Einführung Überblick Reflexionen zum neuen Landesausstellungsformat

www.carinthija2020.at Einführung Überblick Reflexionen zum neuen Landesausstellungsformat

Inhalt

Einleitung Peter Fritz 5

1. Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020 Peter Fritz 8

2. FAQs zum neuen Landesausstellungsformat 24

3. Vertiefende Fachartikel

3.1. Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Die wirtschaftliche Entwicklung Kärntens im „kurzen“ 20. Jahrhundert: Modellfall einer partiellen Modernisierung Werner Drobesch 29

Dynamik gesellschaftlichen Wandels: von der Agrarzur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft Werner Drobesch 40

Aus Donuts müssen wieder Krapfen werden! Roland Gruber & Peter Nageler 46

3.2. Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Vom Umgang mit Grenzen am Beispiel Kärntens Theodor Domej 53

Die Alpen-Adria-Region als Chance für Kärnten Peter Fritz & Julia Walleczek-Fritz 64

Die regionale Medienkolonie Peter Plaikner 72

3.3. Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Identität(en) und Erinnerungskultur(en) in Kärnten Helmut Konrad 79

Die Hierarchie der Erinnerungen. Kärntner Erinnerungsgemeinschaften, Gruppenidentität und Trauma Daniel Wutti 90

Diskussionen und Historiographie zum 10. Oktober 1920 – ein Konfliktfeld mit Emotionen ohne Grenzen? Ulfried Burz 96

3.4. Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Die politische Entwicklung Kärntens seit 1920: Kontinuitäten, Brüche, Sonderfälle Hellwig Valentin 105

Die Ortstafelproblematik und ihre Lösung als Teil der Kärntner nationalen Frage 1976 bis 2011 Stefan Karner 116

Politische Beteiligung in Kärnten – Status Quo und Ausblick Kathrin Stainer-Hämmerle 124

3.5. Themenschwerpunkt Migration

Wer kommt? Wer geht? Wer bleibt? – Migrationen von und nach Kärnten im 20. Jahrhundert Wilhelm Wadl 135

Vielfältiges Kärnten – Perspektiven für die Zukunft Marika Gruber 145

3.6. Querschnittsthema Zukunft

Die Zukunft in die Hand nehmen – Überlegungen zu einem Zukunftsprozess für Kärnten Peter Fritz 156

4. Anhang 168 LANDESFoto: DanielZupanc. Blick auf Zell-Pfarre unddieKarawanken. AUSSTELLUNG 2020 LANDES AUSSTELLUNG 2020 I allem abersollen siealsAnregung zur weiteren Beschäftigung mitdem Thema dienen. Zukunft KärntensausderSicht derjeweiligen Autorin oder desjeweiligen Autors. Vor stehen sichdieBeiträgeals exemplarische ZugängezurGeschichte,Gegenwartund dieser Broschüre, natürlichnichtalleumfassendbehandelt werden können.Daherver - tieft. Die Kärntner Geschichte hat viele Facetten, die in einer kurzen Darstellung, wie in fachlichem Hintergrund einzelneAspekteausdiesenThemen inkurzenArtikelnver- Im zweitenTeil habenAutorinnen undAutoren mitunterschiedlichen Zugängenund vorgestellt. programm derLandesausstellung.ImerstenTeil derBroschüre werden dieseThemen beitung von Einzelprojekten dar,aberauchdieinhaltlicheRichtschnur für dasGesamt- und ZukunftKärntensherausgearbeitet.Siestellendie Grundlage fürdieweitere Erar- und Ereignisse derKärntnerGeschichteletzten 100Jahre sowiederGegenwart wissenschaftlichen Team gemeinsammitdem Kurator Peter Fritz wesentliche Themen Als UnterstützungfürdieEntwicklungvon Projektideen wurden von eineminhaltlich- Mittelpunkt derLandesausstellung2020stehenwerden. versteht sichalseineersteEinführungindieeinzelnenThemenschwerpunkte, dieim Die vorliegende Broschüre solleinenkurzenÜberblicküberdasVorhaben geben.Sie meinden vor Ort. Künstler, WissenschafterinnenundWissenschafter,Bürgerinnen undBürger undGe- Kärnten bespieltdieRäume, PlätzeundBühnen,sondernVereine, Künstlerinnenund tizipation. Nicht einOrt,sonderneineganzeRegion stehtimFokus. Nicht dasLand Die wesentlichenSchlagwortediesesneuenFormats heißen DezentralitätundPar- des LandesKärntenimGedenkjahr2020. vor Ortwesentlichmitgestaltetwird. EsisteinbedeutenderBestandteilderAktivitäten unterschiedliche Sparten und Veranstaltungsformen kombiniert unddurch die Akteure Zukunft werden. Eswurde daher ein neues Landesausstellungsformat entwickelt, das te undIdentität,zurStandortbestimmungvon LandundLeutenzumBlickindie 2020 soll zum Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschich- Perspektiven gedachtwird. dem durch dasbesondere Veranstaltungskonzept CARINTHIja2020–Zeitreisen und prägte dieKärntnerLandesgeschichtedes20.und21.Jahrhunderts.EinAnlass, stimmung am10.Oktober1920begehen.DiesesbedeutendehistorischeEreignis m Jahr2020 wird dasBundesland Kärnten das 100-jährige Jubiläum der Volksab - Peter Fritz Einleitung 5 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

Peter Fritz CARINTHIja 2020 soll eine umfassende Betrachtung der Geschichte Kärntens ermöglichen und dabei die gegenwärtige Situation beleuchten sowie Perspektiven für die zukünftige Entwicklung des Landes abbilden. In diesem Kapitel Inhalte und Themen werden die wesentlichen Leitlinien und Rahmenbedingungen sowie Überlegungen der Landesausstellung 2020 zu Themenschwerpunkten für die Landesausstellung 2020 dargestellt.

Peter Fritz

Kapitel 1 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

Inhaltliche Leitlinien der Landesausstellung 2020

Um in den unterschiedlichen Themen und Projekten eine gemeinsame Klammer zu finden, wurden für die Landesausstellung 2020 Leitlinien herausgearbeitet. Diese bilden den Rahmen für die inhaltlich-wissenschaftliche Vorbereitung, die Ausgestaltung und Umsetzung der Aktivitäten im Rahmen der Landesausstellung 2020. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte Kärntens seit dem Jahr 1920 und beziehen die Gegenwart und Perspektiven für die zukünftige Weiterentwicklung des Landes mit ein. Anstelle einer Chronologie der Ereignisse wird die Historie Kärntens in seinen langen Entwicklungslinien und Querschnittthemen entlang von Zäsuren schlaglichtartig beleuchtet. Im Vordergrund stehen dabei jene Ereignis- se, die bis heute nachwirken oder für die Zukunft Kärntens von Bedeutung sein könnten. Die 100-jährige Wiederkehr des Jahrestages der Volksabstimmung des 10. Oktobers 1920 ist der Anlass, aber nicht das alleinige Thema der Aktivitäten der Landesausstellung 2020. Vielmehr geht es darum, die politischen, wirtschaftli- chen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungsstränge in Kärnten in Vergan- genheit, Gegenwart und Zukunft zu diskutieren.

Der Schwerpunkt der Aktivitäten wird im Unterkärntner Raum liegen, dennoch wird inhaltlich Kärnten in seiner Gesamtheit berücksichtigt. Die Geschichte des Landes wird nicht isoliert betrachtet, sondern in einen gesamtösterreichischen und europäischen Kontext eingebettet. Der Alpen-Adria-Raum stellt dabei den zentra- len Bezugsrahmen dar.

Durch eine interdisziplinäre Herangehensweise wird die Darstellung unterschied- licher inhaltlicher Positionen und Perspektiven gewährleistet. Von besonderer Bedeutung ist daher ein Zugang, der immer auch mehrere, andere Perspekti- ven einbezieht. Es sollen die vielschichtigen Prozesse in einer globalisierten Welt und die Wechselbezüge von lokal-, regional-, innen- und außenpolitischen Ent- wicklungen und Akteuren aufgezeigt werden. Damit wird auch deutlich, dass die Geschichte Kärntens keine durchgehende einheitliche Erzählung darstellt. Sie weist Brüche und Kontinuitäten auf, deren Betonung und Bewertung vor allem abhängig ist vom Ausgangs- oder Standpunkt der Erzählung. Die Ableitung von Szenarien und Perspektiven für die zukünftige Entwicklung des Bundeslandes Kärnten zieht sich durch die gesamten Aktivitäten für die Landesausstellung 2020. Es gilt Handlungsspielräume und Handlungsoptionen herauszuarbeiten.

