jakob Koder, Seelsorgeamtes, Domkapitular Prälat loge und Pädagoge. Auf besonderen ard von Schenk, somit die „Regenerati- Domkapitular Prälat Johannes Neu- Peter Hubbauer (v.l.n.r.). Wunsch des Königs wurden auf den ab- on der Bavaria Sancta“. müller, Leiter des Schulreferats der geschrägten vorderen Ecken des So- Für die außergewöhnliche Stellung ckels zudem zwei Schnepfen eingemei- Sailers bei Ludwig ist es zudem bezeich- ßelt. Sie erinnerten an eine Episode aus nend, dass Melchior Diepenbrock noch Sailers Kindheit, als der junge Hans- während der Affäre um Lola Montez Michel zur Schule nach München ge- versuchte, Einfluss auf den König zu schickt wurde; die Vögel, welche sein nehmen, indem er sich auf Sailer berief: überzeugt. Jeden seiner Briefe schloss er Der Engel schwand und der Luftglanz Vater in Oberweilbach, in der Nähe von „Ich wandte mich an den verklärten – wie Schenk dem König einmal schreibt mit ihm. Der König erwachte, und die Aresing erworben hatte und welche Geist Sailers, daß er mit seiner Fürbitte – mit dem Ausruf: „Gott erhalte unsern hohe Deutung der Erscheinung trat mit dem Knaben seinen Einstand in der und mit der ganzen Fülle seiner Liebe König Ludwig!“ Wie sehr Sailer dem ihm in das neue Jahr ein, und die Regi- Landeshauptstadt erleichterten. Die für Ew. M. mir helfe, um das rechte König zugetan war, zeigt sich nicht nur rung des Königs ward ein gelungenes Schnepfen an Sailers Grabmal erinner- Wort und Eingang für dasselbe zu fin- in der Korrespondenz beider Männer. Nachbild dieser Gottes Geschenk(e)“ ten so an die einfache Herkunft Sailers den in des geliebten Königs Ohr und Im persönlichen Tagebuch des Theolo- Dieser Text lässt Anklänge an den ebenso wie an die Führung durch Got- Herz.“ Diepenbrock verwies bewusst gen findet sich ein seltenes und bislang Fürstenspiegel des von Rotter- tes Willen. Auch in die Münchner Ruh- auf seinen verstorbenen Mentor, da ihm nicht beachtetes Zeugnis, das einerseits dam, die 1515 verfasste „Institutio Prin- meshalle wurde Sailer nach dem Willen klar war, dass allein dessen Autorität für die Zuneigung Sailers zu Ludwig cipis Christiani“, erkennen, wo als des Königs aufgenommen. den König zum Nachdenken bewegen steht, andererseits geradezu als ein Tu- wichtigste Tugenden eines Herrschers Für den König war Sailer zeitlebens konnte. Hubert Schiel hat dies treffend gendkatalog für den Herrscher gelesen Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung des ein Vorbild. Noch 1845 bekannte er so zusammengefasst, dass „wenn Einer werden kann. Sailer trug in seinem Ta- Gemüts und das Streben nach dem Ge- Diepenbrock gegenüber, dass er täglich Macht über König Ludwig besaß“, es gebuch unter dem 29. Dezember 1826 meinwohl benannt werden. an Sailer denke. Nach der Lektüre des Sailer war. Und wenn wir heute auf das offenbar einen Traum ein, da die Bege- Die Anhänglichkeit Sailers an den zweiten Bandes von Schmids Erinne- Werk Johann Michael Sailers blicken, benheit erst zwei Tage später datiert ist: Monarchen kommt aber auch in einem rungen, die Bischof Sailer zum Inhalt so erscheinen die bereits eingangs zitier- „Der König Ludwig erwachte Schlags Brief seiner Nichte Therese Seitz zum hatten, ließ der König Christoph von ten Verse des Königs geradezu prophe- 12 Uhr 1. Jan. 1827 und betete zum Ausdruck, die Ludwig nach dem Tod ih- Schmid im Januar 1854 wissen, er habe tisch: Herrn: res Onkels am 25. August 1832 mitteil- Tränen in den Augen. Auch die Errich- Gieb mir die einzige sichere Beystände- te, sie wage es dem König zu schreiben tung des Denkmals, das am Todestag „Macht und Hoheit immerhin verwe- rin aller Throne, deine Weisheit… und wolle ihm von der Zuneigung Sai- Sailers 1868 auf dem heutigen Em- hen, und den Sinn für Gerechtigkeit – daß lers berichten, „denn ich war 32 Jahre meramsplatz aufgestellt wurde, ging Was du sprachest wirket aber fort, jedem werde was sein ist, lang Augenzeuge, wie der selbe für die vom König aus und wurde aus seinen Neue Früchte segensvoll entstehen; und die Beharrlichkeit in allem, was Erhaltung seines allgeliebten Königs Privatmitteln finanziert. Die Aufstellung Denn ein kräft’ger Saamen ist das Staat und Kirche von mir erwarte Ludwig seine Hände zum Himmel er- selbst hat Ludwig I. allerdings nicht Wort.“ „ Nach diesem Gebet schlief der König hob. Noch 3 Tage vor seinem Hinschei- wieder ein, den rief er mir die Worte zu; Therese, und schlief den ersten Schlaf im Neu- bethe doch recht für unsern geliebten jahr… König, daß Ihm kein Leid widerfahre Da trat ein Bote des Himmels, der auf der Reise, denn es kommen wichtige Genius des Vaterlandes vor den König: Tage für Ihn, und da mußt du recht mit ein alles durchstralend [!] Luftglanz er- mir bethen.“ füllt das Schlafgemach. Gemeinsam war dem Monarchen König Ludwig! Dein Gebet, das du und dem Kirchenmann die strikte Ab- im ersten Monate des Neujahrs aus- lehnung aller extremen Haltungen in re- sprachst, ist vor Gottes thron gekom- ligiösen Fragen. Beide waren vielmehr men, und hat Erhörung gefunden: ich für die „goldene Mitte“. Oettl schrieb bringe, von Gott gesandt, dir aus der Sailer im November 1826, er werde Schatzkammer des Herrn, drey Ge- dem König nie „einen politischen noch schenke: einen Kirchlichen Ultra vorschlagen, das Salböl der Weisheit, denn beyden taugen nicht, am Staats- die Wage der Gerechtigkeit wagen so wenig als am Kirchenwagen und das Scepter mit dem Auge Gottes. angespannt zu werden“. Wichtig sei Izt salbte der Engel dem König die vielmehr „Nüchternheit und die golde- Brust, die Stirn, u. die rechte Hand; da- ne Mittelstraße“. Und diese Haltung war mit anzudeuten, daß der Geist der Stär- auch für den König immens wichtig. ke im Gemüth wohnen, der Geist der Es war mithin ein „vertrauliches Ver- Wahrheit frey und offen sich im Gesicht hältnis“ zwischen dem Kirchenmann und Leben des Königs aussprechen und und dem Monarchen. Immer wieder hat die Hand das Scepter mit Milde u. der Monarch Sailer anderen Geistlichen Nachdruck führen solle. als ein Idealbild vorgehalten. Auch Dann reichte ihm der Gottesbote das posthum tat er das. Als etwa Bischof Scepter dar: sieh sagte er, an der Spitze Valentin Riedel 1842 vor ihm den Treu- des Scepters glanzt das Auge des 3eini- eid ablegte, sagte der König zu ihm: gen Gottes, zum Zeichen, daß du stets „Sailer sey Ihnen Vorbild; obgleich er im Namen Gottes, und im Ausblick jetzt in den Staub gezogen wird, war Dompropst Dr. Wilhelm Gegenfurtner Heinrich Wachter vom Kollegiatsstift zum all schauend(en) Auge das Scepter dennoch der wahrhaft christliche Sinn (li.), bis zum Amtsantritt von Bischof St. Johannes, tauschten intensiv ihre führen sollst. Endlich, fuhr der Bote in ihm und wirkte des Guten“. Wieder- Voderholzer Diözesanadministrator von Gedanken aus. fort, sendet dir der Herr diese Wage, da- holt hat Ludwig den Geist Sailers be- Regensburg, und Stiftsdekan Prälat mit du die Bedürfnisse deines Volkes schworen; es war ihm etwa wichtig, und die Mittel sie zu stillen, auf dieser dass Neupriester in diesem Sinne erzo- untrüglichen Wage abwägen mögest. – gen würden.

zur debatte 5/2014 11 Qualität. Sie partizipiert an kirchlichen Herausforderung der Angriffe gegen den Befreundung in Jesus Christus: Johann Ausdrucksformen. Wie die katholische Glauben in einer „konzertierten Aktion“ Kirche reiht sie Sailer unter die Katego- der Christen wirkungsvoll reagieren zu Michael Sailers Impulse für die Ökumene rie „Kirchensysteme“ ein und nennt sie können: „Wer die Zeichen der Zeit zu „öffentliche Anstalt“. Besonders hohe forschen nicht ganz untüchtig ist, wird Bertram Meier Wertschätzung genießt in seinen Augen längst wahrgenommen haben, daß der die Herrnhuter Brüdergemeine. Niko- große Kampf der Geister sich nicht so laus Ludwig von Zinzendorf ist ihm fest um die einzelnen Unterscheidungs- „der originellste aller Christenköpfe“. linien zwischen Christen und Christen, Die Brüdergemeine scheint unter den nicht um die Grenzpunkte zwischen Konfessionen „das Bedürfnis nach ei- Konfession und Konfession, sondern nem gewissen Reichtum an kirchlichen um den Mittelpunkt und die Seele des I. Ökumene und Katholizismus als Darstellungs- und Anregungsweisen der Christentums, um den lebendigen Glau- konzentrische Kreise Andacht“ am lebendigsten gespürt zu ben an einen lebendigen Gott, drehe.“ haben. Was die Konfessionen und die rö- Eine reflektiert nachgehende Theolo- Bei aller Hochschätzung, die Sailer misch-katholische Kirche miteinander gie (Klaus Hemmerle) ist nicht einfach den protestantisch-christlichen Gemein- verbindet, ist also höher anzusiedeln als Nachlassverwalterin der Vergangenheit, schaften entgegenbringt, finden sich alles, was sie voneinander trennen mag. sondern begreift die Aufgabe der Befra- aber auch Stellen, wo der Begriff „Kon- Aus dieser höheren Wertigkeit der per- gung der Vergangenheit um der Zukunft fession“ der Kirche pejorativ gegenüber- sonalen Christusbeziehung ergibt sich willen. Die Gestalt des Johann Michael steht. Dann meint Konfession eine auch ein Mehr an Miteinander, das die Sailer (1751–1832) bietet sich für eine Gruppe, die abseits von der sich ver- konfessionell-strukturellen Unterschie- solche Orientierung an, zumal seine Per- dichtenden Linie „Christlichkeit – de zwar nicht verschluckt, aber doch in son und sein Wirken von einer, freilich Kirchlichkeit“ liegt. Da sie damit von die Zweitrangigkeit zurückverweist. unter veränderten Vorzeichen, aktuellen der „Lebenslinie“ abgeschnitten ist, Denn als einzelne leben die evangeli- Spannung geprägt sind: Im Blick ist der wird sie auf Dauer steril und muss sich schen Christen schon mit den Katholi- Gegensatz zwischen Reformkatholizis- schließlich ins unabwendbare Schicksal ken in der Übereinstimmung einer le- mus und katholischer Restauration, zwi- des Absterbens fügen. Obwohl sich bendigen Christusbeziehung, als Mit- schen irenischem Ökumenismus und ku- „wahre Christen“ auch in einer „Parti- glieder einer Konfession partizipieren rialem Integralismus, einen Gegensatz, kularkonfession“ finden können, spricht sie an der objektiv in der römisch-ka- der die katholische Erneuerung im 19. Sailer dieser sozialen Größe eine nur tholischen Kirche antreffbaren Kirche Jahrhundert von Anfang an begleitet. geringe Lebenserwartung zu. Selbst eine Christi. Die ökumenischen Bemühungen des enge Christusbindung ihrer Mitglieder, Sprachlich drückt sich diese Gemein- „bayerischen Kirchenvaters“ sind nicht „die mit unbewegtem Sinne an Ihm und samkeit in der Präposition „mit“ aus: nur als Kür zu sehen, sondern waren an Seiner Lehre hängen“, könne kaum Die „Protestanten, die Jesus wahrhaftig Pflicht für einen Theologen, dessen Kir- verhindern, dass sich „die von den Vor- lieben“, sind mit den Katholiken ver- chenbild den Rahmen des Römisch-Ka- Domdekan Prälat Dr. Bertram Meier, eltern als Erbgut hergebrachte, stehende bunden, da sie den Einen Vater mitan- tholischen sprengt und der gleichzeitig Augsburg Konfession allmählich in eine volle beten, dem Einen Erlöser mithuldigen, als „Genie der Freundschaft“ auf der Glaubensanarchie auflöst“. Sailer ver- den Einen Geist mitverkünden, die Eine Ebene des Menschlichen vielfältige wendet den Begriff „Konfession“ also Taufe mitempfangen, das Eine ewige Le- Kontakte nicht nur mit katholischen auch als kirchliche Disqualifizierung. ben in der lebendigen Kenntnis Christi „Insidern“, sondern auch zu protestan- bestimmungen dünn gesät. Stattdessen Im Allgemeinen jedoch sieht er weni- mitsuchen und miterwarten. Das Wört- tischen Christen und darüber hinaus spricht er gern von der „Antreffbarkeit ger den Defekt als den positiven Be- chen „mit“ bezeichnet Gemeinsamkeit mit Denkern außerhalb des christlichen der Kirche Christi“. Kirche ist also eine stand der Konfessionen. Zwar meint er und drückt zugleich Unterschiedenheit Lagers pflegte. oszillierende und dynamische Größe, mit Berufung auf „nicht-katholische mit dem leisen Beiklang der Unterord- Dabei bedient sich Sailer eines cha- gedacht als Ausdehnung und Erstre- Christen“, dass es den Protestanten an nung eines der beiden Glieder aus. „Mit- rakteristischen Dreischritts in konzent- ckung. Diese Einsicht hat Sailer in vie- der Fülle der Sakramente und damit an gehen“ ist weniger als „gehen“. Das rischen Kreisen, theologisch reflektiert len Gesprächen mit Andersgläubigen Heilsmitteln fehle, aber insgesamt Mitgehen der Konfessionen ist gewisser- in den Ebenen des Theismus (äußerer selbst erfahren und dargelegt. Zwischen spricht er auch den Konfessionen ekkle- maßen ein von der römisch-katholi- Kreis), Christianismus (mittlerer Kreis) der unsichtbaren christlichen Kirche siale Qualität zu. Denn bei ihnen finden schen Kirche geführtes Auf-dem-Weg- und Katholizismus (innerer Kreis). Die und der im „centrum unitatis“ äußerlich sich durchaus kirchliche Ausdrucksfor- Sein. gnoseologische Achse dieser dreifachen sichtbaren römisch-katholischen Kirche men: „Verkündigung des Evangeliums, Sailer lässt also keinen Zweifel dar- Optik bildet die mittlere Ebene des findet sich eine bunte Palette zahlrei- Liturgie, Sakramente, Sonntagsfeier, an, dass die Kirchlichkeit der Konfessi- Christianismus, die Sailer durch die cher Formen christlichen Lebens. Die Festfeier, Beseligung einzelner Men- onen defizient ist, da ihnen die Gemein- Formulierung der „Zentralidee des Form christlichen Lebens schlechthin schen“. Es gibt also einen gemeinsamen schaft mit dem Mittelpunkt der Einheit Christentums“, einer Art „Kurzformel aber ist Kirchlichkeit, die auf eine letzte Besitz an Heilsgütern. fehlt. Außerdem klingt in einer Anmer- des Glaubens“, sowohl zusammenfasst Konkretisation im „centrum unitatis“ Daraus entwickelt sich die Grund- kung (!) durch, dass sie nicht über die als auch christologisch-soteriologisch abzielt. richtung für einen an Sailer orientierten Fülle der Heilsmittel verfügen. Da an- zuspitzt: „Gott in Christus – das Heil Neben ihrer Vollendung in der Aner- ökumenischen Weg: Wo sich eine der sonsten die Defizienz vor allem vom der sündigen Welt.“ kennung des Petrusamtes gibt es aber römisch-katholischen Kirche und einer Aspekt der Kirchenordnung aus be- Besonders spannend wird der Dialog noch viele andere kirchliche Ausdrucks- Konfession gemeinsame Teilhabe an trachtet wird, bleibt auch die weitere auf dem Gebiet der Ökumene, wo er formen. So stellt sich die Kirche dar Heilsgütern feststellen lässt, soll daraus Argumentation ganz an der mehr äuße- sich zwischen den beiden Polen von a) durch die fortschallende, nie ver- gemeinsames geistliches Handeln er- ren Frage nach dem Bestand einer Kon- Identität und Relevanz bewegt und sich stummende Verkündigung des Evangeli- wachsen. Wenngleich die Gemeinschaft fession hängen. Dementsprechend ver- deshalb einer ständigen Gewissenserfor- ums; einer Konfession mit der katholischen mag die Antwort darauf gewöhnlich schung zu stellen hat: Wenn sich der b) durch Liturgie, Sakramente, Got- Kirche keine volle sein kann, darf sie in nicht so in theologische Tiefen vorzu- Dialog nur auf Identität fixiert, droht er tesdienst, Sonntagsfeier, Festfeier; ihrer partiellen Weise gelebt und ver- stoßen, wie man es sich erwarten und zum langweilig-kalten Monolog zu er- c) durch die fortschreitende Erlö- wirklicht werden. Sie darf also auch wünschen würde. Zwar prophezeit Sai- starren und wird für den Partner irrele- sung, Erleuchtung, Heiligung, Beseli- sichtbar sein. Weil das gemeinsam ler den Konfessionen bei allem guten vant. Ist der Dialog jedoch nur an Rele- gung einzelner Menschen; Christliche, die Lebenshingabe an die Willen ihrer Mitglieder keine lange Le- vanz interessiert, besteht die Gefahr des d) durch gliederliche Unterstützung Person Jesu Christi, eine so intensiv bin- bensdauer. In diesem Zusammenhang Identitätsverlustes. Denn die Identität aller durch alle und durch den Zusam- dende Autorität hat, ist die „Gemein- fällt aber auf, dass gerade die Heilsfrage wird einem Ankommen-Wollen geopfert. menhang der Gemeinden mit ihren Hir- schaft aller Liebhaber des liebenden Je- nicht mit der Zugehörigkeit zur römisch- Nicht mehr die Wahrheit, sondern das ten, Oberhirten und dem höchsten Hir- sus“ so stark, dass die konfessionelle katholischen Kirche verknüpft wird. Da Meinen und Mögen des Augenblicks ist ten der Kirche, dem Mittelpunkt der Schranke nicht den Charakter einer unser Theologe durchaus das heilsver- dann zur Norm erhoben. Dialog degra- Einheit, dem römischen Bischof. endgültigen Absperrung trägt. Das Be- mittelnde Tun der Kirche kennt und diert zum Dialogismus. Der Nachdruck, mit dem Sailer im- harren auf dem Status quo hätte nach diesem in den Hauptdisziplinen seines In der Frage nach der „Einen Kirche“ mer wieder das Individuum hervorhob, Meinung des Sailer-Freundeskreises Schaffens sogar eine Schlüsselstellung versuchen wir nun, dem Lebensdialog und die pastorale Mühe, die er für ein- auch keine Zukunft: „Glaube mir“, einräumt, sollte man sein Schweigen Sailers auf die Spur zu kommen: Ist es zelne aufbrachte, könnten den Eindruck schreibt Lavater an Sailer, „die Stunde bzw. die Tatsache, dass er sich im so ihm gelungen, die Spannung zwischen erwecken, dass er in erster Linie auf die kommt und sie ist schon jetzt, daß man wichtigen Umfeld der Heilsfrage weder Identität und Relevanz auszuhalten? Zu Christlichkeit der evangelischen Glau- nicht mehr fragen wird: ‚Bist du refor- auf die Notwendigkeit noch auf die Art welchen Zugeständnissen ist er bereit, bensbrüder und -schwestern schaute miert, lutherisch, katholisch?‘, sondern: kirchlicher Vermittlung festlegen lässt, wenn es um konkrete Zusammenarbeit (mittlerer Kreis) und das Römisch-Ka- ‚Glaubst du an Jesus als den Messias – als sprechend deuten. mit protestantischen Mitchristen geht? tholische als „Accessoire“ abtat. In sei- oder nicht? Einen Gott oder keinen?‘“ Manchmal sind es gerade die Gegner, Bevor wir Sailers Anstöße für einen ner Eigenschaft als Seelsorger hatte er Menschen, die sich für Christus ent- die in messerscharfer Analyse Sachver- ökumenischen Weg vorstellen, soll ek- tatsächlich primär die Einzelperson mit scheiden und damit für die „Simplizität halte auf den Punkt bringen. Klemens klesiologisch der Boden bereitet wer- ihrer jeweiligen unverwechselbaren Le- des Christentums, die mit der Erhaben- Maria Hofbauer geht zwar recht hart den, auf den er die Konfessionen stellt. bens- und Glaubensgeschichte vor Au- heit desselben gleichen Schrittes geht“ und zuweilen bissig mit Sailer um, aber gen. sind untereinander in Freundschaft ver- was er über dessen Kirchenbild an den II. Der ekklesiologische Ort der Kon- Als Theologe dachte er aber auch bunden. Nuntius in Wien meldete, ist so unzu- fessionen über die Konfessionen als Ganze und Schließlich ist Sailer davon über- treffend nicht: Sailers Ansicht nach deren kirchlichen Status nach. Eine zeugt, dass im theoretischen wie auch habe die katholische Kirche „kein Mo- In Sailers Äußerungen über die Konfession ist für ihn mehr als die Sum- im praktischen Christozentrismus das nopol auf den Heiligen Geist. Dieser Kirche Christi sind univoke Begriffs- me von Einzelchristen ohne ekklesiale geeignete Mittel dafür liegt, um auf die wirke ebensoviel in denen, die in der

12 zur debatte 5/2014 heiligen Kirche sind, wie in denen, die außer ihr sind, wenn sie nur an Christus glauben“. Der gängige Grundsatz „Extra Ecclesiam nulla salus“ scheint sich also geweitet zu haben: „Extra Christum nul- la salus“.

III. Anstöße für einen gemeinsamen Weg

Es wäre ein Missverständnis der ek- klesiologischen Ortsbestimmung, wollte man daraus ein juristisches „Directori- um oecumenicum“ ableiten, das die Re- geln konkreten Umgangs festlegt, die dann im Einzelfall zur Anwendung kommen. Sailers Aussagen über die ek- klesiale Valenz der Konfessionen sind eher eine Art „lex fundamentalis“ für ökumenische Bemühungen, die sich in Grundhaltungen konkretisieren und im alltäglichen Leben je neu bewähren müssen. Jede ökumenische Aktivität sollte von einer inneren Haltung getragen sein, die einzig und allein auf Christus ausgerichtet ist. Seine Gesprächspartner und Freunde wählt Sailer nicht zuerst nach ihrer Kirchen- bzw. Konfessions- zugehörigkeit aus. Für ihn zählt viel- mehr die Lebenshingabe an Christus, der die „Mitte aller Christianismen“ bil- det. Eine Person fordert Personen ein. So muss für die Lebenshingabe an Chris- tus der Mensch mit seinem ganzen Per- sonenkern einstehen. Sektoriale Hinga- be ist eine „contradictio in se“. Auf dem Weg, der irgendwann einmal vor der Unausweichlichkeit einer Entscheidung steht, kann sich der Mensch von kei- nem vertreten lassen – auch von keiner Kirche, die ihrerseits die Intimität und damit Hoheit der je eigenen gott-mensch- lichen Beziehung achten muss: „Wenn wir nicht einmal glauben können, daß der Herr ist, so dürfen wir nur in unse- rem Kabinett nachsehen, im Stillen har- ren, Spinnweben auskehren, und es kommen Augenblicke des Lichtes, daß wir an Ihn glauben, an Seine Nähe glauben, Seine Nähe fühlen können.“ Auf der Basis des gemeinsamen perso- nalen Christusglaubens und der von Ka- tholiken wie Protestanten hochgeschätz- ten Heiligen Schrift wird unter den „wahren Christen“ eine geistliche Nähe erlebt und bedacht, die gleichwohl ei- nen letzten Rest von Trennendem er- kennt und anerkennt, so dass bei aller Gemeinsamkeit das konfessionelle De- tail nicht als „quantité négligeable“ ab- getan werden kann. Von Vorteil ist, dass Sailers Christia- Am 2. September 1837 konnte Bischof Sailer sitzend im bischöflichen Ornat; nismus keinem bewusst konzipierten Franz Xaver Schwäbl das aus Stein- die beiden zu seinen Seiten knienden ökumenischen Plan entspringt. Allein gadener Sandstein gefertigte Grabmal Knaben verweisen auf seine Wirkungen die gemeinsame Hinwendung zur Mitte, im Regensburger Dom segnen. Es zeigt als Theologe und Pädagoge. „auf das wesentliche Christentum“, lässt die Christen enger zusammenrücken. Katholische und evangelische Christen können plötzlich über eine Freundschaft staunen, „die – über den Konfessions- unterschied erhaben – bloß auf Christus Bild dahingehend korrigiert, dass er den Bonus der Christushingabe, die bei Katholiken glauben, sie „müßten sich sich gründet“. Diese Freude über erlebte sich die Konfessionen wie Planeten um einem Protestanten unter Umständen und ihre Kinder von den Versammlun- Gemeinsamkeit, die weder lautstarke die eine Sonne Christus kreisend dach- intensiver und authentischer gelebt wird gen der Gemeinde ausschließen, um Euphorie noch unrealistische Utopie, te, von der sie ihr Licht empfangen sol- als bei diesem oder jenem Katholiken. den Glauben an Christus noch in ihren sondern durch Erfahrung gedeckt ist, len. Wie hell und rein sie je erscheinen, Was für einzelne Christen denkbar ist, Familien bewahren zu können“, weil er gibt Sailers ökumenischem Mühen jene hängt vom Maß ihrer Bereitschaft ab, trifft ebenso für das Ganze einer Kon- in der eigenen Gemeinde schon fast Ruhe, Besonnenheit und Nüchternheit, sich aus dem Schatten ihrer selbst die- fession zu, die auf die römisch-katholi- verschwunden sei. Darüber ist Sailer al- die man anderswo vergeblich sucht. ser Lichtquelle zuzukehren. Auf den sche Kirche durchaus anspornend wir- les andere als glücklich. Zur Erfüllung Sailer fixiert sich nicht auf den anderen Punkt gebracht: Sailer gibt der Christia- ken kann. Für Sailer persönlich spielte des Sonntagsgebots gehört für ihn nicht konfessionellen Part neben ihm, son- nisierung der Kirche bzw. der Konfessi- diese Rolle geistlicher „Befruchtung“ die nur die Hausandacht der Familie, son- dern mit ihm zusammen auf Christus. on den Vorrang gegenüber einer Ver- Brüdergemeinde. Zu dieser „Gebärmut- dern auch die Eucharistiefeier möglichst Aus dem gegenseitigen Sich-Anschauen kirchlichung bzw. Konfessionalisierung ter des inneren Lebens“ hat er sich auch in der Pfarrkirche, die er „Mutterkirche“ wird ein gemeinsames Betrachten des Christentums. wiederholt öffentlich bekannt. nennt. Christi. Wenn eine Konfession der anderen in Um eine spirituelle Heimat zu wissen, Damit bereitet unser Theologe den eindrucksvoller Weise die Hingabe an bedeutet aber nicht, für die Schaffung IV. Interessiertes Kennenlernen der Weg dafür, was einmal die „kopernika- Christus vorlebt, dann ist es durchaus geistlicher Kuschelecken zu plädieren. Mitchristen nische Wende“ in der Ökumene heißen möglich, dass Katholiken auch von Im Gegenteil: Sailer verurteilt das sich wird. Sailer sieht die Konfessionen evangelischen Christen lernen können, schon zu seiner Zeit ausbreitende Phä- Es gibt keine ökumenische Arbeit nicht mehr so an, als ob sie sich um die was es heißt, „wahre Christen“ zu sein. nomen, der eigenen Kirche den Rücken ohne das vorhergehende Wissen umein- römisch-katholische Kirche bewegen, Sailer schließt nicht aus, dass der Malus zu kehren oder zum Rückzug ins Private ander. Wissen umeinander aber setzt wie man sich einst in vorkopernikani- hierarchischer Defizienz, der den Kon- zu blasen. Er beklagt die „Separation Interesse füreinander voraus. Verant- schen Zeiten die Planeten als um die fessionen zweifellos anhaftet, gegenüber der Besseren von der Teilnahme an der wortete Annäherung hängt vom auf- Erde kreisend vorstellte. Mit der Zent- der katholischen Seite aufgewogen und öffentlichen Anstalt“ als „auffallendes merksamen gegenseitigen Kennen ab. ralidee des Christentums hat er dieses sogar überboten werden kann durch Zeichen der Zeit“. Sich distanzierende Der Bereich jenseits der eigenen Kirche

zur debatte 5/2014 13 andern nichts als Wahrheit, als Pflicht, 2) Für die Haltung der Toleranz be- als Gottesverehrung auf, was er nicht deutet dies: Kann sie in der mitmensch- als Wahrheit, Pflicht, Gottesverehrung lichen Liebe oft auch nur Achtung für- erkennen kann ... Deshalb empfingen einander bedeuten, die mit ihren an- auch die Apostel den Befehl, nieman- strengenden und aufreibenden Momen- dem ihr Evangelium aufzudrängen.“ ten zuweilen sogar mehr erlitten als be- Durch seine Lehre von der Gotteben- reichernd erlebt wird, wandelt sie sich bildlichkeit des Menschen begründet unter Christen zu einer liebenden Tole- Sailer einen „christlichen Humanismus“, ranz, die andere zunächst als Mitbrüder so dass der Überstieg vom Theismus oder Mitschwestern im Glauben sieht. (äußerer Kreis) zum Christianismus Wegen dieser Sicht der Toleranz wur- (mittlerer Kreis) fließend wird, was sich de Sailer vielfach missverstanden und auch auf den Toleranzbegriff auswirkt. gescholten. Die Vorwürfe lauteten: un- Aus dem gemeinsamen Glauben an die entschiedene Halbheit, Unklarheit des Eine Botschaft von Gott, der in Christus konfessionellen Standortes, mangelnde der sündigen Welt das Heil gebracht Katholizität. So sah er sich „hier von hat, erwächst der Zusammenhang der der Hyperorthodoxie gequält, dort von „christlichen Kirche“, der die nur an- der Hyperphilosophie geneckt“. Tole- thropologische Ebene übersteigt. ranz zu leben ist tatsächlich eine Kunst. Diese Verbindung verpflichtet zu ei- Sie wird oft mit einem Indifferentismus ner Haltung, die mehr ist als Toleranz verwechselt, der letztlich an der Wahr- im Sinn von Duldung. „Allumfassende heit uninteressiert ist. Dann gibt es kei- Liebe“ ist gefragt, „das bloße Dulden ist ne Spannung mehr zwischen Wahrheit dem liebenden Herzen zu wenig.“ Die und Liebe, da er beide nicht schätzt, Liebe unter Christen muss sich nicht zwingen, weil sie auf das ihr schon Entspannten sich in der Kaffeepause: lich dazu beigetragen, dass das Kloster Ähnliche abzielt. Toleranz gegenüber Die Protestanten hatten Thomas Maria Freihart OSB, der Abt Weltenburg, ausgehend vom Kloster Mitchristen ist mithin keine Liebe, die des Klosters Weltenburg (li.) und der Metten, nach der Säkularisation neu erst Widerstände überwinden und Läs- Sailer zu einem ihrer Ver- Regensburger Domdekan Prälat Anton gegründet werden konnte. tiges geduldig ertragen müsste – keine trauten gemacht. Wilhelm. Bischof Sailer hatte maßgeb- „Liebe trotz ...“, sondern „Liebe wegen ...“. Denn sie liebt ihresgleichen, sie kann auf einer wesentlich gemeinsamen sondern im Grunde nur sich selbst. Da- Basis aufbauen und ist langfristig auf von war Sailer weit entfernt: „Weiß und das Ziel hin angelegt, in die „plena Schwarz sind nicht so ungleich wie der communio“ einzumünden: „Bruderliebe Tolerante und Indifferentist.“ Toleranz bzw. Konfession sollte deshalb nicht viel zu wenig Kenntnis von der Lage“ in der schönen Bedeutung, in der das im ökumenischen Dialog muss die Fremde bleiben, sondern auf einfühlen- der deutschen Kirche besitzen und „zu Wort zur Zeit der Gründung der christ- Spannung aushalten zwischen den zwei de Vertrautheit zielen. „Wenn ich erst oft denen, die mit einseitigen Erzählun- lichen Kirche genommen ward“, „Wohl- Maximen: „Wahrheit sei dir über alles!“ bedenke“, klagt Sailer, „was die gelehr- gen die Wahrheit entstellen, Gehör lei- wollen gegenüber den Mitgenossen ... und: „Unantastbar sei dir die Freiheit ten Protestanten ... für abscheuliche Be- hen“. Das interessierte Kennenlernen des Christentums“. Diese christliche des anderen.“ griffe haben, wie sie an unserem System der Mitchristen erfordert schließlich Liebe schließt die mitmenschliche Liebe Christliche Toleranz bedeutet bei Sai- nichts als Aberglaube und Despotismus auch, auf die leisen Äußerungen der nicht aus, sondern setzt sie als ihr Fun- ler niemals, dass der Katholik gegen- sehen, wie gar unerreichbar ferne sie Andersgläubigen zu achten – Gedan- dament voraus. Ist schon „alles, was der über den Unterscheidungslehren seiner von unseren Begriffen sind“, dann rückt ken, die oft nur im Inneren der anderen Mensch ist“, dem Menschen ehrenwert, eigenen Kirche blind würde und des- die Einheit für ihn in unendliche Ferne. Konfession vernehmbar sind und auch so steigert sich das für das mitchristliche halb keinen Eros mehr verspürte, die Bei diesem gegenseitigen Kennenler- nur den Außenstehenden mitgeteilt Verhältnis: „Alles, was Christ ist, ist katholische Wahrheit als organische nen kann man sich auch nicht mit intel- werden, denen die Gabe zugetraut wird, dem guten Christen doppelt ehrenwert.“ Ganzheit zu ergründen und darzulegen. lektuellem Wissen und Unterschei- sich hineinfühlen zu können, ohne das Sailer hat wohl keinen Unterschied Das erfordert einen „Sinn für die katho- dungslehren begnügen. Vielmehr ist ein eigene Gesicht dabei zu verlieren. Wer mehr angenommen zwischen der Liebe, lische Kirche in ihren wesentlichen feines Gespür gefragt, um sich in die Ei- den Briefwechsel unseres Theologen auf- die unter allen Christen herrschen soll, Lehren, in ihren vornehmsten Einrich- genheiten des religiösen Selbstverständ- merksam studiert, zweifelt nicht mehr und der Liebe unter den Katholiken. tungen und besonders in Hinsicht auf nisses des anderen einzufühlen. Als Sai- daran: Die Protestanten hatten Sailer zu Christen gleich welcher Konfession sind den Mittelpunkt der Einheit“. Ihm ist es ler einmal mit der Anfrage konfrontiert einem ihrer Vertrauten gemacht. Mit miteinander durch die gemeinsame deshalb ein großes Anliegen, „neben der wird, ob seine für das Landvolk be- der Entdeckung des gemeinsamen Christusliebe in der christlichen Kirche stimmten Betrachtungen zum „Vater „praktischen Schriftforschens“ – wir re- vereint, die sich in der römisch-katholi- Unser“ auch den Protestanten zugäng- den heute vom „ökumenischen Bibeltei- schen Kirche lediglich nochmals äußer- lich gemacht werden dürften, gibt er len“ – und der Herausgabe des weit über lich verdichtet. Selbst wenn die christli- nicht nur gern seine Erlaubnis dazu, die katholischen Grenzen hinaus ver- chen Konfessionen in den materialen sondern erinnert gleichzeitig daran, breiteten „Lese- und Gebetbuches“ – Bereichen der Lehre und Liturgie im dass der Herausgeber doch die bei den wir würden es „ökumenisches Haus- Vergleich mit der römisch-katholischen evangelischen Mitchristen übliche Do- buch“ nennen – hatte er tatsächlich Ak- Kirche Passiva aufweisen, überwiegt die xologie: „Denn Dein ist das Reich ...“ zente gesetzt, die seiner Zeit weit vor- Gemeinsamkeit aller Christen unterein- anfügen solle. aus waren. So schaffte Sailer die Grund- ander gegenüber dem, was sie konfessi- zur debatte Um also die Mitchristen anderer lagen zum „Teilen geistlicher Güter“. onell voneinander trennt. Es fällt auf, Konfessionen wirklich kennenlernen zu dass diese Liebe unter den Mitchristen Themen der Katholischen Akademie können, ist Unbefangenheit verlangt. V. Liebende Toleranz unter Wahrung dem dritten, formalen Aspekt der Kir- in Bayern Berührungsängste sind ein schlechter der eigenen Identität chengliedschaft zugeordnet und näher- Jahrgang 44 Ratgeber. Was Sailer in seiner Selbstbio- hin sogar der Thematisierung der Hier- graphie ein „ererbtes Unvermögen, zu Vor der Einteilung in soziale, ethni- archie vorgezogen ist. Dies lässt sich Herausgeber, Inhaber und Verleger: Katholische Akademie in Bayern, München hassen und zu hadern“, nennt, ent- sche oder weltanschauliche Gruppen wohl durch Sailers Betonung der „Le- Direktor: Dr. Florian Schuller spricht einer Unkompliziertheit im Um- gibt es eine alle Menschen umgreifende benssprache“ begründen. Bedenkt man, Verantwortlicher Redakteur: Dr. Robert Walser gang mit Menschen unterschiedlichster Gemeinsamkeit: das Menschsein und dass bei ihm das katholische „Plus“ hin- Fotos: Akademie geistiger und religiöser Couleur. Durch die damit verbundene unveräußerliche sichtlich der Unterscheidungslehren in Anschrift von Verlag u. Redaktion: diesen Charakterzug blieb ihm aber Würde: „Alles, was Mensch ist, ist dem der Regel sehr zaghaft vorgetragen ist, Katho lische Akademie in Bayern, auch die mitunter bittere Erfahrung guten Menschen ehrenwert. Der gute und auch im liturgisch-sakramentalen Mandlstraße 23, 80802 München Postanschrift: Postfach 401008, nicht erspart, dass Unbefangenheit ver- Mensch ehrt in jedem Menschen die Leben (etwa mit der Beschränkung auf 80710 München, wundbar macht, wenn sie sich nicht Menschheit, und in der Menschheit die drei Sakramente und einer betont „öku- Telefon 0 89/38 10 20, Telefax 0 89/38 10 21 03, paart mit Vorsicht und Bedachtsamkeit. Gottheit, deren Bild jene ist.“ Für eine menischen“ Terminologie) eine mög- E-Mail: [email protected] An Orten und in Zeiten, wo eine inter- Zeit, die das Wort „Menschenwürde“ lichst breite Plattform aller Christen ge- Druck: Kastner AG – Das Medienhaus, konfessionelle Beziehung aus äußeren mit großen Lettern schrieb, überraschen sucht wird; stellt man ferner in Rech- Schloßhof 2 – 6, 85283 Wolnzach. zur debatte erscheint zweimonatlich. Gründen zu misslingen droht – etwa solche Worte nicht. Als Kind seiner Zeit nung, dass das „centrum unitatis“ zwar Kostenbeitrag: jährlich 35,– (freiwillig). Über- aufgrund von Verdächtigungen Dritter, hat Sailer dennoch Eigenstand bewie- immer wieder unterstrichen, aber doch weisungen auf das Konto der Katholischen Aka- wegen eines möglichen Skandals oder sen: Denn der Mensch holt seine Wür- von der Lebenssprache des gegenseiti- demie in Bayern, bei der LIGA Bank: durch inquisitorische Beobachtung von de nicht aus sich selbst, sondern ver- gen Helfens aller wahren Christen um- Kto.-Nr. 2 355 000, BLZ 750 903 00 Seiten kirchlicher Autoritäten –, da dankt sie der Hoheit Gottes, dessen griffen wird, dann wird ein Zweifaches IBAN: DE05 7509 0300 0002 3550 00 wird diese mit Klugheit langsam aus der Bild er ist. Lassen wir den Theologen deutlich: SWIFT (BIC): GENODEF1M05. Nachdruck und Vervielfältigungen jeder Art sind Schusslinie genommen, aber deshalb ausführlicher sprechen: „Heilig sei dir 1) Sailer denkt den Leib Christi pri- nur mit Einwilligung des Herausgebers zulässig. nicht der Opportunität geopfert. Im ver- am Menschen der Mensch, d.h. verach- mär von der weiten christlichen Kirche trauteren Kreis wird sie weitergepflegt te keinen Menschen als Menschen. her, deren Glieder einander als Mit- und vertieft. Denn diese Verachtung des einzelnen christen unterstützen. Diese gliederliche Da sich Sailer seine unkomplizierte ist Verachtung der Würde, Mensch zu Hilfe erschöpft sich nicht nur auf sozia- Offenheit sein Leben lang bewahrt hat, sein ... Heilig sei dir also besonders die ler Ebene, sondern schließt auch pasto- tut es ihm weh, „daß diejenigen, die den Denk-, Gewissens- und Religionsfreiheit rales Tun ein (Seelsorge als Nächsten- Apostolischen Nuntien beigegeben sind, des andern, d.h. dringe und zwinge dem pflicht).

