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• BLICKE AUF SCHUMANN •

Ulrich Tadday Zum Wandel des Schumann Bildes

ls mit Gründung der Antichromatiker, auf der Linken die Jünglinge, A»Neuen Zeitschrift für Musik« die musik- die phrygischen Mützen, die Formenverächter, publizistische Bühne betritt, sorgt er durch einen die Genialitätsfrechen, unter denen die Beetho- forschen, energischen Auftritt für öffentliches vener als Classe hervorstechen. Im Juste-Milieu Aufsehen. Er schlägt kritische Töne an, indem schwankt Jung und Alt vermischt. In ihm sind er den Lesern seiner Zeitschrift »Zur Eröffnung die meisten Erzeugnisse des Tages begriffen, die des Jahrganges 1835« unmissverständlich erklärt: Geschöpfe des Augenblicks, von ihm erzeugt »Das Zeitalter der unnützen Complimente geht und wieder vernichtet«.2 Unterstellen zu wollen, nach und nach zu Grabe; wir gestehen, daß wir Schumann habe als Musikkritiker insgeheim po- zu seiner Neubelebung nichts beitragen wollten… litische Absichten verfolgt, wäre verquer, verfehlt Wir kennen die Sprache wohl. Mit der man über wäre es aber auch in den politischen Vokabeln,

unsere heilige Kunst reden müßte – es ist die des mit denen er seine musikästhetischen An- und SCHUMANNBLICKE AUF Wohlwollens; aber beim besten Willen, Talente Absichten von Mal zu Mal verkleidet und ver- wie Nichttalente zu fördern oder zurückzuhalten, k auf t , nu r ei ne st i l ist ische At t it üde zu sehen. Den n g e ht e s k au m – woh l wol l e n d . I n d e r k u r z e n Z e it u n - Schumanns »Neue Zeitschrift für Musik« erhebt seres Wirkens haben wir mancherlei Erfahrungen einen programmatischen Anspruch, der sich ro- gemacht. Unsere Gesinnung war vorweg festge- mantisch revolutionär zu verstehen gibt und das stellt. Sie ist einfach, und diese: die alte Zeit und radikale Ziel verfolgt, den Zopf der alten Kritik, ihre Werke anzuerkennen, darauf aufmerksam zu deren Organ die »Allgemeine Musikalische Zei- machen, wie nur an so reinem Quelle neue Kunst- tung« ist, abschneiden zu wollen, nicht zuletzt um schönheiten gekräftigt werden können, – sodann auch Schumanns eigenen Klavierkompositionen die letzte Vergangenheit als eine unkünstlerische öffentliche Geltung zu verschaffen. zu bekämpfen, für die nur das Hochgesteigerte 1834/35, zu der Zeit als die Kritik über Kal- des Mechanischen einigen Ersatz gewährt habe liwodas »Ouvertüren« erscheint, ist Schumann – endlich eine neue, dichterische Zukunft vorzu- mehr als Herausgeber der »Neuen Zeitschrift für bereiten, beschleunigen zu helfen.«1 Musik«, weniger – wenn überhaupt – als Kom- Schumann spricht hier zu seinen Lesern wie ponist öffentlich bekannt. An gezählten Werken ein Dichter des Jungen Deutschland und er lässt sind bis dato: die »Abegg-Variationen« op. 1, die die »Neue Zeitschrift für Musik« auf musikästhe- »Papillons« op. 2, die »Studien nach Capricen von tischem Gebiet so engagiert erscheinen wie ein Paganini« op. 3, die »Intermezzi« op. 4, die »Im- Organ des Vormärz, wenn er beispielsweise Jo- promptus über eine Romanze von Clara Wieck« hann Wenzel Kalliwodas (1801–1866) »Ouvertü- op. 5, die »Toccata« op. 7, das »Allegro« op. 8 ren« in die politische Parteienlandschaft der Zeit und die »Sechs Konzert-Etuden« op. 10 erschie- einordnet: »Die Gegenwart wird durch ihre Par- nen. Noch nicht erschienen sind beispielsweise teien charakterisirt. Wie die politische kann man die »Davidsbündlertänze« op. 6, der »Carneval« die musikalische in Liberale, Mittelmänner und op. 9, die »Fantasiestücke« op. 12, die »Kreisleria- Legitime oderLESEPROBE in Romantiker, Moderne und Clas- na« op. 16 oder die »Fantasie« op. 17. Am Ende der siker theilen. Auf der Rechten sitzen die Alten, die 1830er Jahre wird sich die musikalisch interessier- Contrapunktler, die Alter- und Volksthümler, die 2 Robert Schumann, Kalliwoda, 1. Ouverture à grand Orchestre. Oe. 38. 2. Ouvert. Oe 44. á 2 Rthlr. – Dieselben zu vier Händen 1 Robert Schumann, Zur Eröffnung des Jahrganges 1835, in: à 16 gr. – Leipz., Peters.« in: Neue Zeitschrift für Musik 1 (1834) Neue Zeitschrift für Musik 2 (1835) 1, S. 3. 10, S. 38.

