Wendezeiten – Die Sonne Um Mitternacht Schauen 1 Unabhängige Beilage Zur Wochenschrift «Das Goetheanum», Nr
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Schweiz Suisse Svizzera Svizra XII – 2020 Mitteilungen aus dem anthroposophischen Leben Nouvelles de la vie anthroposophique Notiziario della vita antroposofica Wendezeiten – Wintersonnenwende Die Sonne um Mitternacht schauen Die Sonne schaue Eine weihnächtliche Betrachtung zum ersten Wahrspruchwort von Rudolf Steiner Um mitternächtige Stunde. Mit Steinen baue Franz Ackermann Im leblosen Grunde. So finde im Niedergang Mysterienweisheit soll offenbar werden Und in des Todes Nacht Die Sonne um Mitternacht schauen! Um Mitternacht die Sonne schauen? Ein Der Schöpfung neuen Anfang, rationaler Geist kann hier nur den Kopf schütteln. Was könnte damit gemeint Des Morgens junge Macht. sein? Will man in das Rätselhafte eines solchen Wahrspruchwortes eindringen, braucht es innere Aktivität, geistige Regsamkeit. Rudolf Steiner verlieh diesem Die Höhen lass offenbaren rätselhaften Motiv Ausdruck, als er zum ersten Mal in seinem Leben ein Wahr- Der Götter ewiges Wort; spruchwort oder Mantram den Zeitgenossen schenkte, damals in Berlin, vor Die Tiefen sollen bewahren Weihnachten 1906. Den friedevollen Hort. Seinem Gehalt nach ist dieses Mantram uralt. Mysterienweisheit kommt da- rin zur Sprache. Es nimmt Bezug auf den Mysterienschlaf, einen Vorgang, der Im Dunkel lebend zum inneren Aufwachen führte, zum Aufwachen im Geiste. Das Spruchwort Erschaffe eine Sonne. verlangt vom Leser eine gewisse Beweglichkeit. Verschiedene Tatsachen sind Im Stoffe webend miteinander verflochten. Sie werden erst beim tieferen Nachsinnen nach und Erkenne Geistes Wonne. nach offenbar. In den alten Mysterien wurde der Adept, der Einzuweihende, zur Geistes- Rudolf Steiner schau geführt. Da erlebte er, was Menschenseelen erleben, wenn sie durch die Todespforte gegangen sind. Ihr Gang führte sie bis ans Ende der Planetensphä- ren, zum «Saturn», dem Ort, den Rudolf Steiner auch als Weltenmitternacht be- zeichnet. In dieser Erdenferne öffnet sich dem schauenden ewigen Wesenskern Berlin, 17. Dezember 1906, in «Wahrspruchworte», des Menschen ein Ausblick in die Fixsternweiten, dahin, wo die Urkräfte alles GA 40. Seins zu suchen sind. Es war Rudolf Steiners Mission, die neuen Mysterien, die Mysterien, die nach dem «Schwellenübergang der Menschheit» jedem Menschen grundsätzlich zu- gänglich sind, zu eröffnen. Was einstmals ein Geheimes, ein Verborgenes war, sollte nach 5000-jähriger Verdunk- Vom Schauen zum Bauen lung gegenüber den Tatsachen der göttlich-geistigen Welt Rätselhaft klang die erste Anrede mit dem Schauen der ab 1898 in die volle Öffentlichkeit treten. Das lichte Zeital- Sonne um Mitternacht. Die Worte des zweiten Rufes hören ter war angebrochen. Bereits 2000 Jahre früher wurde die sich demgegenüber zunächst realistisch an: «Mit Steinen «Zeitenwende», die auch die Öffnung der Mysterien bein- baue im leblosen Grunde». Aber welcher Sinn kann darin haltete, mit Christi Geburt und mit der Auferweckung des liegen, im leblosen Grund zu bauen? Vergleichsweise mit- Lazarus sichtbar. Und dies führte zu Aufruhr! Die Weih- ten in der Wüste eine Stadt zu errichten? Es muss ein