Die Teilnahme an den Aktivitäten der Landesausstellung 2020 setzt voraus, dass ein Austausch zu den unterschiedlichen Sichtweisen stattfindet. Sie bietet Gelegenheit, neue Zusammenhänge zu erkennen, und regt zu Perspektiven- wechsel an. Mythen und Legenden sollen so durch Fakten ersetzt und eigene Verantwortlichkeiten und Handlungsspielräume erkannt, reflektiert und formuliert werden.

8 Kap. 1

Überlegungen zur Themensetzung für die Landesausstellung 2020

Der Themensetzung liegen folgende Grundüberlegungen zur Geschichte von 1920 bis heute, der Gegenwart und Zukunft Kärntens zugrunde:

1) Eine Besonderheit Kärntens ist seine geopolitische Lage am Überschneidungs- raum dreier Kultur- und Sprachräume, der deutschen, der romanischen und der slawischen. Diese besondere Lage hatte große Auswirkungen auf alle Lebens- bereiche der Bewohnerinnen und Bewohner in Kärnten aber auch auf die Politik. Diese war maßgeblich geprägt vom Leben an und mit staatlichen, sprachlichen oder kulturellen Grenzen. Grenzen trennen einerseits, andererseits sind sie aber auch Kontaktzonen. Dieses Spannungsverhältnis war sowohl Ausgangspunkt für Konflikte (Nationalismus, Weltkriege, Sprachenstreit, Aussiedlungen, Verschlep- pungen, Vertreibungen, Partisanenkrieg, Grenzstreitigkeiten, Volksgruppenkon- flikte ...) als auch Ort der Begegnung, des konstruktiven Austausches und der kreativen, Mehrwert erzeugenden wechselseitigen Befruchtung, wie es sich etwa im vielfältigen künstlerischen Schaffen, in Heiraten, Veranstaltungen, Grenzver- kehr, gemeinsamen Projekten, Tourismus, Handel, Kulinarik, Schengen-Abkom- men etc. bis in die Gegenwart herauf zeigt. Daraus ergibt sich, dass die geopoliti- sche Lage Kärntens und deren vielfältige Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Bevölkerung in den verschiedenen Zeitepochen der vergangenen einhundert Jahre ein zentral zu behandelndes Thema der Landesausstellung 2020 sein wird.

2) Entscheidend für die Entwicklung Kärntens im 20. Jahrhundert war die staatliche Neuordnung Europas als Folge des Ersten Weltkriegs. Waren in anderen Bun- desländern (Deutsch-)Österreichs die Landesgrenzen bald geklärt und mit dem Friedensvertrag von St. Germain 1919 auch international außer Streit gestellt worden, so zog sich die Auseinandersetzung in Kärnten bis zur endgültigen Fest- legung der Landesgrenzen bis Ende 1920 hin. Das Kanaltal fiel zur Gänze an Italien, die Gemeinden Seeland, Unterdrauburg und das Mießtal gingen an den SHS-Staat. Bei der Volksabstimmung im Oktober 1920 stimmte die Mehrheit in den Südkärntner Gemeinden für einen Verbleib bei Österreich und die Karawan- ken wurden als Südgrenze des Bundeslandes international anerkannt. Betrachtet man die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwick- lungen Kärntens, so bieten sich für die Darstellung jene markanten regionalen und überregionalen Zäsuren an, die allesamt auch Auswirkungen auf Kärnten hatten. Es sind dies: • Die Zeit vor 1914 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. • Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der Kärnten zum Frontgebiet machte, sowie die unmittelbare Nachkriegszeit bis zur Festlegung der Grenze 1920. • Die Zeit von 1920 bis zum „Anschluss“ 1938 mit Wirtschaftskrise, Hunger und Arbeitslosigkeit, Radikalisierung der Politik, Bürgerkrieg und Dollfuß-Schuschnigg- Regime.

9 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

• Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs mit Terror, Aussiedlungen, Vernichtung, Vertreibungen, Verschleppungen, Partisanen- krieg (1938–1945). • Die unmittelbare Nachkriegs- und Besatzungszeit bis zum Staatsvertrag und der neuerliche Konflikt um die territorialen Grenzen Kärntens sowie der beginnende Kalte Krieg (1945–1955). • Die Zeit ab 1955 mit Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, den sozialdemokrati- schen Alleinregierungen, dem Wiederaufleben der Auseinandersetzungen in der nationalen Frage, wirtschaftlichem Aufschwung, Bedeutung des Tourismus etc. bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1989. • 1989 bis 2004 als Phase des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union, der Krieg in Ex-Jugoslawien und seine Folgen, die Ära der wechselnden politischen Machtverhältnisse in Kärnten etc. • Die Zeitspanne von 2004 bis heute als Zeit der gemeinsamen Nachbarschaft in der EU, die Auswirkungen des Schengen-Abkommens, die Entspannung in der Volksgruppenfrage, aber auch die wirtschaftlichen Probleme in Kärnten, Umstruk- turierungen, Bankenkrise, Flüchtlingsströme etc.

3) Prägend für die politische Entwicklung Kärntens im 20. Jahrhundert waren die „weltanschaulichen Kräftefelder“ Deutschnationalismus, Antisemitismus, Antikleri- kalismus, Antislawismus, der Grenzland-Mythos und ein Anti-Wien-Reflex. Hinzu kamen vor allem in deutschnationalen Kreisen Antisozialismus bzw. Antimarxismus.1 Zu untersuchen gilt es, inwieweit diese Positionen die Geschichte Kärntens beein- flusst haben, vor allem aber welche Wirkmächtigkeit sie in der Gegenwart noch besitzen und was dies für die zukünftige Entwicklung Kärntens bedeuten könnte.

4) Besonders wichtige Themen für die Entwicklung Kärntens sind etwa Wirtschaft, Handel, Transit und Verkehr, Tourismus (z. B. mit Sommerfrische), Mobilität, Er- folgsgeschichten, aber auch Umstrukturierungen und Niedergang in der Industrie, Kunst und Kultur, Verstädterung und Entwicklung des ländlichen Raumes, Zuzug und Abwanderung, Mobilität, Demografie, nationale Frage, Migration, ebenso wie Volkskultur und Brauchtum, Religionen und Kirchen, Fragen der politischen Kultur, der Mitbestimmung, der Teilhabe an der Demokratie und ihrer Zukunftsfähigkeit, zivilgesellschaftliches Engagement, Bildung und Wissenschaft (Universität, Fach- hochschulen, Schulwesen), Konfliktbearbeitung oder auch Fragen der Identität und Erinnerungskultur. Der thematische ahmenR für die Landesausstellung geht ausdrücklich über eine Darstellung der politischen Entwicklung Kärntens hinaus, schwerpunktmäßig wer- den die hier erwähnten Themenfelder mit in Betracht gezogen.

1 Nach: Alfred Elste – Michael Koschat, Kontinuität der politischen Eliten 1918/ 1945, in: Werner Drobesch – Augus- tin Malle (Hg.), Nationale Frage und Öffentlichkeit. Kärnten und die nationale Frage, hg. von Stefan Karner, Band 2, /Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2005, S. 149ff.; und: Werner Drobesch, Vereine und Verbände in Kärnten (1848–1938). Vom Gemeinnützig-Geselligen zur Ideologisierung der Massen. Das Kärntner Landesarchiv, Band 18. Klagenfurt 1991, S. 149.

10 Kap. 1

Wichtig in Hinblick auf historische Themen ist, dass immer auch Bezüge zur Ge- genwart hergestellt und Perspektiven der zukünftigen Entwicklung Kärntens mit- samt Handlungsoptionen und Verantwortlichkeiten abgeleitet werden.

Themenschwerpunkte für die Landesausstellung 2020

Für eine Darstellung der Entwicklung Kärntens in den vergangenen einhundert Jahren sowie die Abbildung der für die Gegenwart und zukünftigen Perspektiven Kärntens relevanten Fragestellungen wurden gemeinsam mit dem inhaltlich-wis- senschaftlichen Team2 Fragestellungen ausgearbeitet und zu fünf Themenschwer- punkten zusammengefasst. Drumherum spannen sich Querschnittthemen, die in allen Themenfeldern Beachtung finden sollen. Diese Zusammenstellung versteht sich als Ausgangspunkt und eine Schwerpunktsetzung für die weitere inhaltliche Auseinandersetzung.