© DIE TONKUNST, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 323 • THEMA •

Peter Ward Jones Mendelssohns Blick auf Schumann

obert Schumann left for posterity a result of the disruptions of World War II. One Rconsiderable legacy of information on Felix major lacuna was made good in 2009 with the Mendelssohn, principally through his ten-year publication within the Schumann »Briefedition« of period of act ivit y as editor of the »Neue Zeitschrift the complete »Briefwechsel« of Robert and Clara für Musik« (1834–44), his correspondence, diaries, Schumann with members of the Mendelssohn and not least the set of notes headed »Erinnerungen family. The comprehensively annotated edition an F. Mendelssohn vom Jahre 1835 bis zu s. Tode«, includes an excellent introduction exploring written down within about a year of Mendelssohn’s many aspects of the relationship of Mendelssohn early death in 1847, notes which Schumann with the Schumanns’2. Although many letters are intended to turn into a book1. Taken together, published for the first time in this edition, it has to they provide a view of one nineteenth-century be admitted that they do not greatly increase our composer on another which was quite exceptional knowledge of Mendelssohn’s view. Nevertheless, for the period. Having a wealth of information on consideration of the various bits of evidence of all one side of the relationship, it is perhaps natural types does enable some reflexions to be offered, to seek for the equivalent on Mendelssohn’s part, which will be explored here. especially considering that he was an assiduous Although biographies have tended to point up correspondent. But such expectations meet with the contrasts between the lives of Mendelssohn disappointment, for in truth we know far less and Schumann, they had much in common of what Mendelssohn thought about Schumann in their background and early years, even if and his music. This should not really surprise Schumann in 1838 wrote to Clara in reference to us, for the two composers were very different Mendelssohn that »In ähnlichen Verhältnissen in character, no more so than when it came to wie er aufgewachsen, von Kindheit zur Musik expressing themselves in writing. Schumann, bestimmt, würde ich Euch sammt und sonders notably taciturn in company, stands in contrast to überflügeln – das fühle ich an der Energie meiner the normally sociable Mendelssohn, but whereas Erfindungen«3. Although the Zwickau book Schumann wrote freely and copiously on musical business of Schumann’s father, August, could matters, Mendelssohn distrusted such writing, and not compare with the Mendelssohn family’s even his letters rarely touch on fellow composers. banking establishment, it was sufficiently In this respect Mendelssohn was the more typical prosperous to ensure that Robert was brought up of the two, for composers before the twentieth in a comfortably off household. Both composers century have rarely had much to say about their received the standard German classical education contemporaries. (even if Mendelssohn’s was mostly in the hands A true assessment of the evidence, or the of private tutors) and as a teenager Schumann lack of it, has been hindered until recent times like Mendelssohn was to produce German verse by the inaccessibility of key sources for both translations from Greek and Latin purely for MendelssohnLESEPROBE and Schumann studies, partly as a pleasure. Both were encouraged in their early 1 Robert Schumann: Erinnerungen an Bart- 2 Robert und im Briefwechsel mit der Familie Men- holdy, Faksimile-Ausg. mit Transkription, hg. von Georg delssohn, hgg. von Kristin R. M. Krahe, Katrin Reyersbach Eismann, Zwickau 1947; rev. Transkription als Aufzeich- und Thomas Synofzik, Köln 2009 (= Schumann Briefe- nungen über Mendelssohn, hgg. von Heinz-Klaus Metzger dition, Serie II Bd. 1). und Rainer Riehn, in: Felix Mendelssohn Bartholdy (= Mu- 3 Brief vom 13. April 1838, gedruckt in: Robert Schumann. Ju- sik-Konzepte 14/15), München 1980, S. 97–122. gendbriefe, hg. von Clara Schumann, 1885, S. 285.