tiefe- nachtsbotschaft, damals und heute, erklingt durch die Sub- rer Gehalt in diesem Bauen verborgen liegen. stanz dieses Mantrams. Sie ist Menschheitsgeschichte als In den alten Mysterien legte sich der Adept in einen Geistesgeschichte. steinernen Sarg. Er stieg für drei Tage ins finstere Grab Das Schauen der Sonne um Mitternacht ist demnach und erlebte den Todesschlaf. Den Tod in seiner Wirklich- ein Thema, das die ganze Menschheit betrifft, alle Kultu- keit während des Erdenlebens bewusst zu erfahren, das ren, alle Religionen, jeden Menschen. war – und ist heute noch – das Ziel der Einweihung. Es 1 führt zum Erleben der Sonne um Mit- schen Kräften, den Thronen, Cheru- ternacht.1 Wer in die Geheimnisse des bim, Seraphim, in dieser Sphäre der Kosmos eingeweiht war, wurde mit Weltenmitternacht sich anschickt, den Weltgesetzen vertraut. Er weilte in der «Geistkeim» des neuen Erdenmen- Nähe der schöpferischen Mächte. Was schenlebens zu weben. Sie schöpft aus «die Welt im Innersten zusammen- allen erdenkbaren Weltenkräften, um hält», das wurde ihm anschaubar. Aus- daraus die Voraussetzungen für ein gebreitet in die Sternenweiten erlebte freies, schicksalgetragenes Erdenle- er sich als Teil des Makrokosmos. ben vorzubereiten. «Denn alles, was In der zweiten Strophe folgt als Sie zusammen auf der Erde vollbrin- Auftakt das vielsagende Wörtchen gen können, ist nicht von der Grösse «So». Im Nachsinnen über die ersten und Mannigfaltigkeit dessen, was Sie vier Zeilen ist uns vielleicht die Kraft vollbringen, wenn Sie aus den Sternen- erwachsen, den Sinn, die Substanz welten heraus den menschlichen Leib, der nächsten Zeilen zu erfassen. Im den ‹Tempel der Götter› formen. Das ist © www.gerhardreischstiftung.com «So» verdichtet sich der Gehalt der eine viel mannigfaltigere, grossartige- Gerhard Reisch, «Hüter mit goldenem ersten vier Zeilen. Nämlich die Tatsa- re Arbeit.» Ahnend kann so vielleicht Kreuz», Mineralpigment auf Papier, 1949 che, dass das helle Licht, die Wärme, (86 × 63 cm), HW 31 verständlich werden, dass wir unseren die Kraft der Sonne anwesend ist. Wir Körper mehr und mehr als einen «Mik- schauen auf das Urbild, das schaffende rokosmos» kennen lernen können.2 Weltenwort, den Logos. In der Weltenmitternachtsstunde, in der Sphäre des Saturn und im Ausblick auf die Tierkreis- «Die Höhen lass offenbaren» kräfte des Weltengrundes, da erwacht in der ewigen Men- An dieser Stelle findet eine wunderbare Verknüpfung der schenseele die Sehnsucht, erneut den Gang in die Erden- Motive statt, die den Weihnachtsgedanken anklingen lässt: tiefen anzutreten, ein neues Erdenleben zu beginnen. Sie «Die Höhen lass offenbaren der Götter ewiges Wort; die Tie- ist bereit, in einen dunklen Erdenleibe zu ziehen, geistig fen sollen bewahren den friedevollen Hort.» zu sterben, wie Novalis es ausdrückt, um auf der Erde in Zunächst der Niederstieg des Menschen in die Erden- anderer Weise am Weltenbau weiterzuwirken. «So finde im tiefen. Das Verlassen des mitternächtlichen Sonnenortes. Niedergang und in des Todes Nacht, der Schöpfung neuen Dann der Weg des Gottes, das Hinuntersteigen des Logos- Anfang, des Morgens junge Macht.» Zukunftsverheissung! wesens. In den alten Mysterien waren die Priester mit dem Rudolf Steiner schildert