14 zur debatte 5/2014 sondern der liebenden Hingabe an die Seine Bausteine für einen ökumeni- Person Jesu Christi. Deshalb ist ein öku- schen Weg sind daher eher Anstöße als menischer Weg in seinem Sinne kein Etappenziele. Doch Anstöße haben es Nebeneinanderherlaufen im Vergleich an sich, dass sie die Gehenden in Bewe- satzhaft formulierter Lehren, sondern gung halten. Gerade als Anstöße bergen ein Miteinandergehen und Füreinander- Sailers Gedanken für jeden ökumenisch dasein, um sich bei gegenseitiger Unter- Engagierten etwas Zeitloses in sich, stützung mehr und mehr Christus zu selbst wenn manches, worin er seiner übereignen. Möglichkeiten und Grenzen eigenen Zeit damals weit voraus war, dieses gemeinsamen Gehens fasst er so heute längst von inzwischen erreichten zusammen: „Wir müssen (wir Protestan- konkreten Zwischenzielen überholt zu ten, Katholische, Reformierte) die sein scheint. So stieß er bei seinen Marksteine, die unsere Väter gesetzt ha- Überlegungen zur „communicatio in ben, stehen lassen und, dieser Marken sacris“ noch nicht bis zum liturgisch-sa- unbeschädigt, einander brüderlich un- kramentalen Bereich vor. Weder er terstützen in der Bekämpfung des Anti- selbst noch seine evangelischen Zeitge- christentums.“ nossen haben dies jedoch als Mangel Sailers theologische Reflexion und empfunden. seine gelebten ökumenischen Grund- Die „communicatio in spiritualibus“ haltungen zeigen seine Maxime, wenn war umso intensiver. Sailers Ökumene es um die Einheit der Kirche geht: Auf liebte eben das Laute des Spektakulären der Ebene des Lebens alles nur Men- nicht. Er wählte die Wirkkraft der Le- schenmögliche zu tun, um das Zusam- benssprache im Wissen darum, dass die menstehen aller wahren Christen vom Zukunft der Kirche Christi nicht nur „liederlichen Helfen“ über die „Ver- von ihrer Rechtgläubigkeit abhängt, schwisterung der Herzen“ bis zum ge- sondern auch von ihrer Glaubwürdig- War einer der Diskutanten: Prof. Dr. Akademie Bayern und emeritierter meinsamen „Zeugnis gegen das Anti- keit. Darum hat Sailer sich sein Leben Karl Hausberger, langjähriges Mitglied Professor für Kirchengeschichte an der christentum“ zu fördern, doch im Raum lang mit dem Einsatz seiner ganzen Per- des Hochschulkreises der Katholischen Uni Regensburg. der äußerlich verfassten Kirche weder son gemüht. Und es fand Anerkennung in der Lehre noch in der liturgisch-sak- über den katholischen Kreis hinaus. „ ramentalen Feier irgendetwas zuzulas- sen, was dem von der Hierarchie geord- neten Status quo widerspricht. ungetrübten Liberalität gegen Anders- drängt er den Herausgeber zu erklären, denkende“ stets „die reine Orthodoxie dass die Professoren der Theologischen der Kirche“ zu bewahren. Von sich Sektion in Landshut weder der Redakti- selbst beteuert Sailer, dass er in „ver- on noch dem Mitarbeiterkreis der Zeit- mischten Gesellschaften“ von Katholi- schrift zuzurechnen sind. Glaubwürdi- ken und Nichtkatholiken, vor Priestern ges ökumenisches Handeln schlägt sich und Laien nichts anderes geredet habe, also auch nieder auf dem Feld der Pub- Presse „als was ein katholischer Priester im lizistik. Dem redlichen Theologen müs- Angesichte der katholischen Kirche sa- se daran gelegen sein, „die Orthodoxie gen musste“. Programmatisch stellt er in überall mit Liberalität, den Scharfsinn Johann Michael Sailer als Brückenbauer einem für ihn typischen Dreizeiler fest: mit Bescheidenheit, die Freimütigkeit „Die Protestanten sind als Christen un- mit zarter Delikatesse zu verbinden“. sere Brüder, als Protestanten unsere Katholische Nachrichten-Agentur letzt (von 1829 bis 1832) als Bischof in Wetzsteine, als Menschen Kinder Eines VII. Zusammenfassung: 7. April 2014 – Etwas verloren steht ein Regensburg (…) Grund genug für sei- Gottes.“ Caritas Christi urget nos alter Steinsockel in einem Park vor dem nen Nachfolger Professor Rudolf Voder- Regensburger Hauptbahnhof. Auf den holzer auf Einladung der Katholischen VI. Statt polemischer Feldzüge die Die verschiedenen Anstöße für einen Stufen sitzen Jugendliche und trinken Akademie in Bayern zusammen mit Suche nach dem „goldenen Mittelweg“ gemeinsamen Weg reflektieren auf ihr Bier. Die Inschrift verweist auf Jo- weiteren namhaften Wissenschaftlern praktischer Ebene die Sicht einer Kir- hann Michael Sailer (1751 bis 1832), an einen Mann zu erinnern, der als „au- Zu Sailers Grundregeln gehört es che im Werden. Trotz der nicht zu ver- doch eine Skulptur sucht man vergeb- ßergewöhnlich integrative Persönlich- auch, die Mitchristen anderer Konfessi- hehlenden Relativierung der römisch- lich. Das Denkmal hat stürmische Zei- keit“ (Voderholzer) galt, aber auch im- onen weder vor den Kopf zu stoßen katholischen Kirche durch eine weiter ten erlebt, im Zweiten Weltkrieg wäre mer wieder umstritten war und durch noch zu überfordern. Die Schmerzhaf- gefasste Antreffbarkeit der Kirche Christi die Bronzefigur sogar beinahe einge- Gegenspieler in seiner Laufbahn ge- tigkeit öffentlicher Angriffe und beißen- lässt Sailer keinen Zweifel daran, dass schmolzen worden. Solche Höhen und hemmt wurde. der Rezensionen hat er ja am eigenen die Eine Kirche nur auf die römisch-ka- Tiefen hat nicht nur die Statue mitge- Beim Ein-Tages-Symposium im Regens- Leib erfahren. Daher erinnert er an die tholische Kirche hin werden kann und macht – sie ziehen sich auch wie ein ro- burger Priesterseminar St. Wolfgang Tugenden liebender Rücksichtnahme soll. So lehnt er eine übergeordnete „Ver- ter Faden durch das Leben des Kirchen- wurde eines schnell klar: Wer offenen und Respekts für den Umgang der Chris- einigungsanstalt“ aller wahren Christen mannes, der von 1829 bis 1832 Bischof Sinns wie „Johann Michael Sailer als ten miteinander. Sein Stichwort dafür kategorisch ab. Wenn Katholiken mei- von Regensburg war. Brückenbauer“ (so der Titel der Tagung) ist „Liberalität“: „Religion ist Liebe, und nen, sich von der eigenen Kirche – etwa Auf die Spuren dieses Geistlichen begab hin zu nicht-katholischen Nachbarn Liebe ist ihrer Natur nach liberal. Also aus Unzufriedenheit über deren Zustand sich die Katholische Akademie in Bay- schaut, konkurrierende Glaubensbe- darf auch in den Anstalten, die die Reli- – distanzieren zu sollen, dann mündet ern am Samstag in Regensburg. kenntnisse ernst nimmt und nach sinn- gion offenbaren und als Liebe sie leben solches Verhalten seiner Ansicht nach Michael Merten stiftenden Gemeinsamkeiten abklopft, sollen, Liberalität sichtbar werden“. So sogar ins Gegenteil des eigentlich ange- wer – so der Augsburger Domdekan wird verständlich, warum Sailer für äu- strebten Ziels „wahren Christseins“: Es Straubinger Tagblatt Prälat Bertram Meier in seinen Ausfüh- ßerste Zurückhaltung gegenüber allem ist Sünde. 7. April 2014 – Ihr Symposium im Pries- rungen – seine Freunde nach der Per- plädierte, was die publizistische Heraus- Daraus wird ersichtlich, dass Sailer terseminar galt einem Theologen, den son und nicht nach der Konfession aus- hebung des Römisch-Katholischen im die der römisch-katholischen Kirche viele für einen Visionär hielten und den suchte, der war den Engstirnigen sofort Sinne eines Exklusivanspruches fördern mitgegebene göttliche Autorität trotz sein Schüler, König Ludwig I., einen vor die Flinte gelaufen. könnte. der Unzulänglichkeiten menschlicher „bayerischen Kirchenvater“ nannte. Christian Muggenthaler Für zahlreiche andere Zeugnisse soll Verwirklichung unangetastet lässt. Ge- Auch der heutige Regensburger Bischof ein Schreiben stehen, das Sailer an sei- rade unter den Missständen „seiner“ Rudolf Voderholzer zählt zu Sailers Be- Weiß-Blaue Rundschau nen ehemaligen Schüler Franz Karl Fel- Kirche hat Sailer zu Lebzeiten sehr ge- wunderern. Mit einer wissenschaftlichen Tagung der der richtete, den Herausgeber der „Lite- litten. Deshalb schaut er zwar recht illu- Seine Gegner diffamierten Sailer hinge- Katholischen Akademie München zum raturzeitung für katholische Religions- sionslos in die Zukunft, da unter diesen gen, weil er mit seinen ökumenischen Thema „Johann Michael Sailer als Brü- lehrer“. In diesem Brief äußert er ernste Bedingungen eine Beendigung der Spal- Ansätzen als ketzerisch erschien. Zwei- ckenbauer“ am Samstag, 5. April 2014, Bedenken hinsichtlich des derb-polemi- tung nicht allzu rasch zu erwarten ist. mal wurde er als Professor entlassen, im Priesterseminar St. Wolfgang in Re- schen Tons einiger Artikel dieser Zeit- Da er aber den eng gefassten römisch- einmal eine frühere Berufung zum Bi- gensburg wurde die Wiedererrichtung schrift, die sich profiliert katholisch gab. katholischen Kirchenbegriff nicht mit schof verhindert, Sailer sei als durch des Denkmals von Bischof Sailer auf Er kritisiert die mangelnde Differenzie- der Heilsfrage verknüpft, steht sein öku- und durch spiritueller Mensch an all dem Emmeranplatz im Zentrum der rung zwischen den „iura invariabilia“ menisches Mühen gleichzeitig unter dem diesen Widerständen nicht verbittert, Stadt Regensburg inhaltlich vorbreitet. und dem „status variabilis Ecclesiae“. Zeichen einer Gelassenheit, die weder sondern gereift, erklärte Voderholzer. (...) Überspitzte Rezensionen hätten die in- die Hast des Zeitdrucks noch die Resig- Heute werde er dagegen als ein ökume- Bischof Dr. Rudolf Vorderholzer sprach ter-konfessionellen Spannungen ange- nation bei äußerer Erfolglosigkeit kennt. nischer Vordenker bezeichnet. über die Bedeutung Johann Michael schürt; „erloschene Streitigkeiten, wel- Von Unionsplanung hält er nichts, weil Sailers als Priester und Seelsorger, che die Zeit wohltätig begraben hat“, das Ringen um die Wahrheit allzu schnell Landshuter Zeitung Theologe und Schriftsteller, Inspirator würden ohne Not wieder aus dem Grab der Organisation zum Opfer fällt. So 12. April 2014 – Sailer, der neben weite- der Bibelbewegung und Pionier der erweckt. Sailer moniert den allzu flachen habe er täglich mehr gelernt, „daß uns ren seinerzeit hochrangigen Gelehrten Ökumene, als Brückenbauer für Bayern theologischen Hintergrund mancher nur Einer helfen kann“. wie Friedrich Carl von Savigny und und Europa und über das Verständnis Mitarbeiter, die auf protestantische Sailers Interesse gilt nicht in erster Li- Ludwig Feuerbach Professor an der des Bischofsamts für die heutige Zeit. Theologen „Jagd machen“. Schließlich nie der Wiedervereinigung der Kirche(n), Universität Landshut war, fungierte zu- Dr. Bernhard Stalla

zur debatte 5/2014 15 Wirtschaft – nachhaltig und auf sozialethischer Basis

Ein Themengebiet gewinnt in der vielen gesellschaftlichen Gruppen, der Arbeit der Katholischen Akademie Politik, Gewerkschaften, Vertretern von Bayern und der Katholischen Erwach- Kunst, Verwaltung und Wissenschaft – senenbildung Bayern (KEB) immer und eben auch zu Unternehmen –, um mehr Gewicht: Das Zusammenspiel zusammen mit ihnen wichtige Fragen von Wirtschaft, Nachhaltigkeit und so- zu diskutieren und zu klären“, so Schul- zialethischen Fragestellungen. So ste- ler. hen z.B. in Veranstaltungen der Reihe Es folgte ein Impulsstatement von „Wissenschaft für jedermann“ im Deut- vbw Hauptgeschäftsführer Bertram schen Museum immer wieder Fragen Brossardt mit dem Titel „Die Bayerische der Umwelttechnologie und deren sozi- Wirtschaft: nachhaltig aus Tradition“: alethischer Dimension im Mittelpunkt; „Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet in den letzten Jahren wurden immer vor allem der stimmige Dreiklang aus wieder strittige, aber auch herausra- Ökonomie, Ökologie und Sozialem“, gend wichtige Themen des nachhalti- betonte Bertram Brossardt. „Diese Ziele gen Wirtschaftens aus technischer, po- müssen gleichberechtigt nebeneinander litischer und sozialethischer Warte be- stehen. In der öffentlichen Diskussion leuchtet: Energiewende (Power-to- wird Nachhaltigkeit oft auf ökologische Gas), Seltene Erden, Biosprit, Fracking und soziale Aspekte reduziert. Eine sol- oder Urban Mining. Im sogenannten che Verkürzung ist nicht sachgemäß, „Sozialethischen Fachforum“ kommen denn nur eine gute wirtschaftliche Basis – um eine weitere Reihe unserer Aka- schafft Spielraum für Investitionen in demie zu erwähnen – regelmäßig Ent- Umwelt und Soziales. Für Unterneh- Diskutierten auf dem Podium: Bertram scheidungsträger in die Akademie, um men ist nachhaltiges Handeln Bestand- Brossardt, Dr. Martin Theodor Steger, das Handeln an der Spitze von Unter- teil ihrer Geschäftspolitik. Dieses En- Dr. Florian Schuller, Stefan Holzamer nehmen zu erläutern. gagement muss freiwillig bleiben.“ und Franz Demmelmair (v.l.n.r.). Und so war es überhaupt nicht zu- Bei der anschließenden Podiums- fällig, dass am Abend des 11. Dezem- diskussion zeigte sich Dr.-Ing Martin bers 2013 die drei Grundbegriffe „Wirt- Theodor Steger, Vorstand der größten- schaft“, „Nachhaltigkeit“ und „Sozial- teils in Arbeitnehmerhand befindlichen Mitarbeiter zu stehen. Dazu gehöre die ten. Allerdings muss ein Unternehmen ethik“ wieder einmal gemeinsam im COPLAN AG aus Eggenfelden und bewusst und aus innerer Überzeugung wettbewerbsfähig bleiben. Und da die Mittelpunkt standen. Zusammen mit Vorsitzender des Beirats der Umwelt- gefällte Entscheidung, am Sonntag Produktion von Carbon nun einmal der „vbw–Vereinigung der Bayerischen cluster Bayern, eher nachdenklich. Un- nichts zu produzieren. Das wiederum energieintensiv sei, dürften die Energie- Wirtschaft e. V.“, der Interessenvertre- ternehmen müssten, wollen sie dem Ge- führe zu dezidierten Wettbewerbsnach- preise nicht zu stark steigen, um weiter tung bayerischer Unternehmen, veran- danken der Nachhaltigkeit in ökologi- teilen. „Wir müssen das eben anderwei- in Deutschland produzieren und damit staltete die Katholische Akademie Bay- scher und sozialer Hinsicht gerecht tig kompensieren“, erklärte Demmel- Arbeitsplätze sichern zu können, so ern eine abendliche Podiumsdiskussion werden, ihr Wirtschaften manchmal mair. sein Hinweis im Hinblick auf einen zum Thema „Nachhaltiges Wirtschaf- auch kritisch sehen und ökonomisch Stefan Holzamer, Geschäftsführer ganzheitlichen Ansatz der Nachhaltig- ten zahlt sich aus“. Bei seiner Begrü- zurückstecken. der SGL Technologies GmbH, eines keit. ßung vor rund 100 Teilnehmern im Franz Demmelmair, der Geschäfts- weltweit führenden Carbon-Herstellers Eine Stunde vor Beginn der Podi- Schloss Suresnes wies Akademiedirek- führer der im Eigentum der Barmherzi- aus Meitingen bei Augsburg, verwies umsdiskussion hatte das Schloss Sures- tor Dr. Florian Schuller darauf hin, gen Schwestern vom Heiligen Vinzenz zum Einen darauf, dass man in seiner nes im Zeichen der Sozialethik gestan- dass mit der Diskussion um nachhalti- von Paul befindlichen Adelholzener Firma Produkte herstelle, die stark zur den. Denn die KEB Bayern und die ges Wirtschaften nicht a priori Kritik Alpenquellen GmbH, bekannte sich in Verringerung des CO2-Ausstoßes beitrü- Münchner Hochschule für Philosophie an Unternehmen geübt werden solle. seinem Statement dazu, in besonderer gen und daher einen wichtigen Beitrag SJ hatten zur Abschlussfeier ihres ers- „Im Gegenteil. Wir suchen Kontakt zu Weise in sozialer Verantwortung für die zur ökologischen Nachhaltigkeit leiste- ten, 2012 gestarteten Zertifikatskurses „Ethik in globaler Perspektive“ gela- den. Mit diesem Zertifikat einer beson- ders auch in ethischen Fragen ausge- wiesenen Hochschule erwarben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein profundes Wissen zu den Grundlagen der Ethik wie zu „Bereichsethiken“, konkret im Kontext von Globalisie- rung, Medizinethik oder Leadership. Darüber hinaus bilden die Lehrveran- staltungen des Zertifikatskurses einen zentralen Teil des weiterbildenden Master-Studiengangs „Ethik – Grund- legung und Anwendung“. In der Bibliothek erhielten die erfolgreichen Studieren- den aus der Hand des Hochschulpräsi- denten Prof. Dr. Johannes Wallacher ihre Zertifikate. Unter den 17 Absol- ventinnen und Absolventen waren un- ter anderem Verantwortungsträger und Mitarbeiter aus Wirtschaft, Medizin, Lokalpolitik und Kirche, die sich an der Hochschule eingeschrieben hatten. Auch der im Herbst 2013 begonnene zweite Kurs erfreute sich großer Nach- frage, was zu einer langen Warteliste führte. Deshalb wird die KEB die Zu- sammenarbeit mit der Hochschule der Jesuiten auch über 2014 hinaus fortset- zen. Nach der Zeugnisübergabe setzten Johannes Wallacher und Florian Schul- ler ihre Unterschrift unter einen neuen Kooperationsvertrag für die kommen- den Jahre. Robert Walser

Die erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen des Zertifikatskurses „Ethik in globaler Perspektive“ mit Prof. Dr. Johannes Wallacher (links) und Dr. Florian Schuller (rechts).

16 zur debatte 5/2014 Reihe „Wissenschaft für jedermann“ Power-to-Gas Innovative Speichertechnologie für die Energiewende

Die große Bedeutung der alternati- kaum ausreicht, wirkungsvoll begeg- ven Speichertechnologie „Power-to- net werden. Gas“ für die Energiewende trat in Im Mittelpunkt des Abends stand eine einer gleichnamigen Veranstaltung technologische Fragestellung: Ist Po- der Katholischen Akademie Bayern wer-to-Gas eine innovative Speicher- am 13. November 2013 klar zu Tage. technologie? Wie diese Technik genau Der Vortrag von Dr. Michael Specht, funktioniert und welches Potential in Fachgebietsleiter Regenerative Ener- ihr steckt stellte Dr. Michael Specht gieträger und Verfahren am Zentrum den mehr als 270 Besuchern vor. Es Dr. Michael Specht (li.) im Gespräch für Sonnenenergie- und Wasserstoff- mussten sogar interessierte Menschen mit Professor Markus Vogt. Forschung Baden-Württemberg, in der abgewiesen werden, weil alle Sitz- Reihe „Wissenschaft für jedermann“, plätze im Ehrensaal des Deutschen die in Zusammenarbeit mit dem Deut- Museums besetzt waren. schen Museum stattfindet, machte Wir dokumentieren in der Folge die die Vorteile dieses vielversprechen- Einführung zur Veranstaltung, die den Speichermediums deutlich. Kurz Prof. Dr. Markus Vogt, Professor für einer Vielzahl unterschiedlicher Trans- Wandlungsprozesse frühzeitig in ihren gesagt funktioniert die Technik wie Christliche Sozialethik an der LMU formationsprozesse eine Synergie und inneren Zusammenhängen erkennt, ist folgt: Der aus erneuerbaren Quellen München, gehalten hat. Darin stellt „Wahlverwandtschaft“ (Max Weber) fähig, ihre Chancen zu nutzen, ihre Ge- gewonnene Strom wird in Wasserstoff Professor Markus Vogt, der die beiden herstellt, dann verdichten sie sich zu ei- fahren zu mindern und sie zu gestalten und dann in Methan umgewandelt, jährlichen Veranstaltungen der Katho- nem Epochenwandel. Vor dem Hinter- statt bloß zu erleiden. Der frühere UN- welches dann verlustfrei über Monate lischen Akademie in der Reihe „Wis- grund biblischer Ethik, die nicht nur Generalsekretär Kofi Annan hat die The- gelagert werden kann. So könnte – senschaft für jedermann“ moderiert, Strukturen bewahren, sondern auch se der „Großen Transformation“ in ei- wenn die Technik ausgereift ist – der das Thema „Power-to-Gas“ in den Aufbrüche ermöglichen will, ist es Auf- nem Interview in der Süddeutschen Zei- Problematik, dass regenerative Energie größeren ethischen und politischen gabe der christlichen Ethik, Wandlungs- tung bestätigt: „Ein grüner Umbau der ja nur unregelmäßig gewonnen Zusammenhang der Energiewende prozesse frühzeitig wahrzunehmen und Wirtschaft, wenn man ihn ernst nimmt werden kann und deshalb für eine und damit eines Epochenwechsels in zukunftsoffen mitzugestalten. und wenn er gelingt, wird einen ebenso konstante Stromversorgung allein der Energieversorgung. Viele Indizien sprechen dafür, dass großen Effekt haben wie die industrielle wir uns zu Beginn des 21. Jahrhundert Revolution.“ (SZ 9./10.11.2013) Dabei wieder an einer Schwelle von epochaler komme dem Energiesektor eine Schlüs- Bedeutung befinden. Als Ethiker muss selfunktion zu. ich sagen: Wir befinden uns hoffentlich Power-to-Gas: Katalysator für einen Epo- in einem umfassenden Wandlungspro- II. zess – denn alles andere wäre unverant- chenwechsel in der Energieversorgung? wortlich angesichts der vielfältigen sozi- Die Energiewende ist nicht irgendein alen und vor allem ökologischen Kri- Projekt. Mit ihr ist die Frage verbunden, Markus Vogt sen. Das Faktum des Klimawandels ob ein wirkliches Umdenken, eine Rich- zwingt uns quasi zu einer „Verwand- tungsänderung der Perspektive – theo- lung“ der Welt oder besser: zu einer logisch: eine Umkehr und Neuausrich- Verwandlung unseres Weltverhältnisses. tung – gewollt und möglich ist. Es geht Es geht hier nicht um irgendeine Re- um eine Große Transformation für ein form, es geht um eine „Große Transfor- postfossiles und postnukleares Wohl- mation“ (so der Titel des Hauptgutach- standsmodel. Dafür sind technologische I. befreiende Botschaft des Evangeliums tens 2011 des Wissenschaftlichen Beira- Innovationen wichtig – aber nicht nur. wird erst lebendig, wenn sie als Antwort tes globale Umweltveränderungen der Ebenso wichtig ist ein Kulturwandel, Nicht selten wird die Gegenwart in auf die Herausforderungen der jeweili- Bundesregierung [WBGU]). Nur wer der dazu beiträgt, dass die Energiever- Bezug auf die Umbrüche in der Energie- gen Gegenwart ins Spiel gebracht wird. versorgung und ihre vielfältigen Konse- Innovationen in Kirche und Theologie quenzen als Epochenwechsel bezeich- sowie in Gesellschaft und Wissenschaft net. Dabei ist jedoch fraglich, ob es an- sind häufig nicht das Produkt von abs- gemessen ist, die eigene Zeit als einen trakter Gelehrsamkeit, sondern von solchen Wechsel zu beschreiben. Solche dem intensiven Miterleben der Umbrü- Einschätzungen sind meist erst im Rück- che und Aufbrüche des sozialen Lebens blick möglich, da sie einer gewissen Di- und der technischen Entwicklungen. stanz und historischer Vergleichsgrößen Deswegen werden Innovationen eher bedürfen. Jede Zeit ist eine Mischung von Tüftlern angestoßen als von Theo- von Kontinuitäten und Umbrüchen, de- retikern, eher im Labor als in der Ge- ren jeweilige Tragweite sich oft erst sehr lehrtenstube. Bezogen auf die Sozial- viel später herausstellt und bewerten ethik: Oft ist das Miterleben der Nöte lässt. der Zeit wichtiger als das Bescheidwis- Diese Relativität sollte uns allerdings sen über ideale Lösungen. In Umbruchs- nicht daran hindern, die Umbrüche in situationen ist Transformationswissen der aktuellen Situation auch in ihren wichtiger als Zielwissen. Tiefendimensionen und Zusammenhän- Wenn tiefgreifende Veränderungen gen wahrzunehmen und Veränderun- und Wandlungsprozesse zusammenwir- gen, die gestaltend darauf reagieren, an- ken, kann dies im Rückblick dann als zustoßen. In der Theologie spricht man Epochenwechsel konstatiert werden. Im hier von den „Zeichen der Zeit“, die es 19. Jahrhundert war die industrielle Re- im Licht des Evangeliums zu erforschen volution ganz sicher so ein Epochen- gilt, und dem „Kairos“, dem rechten wechsel. Nicht umsonst spricht Jürgen Zeitpunkt für entschlossenes Handeln. Osterhammel in seiner grandiosen Welt- Menschen, die Innovationen anstoßen, geschichte des 19. Jahrhunderts von der haben ein Gespür für Veränderungen, „Verwandlung der Welt“ – eine Ver- die in der Luft liegen. Sie haben Maß- wandlung, die unterschiedlichste Berei- stäbe, in deren Licht sie Herausforde- che und Strukturen erfasste: die Tech- rungen erkennen und bewerten. Nicht nik, die Wirtschaft, die Politik, die zwi- Hans Ritt (li.) und Michael Hofmann zuletzt zeigen sie Mut, Hindernisse zu schenmenschlichen Beziehungen, die (Mi.) diskutieren mit Professor Markus überwinden und neue Wege zu gehen Fortbewegungsmittel, die Art des Woh- Vogt. auf der Suche nach Antworten auf die nens, ja sie umfasste das gesamte Den- Nöte und Chancen ihrer Zeit. Auch die ken und Handeln. Wenn sich zwischen

zur debatte 5/2014 17 ist eine Schlüsselfrage der Energiewen- de. Häufig ist die Skepsis gegenüber die- ser damit begründet, dass wetterabhän- gige regenerative Energien, wie bei- spielsweise Wind und Sonne, nicht re- gelmäßig zur Verfügung stehen. Ein Qualitätssprung in den Speichertechni- ken ist nötig, um Schwankungen bei der Energieerzeugung hinreichend abfedern zu können. Es ist bedauerlich, dass die Speichertechnologien jahrzehntelang vernachlässigt wurden. Durch Power-to-Gas kommt Schwung in die Debatte um eine durchaus über- raschende Entwicklung in diesem For- schungszweig. Diese verbinden sich mit höchst komplexen ethischen und öko- mischen Abwägungen zwischen relativ hohen Effizienzverlusten und systemi- schen Vorteilen. Ob die großen Hoff- nungen, die sich an die Umwandlung von Strom in speicherbares und über vorhandene Infrastrukturen lieferbares Gas knüpfen, begründet sind, müssen weitere Forschungen ergeben. Die tiefer gehende Frage, ob wir uns mit den Umbrüchen und Aufbrüchen der gegenwärtigen Energieversorgung am Beginn eines Epochenwechsels be- finden, wird allerdings erst die Zukunft beantworten. Unsere Aufgabe heute Abend ist es, den höchst spannenden und spannungsreichen Veränderungs- Fragender Politiker: Martin Stümpfig (Die Grünen). Dr. Michael Specht beantwortete nach seinem Referat die prozessen im Energiebereich an einem Fragen aus dem Publikum. konkreten Beispiel sowie den vielschich- tigen gesellschaftlichen und ethischen Zusammenhängen, die sich bei der Nut- zung und Durchsetzung dieser innovati- ven Technik ergeben, genauer auf die Spur zu kommen. Die in Deutschland so bräuche drastisch und anhaltend sin- logieführerschaft im Energiebereich Die Energiewende ist eine „Operation intensiv wie in keinem anderen Land ken. Ohne einschneidende Veränderun- wird zunehmend zum Entscheidungs- am offenen Herzen der Volkswirtschaft“ der Erde geführte Debatte um die Be- gen unseres Konsum- und Lebensstils faktor für Wettbewerbsvorteile und Ex- (Peter Altmaier). Ihr Gelingen setzt eine wertung der Energie (die in den 1970er ist die Energiewende nicht möglich. portchancen. Zugleich ist innovative innovative Verknüpfung, technischer, Jahren mit der Frage der Kernenergie Diesen Bewusstseinswandel anzusto- Energietechnik ein Beitrag zur Sicher- sozialer, ökonomischer und politischer begann und von Anfang an auch von ßen, darin sehe ich eine wichtige Aufga- heits- und Friedenspolitik, da sie die Intelligenz voraus. Sie setzt auch einen den Kirchen intensiv mitgeprägt wur- be für die christlichen Kirchen und an- Abhängigkeit von Gas und Erdöl expor- langen Atmen voraus, da die Dynamik de), kann man aus meiner Sicht durch- deren Religionen. Mit ihrem Erfahrungs- tierenden Ländern verringert. der Marktprozesse viele der langfristigen aus als ein Zeichen der Zeit deuten. schatz können sie die Bereitschaft zum Trotz dieser starken ethischen Motiva- Herausforderungen, um die es hierbei Denn ihr kommt eine exemplarische Maßhalten (Suffizienz) befördern. Denn tionsgründe für die Energiewende domi- geht, nicht abbilden kann. Bedeutung für die Suche nach einem die Fähigkeit zum Maßhalten bedarf ei- niert gegenwärtig weltweit der Ausbau schöpfungsverträglichen und zukunfts- nes Sinnhorizontes, der an etwas Maß billiger fossiler Energie, sei es Kohle oder III. fähigen Entwicklungspfad der Mensch- nimmt, das jenseits der Dynamik gren- Gas und Öl, das durch Fracking gewon- heit zu. „ zenloser Steigerung, wie sie unseren nen wird (worüber wir beim letzten Tref- Die Frage, ob innovative Lösungen für Umgang mit Gütern und Beschleuni- fen in diese Reihe diskutiert haben). Speichertechnologien gefunden werden, gungsprozessen derzeit prägt, liegt. Das Gelingen der Energiewende hängt da- von ab, ob eine Synergie zwischen sozi- alen Innovationen hinsichtlich der kul- turellen Leitwerte und technischen In- novationen, die dafür neue Chancen schaffen, zustande kommt.

Ohne einschneidende Ver- änderungen unseres Kon- sum- und Lebensstils ist die Energiewende nicht mög- lich.

Ob wir in Deutschland den technolo- gischen und kulturellen Kraftakt einer Energiewende schaffen und ob wir auch dann, wenn es höhere Kosten sowie ei- nen systemischen Wandel mit Gewin- nern und Verlierern gibt, tatsächlich zu einer solchen Transformation bereit sind – ist nicht nur für uns wichtig. Die deut- sche Energiewende ist ein Projekt, das weltweit mit einer Mischung aus Bewun- derung und Skepsis beobachtet wird. Wenn es gelingen sollte, dann kann da- von eine Veränderungswirkung ausge- hen, die andere Länder erfasst und welt- weit Transformationsprozesse anregt. Dieser experimentelle und symbolische Charakter der deutschen Energiewende sollte stets mit im Blick sein. Dafür, ob international ausstrahlende Effekte und In der ersten Reihe: Gotthard Dob- Grünen), energiepolitischer Sprecher Hofmann (CSU), aktiv im Arbeitskreis Nachahmungswirkungen eintreten, dürf- meier, ehemaliger Sprecher der Um- seiner Fraktion im Landtag, Hans Ritt Bildung und Kultur im Bayerischen ten auch ökonomische und politische weltbeauftragten der bayerischen (CSU) im Landtag tätig auf dem Gebiet Landtag (v.l.n.r.). Prozesse von Bedeutung sein: Techno- Erz-/Diözesen, Martin Stümpfig (Die Umwelt und Energie und Michael

18 zur debatte 5/2014 Blick auf die erste Frage erforderlich, Man konnte während der Julikrise und nachdem eine Antwort auf sie ge- 1914 also durchaus davon ausgehen, sucht worden ist, soll abschließend dass es gelingen werde, den sich ab- noch ein Blick auf die Durchhaltebe- zeichnenden Krieg auf den Balkan zu Der Erste Weltkrieg reitschaft bzw. Durchhaltefähigkeit der begrenzen oder, wenn dies nicht der Soldaten geworfen werden. Diese hat- Fall sein sollte und mehrere europäi- ten in dem so genannten Weihnachts- sche Großmächte in den Krieg hinein- frieden an einigen Abschnitten der gezogen wurden, dass der dann entstan- Westfront ja durchaus zum Ausdruck dene Krieg nach wenigen Monaten ent- gebracht, dass sie an der umgehenden schieden sein oder beendet werden Beendigung des Krieges interessiert wa- würde. Weil weder das eine noch das ren: Zu Hunderten hatten Deutsche, andere der Fall war, weil alle europäi- Briten und Franzosen an den Weih- schen Großmächte in den Krieg invol- Der Erste Weltkrieg gilt wohl zu Politikwissenschaftler Herfried Münk- nachtstagen 1914 die Kampfhandlun- viert waren und dieser Krieg mehr als Recht als „Urkatastrophe des 20. ler referierte am 11. März 2014 beim gen eingestellt, hatten die Gräben ver- vier Jahre dauerte, wurde er zur „Urka- Jahrhunderts.“ In vielerlei Hinsicht Akademiegespräch mit Offizieren der lassen und sich im Niemandsland ge- tastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie ihn markiert er eine einschneidende Zä- Bundeswehr – veranstaltet in Zusam- troffen, um Gaben auszutauschen, George F. Kennan genannt hat. sur der deutschen und europäischen menarbeit mit der Katholischen Sol- Weihnachtslieder zu singen, Gefallene Das „Konzert der europäischen Mäch- Geschichte. Millionen von Menschen datenseelsorge – zum Thema „Warum zu bestatten und, so wird verschiedent- te“ hatte sich am Ende des 19. Jahrhun- verloren in den Materialschlachten bis der Erste Weltkrieg nicht im Herbst lich berichtet, gegeneinander bzw. mit- derts zunehmend in die Konfrontation dahin nicht gekannten Ausmaßes ihr 1914 beendet wurde.“ Und bei unserer einander Fußball zu spielen. Für diese zweier Bündnissysteme verwandelt: auf Leben. Tiefgreifende Erschütterungen Tagung „August 1914 – Der Ausbruch Soldaten jedenfalls waren die mehr als der einen Seite der Dreibund, bestehend aller bisherigen Lebenswirklichkeiten des Ersten Weltkriegs“ am Montag, vier Monate, in denen sie Krieg geführt aus Deutschland, Österreich-Ungarn waren die Folgen. In zwei sehr gut 17. März 2014, analysierten die drei hatten, lange genug. Aber weil im Spät- und Italien, auf der anderen Seite die besuchten Veranstaltungen befasste renommierten Historiker Christopher herbst 1914 keine Waffenstillstandsver- Triple-Entente, bestehend aus Frank- sich die Katholische Akademie mit Clark, Andreas Holzem und Lucian handlungen geführt und kein Friede ge- reich, Russland und Großbritannien. verschiedenen Aspekten des Großen Hölscher die Vorgeschichte des Krie- schlossen worden war, sollte der Krieg Aber diese Bündnisse waren wenig ge- Krieges, eines gerade durch die politi- ges, die Rolle von Katholiken und Kir- noch vier weitere Jahre dauern und festigt, und die Bündnispartner wussten schen Entwicklungen in der Ukraine che sowie die völlig neue Dimension nicht nur die Machtverhältnisse in Eu- nicht, ob und unter welchen Umstän- so aktuellen Themas. Der namhafte dieses Krieges. ropa, sondern auch die Ordnung der den sie sich auf die anderen verlassen europäischen Gesellschaften von Grund konnten: So bezweifelte man in Berlin auf verändern. und Wien die Zuverlässigkeit Italiens Dass es bei einem großen Krieg in bei einem Krieg, der sich um Mitteleu- Europa nicht bei der Verschiebung von ropa drehte, und bei einem Konflikt mit Grenzen und einer Veränderung in der Frankreich konnte sich Deutschland Rangfolge der Staaten bleiben würde, ist keineswegs der Unterstützung durch den Klügeren unter den Akteuren wie Österreich-Ungarn sicher sein. Das war Der Große Krieg. Warum der Erste Welt- Kommentatoren des Geschehens lange in der Triple-Entente nicht viel anders, vor 1914 klar gewesen, und zwar von da Großbritannien keine festen Bünd- krieg nicht im Herbst 1914 beendet wurde der politischen Linken über die Libera- nisse eingehen, sondern politische Ent- len bis zu den Konservativen. Selbstver- scheidungsspielräume behalten wollte. Herfried Münkler ständlich gab es auch einige, die einen Eigentlich konnte man sich der Briten Krieg wollten und auf ihn hinarbeiteten, nur sicher sein, wenn ein militärischer weil sie sich von ihm eine Revolutionie- Erfolg der Deutschen die Sicherheit rung der europäischen Gesellschaften Großbritanniens bzw. seinen Einfluss erhofften oder darauf setzten, der Krieg auf dem Kontinent in Frage stellen wür- werde alle Entwicklungen rückgängig de. machen, die von dem langen Frieden in Das Gefährliche an den Bündniskon- Es hat im Herbst 1914 keine Frie- Europa profitiert hatten. Aber es waren stellationen war also, dass man sich nur densverhandlungen gegeben, nicht ein- nur Wenige, die den Krieg als morali- im Fall einer Eskalation zum großen eu- mal Verhandlungen über einen Waffen- sche Gesundung oder sittliche Erneue- ropäischen Krieg wirklich aufeinander stillstand, und insofern mag die The- rung der im Frieden, wie sie meinten, verlassen konnte – und das hatte zur menstellung meines Vortrags überra- der Dekadenz verfallenen Gesellschaf- Folge, dass einige Mächte mit dieser Es- schend sein. Sie orientiert sich nicht an ten begriffen. kalation „spielten“, um strategische Un- dem, was der Fall war bzw. worum man Es ist naheliegend, dass den Büchern terlegenheiten auszugleichen, die sonst sich bemüht hat und woran man dann und Essays derer, die den Krieg schon entstanden wären. Dem Interesse an doch gescheitert ist, sondern folgt Über- vor dem Sommer 1914 als moralische der Lokalisierung eines Konflikts, das legungen, die von der Frage ausgehen, Anstalt feierten, im Nachhinein eine ein gesamteuropäisches Interesse war, was den nach den Handlungslogiken Bedeutung zugesprochen wurde, die ih- stand also der Zwang zur Ausweitung der Akteure bzw. den systemischen Im- nen vor 1914 tatsächlich nicht zuge- eines Konflikts gegenüber, dem die perativen der politischen Ordnung Eu- kommen ist. Die Auflagen dieser Bü- Bündnispartner in unterschiedlichen ropas im Spätherbst 1914 rational ge- cher waren niedrig, und in den Vorwor- Konstellationen unterlagen. wesen wäre. Und zweifellos wäre es im ten wurde fast immer darüber geklagt, Offenbar waren sich die deutsche wie Hinblick auf die kriegführenden Partei- dass die hierin vertretenen Auffassun- die britische politische Führung über en wie auf die europäische Ordnung ra- gen keine größere Aufmerksamkeit fän- die strukturellen Risiken dieser Konstel- tional gewesen, den Krieg im Herbst den. Tatsächlich besaßen Publikationen, lationen im Klaren, und suchten diesen 1914 zu beenden, nachdem das von die vor einem großen Krieg und seinen Risiken durch verstärkte Zusammenar- (fast) allen Kriegsparteien verfolgte Pro- Folgen warnten, eine viel größere Reso- beit und vertrauensbildende Maßnah- jekt einer schnellen Entscheidung fehl- nanz und hatten einen dementspre- men entgegenzuwirken. In der jüngeren geschlagen war und sich abzeichnete, chend größeren Einfluss auf die öffent- Forschung ist inzwischen von einer dass man, wenn der Krieg weiterging, liche Meinung. „Entspannungspolitik“ in den Jahren den von allen gefürchteten Erschöp- Zur Vermeidung eines tief in die ge- vor 1914 die Rede. Diese Entspan- fungskrieg führen werde. Prof. Dr. Herfried Münkler, Professor sellschaftliche Ordnung und die wirt- nungspolitik entwickelte sich parallel zu Die nachfolgenden Überlegungen für Theorie der Politik, Humboldt- schaftliche Prosperität eingreifenden den forcierten Rüstungsanstrengungen, drehen sich also um die Frage, warum Universität zu Berlin Krieges in Europa gab es im Prinzip die vor allem von Frankreich, Deutsch- die führenden Politiker der europäi- zwei politische Strategien: die der land und Russland unternommen wur- schen Staaten es nicht schafften, die tat- räumlichen und die der zeitlichen Be- den. Das Wettrüsten zur See, das im sächlichen Interessen ihrer Länder zu grenzung. Grundsätzlich hatten beide ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verfolgen, sondern stattdessen den Kon- ausgebrochen und zum großen Krieg in seit den napoleonischen Kriegen und das deutsch-britische Verhältnis ver- tinent in die große Katastrophe steuer- Europa geworden war, im Herbst/Spät- deren Beendigung im Wiener Kongress schlechtert hatte, war inzwischen in den ten, die für den weiteren Verlauf des herbst 1914 zu beenden? 3. Warum ha- von 1815 leidlich zuverlässig funktio- Hintergrund getreten, und die Rüs- 20. Jahrhunderts so verheerende Folgen ben die Soldaten, aber auch die Bevöl- niert. Es hatte in Europa Kriege gege- tungswettläufe konzentrierten sich auf gehabt hat. kerungen in der Heimat den Krieg so ben, wie die des italienischen Risorgi- die Landstreitkräfte, die vergrößert und Ich schlage also vor, die komplexe, lange mitgemacht, warum haben sie sich mento, den Krimkrieg oder die deut- mit neuen Waffen ausgerüstet wurden. politisch kontrovers diskutierte und nicht der Fortführung des Krieges in der schen Reichseinigungskriege zwischen Bei diesem Wettlauf drohte Deutsch- letzten Endes nicht eindeutig zu beant- Form eines Streiks – eines Kampfstreiks 1864 und 1870/71, aber alle diese Krie- land, die bis dahin stärkste Militär- wortende Frage, wer an diesem Krieg bei den Frontverbänden, eines Produk- ge blieben räumlich begrenzt oder wur- macht auf dem Kontinent, zunehmend schuld gewesen sei, durch drei präzisere tionsstreiks bei den Rüstungsarbeitern den nach wenigen Monaten beendet. ins Hintertreffen zu geraten, und das und darum besser zu bearbeitende Fra- und -arbeiterinnen – verweigert? Das galt auch noch für die beiden Bal- war der Grund, warum Generalstabs- gen zu ersetzen: kankriege von 1912 und 1913, in denen chef Helmuth von Moltke d.J. in den 1. Warum ist es nicht gelungen, den I. zunächst eine Koalition von Balkanstaa- Jahren vor dem Krieg immer wieder er- Krieg im Sommer 1914 auf den Balkan ten das Osmanische Reich aus Europa klärte, wenn es zum Krieg in Europa zu begrenzen, wo der den Krieg auslö- Ich will mich nachfolgend vor allem herausgedrängt und dann im Streit über komme, dann besser früher als später. sende Konfliktherd lag? 2. Warum ist es auf die zweite Frage konzentrieren, aber die Verteilung der eroberten Territorien Bei Moltkes Drängen spielte auch nicht gelungen, den Krieg, nachdem er um sie zu beantworten, ist zunächst ein gegeneinander Krieg geführt hatten. eine Rolle, dass Italien seit dem Libyen-