© DIE TONKUNST, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 328 • THEMA •

Knud Breyer Von komponierten Briefen und bösen Menschen. Das Verhältnis Theodor Kirchners zu Robert Schumann

heodor Kirchner lernte Robert Schumann In sein Tagebuch notiert er aber von dem Besuch Tim Oktober 1837 in Leipzig kennen. In Be- am 17. Oktober 1837, dass Kirchner »noch nicht gleitung seines Vaters war der damals Dreizehn- viel kann«2. Im Laufe des Oktobers und Novem- jährige bei Schumann vorstellig geworden, um bers 1837 kommt es, wie Schumanns Tagebuch sein musikalisches Talent begutachten zu lassen. ausweist, noch zu weiteren Treffen. Da aber Jo- Früh war dem Vater, einem Dorf- und Kirch- hann Gottfried Kirchner im darauf folgenden schullehrer, die musikalische Neigung seines am Frühjahr bei der erneuten Vorstellung seines 10. Dezember 1823 in Neukirchen bei Sohnes nicht Schumann, sondern Felix Mendels- Erstgeborenen aufgefallen und nach Kräften un- sohn und den Thomaskantor Christian Theodor terstützt worden. Zu Kirchners frühester musika- Weinlig als Gutachter wählt, könnte auf gewisse lischer Prägung dürfte das Orgelspiel des Vaters Vorbehalte gegen Schumann geschlossen werden. gezählt haben, der ab 1826 in Wittgensdorf bei Allerdings empfehlen nun nicht nur Mendelssohn Chemnitz eine Kirchschullehrerstelle innehatte, und Weinlig die Musikerkarriere für den jungen die auch das sonntägliche Orgelamt umfasste. Kirchner und vermitteln den Unterricht bei dem Johann Gottfried Kirchner nahm seinen Sohn Leipziger Nicolai-Organisten Carl Ferdinand aber auch mit zu Konzert- und Opernbesuchen Becker sowie bei Julius Knorr, auch Schumann in Chemnitz. Seinen ersten geregelten Musikun- konstatiert Fortschritte und nennt Kirchner nun terricht erhielt Theodor Kirchner in Oederan, wo ein »bedeutendes Talent«3. er als ältestes von 12 Kindern wegen der häus- Während seiner Leipziger Ausbildungs- lichen Enge bei Verwandten lebte, die spätere zeit, die, unterbrochen durch den Unterricht bei Ausbildung erfolgt in Chemnitz. Hier besucht Johann Gottlob Schneider in in der zwei- Kirchner die Bürgerschule und erhält im Hause ten Jahreshälfte 1842, in der Einschreibung am des Musikdirektors Stahlknecht Unterweisung in von Mendelssohn 1843 gegründeten Konservato- den Grundlagen der Musiktheorie. Erste Kom- rium mit einem königlichen Stipendium gipfelt, positionsversuche werden bereits im Alter von hatte Kirchner intensiveren Kontakt zu Robert sieben Jahren unternommen, und den Achtjähri- und Clara Schumann, und die begeisterten Äuße- gen stellt man dem Dresdner Hoforganisten Jo- rungen Robert Schumanns zeigen, wie sehr sich hann Gottlob Schneider vor. Während dieser, wie dieser nun Kirchners annahm. Bereits 1840 listet auch die Zuhörer dieses Zusammentreffens, die Schumann Kirchner in seiner Aufzählung: »junge meinen, Schneider selbst spiele die Orgel, von der Talente und junge Leipziger Komponisten n.[ach] Leistung des Jungen beeindruckt ist, fällt das Ur- meinem Sinn«4 und nennt ihn 1843 »das bedeu- teil Robert Schumanns kritischer aus. Zwar erin- tendste productive Talent von allen«5 Studenten nert er sich später: »ich kenne ihn [Kirchner], wie des Leipziger Konservatoriums. er noch ein achtjähriger [sic!] Bursche war, wo er, von seinem Vater begleitet, ein gutes Examen bei 2 Robert Schumann: Tagebücher, hg. von Gerd Nauhaus, mir bestandLESEPROBE aus einem Bach’schen Choralbuch, Bd. II (1836–1854), Leipzig 1987, S. 39. das ihn sehr in Verwunderung zu setzen schien«1. 3 Ebd., S. 57. 4 Zit. nach: Hofmann, Clara Schumanns Briefe an Theodor Kirch- 1 Robert Schumann an Hermann Rollet am 7. Februar 1854, ner, (wie Anm. 1), S. 10. zit. nach: Renate Hofmann: Clara Schumanns Briefe an The- 5 Brief vom 19. Juni 1843 an Hermanus Verhulst. Robert odor Kirchner mit einer Lebensskizze des Komponisten, Tutzing Schumann, Briefe. Neue Folge, hg. von F. Gustav Jansen, 1996, S. 15. Leipzig 21904, S. 230.