in späteren Jahren, wie die Gedanken vertraut, dass das Sonnenwesen die geistigen Seele im Verein mit den höchsten schaffenden hierarchi- Höhen verlassen wird, um in die geistlosen, verfinsterten Erdenverhältnisse Licht zu bringen. Er erscheint als Erlö- ser, der die Weltenzeitenwende ermöglicht, die Verwand- 1 Dass wir gegenwärtig in einer gegenüber dem 19. Jahrhundert veränderten lung der Erde aus ihrer Entfremdung, Erstarrung. Gelin- Zeit leben, davon zeugen unzählige Berichte von Nahtoderlebnissen, die gen kann dies erst, wenn die Menschen sich ihm öffnen von der Wanderung durch die Finsternis ins Licht berichten. 2 Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus, wollen, sein Wort beherzigen, ihm Taten folgen lassen. GA 218, London 19. Nov. 1922. «Mit Steinen baue im leblosen Grunde». «Anthroposophie – Schweizer Mitteilungen» Inhalt / Table / Indice Dezember, XII 2020 Publikationsorgan der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz. Franz Ackermann: Wendezeiten – Die Sonne um Mitternacht schauen 1 Unabhängige Beilage zur Wochenschrift «Das Goetheanum», Nr. 48, 27. November 2020. Redaktionsschluss für Januar 2021: 4.12.2020 Konstanze Brefin Alt: Eindrücke von der 100-Jahr-Feier der Redaktion: Konstanze Brefin Alt, Landesgesellschaft 3 Thier steinerallee 66, 4053 Basel, Fon 061 331 12 48, kbrefinalt[ät]anthroposophie.ch. Impressions du jubilé des 100 ans de la Société Délai de rédaction pour janvier 2021: 4-12-2020 anthroposophique suisse (traduction de Patricia Alexis) 3 Rédaction francophone: Catherine Poncey, 63 rte de la Tsarère, 1669 Les Sciernes-d’Albeuve, Konstanze Brefin Alt: Justus Wittich. Porträt, c.poncey[ät]bluewin.ch. «Die Menschen im Vorstand der Weltgesellschaft» 5 Die Meinung der Autoren muss sich nicht mit der- jenigen der Redaktion decken. Die Rechte an den eingesandten Texten bleiben bei den Autoren. Magali Giaume Emery: Esquisse sur l’Ange. Poème 7 Einzelabonnement: Sekretariat der Anthroposophi- schen Gesellschaft in der Schweiz, Oberer Zielweg 60, Aus der anthroposophischen Arbeit in der Schweiz / 4143 Dornach, 061 706 84 40, Fax 061 706 84 41, info[ät]anthroposophie.ch. Du travail anthroposophique en Suisse 9–13 Auflage (Stand September 2020): 4250 Exemplare. Papier: RecyStar® Natur, 100% Altpapier. Hinweise / Informations Druck: Birkhäuser+GBC, Reinach/BL. Neben Tagungs- und Publikationshinweisen sowie einer Meldung Weitere Informationen unter: zum Paracelsus-Spital in Richterswil finden Sie Beiträge zur https://www.anthroposophie.ch/de/gesellschaft/ publikationen/schweizer-mitteilungen.html neuen Buchhandlung in Zürich, zu zwei Angeboten an die Zweige 13–16 2 Anthroposophie – Schweizer Mitteilungen, XII 2020 Im Lukas-Evangelium wird die Offenbarung aus den verschlafen. Ebenso gewiss sind die Folgen des Geistes- Höhen, welche die Hirten in ihren Herzen vernehmen, be- schlafes. Sie sind heute unübersehbar. – Mögen wir den schrieben. «Friede den Menschen, die eines guten Willens Ruf, an der Auferstehung aus den Erdenfinsternissen mit- sind.» Der Einweihungsweg schildert diesen Vorgang so, zuwirken, hören. Die notwendige Ermutigung beginnt bei dass deutlich wird: Der Mensch muss seine Seele bereiten, uns selbst. Am eigenen Menschsein und Menschwerden