zur debatte 5/2014 19 spielten im Herbst 1914 so gut wie kei- Politik sich nicht aus der Fesselung des ne Rolle. Und Großbritannien hatte, Kriegsgeschehens an die Vorstellungs- nachdem der Krieg erst einmal begon- welt des Sakralen befreien konnte. Auf nen hatte, kein starkes Interesse an sei- deutscher Seite wurde der Mythos von ner schnellen Beendigung, denn als See- Langemarck, die Erzählung vom Sturm- macht führte es seine Kriege ohnehin angriff der Kriegsfreiwilligen auf die über längere Zeiträume, als das bei den englischen Stellungen, zum Höhepunkt auf die Entscheidungsschlacht fixierten dieser Sakralisierung des Krieges. Sie Landmächten üblich war. Das Instru- war gleichbedeutend mit einer Immuni- ment der Handelsblockade würde erst sierung gegen jede Kalkülrationalität. über einen längeren Zeitraum seine vol- So verstrich die Gelegenheit, den le Wirkung entfalten, und obendrein sa- Krieg zu beenden, bevor er sich tief in hen die Pläne des britischen Kriegsmi- die Strukturen der europäischen Gesell- nisters Kitchener vor, dass sich Frank- schaften hineingrub. Hätte der Krieg im reich, Deutschland und Russland, alle- Spätherbst 1914 geendet, so wäre dies samt Konkurrenten Großbritanniens, zwar ein furchtbarer Einschnitt in der im Krieg zunächst gegenseitig schwä- europäischen Geschichte gewesen mit chen sollten, bevor die Briten ihr ganzes mehreren hunderttausend Toten und Gewicht in die Waagschale werfen, um etwa ebenso vielen Verstümmelten, aber die Entscheidung zugunsten der Triple- der Krieg wäre nicht zur „Urkatastro- Entente herbeizuführen. Es fehlte also phe des 20. Jahrhunderts“ geworden: an einem mächtigen Dritten, der ein Italien wäre nicht in den Krieg eingetre- starkes Interesse an der schnellen Been- ten und dementsprechend wäre dort digung des Krieges hatte und dement- auch nicht der Faschismus entstanden sprechend auf die Kriegsparteien ein- und an die Macht gekommen; das deut- wirkte. sche Bürgertum hätte nicht seine Söh- Professor Herfried Münkler im Ein zweiter Grund für das Ausblei- ne, seine Vermögen und seine politische Gespräch mit jungen Offizieren. ben von Waffenstillstandsinitiativen war Orientierung verloren, mit der Folge, der Umstand, dass es sich um einen Ko- dass dem Nationalsozialismus in alitionskrieg handelte, bei dem die je- Deutschland die Grundlage für seinen weiligen Verbündeten unterschiedliche Erfolg gefehlt hätte; schließlich hätte in Interessen verfolgten und einander Russland vielleicht eine politische Revo- misstrauten. Beim Gegner wusste man, lution stattgefunden, aber höchstwahr- krieg von 1911 ein mehr als unsicherer pläne für einen schnellen Krieg entwor- woran man war und womit man zu scheinlich wäre ein bolschewistischer Bündnispartner war: Italien hatte sich fen: Die Russen wollten im Plan 19 zu- rechnen hatte; bei den Bündnispartnern Staatsstreich nicht erfolgreich gewesen ohnehin nur mit Blick auf Deutschland nächst Ostpreußen und Galizien er- war das nicht der Fall. Die Einstellung und Stalin nicht an die Macht gekom- in das Bündnis begeben, während es ge- obern, um dann aus dem Raum War- der Kampfhandlungen zum Zeitpunkt x men. Mit großer Sicherheit hätte ein genüber Österreich-Ungarn Gebietsan- schau heraus auf die schlesischen In- würde für den einen Verbündeten güns- frühzeitiges Ende des Großen Krieges sprüche geltend machte, die auf Seiten dustriegebiete und von dort nach Berlin tiger sein als für den anderen, und man Europa auch den Zweiten Weltkrieg er- der Donaumonarchie dazu führten, dass und Wien vorzustoßen; die österrei- befürchtete, einer der Bündnispartner spart. man an Plänen für einen Präventivkrieg chisch-ungarischen Pläne sahen die zü- könne sich bei für ihn günstiger Gele- Während beim Ausbruch des Krieges gegen Italien arbeitete. Aber Italien hat- gige Niederwerfung Serbiens und eines genheit auf Separatfriedensverhandlun- bzw. beim Misslingen seiner Lokalisie- te sich zuvor von Frankreich an seiner schnellen Angriffs auf die russischen gen einlassen. Die Folge war, dass sich rung Zufälle (die Abläufe beim Attentat nordwestlichen Grenze und durch die Streitkräfte vor, die zerschlagen werden keine der kriegsbeteiligten Mächte trau- in Sarajewo, der deutsche Spion in der Ausdehnung des französischen Koloni- sollten, bevor sie sich in voller Stärke te, einen Vorstoß zur Aufnahme von russischen Botschaft in London etc.) alreichs auf Tunesien „eingekreist“ ge- versammelt hatten; der französische Waffenstillstandsverhandlungen zu un- eine große Rolle gespielt haben, waren fühlt und das Bündnis mit Deutschland Plan XVII drehte sich um einen Angriff ternehmen, denn sie fürchteten, dann es im Spätherbst 1914 im Wesentlichen als Gegengewicht zu Frankreich ge- aus Lothringen heraus, der bis zum im eigenen Bündnis an politischem Ge- strukturelle Faktoren, die einer frühzei- sucht. Mit der Eroberung Libyens je- Rhein und von dort aus ins Ruhrgebiet, wicht und militärischer Unterstützung tigen Beendigung des Krieges entgegen- doch hatte sich der geopolitische Blick das industrielle Herz Deutschlands, füh- bei der Durchsetzung ihrer je eigenen standen. Es hätte einer überragenden in Rom verändert: Nun war man selbst ren sollte. Und die Deutschen wieder- Ziele zu verlieren. Es galt die so ge- politischen Persönlichkeit bedurft, um auf der gegenüberliegenden Mittelmeer- um wollten gemäß den Vorgaben des nannte Mikadoregel, wonach derjenige, in den nun fast zwangsläufig erfolgen- küste präsent, und gegen die damit ver- Schlieffenplans den französischen Fes- der zuerst zucke, verloren habe. Die den Gang des Geschehens einzugreifen bundene Verwundbarkeit konnte das tungsgürtel über Belgien umgehen, um Folge war, dass im Spätherbst 1914 alle und den in die Katastrophe Europas hin- Bündnis mit Deutschland keinen Schutz das französische Heer in Flanke und eisern zu ihrem Bündnis standen und einführenden Krieg zu beenden. Es ge- bieten. Das hatte zur Folge, dass Öster- Rücken zu packen, von hinten auf sei- keinerlei Anstrengungen zur Beendi- hört zu den zahllosen Paradoxien des reich-Ungarn der einzige zuverlässige nen Festungsgürtel zu werfen und dort gung des Krieges unternahmen. Krieges, dass das, was in der Retrospek- Bündnispartner der Deutschen waren, zur Kapitulation zwingen. Schließlich gab es noch einen dritten tive als das Naheliegende und Vernünf- weswegen sie ihm viel entschlossener Man muss sich diese auf einen Krieg Grund, der die Aufnahme von Waffen- tige erscheint, in den konkreten Kons- als zuvor den Rücken stärken mussten, von wenigen Monaten ausgerichteten stillstandsgesprächen blockierte, und tellationen der Zeit nahezu übermensch- sobald die Doppelmonarchie in Gefahr Pläne vor Augen führen, um die hier ge- der war semantischer Art: Man hatte licher Fähigkeiten bedurft hätte. kam. Das erklärt die weitreichenden stellte Frage zu verstehen, warum im die im Bewegungskrieg getöteten Solda- deutschen Unterstützungszusagen (den Spätherbst 1914 kein Waffenstillstand ten sprachlich sakrifiziert, sie in Gefal- III. „Blankoscheck“) im Juli 1914, die sich geschlossen und mit Friedensverhand- lene und heilige Opfer verwandelt, de- auf den Fall eines russischen Eingrei- lungen begonnen worden ist. Spätestens ren Heldentod man schuldig sei, das Aber warum haben die Soldaten wei- fens in den Konflikt mit Serbien bezo- im November 1914 nämlich war klar, Vermächtnis ihres jungen Sterbens zu tergekämpft? Warum sind sie nicht in gen. dass diese Offensivpläne (mit Ausnah- vollenden, und das hieß, den Krieg bis einen „Kampfstreik“ getreten und ha- Und auf der anderen Seite fühlten me der russischen in Ostgalizien) ge- zum siegreichen Ende weiterzuführen. ben auf diese Weise den Krieg beendet? sich die Franzosen verpflichtet, ihrer- scheitert waren und der Krieg, wenn er Es waren die Sprache und die sie be- In den politischen Debatten früherer seits den Russen die Bündnistreue bei weitergeführt würde, sich in genau den gleitenden Bilder, die sich gegen eine Jahrzehnte ist diese Frage vor allem mit einem Krieg mit Deutschland zu versi- Erschöpfungskrieg verwandeln musste, nüchterne Bilanzierung des bisherigen dem Namen von Karl Liebknecht und chern. Eine deutsch-britische Koopera- den man unter allen Umständen hatte Kriegsverlaufs sperrten. Eine solche Bi- Rosa Luxemburg verbunden worden tion hätte den Zusammenprall wohl vermeiden wollen. Es kam hinzu, dass lanz hätte gezeigt, dass die Fortführung bzw. es ist der deutschen Sozialdemo- verhindern können, aber sie kam nicht man nur für einen kurzen Krieg Muniti- des Krieges für die an ihm beteiligten kratie „Verrat“ an den Ideen der politi- zustande, weil sich Bethmann Hollweg onsreserven angelegt hatte. So kam zur Staaten selbst im günstigsten Fall mehr schen Linken vorgeworfen worden, weil durch die Briten im Frühjahr 1914 ge- physischen Erschöpfung der Soldaten Nachteile als Vorteile erbringen würde. sie zu lange an der „Burgfriedenspoli- täuscht fühlte: Die Briten hatten mit nach den Monaten des Bewegungs- Um jedoch eine solche Bilanz zu zie- tik“ festgehalten und so die Entstehung den Russen geheime Gespräche über kriegs eine Munitionskrise hinzu. Dass hen, hätte man sich von allen Begriffen einer massiven Antikriegsstimmung in eine Marinekonvention geführt, wovon im Spätherbst 1914, zumindest im Wes- und damit verbundenen Vorstellungen Deutschland verhindert habe. Aber da- die Deutschen durch einen Spion erfah- ten, die Fronten erstarrten, die Soldaten des Opfers und des Vermächtnisses frei- mit ist die Frage nach dem Durchhalten ren hatten; Außenminister Grey hatte sich eingruben und auf den Stellungs- machen müssen, und das wäre zu die- der Soldaten, abgesehen davon, dass sie diese Gespräche jedoch auf deutsche krieg einrichteten, war auch ein Indika- sem Zeitpunkt als nackter Zynismus er- sich nicht nur für Deutschland stellt, in Nachfrage bestritten. Bethmann traute tor dafür, dass sie am Ende ihrer Leis- schienen. ein Problem der politischen Führung den Briten nicht mehr. tungsfähigkeit waren. Das waren im Die sakrale Überformung des Ge- verwandelt worden. Ob die einfachen Prinzip gute Voraussetzungen für die waltgeschehens hat dazu geführt, dass Soldaten an der Front aber weiter- II. Aufnahme von Waffenstillstandsver- die Politik zum Gefangenen der von ihr kämpften oder das Kämpfen einstellten, handlungen. Warum ist es dazu nicht selbst verwandten Begriffe geworden war keine Frage, die nur auf das Agie- Es waren aber nicht nur die politi- gekommen? war. Will man es pointieren, so könnte ren von Parteipolitikern zielte, sondern schen Konstellationen, sondern auch Der erste Grund war, dass es infolge man sagen: So, wie im Juli 1914 die Lo- die sich an jeden Soldaten, jede Kompa- die militärischen Planungen, die zur Ka- des Kriegseintritts der Briten keinen kalisierung des Krieges misslang, weil nie, jedes Bataillon, jedes Regiment tastrophe des großen Krieges führten. mächtigen Dritten in Europa gab, der die Imperative der Organisation, kon- richtete. Ganz unabhängig von der poli- Weil man einen langen Erschöpfungs- mit Anreizen und Drohungen die krieg- kret der Mobilmachungspläne, die tischen Spaltung der deutschen Sozial- krieg unter allen Umständen vermeiden führenden Parteien zur Aufnahme von Spielräume der Politik immer weiter demokratie haben die Soldaten weiter- wollte, hatten mit Ausnahme der Briten Waffenstillstandsgesprächen bringen verengten, so scheiterte die frühzeitige gekämpft, und es gibt keinen Grund, alle europäischen Großmächte Offensiv- konnte. Zwar gab es die USA, aber sie Beendigung des Krieges daran, dass die das für selbstverständlich zu nehmen.

20 zur debatte 5/2014 Foto: akg-images Ein deutscher Schützengraben im Ers- nützungskrieg geführt werden wird, der ten Weltkrieg: Obwohl schon im Herbst im Endeffekt allen schaden wird, kam 1914 klar war, dass nur noch ein Ab- es zu keinen Friedensgesprächen.

Tatsächlich hat es während des ge- Mischung aus Nachgiebigkeit und Här- Was war das Pendant dazu bei den Bemerkenswerterweise ging die militäri- samten Krieges Kampfstreiks gegeben, te die Meutereien zu beenden: Die Sol- Deutschen, die ihrerseits die gegneri- sche Führung gegen diese „Drückeber- aber diese haben nur in wenigen Fällen daten würden kämpfen, wenn die Deut- sche Materialüberlegenheit zunehmend gerei“ kaum vor (wenngleich sie ständig Einfluss auf den weiteren Verlauf des schen angriffen, aber zu einer eigenen zu spüren bekamen? Zum einen spielte darüber klagte), und das kam vermut- Kriegsgeschehens gehabt: Da waren zu- Großoffensive waren sie nicht mehr be- die Hoffnung auf einen Separatfrieden lich der Kampfkraft der Frontverbände nächst die Massendesertionen, insbe- reit, und das blieb so bis ins späte Früh- mit den Russen oder den Zerfall der za- zugute. sondere tschechischer Einheiten, in der jahr 1918. Man kann in diesem Fall von rischen Armee eine Rolle, und diese Aber dieses effektive Lernen der k.u.k. Armee; unter dem Begriff Kampf- einem Angriffsstreik sprechen, der dazu Hoffnung keimte seit dem Sommer Deutschen war, auf längere Sicht gese- streik sind auch die Kapitulationen gan- führte, dass sich das Kampfgeschehen 1915 immer wieder in unterschiedlicher hen, ein Verhängnis, denn es trug nicht zer russischer Divisionen zu fassen, an der Westfront seit Mai/Juni 1917 we- Stärke auf, um sich dann 1917/1918 nur zu der Vorstellung bei, das Heer sei wenn sie von den deutschen Truppen sentlich zwischen Briten und Deutschen noch einmal stark bemerkbar zu ma- bis zum Schluss „im Felde unbesiegt“ eingeschlossen worden waren. Oftmals abspielte. chen. Jetzt, so die Vorstellung, könne geblieben und nur dem „Dolchstoß“ der waren die deutschen Einschließungsver- Warum hat sich Vergleichbares weder man alle Kräfte im Westen konzentrie- Heimat, also Streiks und Revolution, bände den eingeschlossenen russischen bei den Briten noch bei den Deutschen ren und dort die Entscheidung herbei- zum Opfer gefallen, sondern es führte Truppen kräftemäßig unterlegen und zugetragen? Bei den Briten dürfte eine führen, und tatsächlich wurde die Mi- auch zu der Vorstellung, man hätte, ein erfolgreicher Ausbruch aus dem Rolle gespielt haben, dass ein Sieg zu chael-Offensive im März 1918 bei vie- wenn man etwas andere Waffen gehabt Kessel wäre möglich gewesen. Das gilt Lande, also ein erfolgreicher Durch- len Soldaten von der Erwartung beglei- hätte, solche etwa, mit denen man Ge- für Tannenberg, für Augustowo und für bruch der Bodentruppen, nur die eine tet, man werde den entscheidenden fechtsverläufe beschleunigen konnte, den verlustreichen Rückzug der Russen Option war und man daneben auf die Durchbruch erzielen und den Krieg zu den Krieg gewinnen können. Diese Vor- aus Galizien nach der Durchbruchs- sich langfristig immer stärker bemerk- den eigenen Gunsten entscheiden. Die- stellung wurde zur Leitidee bei der Ent- schlacht von Gorlice-Tarnów. Die legen- bar machende Wirkung der Seeblocka- ser Zuversicht kam zugute, dass die fesselung des Zweiten Weltkriegs, die däre Tapferkeit der russischen Infante- de setzte. Das stärkte die Siegeserwar- Deutschen in operativer Hinsicht schnel- dieses Mal, im Unterschied zu 1914, al- rie schwand, sobald das Vertrauen in die tung. Es kam seit dem Frühjahr 1917 ler und effektiver lernten als alle ande- lein von deutscher Seite aus erfolgte. „ militärische Führung dahin war, und die Zuversicht hinzu, dass durch den ren Kriegsparteien, und die Erfahrung dann ergaben sich die Bauernsoldaten Kriegseintritt der USA die Überlegen- permanenter taktischer Innovationen Nachweis und Belege zu den hier ver- zu Tausenden; sie weigerten sich, unter heit an Menschen und Material für den und ihrer Effekte spielte bis zu den ein- tretenen Thesen finden sich in Herfried einer solchen Führung weiterzukämpfen. Westen kriegsentscheidend sein würde. fachen Soldaten eine erhebliche Rolle. Münkler, „Der Große Krieg. Die Welt Ein weiterer Kampfstreik war die Obendrein machte sich die Material- Selbstverständlich gab es auch bei den 1914-1918“, Rowohlt, Berlin 2013. Meuterei französischer Divisionen nach überlegenheit inzwischen auch im Artil- deutschen Truppen „Drückeberger“, dem verlustreichen Scheitern der Nivel- lerieeinsatz an der Front bemerkbar. also solche, die Fronturlaube nutzten, le-Offensive im Frühjahr 1917, als sich Das alles trug zur Siegeszuversicht der um nicht zu ihren Einheiten zurückzu- die Soldaten weigerten, erneut anzu- Soldaten bei, und Siegeszuversicht war kehren, und die Zahl dieser „Drücke- greifen und ins deutsche Feuer zu ge- das wirksamste Mittel gegen eine sich berger“ stieg, als Verbände in großem hen. General Pétain, der den glücklosen ausbreitende psychische Erschöpfung Stil im Herbst/Winter 1917/18 von der Nivelle ablöste, gelang es mit einer und Kampfmüdigkeit. Ost- an die Westfront verlegt wurden.

zur debatte 5/2014 21 Ausbruch des Weltkrieges ein gewisser verwandelnde Kraft eines Ereignisses, Die Schlafwandler „period charm“ entwickelt. In den herr- eines Terroraktes aufmerksam, auch lichen Populärhistorien von Barbara wenn wir in ihm die Verkörperung tie- Christopher Clark Tuchman („1914“ und „The Guns of fer, längerfristiger, historischer Prozesse August“), die auch hierzulande viel ge- erkennen. Und nach den jugoslawi- lesen wurden und noch werden, er- schen Kriegen der 1990er Jahre sind wir schienen die Krisenjahre der Vorkriegs- vielleicht weniger geneigt, die Energie, zeit wie ein farbenreiches Historien- das Gewaltpotential des damaligen bal- gemälde. Tuchman stellte prächtige kanischen Nationalismus zu übersehen, Uniformen, seltsame Sitten, exzentri- wir sehen in ihm einen eigenständigen I. Eine alte Frage sche Persönlichkeiten liebevoll dar. Sie geschichtlichen Faktor. Serbien ist na- schilderte Lord Salisbury auf dem Weg türlich mitunter auch ein Opfer der gro- Am frühen Vormittag des 28. Juni zum britischen Unterhaus, auf seinem ßen, historischen Handlungen, aber 1914, als der österreich-ungarische Dreirad sitzend, geschoben von seinem dass es nur ein passives Opfer, ein Zu- Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand Diener James, wie er die kleinen Hügel schauer in den großen Zeitläufen der und seine Frau Sophie Chotek am Sara- im St. James Park mit flatterndem Frack Vorkriegszeit gewesen sei, erscheint uns jevoer Bahnhof ankamen, um der herunterrollte. Sehr genau wurde auf heute eher unglaubwürdig, und eben Hauptstadt Bosniens einen feierlichen die Willkürlichkeiten des Habsburger nicht, weil wir die serbische Vergangen- Besuch abzustatten, herrschte in Euro- Hofetiquetts eingegangen, auf die extra- heit vom Massaker von Srebrenica her pa Frieden. Und hätte man die bestin- vaganten Speisekarten bei Galadiners interpretieren, sondern ganz umgekehrt, formierten Staatsmänner des Konti- und überhaupt auf die monströse Spät- weil wir durch die neueste Geschichte nents an jenem Vormittag gefragt, wie blüte der kontinentaleuropäischen Hof- sensibilisiert werden für Aspekte des da- groß sie das Risiko eines europäischen kulturen. Und es befestigte sich unbe- maligen Geschehens, die bisher aus ver- Krieges einschätzten, dann hätte die merkt die Annahme: das seien wohl schiedenen Gründen aus unserem Bild Mehrzahl von ihnen geantwortet, ein Menschen aus einer verschollenen und der Ereignisse ausgeblendet wurden. kontinentaler Konflikt sei in den letzten vielleicht auch todgeweihten Welt ge- Die Sommerkrise des Jahres 1914 Monaten unwahrscheinlicher gewor- wesen; wenn ihre Helme mit riesigen mag in einer größeren zeitlichen Entfer- den. grünen Straußenfedern geschmückt wa- nung von uns stehen, sie ist uns aber Schließlich hatte man die Balkankri- ren, dann waren ihre Gedanken und auch paradoxerweise näher als vor zehn, sen der Jahre 1912 und 1913 überwun- Ideen wohl auch mit solchen Ornamen- zwanzig oder dreißig Jahren. Erst lang- den, ohne einen großen Krieg auszulö- ten ausgestattet. Das seien wohl keine sam ist es uns klar geworden, was das sen. Insofern verschärfte Spannung zwi- Zeitgenossen gewesen, sondern gestrige Ende der bipolaren Stabilität des Kalten schen den europäischen Großmächten Menschen, Ideen und Argumente, die Krieges für die Entwicklung des globa- zu verzeichnen sei, betraf diese die Ver- mit der heutigen Welt wenig gemein ha- len geopolitischen Systems bedeutet. hältnisse innerhalb der zwei Bündnisse, Prof. Dr. Christopher Clark, Professor of ben. Wir befinden uns – wie die Zeitgenos- nicht diesjenigen zwischen Entente und Modern European History, University of Wirft man jedoch erneut einen Blick sen vom Jahre 1914 – in einer zuneh- Dreibund. „Seitdem ich beim Foreign Cambridge auf die Ereignisse der Sommerkrise mend gefährlichen, multipolaren Welt, Office angestellt bin“, schrieb Arthur 1914, ist man erstaunt von der rohen gekennzeichnet durch regionale Krisen, Nicolson, ein hoher Beamter des briti- Modernität des Geschehens. Die Krise durch das Neben- und Gegeneinander schen Außenministeriums, Anfang Mai fing nämlich an mit einem Autokorso. eines ermüdenden und vermeintlich im 1914, „habe ich nie einen so ruhigen internationales, differenziertes und vor Vergegenwärtigt man sich das Bild der Niedergang begriffenen Weltreichs und Seegang erlebt“. allem sehr umfangreiches Schrifttum, Wagen auf dem Appel-Kai, fühlt man einer emporstrebenden Weltmacht, die 37 Tage später befand sich Europa je- ein literarisches Erbe, das in der Ge- sich an Dallas im November 1963 erin- mit ihrem ungestümen Rütteln am glo- doch in einem Krieg, der zu einem Welt- schichtsschreibung einmalig ist. Der nert. Ausgeführt wurden die Morde balen Mächtegefüge in manchen Haupt- krieg ausarten sollte. Und dieser Welt- US-Historiker John Langdon schätzte durch eine Gruppe von Selbstmordat- städten für Unruhe sorgt. Auch in die- krieg ist mit Recht als die Urkatastrophe 1991, es gebe inzwischen 25.000 ein- tentätern – und zwar im wörtlichsten ser Hinsicht sind die Staatsmänner von des zwanzigsten Jahrhunderts bezeich- schlägige Bücher und Artikel. Und die Sinne, denn die jungen Männer, die 1914 unsere Zeitgenossen. net worden. Er verschlang vier große Schreibflut hat seitdem nicht nachgelas- sich in Sarajevo versammelten, um den Diese Verschiebungen der Perspekti- Reiche – das russische, das deutsche, sen, eher im Gegenteil. Auch in den Thronfolger niederzustrecken, waren ve sind für uns als Historiker und His- das österreich-ungarische und das Otto- letzten Jahren sind wichtige Werke er- nicht nur mit Bomben und Pistolen aus- torikerinnen eine Herausforderung. Sie manische Vielvölkerreich. Viel wichti- schienen, die neue Einsichten bieten gestattet, sondern auch mit Zyankali, drängen uns, die Entstehung dieses ger: Er verschlang auf seinen zahlrei- und neue Akzente setzen. In den kom- mittels dessen sie laut Anweisung nach schrecklichen Krieges mit neuen Augen chen Schlachtfeldern die Leben zehn menden Wochen und Monaten werden Erledigung ihrer Aufgabe sich das Le- anzusehen. Diese Herausforderung an- Millionen junger Männer. Zu den in auch viele weitere solche erscheinen. ben nehmen sollten. Das waren sieben zunehmen, heißt mitnichten, durch vielen Fällen verheerenden Verwundun- Als Rebecca West, Verfasserin einer sehr junge Männer, enthaltsam in ihrem mutwillige Aktualisierungen, also durch gen – Verwundungen, die im visuellen tiefsinnigen Studie zum Ort des Balkans Lebenswandel, reich an Idealen und einen vulgären „Präsentismus“, die Ver- Gedächtnis dieses Krieges eine bestim- in der europäischen Geschichte des frü- arm an Erfahrung, geprägt von jener gangenheit für heutige politische Be- mende Rolle spielten – gibt es bis heute hen zwanzigsten Jahrhunderts, nach Sa- naiven Ernsthaftigkeit, die den idealen dürfnisse brauchbar zu machen. Es heißt keine zuverlässige Gesamtstatistik, aber rajevo fuhr, um die Orte zu besichtigen, Nährboden für alle terroristischen Be- nur von unserem verwandelten Stand- die Schätzungen schwanken zwischen wo der Krieg ausgelöst wurde, ging sie wegungen bildet. Sie wurden radikali- punkt zu profitieren, nicht das, was 15 und 21 Millionen. mit ihrem Mann auf den Balkon im ers- siert durch ein irredentistisches Milieu, schon entdeckt und erkannt worden ist, Aus diesem epochalen Desaster, so ten Stock des Sarajevoer Rathauses, je- welches durch einen regelrechten To- zu verleugnen oder einseitig abzulehnen, der Historiker Fritz Stern, gingen die ner Balkon, an dem der Erzherzog zum deskult gekennzeichnet war, durch eine sondern diejenigen Aspekte des Ge- ganzen Katastrophen des zwanzigsten letzten Mal einen Blick auf diese schö- quasi-religiöse Verherrlichung der schehens, die nun durch unseren Stand- Jahrhunderts hervor. Der Aufstieg und ne Stadt warf, und sagte ihrem Mann: Selbstaufopferung, der Rache und des punktwechsel ins Licht gerückt sind, die Machtergreifung des Faschismus in „Ich werde nie verstehen, wie das alles Attentats. „Ich will wie eine Fackel anzuerkennen und in unsere Argumen- Italien ist ohne diesen Krieg kaum vor- gekommen ist. Es ist nicht, daß wir zu brennen für mein Volk“, schrieb der te, in unser Verständnis einzuarbeiten. stellbar; ebensowenig die Oktoberrevo- wenig wissen, es ist eher, daß wir zuviel verstorbene Selbstmordattentäter Bog- lution im Russischen Reich; zu einer wissen.“ dan Žeraji´c, der sich 1910 nach einem III. Italiens Angriff auf Tripolitanien Februarrevolution wäre es höchstwahr- Das war im Jahre 1937 – heute wis- verfehlten Attentat auf den österreichi- scheinlich irgendwann gekommen, das sen wir viel, viel mehr. Wer sich an die- schen Landeschef von Bosnien das Le- In meinem Buch „Die Schlafwand- haben viele Zeitgenossen vorhergese- sem Thema versucht, muss also mit ben nahm. ler“ habe ich versucht, dem Leser einen hen. Aber die Oktoberrevolution der skeptischen Fragen seitens der Kollegen An den letzten Abenden vor dem frischen Blick auf ein altes Problem zu Bolschewiken und der darauf folgende rechnen. „Warum schreibst Du ausge- Sarajevoer Attentat waren Princip und gewähren. Ich habe neue Tendenzen, russische Bürgerkrieg, der wiederum rechnet über dieses Thema?“ lautete die Cˇ abrinovi´c am Grab Žeraji´cs. Sie legten neue Argumente aus der Literatur auf- weitere Millionen Menschenleben ver- typische Einwendung einer Kollegin, als Blumen nieder, wenn auch die österrei- gegriffen und miteinander in Beziehung schlang, wären ohne ihn wohl nicht ge- sie erfuhr, dass ich an einem Buch zum chischen Gerichtsprotokolle etwas bös- gebracht – denn denkt man an die kommen. Auch nicht der Siegeszug des Ausbruch des Ersten Weltkrieges saß: artig bemerkten, diese Blumen seien wichtigsten neueren Arbeiten zu diesem Nationalsozialismus in Deutschland „Das ist doch alles bis zum Erbrechen nicht eigens für Žeraji´c gekauft, son- Thema, so wird sofort klar, dass unser und damit auch nicht der Holocaust. aufgeklärt worden.“ Das ist ja eine Ei- dern von anderen Gräbern im selben Bild des damaligen Geschehens zur Zeit Nach meinem ehemaligen Cambridger genart der Kollegen: Gerade in dem Au- Friedhof geklaut worden. Jedenfalls sagt stark im Wandel begriffen ist. Ich habe Kollegen Adam Tooze habe dieser Krieg genblick, da man mit den Tücken eines dieses wiederholte Aufsuchen des Gra- auch versucht, meines Erachtens unter- das gesamte internationale System aus komplexen Problems ringt, kommen sie bes eines Attentäters viel über die eigen- beleuchtete Teile des dem Kriege zu- den Fugen gehoben. mit raffinierten Zersetzungsparolen. artige Kultur der irredentistischen Un- grunde liegenden Ursachengeflechtes Aus all diesem geht hervor, dass der tergrundnetzwerke aus. stärker zu berücksichtigen. Frage nach den Ursachen dieses Krieges II. Ein aktuelles Problem Als ich auf der Schule von diesen Ein Beispiel wäre der italienische An- ein besonderes Interesse zukommt. Die Einzelheiten erfuhr, erschienen mir die- griff auf Tripolitanien 1911. Dieser Kon- Debatte um die Entstehung dieses Krie- Es gibt aber eine Antwort auf die Fra- se Jungen sehr fremde, unverständliche flikt begann damit, dass das Königreich ges ist alt, ja sie ist so alt wie der Krieg ge. Die Debatte mag alt sein. Aber das Gestalten, fest eingeschlossen in einer Italien Tripolitanien – heute Lybien – selbst, sogar älter, denn der Streit dar- Problem, das ihr zugrunde liegt, ist fernen Vergangenheit. Heute ist uns je- angriff, das damals zum Osmanischen über, wer schuld sei am Ausbruch des noch frisch. Es ist heute in mancher doch aus naheliegenden Gründen die Reich gehörte. Im Laufe dieses heute Krieges, fing an, bevor die ersten Schüsse Hinsicht sogar frischer als vor zwanzig Figur des Selbstmordattentäters gar nicht weitgehend vergessenen Krieges wurden gefallen waren. Seitdem ist eine 100 Jah- oder dreißig Jahren. In den 1970er Jah- mehr so fremd. Der Angriff auf die zwei damals erstmalig Flugzeuge zur Luftauf- re währende Diskussion unter Histo- ren, als ich diesem Thema zum ersten Türme des World Trade Centers in New klärung eingesetzt. Tripolis wurde von rikern entstanden, ein breitgefächertes, Mal begegnet bin, hatte sich um den York machte uns auf die gestaltende, italienischen Schiffen beschossen. Es

22 zur debatte 5/2014 kam zu Landungen in Tripolis, Bengazi und Tobruk. Luftangriffe wurden durch- geführt, Bomben fielen aus Fliegern und Luftschiffen. Das war gewiss eine nach heutigen Maßstäben sehr handgestrick- te Technik – der Pilot musste im Fliegen die Bomben zwischen den Knien hal- ten, den Zünder einschrauben und scharfmachen, und die Waffe dann mit der Hand rechtzeitig auf die feindlichen Truppen abwerfen, ohne derweil die Kontrolle über seine Maschine zu ver- lieren. Bequemer war es auf den Luft- schiffen, die bis zu 200 Bomben mit- führten. Das waren immerhin die ersten Luftangriffe der Weltgeschichte und die Wirkung auf die türkisch-arabischen Truppen war dementsprechend drama- tisch. Historiker des neuzeitlichen Maghreb erkennen in diesem Konflikt einen entscheidenden Faktor in der Entstehung des modernen arabischen Nationalismus. Miroslav Spalajkovi´c, ehemaliger Lei- ter der politischen Abteilung des serbi- schen Außenministeriums, erkannte in diesem Krieg den Urauslöser des großen Krieges. Erst der italienische Angriff auf Tripolis, schrieb er, habe die Balkan- staaten zum Angriff auf das Osmanische Reich ermutigt und damit den Prozess in Gang gesetzt, der letztlich zum Krieg führte: „Alle darauffolgenden Ereignisse sind nicht mehr als die Weiterführung dieser ersten Aggression“, schreibt Spalajkovi´c. Auch, als der ehemalige französische Außenminister Stephen Pichon 1916 auf die Verwirklichungen der europäischen Kabinettspolitik zu- rückblickte, sah er in dem Libyenkrieg den entscheidenden Schritt in Richtung eines Weltkrieges. „Italien wollte Tripo- litanien – das führte zum Krieg Italiens gegen das Osmanische Reich“, so Pi- chon. „Dann hissten die Balkanstaaten ihre Kriegsfahnen unter dem Schutze von Russland. Alles entfaltete sich auf fatale Weise.“

IV. Europäisches Entscheidungsfindungschaos

Ich habe auch versucht, die undurch- sichtigen, oft chaotischen Prozesse der Entscheidungsfindung in allen europäi- schen Exekutiven zu beleuchten und zu untersuchen. Man kann in den Juli-Er- eignissen 1914 eine „internationale Kri- se“ sehen – ein Begriff, der eine Gruppe von Nationalstaaten impliziert, die man sich als kompakte, autonome, eigen- ständige Einheit vorstellen muss, wie Billardkugeln auf einem Tisch. Aber die souveränen Strukturen, die in der Krise die Politik gestalteten, waren ausgespro- chen uneinheitlich. Damals herrschte eine Unsicherheit (und unter Histori- kern besteht sie noch heute), wer inner- halb der verschiedenen Regierungsbe- hörden denn genau die Macht hatte, den politischen Kurs zu bestimmen. Über- dies gingen politische Initiativen nicht unbedingt vom Zentrum des Systems aus. Sie konnten von recht peripheren Orten im diplomatischen Apparat, von militärischen Befehlshabern, von Minis- terialbeamten und sogar von Botschaf- tern ausgehen, die häufig auf eigene Foto: akg-images Faust Entscheidungsträger waren. Die Das Attentat von Sarajewo am Schwormstädt, die zwei Tage nach dem Botschafter entwickelten ein außeror- 28. Juni 1914 auf den österreichischen Mord erschien: Die Konflikte auf dem dentlich hochtrabendes Gefühl ihrer ei- Thronfolger Franz Ferdinand in einer Balkan waren es, die den Großen Krieg genen Bedeutung, insbesondere wenn sehr bekannten Darstellung, einer auslösten. man ihre Haltung an dem Berufsethos Pressezeichnung des Illustrators Felix heutiger Botschafter misst. Paul Cambon ist ein charakteristi- sches Beispiel: In einem Brief von 1901 bemerkte er, dass die gesamte Ge- schichte der französischen Diplomatie spannungsreichen Gespräch mit Justin nisse in den europäischen Exekutiven von einer mächtigen Kamarilla griff der lediglich auf eine lange Liste von Versu- de Selves, Außenminister 1911/1912, so flüssig waren. Hätte man im Januar Monarch fast täglich in die Geschäfte chen der Akteure im Ausland hinaus- teilte Cambon de Selves recht taktlos 1904 an einen begabten und sehr gut in- des Außenministeriums ein – insbeson- laufe, etwas gegen den Widerstand aus mit, dass er sich für ebenso bedeutend formierten Legationsrat die Frage ge- dere im fernöstlichen Bereich, wo der Paris durchzusetzen. Wenn er mit den halte wie der Minister. stellt, wer in St. Petersburg nun eigent- Zar und seine Favoriten einen expan- amtlichen Instruktionen aus der Haupt- Bei einer so offenen und polyzentris- lich den Kurs der russischen Außen- sionistischen außenpolitischen Kurs ver- stadt nicht einverstanden war, ver- tischen Struktur ist es vielleicht wenig politik bestimme, hätte seine Antwort folgten, der unausweichlich zu einem brannte er sie häufig einfach. In einem überraschend, dass die Machtverhält- sicherlich gelautet: „Der Zar.“ Umgeben Krieg mit Japan führen musste.