Themenschwerpunkt I: Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum Die wirtschaftliche Lage Kärntens war nach dem Ende des Ersten eltkriegsW bestimmt von den Folgen des Kriegs und von dem bereits im 19. Jahrhundert einsetzenden Niedergang der Montanindustrie. Der Zusammenbruch der Habs- burgermonarchie 1918 verschlimmerte die wirtschaftliche Situation. Geprägt von der infrastrukturellen Randlage aufgrund der neuen Grenzziehung, einer überwie- gend schwachen Industrialisierung sowie kleinbetrieblicher und kleinbäuerlicher Strukturen war Kärnten in der Zwischenkriegszeit von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs verstärkten vorerst die wirtschaft- liche Krise. Ab den 1950er-Jahren erlebte das Land einen Aufschwung, Frem- denverkehr, Baugewerbe, Holz- und chemische Industrie waren Zugpferde. Trotz Umstrukturierungen und Ausbau der Infrastruktur hinkt die Kärntner Wirtschaft jedoch bis heute den anderen Bundesländern hinterher. Dargestellt werden sollen die Auswirkungen und Veränderungen sowie die wech- selseitige Beeinflussung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklun- gen, das Thema Infrastruktur und Mobilität, der für Kärnten sehr prägende Wirt- schaftszweig Tourismus und das Thema der räumlichen Voraussetzungen und Veränderungen von Kulturlandschaft etc. Im Fokus stehen dabei vergangene und gegenwärtige Entwicklungen ebenso wie Überlegungen zu Perspektiven und

2 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im inhaltlich-wissenschaftlichen Team: Dr.in Mag.a. Nadja Danglmaier, Universität Klagenfurt Univ.-Prof. Dr. Werner Drobesch, Universität Klagenfurt Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner, Universität Graz / Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad, Universität Graz Arch. DI Peter Nageler, nonconform zt gmbh, Wien FH-Prof.in MMag.a Dr.in Kathrin Stainer-Hämmerle, FH Kärnten Dir. Dr. Wilhelm Wadl, Kärntner Landesarchiv Univ.-Prof.in Dr. Verena Winiwarter, Universität Klagenfurt Univ.-Prof. Dr. Werner Wintersteiner, Universität Klagenfurt Dr. Daniel Wutti, Pädagogische Hochschule Kärnten Kurator: Mag. Peter Fritz

11 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen in den genannten Themenfeldern.

Die zentralen Themenfelder sind:

1) Ökonomie und Gesellschaft Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vom Rückgang der Montanindustrie, den Folgen der Weltkriege und der stark agrarisch ge- prägten Struktur Kärntens in der Zwischen- kriegszeit, sowie die weitere Entwicklung Bahnhof Spittal: Blick über den werden anhand des technologischen Wandels von 1920 bis heute dargestellt. Vorplatz mit wartenden Dieser ist eng verknüpft mit starken gesellschaftlichen und demografischen Ver- Automobilen, 1926. änderungen. Arbeits- und Lebenswelten einst, heute und morgen werden ge- Foto: KLA. genübergestellt. Leistungen von Industriepionieren, Fragen der Energiewirtschaft oder der Ökologie und Umwelt, die Auswirkungen der Bildungspolitik in Kärnten, wie etwa der starke Ausbau der Schulen, der Universität und der Fachhochschu- len etc. und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Entwicklung Kärntens sollen ebenso aufgezeigt werden wie die Frage nach Zukunfts- und Lösungskom- petenzen und Coping-Strategien. Insbesondere Krisen und deren Überwindung sowie die Frage der Resilienz sind Thema.

2) Infrastruktur und Mobilität Die wirtschaftliche Entwicklung hängt maßgeblich mit der Schaffung von Infra- struktur und Mobilität zusammen. Insbesondere der Ausbau der Verkehrsinfra- struktur – wie etwa die Tauernautobahn, die (Auto- und Zug-)Verbindungen nach Osttirol, Salzburg, Steiermark oder Slowenien – ist hier beispielhaft zu nennen. Der Begriff der Infrastruktur soll dabei aber weiter gedacht werden: Welche Infrastruk- turen der Macht waren förderlich oder hemmend für die Entwicklung in Kärnten? Welche Auswirkungen hat die Schaffung von Infrastrukturen im Bereich der Bil- dung oder der Energieproduktion und -versorgung? Wie sieht die Anbindung in all diesen Bereichen aus – nach innen ebenso wie nach außen? Wesentlich dabei ist die Beleuchtung der Aspekte Zentrum und Peripherie und welche Rolle dabei Infrastruktur und Mobilität spielen.

3) Tourismus Der Tourismus ist für Kärnten ein besonders prägender Wirtschaftszweig. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg stellte er einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor dar, der in der Zwischenkriegszeit trotz zeitweiser Rückgänge von Bedeutung blieb. Weiters sollen die Entwicklung in der Nachkriegszeit, der Ausbau der touristischen Infrastruktur, zuerst schwerpunktmäßig für Sommer- und später auch für Winter- gäste, bis hin zu den aktuellen Entwicklungen und Perspektiven für eine touristi- sche Vermarktung und Wertschöpfung in Kärnten thematisiert werden.

12 Kap. 1

4) Raum Wirtschaftlicher andelW ist auch in Kärn- ten maßgeblich geprägt von räumlichen Voraussetzungen. Diese sind wieder eng verknüpft mit raumplanerischen Fragen so- wie dem Stellenwert und den gesetzlichen Grundlagen der Raumordnung. Der Um- gang mit Kulturlandschaft in all ihren Facet- ten ist ein ebenso wichtiger Schwerpunkt wie die Bedeutung der Organisation im Raum, die Zugänge zu Kultur-, Siedlungs- Mobilität heute: Staus und Umweltbelastung durch den und Naturraum oder auch die Frage nach stetig steigenden Autoverkehr. Zentrum und Peripherie. Welche Kompetenzen sind notwendig für den nachhalti- Foto: Gert Eggenberger. gen Umgang mit unserer Umwelt (Luft, Wasser, Boden)? Daran schließt die Frage an, welcher Stellenwert dem Naturschutz eingeräumt wird. Demografische Ent- wicklungen rund um die gesellschaftlichen Alterungsprozesse oder die Steigerung der Lebenserwartung sowie Abwanderung insbesondere von gut ausgebildeten, jungen Menschen („brain drain“) werden verknüpft mit Fragen nach den Perspek- tiven für die weitere Entwicklung Kärntens. Risiken und Potenziale von Leerstand in Kärnten sind dabei ebenso Thema wie der Vergleich im Umgang mit diesen Herausforderungen in anderen Regionen.

Übergreifende Themen und Fragestellungen: Diese Schwerpunkte überspannende Themen und Fragen sind jene nach den Möglichkeiten und Auswirkungen von Bildung, der Mediatisierung und damit dem Einfluss der Medien auf die Gesellschaft, Beschleunigungsfaktoren, die Gegen- überstellung und Auswirkungen von Fortschrittsgewinnern und Modernisierungs- verlierern, aber auch wirtschaftliche Perspektiven für Kärnten in der Zukunft und damit verbunden Vulnerabilität, Resilienz sowie mögliche Vorbilder.

Themenschwerpunkt II: Vernetzung/Nachbarn/Dialog Die geopolitische Lage Kärntens hatte und hat große Auswirkungen auf alle Le- bensbereiche. Bis heute ist die Entwicklung des Landes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner maßgeblich geprägt vom Leben an und mit staatlichen, sprachli- chen oder kulturellen Grenzen. Grenzen trennen einerseits, andererseits sind sie aber auch Kontaktzonen. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus sind sowohl Kon- flikte (Nationalismus, Weltkriege, Sprachenstreit, Aussiedlungen, Verschleppungen, Vertreibungen, Partisanenkrieg, Grenzstreitigkeiten, Volksgruppenkonflikte etc.) ent- standen als auch fruchtbare Begegnungen und Orte des materiellen und immateri- ellen Austausches (Handel, Innovationen, Kunst und Kultur etc.). Abgebildet werden Formen und Intensität des Dialogs, der Vernetzung und des Austausches mit Nachbarn innerhalb Kärntens, über die Landesgrenze hinweg im Alpen-Adria-Raum sowie im europäischen und fallweise auch globalen Kontext.

13 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

Im Fokus sind vergangene und gegenwärtige Entwicklungen ebenso wie Überlegungen zu weiteren Perspektiven des Dialogs innerhalb Kärntens und darüber hinaus.

Die zentralen Themenfelder sind:

1) Vernetzung in Kärnten Grenzen werden zumeist verbunden mit Staatsgrenzen. Die Frage nach der Entwicklung Kärntens beinhaltet auch die Frage nach den Grenzen im Inneren des Bundeslandes, zwischen und innerhalb der Kommunen Grenzstein an der Staatsgrenze zwischen Kärnten und Italien bis hin zu Grenzen quer durch Dörfer und Familien und damit durch das unmittel- von 1920. Foto: Peter Fritz. bare persönliche Lebensumfeld. Neben der Darstellung historischer Entwicklungen anhand der relevanten Ereignisse und Zäsuren im 20. Jahrhundert sind insbeson- dere Fragen nach den Auswirkungen eines Lebens an und mit Grenzen auf den einzelnen Menschen von Interesse. Wie verliefen und verlaufen in Kärnten innere Grenzen, etwa aufgrund sprachlicher, politischer, religiöser oder ethnischer Zuge- hörigkeit? Wie werden solche Grenzen im Laufe der Geschichte und heute be- nannt, besprochen oder verneint und welche Folgen hat das für den Einzelnen, für die Gemeinschaft? Fragen der Interkulturalität sind dabei ebenso von Bedeutung wie etwa die Frage nach den Begrifflichkeiten und dem damit auch verbundenen individuellen Selbstverständnis (z. B. Minderheit, Volksgruppe, Sprachgruppe).