© DIE TONKUNST, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 336 • THEMA •

Robert W. Eshbach Schumann as Mentor: Joseph Joachim’s »Blick auf Schumann« For my Father, John Robert Eshbach

I – Sub Alis Altissimi Joseph had been born into the Jewish merchant class. His father, Julius Joachim, a sober, modestly »In einer Abendgesellschaft bei Mendelssohn successful wool merchant, viewed his son’s hatte dieser mit Joachim die Kreutzersonate occupation from his own accustomed perspective, von Beethoven gespielt. Nach der Musik nahm as the business of giving concerts. The profession die Gesellschaft in zwangloser Weise an kleinen of buying and selling commodities had not always Tischen das Abendbrot ein. Joachim fand sein been kind to Julius, and his letters make clear that Unterkommen an einem Tischchen, an dem he viewed his son’s extraordinary gift for music as Schumann saß. Es war Sommerzeit, und durch die a preferred alternative to a life spent in the wool- weitgeöffneten Fenster sah man den mit unzähligen room and the counting-house. When his personal Sternen besäten Nachthimmel. Da berührte fortunes were at their lowest ebb, Julius sent his Schumann, der lange schweigsam dagesessen hatte, 8-year-old, youngest son to Vienna to be trained leise das Knie seines kleinen Nachbarn, und mit as a virtuoso3. For many years thereafter, the der Hand auf den Sternenhimmel deutend, sagte er concern of the extended family, often anxiously in seiner unnachahmlich gütigen Weise: ›Ob wohl expressed, seemed to center on how their prodigy da droben Wesen existieren mögen, die wissen, might achieve security and renown as a performer wie schön hier auf Erden ein kleiner Junge mit and composer.4 Mendelssohn die Kreutzersonate gespielt hat1?‹« Amidst these worldly concerns and family The tale varies somewhat from telling to telling pressures, the taciturn Schumann’s gesture to the – Edith Sichel recalled the event as following a heavens5, his quiet reference to the success of a little performance of the Beethoven Concerto. Be that boy, not in terms of careerist ambitions, parental as it may, for Joachim this encounter was clearly of seminal significance: »Fifty years afterwards he 3 Joseph Joachim was the seventh of eight children. The loved to tell the story, in his vivid way, acting the name and fate of the youngest child are unknown, and gesture, recalling the tones which the years had not it seems likely that the youngest child did not survive dulled for him,« Sichel writes2. childbirth. The kindly smile, the warmth of Schumann’s 4 See, for example, Ferdinand David’s June 17, 1844 letter to Mendelssohn: »Daß Joachim so sehr gefallen hat, hat voice – these were among Joachim’s earliest, mir viel Freude gemacht; der Himmel gebe ihm Ausdauer indelible, impressions of his future mentor. The und Gesundheit, und ein ganz prächtiger Künstler muß hand on his knee, the gesture toward heaven daraus werden, nur sollten seine Verwandten etwas we- and the poetic reference to otherworldly beings niger vorsichtig und vernünftig sein, es scheint mir et- would have come as an unfamiliar – though not was übertrieben, wie da hin und her überlegt wird, was wohl jetzt das Beste für ihn wäre, und wenn man ihnen unwelcome – gesture of intimacy to a boy who, hundertmal gesagt hat, daß sie ihn ruhig weiter studiren for the lastLESEPROBE five years, had been raised under the lassen sollen, so scheinen sie doch lieber hören zu wollen, rigid regime of a succession of strict taskmasters. daß man ihn je eher je lieber nach Paris und in alle Welt schicken möchte.«, Julius Eckhardt: Ferdinand David an die 1 Andreas Moser: Joseph Joachim, Ein Lebensbild, vol. 1, Berlin Familie Mendelssohn-Bartholdy, Leipzig 1888, p. 216. 1908, p. 72. 5 For Schumann’s interest in the stars at around this time 2 Edith Sichel: Joseph Joachim – A Remembrance, in The Living in his life, see: Gerd Nauhaus: Schumann und die Sterne, in Age, vol. 254 (1907), p. 694. Schumann Studien 3/4, Köln 1994, pp. 174–178.