zur debatte 5/2014 23 Hätte man aber im Jahre 1906 unse- dass er seine Position gegen eine der- und Ignatiev in Paris am 19. Dezember Frankreichs war, den Anwendungsbe- rem Legationsrat die gleiche Frage ge- maßen lautstarke und einflussreiche in- ab. Millerand erwähnte die österrei- reich des russisch-französischen Bünd- stellt, dann hätte er wohl geantwortet: nere Opposition verteidigen musste, im- chisch-ungarischen Truppenverstärkun- nisses ausdehnte, um den Fall eines Lo- „In letzter Zeit hört man wenig vom merhin davon ab, seine Verpflichtungen gen an den serbischen und galizischen kalkonfliktes auf dem Balkan – also ei- Zaren“, der russisch-japanische Krieg so klar und deutlich auszusprechen, wie Grenzen – ich zitiere aus dem Brief, nes Konfliktes zwischen Österreich und 1904 habe nicht nur zu einer fürchter- er es sich gewünscht hätte. Während den der russische Attaché für seinen seinem rastlosen Nachbarn Serbien – lichen Niederlage und damit zu einer der zweiten Marokko-Krise 1911 muss- Vorgesetzten, Generalstabschef Jakov als eventuellen casus foederis mit einzu- gewaltigen innenpolitischen Krise ge- te Grey einen Drahtseilakt zwischen Zhilinsky, verfasste. Ignatiev erzählt, beziehen. führt, sondern auch zur Marginalisie- den französischen Wünschen nach kla- Millerand habe ihn gefragt, was seiner In einer Unterhaltung mit dem russi- rung des Zaren als Triebfeder in der Au- reren Zusagen seinerseits und der be- Meinung nach das Ziel der österreichi- schen Botschafter Isvolski in der zwei- ßenpolitik. Der starke Mann von heute harrlichen Verweigerungshaltung der schen Maßnahme sei. Darauf habe Ig- ten Septemberwoche 1912, als der erste sei der Präsident des Ministerrates Pyotr Nichtinterventionisten im Kabinett (die natiev geantwortet: „Vorhersagen zu Balkankrieg zwar schon in Sicht, aber Stolypin. Stellte man aber zwei Jahre immerhin noch in der Mehrheit waren) dieser Frage sind schwierig, aber bisher noch nicht ausgebrochen war, entwi- später, während der bosnischen Anne- bewältigen. In zwei Kabinettsresolutio- sind die österreichischen Maßnahmen ckelte Poincaré ein spekulatives Szena- xionskrise von 1908, die gleiche Frage nen von November 1911 riefen 15 sei- gegenüber Russland ohne Zweifel de- rio: Ein zukünftiger Angriff Österreichs wieder, dann würde unser Legationsrat ner Ministerkollegen Grey zur Ordnung fensiven Charakters gewesen.“ Darauf auf Serbien könne Russland dazu zwin- sagen: „Gut, dass Sie mich wieder dar- und verlangten, dass er davon Abstand antwortet Millerand: „Gewiss, aber mei- gen, „seine passive Rolle aufzugeben“. auf ansprechen. Die Lage hat sich näm- nehme, militärische Gespräche auf nen Sie nicht, dass das Verhalten Öster- Sollte es dann notwendig sein, Öster- lich wieder vollkommen geändert. In- höchster Ebene zwischen Großbritanni- reichs Russland geradezu herausfordert, reich-Ungarn anzugreifen und sollte zwischen ist es Außenminister Izvolski, en und Frankreich zu fördern, ohne sie Krieg zu erklären?“ Ignatiev antwortet, diese Intervention eine Intervention der als Drahtzieher hervortritt, indem er zuvor zu informieren und ihre Geneh- er könne diese Frage nicht direkt beant- Deutschlands zur Folge haben (was an- mit dem Zaren paktiert, seine Kollegen migung einzuholen. Im Januar 1912 worten, fügt aber hinzu: „Ich weiß, dass gesichts der Bedingungen des deutsch- im Ministerrat hintergeht und sich Al- wurde unter den Nichtinterventionisten wir weder einen europäischen Krieg österreichischen Bündnisses unvermeid- leingänge in der Balkanpolitik erlaubt.“ die Idee diskutiert, eine Kabinettserklä- wünschen, noch bereit sind, irgendwel- lich wäre), dann würde „die französi- Nach dem Debakel der von Izvolski rung zu verabschieden, dass Großbritan- che Schritte zu unternehmen, die eine sche Regierung dieses im Voraus als ca- lanzierten Balkanpolitik ist die Lage nien „in keiner Form, weder direkt europäische Konflagration provozieren sus foederis anerkennen, ohne auch nur aber wiederum eine ganz andere. Stoly- noch indirekt, ausdrücklich noch impli- könnten.“ Darauf gab Millerand eine einen Augenblick zu zögern, seine Ver- pin ist wieder der starke Mann, der Zar zit, verpflichtet sei, Frankreich gegen bemerkenswerte Antwort: „So so. Das pflichtungen gegenüber Russland zu er- hat nichts zu sagen. Und mit dem plötz- Deutschland mit Waffengewalt zu un- heißt, Sie werden Serbien im Stich las- füllen“. lichen Tode Stolypins in Folge eines At- terstützen.“ Dieser Schlag blieb Grey sen? Das ist natürlich Ihre Sache. Aber Sechs Wochen später, als der erste tentats 1911 entsteht wieder eine neue und seinen Leuten nur erspart, weil es soll niemand behaupten, dass dies an Balkankrieg bereits im Gange war, mel- Lord Loreburn, der führende Anti-In- uns liegt. Wir sind bereit.“ dete Botschafter Isvolski an den russi- terventionist, plötzlich erkrankte und in Laut Ignatievs Brief schien Millerand schen Außenminister, Poincaré akzep- Greys Ententismus wurde Pension ging. Die Notwendigkeit, einen „beunruhigt“ von seinen zurückhalten- tiere „ohne Furcht“ die Annahme, es so geballten Widerstand aus dem In- den Antworten auf dessen Fragen. Er könnte vielleicht notwendig werden, von der Mehrheit der briti- nern der Regierung mit einer Politik aus- betonte, es sei nicht nur um Albanien „unter gewissen Umständen einen Krieg schen Kabinettsminister gar zubalancieren, die auf den Erhalt der oder die Serben oder Durazzo gegangen zu initiieren“, und dass er selbst in ei- Entente als Instrument der Sicherheits- – sondern auch um die Gefahr einer nem solchen Fall sicher sei, dass die nicht geteilt. politik ausgerichtet war, hatte eine irri- „österreichischen Hegemonie auf dem Staaten der Triple Entente aus einem tierende Zweideutigkeit der britischen Balkan“, eine Entwicklung, die die rus- solchen Konflikt siegreich hervorgehen diplomatischen Signale zur Folge. sische Regierung kaum mit gefalteten würden. Diese Gewissheit Poincarés, und diesmal beinahe chaotische Lage: Händen entgegensehen konnte. fügte Isvolski hinzu, basiere auf einer Fragen wir schon wieder bei unserem V. Der erste Balkankrieg: Es steckt doch etwas Erstaunliches in detaillierten Analyse seitens des franzö- Legationsrat an, kommt nun die Ant- Frankreich an der Seite Russlands diesen waghalsigen Parolen des franzö- sischen Generalstabs der jeweiligen wort: „Ich hatte gehofft, dass sie sich in Kriegsbereitschaft sischen Kriegsministers. Millerand war Truppenstärken. Solche starken Parolen nicht mehr melden. Die heutige Lage ist ein allgemein geachteter sozialistischer bekamen nicht nur die Russen zu hö- schwer zu übersehen: Der Außenminis- Hier wie andernorts im damaligen Parteipolitiker, bekannt für seinen Ein- ren. In einer Unterredung mit dem itali- ter hat sich nicht richtig durchgesetzt; Europa machten die daraus folgenden satz in bildungspolitischen, sozialstaatli- enischen Botschafter wiederholte Poin- die Botschafter in Belgrad und Kons- Schwankungen in der Politik und wi- chen und arbeiterrechtlichen Fragen. caré seine Zusicherung: „Sollte der ös- tantinopel vertreten jeweils eine eigene dersprüchlichen Signale es nicht nur Im Bereich Außenpolitik hatte er herz- terreichisch-serbische Konflikt zu einem Linie, der Zar umgibt sich mit Militärs den Historikern, sondern zuallererst lich wenig Erfahrung. Er handelte ver- allgemeinen Krieg führen, wird sich und lässt erkennen, dass er eine härtere den damaligen Politikern schwer, das mutlich unter Anleitung des Premier- Russland auf die bewaffnete Unterstüt- Linie in der Balkanpolitik bevorzugt, ist internationale Umfeld zu deuten. Ein ministers Raymond Poincaré. Millerand zung Frankreichs vollkommen verlas- aber weder willens noch fähig, den Kurs weiterer, wichtiger Aspekt der Vor- kannte Poincaré sehr gut, beide waren sen können.“ der Außenpolitik eigenhändig zu be- kriegspolitik, den ich – mit Stefan Schulkameraden auf dem Lycee Louis Diese Tendenz in der französischen stimmen.“ Schmidt – stärker betone als es in der le Grand gewesen. Aber seine Worte Politik sollte man fördern, meinte Igna- Das war Russland in den letzten Vor- Literatur der Kriegsentstehung allge- entsprachen einer Ansicht der strategi- tiev in einem weiteren Brief an den rus- kriegsjahren. Aber die Lage war in den mein der Fall gewesen ist, ist die wach- schen Lage Frankreichs, die in den sischen Generalstabschef. „Wenn wir anderen Hauptstädten nicht viel anders. sende Bereitschaft, innerhalb des fran- französischen Führungskreisen weit nämlich“, so Ignatiev, „die Möglichkeit Man denke an die erstaunliche Tatsa- zösisch-russischen Bündnisses in den verbreitet war. Der Vize-Chef des fran- che, dass während der Amtszeit des bri- letzten zwei Vorkriegsjahren, einen zösischen Generalstabes, General Cas- tischen Außenministers Sir Edward Krieg balkanischen Ursprungs in Kauf telnau, sprach mit Ignatiev ein paar Solche starken Parolen be- Grey nicht weniger als sechszehn fran- zu nehmen, das heißt einen balkani- Tage nach dessen Unterredung mit Mil- zösische Außenminister gekommen und schen Lokalkonflikt als casus foederis lerand. Bei dieser Gelegenheit sagte kamen nicht nur die Russen gegangen sind. Zwei von ihnen sind anzusehen. Castelnau dem Militärattaché, er sei zu hören. zweimal gekommen und gegangen. Das Lassen Sie mich dieses komplexe persönlich „bereit zum Kriege und dass vermittelt einen Eindruck von der Insta- Thema anhand eines Beispiels beleuch- er persönlich einen Krieg sogar wün- bilität an der Spitze des Systems. Man ten. Am 19. Dezember 1912 fand eine schen würde“. eines europäischen Krieges wegen der kann gewissermaßen von einer Heisen- Unterredung in Paris statt. Die Ge- Es hatte den Anschein, schrieb Igna- Entwicklungen auf dem Balkan vorher- bergschen Unschärfe sprechen, was den sprächspartner waren Oberst Ignatiev, tiev in einem späteren Brief an seinen sehen können, dann ist es besser, die Ort der Macht in diesen komplexen der russische Militärattaché in Paris Vorgesetzten, als ob die französische Franzosen im Voraus schon auf den Strukturen angeht. Und da stellt sich oft und Alexandre Millerand, der französi- Regierung „in voller Bereitschaft stehe, Gedanken zu bringen, dass unser loka- die Frage, ob man überhaupt im Falle sche Kriegsminister. Damals befand sich Russland gegen Österreich und Deutsch- ler Konflikt mit Österreich wegen der Russlands oder Österreich-Ungarns von Südosteuropa im Bann der balkani- land beizustehen, und zwar nicht nur türkischen Erbschaft den Anfang einer einer einheitlichen außenpolitischen Li- schen Winterkrise 1912/1913. Im Okto- diplomatisch, sondern auch, wenn not- Lösung des slawisch-deutschen Kampfes nie sprechen kann oder vielmehr von ber 1912, als der erste Balkankrieg los- wendig, unter Anwendung militärischer darstellen wird, eines Kampfes, in dem einem Chor widersprüchlicher Stim- brach, hatte Russland entlang der gali- Gewalt“. Worin lag der Grund für diese Frankreich sein Schicksal mit den slawi- men. Auch in England herrschte, trotz zischen Grenze – also der Grenze zu Kriegsbereitschaft? Sie lag, so Ignatiev, schen Interessen verknüpfen muss.“ der verfassungsmäßig starken Position Österreich-Ungarn – seine Truppen in der festen französischen Überzeu- Zwei Punkte sind bemerkenswert. des Außenministers Sir Edward Grey, massiv verstärkt, um Österreich von ei- gung, dass ein Krieg balkanischen Ur- Der erste ist, dass diese Ausdehnung Unsicherheit über das Verhältnis Eng- nem eventuellen Eingriff in den sich sprungs den bestmöglichen Ausgangs- des Anwendungsbereichs der franzö- lands zu den Entente-Mächten. Greys schnell ausbreitenden Balkankrieg ab- punkt für einen breiteren Konflikt bie- sisch-russischen Allianz ein Novum Ententismus wurde von der Mehrheit zuschrecken. Die Österreicher reagier- ten würde, weil nur ein solcher Krieg darstellte. In früheren Jahren hatte die der britischen Kabinettsminister gar ten mit Gegenmaßnahmen und es kam Deutschland zwingen würde, bedeuten- französische Diplomatie St. Petersburg nicht geteilt. Als langsam klar wurde, in zu einer potenziell gefährlichen Eskala- de militärische Mittel gegen Russland immer wieder vor irgendwelchen Bal- welchem Ausmaß Grey sich an Frank- tion. Die Krise verschärfte sich in der einzusetzen und damit die französische kan-Abenteuern gewarnt. Frankreich, reich und damit nolens volens an das dritten Dezemberwoche, als weitere Front zu entlasten. sagten sie, würde auf dem Balkan kein verhasste Russland gebunden hatte, gab russische Maßnahmen bekannt wurden, Der koordinierende Wille hinter die- vitales Interesse Russlands – geschweige es gelegentlich Proteste und Revolten z. B. die Verstärkung von Kavalleriever- sem Konsens war der Premierminister denn Frankreichs – erkennen. Frank- unter den Ministern. Das Ergebnis war bänden in den Wehrbezirken Kiew und Raymond Poincaré. Man könnte vieles reich wäre also niemals bereit, seinen eine dauernde Unschärfe in der briti- Warschau oder massive Pferdetranspor- sagen über seinen Einfluss auf das stra- Arm für den Balkan zu riskieren. Das schen Außenpolitik. te in den österreichischen Grenzbe- tegische Denken in Frankreich. Hier änderte sich jedoch in den letzten Vor- Aber wenn die wesentlichen Punkte reich. brauche ich aber nur daran zu erinnern, kriegsjahren, als Poincaré dann doch der Entente-Politik Greys weiterhin Be- Vor diesem Hintergrund spielte sich dass Poincaré, der 1912 gleichzeitig den Balkan in die Sicherheitslogik des stand hatten, hielt ihn der Umstand, die Unterredung zwischen Millerand Premierminister und Außenminister Bündnisses integrierte.

24 zur debatte 5/2014 Damit wurde aber Serbien – und nun sich mit den dem Krieg zugrundeliegen- bin ich beim zweiten Punkt – gewisser- den längerfristigen Prozessen des Wan- „… wenig gebetet, aber heißer als je“: maßen zu einem strategischen Vorwerk dels befasst: der Auflösung des soge- der Entente. Man ließ entlang der öster- nannten „europäischen Konzerts”, dem Katholiken im Ersten Weltkrieg reichisch-serbischen Grenze eine Art Aufkommen des Nationalismus im Rah- geopolitische Sollbruchstelle einbauen. men einer zunehmend chauvinistischen (1914–1918) Man stellte sich einen dritten Balkan- Medienöffentlichkeit, dem durch die krieg vor und sah in ihm angesichts der plötzliche Entstehung eines deutschen komplexen Sicherheitslogik der Entente Nationalstaates in der Mitte Europas Andreas Holzem eine günstige, ja sogar die optimale Aus- ausgelösten epochalen Strukturwandel. gangssituation für einen Krieg unter den Ausschlaggebend für die Komplexität Großmächten. Sollte der Krieg kom- der Ereignisse von 1914 waren jedoch men, würde diese Ausgangslage wohl meines Erachtens die raschen Verände- die besten Chancen bieten. Hier ging es rungen im internationalen System: die keineswegs – wohlgemerkt – um die plötzliche Entstehung eines albanischen Durchsetzung eines sorgsam durchdach- Nationalstaats, die durch die zwei Bal- I. Die „Feuertaufe“: Kriegsreligiosität ten und unter den Verbündeten verein- kankriege verursachte Umwälzung der eines katholischen Soldaten barten balkanpolitischen Konzepts. Das regionalen Machtverhältnisse, die An- Verhältnis zwischen den Positionen von näherung Rumäniens an St. Petersburg, Alois W. schreibt im Sommer 1916 das türkisch-russische Wettrüsten im an seine Eltern: „Möglicherweise er- Schwarzen Meer, oder die Umorientie- halte ich hier die Feuertaufe, aber wir rung der russischen Politik von Sofia müssen dankbar sein, daß es bisher so Die ambivalenten Signale auf Belgrad, um nur einige zu nennen. glimpflich abging, aber wir stehen in aus London ließen in Paris Das waren eben keine langfristigen his- Gottes Hand u. hier in Galizien fühle torischen Übergänge, keine forces pro- ich mich im besonderen Schutz meines Zweifel aufkommen, ob fondes, die sich über Generationen hin- seligen Bruders, dessen Grab ich ja hier man sich auf die Briten ver- weg entfaltet haben, sondern kurzfristi- eigentlich verteidige.“ Dieser Bruder Ig- ge Neuausrichtungen — phéno-mènes de naz W., Theologiestudent im Tübinger lassen könnte. courte durée. Sie haben die Entschei- Wilhelmsstift, war schon wenige Mona- dungsträger der Vorkriegswelt vor im- te nach Kriegsbeginn 1915 im Russland- mer neuen Herausforderungen gestellt. feldzug gefallen. Als der Krieg Alois 1912/1913 und dem Ausbruch des Krie- Die Folgen wurden durch die Fluidität dann tatsächlich im August 1916 in sei- ges im folgenden Jahr war weder gerad- der Machtverhältnisse innerhalb der eu- ner vollen Wucht erreichte, „war kein linig noch zwangsläufig. Frankreich ropäischen Exekutiven noch verstärkt. Ende dieses Elends zu sehen; in diesen ging auf diesen Kurs ein, nicht weil es Ich will in diesem kurzen Vortrag Augenblicken habe ich wenig gebetet, einen Krieg herbeiführen wollte, son- nicht weiter auf den Inhalt des Buches aber heißer als je.“ Seinen Sold schickt dern aus der Defensive heraus. Die am- eingehen. Nur eines sei gesagt: Das er nach Hause, davon solle die Familie bivalenten Signale aus London ließen in Buch orientiert sich nicht primär an der Messen lesen lassen „für Ignaz, an des- Paris Zweifel aufkommen, ob man sich Frage, wer an der Entfesselung des Krie- sen fühlbarer Nähe als besonderer auf die Briten verlassen konnte. Und je ges schuld gewesen ist. Das Problemati- Schutzengel ich mit festem Vertrauen Prof. Dr. Andreas Holzem, Professor für weniger man den Briten traute, desto sche an einer schuldorientierten Heran- glaube“. Auch die Kondolenzbriefe der Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, mehr klammerte man sich an das große gehensweise ist überhaupt nicht, dass Freunde an die Eltern sprechen diese Universität Tübingen Russland. man am Ende eventuell der falschen Sprache: Nicht Menschenworte, son- Es ist daher nicht ohne Bedeutung, Partei die Schuld gibt. Vielmehr gehen dern nur Gebete könnten trösten ange- dass Raymond Poincaré – inzwischen schuldorientierte Darstellungen sehr oft sichts eines Todes, der nun nicht in der Präsident Frankreichs geworden – die mit eingebauten Prämissen einher. Dass Priesterberufung, sondern im Selbstop- Erste Weltkrieg aber konfrontierte sie, Gelegenheit seines St. Petersburger zum Beispiel in konfliktreichen Interak- fer des Krieges in die Nähe Gottes ge- ebenso wie alle anderen Akteure und Staatsbesuches benutzte, um seine Poli- tionen ein Protagonist letztlich Recht führt habe: „Vergesse nicht, daß der Hl. Opfer, mit Wirklichkeiten, auf die das tik der „Festigkeit“ – de la fermeté – auf und der andere Unrecht haben muss. Thomas von Aquin den Heldentod fürs traditionelle theologische und rituelle dem Balkan vehement zu unterstützen. War es von den Serben falsch, eine Ver- Vaterland mit dem Märtyrertod auf eine Rüstzeug nur mehr sehr bedingt passen Und nur vor diesem Hintergrund lässt einigung des Serbentums anzustreben? Stufe stellt“, so ein Trostbrief in dieser sollte. sich die Beobachtung Ignatievs vom Hatten die Österreicher Unrecht, als sie bemerkenswerten Familienkorrespon- 30. Juli verstehen, er finde überall unter auf der Unabhängigkeit Albaniens be- denz, die einer meiner Doktoranden in II. Krieg, Religion und Nation: Struk- den französischen Militärs in Paris „un- standen? War eines dieser Unterneh- unserem Tübinger Sonderforschungsbe- turen und Befindlichkeiten um 1914 verhehlte Freude, dass man nun die men „falscher” als das andere? Die Fra- reich „Kriegserfahrungen“ entdeckte. Chance ergreift, eine, wie die Franzosen ge ist bedeutungslos. Da es keine größere Liebe geben könne, Krieg und Christentum – diese Me- meinen, vorteilhafte strategische Situati- Das Blickfeld wird eingeengt, indem als sein Leben zu geben für seine Freun- daille hat zwei Seiten: Auf der einen on auszunutzen.“ man sich auf das politische Tempera- de (Joh 15,13), sei „solcher Liebe […] waren vorchristliche Militärkulte schon Kurzum: In den Jahren und Wochen ment und die Initiativen eines bestimm- der Himmel verbürgt!“ Die „ganze Bit- früh recht reibungslos in christliche vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrie- ten, vermeintlich schuldigen Staates terkeit solcher Prüfung“ ermögliche nur überführt worden: durch Liturgien, Ge- ges verknüpften Russland und Frank- konzentriert, statt auf einen multilatera- noch die Ergebung in den göttlichen betsbeschwörungen und „Opfer“ im reich auf höchst asymmetrische Weise len Prozess der wechselseitigen Beein- Willen und eine auf das Gute zielende weitesten Sinne, durch Kriegskult mit- die Sicherheitspolitik zweier großer flussung. Dann stellt sich das Problem, göttliche Vorsehung. hin, der aus dem Methodenarsenal der Mächte mit dem ungewissen Schicksal dass die Ermittler bei der Schuldsuche Diese Briefe führen in die Mitte ka- Militärs stammte. Priester waren Aktan- eines turbulenten und gelegentlich ex- dazu neigen, die Aktionen der Entschei- tholischer Kriegserfahrung. Als sie ten eines Rituals, das Fürsten zum Sieg pansionistischen Kleinstaates. Russland dungsträger als geplant und von einer 1915/16 geschrieben wurden, war es und Kriegsteilnehmern beim Überleben und Frankreich ermutigten und unter- kohärenten Absicht getrieben zu kons- mit den Erwartungen des „Augusterleb- helfen sollte, obwohl die Sakramente stützten diesen Staat in seiner Lauf- truieren. Man muss den Beweis erbrin- nisses“ von 1914 längst vorbei, und es der Kirchen etwas grundlegend anderes bahn, unter völliger Missachtung der re- gen, dass jemand den Krieg wollte und war längst noch nicht alles ausgestan- zu sein beanspruchten als die Opfer- gionalen Konsequenzen. Das war ge- darüber hinaus verursachte. In der Ex- den: Alois W. selbst fiel 1917. Auf den und Sühnerituale vorchristlicher Kulte. wiss ein riskantes Unterfangen. tremform bringt diese Vorgehensweise ersten Blick fügen sie sich unseren Ge- Auf der anderen Seite aber stand die konspirative Versionen hervor, in de- wissheiten über die Rolle des Christen- eher auf Verantwortung angelegte VI. Bilanz nen eine Clique mächtiger Einzelperso- tums in der „Urkatastrophe des 20. Kriegsethik, die die Geistlichen des nen wie die Bösewichte mit Samtjackett Jahrhunderts“ (F. Stern): Geistliche seg- Christentums von den Priestern und Das alles heißt nicht, dass wir den in James-Bond-Filmen die Ereignisse neten die Waffen, erklärten die je eige- Propheten antiker Religionen unter- Bellizismus, die Aggression und die Pa- hinter den Kulissen im Einklang mit ei- nen Kriegsziele für gerecht und gut und schied. Hier musste man erklären, wie ranoia jener deutschen Militärs, Publi- nem bösen Plan steuert. Mein Buch be- brachten die Parteilichkeit Gottes so der Krieg mit dem Willen Gottes in Ein- zisten und Politiker kleinreden sollten, steht darauf, die Komplexität der Kriegs- zur Sprache, dass die Fortsetzung dieses klang zu bringen sei, wie christliche die zu Recht die Aufmerksamkeit Fritz entstehung ernstzunehmen. Die Krise, Krieges ebenso möglich wurde wie der Haltungen den Krieg begrenzen müss- Fischers und seiner historischen Schule die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war Ausbruch des nächsten. ten, was an geistlichem Beistand mög- auf sich zogen. Dieter Hoffmann hat die Frucht einer gemeinsamen europäi- Aber das Legitimatorische allein trifft lich war, um Sterben wie Weiterleben neulich mehrere Gelegenheiten genannt, schen politischen Kultur; sie war genuin noch nicht den Kern einer Religions- mit Bedeutung zu versehen. bei denen hohe deutsche Befehlshaber multipolar und interaktiv. Genau das geschichte des Ersten Weltkriegs in Die Arbeitsplätze, an denen das ge- nachdrücklich „je eher desto besser” macht sie zum komplexesten Ereignis Deutschland. Auf den zweiten Blick ist schah, hatten sich seit etwa 1750/1800 einen Krieg forderten, selbst wenn das moderner Zeiten. „ das Konsolatorische, die Suche nach signifikant verändert. Dafür gab es drei hieß, selbst die Initiative ergreifen zu Trost und Bewährung, das diskursiv Gründe: Erstens hatte sich das Militäri- müssen. Es geht hier nicht – das möchte schwierigere Feld. Gerade hier aber sche seit den Kabinettskriegen des 18. ich betonen – um einen Freispruch für agierten auch die Vertreter der Kirchen Jahrhunderts verstaatlicht; somit war die damalige deutsche Staatsführung. wie „Schlafwandler“, weil sie sie sich den Regierungen zunehmend die Deu- Aber die Wege der deutschen Vorkriegs- auf die Funktionsfähigkeit ihrer über- tungshoheit auch über die religiösen As- politik müssen in ein gesamteuropäi- kommenen Arsenale religiöser Kriegs- pekte des Krieges zugewachsen. Zwei- sches Ursachengefüge eingebettet wer- deutung verließen, ganz so, wie es Poli- tens verlangte die Mobilisierung von den. tiker, Diplomaten und Militärs mit ih- Massenarmeen, deren Kombattanten Viele große Werke der Literatur zur ren Instrumentarien der politisch-mili- mehrheitlich weder Berufssoldaten noch Entstehung des Ersten Weltkriegs haben tärischen Steuerung ebenso taten. Der Freiwillige waren, nach einer gesamt-

zur debatte 5/2014 25 Die „Geißel des Krieges“ bedeute „ein zuheben, blieb angesichts der allgemei- Strafgericht Gottes“ und eine „verdiente nen Feindfanatisierung auf eine erschre- Züchtigung“, die aber nicht nur die Söh- ckende Weise unglaubwürdig; ihr zu ne und Brüder, Handel und Industrie, folgen erschien als unpatriotisch. bürgerliches und staatliches Leben im eigenen Lande schädige, sondern viel- Der Krieg als Zuchtmeister mehr zuallererst die gottlosen Franzo- und Missionar sen heimsuchen werde: „Unsere Nach- barn drüben über den Vogesen haben Doch im Katholizismus brach sich ihren Gott vergessen; sie haben ihn ab- keineswegs nur Hurra-Patriotismus gesetzt aus Schule, Gemeinde und Staat Bahn. Im Krieg agierte Gott als „Zucht- verjagt. Nun verläßt er sie.“ Gegen die meister“ einer als religionslos und mate- 1905 in Frankreich durchgesetzte feind- rialistisch empfundenen Welt, so Mi- liche Trennung von Kirche und Staat chael von Faulhaber in seinem Hirten- müsse das „Zurück zum alten Gott!“ zur brief zur ersten Kriegsweihnacht: gemeinsamen Losung von Kaiser, Reich „Kriegszeit ist Bußzeit. [...] Kriegführen- und Vaterland werden. Für den Rotten- de Völker haben die Neigung, die Schuld burger Bischof Keppler trug die Kirche ihrer Feinde auf einer strengeren Waage „zur Festigung des Fundamentes der zu wiegen als die eigene [...]. Demgegen- Ordnung und Stärke des Vaterlandes“ über lehrt uns die fünfte Vaterunserbit- bei und schuf „eine Sicherheit für die te, […] vor dem Vater im Himmel auch Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit des Hee- die eigene Schuld zu bekennen, statt res“; sie verstärkte „den Unterbau nicht immer nur die Geschwister beim Vater bloß des Altars, sondern auch des Thro- zu verklagen.“ Es ging keineswegs um nes“. Die Begründung der politischen Allerweltsünden dabei, deren Aufarbei- Die Professoren Andreas Holzem (li.) Autorität durch die christliche war ihm tung der richtende Gott, wie er in der und Lucian Hölscher tauschten wäh- ebenso selbstverständlich wie die Not- überkommenen Straftheologie verkün- rend der Veranstaltung ihre Ansichten wendigkeit, die Verbindung von Thron digt wurde, einem durchschnittlichen aus. und Altar militärisch zu verteidigen. Beichtstuhl hätte überlassen können. Auch die katholischen Intellektuellen Der Kriegsausbruch bot vielmehr Gele- argumentierten nun ungebrochen patrio- genheit, eine im Antimodernen verhaf- tisch. Der junge Philosoph Max Scheler tete Kulturkritik auf den „blutigen Fin- verfasste in seiner katholischen Phase ger“ des Krieges zu übertragen, den Gott im Herbst 1914 eine Schrift mit dem in „eine große schwärende Wunde am gesellschaftlichen Motivation zum Krieg, Dazu hatten sich die Katholiken mit ih- Titel „Der Genius des Krieges und der Volkskörper“ hineinlege: Verlernt sei also nach Kriegbegründung und -begeis- ren eigenen Deutungen zu verhalten, deutsche Krieg“: „Für die katholische „in weiten Kreisen die gute deutsche terung. Der Staatenkrieg sollte „als na- die sich aus ihren Erfahrungen im Kai- Kirche sind große und heilige Interes- Art, die einfachen Sitten, die Gottestreue tionaler Volkskrieg imaginiert und er- serreich und ihren oft sehr eigenständi- sen mit diesem Kriege und seinem Aus- und Familientreue“; an deren Stelle sei- fahren“ werden (D. Langewiesche). Für gen bildungsbürgerlichen Nationsideen gange verknüpft.“ Scheler erwartete, en „das Gift einer ausgeschämten Kunst die Masse der Bevölkerung war nicht speisten. Auf einen Nenner gebracht dass „jeder Sieg Deutschlands, der eine und Literatur“, die „bösen Laster“, nicht mehr in Trübsalpredigten über einen lautet die Kernidee: Deutschland muss etwaige Expansion des Deutschen Rei- zuletzt der „Unglauben, die gerühmte passiv erlittenen, sondern über einen in sich verteidigen und ist kein Aggressor. ches in irgendeine Richtung zur Folge Diesseitskultur, die moderne Gefühls- Schützengräben und an ‚Heimatfronten‘ Deutschlands Feinde stehen moralisch hätte, die katholischen Bevölkerungstei- religion ohne Gott und ohne Kirche“ aktiv zu führenden Krieg zu reden. Die unter uns, weil sie entweder keine Chris- le in die Majorität gegenüber den evan- getreten. Der Krieg war die eigentliche mehr als ungeliebte, zum Teil zutiefst ten oder schlechte Christen sind. Beides gelischen bringen [muss…]. Für eine Leidensschule, ein „Erzieher großen abgelehnte Wehrpflicht wurde von ei- macht den Krieg der Deutschen zur ge- eventuelle Annexion Belgiens ist dies Stils“, der „mit dem Brecheisen des ner Kriegstheologie flankiert, die den rechten Sache. Sich dieser mit seinem ohne weiteres offensichtlich. Anderer- Schreckens und der Todesnot“ verhär- Kriegstod als Nachfolge Christi ansah. Leben zu verschreiben, ist des Himmels seits müsste ein entschiedener Sieg der tete Gewissen aufbrechen sollte. Im Dies vollzog sich nun drittens in einer würdig. Neben diese Nationalisierungen Zentralmächte das Gewicht der germa- „Geist freudigen Entsagens, willigen deutlich verschobenen theologischen der Idee vom gerechten Krieg treten nischen, tieferen, innigeren und religiö- Leidens und Opferns“ sollte der „kleine Konstellation: Die Verrechtlichung und dann ältere Deutungen. Sie betreffen seren Form des Katholizismus erheblich Alltagmensch“ über sich selbst hinaus- Verstaatlichung des Krieges wurde näm- sämtliche Kriegsnationen, also auch die steigern.“ Scheler verstieg sich zu eksta- wachsen ins „Heldenhafte“. Hier sah lich seit den Befreiungskriegen 1813 un- Deutschen, insofern sie entweder keine tischen Bildern eines Sieg- und Expan- man den Ort der Religion: Aus ihr und terlaufen von radikalisierenden Formen Christen oder schlechte Christen sind: sionsfriedens im Zusammenhang mit nur aus ihr könne ein gesunder sittli- des politischen Bewusstseins: den emo- Für sie ist der Krieg ein prüfendes Straf- der Ideologie einer von Deutschland cher und religiöser Kern herauspräpa- tional hoch aufgeladenen Begriffen und gericht, ein Erzieher, ein Missionar. ausgehenden Re-Katholisierung Euro- riert werden. Mythen von „Volk“ und „Nation“. Hier Diese Kernidee steht für eben jene funk- pas. Das war eine spezifische deutsche Der „Gemeinsame Kriegshirtenbrief setzte ein Prozess der Gegensakralisie- tionalen Amalgame, die die Strukturge- und gleichzeitig spezifisch reformkatho- der deutschen Erzbischöfe und Bischö- rung ein, dessen politische Transzenden- schichte des Verhältnisses von Religion lische Kriegslegitimation. Auch Matthi- fe“ machte „eine ihrem ganzen Wesen zen sich ihre eigenen Kulte schufen. Et- und Krieg seit 1800 bestimmten. as Erzberger, führender Reichspolitiker nach unchristliche, undeutsche und un- was „Heiliges“ erhielt der Krieg ausge- Die Bischöfe und Theologen, und des Zentrums, begründete seinen an- gesunde Überkultur mit ihrem äußeren rechnet in diesem Kontext. Das Chris- zwar auch die Konservativ-Ultramonta- fänglichen Annexionismus religionskul- Firnis und ihrer inneren Fäulnis, mit ih- tentum war um seiner selbst willen eben- nen, setzten sich in diesem Sinne um- turell und konfessionspolitisch. rer rohen Geldsucht und Genußsucht, so bereit wie gezwungen, diese sinn- standslos für den Krieg ein: Viel zitiert Zwar reichte das Spektrum auch bei mit ihrem ebenso anmaßenden wie lä- stiftende Sakralität des Politischen zu ist das Wort des Bischofs von Speyer den Akademikern von ernster Sorge um cherlichen Übermenschentum, mit ih- integrieren und zu legitimieren. Gleich- und späteren Erzbischofs von München das Vaterland bis zu begeisterter Legiti- rem ehrlosen Nachäffen einer fremd- zeitig konnte und wollte es die über- und Freising, Michael von Faulhaber, mation, aber der Enthusiasmus über- ländischen, verseuchten Literatur und kommenen Deutungen des Krieges, die dass dieser Krieg „das Schulbeispiel ei- wog: die Einheit des bislang gespalte- Kunst und auch der schändlichsten Aus- dazu in deutlicher Spannung standen, nes gerechten Krieges“ abgebe. Mit be- nen Deutschland, das die Katholiken wüchse der Frauenmode“ für das Ge- nicht gänzlich preisgeben: Krieg als Un- sonderer Schärfe beschwor der Beuro- marginalisiert hatte, das vaterländische richt des Krieges verantwortlich, das glück und Strafgericht, als Aufruf zu ner Benediktiner Sebastian von Oer, Opfer und die daraus abgeleiteten An- nun auch über die Deutschen herein- Buße und Läuterung sowie als ethisch zehntausendfach wiederaufgelegt, den sprüche auf Teilhabe am nationalen brach. Deutschland war schuldlos am zu hegender Extremfall politischer Ver- Kriegsausbruch als Repristination der Erbe, der kampfbereite Wunsch, „an den Krieg, aber keineswegs ohne Schuld. antwortung. Fließende Übergänge prä- Völkerschlacht von 1813 und als ver- Feind heranzukommen“: Hier konnte, Gott selbst habe „vor sein Kriegsgericht gen das Bild: Gebet und Heldenmut, diente Abrechnung mit der Gottlosig- trotz großer Binnendifferenzierung, von geladen die gottfeindlichen, irreligiösen, traditionelle Buße und militarisiertes keit des revolutionären Frankreich: einer „Gegenöffentlichkeit“ nicht mehr ungläubigen und unsittlichen Welt- Lebensopfer. Die Kirchenleitungen und „Wie vor 100 Jahren, so stehen auch die Rede sein. Das Germanenbild der mächte“, welche höhnten, „die Wissen- Militärgeistlichen haben diese Instru- jetzt die Völker Europas in blutigem „deutschen Treue, Einfachheit und Sit- mentalisierung in einem hohen Maß an Krieg gegeneinander […]. Damals galt te“, des Idealismus und der Geistes- und sich geschehen lassen, weil sie sich von es, sich vom Joch des gallischen Erobe- Gemütstiefe ließ sich auch mit katholi- vaterländischem Einsatz Vorteile für rers zu befreien, und der Krieg war ein schem Traditionsbewusstsein verbinden. ihre gesellschaftliche Geltung in der gerechter – und Gott gab den Sieg! Heu- Sittliche Erneuerung sollte den mora- Nachkriegszeit versprachen. te gilt es der deutschen Nation und ihren lisch-kulturellen „Weltberuf“ begründen, Abbildungsnachweis: Diese drei Entwicklungen förderten österreichischen Stammesbrüdern, das der nun auf eine sehr deutsche Weise die Politisierung der Religion in moder- Netz zu zerreißen, das ein ränkesüchti- christlich und heilig war. Johann Leicht, / Paul Wilhelm von nen Kriegen. ger König [Serbiens. A.H.] ersonnen Nur langsam und spät verdrängte der Keppler (Hrsg.), Sankt Michael. Ein und das fränkischer Übermut, russische Wunsch nach einem „ehrenvollen Frie- Buch aus eherner Kriegszeit zur Erin- III. Heiligkeit und Hingabe: und englische Hinterlist und Tücke über den“ den „siegreichen“ Annexionismus. nerung, Erbauung und Tröstung für Der katholische Kriegsdiskurs uns ausgespannt haben. Und auch die- Die Friedensbemühungen Benedikts XV. die Katholiken deutscher Zunge. Mit ser Krieg ist ein gerechter, uns aufge- scheiterten an eben jener Nationalisie- einer Einführung von Dr. Paul Wil- Der gerechte Krieg zwungener, ein heiliger Kampf für Haus rung christlich begründeter Gerechtig- helm von Keppler, Bischof von Rot- und Herd, für Vaterland, Freiheit und keitsbehauptungen. Der Versuch des tenburg, Würzburg – Berlin – Wien Auch wo keine Religionskriege mehr Ehre. […] Wir müssen siegen, sonst wer- Papstes, die als Christenpflicht apostro- ³1918. Die Abbildungen stehen bei geführt wurden, war Gott aus der den wir untergehen; wir wollen siegen, phierte Treue zum Vaterland in eine hö- den Seiten 22, 137, 210 und 272. Schlacht keineswegs verschwunden. und wir werden siegen!“ here Treue zur Völkerverständigung auf-

26 zur debatte 5/2014 schaft habe den Glauben abgetan, das religiosität so sprechend machen (Ab- Jenseits und die Ewigkeit ins Reich der bildung 3 folgende Seite). Die eigentli- Fabel verwiesen, Christus seiner Gott- che Zentralfigur, auf die der Blick sofort heit entkleidet.“ fällt, ist erneut die schwarze Frau unter Die eigentlichen Quellen katholi- dem Kreuz. Im Titel als „Mater doloro- scher Kriegserfahrung sollten daher jen- sa“ gekennzeichnet, ist sie erneut die seits der politischen Werturteile eines Schmerzensmutter schlechthin, die den quasi-religiösen Nationalismus liegen. trauernden Frauen ein Rollenbild anbie- Der „Weltbrand“ habe seine Ursache in tet. Besonders signifikant ist der Körper „letzter Linie in der Vorsehung Gottes des am Boden liegenden Toten. Er ist selbst“, sei eine „Leidenskur für Natio- einerseits der am Kreuz geopferte nen, ein operativer Eingriff in kranke Leichnam Christi. Er ist andererseits Völkerorganismen, eine Operation auf eine präzise ikonographische Entspre- Leben und Tod mit großem Blutverlust, chung zum gefallenen Soldaten des mit schweren Amputationen.“ Vom Buß- zweiten Bildes. Und hinter seinem diskurs her wurde der Krieg zum Missi- Haupt liegen der Lorbeerkranz und das onar erklärt, aus der unverhohlenen eiserne Kreuz, Siegeszeichen des Märty- Negativität heraus, aus der „Stunde kör- rers und der soldatischen Tapferkeit. perlicher, seelischer und wirtschaftlicher Der Tod des Soldaten ist der Tod der Todesängste, Todeskämpfe und Todes- imitatio Christi schlechthin, das ist die wunden, der Stunde des Völkerblutens Grundthese des Bildes. Das ist gefähr- und Staatenröchelns“. Die Qual der La- lich. Denn selbst wenn man dem theo- zarette erschien als die Kirchen ermäch- logischen Denken seiner Urheber zu tigende pastorale Metapher. folgen bereit ist, verwischt es eine Gegen die „gottlose und gottfeindli- Grundunterscheidung. Das Blut Christi che Kultur“ als Gegenstand des Gericht erlöst. Der verblutende Soldat – im bes- stand eine „Epiphanie Jesu Christi“, in ten Fall – ist erlöst. Wer das Risiko sol- der das Passionsblut des Kreuzesopfers cher Identifikationen eingeht, will noch und des soldatischen Opfers ineinan- etwas Zusätzliches insinuieren: Auch derflossen. Diese Idee wurde in großen das Opferblut des Soldaten hat eine von Hausbüchern propagiert, um in Massen- Schuld befreiende Wirkung – und zwar auflagen das Kriegserleben der Katholi- im kulturtheologischen Diskurs, der den ken imaginativ zu beeinflussen. Als Bei- Krieg als Gottesgericht gegen den religi- spiel mögen Abbildungen dienen, die onsverachtenden mainstream der Mo- sich in dem Buch „Sankt Michael. Ein derne interpretierte. Dafür leistet der Buch aus eherner Kriegszeit zur Erinne- sterbende Soldat eine millionenfache rung, Erbauung und Tröstung für die Sühne. Katholiken deutscher Zunge“ finden. Weil die zentrale Kriegserfahrung der Ein erstes Bild visualisiert diese Epi- Nichtkombattanten die Todesnachricht phanie einerseits als martialischen Auf- ist, muss das Jenseitsschicksal des Sol- bruch unter schwarz-weiß-roter Flagge, daten in zentralen Texten und Bildern andererseits aber auch als Licht, das zum Thema gemacht werden. Darum vom Kreuz auf die schwarz verschleier- zeigt Abbildung 4 (folgende Seite) die te Frau fällt (Abbildung 1). Wer wie die Grundanordnung einer klassischen Ge- meisten Leser und Betrachter dieses richtsikonographie. Aber sie kommt er- Buches mit Passionsaltären aufgewach- neut mit symptomatischen Einströmun- sen war, assoziierte Maria oder Maria gen daher: Der Soldat wird klar auf die Abbildung 1: Die schwarze Gewan- Magdalena. Aber gleichzeitig weicht die – vom richtenden Gottessohn her ge- dung und der Schleier zeigen exakt jene Ikonographie ab; die schwarze Gewan- sehen – rechte Seite gestellt. Für den trauernden Mütter und Witwen, die dung und der Schleier zeigen exakt jene sterbenden Soldaten gibt es eine ein- zeitgenössische Photos an den Solda- trauernden Mütter und Witwen, die zeit- deutige Heilszusage. Dem Gerichtsengel tengräbern dokumentieren (Seite 22). genössische Photos an den Soldatengrä- bern dokumentieren. Solche Überblen- dungen bieten Identifikationen an; gleichzeitig ist hier nicht alles glorios. Die Schwere des Abschieds wird im letzten Händedruck nicht verleugnet; die Bilddiagonalen werfen Licht auf die vordersten Krieger vom Kreuz her und durch die Trauerpersonifikation hin- durch. Auch das nächste Bild zeigt den Kriegsaufbruch. In szenischer Überlage- rung von hinten nach vorn wird ein und derselbe Soldat in Abbildung 2 mehr- fach gezeigt: a) in der Bereitung des in- neren Selbst für den Kriegseinsatz. Er findet unter dem Kreuz statt. In der Kriegs- und Friedenslehre des Augusti- nus, maßgeblich seit Jahrhunderten, spielt dieser Akt der psychischen Selbst- performanz für die ethische Rechtferti- gung des Kriegers die ausschlaggebende Rolle. Erst dann erfolgt, in der rechten Kreuzesgesinnung, b) der Abschied von der Familie, c) das letzte Lebewohl und dann d) das sich gegen den Feind wen- dende Voranstürmen. Wir haben es hier also mit einer theologisch sehr fundier- ten Popularisierung zu tun. Ihr Prob- lem: Was schon für Augustinus eine heikle Transformation biblischer Befun- de in politische Verantwortung war, wird nun eingebettet in geistliche Pro- paganda. Das Bild visualisiert also auch jene oben beschriebene Struktur, in der ein kontrafaktisches Verhältnis von Krieg und Christentum völlig undenk- bar geworden war. Die Figur des Gefal- lenen vorn links wird in einer bezeich- nenden Weise wiederbegegnen. Das dritte Bild zeigt auf den ersten Abbildung 2: In szenischer Überlage- Blick das klassische Motiv einer Kreuz- rung von hinten nach vorn wird ein abnahme. Wiederum sind es die Über- und derselbe Soldat mehrfach gezeigt blendungen, die das Bild für die Kriegs- (Seite 137).