2) Vernetzung mit den Nachbarn (Alpen-Adria-Region) Gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische oder kulturelle Ereignisse in Kärnten passierten und passieren nicht isoliert, sondern sind immer auch beeinflusst vom unmittelbaren Umfeld diesseits und jenseits der Bundesländer- und Staatsgren- ze. Anhand der wichtigsten Ereignisse und Zäsuren im 20. Jahrhundert – wie etwa den Grenzziehungen nach den beiden Weltkriegen, der Teilnahme an der Alpen-Adria-Gemeinschaft, dem EU-Beitritt oder der Beteiligung am Schengen- Raum – werden die Entwicklungen Kärntens eingebettet in sein Umfeld gezeigt. Wie gestaltet sich das Leben an und mit Grenzen, welche nachhaltigen nachbar- schaftlichen Beziehungen resultieren daraus? Ein besonderes Spezifikum für Kärn- ten ist die Lage am Schnittpunkt dreier Sprachräume. Wo ergaben und ergeben sich daraus Abgrenzungen, wo gibt es Gemeinsamkeiten und Überschneidungen (z. B. in der Ausbildung der Kulturlandschaft, im Lebensalltag wie etwa der Kulina- rik, im kulturellen Schaffen wie etwa der Musik oder der Literatur, in der Wirtschaft etc.). Interkulturalität ist damit ebenso ein Thema. Was sind die zentralen Aspekte in der Kommunikation und in der Kooperation Kärntens mit – aber auch hinsichtlich der Abgrenzung von – seinen Nachbarn? Welche Zukunftsmodelle ergeben sich aus der Lage im Alpen-Adria-Raum? Die Landesgrenze ist daher sowohl als Ort der Verengung als auch des Austausches zu sehen.

14 Kap. 1

3) Kärnten, Europa und die Welt Über den Alpen-Adria-Raum hinaus war die Ge- schichte Kärntens immer auch vernetzt mit inter- nationalen Entwicklungen. Kulturelle, politische oder wirtschaftliche Einflüsse von außen werden ebenso thematisiert wie jene Einflüsse, die von Kärnten aus nach außen wirkten (z. B. wirtschaftliche oder tech- nische Innovationen, kulturelles Schaffen, Auswan- derung etc.). Die zunehmende Globalisierung und internationale Vernetzung in ökonomischen, sozia- len und gesellschaftlichen Bereichen hat unmittel- Landes- und Gemeindepoli- bare Auswirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb Kärntens. Fragen tiker öffnen mit den Zöllnern nach der Rolle Kärntens in Europa sowie den Aspekten „Kärnten in der Welt – die symbolisch den Grenzbalken in Thörl Maglern anlässlich des Welt in Kärnten“ stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Inkrafttretens des Schengen- Abkommens zwischen Übergreifende Themen und Fragestellungen: Österreich und Italien mit Diese Schwerpunkte überspannende Themen und Fragen sind jene nach den 1. April 1998. Foto: Gert Eggenberger. Gegensatzpaaren „Öffnen vs. Abgrenzen“ oder „Grenzziehung vs. Entgrenzung“. Welche Vorteile und Chancen, aber auch Nachteile und Risiken ergeben sich aus Grenzen? Was bedeuten sie für den Einzelnen, für Organisationen, für den Aus- tausch miteinander? Wie kann Dialog an Grenzen im persönlichen, aber auch im staatlichen Bereich funktionieren? Wo ergeben sich Dialogmöglichkeiten, welche Rolle spielen Medien hinsichtlich der Kommunikation und wo ergeben sich Hin- dernisse? Insbesondere sollen Biografien aus den Bereichen Kultur, Wirtschaft, Soziales oder Politik bei der Darstellung im Fokus stehen.

Themenschwerpunkt III: Identität/Erinnerungskultur Identität beschreibt die Summe jener Eigenschaften und Besonderheiten, welche Einzelpersonen oder Gruppen als wesentlich für ihr Selbstverständnis ansehen und damit sich oder ihre Gruppe in ihrer eigenen Wahrnehmung von anderen abgrenzen. Was sind die Merkmale, die sich eine Person oder Gruppe zuschreibt und sich damit von anderen abgrenzt? Die Frage nach der Kärntner Identität auf Landesebene, aber auch nach der Zugehörigkeit zu sprachlichen, politischen oder anderen Gruppen bildete im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder den Aus- gangspunkt für politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Ausein- andersetzungen. Die Frage nach dem „echten Kärntner“ ist ebenso Gegenstand wie jene nach der Entstehung bestimmter Identitätskonstruktionen mit inkludie- rendem bzw. exkludierendem Potential. Welche Eigentümlichkeiten tragen zur ei- genen Identitätsstiftung bei, inwieweit stimmen Selbst- und Fremdwahrnehmung überein? In welchen Bereichen sind solche Identitätsbildungen für die eigene per- sönliche Entwicklung wichtig, wo hinderlich oder ausgrenzend? Diskutiert werden Fragen der Identität und Alterität, der Identitätsbildung, der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Entwicklung der Denkmallandschaft und

15 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

Gedenkkultur in Kärnten sowie (bis heute) gängi- ge Narrative und Mythen. Im Fokus stehen dabei vergangene und gegenwärtige Entwicklungen ebenso wie Überlegungen zu weiteren Perspek- tiven hinsichtlich Identität, Erinnerungskultur und Narrativen in Kärnten.

Die zentralen Themenfelder sind:

1) Identität Identität und Alterität auf Landesebene und auf gesellschaftlicher, sowohl lokaler als auch indivi- dueller Ebene, sind das zentrale Thema der Dar- stellung. Wo und unter welchen Voraussetzun- gen haben sich in Kärnten regionale Identitäten entwickelt? Wie steht es um eine Landesiden- tität? Wer ist zu welcher Zeit als Kärntner, als Kärntnerin gesehen worden? Wer wurde davon ausgeschlossen oder hat sich ausgeschlossen und welche Mechanismen und sozialpsycholo- gischen Hintergründe waren dafür ausschlag- gebend? Prägend für die Identitätsdiskussion in Kärnten sind Erinnerungsgemeinschaften, die Gedenkstein an die Besetzung mitunter in scharfen Abgrenzungen zueinander entlang sprachlicher, politischer, durch SHS-Truppen 1919 ideologischer, auch wirtschaftlicher oder anderer Kriterien auftraten und maß- vor dem Hotel am geblich Bereiche der (gesellschaftlichen und politischen) Entwicklung in Kärnten Karawankenplatz in Velden, errichtet 1930. beeinflussten. Erwin Ringel hat die Kärntner Seele beschrieben, die ebenso Be- Foto: Brigitte Pontasch. trachtung finden soll, wie die Frage nach der weiteren Entwicklung von Identität in Kärnten. Besonders spannend erscheint dabei, nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsströme, der Blick in die Zukunft: Wer sind „wir“ in den Jahren 2030/2040/etc.?

2) Denkmallandschaft und Gedenkkultur in Kärnten Erinnerungsgemeinschaften und Identitätsbildung haben auch direkte Auswirkun- gen auf die Gedenkkultur und Denkmallandschaft in Kärnten. So blickt man hierzu- lande auf eine reiche, regional sehr unterschiedlich ausgeprägte, zeitweise heftig umstrittene Denkmalkultur. Wem wird erinnert? Wer erinnert? Wem wird nicht oder nicht mehr erinnert? Wer gestaltet und instrumentalisiert Erinnerung und warum? Diese Fragen sind unmittelbar verknüpft mit jenen der Identität und Al- terität. In Kärnten gab es heftige Streitigkeiten um Denkmäler und die Erinnerung etwa an die Opfer des Zweiten Weltkriegs sowie um die Diskussion, wer Teil der (Opfer- oder Täter-) Erinnerung ist und wer nicht. Heftige Auseinandersetzungen fanden auch um die Frage der Einordnung des „Abwehrkampfes“ oder des Par-

16 Kap. 1

tisanenkrieges, der Wehrmachtsdeserteu- re oder anderer Opfergruppen des Natio- nalsozialismus statt. Ein jahrzehntelanges Kampfthema bildete das Gedenken an den 10. Oktober 1920. Hier zeigt sich in Bezug auf die Erinnerungskultur des offiziellen Kärntens in den vergangenen Jahrzehn- ten eine schrittweise Veränderung. Sozi- alpsychologische Hintergründe sind dabei ebenso zu thematisieren wie historische, persönliche oder auch politische Motive.