© DIE TONKUNST, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 352 • BLICKE AUF SCHUMANN •

Dean Cáceres Der »innig verehrte Schwager« Robert Schumann und Woldemar Bargiel

»Sie werden mir zugestehen, dass man nicht erst verwunderlich, dass Bargiel sich stilistisch zunächst Schumanns Schwager zu sein braucht, um in stark an Schumann orientierte, wurde dieser doch ihm den großen Künstler und ausgezeichneten zum Mitglied seiner Familie, als er zwölf Jahre alt war. Menschen zu ehren. Es ist mir von jeher Über Bargiels Schaffen setzten divergierende Urteile unbegreiflich gewesen, daß, wer was in der schon zu Lebzeiten ein, post mortem verblasste der Musik leisten will, Schumanns Grundansichten Ruf des Komponisten schnell. Die Kritik stufte ihn sein muß, und sich den Namen Schumannianer häufig als Epigone oder Eklektizist ein – dies Urteil wohl gefallen lassen kann. Sch.[umann] war in mancherlei Hinsicht ungerechtfertigt.3 war nach Beethoven der erste, der innere Gilt Robert Schumann als Hauptvertreter der Seelenzustände in der Musik in ihrer großen deutschen Hochromantik in der ersten Hälfte des Mannigfaltigkeit auszudrücken suchte, und sie 19. Jahrhunderts, so entstanden etwa zwei Drittel zum Kern nahm, die Form nach ihnen bildend der Kompositionen Woldemar Bargiels zwischen […] Es ist wohl klar, welcher Richtung zu folgen 1848 und 1864. Damit gehört der 18 Jahre Jüngere ist, und in welcher jede Eigen-thümlichkeit sich neben der Übergangsgeneration am freiesten bilden kann.«1 der Jahrhundertmitte an, die sich in Progressive und Konservative aufspaltete. Es sei an dieser Stelle ies Zeugnis musikalischer und menschlicher erwähnt, dass Bargiel eine nicht unerhebliche Rolle DVerehrung Robert Schumanns stammt aus der im Manifest der Brahmsianer gegen die Neudeut- Feder des ambitionierten Komponisten, Dirigenten schen spielen sollte, ein Umstand, der bisher von und Pädagogen Woldemar Bargiel (1828–1897), der der Forschung nicht berücksichtigt wurde. Offen- als Halbbruder Clara Wiecks in einem engen ver- bar war der Vorschlag zu einem öffentlichen Vorge- wandtschaftlichen Verhältnis zu Schumann stand. hen gegen die