zur debatte 5/2014 27 Die naive, gewaltblinde Schwärmerei dominierte nicht einmal zu Kriegsbe- ginn. Kriegsbegeisterung meinte im Herbst 1914 eine düstere Ahnung schweren Unheils (Ch. Geinitz), worin aber, so die Hoffnung, etwas Existen- tielles zum Durchbruch kommen kön- ne, geradezu müsse. „Wenn dieser Krieg zum vollen Ausbruch kommt“, dessen war Bischof Keppler gewiss, „wird er über ganz Europa Ströme von Blut und Tränen bringen“ und „selbst bei gutem Endausgang […] eine schwere Heimsu- chung werden“. Auch die Pfarrer rede- ten offen, so etwa in einer Predigt zum Kriegsbeginn (August 1914): „Wenn man sieht, wie ein Geschoß in eine Gruppe einschlägt, wie Leute zerrissen werden, ihr Blut und Gehirn den Nach- bar bespritzt [...] und dazu das Bewußt- sein hat, das kann dir jeden Augenblick auch geschehen – das will über Men- schenkraft gehen. Man meint, man müsse fortlaufen, hinaus aus dieser Höl- le. [...] Da hilft nur eines: die Religion.“ Kriegsbegeisterung, das war unter Katholiken zunächst einmal eine Kriegs- bereitschaft, in der sich ihre Religion als „Leidens- und Trostgemeinschaft“ be- währen müsse, um in tiefernster Läute- rung neu anfangen zu können. Patrio- tismus zu demonstrieren stand in der Breitenreligiosität offenbar gerade nicht im Vordergrund: „Aus einer kriegsbeja- henden eine kriegsbegeisterte Grund- Abbildung 3: Die Zentralfigur, auf die stimmung abzuleiten hieße, den Quel- der Blick sofort fällt, ist die schwarze len Gewalt anzutun.“ Und „nur wer die Frau unter dem Kreuz (Seite 272). Quellen nicht gelesen hat, kann be- haupten, die Geistlichen hätten zu den Gefahren und der Trübsal geschwiegen. Das Morden auf dem Schlachtfeld und die Entbehrungen zuhause wurden in ungeschönter Weise benannt und stan- Michael, rechts zu sehen, galt im Ersten Gerade im Zuge der Mobilmachung fendsten war der Sonntagsgottesdienst den an erster Stelle der Auseinanderset- Weltkrieg beidseits der deutsch-fran- war die Kriegsbejahung von düsteren am ersten Tag der Mobilmachung, am zung mit dem Krieg.“ (Ch. Geinitz) zösischen Grenze ein eigener Kult als Ahnungen und berechtigten Ängsten 2. August: die Kirche war so voll wie Als sich die Kämpfe in den Gräben rächender Retter des Gottesvolkes, umstellt. So füllten sich die Kirchen, am Karfreitag […]; tiefer Ernst, gehalte- festfraßen, wurde das zu einem zentra- Schutzengel der Nation und Gerichtsen- und weder in den Pfarreien noch in den ne innere Erregung liegt auf der Ver- len Problem der Feldseelsorge. Militär- gel über die Feinde. Für den sterbenden Kasernen wurden die Geistlichen des sammlung, zuweilen ein Weinen, nach chargen verlangten vor allem eine mo- Soldaten aber hat er alles Bedrohliche Ansturms derer Herr, die vor ihrer Ein- den Fürbitten […] ein allgemeines ralische Zurüstung der kämpfenden eingebüßt: Der mächtige Seelenwäger berufung beichten, kommunizieren und Schluchzen. Ich selber war zuweilen Truppe. Feldseelsorge hatte mit scharfen der Tradition erscheint als bestätigende ihr bisheriges Leben ordnen wollten. In nicht fähig zu sprechen, beim Blick auf Angriffen zu rechnen, wenn sie gegen Staffagefigur. einem Bericht aus Waldkirch bei Frei- die vielen Sorgenvollen.“ diese Durchhalteerwartungen die ganze Dies bestätigen die beigegebenen burg hält der Pfarrer fest: „Am ergrei- Breite christlicher Kriegsdeutungen, Texte: Dass der Tod als Selbstopfer im Krieg „eine Tat der vollkommenen Lie- be war, ist bei vielen gewiß, und daß er eine Tat der Geduld und der Starkmut war, bedarf keines Beweises. Alle Be- dingungen des Martyriums treffen also bei unseren in diesem heiligen Kriege gefallenen Brüdern zu. […] Starben sie aber als Blutzeugen Christi, so hat die- ser Blutzeugentod auch die dargelegten Wirkungen ausgeübt in ihrer Seele, so daß sie frei von Schuld und Fehl einge- gangen sind ins Himmelreich […]. Denn der Martertod wirkt ‚völlige Be- freiung von Schuld und Strafe‘ aller Sünden. ‚Das für Christus aufgenomme- ne Leiden hat die Kraft der Taufe und reinigt darum von aller Schuld […]. Ge- heiligte Gottes sind darum unsere toten Helden, und […], die Krone der Märty- rer ist ihre Krone.“ Damit kein falscher Zungenschlag entsteht: Wir wissen heute, was nicht mehr gesagt und gezeigt werden kann. Aber wüssten wir, was stattdessen ge- sagt werden könnte?

Der Krieg der Gläubigen und der Zweifler

Die jüngeren Forschungen verändern oder erweitern das Spektrum älterer Studien, die – wegweisend, aber doch verkürzend – nur nach der Legitimati- onsbereitschaft der Kirchen für den Krieg fragten. Auch die Kriegsfurcht, die Suche nach Trost und Bewährung und nicht zuletzt das maßlose Leiden und Abbildung 4: Der Soldat wird klar auf die Friedenssehnsucht artikulierten sich die – vom richtenden Gottessohn her in den Begriffen der „Hingabe“, des gesehen – rechte Seite gestellt (Seite „Opfers“ oder des „Blutvergießens“. 210).

28 zur debatte 5/2014 moralische Dekadenz, Leidensbewälti- des Krieges in den Prätentionscubicula gung und Sterbebegleitung in den Mit- politischer (Selbst-)Gerechtigkeit und telpunkt stellte. Das zwang zum Kom- kulturell-moralischer Überlegenheit er- promiss: Die Totenklage sprach laut wies sich als Gefangensetzung, das ge- und deutlich von untergegangenen machte Bett der Integration religiöser Hoffnungen, zerrissenen Herzen, ent- Kriegsdeutung in die nationalen Muster haupteten Familien und zerschnittener als harte Etagenpritsche theologisch- Liebe. Aber diese Klage verzichtete spiritueller Kasernierung. eben doch nicht auf den polemischen Stachel gegen moderne Wissenschaft IV. Das „Schwert des Geistes“? und Kultur, die diesem Schmerz nichts Kriegsdiskurs nach dem Krieg entgegenzusetzen habe, und natürlich gegen die Feindnationen, deren Opfer Nicht nur die Politiker, sondern auch nirgends beklagt wurden. Stattdessen die Vertreter der Kirchen agierten schlaf- wurde die christliche Auferstehungs- wandlerisch in den Jahren zwischen hoffnung an die „Werke“ deutscher 1914 und 1918. Sie verließen sich auf Kriegsteilnahme gebunden. In diesen die Funktionsfähigkeit ihrer überkom- hermetischen Deutungen wurden Krieg menen Arsenale religiöser Kriegsdeu- und Tod so mit Sinn gefüllt und die tung. Der Weltkrieg aber konfrontierte Gnadenmittel der Kirche, Totenmesse mit Wirklichkeiten, auf die das traditio- und Ablass, Fürbittgebet und Aufopfe- nelle theologische und rituelle Rüstzeug rung, caritative Fürsorge und Askese nur mehr sehr bedingt passen sollte, so des Ausharrens so in Dienst genommen, die Ausgangsthese. Dafür lassen sich dass trotz aller Friedenssehnsucht eine nun Argumente benennen: Theologie des Friedens als wirkliche Zum einen erwies die Wirklichkeit Interessieren sich auch für Geschichte: Alternative nicht in den Horizont des die überkommenen Deutungsmuster als die Juristen Dr. Theo Waigel, ehemali- Denkbaren trat. Diese Parteilichkeit inadäquat. Der Krieg war angeblich ge- ger Bundesfinanzminister (re.), und Dr. prägte die Militärseelsorge, und zwar in recht, aber er war voll von Gräueln auf Karl Huber, Präsident des Bayerischen Deutschland wie in allen anderen krieg- allen Seiten. Der Krieg erforderte an- Verfassungsgerichtshofs. führenden Nationen auch. Das war der geblich den christlichen Streiter, aber er Krieg der Gläubigen. entindividualisierte die Lebenden wie die Toten. Gott war angeblich mit den deutschen Waffen und ging als Herr durch die Geschichte, aber der Krieg allem der Männer. Viele Heimkehrer Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg Auch die gedrückte Stim- war verloren. Nach Kriegsende bemüh- ließen sich kaum mehr ins Leben ein- und die Christenheit. Ein globaler Über- mung in der Bevölkerung, ten sich die deutschen Bischöfe weitge- binden. Die Religion, früher „eine Art blick, Stuttgart 2014. hend vergeblich, Früchte der Kriegspas- Versicherung für Leben, Gesundheit, ein intuitives Bewusstsein toral einzuernten. Zu lange war zu kon- Wohlfahrt“, sei ebenso unplausibel ge- vom tödlichen Ernst der trafaktisch geredet worden: Der Kriegs- worden wie die Bereitschaft, sich von dienst als praktizierte Nächstenliebe, als den Geistlichen führen zu lassen. „Wenn Lage, kam weniger im Pa- Gottesdienst und Martyrium, der ver- die Pfarrer und Kapläne im Beichtstuhl thos als in der Kompassion dienstliche Opfertod auf dem Altar des und in den Predigten bislang stark mit Vaterlandes, die Selbstlegitimation der dem drohenden Motiv der Schrecken zum Ausdruck. Christianisierung und Moralisierung der der Hölle gewirkt hatten, so erklärten Welt, die Kriegsnot als Züchtigung – für die zurückgekehrten Frontsoldaten jetzt, alle diese Deutungsmuster standen kei- sie hätten ‚eine Hölle durchlebt‘. Diesen Doch daneben fochten und litten und nerlei Alternativen theologischen Nach- Männern könne man nun ‚nicht mit starben die Zweifler. Je länger der Krieg denkens und pastoralen Sprechens be- Drohungen und harten Schreckenswor- dauerte, umso weniger erfüllte er die reit, als sich das alles spätestens 1918 ten kommen‘.“ Missionseuphorien. Kriegserfahrung för- als blanker Unsinn herausstellte. Die Schließlich traten viertens neue Ritu- derte auch Skepsis, Zynismus und einen Aufzeichnung eines Soldaten 1917: ale der Trauer und des Gedenkens ne- augenblicksbetonten Erlebnishunger, „Des Mittags fand ein Feldgottesdienst ben die etablierten kirchlichen Kulte. den die Kirchenleute mit zunehmender statt, in welchem wohl die wenigsten Die Kriegerdenkmäler wurden nicht nur Schärfe als Glaubensverlust und Unmo- Trost und Stärke gefunden hatten.“ in den Kirchen angebracht, sondern an ral brandmarkten. Verwundete erzähl- Zum zweiten wurde den Kirchen der zentralen Stellen des öffentlichen Le- Ausgewählte Veranstaltungen der ten: „Vor Verdun […] haben wir noch Pakt zum Verhängnis, den sie mit der bens. Der „unbekannte Soldat“ wurde Katholischen Akademie sind in BR- gebetet; aber jetzt an der Somme, da politischen und militärischen Obrigkeit zum Thema der Monumente und der an alpha, dem Bildungskanal des Baye- wird nicht mehr gebetet, da wird ge- eingegangen waren. Die katholische ihnen gehaltenen Reden. Kriegerverei- rischen Fernsehens, zu sehen. Die flucht. […] Nichts war bei meiner Divi- Kirchenhierarchie veröffentlichte Bele- ne, Veteranenverbände, der „Volksbund journalistisch aufbereiteten 45-minü- sion so unbeliebt […] wie der Gottes- ge, „daß der geistliche Stand in schick- Deutsche Kriegsgräberfürsorge“, der dienst. […] Der Sakramentsempfang hat salsschwerer Zeit […] mitgekämpft und „Kyffhäuser-Verband“ und andere Ver- tigen Beiträge werden vierzehntägig sehr nachgelassen. Die ohne äußeren mitgestritten“ habe, „wenn nicht mit Ge- gemeinschaftungen setzten die lebhafte in der Reihe „alpha-lógos“ am Sonn- Zwang, rein aus sich ihre Pflicht tun, wehr, Bajonett und Handgranaten, so Erinnerungsarbeit fort, die die Soldaten tagabend, jeweils von 19.30 bis heißen ‚die Pastoralen‘.“ Vor einem mit dem Schwert des Geistes“, weil das schon während des Krieges begonnen 20.15 Uhr, gesendet. Sie bieten Ori- Sturmangriff, so ein Soldat, „hilft wahr- Wort Gottes auch „vom wahnsinnigen hatten, um angesichts der Vermengung ginalauszüge aus den Vorträgen und haftig eine Zigarette mehr als die Bibel, Tumult moderner Schlachten nicht über- namen- und gesichtsloser Leiber mit Diskussionen, Interviews mit den Kant und Fichte!“ Bei nicht wenigen tönt werden kann“. Gleichzeitig ver- dem Schlamm des Schlachtfeldes als In- Referenten sowie vertiefende Infor- wurde die religiöse Sentimentalität des wahrten sie sich gegen jede Verdächti- dividuen erkennbar zu bleiben, und sei mationen. Kriegsbeginns überlagert von umso hef- gung, dass „katholisches Christentum es nur als Name auf einer Tafel. Der tigerer Distanzierung. Auch die gedrück- unsere Vaterlandstreue und Kriegstüch- Volkstrauertag und andere Heldenge- te Stimmung in der Bevölkerung, ein in- tigkeit schwäche und in Frage stelle. […] denktage etablierten eigene Sphären Die Sendungen der Reihe werden tuitives Bewusstsein vom tödlichen Ernst Wir haben unsere Pflicht getan […]. und Zeremonien, umkämpft zwischen vierzehntägig sonntags wiederholt. der Lage, kam weniger im Pathos als in Wir sind nicht […] Vaterlandsfreunde demokratisch-republikanischem Legiti- Gezeigt wird immer der Beitrag, der der Kompassion zum Ausdruck. Dane- zweiter Klasse.“ Die Adressaten dieser mismus und monarchistischem Revan- in der Vorwoche um 19.30 Uhr zu ben entwickelte sich ein popularer Sol- Beteuerungen aber waren nach 1918 chismus. sehen war. datenaberglaube mit synkretistisch- sang- und klanglos verschwunden. Der Not lehrt beten? Für die religiöse magischen Praktiken, der sich teils mit Krieg, der die Rolle der Kirchen im po- Kriegserfahrung der Deutschen gilt das Noch ein Hinweis den kirchlichen Deutungen und Kulten litischen System hatte befestigen sollen, nur sehr bedingt. „ mischte, teils alle Bindungen daran hatte schlicht die Bühne zerstört, auf Die Sendungen der alpha-lógos-Rei- kappte. Als Skurrilitätenkabinett wären der das spannungsreiche Verhältnis von Literatur: diese verzweifelten Versuche der Be- Thron und Altar bislang aufgeführt wor- he sind jeweils ein Jahr lang auch auf wältigung gründlich missverstanden. den war. Die Einbindung in die politi- Andreas Holzem, „Kreuzes- und Lei- der Homepage von BR-alpha abzu- Faktisch pluralisierten die Kriegskul- sche Ordnung der Weimarer Demokra- densschule“ und der Abgesang der bür- rufen und können damit jederzeit auf te die Religiosität, gegen alle Absicht. tie war ganz neu zu inszenieren. Das gerlichen Welt: Die Religion im Ersten dem heimischen Computer gesehen Die erhoffte Rechristianisierung blieb sollte keineswegs allerorten gelingen. Weltkrieg, in: Lucian Hölscher (Hrsg.), werden. aus; die illusionäre Erwartung, der Krieg Vielmehr wurde der kulturkritische Dis- Handbuch der Religionsgeschichte im Die Internetadresse lautet: werde einer Pflugschar gleich die Schol- kurs auf Staat und Gesellschaft von Wei- deutschsprachigen Raum, Bd. 6: Das http://www.br.de/fernsehen/ le des modernen Unglaubens aufbre- mar übertragen. 20. Jahrhundert, Paderborn – München br-alpha/sendungen/logos/logos104 chen und den Boden für eine christliche Drittens verkehrte sich die Missionie- – Wien – Zürich 2014 [im Druck]. Saat bereiten, hatte sich genährt von rungsstrategie der Kirchen in ihr Ge- abgewirtschafteten Theologoumena der genteil, je länger der Krieg dauerte. Er Andreas Holzem, Krieg und Christen- Eine aktualisierte Programmvor- Gottesstrafe und der noch im Grauen förderte die Entkirchlichung, wenn nicht tum. Religiöse Gewalttheorien in der schau finden Sie unter barmherzig erziehenden Hand Gottes die Entchristlichung. Pfarrer- und Visi- Kriegserfahrung des Westens (Krieg in http://mediathek.kath-akademie- auf dem Weg seines Volk durch die Ge- tationsberichte sprechen eine klare Spra- der Geschichte, Bd. 50), Paderborn – bayern.de/akademie-bei-br-alpha schichte. Die traditionale Einhausung che bezüglich der religiösen Krise vor München – Wien – Zürich 2009.

zur debatte 5/2014 29 ein, sie lieferten sich ihm nicht mehr haft, so unpersönlich. Kaum dass man Der Erste Weltkrieg – „Urkatastrophe mit gleicher Gutgläubigkeit aus. Wo- dabei an den Feind dachte, dieses ge- durch wurde dieses große Erschrecken heimnisvolle, tückische Wesen irgend- des 20. Jahrhunderts“ oder „Geschichts- ausgelöst? Auf drei Faktoren will ich wo dahinten. Das völlig außerhalb der aufmerksam machen. Erfahrung liegende Ereignis machte ei- bruch“? nen so starken Eindruck, dass es Mühe III. Differenz von Erfahrung kostete, die Zusammenhänge zu begrei- Lucian Hölscher und Erwartung fen. Es war wie eine gespenstische Er- scheinung am hellen Mittag. Im Ge- Erstens gingen die Erwartungen an spräch mit meinen Kameraden merkte den Krieg und die Erfahrungen, die die ich, dass dieser Zwischenfall manchem Menschen dann in ihm machten, extrem die Kriegsbegeisterung sehr gedämpft weit auseinander. Als letzter großer hatte.“ Krieg stand den Deutschen 1914 der I. Die Kriegsschuldfrage deutsch-französische Krieg von 1870/71 IV. Die Industrialisierung des Krieges vor Augen (dahinter dann auch der Der Erste Weltkrieg – 100 Jahre nach Krieg von 1813). Doch 1870 umfassten Bedeutsam ist nicht der Vorgang als seinem Ausbruch: Was geht er uns heu- die deutschen und französischen Trup- solcher, sondern das, worauf er den te noch an? Die Frage danach, wen die pen zu Kriegsbeginn nur jeweils 300- Blick lenkte. Dies ist der zweite Faktor, Hauptschuld am Ausbruch dieses Krie- 400.000 Soldaten, auf deutscher Seite auf den ich Ihre Aufmerksamkeit len- ges trifft, steht nicht mehr im Mittel- gab es 45.000 Gefallene und 90.000 ken will: Im Ersten Weltkrieg waren die punkt unseres Interesses. Sie beherrsch- Verwundete, auf französischer 140.000 Erfahrungen des modernen, industriell te Jahrzehnte lang zwar die öffentliche Gefallene, ebenso viel Verwundete. Im geführten Krieges noch neu, die seeli- Diskussion – vor allem in Deutschland, Ersten Weltkrieg dagegen standen in al- sche Erschütterung der Menschen da- wo man sich bis weit über den Zweiten len beteiligten Nationen zusammen ge- her grundsätzlicher. In ihm zerbrachen Weltkrieg hinweg vehement gegen die nommen 70 Mio. Soldaten im Feld, am nicht nur die Körper der Menschen, son- einseitige Schuldzuschreibung an Ende zählte man etwa 10 Mio. Gefalle- dern auch ihre Seelen und ihr Verstand. Deutschland und seine Verbündeten im ne, knapp 20 Mio. Verwundete, 7 Mio. Dies war in erster Linie Folge einer Versailler Vertrag von 1919 wehrte. kamen auf andere Weise ums Leben. Kriegsführung, die die Soldaten nicht Doch heute eröffnet sie keine Perspek- Der Krieg hatte also ganz andere Di- nur bislang unbekannten, sondern auch tive mehr für die Zukunft Europas. mensionen. extremen und extrem widersprüchlichen Als der Hamburger Historiker Fritz Zudem war der Krieg von 1870 in Eindrücken aussetzte: etwa dem extre- Fischer 1959 mit der spektakulären The- Deutschland verklärt durch die an- men Gegensatz von wochenlangen Auf- se auftrat, Deutschland falle tatsächlich schließende Gründung des Deutschen enthalten in regenüberfluteten Schüt- die Hauptschuld zu, war dies noch ein Reichs. Die Soldaten glaubten auch zu zengräben und der Idylle friedlicher Dammbruch, der aber gut in den Kon- Beginn des Ersten Weltkriegs wieder, ei- Einquartierungen, wo bürgerliche Offi- text der Zeit passte. Denn die deutsche nen für Deutschland ebenso wichtigen ziere etwa am Klavier Schubert-Sonaten Öffentlichkeit suchte damals nach einer Sieg zu erringen. Dass es ein großer spielten und ihre Kameraden bei einem Wiederaufnahme in den Kreis der west- Prof. Dr. Lucian Hölscher, Professor Krieg, ein „Weltkrieg“ werden würde, Glas Likör, ängstlich beäugt von den lichen Nationen, nach einer Distanzie- für Neuere Geschichte und Theorie der wie man schon um 1900 sagte, war vie- feindlichen Gastgebern, ihren romanti- rung vom Dritten Reich. Als dessen Vor- Geschichte, Universität Bochum len bewusst. Das spiegelte sich z. B. in schen Gedanken nachhingen; von Na- geschichte stand der Erste Weltkrieg al- den utopischen Kriegsromanen, die turerlebnissen von überwältigender lerdings schon damals im Schatten des auch schon mit Luftflotten und großen Schönheit einerseits, wie sie immer Zweiten und ist es bis heute geblieben. Kanonen rechneten. Der Krieg von schon das Herz des Kriegers erfrischt Seither ist manche Kritik – in gewis- Schäden anrichtete, den Hauptgegen- 1914 wurde also durchaus erwartet, ja hatten, und apokalyptisch zerstörten sem Sinne auch zurecht – an Fischers stand unseres Interesses am Ersten vielleicht sogar zum Teil im Zuge einer Landschaften andererseits, wie sie erst These geäußert worden, auffallender- Weltkrieg. „self fulfilling prophecy“ herbei „ge- der Dauerbeschuss großer Geschosse weise gerade von Historikern aus den Das Rätsel des Ersten Weltkriegs dacht“. Doch er fiel dann eben ganz an- im Ersten Weltkrieg produzierte; von Ländern der damaligen Kriegsgegner stellt sich deshalb heute auf neue Weise: ders aus als erwartet. So meinten die brüllenden Schlachten bei Tag, die das Deutschlands: Sie wiesen nach, dass Im Zentrum unsers Interesses steht nicht Soldaten auch noch, den Sieg unter Trommelfell zum Platzen brachten – auch ihre Regierungen jeweils erhebli- mehr die Frage, wer den Krieg verschul- Einsatz persönlicher Tapferkeit im und der Totenstille nächtlicher Wachen, chen Anteil an der Katastrophe hatten, dete, sondern die Inkommensurabilität Kampf Mann gegen Mann erringen zu von denen Ernst Jünger sagte, sie sei oft die mit der deutschen Kriegserklärung der Entscheidungen für den Krieg mit können. Was kam, war dagegen ein bis- schlimmer gewesen als das Kampfge- an Russland am 1. August 1914 irrever- dem, was aus diesen folgte. Wie konn- lang ganz unbekannter industrieller schehen selbst. sible Realität wurde. Gerade in ihrer ten, so fragen wir, die Entscheidungen Krieg, bei dem man den Feind kaum je- Eine Chance zum Überleben hatte Einseitigkeit erwies sich Fischers Kriegs- zum Krieg solche enormen, völlig dis- mals sah; der bestimmt wurde von Groß- man in den Schützengräben Belgiens schuldthese gleichwohl als politisch er- proportionalen Folgen zeitigen? Han- geschossen mit grotesker Wirkung, von und Nordfrankreichs nur, wenn man folgreich: Sie bereitete nämlich den Bo- delte es sich doch angeblich um einen einsamen Toden zwischen den Schüt- die Geräusche der verschiedenartigen den für ein gemeinsames europäisches Krieg unter zivilisierten Völkern. Fer- zengräben an völlig unmenschlichen Geschosse genau auseinanderhalten Verständnis dieses Krieges und damit ner: Waren diese Folgen absehbar? Verwundungen. konnte. Daraus entstand in den Schil- für das gemeinsame Gedenken der eu- Wenn ja: Warum nahmen sie die Betei- Da zählte bald nichts mehr von dem, derungen eine eigentümlich lyrische Be- ropäischen Völker hundert Jahre da- ligten in Kauf? „Lohnte“ sich für sie worum man vorher geglaubt hatte, die- schreibungssemantik charakteristischer nach. dieser Krieg – auch im Nachhinein? sen Krieg führen zu sollen: weder der Laute, etwa in Erich Maria Remarques Gerade deshalb aber hat sich die Fra- Und wenn nein: Was war so neu an die- antrainierte Hass auf Russen und Eng- Roman „Im Westen nichts Neues“: ge nach der Kriegsschuld heute weitge- sem Krieg? länder noch der missionarische und „Das Gewitter der Geschütze ver- hend erschöpft: Denn wenn alle irgend- Was uns heute beunruhigt, ist vor al- doch so kleingeistige Glaube an die stärkt sich zu einem einzigen dumpfen wie beteiligt waren, gibt es eigentlich lem die Art der Kriegsführung und die Überlegenheit der deutschen Kultur Dröhnen und zerfällt dann wieder in gar keinen klaren Schuldigen mehr. Da- Wirkung, die sie auf die Menschen hat- über die westliche Zivilisation; weder Gruppeneinschläge. Die trockenen Sal- rum: Nicht um den Blick von den Schul- te. Dabei ist nicht die Grausamkeit des die ersehnte Erfahrung der existenziel- ven der Maschinengewehre knarren. digen abzulenken, sondern um ihn auf Krieges an sich das Problem. Das Prob- len Gefahr noch die neue Volksgemein- Über uns ist die Luft gefüllt von un- die eigentlich wichtigen Fragen zu len- lem ist vielmehr die völlige Ahnungslo- schaft. Aber auch nicht die Hoffnung sichtbarem Jagen, Heulen, Pfeifen und ken, müssen wir über die Frage nach sigkeit, mit der die Beteiligten in diesen auf die sozialistische Revolution und die Zischen. Es sind kleinere Geschosse; der Schuld am Ausbruch des Ersten Krieg zogen. Denn zweifellos erlebten ersehnte Völkerverbrüderung, mit der dazwischen orgeln aber auch die gro- Weltkriegs hinausgehen. sie – anders als spätere Generationen – Sozialisten in den Krieg ziehen moch- ßen Kohlenkästen, die ganz schweren eine Kriegsführung, deren Art und vor ten. Schon wenige Tage nach dem Aus- Brocken durch die Nacht und landen II. Nachhall des großen Schreckens allem deren Folgen sie sich bis dahin rücken der Truppen zerbrachen all die- weit hinter uns. Sie haben einen röh- nicht einmal in ihren schlimmsten Träu- se Dinge. Ernst Jünger hielt in seinem renden, heiseren, entfernten Ruf, wie Wo aber liegen diese weiterreichen- men hatten vorstellen können – selbst Erfolgsroman „In Stahlgewittern“ den Hirsche in der Brunft, und ziehen hoch den Fragen? Fritz Fischer hatte den wenn man die apokalyptischen Vorstel- Augenblick des Erwachens mit der Schil- über dem Geheul und Gepfeife der klei- Blick von der deutschen Außen- auf die lungen in Rechnung stellt, die hier und derung einer Episode fest, die hier für neren Geschosse ihre Bahn.“ Innenpolitik gelenkt. Ihm ging es in ers- da schon vor dem Krieg kursierten: Sie viele andere stehen kann. Die Idylle der Unter der oft extremen Anspannung ter Linie darum, die wichtige Rolle in- waren nie so konkret formuliert, dass Einquartierung in einem kleinen Dorf der Sinne litt die seelische Gesundheit dustrieller und propagandistischer Inte- die Kriegsteilnehmer ihre späteren Er- der Champagne wurde eines Tages Ende der Soldaten fast noch mehr als unter ressenverbände nicht erst bei der Kriegs- fahrungen in ihnen hätten wiedererken- August 1914 vom Einschlag einer Gra- den physischen Belastungen: Anhalten- zieldebatte, sondern schon bei den Ent- nen können. Unsere heutige Erinnerung nate unterbrochen, deren Wirkung die de Dauermüdigkeit etwa bildete nachts scheidungen aufzudecken, die zum Krieg an den Ersten Weltkrieg und alles was Soldaten völlig unvorbereitet traf: bei der Wache eine oft tödliche Gefahr. führten. Doch die Forschung drang bald mit ihm zusammen hängt (auch die „Mit einem merkwürdig beklomme- Sie wechselte dann aber mit Phasen auch darüber hinaus und richtete sich Kriegsschulddebatte) wird daher be- nen Gefühl der Unwirklichkeit starrte überheller Wachheit ab, wenn der Kampf in den letzten Jahrzehnten immer stär- stimmt vom Nachhall des großen Er- ich auf eine blutüberströmte Gestalt mit begann und wenn etwa bei einem An- ker auf die Erfahrungsgeschichte des schreckens, den er bei den Mitlebenden lose am Körper herab hängenden und griff die Richtung und Art der tödlichen Krieges, den „Krieg des kleinen Man- ausgelöst hat. Dieser Schrecken war seltsam abgeknicktem Bein, die unauf- Geschosse nur noch über das Gehör ge- nes“. Seither bilden nicht mehr die ehe- noch größer als der des Zweiten Welt- hörlich ein heiseres ‚Zu Hilfe’ vorstieß ... ortet, nicht mehr gesehen werden konn- maligen Kriegsgegner, sondern die ge- kriegs, wenn man vom Holocaust ab- Was war das nur? Der Krieg hatte seine te. Auch in der Heimat hatte schon in sellschaftliche Lage, in der dieser Krieg sieht. Denn in ihn gingen die Beteiligten Krallen gezeigt und seine gemütliche den ersten Kriegstagen, wie Stefan Zweig möglich wurde und so verheerende schon mit dem Wissen vom Ersten hin- Maske abgeworfen. Das war so rätsel- in seinem Tagebuch festhielt, eine ab-

30 zur debatte 5/2014 grundtiefe Müdigkeit die Menschen er- griffen: Nachts konnten sie aus Sorge um das Schicksal der ins Feld gezoge- nen Männer nicht schlafen, tagsüber verdämmerten sie die Stunden in Er- wartung großer Ereignisse. Zur extremen Anspannung der Sinne an der Front trug auch der ohrenbetäu- bende Lärm der großen Geschütze bei, etwa der „Dicken Berta“, die den Stolz der deutschen Militärführung bildete. Er zerrüttete die Nerven und führte mas- senhaft zu bleibenden Schäden. Die Zahl der durch sie psychisch Zerrütte- ten, der als „Kriegsschüttler“ und „Zitte- rer“ mehr diffamierten als medizinisch diagnostizierten Kriegsopfer, ging bald in die Hunderttausende. Nicht erschos- sen, sondern nervlich zermürbt zu wer- den galt der militärischen Führung als unehrenhafte Form der Verwundung. Die Ängste, die solche Gefährdungen bei den Betroffenen auslösten, die Un- beherrschbarkeit der Gliedmaßen, die sie hervorriefen, nährten den Verdacht unmännlicher Schwäche und verräteri- scher Neigung zur Drückebergerei vor dem Kriegsdienst. Und in der Tat nahm der Kampf zwi- schen Täuschung und Unterdrückung in der Armee bald extreme Formen an. Unerfahren in der Diagnose und hilflos in der Therapie fingen die Militärärzte die Betroffenen meist in frontnahen La- zaretten auf. Die Behandlung mit Elek- troschocks verfolgte hier in der Regel das martialische Ziel, sie müsse für die Patienten jedenfalls abschreckender sein als der Einsatz an der Front. Dort- hin wurden die Nervenkranken dann auch meist wieder geschickt, um einen „ehrenhaften“ Tod zu sterben. Kaum wiederzugeben ist schließlich der Anblick der unmenschlich gebro- chenen, zerschossenen und halb ver- Foto: akg-images westen Körper, mit denen die Soldaten Giftgas, gegen das man Soldaten und auf dem Schlachtfeld oft tagelang in auch Tiere zu schützen versuchte, war engstem Kontakt leben mussten. Kaum eine der schrecklichen „neuen Dimen- etwas anderes erschütterte mehr das sionen“ des Krieges. Menschenbild der Soldaten, ihren Glau- ben und ihre Zuversicht. Der Sinn des menschlichen Lebens, wie viel mehr dann auch der des gegenwärtigen und jedweden Krieges überhaupt wurde da- von nachhaltig in Frage gestellt. Auch münden – vielleicht aber auch binnen scheinen über die Menschen hereinzu- als eine Aneinanderreihung von Frag- dies gilt es zu bedenken, wenn wir uns weniger Tage oder gar Stunden enden, brechen wie Naturereignisse (Vulkan- menten gewesen, so als habe er nicht heute an den Ausbruch des Ersten Welt- wenn nämlich eine Seite nicht mehr ausbrüche, Tsunamis etc.). Das ist der bloß eine, sondern mehrere, völlig von- kriegs erinnern. würde durchhalten können. Da kam es Erste Weltkrieg nicht gewesen: Er war einander verschiedene Existenzen ge- dann unter Umständen auf die letzte vermeidbar. Mit dem Begriff der „Katas- lebt. Die Jungen, denen er seine Erleb- V. Die neue Orientierungslosigkeit Viertelstunde an, die über Sieg und Nie- trophe“ bezeichnet man vor allem in nisse aus der Zeit vor 1914 erzähle, wie- derlage entschied. der religiösen Tradition seit alters aber sen sie mittlerweile als unvorstellbar zu- Ein dritter Faktor liegt in der eigen- Was Krieg war, stellte sich aus sol- auch eine Kehrtwende, eine Neuaus- rück, statt sie als ihre eigene Vergangen- tümlichen Orientierungslosigkeit, die cher Perspektive ganz neu dar. Nicht richtung des Denkens der Menschen. heit anzunehmen: „Und ein geheimer der Krieg bei den Beteiligten hervorrief. mehr ging es um die Verfolgung lang- Das trifft den vorliegenden Fall schon Instinkt in mir gibt ihnen recht: Zwi- Man kann das gut an den wechselnden fristiger Ziele unter Einsatz kalkulierter eher: Der Erste Weltkrieg steht in kei- schen unserem Heute, unserem Gestern Zeithorizonten verdeutlichen: Zu Be- Mittel. Dagegen erlebten Kategorien wie ner Tradition, er lässt sich nicht als und Vorgestern sind alle Brücken abge- ginn des Krieges klaffte der Zeithori- „Wille“ und „Entscheidung“, „Zufall“ Schwelle zu einer höheren Stufe der brochen. Die Welt, in der ich aufge- zont im öffentlichen Diskurs auffallend und „Schicksal“ eine ganz neue Bedeu- Entwicklung im traditionellen Sinne wachsen bin, und die von heute und die auseinander. Einerseits dachte man in tung. Sie entschieden über Sein und fortschrittsorientierter Geschichtsphilo- zwischen beiden sondern sich immer Zeitdimensionen von Jahrhunderten, Nichtsein, Zukunft und Existenz. In sophien deuten. Er war weit mehr als mehr für mein Gefühl zu völlig ver- wenn nicht gar Jahrtausenden, sprach dem Maße, in dem Erfolg im Krieg eine Epochenschwelle oder historische schiedenen Welten.“ von einer „Menschheitsdämmerung“ nicht mehr als Folge richtiger Planung Zäsur, eher eine Art von „Geschichts- Den Ersten Weltkrieg erlebte Zweig und einem „Zeitenherbst“, einem Auf- erschien, entschied Irrtum über alle bruch“. tatsächlich als Geschichtsbruch, man stieg der germanischen Rasse (vergleich- Existenz überhaupt. Man muss diese Mit der Bezeichnung als „Geschichts- kann dies an seinem Tagebuch nach- bar nur mit dem des römischen Rei- Radikalisierung der Sinnkategorien bruch“ will ich nicht die Tiefe des Ein- vollziehen. Tagebuch schreiben diente ches); auf der Linken vom Anbruch des auch heute in Rechnung stellen, wenn schnitts, die Höhe der Verluste und Zweig den ganzen Krieg hindurch als sozialistischen Zukunftsstaats, der gro- wir über den Ersten Weltkrieg sprechen: Schäden, die Nachhaltigkeit des gesell- Seismograph für die leisen, aber großen ßen sozialistischen Revolution usw. An- Den Ausbruch des Krieges als Produkt schaftlichen Umbaus betonen, die vom Veränderungen, die es hinter dem lau- dererseits sollte der Krieg, der all dies des Zufalls zu bezeichnen, wie manche Ersten Weltkrieg ausgingen. Vielmehr ten Tagesgeschehen zu entdecken galt. bringen würde, doch nur wenige Mona- dies heute noch und wieder tun, ist da- geht es um den Umbruch des Denkens Doch gerade, als der Krieg nach nicht te dauern. An Weihnachten sei man her zynisch geworden, so sehr das kom- und die damit verbundene Uneinhol- endenden Verzögerungen doch noch wieder zuhause, sagte man; oder treffe plexe Zusammenspiel der Entschei- barkeit dieses Krieges in unser heutiges endete, brach das Tagebuch am 13. No- sich dann im besetzten Paris. dungsfaktoren dazu auch einladen mag. Geschichtsbild. Man kann das Phäno- vember 1918 mit dem Eintrag ab: „Der Im Winter 1914/15 stellte sich dies Ebenso wenig wie wir heute mit dem men des Geschichtsbruchs vielleicht am Waffenstillstand abgeschlossen, Victor allerdings bald als Illusion heraus: An atomaren Gau als minimalem Restrisiko besten anhand eines einzelnen Lebens- Adler gestorben, der Kaiser Karl demis- die Stelle des schnellen, glücklichen En- leben können, ebenso wenig auch mit schicksals deutlich machen. Rückbli- sioniert – früher wäre man Kopf gestan- des trat nun zunehmend eine eigentüm- dem großen, totalen Krieg als letztem ckend auf sein Leben schrieb Stefan den. Jetzt ist man nur müde. Es war lich zeitlose Form des Abwartens. Viele Mittel der Politik. Zweig 1942 im Vorwort zu seiner auto- schon so viel vorher und es kommt Soldaten richteten sich in der Existenz biographischen Skizze „Die Welt von noch so viel nach. Man kann einfach des „Kriegers“ ein, der sein Leben am VI. Der Geschichtsbruch gestern“: „Wir haben den Katalog aller nicht mehr. Und wenigstens ich ver- Rand des Todes und der Bürgerlichkeit nur denkbaren Katastrophen durch- brauche die Hälfte meiner geistigen von Tag zu Tag fristete. Der Krieg konnte Der Erste Weltkrieg war kein Zufall, ackert von einem zum andern Ende Kraft in den grauenhaften Visionen die- für sie noch Jahre dauern, vielleicht so- er war eine Katastrophe – und zwar eine (und sind noch immer nicht beim letz- ser kommenden Umstürze, wo der Hass gar in eine ganze Epoche jahrzehntelan- unbedingt zu vermeidende Katastrophe. ten Blatt).“ Das Leben sei für ihn seit der Klassen, der Stände, riesengroß die- ger kriegerischer Auseinandersetzungen Was ist damit gemeint? Katastrophen dem letzten Krieg nichts anderes mehr se Welt erfüllen wird.“