3) Narrative und Mythen Mythen und Narrative haben immer auch Internationale Gedenkfeier eine sinngebende Funktion und sind wichtiger Bestandteil der Identitätsbildung. für die Opfer des ehemaligen Konzentrationslagers auf Sie sind emotional besetzt und geben Orientierung vor. Sie sind in der Lage, Zu- dem Loibl. versicht zu vermitteln und Vergangenes und Zukünftiges in eine Erzählung ein- Foto: Gert Eggenberger. zuordnen. Welche Mythen und Narrative prägen Kärnten, welche existieren aber auch über das Land selbst? Welche Bedeutung haben und hatten diese Narrative im familiären und nachbarschaftlichen Kontext, insbesondere auch in der Ein- und Ausgrenzung des bzw. der anderen? Was sind die zentralen Narrative in Kärnten? Und schließlich: Wer ist Teil der Erzählung, wer nicht, und warum?

Übergreifende Themen und Fragestellungen: Diese Schwerpunkte überspannende Themen und Fragen sind jene nach der „Heimat“, dem „Wir“, der Zukunftskultur, aber auch die mit der Identität eng ver- bundene Frage der (historischen und neuen) Mehrsprachigkeit in Kärnten sowie die Frage nach den Denkräumen: Wo (überall) ist Kärnten?

Themenschwerpunkt IV: Demokratieentwicklung Demokratieentwicklung ist mehr als Parteiengeschichte oder die Entwicklung der konkreten (partei)politischen Repräsentanz und Abbildung der Machtverhältnisse in Kärnten. Es sollen zusätzlich Themen wie freie Wahlen, direkte Demokratie, Mehrheits- und Minderheitenrechte, Möglichkeiten der Opposition, Fragen der Gewaltenteilung, der Umgang mit Bürgerrechten, der Meinungsfreiheit etc. in Kärnten beleuchtet werden. Es geht um das Thema der Repräsentanz und die Frage, wer repräsentiert wird und wer nicht. Auf die Einführung des allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen im Jahr 1918 sowie der Volksabstimmung von 1920, als Akt der direkten Beteiligung am politischen Ge- schehen, folgten auch in Kärnten die Einschränkung und Aushöhlung demokra- tischer Rechte in den 1930er-Jahren und schließlich die Errichtung der nationalso- zialistischen Diktatur im Jahr 1938. Die Nachkriegszeit wurde zuerst geprägt von den Auswirkungen der britischen Besatzungsmacht, später von einer Vorherr-

17 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

schaft der SPÖ bis Ende der 1980er-Jah- re und darauf folgend von wechselnden Mehrheiten in der politischen Vertretung. Aufgeworfen werden Fragen der De- mokratieentwicklung in Kärnten, der po- litischen Teilhabe und Teilnahme sowie der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Im Fokus sind dabei vergangene und ge- genwärtige Entwicklungen ebenso wie Überlegungen zu weiteren Perspektiven der Demokratie, der Repräsentanz und Bedeutung der (zivil)gesellschaftlichen Beteiligung der Bevölkerung in und über Kärnten. Vor dem Abstimmungslokal in der Turnhalle in Völkermarkt Die zentralen Themenfelder sind: am 10. Oktober 1920. Foto: KLA. 1) Politische Entwicklung Im Fokus stehen dabei das politische Zusammenleben in Kärnten, das maßgeblich von großen Parteiblöcken geprägt war, sowie die zum Teil hochpolitische Ver- einskultur und ihr Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie und der politischen Landkarte Kärntens. Wer sind zu welcher Zeit die Akteure, die Kärnten gestalten und verwalten? Wem obliegen zukunftsweisende Entscheidungsprozesse in die- sem Land – wer steuert diese, wer kann dazu beitragen? Was wird wann unter Demokratie verstanden, was könnte außerdem noch unter Demokratie verstan- den werden? Wo ist sie ausbaufähig und wie wird Demokratie 2030, 2040 ... gestaltet sein? Inwieweit hält der Trend der Politikverdrossenheit an und was be- deutet dies für die politische Legitimation und Akzeptanz? Welche Auswirkungen haben neue Medien und Digitalisierung auf unser Verständnis von Demokratie? Vorsichtsorientierung, Vulnerabilität und Resilienz sind ebenso Thema wie die Fra- ge nach den Möglichkeiten einer Verbesserung der politischen Kultur und Teilhabe bzw. Teilnahme der Bevölkerung.

2) Zivilgesellschaft Unter Zivilgesellschaft werden nichtstaatliche Akteure einer Gesellschaft verstan- den. Deren Wirken stand und steht, nicht nur in Kärnten, immer wieder im Span- nungsfeld, als Kontrapunkt oder als Ergänzung zu Maßnahmen staatlicher Orga- ne. Dargestellt werden soll die Geschichte zivilgesellschaftlichen Engagements in Kärnten, von Formen nichtstaatlicher Kooperation mit nachbarschaftlicher oder lokaler Bedeutung bis hin zu jenen, die sich um die Um- und Durchsetzung von Mehr- oder Minderheitenrechten oder umfassenderen gesellschaftspolitischen Fragestellungen bemühen. Besonders wichtig scheinen etwa auch neue Ansätze der Bürgerbeteiligung. Inwieweit sind solche Beteiligungsmodelle Zeichen eines

18 Kap. 1

Ausbaus zivilgesellschaftlichen Engagements oder vielleicht nur, kritisch angemerkt, „Mitmach- fallen“? Potenziale von zivilgesellschaftlichen Ak- tivitäten sollen ebenso beleuchtet werden wie die Frage nach der Vereinnahmung durch politi- sche Interventionen.

Übergreifende Themen und Fragestellungen: Alle diese Schwerpunkte überspannende The- men und Fragen sind jene nach der Abwägung und Bewertung des Gegensatzes von Gemein-

Wahllokal in Klagenfurt bei wohl und Einzelinteressen (etwa im Bereich von der Wahl zum Kärntner Eigentumsrechten). Welche Denkmodelle gibt es in Kärnten und in vergleichbaren Landtag, 2013. Regionen für das Zusammenleben und dessen Weiterentwicklung? Welche Rolle Foto: Gert Eggenberger. soll oder kann Bildung spielen? Und nicht zuletzt ist die Frage von Bedeutung, inwieweit Kärnten hinsichtlich Demokratieentwicklung ein „Sonderfall“ ist.

Themencluster V: Migration Im Laufe des 20. Jahrhunderts prägte freiwillige und unfreiwillige Migration in sehr unterschiedlichen Formen die Geschichte des Landes. Die Auslöser für Orts- veränderungen von Menschen waren unterschiedliche Schub- („push“-) oder Sogfaktoren („pull“-), wie etwa wirtschaftliche Bedingungen (besserer Verdienst, beruflichePerspektiven), Umweltfaktoren (Verschlechterung oder Verlust der Lebensgrundlagen, z. B. durch Trockenheit oder Katastrophen), Sicherheitsfakto- ren (Kriege, Bürgerkriege, politisch instabile Verhältnisse) oder kulturelle Fakto- ren (Bildung, Kultur, Umsiedlung in der Jugend oder im Alter). Arbeitsmigration (wirtschaftlich motiviert), Flüchtlingsmigration (weltanschaulich, politisch motiviert, Kriegsfolgen) oder Familiennachzug spielen dabei ebenso eine Rolle wie illegale Migration in Verknüpfung mit Schlepperei oder Menschenhandel.

Der Bogen spannt sich in Kärnten von den Flüchtlingen im und nach dem Ers- ten Weltkrieg über Vertreibungen von slowenischsprachigen Kärntnerinnen und Kärntnern nach der Volksabstimmung 1920, Auswanderungen in der Zwischen- kriegszeit, der Vertreibung und Ermordung von Menschen während der NS-Zeit, Flucht, Vertreibung oder Verschleppung aufgrund von Kriegswirren, den nach Kärnten kommenden Flüchtlingen als Folge des Zweiten Weltkriegs, wirtschaftlich motivierten Ab- und Zuwanderungen bis hin zu den Flüchtlingen während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren oder der Flüchtlingswel- le in den Jahren 2015 und 2016. Veranschaulicht werden die historischen Migrationsprozesse, die Kärnten die letz- ten einhundert Jahre prägten, ebenso wie jene, die angesichts globaler Verän- derungen in Zukunft möglicherweise zu erwarten sind. Zentral sind die Fragen: Wer kommt? Wer geht? Wer bleibt? Und warum? Im Fokus sind dabei vergan-

19 Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020

gene und gegenwärtige Entwicklungen ebenso wie Überlegungen zu Perspektiven von Kommen, Bleiben und Gehen von und nach Kärnten.