Neudeutschen von Bargiel angeregt Bargiel weckt ein zweifaches Interesse, im Kontext worden, der bereits vier Jahre vor dem Erscheinen der Schumann-Forschung und als eigenständige des berühmten Manifests am 6. Mai 1860 in der Musikerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Seine Berliner Musikzeitung »Echo« versucht hatte, Jo- Musikerlaufbahn begann mit einem fulminanten seph Joachim von diesem Schritt zu überzeugen.4 Studienabschluss, denn das Oktett op. 15a war in Die Verknüpfungen der Familien Bargiel und den »Signalen für die musikalische Welt« euphorisch Schumann waren verzweigt und vielschichtig. Fried- rezensiert worden. Bald darauf rechnete Schumann rich Wieck hatte sich mit Adolph Bargiel, dem Vater ihn in der Fußnote seines Artikels »Neue Bahnen«2 zu Woldemars, in Jugendzeiten in einer gemeinsamen einem bedeutenden Nachwuchskünstler. Es ist kaum Hauslehrerposition bei Baron Seckendorff auf dem Rittergut Zingst in Querfurth, befreundet und von 1 Brief Woldemar Bargiel an Elisabeth Werner, Berlin, 17. August 1855, in: Eine Musikerfamilie im 19. Jahrhundert: Vorboten wären hier auch Niels W. Gade, K.A. Mangold, Mariane Bargiel, Clara Schumann, Woldemar Bargiel in Briefen Robert Franz und St. Heller zu nennen.« Robert Schu- und Dokumenten, hgg. von Elisabeth Schmiedel u. Joachim mann , Neue Bahnen, in: Gesammelte Schriften über Musik und Draheim,LESEPROBE München [u. a.] 2007, S. 187. Musiker von Robert Schumann , hg. von Martin Kreisig, Leip- 2 In der Fußnote benannte Schumann die betreffenden zig 51914, Bd. 2, S. 301f. und ebd., FN S. 470. Künstler: »Ich habe hier im Sinn: Joseph Joachim, Ernst 3 Vgl. Dean Cáceres: Das Echte und Innerliche in der Kunst. Der Naumann, Ludwig Norman, Woldemar Bargiel, Theodor Komponist, Dirigent und Pädagoge Woldemar Bargiel (1828–1897) Kirchner, Julius Schäffer, Albert Dietrich, des tiefsin- (= Abhandlungen zur Musikgeschichte 17), Göttingen nigen, großer Kunst beflissenen geistlichen Tonsetzers 2008. F. E. Wilsing nicht zu vergessen. Als rüstig schreitende 4 Vgl. ebd., S. 58f.

© DIE TONKUNST, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 367 • THEMA •