zur debatte 5/2014 31 Für Zweig war die Geschichte im für ihn wie für Hegel vor dem Krieg Verfahren mit ihren neuen Kategorien neuen politischen Systemen, vor allem Winter des Kriegsendes stehen geblie- noch zentrale Kategorie des Geistes jetzt „Interesse“, „Gruppe“ etc. traten an ihre dem Kommunismus und dem Faschis- ben. Die Zeit verlief nicht mehr aus einer alle Evidenz als Analyseinstrument der Stelle. mus, Vorschub leistete. Viele der am vertrauten Vergangenheit in eine abseh- Geschichte verloren hatte: Ähnlich wie der Geschichtswissen- Ende des Weltkriegs utopisch besetzten bare Zukunft hinein. Ihre Kontinuität „Dies Buch wäre heute nimmermehr schaft erging es der Theologie: Im 19. Sozialmodelle und Ausdrucksinventare war aufgebrochen, von der Zukunft er- entstanden ... Ich weiß nicht, wo man Jahrhundert war sie davon überzeugt, wurden in ihnen binnen kurzer Zeit wartete er nur noch unabsehbare Katas- heute noch den Mut hernehmen soll, dass Gott die Welt unmittelbar nach sei- wiederum zerrieben: Die Revolutionen trophen. Die Welt, aus der er kam, hatte deutsche Geschichte zu schreiben. Da- nen Plänen lenke. Auch die deutsche verbrauchten sich in immer neuen Über- aufgehört zu existieren. Wie konnte es mals, als das Buch entstand, war Hoff- Niederlage im Ersten Weltkrieg hätte bietungen an Grausamkeit und Gewalt, zu einem solchen Geschichtsbruch nung, dass die innere wie äußere atem- diese Überzeugung noch nicht erschüt- sodass auch die ästhetischen Ausdrucks- kommen? versetzende Engigkeit des Bismarck- tern müssen, da Gott ja die Deutschen inventare, die sie aktiviert hatten, bald schen Staats sich ausweiten werde zu auch hätte bestrafen können wollen. ihren Glanz verloren. Mindestens eben- VII. Geistige Umbrüche einem freie Weltluft atmenden Reich. Doch das Ausmaß der Katastrophe so stark wie die Fortschritte der Technik Dies Buch sollte, so weit ein Buch das stand in keinem denkbar vernünftigen erwiesen sich die Schattenseiten des Der Erste Weltkrieg bleibt für uns un- kann, an seinem kleinen Teil darauf Verhältnis zu diesem Gott unterstellten Fortschritts: Kapitalismus, Technokra- einholbar, weil sich die Grundlagen des vorbereiten. Der harte und beschränkte Willen. Sie legte vielmehr die Abwesen- tie, Totalitarismus, schließlich die Geno- Wissens völlig verschoben haben, die zu Hegelsche Staatsgedanke, der mehr und heit Gottes in diesem Krieg nahe. So zide des 20. Jahrhunderts. seiner Beurteilung dienen und gedient mehr zum herrschenden des verflosse- konnte der Geschichtsverlauf nicht Es besteht daher kein Anlass, den Ers- haben. Wissensbestände leben von Evi- nen Jahrhunderts geworden war und mehr als Demonstration göttlichen Han- ten Weltkrieg als Durchbruch der Mo- denzen, die sie für die Menschen haben. aus dem am 18. Januar 71‚ wie der Blitz delns in Anspruch genommen werden: derne zu feiern. Vielmehr steht er für Wenn diese Evidenz verloren geht, bricht aus dem Gewölk’ die weltgeschichtliche eine ganze theologische Tradition brach das Erschrecken des Menschen vor sich auch das Wissenssystem zusammen. Tat (!) sprang – er sollte hier in seinem zusammen. An die Stelle der liberalen selbst, seinen Möglichkeiten, seinen zer- Der Erste Weltkrieg zerbrach tradierte Werden durch das Leben seines Den- Theologie, die die Geschichte als Heils- störerischen Fähigkeiten. Es gab moder- Wissenssysteme auf fast allen Feldern. kers hindurch gleichsam unter dem geschichte im Sinne des sukzessiven nere Kriege, aber keinen, der dieses Er- Denken wir nur an den Zentralbegriff Auge des Lesers sich selber zersetzen, Aufbaus des Reiches Gottes verstanden schrecken klarer zum Ausdruck gebracht der Geschichtsphilosophie vor dem Ers- um so den Ausblick zu eröffnen auf eine hatte, traten existenzialistische Theolo- hat. Gerade seine Janusgesichtigkeit und ten Weltkrieg: Geist. Nach dem Krieg nach innen wie außen geräumigere deut- gien, die Gottes Handeln in der Welt seine noch teilweise Verwurzelung in der wollten viele von ihm nichts mehr wis- sche Zukunft. Es ist anders gekommen. eher im Augenblick, gewissermaßen quer Kriegführung des 19. Jahrhunderts zei- sen. Ein unverdächtiges Zeugnis hierfür Ein Trümmerfeld bezeichnet den Ort, zum Verlauf der Geschichte suchten. gen, wie groß der Umbruch war. Er zer- ist Franz Rosenzweig, der bei Friedrich wo vormals das Reich stand.“ störte nicht nur politische Systeme und Meinecke 1912 seine Dissertation „He- Der Geist war im 19. Jahrhundert die VIII. Ausblick auf das 20. Jahrhundert Gesellschaftsformen, sondern auch gan- gel und der Staat“ abschloss, sie wegen zentrale Interpretationskategorie der ze Wissenssysteme, ja im Kern sogar die des Krieges aber erst 1919 publizieren Geschichtswissenschaft geworden. An Werfen wir abschließend noch einen Einheit aller Weltentwürfe überhaupt. konnte. Mittlerweile hatte die Arbeit al- den falschen Prognosen, zu denen sie Blick auf die Folgen des Ersten Welt- Hinter die Erfahrungen des Ersten Welt- lerdings für ihn, wie er im Vorwort fest- verleitete, hatte sich jedoch gezeigt, dass kriegs für das 20. Jahrhundert: Unbe- kriegs können wir daher heute nicht hielt, fast allen Wert verloren, weil die sie nichts taugt. Sozialwissenschaftliche stritten ist die Tatsache, dass der Krieg mehr zurück. „

Energiewende – Vision und Realität

Prof. Dr. Wolfgang Mayer, Lehrstuhl für Diskutierten auf dem Podium unter der Stefan Schelle, Erster Bürgermeister der für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr Rohstoff- und Energietechnologie der Leitung von Bettina Gabbe, Redak- Gemeinde Oberhaching, Prof. Dr. Josef und Technologie, Professor Wolfgang TU München, bei seinem kurzen Refe- teurin der Nachrichtenagentur epd: Neiß, Leiter der Abteilung VI (Energie, Mayer und Dr. Kurt Mühlhäuser, ehem. rat zu Beginn der Veranstaltung. Matthias Altmann, Aufsichtsratsvor- Bergbau, Rohstoffe, Umweltfragen) Vorsitzender der Geschäftsführung der sitzender bei „Green City Energy AG“, im Bayerischen Staatsministerium Stadtwerke München (v.l.n.r.).

Spätestens mit der Havarie des EU-Kommission gegen zentrale Punkte ministerium für Umwelt und Verbrau- Energiewende. Wolfgang Mayer, Profes- Atomkraftwerks in Fukushima ist die des Konzepts, vor allem im Bereich der cherschutz geförderten Projekt „Klima- sor an der TU München, zeigte sich in Energiewende zum politischen Top- Förderung der Erneuerbaren Energien, schutz braucht Bildung“, mit dem ver- seinem Einführungsreferat skeptisch, Thema aufgestiegen. Im Jahr 2022 sol- drohen das Projekt zusätzlich zu behin- sucht werden soll, Wissen z. B. über dass der Zeitplan der Energiewende len – so der eigentlich noch gültige Be- dern. Fragen der Nachhaltigkeit und der einzuhalten sei. Im Anschluss an den schluss – sämtliche Atomkraftwerke in Die Katholische Akademie Bayern Energiepolitik in der Bevölkerung zu Vortrag diskutierten Vertreter aus Poli- Deutschland abgeschaltet und 2050 und die Katholische Erwachsenenbil- verankern. tik, Wirtschaft und Umweltverbänden 80 Prozent des Stroms aus erneuerba- dung Bayern (KEB) haben das brisante Im Rahmen dieses Projektes warf die Mayers Thesen und gaben eine Ein- ren Energien gewonnen werden. Doch Thema „Energiewende“ bereits sehr Veranstaltung „Energiewende – Vision schätzung, wo sie die wichtigsten Her- die zunehmend leidenschaftlichen Aus- früh aufgegriffen. Seit 2012 kooperieren und Realität“ am 6. Juli 2013 – getragen ausforderungen sehen. einandersetzungen über das „Wie“ ma- die Umweltbeauftragten der bayeri- von der Akademie, der KEB und den chen die Schwierigkeit der Situation schen (Erz-)Diözesen und die KEB kirchlichen Umweltbeauftragten – den deutlich. Gewichtige Einwände der Bayern in dem vom Bayerischen Staats- Blick auf die Wirklichkeit der deutschen

32 zur debatte 5/2014 manchmal allein deshalb schwer, weil verankert werden sollte. der Blick verstellt oder getrübt ist, ins- Doch während meines Studiums habe besondere dort, wo die – meist über be- ich lediglich ganz am Rande von der fristete Projektmittel finanzierten – For- 2001 gegründeten Datenbank Lostart NS-Raubkunst. scher durch unklare Langzeitperspekti- der Koordinierungsstelle Magdeburg ven verunsichert, von der unglaublichen Wind bekommen und nur am Rande Masse an zu bearbeitenden Desideraten von der Gründung der so genannten überfordert oder von den unterschied- Limbach-Kommission 2003 gehört. Spätschuld, Folgen lich motivierten – vor allem merkanti- Auch Seminare zum Themenbereich len – Interessen am Thema Provenienz- Kunst- und Kulturgutraub gab es selbst- forschung regelrecht erschlagen sind. verständlich nicht. Als ich nach dem und Konsequenzen Ein differenzierter Blick fällt besonders Studium vom hiesigen Auktionshaus dann schwer, wenn er unsere eigene Neumeister beauftragt wurde, zu den Verantwortung aufzeigt, für die Vergan- Aktivitäten der Vorgängerinstitution, genheit, mit deren Erbe wir verantwor- dem Münchener Kunstversteigerungs- tungsvoll und sensibel umgehen müs- haus Adolf Weinmüller, während des sen, für die Gegenwart, die uns unsere Nationalsozialismus zu recherchieren, Versäumnisse aufzeigt, und für die Zu- also als ich das erste Mal aktiv mit Pro- kunft, in der wir uns diesen Versäum- venienzforschung in Berührung kam, Im zweiten und abschließenden Teil der Provenienzforschung Aufgaben, nissen und Missständen stellen müssen. sah ich mich dennoch einer kaum mehr der Dokumentation unserer Tagung Methoden und Erfolge ihres Fachge- Doch dieser Verantwortung sind sich zu überblickenden Forschungslandschaft „NS-Raubkunst. Spätschuld, Folgen bietes dar, formulieren aber auch klar, die in der Provenienzforschung Tätigen zu den Themenkomplexen Vermögens- und Konsequenzen“ vom 22. Februar welche Desiderate es gibt. In Ausgabe in der Regel durchaus bewusst und das entzug, „Arisierung“, Kunst- und Kul- 2014 veröffentlichen wir im Anschluss 4/2014 unserer Zeitschrift „zur debat- nicht erst seit November letzten Jahres: turgutraub, Kunsthandel im Nationalso- nun die beiden Referate der Mitar- te“ finden Sie die beiden ersten Bei- 1998 beteiligten sich 44 Nationen an zialismus sowie zu den juristischen Im- beiter des Zentralinstituts für Kunst- träge, in denen rechtliche, politische der Washingtoner Konferenz über Ver- plikationen von Raub, Restitution und geschichte. Darin legen diese beiden und moralische Aspekte des Themas mögenswerte aus der Zeit des Holo- Wiedergutmachung gegenüber. Neben ausgewiesenen Experten auf dem Feld „Raubkunst“ behandelt wurden. caust mit dem gemeinsamen Verspre- Monographien, Sammelbänden und Ta- chen, künftig für „gerechte und faire gungsreihen, die sich mit gattungsspezi- Lösungen“ zu sorgen. Ein Jahr später fischen Problematiken der Provenienz- wurde von der Bundesregierung die Er- forschung befassen, betrifft dies vor al- klärung der Bundesregierung, der Län- lem Forschungsarbeiten, die sich mit re- der und der kommunalen Spitzenver- gionalen, nationalen und internationa- bände zur Auffindung und zur Rückga- len Besonderheiten von Kunstraub, von be NS-verfolgungsbedingt entzogenen „Verwertung“ und Restitution beschäfti- Kulturgutes, insbesondere aus jüdi- gen. Die Zahl der neu hinzukommen- schem Besitz verabschiedet. den Forschungsliteratur, -berichte oder Aus aktuellem Anlass: Problemfelder der Bitte erlauben Sie an dieser Stelle ei- Datenbanken wächst kontinuierlich an. nen persönlichen Exkurs: In etwa zu Lediglich ein Bruchteil der heute ver- diesem Zeitpunkt habe ich mich näm- fügbaren Literatur (vgl. www.lostart.de/ Provenienzforschung lich hier in München auf mein Abitur Webs/DE/Infocenter/Bibliographie. im Leistungskurs Wirtschafts- und html) erschien vor 1998 – also vor dem Meike Hopp Rechtslehre vorbereitet. Eine dieser Abi- „Washingtoner Abkommen“ –, der turaufgaben im Leistungskursfachbe- Großteil ist indes erst ab 1999/2000, reich Rechtslehre erzählte die Geschich- also in den letzten 15 Jahren publiziert te von Herrn Gruber (G), welcher einen worden. Kaum ein anderes Fachgebiet Bauernhof erwarb, zu dem auch eine der Kunst- und Kulturwissenschaften ist angrenzende Wiese gehörte. Ein Tram- so schnell und gleichsam effektiv ange- pelpfad quer über diese Wiese wurde je- wachsen, kaum ein Forschungsbereich Die Medienberichterstattung der letz- doch von den Dorfbewohnern seit jeher wird ähnlich flächendeckend betrieben ten Monate zum „Schwabinger Kunst- als Abkürzung auf ihrem Weg zur Kir- und ist teilweise bereits von den eige- fund“ bzw. zum „Casus Gurlitt“ hat che genutzt, was Gruber natürlich miss- nen Erkenntnissen ein-, ja sogar über- erstmals einer breiten Öffentlichkeit be- fiel. Er umgab die Wiese deshalb mit holt worden. wusst gemacht, dass es im Bereich der Stacheldrahtzaun und brachte ein Schild Hinzu kommt, dass wohl in kaum ei- Forschung nach NS-Raubgut an deut- mit der Aufschrift‚ Durchgang verbo- nem anderen kulturhistorischen For- schen Museen in den letzten Jahrzehn- ten!‘ an, was wiederum die Dorfbewoh- schungszweig bereits kleinste Details ten große Versäumnisse gegeben hat. ner, die natürlich ihren gewohnten nicht nur Sichtweisen grundlegend ver- Allein die hohe Anzahl an Kunstwerken Trampelpfad nicht aufgeben wollten, er- ändern und Objekt- oder Sammlungsge- ungeklärter, teilweise verdächtiger Her- zürnte. Schließlich durchtrennte ein Ju- schichten umschreiben, sondern massi- kunft, die im März 2012 in der Woh- gendlicher aus dem Dorf den Stachel- ve Auswirkungen auf Besitz- und Eigen- nung von Cornelius Gurlitt, dem Sohn draht mit einer Zange, riss die hölzer- tumsverhältnisse haben können. Des- des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt nen Zaunpfähle aus der Erde und ließ halb unterliegt die Provenienzforschung (1895–1956), beschlagnahmt worden sie liegen. Als ein Bauarbeiter über den der Verantwortung, sich ausschließlich war, macht nicht nur Kontinuitäten des Kirchweg nach Hause ging, fand er die auf Fakten zu stützen. Doch je nach Auf- NS-Kulturgutraubes sichtbar, sondern ausgerissenen Zaunpfähle auf der Wiese wand der Recherchen kann es manch- auch inhaltliche wie strukturelle Defizi- vor und nahm sie kurzerhand mit. Noch mal dauern, bis diese Fakten vorliegen: te der Provenienzforschung in Deutsch- am selben Abend übergab er sie seiner „Provenienzforschung sei eben oft zu land greifbar. Moralisch-ethische und Mutter (M), die die Pfähle als Brenn- langwierig oder mühsam“, heißt es dann rechtliche Fragestellungen stehen im holz im Schuppen einlagerte; sie war fast schon larmoyant (SZ, 13.03.2013), Widerspruch. Den komplexen Terminus nicht weiter argwöhnisch, denn der Bau- von Hinhaltetaktiken im Umgang mit des „gutgläubigen Erwerbs“ gilt es zu arbeiter hatte wiederholt Abfallholz von den „letzten Kriegsgefangenen“ ist gar hinterfragen ebenso wie das Problem der Arbeit mit nach Hause gebracht. unter den schärfsten Kritikern die Rede der „Verjährung“ von Eigentumsansprü- Die Abituraufgabe lautete wie folgt: (vgl. die Rede von Ronald S. Lauder zur chen und den daraus resultierenden ju- Dr. Meike Hopp, Zentralinstitut für „Prüfen Sie, ob G gegen M Anspruch Raubkunst, in: FAZ, 30.01.2014). ristischen Konsequenzen. Über allem Kunstgeschichte München auf Herausgabe der Holzpfähle hat!“ Doch ist dieser Vorwurf gerechtfertigt schwebt die noch ungeklärte Frage nach Und: „Erläutern Sie, inwieweit die von angesichts der enormen Entwicklung in der Rechtmäßigkeit einer derart umfas- Ihnen erarbeitete Lösung den Funktio- den letzten 15 Jahren? Wird dieser Vor- senden Beschlagnahme von Privatver- nen ‚Rechtssicherheit‘ und ‚Gerechtig- wurf Forschern gerecht, die in deutschen mögen. der (kunst-)wissenschaftlichen For- keit‘ entspricht“! Museen, Bibliotheken und Archiven Es wäre wohl ein Ding der Unmög- schung naturgemäß viele und es wäre Dass derlei Fälle von „gutgläubigem“ mittels akribischer, kleinteiliger Recher- lichkeit, im Rahmen eines einzigen Vor- sicher ein leichtes Unterfangen von ei- oder „ungut gläubigem“ Erwerb, von er- che Bestände überprüfen, Listen über trages auf die Gesamtheit dieser seit No- nem Podium aus über selbige zu lamen- sessenen oder verjährten Eigentumsan- Listen erstellen und Akten über Akten vember letzten Jahres aufgeworfenen tieren oder gar zu polemisieren – die sprüchen, von Recht und Gerechtigkeit wälzen, auf der Suche nach noch so un- Fragen explizit einzugehen und so bitte Debatte, die wir seit November letzten mich noch einmal in dieser Intensität scheinbaren Hinweisen? ich um Verständnis, dass ich mich ledig- Jahres in den Medien verfolgen, hat uns beschäftigen würden, hätte ich damals lich auf den Kernbereich, nämlich auf dies deutlich vor Augen geführt. Ein dif- nicht gedacht, zumal ich doch einen I. Aller Anfang ist schwer die Forschung an sich konzentrieren ferenzierter Blick aber, der fällt ungleich vermeintlich ganz anderen Weg einge- kann. Was ich im Rahmen dieses Vor- schwerer – sei dies nun der differenzier- schlagen und mich nach dem Abitur Provenienzforschung setzt nicht etwa trags leisten kann, ist, einen kleinen Spa- te Einblick in das komplexe Themen- eben nicht im Fach Jura, sondern im ab dem Zeitpunkt ein, an dem das erste ziergang durch die Werkstatt der Prove- feld Provenienzforschung, mit Errun- Fach Kunstgeschichte eingeschrieben Mal eine konkrete Spur verfolgt wird. nienzforschung zu unternehmen und ei- genschaften ebenso wie mit Tücken und habe. Doch die Realität hat auch die Auch nicht dann, wenn das erste Objekt nen kurzen Einblick in die wissenschaft- Defiziten, oder aber der differenzierte Kunstgeschichte eingeholt, ja inzwi- in eine Liste aufgenommen oder die ers- liche Praxis zu gewähren. Problemfelder Ausblick auf konkrete, noch zu planen- schen sogar eine Debatte angefacht, ob te Bildrückseite untersucht wird. Prove- in Form von Desideraten und Defiziten de Schritte und die Weichenstellung für die Provenienzforschung nicht künftig nienzforschung setzt bereits dann ein, gibt es, wie auch in anderen Bereichen die Zukunft. Differenzierung fällt auch in der akademischen Lehre fest wenn Sensibilität für diese Problematik

zur debatte 5/2014 33 stadt deportiert, wo sie am 24. Juni Teil der Sammlung hatte er in Warenla- 1942 ermordet wurde. gern deponiert oder – vermeintlich si- Das Seminar an der LMU wird im cher – in Banktresoren eingelagert. Sommersemester 2014 mit einer Übung Doch nach und nach fanden und be- fortgesetzt, die in eine Ausstellung der schlagnahmten die Mitarbeiter des Projektergebnisse im Foyer der UB „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ München (von Juli–Oktober 2014) mün- (benannt nach Alfred Rosenberg dem den wird. Gründer des „Kampfbunds für Deutsche Provenienzforschung ist also – meist Kultur“; im Folgenden kurz: ERR) die – kein Hexenwerk, vielmehr lassen sich Kunstwerke in ihren Verstecken. Im oft schon mit einfachen Mitteln Wege März 1941 spürte schließlich ein Devi- von Objekten nachvollziehen oder Ein- senschutzkommando einen Tresor in ei- zelschicksale verfolgen. Die scheinbar ner Bank in Libourne bei Bordeaux auf, simple Recherche, die jeder mit ein paar in dem Paul Rosenberg weitere 162 Wer- Klicks im Internet nachvollziehen kann ke hinterlegt hatte. – so suggeriert dies auch die Berichter- Die dort beschlagnahmten Objekte stattung im Fall Gurlitt–, ist das Resultat wurden, wie alle anderen in Frankreich einer Menge Arbeit, die in den letzten durch den ERR beschlagnahmten Ob- Jahren international auf diesem Gebiet jekte, zunächst nach Paris gebracht und geleistet, jedoch selten gewürdigt wurde. dort im Musée de Jeu de Paume inven- tarisiert, bevor über deren weitere „Ver- III. Ein Beispiel aus der Sammlung wertung“ entschieden wurde, z. B. die Gurlitt Übernahme durch das geplante „Füh- rermuseum“ in Linz oder aber den Das Anfang der 1920er Jahre ent- Tausch bzw. Verkauf. Dass wir so genau standene Gemälde „La femme assise“ über die Vorgänge im Jeu de Paume in- oder auch „Die sitzende Frau“ von formiert sind, verdanken wir unter an- Henri Matisse, das wahrscheinlich aus derem Rose Valland (1898-1980), der der Sammlung Paul Rosenbergs be- „Capitaine des Beaux Arts“, die jüngst schlagnahmt wurde, dürfte aus den Me- als Vorlage für die durch Cate Blanchett dien inzwischen hinlänglich bekannt dargestellte Figur der „Claire Simone“ sein (Abb. 2). Paul Rosenberg (1881– in George Clooneys Film Monuments 1959), Pariser Kunsthändler jüdischer Men diente. Ihre detaillierten Aufzeich- Abstammung, floh nach dem Einmarsch nungen und mit persönlichen Anmer- der deutschen Truppen im Juni 1940 kungen versehenen Ein- und Ausgangs- von Frankreich über Spanien nach New bücher, die sie unter der deutschen Be- York. Seine Kunstsammlung musste er in satzung heimlich angefertigt hatte, und Frankreich zurücklassen. Den größten die Auskunft über die Provenienzen der

Aufnahme: J. Falk Abb. 1: Emil Orlik, EXLIBRIS Emma Bonn, o. J.; Fachbibliothek Kunstwis- senschaften der LMU München

geschaffen, wenn Bewusstsein geweckt Rekonstruktion auch in der Praxis greif- und ein Umdenken forciert wird. Doch bar zu machen, bekam jeder eine Haus- auch wenn noch immer einige öffentli- aufgabe, die darin bestand, einen Teil che wie private Institutionen sich von der vor 1945 erschienenen Bücher in der Eigenverantwortung freisprechen der Fachbibliothek des Instituts für bzw. allenfalls defensiv auf Restitutions- Kunstgeschichte der LMU auf Vorbesit- ansprüche reagieren, jedoch keineswegs zervermerke, etwa Stempel, hand- pro-aktiv handeln, sollte man nicht über- schriftliche Vermerke oder Exlibris hin sehen, welche Vielzahl an Forschungs- zu untersuchen. Alle fraglichen Bücher oder Projektarbeiten in den letzten Jah- wurden in einer gemeinsam erarbeiteten ren realisiert wurden, wie viele Initiati- Liste erfasst und Besitzvermerke, sofern ven, die weit über „Anfänge“ hinausge- vorhanden, abfotografiert. In nur einem hen, durch eigenes Engagement – auch Semester konnten so über 1.400 Bücher aus dem privaten Bereich – unterstützt der Fachbibliothek Kunstgeschichte auf und getragen werden. Es gibt Institutio- so genannte „Provenienz-“ oder „Vorbe- nen, die sich vehement für effektivere sitzermerkmale“ hin überprüft werden. Infrastrukturen, für Vernetzung und In- Die Ergebnisse werfen nicht nur die formationsaustausch einsetzen und die Frage auf, wie manche Bücher an das – so auch das Zentralinstitut für Kunst- Institut für Kunstgeschichte der LMU geschichte – Grundlagen erforschen kamen, sondern zeigen, wieviel bereits und Datenmaterial für eine effektivere in kürzester Zeit mit wenigsten Mitteln, Forschung aufbereiten wollen. ausschließlich mit dem Engagement der Studierenden zu bewerkstelligen ist. II. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Das auf diese Weise entdeckte Exlibris der jüdischen Schriftstellerin Emma Im Wintersemester 2013/14 wurde Bonn (Abb. 1), war vergleichsweise ein- ein Seminar zur Provenienzforschung fach zu kontextualisieren (vgl. http:// am Institut für Kunstgeschichte der Lud- www.stolpersteine-kronberg.de/). Die wig-Maximilians-Universität angeboten. Schriftstellerin Emma Bonn (1879– Um den Studierenden die teilweise kom- 1942) arbeitete im Umkreis Thomas plexen Zusammenhänge und Mecha- Manns und lebte in Feldafing am Starn- Photothek des ZI München nismen von Verfolgung, Vermögensent- berger See. 1941 wurde die schwer Abb. 2: Henri Matisse, Frau mit Kopf- zug, Raub und Restitution und deren kranke Emma Bonn nach Theresien- tuch in geblümter Bluse, o.J.

34 zur debatte 5/2014 eingelieferten, aber auch über den Be- tur erhielten wir den wichtigen Hinweis stimmungsort der abtransportierten Ob- auf die Provenienz des Gemäldes aus jekte geben, ermöglichten nach 1945 der Sammlung Paul Rosenberg. Doch präzise Auskünfte über den Verbleib auch dies wäre niemals so bequem zu etlicher vom ERR beschlagnahmter recherchieren gewesen, hätten nicht en- Werke. gagierte Forscher, Bibliothekare, Archi- Die Datenbank des so genannten vare und EDV-Mitarbeiter in den letz- ERR-Project (www.errproject.org/jeude- ten Jahren – als auch die Medien sich in paume/) verzeichnet auch die „Femme Hinblick auf Provenienzforschung noch assise“ von Matisse, als „Frau mit Kopf- im Dornröschenschlaf befanden – all tuch und Fächer“ unter der Inventar- diese Datenbanken erstellt. Dann wäre Nr. 353 mit den Maßen 56 x 46 cm und das, was sich am Beispiel des Matisse einem Tausch-Datum, dem 24. Juli 1942. demonstrieren ließ, in eine monatelange Zum Verbleib wurde auf der Karteikarte mühselige und kleinteile Archivrecher- nur „H.G.“ angegeben. Dahinter ver- che ausgeartet. Wenn also kritisiert wird, birgt sich keineswegs Hildebrand Gur- dass auf dem Gebiet der Provenienzfor- litt, sondern vielmehr Hermann Göring schung viel versäumt und zu wenig ge- (1893–1946). Die berechtigte Frage, wa- tan wurde, dann wird schlichtweg ne- rum dieser ein Interesse an einem Ma- giert, was in den letzten Jahren auf dem tisse hatte, lässt sich unter anderem an- Gebiet geleistet wurde! hand des Eintrags zum Gemälde in Die Recherchen wären unmöglich der Datenbank zur Göring-Sammlung ohne die Kollegen vom ERR-Project, (www.dhm.de/datenbank/goering/) des die mit dem NARA in Washington und Deutschen Historischen Museums Ber- dem Bundesarchiv Koblenz kooperier- lin (kurz: DHM) beantworten: Tauschen! ten; ohne die Kollegen von den Musées Göring hatte in Paris mehrfach Objekte, Nationaux Récupération, die u.a. die die er erwerben wollte, gegen moderne „Répertoires des Biens Spoliés en Werke aus den Beständen des Jeu de France durant la guerre“ 1939-1945 Paume eingetauscht, die dann stellver- (zwischen 1947 und 1949 vom französi- tretend verkauft wurden. Diese Form schen Bureau central des restitutions der „Tauschgeschäfte“ – genau genom- angefertigt) digitalisiert und online ge- men nichts anderes als weitere illegiti- stellt haben. Für die Forschung ebenso me Bereicherungen aus den beschlag- essentiell sind die transkribierten Kar- nahmten Kunstgegenständen des ERR teikarten der sog. Central Art Collecting im Jeu de Paume – wurden meist über Points (kurz: CCPs) der Alliierten aus den Schweizer Kunsthandel abgewi- der Datenbank des DHM Berlin (www. ckelt. Das Gemälde von Matisse sollte dhm.de/datenbank/ccp/) oder aber die wertvollen Hinweise, die wir aus der Recherche in den Such- und Fundmel- dungen der Datenbank Lostart der Ko- Eine gründliche Recherche ordinierungsstelle in Magdeburg (www. braucht Zeit – dennoch lostart.de) gewinnen können. Wie selbst- verständlich finden sich die annähernd wäre es falsch, Provenienz- vollständigen Digitalisate der Kataloge Abb. 3: Rudolf von Alt, Brunnen auf „Herrn Reichsleiter Martin Bormann forschung als „langwierig“ aller Auktionen im deutschsprachigen dem Residenzplatz in Salzburg, 1894, zum Julfest 1939 in Dankbarkeit Heinr. Raum von 1930 bis 1945 auf den Seiten Staatliche Graphische Sammlung Michaelis“) oder „mühsam“ zu verurtei- des German Sales Projekt der UB Hei- München, Inv. Nr. 45621 Z (Widmung: len. delberg (http://artsales.uni-hd.de) und auszugsweise Objektdaten hieraus wiede- rum im Provenance Index des Projekt- wohl auf diesem Weg von Göring gegen partners, dem Getty Research Center ein Werk der Schule von Fontainebleau Los Angeles (www.getty.edu/research/ eingetauscht werden (Nancy H. Yeide: tools/provenance/german_sales.html). würden. Reicht die bloße Erwähnung juristischen Prüfung standhalten zu Beyond the Dreams of Avarice. The Etliche weitere, gleichsam wegwei- einer „Frau mit Turban“ bereits aus, um können. Indes setzt jede Recherche sen- Hermann Goering Collection, 2009, S. sende (Online-)Projekte könnte man an das Gemälde gemäß Rochlitz Angaben sibles Gespür voraus. Auch im Falle des 461). Der Händler, der von Göring mit dieser Stelle aufzählen, von Kunsthan- eindeutig als „verlustig“ zu identifizie- Matisse muss nun aktiv weiter recher- dem Verkauf des Matisse beauftragt delsdatenbanken bis hin zu digitalen ren? Hat nicht Matisse Anfang der chiert werden, in den Archiven vor Ort. wurde, war ein gewisser Gustav Rochlitz Verzeichnissen von Wiedergutma- 1920er Jahre etliche „Femmes“ oder Doch wo genau lassen sich Antworten (1189–1972), wie auch aus dem so ge- chungsakten, aber das würde den Rah- „Odalisquen“ mit Turbanen gemalt? auf die aufgeworfenen Fragen finden? nannten „Detailed Interrogation Report“ men sprengen und ich bitte alle, die Und vorausgesetzt Rochlitz Angaben In München? In Koblenz? In Paris? In (kurz: DIR) vom 15. August 1945 her- nicht explizit genannt worden sind, dies sind wahr und der Matisse ging tatsäch- Libourne? In Zürich? In Washington vorgeht. In seiner Befragung durch die zu entschuldigen. Keineswegs außer lich verloren – wann und wo tauchte er D. C.? Eine gründliche Recherche Alliierten gab Rochlitz an, einige der Acht lassen sollte man die bereits ange- dann wieder auf? braucht Zeit – dennoch wäre es falsch, Gemälde, die er vom ERR übernommen sprochene Vielfalt an herausragenden Weitere Details machen stutzig: so Provenienzforschung als „langwierig“ habe, seien auf einem Transport nach Forschungsarbeiten, auf die wir unser die Schwarz-Weiß-Aufnahme des Ge- oder „mühsam“ zu verurteilen. Sie ist Baden-Baden verloren gegangen, dar- Wissen stützen, etwa die Studie von Ka- mäldes in der Photothek des ZI Mün- ebenso kleinteilig wie unbedingt not- unter auch sieben Werke von Matisse. trin Iselt zu Hitlers „Sonderbeauftrag- chen, die offenbar aus dem Central wendig und unterscheidet sich darin Auch hierzu kann man im Internet ten“ für das geplante Museum in Linz, Collecting Point stammt. Doch weder kaum von der Beweisführung in jedem fündig werden – die National Archives Hermann Voss (1884–1969). auf der publizierten Liste der Werke, die anderen juristischen Verfahren bzw. Washington (kurz: NARA) bieten die Doch zurück zur „Sitzenden“ von vom CCP Wiesbaden an Gurlitt retour- strafrechtlichen Prozess. Reports der Alliierten für einen gerin- Matisse, deren Weg vom ERR über das niert wurden, taucht der Matisse auf, Auch wenn Versäumnisse der letzten gen Preis zum Download an oder man Tauschgeschäft Görings mit Rochlitz bis noch findet sich eine so genannte Pro- Jahrzehnte heute klar umrissen werden ruft diese über die Datenbank Fold3 – hin zu dem Verlust auf dem Transport perty Card zum Gemälde von Matisse können und auch wenn berechtigte Ein- Holocaust Collection (www.fold3.com) nach Baden-Baden inzwischen nach- in der CCP-Datenbank (www.dhm.de/ wände erhoben werden können, dass ab, auf welche das ZI München inzwi- vollziehbar ist. Aber wie kam der – zu datenbank/ccp/). Und warum wurde die im Rahmen des Vortrags aufgezeig- schen einen kostenfreien Zugriff anbie- einem unbestimmten Zeitpunkt vom das Bild im Jeu de Paume Paris mit „un- ten Projekte, Datenbanken oder For- tet. Ohne viel Zeit oder Geld investiert Keilrahmen abgelöste – Matisse eigent- bekanntem Besitz“ inventarisiert, wenn schungsarbeiten vielfach auf unabhängi- zu haben, ja sogar ohne ein Archiv, eine lich in die Sammlung Gurlitt? Es wird doch von Rose Valland genau verzeich- ge Hochschulschriften, Initiativen von Bibliothek oder eine andere Forschungs- schnell klar: die Ad hoc-Recherche über net wurde, aus welchen Sammlungen Archivaren und Bibliothekaren oder einrichtung konsultiert zu haben, konn- das Internet hilft plötzlich nicht mehr die vom ERR beschlagnahmten Werke aber auf internationale Kooperationen te also inzwischen eine Menge an Infor- weiter. Die Online-Recherchen werfen stammten, zumal auch in den Tauschlis- zurückgehen, während die deutschen mationen zusammengetragen werden. ihrerseits Fragen auf, die sich nicht ohne ten Görings auf die Provenienz „Col. Museen nach außen hin nur zögerlich Folgende Fakten sind demnach festzu- weiteres beantworten lassen: die Liste [lection] Rosenberg“ verwiesen wird? agieren, so sind doch die Fortschritte halten: Das Gemälde von Matisse wur- der von Rochlitz als „verloren gegan- Die anfängliche Euphorie über die der Provenienzforschung der letzten de vom Einsatzstab Reichsleiter Rosen- gen“ deklarierten Werke weist z.B. nur schnell recherchierten Online-Ergebnis- Jahre erheblich. Wurden die benannten berg beschlagnahmt, befand sich im Juli eine „Frau mit Turban“ aus – eine etwas se, weicht dem bohrenden Gefühl, Projekte zwar nicht von Museen konzi- 1942 im Musée de Jeu de Paume in Pa- unbefriedigende Beschreibung der sit- eventuell doch noch nicht alle Möglich- piert, so sind sie immerhin für Museen ris und wurde von dort an Göring über- zenden Dame von Matisse, die eindeu- keiten bedacht zu haben. Kann man und bieten das, was die objektbezogene geben, der es im Rahmen eines Tausch- tig ein Kopftuch trägt und auf einer denn nun noch mit Sicherheit davon Provenienzforschung an Museen natur- geschäftes veräußern ließ. Wir wissen Tauschliste des ERR ganz eindeutig als ausgehen, dass die oben gelisteten Fak- gemäß nicht leisten kann, hauseigene des Weiteren, dass mit der Veräußerung „Femme avec châle et corsage a fleurs, ten stimmen? Archive und Registraturen unvollständig wohl Gustav Rochlitz beauftragt wurde tenant un[e] éventail“ bezeichnet wur- Die Aufgabe der Provenienzforschung oder kaum erschlossen sind – nämlich und dass dessen Verkäufe wie Verluste de. Auch finden sich keine weiteren An- ist, ergebnisoffen zu recherchieren und die Aufbereitung und Erforschung von im „Detailed Interrogation Report“ gaben, z. B. Maße, in Rochlitz Liste, die ausschließlich belastbare Fakten zu- Quellen und die sukzessive Aufklärung dokumentiert sind. Und aus der Litera- eine Identifikation des Werks erleichtern sammenzutragen, um schließlich einer von Kontexten und Sachverhalten.