Die zentralen Themenfelder sind:

1) Kommen Neben der Bedeutung von Zwangsmigra- tion soll auch die wirtschaftlich oder anders motivierte (freiwillige) Zuwanderung nach Kärnten betrachtet werden, wie etwa Ansiedlungen in der Landwirtschaft in der Rückströmende Zwischenkriegszeit oder der Zuzug von Spezialisten in bestimmten Industriezweigen österreichisch-ungarische Soldaten und Zivilisten in im Laufe der Geschichte etc. Was sind die Motive der Menschen, die nach Kärnten Steinfeld, 1918. kamen und kommen? Wer wandert zu? Wie sieht die Migrantenstruktur aus und Foto: KLA. welche Bedeutung hat dies für Kärnten in politischer, wirtschaftlicher, kultureller oder gesellschaftlicher Hinsicht? Bei der Betrachtung zukünftiger Entwicklungen erschei- nen neben politischen und wirtschaftlichen Faktoren für Migration vor allem die durch Klimawandel verursachte Migration und ihre Auswirkungen auf Kärnten von Bedeu- tung.

2) Gehen Kärntner Migrationsgeschichte ist auch eine Geschichte der wirtschaftlichen, kulturell oder politisch motivierten Abwanderung und Vertreibung. Wer verlässt Kärnten? Und warum? In der Zwischenkriegszeit verzeichneten vor allem infrastrukturschwache Regionen, wie etwa das gemischtsprachige Gebiet, eine hohe Abwanderungsrate, schwerpunktmäßig in benachbarte Bundesländer oder nach Deutschland. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit verursachten in Kärnten Zwangsmigration aufgrund rassischer, politischer oder sprachlicher Motive. Zu nennen sind etwa Holocaust, Eu- thanasie, die Vertreibung und Aussiedlung von slowenischsprachigen Menschen, die

Verfolgungen oder die Verschleppungen im Zuge des Partisanenkrieges etc. In der Feldarbeit in St. Oswald, 1929. Zweiten Republik reihen sich wieder Abwanderungen aus wirtschaftlichen Gründen Foto: Oswin Moro/KLA. ein, wie etwa der Wegzug von Fachkräften oder von Jugendlichen in andere Bundeslän- der zu Ausbildungszwecken. Hinzu kamen Abwanderungen aus politischen Motiven, wie etwa von Kulturschaffenden oder Intel- lektuellen. Insbesondere unter Jugendlichen verzeichnet Kärnten bis heute eine große, durch Ausbildung motivierte Abwanderung. Dabei sollen Zukunftsperspektiven und Über- legungen zum Umgang mit Abwanderung aufgezeigt werden.

20 Kap. 1

3) Bleiben Historisch wie aktuell kommen und gehen Menschen nicht nur, sondern verbleiben auch in Kärnten. Wer bleibt? Was veran- lasst Menschen sich in Kärnten niederzu- lassen? Wie verläuft Integration in Kärn- ten? Welche Subkulturen bilden sich, auch historisch gesehen? Aufgezeigt und the- matisiert werden sollen dabei auch Mög- lichkeiten, Strategien und Angebote von Partizipation und gesellschaftlicher, kultu- Versorgung von ankommenden reller, wirtschaftlicher oder politischer Teilnahme und Teilhabe. Auch in Hinblick auf Flüchtlingen durch das Rote zukünftige Perspektiven erscheint die Frage nach den Entscheidungsprozessen Kreuz und Bundesheer in zum Verlassen oder Bleiben besonders interessant. Klagenfurt im September 2015. Foto: Bundesheer/Arno Pusca. Übergreifende Themen und Fragestellungen: Diese Schwerpunkte überspannende Themen und Fragen sind jene nach De- mografie und demografischem Wandel, den Möglichkeiten der Vernetzung und den „Optionen“ und Optanten im Laufe der Zeit. Über der gesamten Darstellung stehen die zentralen Fragen: Wer kommt? Wer geht? Wer bleibt? Und warum?

Querschnittthemen Es wurden zudem Themen formuliert, die sich über alle Bereiche spannen können und im Zuge der weiteren Projektentwicklung besondere Beachtung finden sollen (auszugsweise Aufzählung): Gender; transgenerationelle Unterschiede; Kernkom- petenzen (wie Bildung, Forschung); Zukunftsperspektiven; Umgang mit Proble- men und Dynamiken; Fortschrittsgewinner – Modernisierungsverlierer; Rolle der Medien; Bedeutung konstruktiver und destruktiver Kräfte (z. B. Künste, Kriege Frauen in neuen Berufsfeldern: und ihre Folgen etc.) aber auch Kärnten-Bilder im Vergleich (Wohin können wir Angelobung des Bundesheeres kommen?) oder konkurrierende Konzepte (gestern – heute). Als mögliche Aus- in Dellach im Drautal, Oktober 2016. gangspunkte für weiterführende Bearbeitungen, z. B. in einem partizipativen Pro- Foto: Bundesheer/Manfred Wallner. zess zur Zukunftsgestaltung Kärntens, eignen sich Themen wie: Wie weit reicht Kärnten? Wie Zukunft verhandeln? Welche Perspektiven ergeben sich für die Zukunft, z. B. Zukunftslabore. Hingewiesen sei da- rauf, dass Zukunftsaspekte bei allen The- men mit betrachtet werden.

21 Inhalte und Themen FAQs zum neuen Landesausstellungsformat Mit dem Projekt CARINTHIja 2020 will die Kärntner Landesregierung ein neues Format für eine Landesausstellung umsetzen: Nicht das Land Kärnten konzipiert eine zentrale Inhalte und Themen Ausstellung, sondern ein Wettbewerb der besten Ideen entscheidet darüber, FAQs zum neuen welche Aktivitäten realisiert werden. Dafür wird es sowohl Projektausschreibungen also auch Wettbewerbe oder andere Landesausstellungsformat Beteiligungsformate geben.

Kapitel 2 FAQs zum neuen Landesausstellungsformat

Beim Format CARINTHIja 2020 – Zeitreisen und Perspektiven werden die Akti- vitäten nicht vom Land Kärnten vorgegeben, sondern durch die Bevölkerung vor Ort mitgestaltet, die durch Projektausschreibungen, Wettbewerbe und verschie- dene Beteiligungsformate aufgefordert wird, sich mit ihren Ideen einzubringen.

Wie werde ich Teil der Landesausstellung? Die Entscheidung, welche Projekte im Rahmen der Kärntner Landesausstellung realisiert werden, trifft eine unabhängige Jury, die sich aus Experten des Landes und aus der Wissenschaft zusammensetzt. Teilnahmemöglichkeiten wird es in fünf Kategorien geben: 1. Gemeinden 2. Kunst, Kultur und Brauchtum 3. Wissenschaft 4. Schulen 5. Zukunftsfabrik Für jede Ausschreibung gibt es allgemeine und spezielle Kriterien. Sämtliche aus- gewählte Projekte und Aktionen werden zu einem Gesamtprogramm zusammen- gefasst und unter einer gemeinsamen Dachmarke beworben.

Wer kann sich beteiligen? Adressaten sind in erster Linie Vereine, Institutionen, Unternehmen und Einzelper- sonen im Unterkärntner Raum. Gleichzeitig können sich aber beispielsweise auch Initiativen aus Oberkärnten beteiligen, wenn sie das Projekt in der Schwerpunkt- region und mit einem Partner vor Ort realisieren. Schul- und Wissenschaftsprojekte werden landesweit ausgeschrieben.

Was passiert mit meinem Projekt? Die Projekte werden nach der Auswahl durch die Jury zu einem Gesamtprogramm zusammengesetzt, das auch dementsprechend beworben wird. Die Umsetzung liegt gänzlich bei den Projektpartnern. Die zuständigen Mitarbeiter beim Amt der Kärntner Landesregierung stehen jedoch mit Rat und Tat zur Seite und werden die Projekte betreuen bzw. darauf achten, dass sie im Rahmen der Gesamtkon- zeptionierung ausgestaltet und durchgeführt werden.

Wo soll mein Projekt stattfinden? Schwerpunktmäßig sollen die Projekte im Raum Unterkärnten umgesetzt werden. Dies betrifft im Wesentlichen das Gebiet der historischen Abstimmungszonen. Die Schulprojekte werden dagegen das gesamte Bundesland abdecken. Die wissen- schaftlichen Projekte können auch überregional, das heißt national als auch inter- national, möglich sein.