Michael Struck Nähe und Distanz Robert Schumann in Johannes Brahms’ Sicht

I – Brahms, Schumann und die zertbetriebs als Schumann, doch teilte er dessen musikalische Vergangenheit: Streiflichter Hang zur öffentlichen musikpublizistischen Wirk- samkeit nicht. Erlebte und katalysierte Schumann Historisch-kulturgeschichtlich betrachtet, scheinen die Anfänge des Parteienstreites zwischen angeblich die Komponisten Robert Schumann und Johannes ›Konservativen‹ und vorgeblich ›zukunftsfähigen‹ Brahms in einem heiklen Generationenverhältnis Fortschrittlichen (die die aus Schumanns Händen zu stehen. Selbst wenn man das hehre Beispiel der übernommene »Neue Zeitschrift für Musik« teils Generationenfreundschaft Haydns und Mozarts im durch Zuspitzung, teils durch Trendwenden zu ih- Auge hat, lässt sich bei einer solchen Konstellation rem ästhetisch-musikpolitischen Hauptmedium ge- in der Regel eine bewusste, starke Emanzipations- macht hatten), so gestaltete Brahms die Zuspitzung bewegung des Jüngeren von Kunstästhetik und jener Auseinandersetzung um 1860 mit, erlebte -pragmatik des Älteren erwarten. Schumann – im aber auch noch die Abschwächung ihrer musikhis- persönlichen Kontakt meist auffallend introvertiert, torischen Wirksamkeit. als Musikschriftsteller und Komponist indes in die Fast verwunderlich erscheint es zunächst, Öffentlichkeit wirkend – rettete als Vormärzler und dass Brahms’ Musik noch annähernd im gleichen Republikaner in die noch miterlebten und mitgestal- künstlerischen Humus wurzelt wie Schumanns teten ersten postrevolutionären Jahre einigen präre- Schaffen, betrachtet man die gemeinsamen lite- volutionären Schwung (»Rheinische« Symphonie!) rarischen Vorlieben (E. Th. A. Hoffmann, Jean und entsprechende Ideale, wie etwa die Chorbal- Paul, die ›Klassiker‹). Und zweifellos umfassten die laden oder die ›kollektiven‹ Volkston-Schlüsse der künstlerischen Sympathie- und Affinitäts-Emp- späten konzertante Werke und der »Festouvertüre findungen beider Komponisten bei der legendär- mit Gesang über das Rheinweinlied« op. 123 zei- en Düsseldorfer Begegnung im Herbst 1853 auch gen.1 Mit dem 23 Jahre jüngeren Brahms2 stand ihm die künstlerischen Charakter-Spaltungen in Euse- ein Künstler gegenüber, der ganz wesentlich von bius/Florestan bzw. Brahms/Kreisler im jewei- postrevolutionär-restaurativen Verhältnissen und ligen Frühwerk. Dennoch konnte das Verhältnis expansiven Bestrebungen in Politik, Gesellschaft beider zur literarischen und musikalischen Ver- und Wirtschaft geprägt erschien. Zwar war Brahms gangenheit nicht mehr das gleiche sein: Für weit effizienter im Umgang mit den aufführungs- Brahms war es zwangsläufig schon weithin ›histo- praktischen Verhältnissen des öffentlichen Kon- risches‹ (wenn auch unmittelbar wirksames) Bil- dungsgut, das er in seiner privaten moralisch-äs- 1 Vgl. Reinhard Kapp: Schumann nach der Revolution. Vorüberle- thetischen Ideensammlung »Des jungen Kreislers gungen, Statements, Hinweise, Materialien, Fragen (S. 315–415); Schatzkästlein. Aussprüche von Dichtern, Philo- Michael Struck: Kunstwerk-Anspruch und Popularitätsstreben sophen und Künstlern«3 zusammentrug, ohne dass – Ursachen ohne Wirkung? Bemerkungen zum »Glück von Eden- ihn – wie den Redakteur Schumann – Nachschub- hall« op. 143 und zur »Fest-Ouverture« op. 123 (S. 265–313), in: Schumann in Düsseldorf. Werke – Texte – Interpretationen. zwang an literarischen Mottos dazu getrieben Bericht überLESEPROBE das 3. Internationale Schumann-Symposion am 15. hätte. Für Schumann dagegen waren Hoffmann, und 16. Juni 1988 im Rahmen des 3. Schumann-Festes, Düsseldorf Jean Paul und Goethe ebenso wie Beethoven und (= Schumann Forschungen 3), hg. von Bernhard R. Appel, Schubert (fast) noch künstlerische Gegenwart ge- Mainz [u. a.] 1993. 2 Der Altersabstand zwischen Schumann und Brahms war wesen. Ähnlich bezeichnend unterschied sich das also fast identisch mit dem zwischen Haydn und Mozart (knapp 23 gegenüber gut 24 Jahren). 3 Hg. von Carl Krebs, Berlin 1909.

© DIE TONKUNST, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 380