zur debatte 5/2014 35 IV. Provenienzforschung an Museen – Einrichtungen und Institutionen und eine Frage der Transparenz? zwar in personeller Hinsicht genauso Vermögensentzug / Kunstraub / wie auf der Objektebene. Die bedeutet aber keineswegs, dass „Diskretion ist nicht immer gleich Raubkunst: Akteure, Objekte Museen nicht auch im Bereich der Pro- Intransparenz“ betonte kürzlich auch venienzforschung Grundlagen erarbei- Isabel Pfeiffer-Poensgen, Generalsekre- und Forschungsgeschichte ten können: Über 600 Aquarelle und tärin der Kulturstiftung der Länder, da Zeichnungen des Wiener Aquarellisten selbst von Seiten der Anspruchsteller Christian Fuhrmeister Rudolf von Alt (1812–1905) befinden häufig um Diskretion ersucht wird. Dem sich heute an der Staatlichen Graphi- ist unbedingt zuzustimmen, zumal man schen Sammlung München. Sie stam- sich auch im Fall Gurlitt hin und wieder men fast geschlossen aus der Sammlung rücksichtvolle Diskretion gewünscht des ehemaligen „Reichsleiters“ und hätte. Diskretion muss jedoch dort auf- „Stellvertreters des Führers“ Martin hören, wo Intransparenz anfängt, wo Bormann (1900–1945). Die Blätter wa- insbesondere auch Staatliche Einrich- I. Wer spricht? ren größtenteils im Rahmen der so ge- tungen gefordert sind, ihre eigenen Be- nannten „Alt-Aktion“ direkt nach dem stände zu überprüfen. Die Übereignun- Die Frage ist deshalb so wichtig, weil „Anschluss“ Österreichs 1938 im Auf- gen und Inventarisierungen (und schließ- der Standpunkt des Sprechers, also die trag Bormanns über Mittelsmänner in lich sogar Verkäufe) „von ehemaligen institutionelle Zugehörigkeit oder An- Wien zusammengetragen und dabei Parteivermögen“ durch den Freistaat bindung sowie der konkrete Arbeitsauf- auch aus bereits beschlagnahmten Wie- Bayern in den 1950er und 1960er Jah- trag von großer, ja von elementarer Be- ner jüdischen Sammlungen herausge- ren machen sonst auch aus diesem deutung für das sind, was gesagt wird – kauft worden. Nachdem Bormann 1945 nur einen weiteren Profiteur des NS- und gleichfalls dafür, was nicht gesagt für tot erklärt wurde, verfiel sein Ver- Kunstraubes. wird. Ich wage die These, dass es im Be- mögen an den Freistaat Bayern, darun- reich der Geisteswissenschaften wenige ter auch das wertvolle Konvolut an Pa- V. Fazit Bereiche gibt, in denen der konkrete pierarbeiten des Malers Rudolf von Alt Arbeitskontext so essentiell ist wie im (Abb. 3). 1959 wurden die Aquarelle Eine sinnvolle Kombination von weiten Feld der Provenienzforschung. und Zeichnungen von der Treuhandver- Grundlagenforschung und objektbezo- Ich spreche jedenfalls erstens als waltung für Kulturgut in München an gener Recherche braucht allerdings Kunsthistoriker, der sich seit exakt 20 die Graphische Sammlung in München Richtlinien und Kompetenzen. Deshalb Jahren mit Kunst und Architektur vor, überwiesen. möchte ich nicht allein mit der Benen- während und nach dem Nationalsozia- Die Recherchen zu den Aquarellen nung inhaltlicher Desiderate schließen, lismus beschäftigt, d.h. seit Beginn mei- versprechen nicht nur neue Erkenntnis- sondern noch einmal auf die in der Ein- ner materialikonographischen Disserta- se zur „Sammlung Bormann“, die in leitung angesprochenen strukturellen tion im Jahr 1994. Seitdem habe ich Zukunft vermehrt in den Fokus der Defizite zurückkommen. Kompetenzen mich ebenso mit Fragen der Malerei Forschung zum NS-Kunst- und Kultur- brauchen Nachhaltigkeit! Möglicher- und der Skulptur wie mit Ausstellun- gutraubes gestellt werden muss. Auch, weise ist diese Forderung durch das in gen, Denkmälern und Soldatenfriedhö- oder gerade weil die Provenienzfor- Aussicht gestellte „Deutsche Zentrum fen, ebenso mit fach- und disziplinge- PD Dr. Christian Fuhrmeister, Zentral- schung es nicht immer vermag, mit ein- Kulturgutverluste“ schon bald obsolet – schichtlichen wie mit medialen oder in- institut für Kunstgeschichte München wandfreien Resultaten – gar Restitutio- dennoch: Nachhaltigkeit kann nur dann stitutions- und organisationsgeschichtli- nen – abzuschließen, können bereits erreicht werden, wenn die Provenienz- chen Aspekten beschäftigt. Zwei Dimen- dadurch Grundlagen geschaffen wer- forschung in Deutschland nicht (nahe- sionen haben mich dabei vor allem den, dass Desiderate oder „Sackgassen“ zu) ausschließlich über befristete Pro- interessiert: Zum einen die prinzipielle Provenienzforschung in Berlin 2008 be- eindeutig als solche benannt sind. Aus jektfördermittel gewährleistet wird. Die- Frage nach dem Verhältnis von Kunst mühen wir uns auch dort Drittmittel- diesem Grund wird die Graphische ser Appell richtet sich keineswegs nur und Politik, zum anderen die nach der projekte in den Bereichen Digitalisie- Sammlung München die Ergebnisse des an den Bund, sondern auch an die Län- Beziehung zwischen Zentrum und Peri- rung, Erschließung und Forschung zu Rudolf von Alt-Projekts online publizie- der und an die Kommunen, die ver- pherie, zwischen Deutschland (sei es beantragen und zu realisieren. Genannt ren, denn „Sackgassen“ scheinen aller- stärkt in die Debatte um die Auffindung die Weimarer Republik, sei es der NS- sei exemplarisch die Datenbank zur Ga- orten auf. von NS-Raubgut in Museen und öffent- Staat, sei es die Bundesrepublik) und lerie Heinemann, die wir gemeinsam Eine Rechnung der Münchner Kunst- lichen Einrichtungen einbezogen wer- Europa (seien es souveräne, verbündete mit dem Germanischen Nationalmuse- handlung Brüschwiler über drei Aqua- den müssen. Förderprojekte brauchen oder besetzte Staaten). Ich habe mich um Nürnberg realisieren konnten relle Rudolf von Alts bringt z. B. noch lange Vorlaufzeiten in der Beantragungs- dabei stets um ganzheitliche Perspekti- (http://heinemann.gnm.de/). Daneben lange keinen Aufschluss über deren sowie in der Einstellungsphase, in wel- ven bemüht, also etwa Kunsthistoriker veranstalten wir seit 2010 überregional Vorbesitzer. Zu Eugen Brüschwiler, sei- cher der tatsächliche Rechercheauf- im „Dritten Reich“ und im Exil, um Seil- besuchte Kolloquien, die – weil prinzi- ner Münchner Kunsthandlung und sei- wand zudem noch gar nicht abzusehen schaften und Netzwerke, um Brüche piell für jedermann zugänglich – nicht nen Geschäftsbeziehungen ist kaum et- ist. Hierunter leiden vor allem die meist und Kontinuitäten, um Verlust und Ge- nur Gelegenheit zum Gespräch auf neu- was bekannt, obwohl auch er Zugriff personell unterbesetzten kleineren Ein- winn, usw., kurz: um die Bedingungen tralem Boden bieten, sondern auch die auf ein eigens eingerichtetes „Sonder- richtungen. Neben festen Stellen benöti- für Produktion, Distribution und Rezep- Möglichkeit, den Stand oder die Ergeb- konto“ im besetzten Frankreich hatte. gen wir für die Zukunft deshalb vor al- tion von Kunst und Kunstgeschichte im nisse eines auch aus Steuermitteln ge- Wo er die Aquarelle erworben hat, lem „Kompetenzzentren“, die sich un- 20. Jahrhundert. förderten Projekts abzufragen (das bleibt also im Unklaren. Sollte es jedoch terschiedlichen Schwerpunkten widmen Ich spreche zweitens zu Ihnen als nächste – fünfte – Kolloquium findet Anspruchsberechtigte geben, oder sollte und diese gründlich und nachhaltig auf- Mitarbeiter eines außeruniversitären am 30. Juni 2014 statt). es einem anderen Forscher irgendwann arbeiten, die Quellenmaterial zugäng- Forschungsinstituts, dessen Gründung einmal möglich sein, die Provenienzen lich machen und unterstützend – und 1947 unmittelbar mit dem amerikani- Privileg Grundlagenforschung der drei Blätter näher zu bestimmen, so dies zunehmend auch im Bereich der schen CCP (Central Collecting Point) kann eine erneute Prüfung und Ergän- privaten Sammlungen – oder koordinie- im ehemaligen Verwaltungsbau der Ich spreche zu Ihnen also aus der zung des Falles nur dann sinnvoll mög- rend tätig sein können. NSDAP zusammenhängt. Das Zentral- mehrfach privilegierten Perspektive der lich sein, wenn die Graphische Samm- Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! institut für Kunstgeschichte gehört heu- Grundlagenforschung – mehrfach privi- lung Rechercheergebnisse und Detailin- Das hat nicht zuletzt der große For- te mit rund 550.000 Büchern zu den legiert, weil wir erstens fast immer frei formationen kommuniziert und langfris- schungsapparat bewiesen, der trotz der weltweit besten kunstgeschichtlichen entscheiden können, was wir bearbei- tig hinterlegt. Dies erscheint deswegen angesprochenen Problematiken im Be- Bibliotheken. Die knapp 1 Million Auf- ten; weil wir zweitens prinzipiell ergeb- auch der einzig gangbare Weg, um Mehr- reich Provenienzforschung in den letz- nahmen in der Photothek des ZI umfas- nisoffen recherchieren können, und arbeit zu vermeiden. ten Jahren bereits aufgebaut werden sen Teile des Bildarchivs des Einsatzsta- weil wir drittens, um es salopp zu sa- Man sieht deutlich, wo in der Prove- konnte. Ich bin zuversichtlich, dass mit bes Reichsleiter Rosenberg und die pri- gen, nichts zu verlieren haben. nienzforschung Desiderate aufscheinen, einer neuen – mit mehr Direktiven und vaten Fotonachlässe bedeutender Prota- Dass wir nicht immer frei entschei- so ist der Kunsthandel der NS-Zeit mit Befugnissen ausgestatteten – Stiftung gonisten des Faches wie Wilhelm Pin- den können, was wir bearbeiten, hat na- Ausnahme einiger weniger Akteure bis- und einer Verstärkung und Verstetigung der, Ernst Buchner, Alfred Stange und türlich pragmatische Gründe: Wenn uns her kaum untersucht. Daran anschlie- der finanziellen Mittel künftig auch ein Robert Oertel, Kustos der Dresdner Ge- beispielsweise die Nachfahren von Ma- ßend stellt sich die Frage nach der Rolle Vielfaches zu leisten sein wird. Sicher- mäldegalerie und engster Mitarbeiter ria Almas-Dietrich ihre Geschäftsunter- von Banken, Devisenämtern, Versiche- lich wird sich hierdurch auch der Druck von Hans Posse und Hermann Voss bei lagen auf unsere Nachfrage nicht zur rungen oder Speditionen, vor allem auf jene Institutionen erhöhen, die der der Katalogisierung der Werke für den Verfügung stellen, haben wir schlicht auch bei internationalen Transaktionen Provenienzforschung bisher eher ableh- „Sonderauftrag Linz“. Pech gehabt – und ebenso, wenn es uns mit beschlagnahmtem Kunst- und Kul- nend gegenüber stehen. Wäre ich nun, Vor wenigen Wochen hat das Institut einmal nicht gelingt, die erforderlichen turgut. mitten in dieser hochaktuellen Debatte, als einzige kunsthistorische Einrichtung Drittmittel für ein ambitioniertes Vorha- Mit dem Begriff „Kontinuität“ könnte erneut mit der Geschichte des Herrn die „Fold3 – Holocaust Collection“, eine ben einzuwerben. Umso mehr freuen man ein weiteres Problemfeld der Pro- Gruber, seinen Zaunpfählen und der Archivdatenbank, erworben bzw. auf wir uns auf der anderen Seite, um im venienzforschung überschreiben, unter- Frage nach „Rechtssicherheit“ und „Ge- Dauer lizensiert, womit jedem Nutzer im Bereich der Quellen zur Kunsthandels- hielten doch Kunsthändler – wie auch rechtigkeit“ konfrontiert, wüsste ich ZI derzeit zwei Millionen einschlägige geschichte zu bleiben, über die Bereit- Hildebrand Gurlitt – meist mehrere Wa- wahrscheinlich noch immer keine ein- Dokumente zur Verfügung stehen. schaft und das Engagement von Katrin renlager und Depots, aus denen in der deutige Antwort – aber wir haben heute Seit seiner Gründung betreibt das Stoll von Neumeister, mit der wir zwei Nachkriegszeit sukzessive immer wieder mehr denn je die Möglichkeit, sie zu Zentralinstitut Grundlagenforschung in Pilotprojekte einer Public-Private-Part- Kunstwerke in den Handel einflossen. finden. „ unterschiedlichen Bereichen, darunter nership durchführen konnten – das drit- Kontinuitäten betrafen jedoch nicht nur auch kommentierte Quelleneditionen. te wird gerade realisiert. Warum ist es den Handel, sondern auch öffentliche Seit Gründung der Arbeitsstelle für wichtig, dies so zu betonen?

36 zur debatte 5/2014 Foto: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek Ein amerikanischer Offizier im Münch- Familie Rotschild – in der Mitte ein ner Central Art Collecting Point vor Bild von van Gogh, rechts ein Werk von Kunstwerken aus dem Besitz der Velásquez.

Die Perspektive der Grundlagenfor- Fällen der Berichterstattung, die diesen (denkt man etwa an die gut honorierten zichtbar, ebenso wie Quellenkritik oder schung zu betonen ist deshalb so wich- Konnex thematisieren, wenn es dort Gutachten von Werner Spies zu den Zweifel an den eigenen Erkenntnissen. tig, weil sie mittlerweile eher die Aus- heißt, dass Anwälte „[…] 25 Prozent von Wolfgang Beltracchi gefälschten Schon in der Denkschrift „Sicherung nahme denn die Regel darstellt. Denn des gegenwärtigen Verkehrswertes als Arbeiten von Max Ernst). guter wissenschaftlicher Praxis“ von in den vergangenen 10 Jahren – und Entgelt für ihre Vermittlungen erhalten. Anders gesagt: Die nicht unumstritte- 1998 empfiehlt die DFG (übrigens in nicht erst seit Anfang November 2013 – Über solche Vereinbarungen wie über nen Forschungsaufträge der Industrie in der grundlegenden Empfehlung Nr. 1), hat sich die Situation der Provenienz- Geld-Interessen wird normalerweise den MINT-Fächern haben im Laufe der „alle Ergebnisse konsequent selbst an- forschung sukzessive gewandelt, teilwei- nicht gesprochen.“ letzten Jahre, seit der sogenannten „Wa- zuzweifeln.“ se zugespitzt. Damit meine ich weniger Man muss sich klarmachen, was dies shingtoner Erklärung“ von 1998, offen- Ich habe einen langen Anlauf für ei- das stetig gewachsene Interesse der Me- angesichts der seit Jahrzehnten fast un- bar ein Pendant in unserem Fach erhal- nen kurzen Sprung genommen. Worum dien, sondern eher eine gewisse Radika- gebrochenen Entwicklung auf dem in- ten. Es ist dieser Hintergrund, der eine es mir geht, ist, das Gefühl zu vermit- lisierung des Tons, in dem beispielswei- ternationalen Kunstmarkt bedeutet. So nicht an materielle Interessen geknüpfte teln, dass wir uns auf vermintem Gelän- se Anwaltskanzleien Auskunft zu diesen kann das Auffinden eines Dokuments, Forschung nicht länger als Regelfall er- de bewegen – in einer Konstellation, in oder jenem Sachverhalt begehren. das einen verfolgungsbedingten Vermö- scheinen lässt. Wirklich neu und, soweit der Motive und Intentionen der Akteu- gensentzug belegt (oder dessen Vermu- ich sehe, tatsächlich eine unmittelbare re oftmals eben nicht offengelegt wer- Provenienzforschung als lukratives tung widerlegt), zur Folge haben, dass Folge des „Schwabinger Kunstfunds“ ist den, weil es relativ klare Zielvorgaben Geschäft die Recherche einschließlich der auf ihr der gewachsene außenpolitische Druck. gibt. beruhenden Argumentation einen mate- Demgegenüber sei nochmals die ka- Provenienzforschung ist gerade in riellen Gegenwert von einigen Zehntau- Noch einmal: Grundlagenforschung tegorische Andersartigkeit von Grund- den letzten Jahren – auch – zu einem send oder sogar mehreren Millionen lagenforschung betont: Konsultieren wir Geschäft geworden, eben zum „restitu- Euro besitzt. Mit einigen Stunden klas- Aus der Perspektive der Grundlagen- schriftliche oder visuelle Quellen, dann tion business“, das sich unter ungeheu- sischer Quellenarbeit im Archiv lassen forschung stellt sich die Problemkons- werden zwar selbstverständlich auch rem kommerziellen bzw. merkantilen sich Erträge erzielen, die man bisher, tellation etwas anders dar. Welche Wei- Arbeitshypothesen entwickelt sowie Druck vollzieht: Oftmals bestimmt nicht das Verhältnis von Arbeitsaufwand und terungen, Folgerungen und Konsequen- Plausibilitäten geprüft und Deutungsop- die moralische Verpflichtung, sondern Ergebnis betreffend, ausschließlich in zen Forschungsergebnisse haben oder tionen kritisch diskutiert, doch prinzipi- die zu erzielende Provision Weg und Er- der Welt der Investmentbanker und haben können, ist zunächst von nachge- ell ist der Weg der Forschung frei und gebnis der Einzelfallrecherche respekti- Fondsmanager verortete. Was dieser Pro- ordneter Bedeutung. Im Zentrum steht gehorcht keinen Vorgaben. Weil diese ve der Beweisführung. Der Artikel von zess für die Kunstgeschichte bedeutet, ist die Analyse von Sachverhalten, sine ira Freiheit der Wissenschaft zu den höchs- Peter Dittmar in der „Welt“ vom 5. De- meines Erachtens bisher nicht reflektiert et studio und ergebnisoffen. Dies ist nach ten Gütern überhaupt zählt, lohnt es zember 2013 gehört zu den seltenen worden, obwohl es viele Anlässe gibt unserer Überzeugung absolut unver- sich, daran festzuhalten, ungeachtet von

zur debatte 5/2014 37 Kritik, Vorwürfen und Einschüchte- lingen“ gingen Berufsverbote und er- Hans Witek und Sophie Lillie oder bei III. Kunstraub: Raubkunst und rungsversuchen. zwungene Geschäftsaufgaben einher. Götz Aly / Susanne Heim: Vordenker Beutekunst Für den uns hier auch interessierenden der Vernichtung. Auschwitz und die II. Vermögensentzug Bereich des Kunsthandels bedeuten die- deutschen Pläne für eine neue europäi- Ging es bisher vor allem um NS-ver- se Maßnahmen, „Gesetze“ und Verord- sche Ordnung, 1991 und weitere Aufla- folgungsbedingt entzogenes Kulturgut Bei diesem Überblick zu den Struktu- nungen zugleich, dass in einer Rund- gen). (also „NS-Raubkunst“), so kommen wir ren von Vermögensentzug und Kunst- brief-Aktion im August 1935 jüdische Zugleich gelangt 1938 der Prozess nun, im zweiten Teil dieses kursorischen raub sowie Raubkunst gehe ich grosso Kunsthändler aufgefordert wurden, ihr der „Arisierung“ zu einem (vorläufigen) Überblicks, zu den kriegsbedingt ver- modo chronologisch vor, schildere also Geschäft – inklusive der Lager – inner- Abschluss, d.h. die Überführung von ge- brachten und verlagerten Kulturgütern, zunächst die Situation im Inland bis halb von vier Wochen aufzulösen, was werblichem Vermögen aus „nichtari- der sogenannten „Beutekunst“. Ich wei- 1939, dann die Zeit des Weltkriegs im zwangsläufig einer Verschleuderung des scher“ in „arische“ Hand, also die ge- se indes darauf hin, dass diese Klassifi- In- und Ausland, und schließlich die Vermögens gleichkam. zielte wirtschaftliche Existenzvernich- kationen keine präzisen Definitionen Nachkriegszeit bis heute. tung der Juden. 1938 deklariert der NS- sind, auch nicht sein können, weil es Will man verstehen, wie perfide der 1935 bis 1938 Staat die vollständige Ausschaltung der sich um nachträgliche Versuche han- nationalsozialistische Staat vorgegangen Juden aus dem Wirtschaftsleben als ver- delt, ein Kontinuum, ein breites Spekt- ist, was die sukzessive systematische Von besonderer Bedeutung ist das bindliches Ziel und ersetzt die bisher rum von Fällen zu ordnen. Denn die Stigmatisierung, Entrechtung, Verfol- Jahr 1938. In diesem Jahr, so ließe sich praktizierte „freiwillige Arisierung“ Überlappungen und Überschneidungen gung und schließlich Ermordung jener sagen, gelingt dem NS-Staat die Reali- durch eine Zwangsarisierung unter der Kategorien sind offenkundig, den- deutschen Bürger betrifft, die aus NS- sierung seiner Vorstellungen, d.h. die staatlicher Kontrolle, die bis 1939 zur ken wir an die ideologisch motivierten Sicht als „Juden“ galten, ist ein Blick auf weitestgehende Ausschaltung und Eli- vollkommenen Enteignung aller deut- Raubzüge des ERR, des Einsatzstabes die Verordnungen und Gesetze hilfreich. minierung aller bis dato noch verbliebe- schen Juden führt. Eine zentrale Rolle Reichsleiter Rosenberg, etwa in Frank- Denn sie dokumentieren nicht nur das nen „jüdischen Elemente“ im Wirt- in diesem Prozess nimmt in der „Ost- reich oder in der Sowjetunion (mehr scheinlegale administrative Vorgehen, schafts- und Kulturleben wie im Wis- mark“ die „Vermögensverkehrsstelle“ dazu bei Anja Heuß, Der Kunstraub der sie sind zugleich die Schnittstelle von senschaftsbetrieb. ein, die im Mai 1938 im Ministerium für Nationalsozialisten. Eine Typologie, in: Ideologie und Realität. Weil sie definier- Die „Verordnung über die Anmel- Wirtschaft und Arbeit in Wien angesie- kritische berichte, Heft 2/1995, S. 32-43; ten, wie im Alltag zu verfahren war, ist dung des Vermögens von Juden vom delt wird. Was bedeutet dies konkret? dies., Kunst- und Kulturgutraub. Eine ihre konkrete Bedeutung kaum zu über- 26.4.1938“, verbunden mit einer „An- Es bedeutet Auslieferung, Entehrung vergleichende Studie zur Besatzungspo- schätzen. ordnung“ und einer weiteren „Verord- und Entwürdigung in jeder Hinsicht, litik der Nationalsozialisten in Frank- nung zur Durchführung der Verord- wie das Beispiel des Wiener Kunst- und reich und der Sowjetunion. Heidelberg Vor 1933 nung“ sind de facto ein Maßnahmenpa- Antiquitätenhändlers Ignatz Pick zeigt 2000). ket mit durchschlagender Wirkung (vgl. (Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Was bedeutet der expansionistische In unserem Zusammenhang ist vor Hans Günther Hockerts und Christiane AdR 06, VVSt, VA 36839, Ignatz Pick). Eroberungskrieg des nationalsozialisti- allem die Reichsfluchtsteuer relevant, Kuller, Von der wirtschaftlichen Ver- Die gnadenlose Offenlegung, einschließ- schen deutschen Reichs für unser The- die entgegen der Annahme, es handele drängung bis zur Existenzvernichtung, lich der Schätzung seiner privaten und ma? Er bedeutet nicht nur, dass sich die sich um eine genuin nationalsozialisti- in: Verluste. Kulturgutverluste, Proveni- seiner geschäftlichen Objekte durch bis September 1939 entwickelten Prä- sche Steuer, von 1931 stammt. Sie wur- enzforschung, Restitution. [...], Mün- amtliche bestellte Sachverständige und missen, Maßnahmen und Strategien in- de eingeführt, um drohende „Kapital- chen 2007, S. 21-37). Neben der älteren Verwalter, geht wegen der Zahlung all- nerhalb von drei Jahren, bis Spätsom- flucht“ ins Ausland einzudämmen; die Literatur sei in diesem Zusammenhang fälliger Gebühren und Steuern einher mer 1942, auf ein Vielfaches des Rei- Reichsfluchtsteuer wurde bei Aufgabe auf die von Julia Voss ko-kuratierte mit einer Verringerung seines Vermö- ches, ja fast über ganz Europa erstreck- des inländischen Wohnsitzes fällig, so- Ausstellung „1938. Kunst. Künstler. Po- gens von geschätzten rund 60.000 auf ten. Es bedeutet auch eine nochmalige fern das Vermögen 200.000 Reichsmark litik“ im Jüdischen Museum Frankfurt/ 18.000 RM. Das überlieferte Verwal- (RM) überstieg oder das Jahreseinkom- Main (28. November 2013 – 23. Febru- tungsschrifttum dokumentiert diese fi- men mehr als 20.000 RM betrug. Der ar 2014; Katalog im Wallstein Verlag, nanzadministrativen Vorgänge – nicht Das SS-Sonderkommando Steuersatz wurde auf 25 Prozent festge- Göttingen) hingewiesen, die die Schlüs- aber die menschlichen Schicksale. setzt. Ohne hier auf Details eingehen zu selrolle dieses Jahres für den gesamten raubte im Osten, aber auch können, sei festgehalten: Die ursprüng- Kunstbetrieb – für das „Betriebssystem 1938 bis 1941 in Frankreich, Jugoslawien lich befristete Reichsfluchtsteuer wurde Kunst“ – eindringlich und anschaulich mehrfach verlängert und dabei zugleich vor Augen führt. Allein die Klassifizie- Können Gewalt und Niedertracht und Griechenland. sukzessiv verschärft, etwa durch Herab- rung eines Aufsatzes von 2007 als „alt“ dieses Antisemitismus, können Miss- setzung der Bemessungsgrenze auf nur ist im Übrigen ein Indikator für die un- achtung, Entehrung und Strangulierung, noch 50.000 RM. Zwangsläufig stieg so geheuer dynamische, besonders seit können diese Verbrechen eine Steige- Radikalisierung, denn im Rahmen und das Steueraufkommen von 1 Million 2002 intensiv, ja exponentiell gewachse- rung erfahren? unter den Bedingungen eines weltan- 1932 auf 17 Millionen 1933 bis auf 342 ne Forschungssituation, die sich bei- Ja, beispielsweise in Form der schaulich aufgeladenen Vernichtungs- Millionen 1938, wurde also zu einem spielsweise auch in den mittlerweile vier VUGESTA, der Verwertungsstelle für krieges spielte in den besetzten Ländern wichtigen Posten im Staatshaushalt. Bänden der Kolloquien der Niedersäch- jüdisches Umzugsgut der Gestapo. Es auch die Unterscheidung von privatem sischen Landesbibliothek Hannover ab- handelt sich um die zentrale Drehschei- und staatlichem oder nationalem Besitz 1933 bis 1935 bildet. be bei der Umverteilung geraubten Pri- eine zunehmend geringere Rolle. Zu- 1938 ist zudem das Jahr der erfolgrei- vateigentums jüdischer Österreicher sätzlich verkompliziert wird die Situati- Die erste markante Phase in den Jah- chen Erprobung des „Modell Wien“, während der NS-Herrschaft. Die Vuges- on durch den Umstand, dass wir es mit ren 1933 bis 1935 kulminiert in den d.h. der systematischen Beschlagnahme ta „verwertete“ vom Zeitpunkt ihrer Er- verschiedenen Akteuren, Instanzen und Nürnberger Gesetzen. Das „Gesetz zum jüdischen Vermögens in einer general- richtung im Frühherbst 1940 bis zum Organisationen zu tun haben, die zu- Schutze des deutschen Blutes und der stabsmäßig geplanten und konzertiert Kriegsende das Umzugsgut von 5.000 dem miteinander konkurrierten. Spätes- deutschen Ehre“ und das „Reichsbür- durchgeführten Aktion. Das Vorgehen bis 6.000 und die Wohnungseinrichtun- tens angesichts dieser Vielfalt unter- gergesetz“ gaben antisemitischen Exzes- in Wien – Liquidierung, Arisierung oder gen von mindestens 10.000 geflüchteten schiedlicher Interessen können wir das sen, Boykott- und Erpressungsmaßnah- Überführung in letztlich staatlichen Be- oder deportierten jüdischen Familien. Bild eines monolithischen NS-Staates men rückwirkend eine scheinbar legale sitz – wird in der Folge als Vorbild er- Rekapitulieren wir die Schritte zwi- mit klarer top-down-Befehlsstruktur Grundlage und bereiteten die weitere achtet, das sowohl im „Altreich“ als schen 1933 und 1941, dann sehen wir schlicht vergessen. Ich kann hier freilich schrittweise Drangsalierung und Ent- auch in weiteren annektierten oder be- im Vermögensbereich eine Entwicklung, erneut nur wenige Schlaglichter setzen. rechtung vor. Mit der Unterscheidung setzten Ländern Anwendung finden die von Meldung und Erfassung konse- von „Ariern“, „Volljuden“ und „Misch- wird (mehr dazu unter anderem bei quent über Kontrolle und Beschlagnah- Sonderkommando Künsberg mung bis zu Entzug und vollständigem Verlust führt. Doch dieses Bild ist noch Das Sonderkommando von SS-Ober- nicht vollständig, denn mit der „11. Ver- sturmbannführer Eberhard von Küns- ordnung zum Reichsbürgergesetz vom berg unterstand formell dem Auswärti- 25.11.1941“ wird ein weiterer, an Perfi- gen Amt (vgl. Ulrike Hartung: Raubzü- die nicht zu überbietender Mechanis- ge in der Sowjetunion. Das Sonderkom- mus in Gang gesetzt. Er sieht vor, dass mando Künsberg 1941-1943, Bremen der Übertritt der Reichsgrenze im Rah- 1997). Ursprünglich bestand der Auf- men einer Deportation – als Teil der trag in der „Sicherstellung“ von Materi- kurz darauf, im Januar 1942 endgültig al in den diplomatischen Vertretungen Neues aus der Akademie beschlossenen „Endlösung der Juden- feindlicher und neutraler Staaten, doch frage“ – automatisch zum Verlust der wurde dies bald auf Gegenstände jeder Staatsbürgerschaft führt, und dieser Art, darunter auch Kunst, ausgeweitet. Verlust wiederum automatisch zum Ver- Das SS-Sonderkommando raubte im Seit diesem Frühjahr verstärkt Dr. Bernhard Forster einen erfahrenen fall des privaten Vermögens an den Osten, aber auch in Frankreich, Jugosla- Bernhard Forster (43) das Team der Mann aus der katholischen Erwachse- Staat. An dieser Stelle kann man mei- wien und Griechenland. wissenschaftlichen Mitarbeiter der Ka- nenbildung gewinnen. Der in Passau nes Erachtens nicht umhin, der Kritik tholischen Akademie. Nach dem al- geborene promovierte Diplom-Kultur- von Götz Aly zuzustimmen, dass der ERR tersbedingten Ausscheiden von Dr. wirt war vorher Geschäftsführer der Begriff „Massenmord“ unzureichend Pierre Scherer, der seit 1975 Mitarbei- KEB Rottal-Inn-Salzach (Altötting) in sei, weil er die auch vorhandene unge- Der Einsatzstab Reichsleiter Rosen- ter unserer Institution war und unzäh- der Diözese Passau. Er ist seiner Hei- heure ökonomische Dimension ver- berg gehört zu den am stärksten genuin lige – auch in der „debatte“ dokumen- matdiözese u.a. auch dadurch weiter nachlässige, weswegen Aly die Bezeich- weltanschaulich motivierten Rauborga- tierte – Veranstaltungen organisierte, verbunden, dass er Gesangssolist der nung „Massenraubmord“ für passender nisationen, zugleich zu den am besten konnte die Katholische Akademie mit Passauer Dommusik bleibt. erachtet. organisierten und strukturierten (eine ins- truktive Schautafel zur geographischen

38 zur debatte 5/2014 Ausdehnung der Aktivitäten des ERR Schweiz gegen die Überlassung von hard von Tieschowitz, 15. Juni 1943). 1945 und der folgenden Einrichtung der befindet sich im Katalog der Ausstel- Werken alter Meister. Tieschowitz’ Vorgänger, Franz Graf Central Collecting Points in München lung „Raub und Restitution“ des Jüdi- Hermann Göring nimmt eine Zwi- Wolff von Metternich, hatte sich Rosen- und Wiesbaden, der Depots in Marburg schen Museums Berlin und des Jüdi- schenposition ein, weil er beides prakti- bergs ERR bei dessen Beschlagnahme und Offenbach und des Kulturgutlagers schen Museums Frankfurt). Berücksich- zierte, Raub und Kauf. Selbstverständ- vermeintlich „herrenloser“ jüdischer Schloß Celle nicht eingehen. Doch fest- tigt man auch die zahlreichen Detail-In- lich kann aus dem Umstand, das Geld Sammlungen entgegengestellt und war gehalten sei, ungeachtet meiner Kritik formationen in den Studien von Patricia geflossen ist, nicht auf einen legalen Er- deshalb abgesetzt worden. Tieschowitz an George Clooneys Film „Monuments Grimsted oder auf der Website „Cultu- werb geschlossen werden, schon gar agierte, wie man sieht, etwas geschmei- Men“ – der Film basiert bekanntlich auf ral Plunder“ (www.errproject.org) von nicht im Ausland, aus zwei Gründen: diger, was ihm nach 1945 – wie auch dem Sachbuch von Robert Edsel von Marc Masurovsky, so ergibt sich das Wegen der Devisenbestimmungen und Graf Wolff von Metternich – eine Kar- 2009, Monuments Men. Allied Heroes, düstere Bild einer wirklich skrupellosen wegen des Besatzungsstatus selbst, riere im Diplomatischen Dienst der jun- Nazi Thieves and the Greatest Treasure verbrecherischen Organisation. Ihr ge- da diese Ausdehnung der deutschen gen Bundesrepublik ermöglichte. Hunt in History –, ungeachtet der Kri- hörten, was bisher wenig bearbeitet Machtausübung und des deutschen Ho- Zum Kunstschutz in Italien hat das tik an dieser Hollywood-Produktion ist wurde, verschiedene deutsche Kunsthis- heitsgebietes zwangsläufig mit Maßnah- Zentralinstitut für Kunstgeschichte 2010 rückblickend die historische Leistung toriker an, die ungeachtet dieses Enga- men der Schikane, Unterwerfung, Er- eine internationale Fachtagung veran- der Monuments, Fine Arts & Archives gements nach 1945 weiterarbeiteten, als pressung und Ausnutzung einherging staltet, deren Ergebnisse 2012 unter dem Section (MFAA) der alliierten Truppen Kuratoren und Direktoren deutscher (mehr dazu bei Hanns Christian Löhr, Titel „Kunsthistoriker im Krieg“ vorge- unbedingt zu würdigen. Sie haben eine Museen. Vor 1945 hatten die Fachleute Birgit Schwarz, Nancy Yeide, Ilse von legt wurden. Angesichts dieser institu- gigantische Aufgabe, nämlich Hundert- des ERR keinerlei Bedenken, emigrierte zur Mühlen; wichtig auch Kathrin Iselt tions- und organisationsgeschichtlichen tausende, ja vermutlich Millionen aus jüdische Kunsthistoriker auszurauben, zu Hermann Voss). Forschungen sei die Notwendigkeit her- unterschiedlichsten Gründen translo- wie im Fall des ehemaligen Münchner Bleibt der Kunstschutz, wobei man vorgehoben, neben den übergeordne- zierter Kulturgegenstände, Hauptkustos August Liebmann Mayer natürlich auch diskutieren muss, ob die ten Strukturen und Dynamiken stets (siehe Bundesarchiv Koblenz, B 323 / Wehrmacht selbst nicht ebenfalls als auch die Spezifika des Einzelfalles zu 1. zu finden 278, Aktennotiz des ERR vom 14. Sep- Akteur des Kulturgutraubs berücksich- berücksichtigen, die konkrete Situation 2. in Sammelstellen (CCPs) zusam- tember 1942). tigt werden müsste – genauso wie, selbst- an einem bestimmten Ort zu einer be- menzuführen verständlich, der Kunsthandel selbst. stimmten Zeit mit bestimmten Akteu- 3. wenn möglich kunsthistorisch zu Ahnenerbe Wer die aberwitzigen Gewinnspannen ren, die Handlungs- und Gestaltungs- bestimmen etwa von Almas-Dietrich in den Unter- spielräume nutzen, oder auch nicht nut- 4. wenn möglich die früheren Besit- Das „Ahnenerbe“ ist der Wissen- lagen von B 323, dem Aktenbestand der zen. Genau dies, die historische Tiefen- zer zu identifizieren schaftszweig der SS. Als „Forschungsge- Treuhandverwaltung für Kulturgut in analyse von Entscheidungsverläufen, ist 5. die Objekte an die Herkunftslän- meinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V.“ Koblenz, gesehen hat – 50 % in weni- im Übrigen elementarer Bestandteil der der zu überstellen 1935 gegründet, unterstand sie Reichs- gen Wochen oder Monaten –, weiß, was eingangs erwähnten Grundlagenfor- führer-SS Heinrich Himmler und ich meine. schung. nach menschlichem Ermessen gut, d.h. Der Kunstschutz wurde in allen er- mit Sachverstand, Engagement und Ak- oberten und besetzten Gebieten etab- IV. Nach 1945 ribie, gelöst. Angesichts ihrer Verant- Hermann Göring nimmt liert, in denen eine Militärverwaltung wortung als Treuhänder, angesichts der eingerichtet wurde, also in Belgien, Die Geschichte endete nicht 1945, quantitativen und qualitativen Dimensi- eine Zwischenposition ein, Frankreich, Serbien, Griechenland und und sie wird auch 2014 nicht enden. Im onen, kann diese bis 1949 in den CCP weil er beides praktizierte, Italien (ab 1943), nicht aber in den Pro- Rahmen dieses kursorischen Überblicks München und Wiesbaden durchgeführ- tektoraten (wie Böhmen und Mähren), können freilich nur einige Aspekte der te Arbeit trotz einiger Fehler und Prob- Raub und Kunst. nicht in den Reichskommissariaten (wie Nachkriegszeit Erwähnung finden. leme nicht anders als ein Erfolg bezeich- Niederlande, Ostland, Ukraine, Norwe- Im Kern standen die Siegerstaaten net werden. gen), nicht im Reichsgau Wartheland, vor der Herausforderung, den unglaub- Zugleich müssen Widersprüche, Rei- Reichsbauernführer Darré. Im Rahmen nicht im Generalgouvernement für die lichen Vermögenstransfer und die zahl- bungen, Ambivalenzen besser als bisher von archäologischen, historischen und besetzten polnischen Gebiete, nicht in losen Translozierungen von Kulturgut, erforscht werden. Die amerikanische kulturgeschichtlichen Ausgrabungs- und den annektierten Gebieten (wie Sude- von denen sie vor Kriegsende nur eine „white list of German art personnel“, Dokumentationskampagnen kam es tenland, Luxemburg oder Lothringen vage Vorstellung besessen hatten, rück- d.h. der vorgeblich unbelasteten und da- vielfach auch zum Raub von Kulturgut. und Elsass). gängig zu machen, d.h. die Kulturgüter her zuverlässigen deutschen Kunsthisto- Von besonderer Bedeutung ist der an die Vorbesitzer zu restituieren. Für riker, birgt wesentlich mehr Probleme Dienststelle Mühlmann Kunstschutz in Frankreich, den Christi- das Verständnis dieses Prozesses grund- als bisher bekannt. Es gibt Verwerfun- na Kott erforscht hat. Aus einem Re- legend sind zunächst die vier Besat- gen und Misserfolge, wie der Fall der Die Dienststelle Mühlmann ist engs- chenschaftsbericht des Leiters des Kunst- zungszonen – Britische, Französische, MFAA-Frau in Österreich, Evelyn Tu- tens verknüpft mit der Arbeit des öster- schutz von Sommer 1943 geht hervor, Amerikanische und Russische Zone – cker, zeigt, die nach drei Jahren des kon- reichischen Kunsthistorikers Kajetan weshalb der Kunstschutz zutiefst ambi- und ihre jeweilige Handhabung der Res- sequenten Ausgebremst-Werdens durch Mühlmann. Von Göring zum „Sonder- valent ist und, gerade auch im Zusam- titutionspolitik. Genauer kann ich hier bornierte amerikanische Generäle ent- beauftragten für den Schutz und die Si- menhang mit den Fragestellungen der auf diese Phase der Auffindung der deut- nervt und frustriert das Handtuch ge- cherung von Kunstwerken in den be- Provenienzforschung, weiterer Untersu- schen Depots im Frühjahr und Sommer worfen hat. setzten Ostgebieten“ ernannt, inventari- chung bedarf. Bernhard von Tieschowitz sierte er ab dem 6. Oktober 1939 die im listet in seinem Bericht diese Aufgaben- Depot des Nationalmuseums in War- bereiche auf: schau und im Schloss Wawel in Krakau „I. Aufgaben: […] Ueberwachung der gesammelten Kunstwerke und beschlag- Bergungsdepots der franz. Museen. Si- nahmte zahllose weitere polnische cherstellung und Ueberwachung des Sammlungen wie die des Grafen Czar- auslaendischen Kunstbesitzes. Vorberei- Kommende Akademieveranstaltungen toryski. Nach dem Einmarsch in die tung der Rueckfuehrung des Deutsch- Diese Terminvorschau ist vorläufig. Sie entspricht dem Stand unserer Planungen. Niederlande im Mai 1940 etablierte er land geraubten Kunstgutes. Kontrolle Zu allen Veranstaltungen werden rechtzeitig jeweils gesonderte Einladungen erge- seine eigene Dienststelle in Den Haag, und Steuerung des deutschen Kunst- hen. Dort finden Sie dann das verbindliche Datum und den endgültigen Titel. die insbesondere jüdische Kunstsamm- handels in Frankreich. Propagandisti- lungen beschlagnahmte. sche Auswertung der Kunstschutzarbeit. Junge Akademie Fünftes Karl Graf Spreti-Symposium II. Bisherige Taetigkeit und Ergebnis- Mittwoch, 11. Juni 2014 4. und 5. Juli 2014 Zentrum und Peripherie von se: […] Beratung bei der Metallabliefe- Film im Gespräch/Dreiteiliges Mythen der Bayerischen Geschichte Raubkunst und Beutekunst rung (Denkmalentfernungen, Geraete- Filmseminar (II) sammlungen, Glockenabgabe etc.) Ent- So hab ich das noch nie gesehen: Vortrag und Gespräch Trotz unterschiedlicher Aufträge, Ein- fernung der Hassdenkmaeler. Listenma- „Gattaca“ satzgebiete, Arbeitsschwerpunkte, Per- essige Erfassung des Deutschland ge- Montag, 7. Juli 2014 sonal- und Infrastruktur bilden diese raubten Kunstgutes. Vermittlung der Junge Akademie Peter Kardinal Turkson, Präsident vier Organisationen – das Sonderkom- Erwerbung von Kunstwerken im Werte Dienstag, 24. Juni 2014 des Päpstlichen Rates mando Künsberg, der ERR, das Ahnen- von rund 100 Millionen RM fuer deut- Reihe WortReich. Das monatliche für Gerechtigkeit und Frieden erbe und die Dienststelle Mühlmann – sche Museen, Staats- und Parteistellen. interaktive Gespräch in das Zentrum des nationalsozialistischen Passierscheinbearbeitungen. Schloss Suresnes Musiker im Gespräch Kulturgutraubes. Hier wurde beschlag- III. Arbeitszuwachs, Ausweitung, Jürgen Jung, Chefscout Juniorteam mit Professor Siegfried Mauser nahmt und „sichergestellt“. neue Aufgaben: Ausuebung des Kunst- des FC Bayern München Dienstag, 8. Juli 2014 Häufig (aber nicht immer) gekauft – schutzes in Suedfrankreich seit Januar Wolfgang Rihm also bezahlt – wurde hingegen vom 1943 (besonders wichtig, weil dadurch Forum in Zusammenarbeit mit „Sonderauftrag Linz“, der millionen- die grossen Louvredepots mit Milliar- dem Institut für Zeitgeschichte schweren Kunstbeschaffungsmaschine denwerten unter deutsche Kontrolle ge- Mittwoch, 25. Juni 2014 Junge Akademie für das geplante Museum an der Donau. kommen sind). […] Vermehrung der Ar- Hitlers Weltanschauung. „Mein Kampf Mittwoch, 9. Juli 2014 Dies schließt selbstverständlich das Aus- beit zum Schutz der histor. Schloesser als politische Programmatik“ Film im Gespräch/Dreiteiliges nutzen der schlechten Verhandlungspo- und Wohnbauten infolge zunehmender Filmseminar (III) sition von jüdischen Privatsammlern Besatzungsdichte. Desgl. bei der Steue- Abendveranstaltung So hab ich das noch nie gesehen: oder der Zwangslage von jüdischen rung des in starkem Aufschwung begrif- Dienstag, 1. Juli 2014 „Am Ende kommen Touristen“ Kunsthändlern in den besetzten Ländern fenen Kunsthandels und bei der Aus- Buddhismus und Christentum – ein, also Lösegelderpressungen oder fuhr von angekauften Kunstwerken Grundpositionen im Diskurs den Tausch von Kunst gegen Leben, nach Deutschland.“ (Politisches Archiv Karma oder Sünde wie die Erlaubnis der Ausreise in die des Auswärtigen Amtes, R 61087a, Bern-

zur debatte 5/2014 39 Foto: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek Der ehemalige Verwaltungsbau der NSDAP in seiner Funktion als „Central Art Collecting Point “ im Sommer 1945