Welchen Inhalt sollen meine Projekte haben? Ziel ist es, verschiedene Zugänge zu und unterschiedliche Perspektiven auf Ver- gangenheit, Gegenwart und Zukunft Kärntens darzustellen. Deshalb kann sich die Bandbreite der Projekte von Ausstellungen und Veranstaltungen in den Bereichen Musik, Literatur, darstellende und bildende Kunst oder Volkskultur über Workshops und Jugendprojekte bis hin zu Symposien und Diskussionsformaten erstrecken. Bei der Projektkonzipierung sind jedoch folgende allgemeine Kriterien zu beachten: • Der Projektwerber ist in der Schwerpunktregion als Institution oder Organisation

24 Kap. 2

oder Einzelperson ansässig (ausgenommen Schul- und Wissenschaftsprojekte). • Es wurde bereits ein ähnlich gelagertes Projekt in der nahen Vergangenheit zur Umsetzung gebracht. D.h. der Projektwerber verfügt über die notwendige Erfah- rung, ein Projekt im Rahmen der Landesausstellung 2020 umsetzen zu können. • Für die Umsetzung des Projekts soll vorzugsweise vorhandene Infrastruktur ge- nutzt werden. • Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen und Leitlinien der Landes- ausstellung 2020 ist klar zu erkennen. • Das Projekt weist einen hohen Innovationsgrad auf. • Der Projektträger kann den Nachweis einer geschlossenen Projektfinanzierung, inklusive eines verbindlichen Eigenmittelanteils, erbringen (ausgenommen Schul- und Wissenschaftsprojekte). • Die Bereitschaft zur eigenverantwortlichen operativen Projektumsetzung und ge- meinsamen Vermarktung innerhalb eines Gesamtprogramms ist gegeben. Zusätzlich zu diesen grundsätzlichen Vorgaben unterliegt jeder Ausschreibungs- bereich spezifischen Kriterien, damit die qualitative Ausrichtung des Gesamtpro- gramms gewährleistet wird. So liegt bei den einzelnen Ausschreibungen beson- deres Augenmerk auf die Art der förderbaren Projekte. Das Modul „Gemeinden“ sieht vor allem vor, dass sich Kommunen mit Infrastruk- turprojekten bei der Ausschreibung bewerben. In den Ausschreibungskriterien werden jedenfalls auch Aspekte wie Nachhaltigkeit und kulturtouristisches Po- tenzial der Projekte berücksichtigt. Letzteres gilt selbstverständlich auch für „Kulturprojekte“. Hier wird es außerdem von zentraler Bedeutung sein, dass der Projektwerber als Veranstalter oder Orga- nisator bereits in der Ausstellungsregion etabliert ist. Die Ausschreibung in diesem Modul richtet sich sowohl an Kultureinrichtungen und die Freie Szene als auch an Organisationen und Vereine aus den Bereichen Volkskultur und Brauchtum. Bei Wissenschafts- wie auch Schulprojekten wird eine kärntenweite bzw. über- regionale Partizipation angestrebt. Die Ausschreibung in diesem Bereich berück- sichtigt sowohl wissenschaftliche Arbeiten als auch Kooperationen von Schulen mit Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen sowie Schulentwicklungsprojekte. Ein wichtiges Auswahlkriterium wird hier die vom Projektwerber beabsichtige Prä- sentation der Ergebnisse darstellen. Mit dem Ausschreibungsmodul „Zukunftsfabrik“ sollen vor allem Projekte, die sich mit Perspektiven für Kärntens zukünftige Entwicklung beschäftigen, initiiert wer- den, sodass hier der Fokus auf den Bereichen Regionalentwicklung, Wirtschaft, Tourismus, Raumplanung und grenzüberschreitende Zusammenarbeit liegt.

Wann sollte mein Projekt stattfinden? In den Detailausschreibungen zu den fünf genannten Bereichen (Gemeinde, Schule, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Brauchtum sowie Zukunftsfabrik) wird der Zeitraum für die Projektumsetzung bzw. die Präsentation der jeweiligen Ergebnis- se festgelegt. Schwerpunktmäßig sollen die Projekte jedoch im Zeitraum Frühjahr bis Herbst 2020 umgesetzt werden.

25 Inhalte und Themen Vertiefende Fachartikel

Erika Napetschnig Um in die Themenschwerpunkte einzuführen, haben Autorinnen und Autoren verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen Beiträge zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft Kärntens verfasst. Sie verstehen sich Inhalte und Themen als exemplarische Zugänge, die einen Überblick geben und zur vertiefenden Vertiefende Fachartikel Beschäftigung anregen sollen.

Erika Napetschnig _1 Infrastruktur (wirtschaftliche) Entwicklung Raum _2 Kapitel 3 Vernetzung Nachbarn Dialog _3 Identität Erinnerungskultur _4 Demokratie- entwicklung _5 Migration _1 Infrastruktur (wirtschaftliche) Entwicklung Raum _2 Kapitel 3 Vernetzung Nachbarn Dialog _3 Identität Erinnerungskultur _4 Demokratie- entwicklung _5 Migration Kap. 3_1

Die wirtschaftliche Entwicklung Kärntens im „kurzen“ 20. Jahrhundert: Modellfall einer partiellen Modernisierung

Werner Drobesch

Von der Jahrhundertwende bis zum „Anschluss“: im Zustand der Dauerkrise Die wirtschaftliche Entwicklung Kärntens im „kurzen“ 20. Jahrhundert war nur bedingt eine Erfolgsgeschichte und lässt sich als Modell einer partiellen Moderni- sierung charakterisieren. Die Ausgangslage um 1900 stellte sich wenig rosig dar. Das Land hatte den Sprung in das Industriezeitalter nicht geschafft. Es war noch immer ein Agrarland. Von der einst bedeutungsvollen Montanindustrie und eisen- verarbeitenden Industrie war nicht mehr viel übriggeblieben. Nur ein kleiner Rest (Eisenerzbergbau/Hüttenberg, Bleiabbau/Bleiberg-Kreuth, Magnesitbergbau/Ra- denthein; KESTAG/Ferlach) überlebte. Ebenso hatte sich in der Größenstruktur der Industriebetriebe kein tiefgreifender Wandel vollzogen. Mittel- und Kleinbetriebe dominierten, die Zahl größerer Industrieunternehmen mit mehr als 200 Beschäf- tigten verringerte sich. Ein industrieller Aufschwung war nicht in Sicht. Ein Grün- derboom blieb aus. Verschwunden war der Typus des Pionierunternehmers, der fast ein Dreivierteljahrhundert lang, bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts, der (montan)industriellen Entwicklung den Stempel aufgedrückt hatte. Mit dem Niedergang der Montanindustrie verschwanden viele dieser bedeutenden Unter- nehmerdynastien (Dickmann-Secherau, Egger, Christalnigg, Rauscher, Rosthorn). Die Zahl privater Industriegründungen hielt sich in Grenzen. Es mangelte an „Un- ternehmern von rechtem Schrot und Korn“. Neue, zukunftsorientierte Unterneh- mensgründungen größeren Stils wie jene Carl Auer von Welsbachs in Treibach oder Hugo Henckel von Donnersmarcks in Frantschach fanden nur spärlich statt. Im Wesentlichen beschränkte sich die schmäler gewordene Industriebasis auf die chemische Industrie, die Leder- und Textilproduktion, Papierfabriken, Bleihütten, Kohlebergbau und Metall verarbeitende Betriebe. 29 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Nach dem Zerfall des habsburgischen Vielvölkerstaates verstärkten sich die seit den 1870er-Jahren latent vorhandenen Krisensymptome. War das Land zuvor noch zumindest in einen größeren Binnenmarkt und in transnationale Handelsströme eingebunden gewesen, geriet es im Gefolge der Neuordnung Europas nach 1918 in eine Randlage. Die über Jahrhunderte gewachsenen Wirtschaftsverbindungen, vor allem in Richtung Süden und Südosten, existierten nur mehr eingeschränkt. In Kombination mit der europaweit schwierigen Wirtschaftslage und einer protektio- nistischen Außenhandelspolitik beschleunigte sich im Verlaufe der 1920er-Jahre der Niedergang der Landesökonomie. Nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 steuerte diese auf einen Tiefpunkt zu. Die schon vor 1914/1918 antiquier- ten Strukturen in Verbindung mit den neuen Rahmenbedingungen und die durch den Weltkrieg verursachten Schäden erwiesen sich als zusätzlicher Ballast für eine nachhaltige Modernisierung. Sie beschleunigten die Potenzierung der chronischen Krise. Die Zwischenkriegszeit war durch Stagnation und Verarmung gekennzeichnet. Die Industrie erfuhr keine nachhaltigen Modernisierungs- und Wachstumsimpulse. Die Unternehmenslandschaft veränderte sich kaum. Vorhandenes wurde unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen fortgeführt. Die Mehrzahl der Unter- nehmen kämpfte ums Überleben. In vielen Betrieben wie etwa im Radenthei- ner Magnesitwerk blieben die Produktionskapazitäten unausgelastet oder sie er- reichten wie im Falle der Papierfabrik in Frantschach-St. Gertraud, wo Anfang der 1930er-Jahre 480 Beschäftige entlassen wurden, nur eine geringe Auslastungs- quote. Anderen Betrieben erging es noch schlimmer. Sie mussten geschlossen werden bzw. auf Kurzarbeit umstellen, als sich die Absatzprobleme verdichte- ten. Eine Welle von Produktionseinstellungen folgte. 1931 stellte der Bleiberger Bergbau seine Aktivitäten ein, es folgten Ende Oktober 1932 die Wietersdorfer Zementwerke, Ende 1932 die Papierfabrik Poitschach bei Feldkirchen und im Juni 1933 der Eisenerzabbau in Hüttenberg. Mit 435 Konkursen lag Kärnten 1932 bis 1934 österreichweit an der Spitze. Die Konsequenz war eine rasant ansteigen- de, ohnehin bereits auf hohem Niveau befindliche Arbeitslosenrate. Mit 19.000 vorgemerkten Arbeitslosen registrierte man im Winter 1931/1932 eine Rekord- zahl. Keine Branche konnte sich der Krise entziehen. Besonders schwerwiegend wirkte sich das im Falle der Holzindustrie und der Papier- und Zelluloseproduktion aus. 1930 waren von den 638 Sägewerken ca. 10 Prozent stillgelegt. Für viele Kleinbauern, für welche die Holzschlägerung und -bringung ein wichtiger Neben- erwerb war, wirkte sich dieser Umstand verheerend aus. Die Sägeindustrie war kein Einzelfall. Ihre prekäre Lage stand symptomatisch für die Industriewirtschaft insgesamt. Das hatte zur Folge, dass die schmale Unternehmerschicht sich in der Zwischenkriegszeit nicht verbreiterte. Unternehmensgründungen in zukunfts- trächtigen Industriesegmenten fanden nicht statt. Auch in der Betriebsgrößen- struktur fand kein tiefgreifender Wandel statt. Gering blieb bis zur Weltwirtschafts- krise die Zahl der Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten (Bleiberger Bergwerksunion; Radentheiner Magnesitwerk) und – für Kärntner Verhältnisse –