Die alliierte Restitution von Kunst- Relativierung, Distanzierung, Abgren- Deutungen auf den Prüfstand stellt, ja Denn was wir brauchen, sind Daten und Kulturgut, das von den Nationalso- zung, Verdrängung und Tabuisierung, stellen muss. Es wäre vor diesem Hin- und Fakten, sind detaillierte Kenntnisse zialisten geraubt, gestohlen, abgepresst sind Selbstviktimisierungsstrategien, tergrund eine interessante Frage, Paral- von Strukturen, Netzwerken und Pro- und beschlagnahmt worden war, ist auch der Institutionen, sprich der Muse- lelen und Unterschiede der 1950er und zessen des Kulturguttransfers. Alles selber eindeutig keine glatte Erfolgsge- en, die sich als Opfer der Aktion „Ent- der 2000er Jahre herauszuarbeiten. spricht dafür, dass die Bedeutung sol- schichte, sondern enthält Fehler und artete Kunst“ und als Opfer von Kriegs- Wo also stehen wir heute? Warten cher Informationen weiter steigen wird. Versäumnisse. So kann etwa die histori- verlusten sahen, ohne etwa die Gewin- wir ab, sitzen wir aus? Die Quellen, die hierfür erschlossen, sche Entscheidung, nicht an Privatper- ne, also die Zuwächse der Sammlungen ausgewertet und zur Verfügung gestellt sonen zu restituieren, sondern an Staa- im Nationalsozialismus, in Rechnung zu V. 2014 und in Zukunft werden müssen, dürfen freilich nicht ten, aus der Zeit heraus funktional und stellen. Ein Tagungsband des Museum nur für den vergleichsweise engen Fra- pragmatisch begründet werden. Tatsäch- Ludwig in Köln, herausgegeben von Ju- „Wo kein Wille ist, ist auch kein gehorizont der Provenienzforschung lich sind aber die Staaten – wie Frank- lia Friedrich und Andreas Prinzip, hat Weg.“ aufbereitet werden, sondern sollten reich und die Niederlande – der Ver- sich kürzlich Ausstellungswesen und „Die Wahrheit kennt keine Konkur- auch allen anderen Fragen der gegen- pflichtung, die Vorbesitzer ausfindig zu Sammlungspolitik in den ersten Jahren renz.“ wärtigen und der zukünftigen Kunstge- machen und die Objekte an ihre Nach- nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet „Ich spreche von den letzten Kriegs- schichte Material bieten können. „ kommen zu überstellen, später in ganz und versammelt ein breites Spektrum gefangenen.“ unterschiedlichem Maße nachgekom- von Reaktionen und Verhaltensweisen. men, was zu Streitfällen führte, die teil- Festgehalten sei, dass ein Unrechts- Diese drei Äußerungen aus den letz- weise keiner Lösung zugeführt werden bewusstsein zunächst nicht existierte, ten Wochen illustrieren mustergültig die konnten. Doch auch diese bis heute sondern sich erst langsam und ganz Problemkonstellation, in der wir uns be- virulenten Probleme ändern nichts am punktuell ausbildete, und zwar durch- finden. Die Grundfrage lautet: Betrach- insgesamt positiven Gesamturteil, das aus auch aufgrund von Vorwürfen oder ten wir sowohl die Vergangenheit als der Arbeit der Alliierten attestiert wer- Vorhaltungen aus dem Ausland, was auch die Gegenwart eher moralisch, den muss. freilich in der traditionellen linearen juristisch, wissenschaftlich oder unter Aufstiegsgeschichtsschreibung der spä- kommerziellen Gesichtspunkten? Deutsche Perspektiven auf Kunstraub teren Nachkriegszeit kaum einen Nach- Die gegenwärtige Lage ist jedenfalls und Beutekunst hall gefunden hat. Zu berücksichtigen gekennzeichnet durch Aktionen und Anmerkung der Redaktion: ist, was die 1950er Jahre betrifft, dass Reaktionen, durch Forderungen nach Wie sieht es nach 1945 auf deutscher individuelle Rückerstattungs- und Wie- Transparenz und nach mehr Diskretion, Jetzt, nach dem Tod von Cornelius Seite aus, wer kümmert sich um vergan- dergutmachungsverfahren einerseits ge- durch Forderungen nach Beschleuni- Gurlitt, muss sicher neu darüber dis- genes Unrecht, wer sieht Handlungsbe- setzliche Regelungen erfuhren, dass gung und Plädoyers für Ruhe, weil sonst kutiert werden, wie es mit seiner Pri- darf? aber andererseits vielfach nach einem eine solide Recherche, die drei Jahre vatsammlung weitergeht. Doch blei- Charakteristisch für den Umgang der „Schlussstrich“ gerufen wurde. Dahin- dauere, nicht durchgeführt werden kön- ben die generellen Fragen zum Um- deutschen Kunsthistoriker in Museen, ter verbirgt sich die Vorstellung, histori- ne. Die Situation ist, mit einem Wort, gang mit Raubkunst, die die Katholi- Universitäten und in der Denkmalpflege sches Unrecht könne in einem büro- unübersichtlich, in mehrfacher Hinsicht, sche Akademie Bayern in ihrer Tagung ist das kollektive Beschweigen der Ver- kratischen, finanziellen oder juristi- und zugleich ausgesprochen dynamisch, im Februar dieses Jahres aufgriff, wei- gangenheit, der Unrechtshandlungen – schen Akt bewältigt und sozusagen ab- denkt man an die Pläne zur Gründung terhin sehr aktuell. Das trifft im beson- und zwar gerade weil es zum Teil eigene gearbeitet bzw. erledigt werden. Diese eines „Deutschen Zentrums Kulturgut- deren Maße auf das Thema Proveni- Handlungen waren, die tunlichst nicht Annahme steht freilich im Gegensatz zu verluste“. enzforschung zu, mit dem sich die bei- thematisiert werden sollten. Was wir be- der Erfahrung, nach der jede Genera- Für die Grundlagenforschung sehe den hier abgedruckten Texte befassen. obachten können, sind Verharmlosung, tion geschichtliche Vorgänge und ihre ich aktuell mehr Chancen als Gefahren.

40 zur debatte 5/2014 Andreas-Salomé. Seine Geliebte. Seine Nicht als Aufruf. Rilke ist nicht Muse. Seine Seelen-Mutter auch. Brecht. Nicht als Abgesang. Rilke ist Eine Epoche ging zu Ende. Die Bio- nicht Hölderlin. Als Einladung viel- grafien taumelten. „Die Welt von ges- leicht? Nein, nicht einmal das. Rilke Rainer Maria Rilkes tern“, wie sie Stefan Zweig noch einmal will nicht einladen, das ist ihm zu viel. beschrieben hatte, war zusammengebro- Er will wahrgenommen werden, das ja. chen. Vor dem Ersten Weltkrieg im Tu- Aber man solle ihm ja nicht zu nah mult der Skandale, die eine künstleri- kommen. Er entzieht sich. So müssen „Duineser Elegien“ sche Avantgarde vom Zaune brach, um auch die Deutungen Möglichkeit blei- eine ganz neue Epoche des europäi- ben. Auch sie entziehen sich. Der Ab- schen Geistes einzuläuten, von Picasso stand, den die Sterne lehren, das ist und Malewitsch bis zu Schönberg und eine Metapher, die gerade auch die Strawinsky. Im Weltkrieg durch Flam- „Duineser Elegien“ durchzieht wie ein men verbrannt. Nach 1918 in neuen roter Faden. Hoffnungen (Russland) erstehend, die bald wieder zunichte wurden. Da su- III. Ein Epochenbruch in Kunst und Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegi- ein Thema auf, das auch der Reli- chen die Menschen Halt. Sie finden ihn Religion en“ waren das Thema der Vorlesung gionsphilosoph und Theologe Romano – gerade auch bei Rilke. Er findet eine des evangelischen Religionswissen- Guardini schon intensiv untersucht Sprache jenseits von Metaphysik. Die Für Rilke ist der Erste Weltkrieg ein schaftlers Prof. Dr. Michael von Brück hatte. war zusammengebrochen wie die Welt Zivilisationsbruch. Dieser zeichnet sich am 10. April 2014 in der Katholischen Michael von Brück ordnete Rilkes von gestern. Gott war hinausgebrüllt in der Philosophie schon bei Nietzsche Akademie Bayern. Gedichte in den Epochenbruch rund worden, oder er war auf leisen Sohlen ab, in der Kunst bei Mahler und Kan- Der Wissenschaftler, der im laufenden um den Ersten Weltkrieg ein und zog verschwunden. Nichts bot mehr Halt. dinsky. Schönberg verabschiedet sich Sommersemester als Professor an der Parallelen zur Bildenden Kunst, etwa Rilkes Dichtungen schon. Eine säkulari- von der Tonalität. Die alten Wertesyste- Universität München in Ruhestand der Malerei Kandinskys oder der Bild- sierte Religion – aber was ist das? me, die Ordnungen und Hierarchien geht, hielt in der Akademie vor mehr hauerei Rodins, sowie zur Musik, etwa des Schönen galten nicht mehr. Schö- als 450 Zuhörern die erste seiner Ab- der Symphonik Mahlers oder der Mo- II. Eine Dichtung des Möglichen nes als Ganzheit, als heile Welt oder schiedsvorlesungen. Professor von derne Strawinskis. Zudem hob Brück heilende Hoffnung war nicht mehr dar- Brück griff mit seinem Referat, in dem die Rolle Rilkes als Mystiker hervor Rilkes Sprache geht aus vom Boden stellbar. Zum Beispiel Mahler: Kaum er religionswissenschaftliche Zugänge und wies auf die Verwandtschaft zum des Erlebbaren und schwingt sich auf setzt er an zu einem melodischen Bogen zu Rilkes „Duineser Elegien“ suchte, Buddhismus hin. zu Höhenflügen – und stürzt gelegent- oder einem Klang, der Dissonanzen auf- lich im Tiefflug ab. Sie zaubert Sinnwel- lösen will, wird der Fluss unterbrochen ten, die ästhetisch nacherlebbar sind. und der Schrecken, das Dunkle, die Jenseits der verlassenen Religion. In Ril- Fratze grätscht hinein. Ich vermute, ke findet sich Kierkegaard wieder. Aber dass Rilkes Werk eine neue Sehnsucht er will mehr. Schon im Stundenbuch, anspricht nach authentischen Lösungen dann aber in den Elegien und den So- für das Untergegangene, das Unerfüllte. Religionswissenschaftliche Zugänge netten an Orpheus findet Rilke zu einer Warum vermag die Kunst das Schö- dichterischen Verdichtung des Undich- ne, das Gute, das Ganze nicht mehr Michael von Brück ten. Er komprimiert die Sehnsüchte und darzustellen? Könnte das mit der Krise Ängste einer Epoche im Angesicht des der Religion zusammenhängen? Das Lichtstrahls, der ihn immer wieder auf- Christentum hatte das Böse integriert richtet. Dieser Lichtstrahl ist die in klei- und – zumindest im Symbol – auf Hoff- nen Details der sinnlichen Erfahrung nung hin überwunden. Das Kreuz sich zeigende Vollkommenheit. Nicht in Christi war der Brennpunkt, in dem der Welt, auch nicht hinter der Welt. sich das Leid der Menschheit, die Uner- Warum die „Duineser Elegien“ als Eher eine Vollkommenheit als Möglich- fülltheit und das Schreckliche bündel- Abschiedsvorlesung? Ich möchte einen keit einer neuen Bewusstseinsform. ten. Gott selbst hatte das Böse auf sich Bogen schlagen. Der Beginn meines Zum Beispiel eine flüchtige Wahrneh- genommen, um es aus der Welt zu tra- Theologiestudiums in Rostock 1968 mung, da „die Geige sich an einem ge- gen. Das jedenfalls ist das Ganze, das verzögerte sich durch einen Unfall, der öffneten Fenster hingibt“. Nicht, dass nicht zur Fadheit herabgesunken ist, mich für einige Monate ans Bett fessel- der Geiger einen vollkommenen Ton er- wie Hegel in der Vorrede zur Phänome- te. Mein zukünftiger Lehrer, Dr. Peter zeugen könnte – dies wäre die ästheti- nologie bereits 1806 geschrieben hatte. Heidrich, sandte mir einen Brief ins sche Ausflucht. Sie ist seit dem Ende So konnte im Durchgang durch das Lei- Krankenhaus mit der 10. Duineser Ele- der Romantik, seit Gustav Mahler, We- den die Gloriole erstrahlen, jenseits von gie von Rilke („Wir, Vergeuder der dekind, Schnitzler nicht mehr glaub- Gut und Böse. Die mittelalterliche Ka- Schmerzen“) und der Interpretation würdig. thedrale (von ihr wird in den Elegien von Romano Guardini. Rilke hatte ich Nein, es ist die Geige, die sich hingibt mehrfach die Rede sein), der in Stein gelesen, Guardini noch nicht. Die Ele- an etwas, das auch Rilke beschweigt. manifeste Bau des Himmlischen Jerusa- gien faszinierten und erschreckten mich Namenlos. Das fasziniert ihn auch am lem, die Apotheose des Harmonikalen wegen ihrer existenziellen Radikalität. Buddha, dieses schweigende Lächeln und der Proportion, die Schönheit als Die Nähe zum Buddhismus erkannte oder lächelnde Schweigen. Rilke, der Ausgleich aller Widersprüche, sie war in ich erst viel später. So waren für mich selbst kaum lächelt, findet hier die Ins- Kreuzform gebaut. In ihr war das Böse beide, Rilke und Guardini, das intellek- piration. Das macht ihn, wie Romano gebannt. So auch in der Musik Bachs tuelle Tor zum Eintritt in die akademi- Guardini schreibt, zum „vielleicht diffe- oder Mozarts, in der Malerei Giottos sche Welt. Im Respekt vor dem Lehrer, renziertesten deutschen Dichter der en- oder Raffaels, in der Kuppel Michel- dem ich so vieles verdanke, und dem denden Neuzeit“ (Rainer Maria Rilkes angelos und in seinem David. Der in großen katholischen Religionsphiloso- Deutung des Daseins. Eine Interpreta- menschlicher Gestalt erschienene Gott phen, dessen Denken mich nicht uner- tion der Duineser Elegien, Kösel 1953, hatte die Menschheit geadelt und zur heblich geprägt hat, möchte ich diese 13). Ein Leben der Abbrüche und Auf- Schönheit befreit. Und so weiter. Aber Vorlesung präsentieren. Prof. Dr. Michael von Brück, Lehrstuhl brüche. Wir finden das wieder in den eben: Diese Religion war schal gewor- für Religionswissenschaft an der Lud- Fetzen der Emotionen, die in den Elegi- den, brüchig, vielen nicht mehr glaub- I. Rilke – „Wie ist er?“ wig-Maximilians-Universität München en einander abwechseln. Bald hastig, haft. Die Gebildeten unter ihren Ver- bald gemächlich ausformuliert. Rhyth- ächtern hatte schon Schleiermacher „Hast Du in München wirklich den mus? Immer wieder gebrochen. Wie bei 1799 zu erreichen versucht. Einhundert Dichter Rilke kennengelernt? Wieso? Gustav Mahler. Jahre später waren es nicht nur die Ge- Und wie ist er?“ Das fragt Anna Freud sowska. Rilke und die Frauen über- Rilkes Werk entsteht unter größten bildeten, die im Zweifel ertranken und ihren Vater in einem Brief vom 14. Sep- haupt, die ihm ja nicht zu nahe treten Spannungen, innerem Schmerz und nach einem Ufer ruderten, sondern tember 1913, der sechs Tage zuvor erst- durften, damit „das Werk“ nicht behin- Verzicht auf Leben. Es ist nicht nur die auch die unteren Schichten, vor allem mals mit Rilke im Bayerischen Hof in dert würde. Rilke, der scheue Einzel- Spannung des Künstlers zwischen Le- München zusammen getroffen war. gänger, der doch die Gesellschaft auf- ben und Werk, sondern der Zwiespalt Liest man Zeugnisse über ihn neben suchte und so sein vagabundierendes zwischen Hingabe an die Geliebte und seinen Briefen, dann seine Gedichte Dasein führen konnte. Der Unbehauste, Hingabe an die Liebeskraft im Dichter- und eben auch die Duineser Elegien – dauernd auf der Flucht, auch vor sich wort, der mitten in seiner Liebe selbst Die Vorlesungsreihe es ergibt ein enigmatisches Bild. Ein selbst? Flucht auch vor dem Zusam- klaffe, wie er schreibt, denn seine Arbeit Rätsel. Rilke im Spiegel der jeweils an- menbruch der Kultur, dem Krieg. Flucht ist Liebe. Immer also auch Biographie, Die weiteren Abschiedsvorlesungen deren. Rilke und Rodin. Rilke und sein vor der Politik, die nichts aus der Katas- vor allem aber Verbindung des individu- finden in Zusammenarbeit mit der Verleger Anton Kippenberg, vor allem trophe lernt – er geht bewusst ins ellen und des kollektiven Gedächtnis- Evangelischen Stadtakademie Mün- aber dessen Frau Katharina. Rilke und Schweizer Wallis, weit weg. Flucht vor ses. Hier werden die Möglichkeiten des chen bis zum 10. Juli 2014 in der Gro- Clara Westhoff, seine Ehefrau, von der allem vor der Mutter bzw. dem Mutter- Menschen zu Sprache. Bilder des alten ßen Aula der Universität München, er die meiste Zeit getrennt lebt, weil er bild, das in seine Seele tiefe Wunden ge- Ägypten, der christlichen Tradition und Geschwister-Scholl-Platz 1, statt. Die zu viel Nähe im Alltäglichen nicht er- brannt hatte („Meine Mutter reißt mich der Moderne. Wenn ich Rilkes Dich- Vorträge beginnen jeweils donnerstags trug. Rilke und die Fürstin Marie von ein“, wird er später dichten). Rilke und tung charakterisieren soll in einem Wort, – die Feiertage ausgenommen – um Thurn und Taxis, dann auch Sidonie Nietzsche. Rilke und der Buddha, ja, dann ist es dies: Es ist eine Dichtung 18.15 Uhr. Nádherný, bis hin zu Baladine Klos- auch er. Vor allem aber: Rilke und Lou des Möglichen.

zur debatte 5/2014 41 der festen Form (bei Debussy wie bei den Pixel-Malern) – Zeit und Raum werden relativ. Einsteins Relativitätsthe- orie von 1905 ist mehr als eine physika- lische Theorie, sie drückt ein Lebensge- fühl aus. Grenzen sprengen. Aufbruch im Sinne des Abrisses alter Lebensge- bäude und im Sinne des vorwärts stür- menden Dranges zu neuen Lebensge- staltungen. Wenn es je eine Epoche der wilden Grenzüberschreitungen gab, dann waren es die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts in Paris und die 20er-Jah- re in Paris und Berlin. Am 29. Mai 1913 wurde Igor Strawinskys Ballett „Le Sac- re du Printemps“ („Das Frühlingsopfer“) in Paris uraufgeführt. Die Tumulte bei der Premiere sind Legende. Man spürte Abschied und Aufbruch mit einer Vehe- menz, die das Theater erschütterte, mehr noch: Die moderne Musik war geboren worden. In Berlin wurde auf Betreiben Max Reinhardts am 23. Dezember 1920 Arthur Schnitzlers „Der Reigen“ aufge- führt, zehn erotische Dialoge. Das Stück löste einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts aus und zog einen Gerichtsprozess nach sich. Auch hier also Durchbruch durch Grenzen und ganz neue Sichtweisen. Dem entspricht Picassos Multipers- pektivik, Kandinskys Abstraktion, Klees hintergründige Symbolik, Labans Cho- reutik, die eine neue Geometrie der menschlichen Bewegungsmuster ent- deckte. Und eben Rilkes Duineser Ele- gien. Nicht die Inszenierung des Chaos stand auf dem Programm, sondern die Suche nach tieferen, weiteren, höheren Ordnungen jenseits der christlich-euro- päisch-bürgerlichen Konvention. Dies sind auch neue Perspektiven auf Raum und Zeit, auf ein „Offenes“ jenseits die- ser beschränkten Wahrnehmungsformen, wie sie auch in der Bildenden Kunst und der Musik jener Zeit aufgebrochen wer- den, etwa im Kubismus und in der ato- nalen Musik. Multiperspektivik ist die neue ästhetische Möglichkeit. In diesem Kontext sei ausführlicher auf Wassily Kandinsky (1866–1944) verwiesen, weil an seiner Ästhetik sicht- bar werden kann, was Rilke mit seiner Foto: akg-images Dichtung versprachlicht bzw. „musikali- Diese Aufnahme zeigt Rainer Maria siert“. Kandinsky steht wie kaum ein Rilke im Jahr 1913, nur ein Jahr, anderer Künstler für die Inszenierung nachdem er seine erste Elegie auf dem der Zeitlichkeit im Vorgang des kons- Schloss Duino geschrieben hatte. truktiven Malens, und man wird Rilke vor diesem Hintergrund besser verste- hen, vor allem in der geistigen Bewe- gung von außen nach innen, wie beide sagen. Interessant ist, dass Kandinsky 1910 im Vorwort zur ersten Auflage sei- die Arbeiter. Die wandten sich ab. Das sondern der Widerspruch, die Dissonanz Alles wird in Frage gestellt und aufge- ner großen Theorieschrift „Über das Kreuz wirkte nicht mehr integrierend, unaufgelöst. Der Kunst war aufgegeben, brochen. War schon der Aufbruch in die Geistige in der Kunst“ davon spricht, sondern abstoßend, ausgrenzend. Der dies als Wahrheit herauszuschreien, weil bürgerliche Gesellschaft um 1800 eine dass eben jene Gedanken, die er in die- Mythos war gestorben. So hatte das die übrige Kultur, einschließlich der Re- kulturelle Revolution gewesen, die ei- ser Schrift entwickelt, „Resultate von Böse keinen eingehegten Ort mehr. Es ligion, so vieles verdrängte. Mir scheint, nen Beethoven ästhetische Grenzen Beobachtungen und Gefühlserfahrun- war entfesselt. Das harmonische Ganze dass diese Konsequenz eine Folge des sprengen ließ, weil ein neues Zeitalter gen“ sind, Produkte eines Erfahrungs- konnte nicht mehr sein. Die Kathedra- Schwundes der Bindekraft der Religion anzubrechen schien, so hat sich nun um prozesses also, den er selbst beobachtet. len waren bald durch Kriegsgewalt zer- des Kreuzes ist. 1900 Umwälzendes ereignet: Die Tech- Das innere Erkennen, so Kandinsky stört. Die Orgeln und Glocken schmol- Rilke urteilt selbst, dass die Elegien nik hatte die Welt beschleunigt und weiter, werde durch Literatur, Musik zen dahin im Kriegsfeuer, und der Weih- eine bestimmte „Norm des Daseins“ auf- Grenzen eingerissen. Die Gesellschaft und Kunst vermittelt, und zwar in ei- rauch verduftete unter Giftgas. Die Ord- stellen. Norm in diesem fließenden Ge- war durcheinander gewirbelt worden. nem spirituellen Sinn, der sich – so sagt nung der Welt löste sich auf, und es war webe der dichterischen Phantasien, in Jahrhunderte alte Selbstverständlichkei- er explizit – von Indien anregen lassen kein Heiland, der sie hätte glaubhaft diesem Ansetzen und Abbrechen und ten wurden brüchig. Das Leben und sei- solle. Denn dort würden trans-materiel- wieder herstellen können. Der Fort- Neubeginnen? Wo das Endliche, der ne Normen waren nicht mehr vorgege- le psychische Phänomene ernst genom- schritt zur Zivilisation, den der Kultur- Tod anzunehmen ist? Rilke will das ben, sondern mussten neu erschaffen men, systematisch entwickelt und stu- protestantismus theologisch aufgeladen „endgültige freie Jasagen zur Welt“ jen- und begründet werden. Die Perspektive diert. Dort gebe man Raum „dem nicht- hatte, konnte nur noch wie Hohn klin- seits der Gegensätze von Glück und schwand, indem der Horizont immer materiellen Streben und Suchen der gen. Karl Barths so genannte Dialekti- Unglück, Leben und Tod. Des Künstlers weiter in die Ferne rückte. Schnelles Rei- dürstenden Seele“. Kandinsky erläutert sche Theologie gab diesem Bruch wort- Maß sei „nicht die Spanne zwischen den sen rund um den Globus brachte nicht dies in einer Bemerkung über die Ein- gewaltigen Ausdruck: Christliche Bot- Gegensätzen […] Wer denkt noch, dass nur Horizonterweiterung oder Horizont- heit von Materie und Geist. schaft und Ansprüche der Kultur, ein- die Kunst das Schöne darstelle, das ein verschmelzung, sondern der Raum selbst Er schreibt: „Es ist hier oft die Rede schließlich der Religionskultur, sollten Gegenteil habe […] Sie ist die Leiden- schrumpfte. Ebenso wie die Zeit. Dabei vom Materiellen und Nichtmateriellen fortan strikt getrennt werden. Die Integ- schaft zum Ganzen.“ (Das Testament, wird die Exotik anderer Kulturen zur ei- und von den Zwischenzuständen, die ration ins Ganze hatte abgewirtschaftet. 23) Wie ist das aufrichtig möglich ange- genen Möglichkeit, zum Rückzug von „mehr oder weniger“ materiell bezeich- Dissonanz ist das, was übrigblieb. Keine sichts der zerrissenen Welt? Wir wer- einer als abgelebt empfundenen europä- net werden. Ist alles Materie? Ist alles Tonalität in der Musik, sondern eine den sehen. ischen Kultur, und zum Reiz der neuen Geist? Können die Unterschiede, die neue Ordnung der zwölf Töne, die aber Aber es ist noch etwas anderes, das die sinnlich entfesselten Rhythmen, wie sie wir zwischen Materie und Geist legen, nicht mehr zur emotionalen Beruhigung Musiker, Dichter, Maler, Bildhauer und sich in orientalischen Klängen zu ver- nicht nur Abstufungen der Materie sein einladen konnte. Keine Farb- und For- Tänzer um die Jahrhundertwende und wirklichen schienen. Ob nun die Zeit oder nur des Geistes? Der als Produkt menkomposition, die die Gegensätze dann bis in die 20er-Jahre des 20. Jahr- zum Raum wird, wie in Wagners Parsifal, des „Geistes“ in positiver Wissenschaft ausglich, keine coincidentia opposito- hunderts hinein bewegt: die Loslösung oder der Raum zur Zeit, wie vielleicht im bezeichnete Gedanke ist auch Materie, rum (Zusammenfall der Widersprüche), von konventionellen Begrenzungen. impressionistischen Auflösungsprozess die aber nicht groben, sondern feinen

42 zur debatte 5/2014 Rilke) mit Metaphern der Reinigung, geradezu ersatzreligiös aufgeladen, be- grüßten. Zeitweilig jedenfalls. Es wurde „Nacht über Europa“, wie Ernst Piper seine erschütternde Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs benennt. Nicht die ersehnte romantische Nacht der Liebe und Inkubation, wie von Novalis’ Hymnen an die Nacht bis zu Nietzsches Mitternachtslied im Zarathustra, son- dern die Nacht, in der die Geisteslichter ausgingen und Millionen Menschen ihr Leben verloren. Kein Neuanfang, son- dern Ende. Franz Marc, der anfänglich Begeisterte (wie übrigens auch der Ma- ler August Macke), weil er Erneuerung des Erstarrten, Reinigung des Verkom- menen erhoffte, sprach vom „europäi- schen Bürgerkrieg“, einem „Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des eu- ropäischen Geistes“. 1916 fiel der junge, hochbegabte Maler des Expressionis- mus an der Front, der mit seinen Freun- den im „Blauen Reiter“ das umzusetzen versuchte, was Rilke in den Duineser Elegien begonnen hatte und fortsetzte: eine Verwandlung des Geistes durch neues Sehen, durch eine Innenschau, eine Befreiung von den äußeren For- men und Konventionen. Doch dieser Reiter entpuppte sich im Krieg als apo- kalyptischer Reiter des millionenfachen Massentodes. Auch die Sprache – sie war erstickt im Propagandagetrommel Foto: akg-images der Massenmedien und dichterischen Das Schloss von Duino in einer aktu- Verbiegungen, die den Krieg und den ellen Aufnahme. Duino liegt in der Heldentod als Sinn des Lebens verkün- norditalienischen Region Friaul-Julisch- deten. Eine Evangelisierung des Wahn- Venetien, hoch über der Adria. sinns. Befreiung hatte der Geist des 19. Jahrhunderts gewollt, Sklaverei war ge- kommen. Der Befreite war zum Gefrei- ten mutiert.

V. Die Duineser Elegien Sinnen fühlbar ist. Was die körperliche IV. Untergang und Aufbruch – sollte diese Dynamik aber auch in den Hand nicht betasten kann, ist das Aufbruch und Zusammenbruch Kontext der politischen Zeitgeschichte Das also ist der Raum, in den Rilke Geist?“ stellen. Eine Zeit des nationalistischen seine Elegien hinein dichtet. Rilke hat Indien hat für diese Realitätsebene Man kann diese Entwicklungen religi- Furors, der sich vor genau 100 Jahren in damit 1912 auf Schloss Duino begon- das Konzept vom subtilen Körper, ons- und geistesgeschichtlich deuten als der Katastrophe schlechthin entlud, im nen, dann wurde die Arbeit fast ganz un- sukshmasharira, entwickelt. Kandinsky Emanzipation neuer Formen, Techniken Ersten Weltkrieg, die viele (auch Litera- terbrochen für zehn Jahre. Die Unrast, kannte nicht die Details, aber er hat, und Darstellungsmöglichkeiten. Man ten und bildende Künstler, einschließlich der Krieg, Zweifel ließen Rilke nicht zur angeregt auch durch die Theosophie, Ahnungen entwickelt. Das Medium der Inszenierung dieser Realität sind bei ihm Farben, Formen, Klänge, auch Farb-

Es ist nicht ein Heiliges jen- seits der konkreten Form, sondern das Wesen der Form in ihrer Gestaltungs- kraft. klänge, aber die Strukturen des Prozes- ses liegen im Erkennen, und zwar im Erkennen des Zusammenhangs, wo ein Element seine Identität aus dem je an- deren gewinnt. Dieser unendliche Bezug (wie Rilke sich ausdrückt) ist, so scheint mir, dem nicht unähnlich, was in den indisch-buddhistischen Traditionen Leerheit genannt wird: Nichts ist aus sich selbst, sondern abhängig von allen anderen Erscheinungen. Wir werden das in den Elegien-Texten aufspüren und erläutern. Es ist nicht ein Heiliges jenseits der konkreten Form, sondern das Wesen der Form in ihrer Gestal- tungskraft. Ist es das, was Rilke mit dem „reinen Bezug“ meint? Hat des Bud- dhas Einsicht oder Kandinskys Intuiti- on von der feinstofflichen Energie in und hinter allem, der Zusammenhang im wechselseitigen Entstehen und Ver- gehen aller Erscheinungen, bei Rilke ein dichterisches Echo hinterlassen, so dass Foto: Wikipedia wir viele seiner Sprach-Bilder neu lesen Ludwig Rubelli von Sturmfest – vor und betrachten können? Ich möchte allem bekannt durch seine Darstellung dies bejahen und werde die Begründung der Seeschlacht von Lissa – malte bei der Interpretation vor allem der Schloss Duino Ende des 19. Jahrhun- 8. Elegie geben. derts.

zur debatte 5/2014 43 ISSN 0179-6658

Ruhe kommen. Im Februar 1922 über- schrecklich zugleich. Bestimmt und un- kommt ihn im Château de Muzot die bestimmt, und über die Strecke der Ele- Inspiration, er vollendet das gesamte gien hinweg facettenreich vielsagend. Werk in wenigen Tagen, zeitgleich die Alles das will den Bezug ins „Offene“ Sonette an Orpheus. Zweimal, vor der ermöglichen. Sprache, die sich selbst auf- Inspiration von 1912 und dann vor der hebt. Das aber ist der Gestus des Mysti- Fortsetzung und Vollendung 1922, er- kers. Kann Rilke so gedeutet werden? lebt sich Rilke in niedergeschlagener, hilfloser Einsamkeit. Er fühlt sich un- VI. Die Metapher der Nacht – produktiv „wie etwa ein Gelähmter […], Neuschöpfung und Unendlichkeit der nicht einmal mehr die Hand geben kann“ (Brief an Lou Andreas-Salomé Das Bild der Nacht ist für Rilke zent- vom 10. Januar 1912). Dann kommt ral. Die Nacht als Zeit des Windes vol- plötzlich die Inspiration über ihn, wie ler Weltraum (1. und 2. Elegie), die ein Sturm. Rilke kannte tiefere spirituel- Nacht der Sterne (besonders in der 7. le Erfahrungen, die man oft unter der und 10. Elegie), die Gefahren der Nacht nicht unumstrittenen Rubrik der „mysti- (3. Elegie). schen Erfahrungen“ zusammenfasst, de- Religionsgeschichtlich steht die Nacht ren herausragende und am besten doku- als Metapher für das Dunkle mensch- mentierte das „Erlebnis“ von 1912 in licher Existenz, verbunden auch mit Duino ist, niedergeschrieben zuerst dem Geburtsschmerz. Sie kann als Göt- 1913, veröffentlicht dann fünfmal, zu- tin auftreten, wie in Homers Ilias, die erst 1919. auch Zeus, der Gott des Tages, zu res- Rilke selbst misst dieser Aufzeich- pektieren hat. Persephone wird in die nung größte Bedeutung bei und schreibt, Nacht der Unterwelt geschickt, um bis dies sei „die intimste, die ich je aufge- zum Frühlingserwachen in den Tiefen schrieben habe“. Wir werden darauf im des Hades zu trauern. Die Nacht ist der Zusammenhang mit der 1. Elegie zu- Beginn des Neuen: In der Heiligen rückkommen. Seine Beschreibung des Nacht wird der Erlöser geboren. Im in- Der Vortragssaal war mit rund 450 Ereignisses der Dichtung bei der Fort- dischen Mythos ist pralaya, der Zwi- Personen sehr gut gefüllt. setzung und Vollendung der Elegien schenzustand zwischen einem Weltun- zehn Jahre später im Muzot in einem tergang und der Entstehung eines neuen Brief an Lou Andreas-Salomé (11. Feb- Universums, eine dunkle und kalte ruar 1922) liest sich so: „Alles in ein Nachtzeit, die gleichwohl den Keim des paar Tagen. Es war ein Orkan, wie auf Neuen in sich trägt. Duino damals: alles, was in mir Faser, Einer der grundlegenden Texte für Geweb war, Rahmenwerk, hat gekracht die romantische Nacht-Metaphorik im 6. Und alle sind, wie wir beglückt, sum mit multiplen Welten, die bewohnt und sich gebogen.“ gesamten 19. Jahrhundert sind die und Gottes Vaterauge blickt sind, in Gottes gütiger Hand ruhen. All- Was ist das Thema der Elegien? Trotz „Hymnen an die Nacht“ von Novalis auf alle gütig, wie auf uns, versöhnung, die sich nicht nur auf diese der Vielschichtigkeit, der subtilen Bezü- (1800), die wiederum in den Überliefe- und sorgt für alle, wie für uns. unsere Welt beschränkt. Relativierung ge und unendlich schillernden Meta- rungen der Mystik und des Pietismus der menschlichen Raumzeit, und gerade phern lässt sich doch ein Tenor heraus- wurzeln. Die Nacht ist der sakrale 7. Gott! Wie groß erscheinst du hier dadurch das Gefühl des Erhabenen, das schälen, der freilich nicht erst in den Raum der Initiation, Sinnbild des Un- im Staube? Worte fehlen mir, schweigend anzubeten ist. Das Unendli- Duineser Elegien vernehmlich wird, endlichen und Umfassenden, Zeugen- womit ich dich lobpreisen kann, che als fühlbarer Rausch, wie er auch in sondern schon im Malte, ja im Stunden- den wie Gebärenden. Rilke ist davon die Seele betet schweigend an! Schillers „Ode an die Freude“ und bei buch angelegt erscheint: Es geht um die zutiefst geprägt. Beethoven anklingt. Das schwingt bei Vergeistigung der endlichen Dingwelt, Seit Kant und über die gesamte Ro- Der „heilge Schauer“ und die Ahn- Rilke nach. „ in der sie ihre subtile, endgültige, zeit- mantik hinweg bis zu Nietzsche kommt dung göttlicher Gegenwart im grenzen- freie Gestalt findet. der „gestirnte Himmel“ mit seiner un- losen Raum verbinden sich mit der Der gesamte Zyklus der Vorlesungen Um die Bewältigung des Endlichen endlichen Tiefe und Weite hinzu. Sym- Heilsgewissheit, dass nicht nur dieser erscheint im Frühjahr 2015 als Buch und des Todes. In dem unendlichen Be- bolischer Raum der erhabenen Größe. Erdenball, sondern das ganze Univer- voraussichtlich bei Herder. zug, so Rilke, in der Überwindung von Dieses Sentiment – eine Verknüpfung Denk- und Sprachgrenzen durch eine aufklärerischen Geistes und frühroman- zunächst imaginierte, dann existenziell tischer Empfindsamkeit – findet sich eingeübte neue Geisteshaltung des Los- nicht nur bei Dichtern von Matthias lassens ins Offene, wird diese Transfor- Claudius bis hin zu Rainer Maria Rilke. mation besungen. Alle Fixierung – sei Es ist auch Inbegriff der allgemeinen sie mentaler, psychischer, materieller Frömmigkeitsgeschichte, die sich sogar Art –, jede Gier nach Ego-Perspektive in den amtlich bestätigten Gesangbü- und Besitz soll aufgegeben werden, so chern für das Untertanen-Volk nieder- dass eine poetisch-visionäre Freiheit schlägt. Und an der Rilke trotz allen entsteht, die das Leid durch Akzeptanz Abstandes zum Kirchenchristentum er- integrieren kann. Eine besitzfreie Liebe, heblichen Anteil hat. Ein ergreifendes die einen Weltinnenraum ohne Gren- Beispiel habe ich gefunden als Nr. 76 zen eröffnet. Man kann dies als Bewälti- des Buches „Christliche Religions-Ge- gung des Umbruchs der Epoche lesen. sänge für die öffentliche und häusliche Es ist aber mehr. Es ist auch der Ver- Gottesverehrung, gesammelt von dem such, die Gegensätze zu vereinen, die geistlichen ministerio des Danziger Freud in der Analyse des Unbewussten Freistaates“, gedruckt 1810: aufgezeigt hat, die Gegensätze von Eros und Thanatos, von Sehnsucht nach Lie- 1. O Sternennacht! O Silberlicht, be und Aggression. Oder der Versuch, das durch die dunklen Wolken bricht! das menschliche Potenzial zu beschrei- O Bild, von dessen Herrlichkeit, ben, das als Aufgabe ansteht – hier der jene Sterne hingestreut! spannt sich der Bogen von Nietzsches „Übermensch“ zu Rilkes „Engel“. Als 2. Ein heilger Schauer überfällt mich, Versuch, die Spaltung von Immanenz nie empfundne Ahndung schwellt und Transzendenz im Augenblick der den Busen und mein Auge starrt! Rühmung des Gegenwärtigen aufzuhe- Ich fühle Gottes Gegenwart. ben, denn die Rühmung des Hiesigen, wie sie die Sonette an Orpheus bestimmt, 3. Ich sehe keine Sterne mehr, nein! ist hier in den Elegien grundgelegt. Lauter Welten um mich her; Rilkes gebrochener Sprachrhythmus Es strebt und forscht der kühne Sinn in den Elegien entspricht diesem Inhalt: durch alle diese Welten hin. Wortgruppen werden auseinander geris- sen und ganz ungewöhnlich kombiniert, 4. Ich schweb im grenzenlosen Raum Professor Michael von Brück (li.) die Syntax zerbricht. Sprachbilder wer- Der Schöpfung; als ein Lichtpunkt zusammen mit seinem Bayreuther den multiperspektivisch ineinander ge- kaum Kollegen Prof. Dr. Ulrich Berner, der an setzt, eine Technik, die an kubistische erscheint nun unser Erdenball der dortigen Universität Religionswis- Malerei erinnert. Und das „Wer“ der mir in dem großen Schöpfungsall. senschaft lehrt. ersten Elegie, das poetische Ich und das ganz distanziert distanzlose „Wir“ blei- 5. Durch Millionen Welten flieht ben unbestimmt. Der Engel ist die mys- Voll Staunen jetzt mein Geist, teriöse Figur, die ihr Angesicht verhüllt und sieht in jeder, wie in unsrer Welt, und zugleich öffnet, herrlich und von Gott Bewohner aufgestellt.

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