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mittelgroßer Betriebe wie die beiden Holzverarbeitungsunternehmen „Drauland“ und „Funder“, die Papierfabrik Frantschach, die Lederwarenfabrik Neuner oder das Kohleabbauunternehmen „Lavanttaler“. Nach der Krise erreichte man nicht mehr diesen Beschäftigtenstand. Als die Bleiberger Bergwerksunion im März 1932 nach einer kurzzeitigen, radikalen Betriebseinschränkung den Bergbau wiederaufnahm, wurde von den einst ca. 1.000 Arbeitern nur mehr die Hälfte wieder eingestellt. Ab 1937 zeichnete sich aber eine Trendwende ab. Es mehrten sich die Anzeichen für eine Erholung der Landesökonomie. Sowohl die Produktionsmengen als auch der Wert des Umsatzes nahmen in nahezu allen Branchen wieder zu. So verzeich- nete die KESTAG, „einer der größten und volkswirtschaftlich bedeutungsvollsten Betriebe des Landes“ (Stefan Karner), bei der Rohstahlerzeugung von 1935 auf 1937 einen Anstieg von 36 Prozent. Auch ihre Gesamtumsätze entwickelten sich wieder hoffnungsvoll. Sie erhöhten sich um 19,2 Prozent (1935: 2,6 Millionen

Heuernte in St. Oswald, ca. 1930. Schilling/9.341.150 Euro; 1937: 3,1 Millionen Schilling/11.137.525 Euro). Und die Foto: Oswin Moro/KLA. KESTAG war kein Einzelfall. In gleicher Weise dramatisch wie im in- dustriellen Sektor stellte sich die Lage in der Land- und Forstwirtschaft dar. Deren Anteil an der Wirtschaftsleistung des Landes und den Beschäftigten blieb hoch. 1934 lag der Anteil der Berufstä- tigen im primären Sektor noch bei 51,7 Prozent. Deutlich geringer war jener im sekundären (24,7 Prozent) und tertiä- ren Sektor (24,7 Prozent bzw. 20,5 Pro- zent). Beide verzeichneten im Vergleich zu 1900 nur geringfügige Zuwachsra- ten. Die nach wie vor starke Ausrich- tung auf die Landwirtschaft spiegelte sich in den Kennzahlen der Agrarbe- triebe wider. Nach einem geringfügigen Rückgang während der 1920er-Jahre erhöhte sich deren Zahl von 1902 bis 1939 von 33.294 auf 34.129 Betrie- be. Damit einher ging eine Abnahme der durchschnittlichen Betriebsgröße von 31 Hektar auf 26,5 Hektar. 1939 betrug der Anteil der Zwerg- und Kleinstbetriebe (unter 2 Hektar) 20,8 Prozent (1902: 21,9 Prozent) und jener der Kleinbetriebe (2-10 Hektar) 18,6 Prozent (1902: 30,7 Prozent). Nahezu konstant blieb die Zahl der Großgrund-

31 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

besitzer (> 10.000 Hektar), auf die 8,2 Prozent der agrar- und forstwirtschaftlichen Fläche entfiel und deren ökonomische Basis die Waldwirtschaft darstellte. Noch immer wirtschaftete man subsistenzorientiert, und das Gros der bäuerlichen Höfe funktionierte als Familienbetrieb. Seit der Jahrhundertwende verzeichnete die Zahl der Familienangehörigen, die am Hof mitarbeiteten (1902: 55.292/41 Prozent der Erwerbstätigen; 1939: 74.833/51 Prozent der Erwerbstätigen) einen deut- lichen Anstieg. Das war Ausdruck eines Re-Agrarisierungsprozesses. Unmittelbar im Zusammenhang mit der Schwäche einer kleinbetrieblichen Struktur stand der latente Mangel an modernen, innovativen Produktionstechniken. Traditionelle An- baumethoden überwogen. Wohl konnte der Mechanisierungsgrad etwa durch die Einführung von Dresch- und Häckselmaschinen gesteigert werden, insgesamt blieb er aber auf einem niedrigen Niveau, weil es – abgesehen von den größeren Bauernwirtschaften – am notwendigen Kapital für Investitionen in die Moderni- sierung der Höfe mangelte. Das wirkte sich sowohl im Rahmen der Getreide- als auch der Viehwirtschaft negativ auf die Produktivität und Produktion aus. Langsam gelang es während der 1920er-Jahre sich zumindest den Erträgen der Jahre vor 1914 anzunähern. Das Grundproblem bestand aber weiter. Es wurde ineffizient gewirtschaftet. Hinzu kamen ein Preisverfall, Absatzschwierigkeiten sowie ein Preisanstieg für Bedarfsgüter, die zugekauft werden mussten. Eine Intensivierung des Anbaus und eine Ertragssteigerung gelangen nicht. Im Gegenteil: die Ernte- ergebnisse – ausgenommen bei Kartoffeln – waren trotz Ausweitung der Acker- und Wiesenflächen rückläufig. Erst Ende der 1930er-Jahre konnte eine Zunahme der Getreideerträge erreicht werden. Bei Weizen betrug 1939 der Ertrag pro Hek- tar 14,6 Zentner (1902: 8,9 Zentner) und bei Roggen 13,7 Zentner (1902: 8,2 Zentner). Aus der schlechten Einkommenssituation resultierte eine zunehmende Verschuldung der Höfe. Dieser Umstand entwickelte sich zu einem schwerwie- genden Problemfeld, weil auch staatliche Hilfen und Entschuldungsaktionen wie 1934 (Verordnung zur „Erleichterung der Schuldverhältnisse der Bergbauern“) für viele Höfe keine Lösung der existenzbedrohlichen Notlage brachten. 1936 be- lief sich die Verschuldung der Kärntner Bauernhöfe auf ca. 180 Millionen Schilling (~ 647,4 Millionen Euro), und 1938 waren 34 Prozent von einer Versteigerung bedroht. Das war österreichweit der höchste Anteil.

Sieben lange Jahre der NS-Herrschaft: exzessive Ausbeutung der Ressourcen Und die Situation besserte sich nach dem „Anschluss“ an das nationalsozialis- tische Deutschland im März 1938 nicht. Die von der NS-Propaganda verkündete „Entschuldung“ der Bauernhöfe erwies sich als bloße Makulatur. Realiter handelte es sich um eine Schuldenregelung. Gleichfalls blieb die seitens des NS-Staates intendierte Verbesserung der Ertragslage der Bauernwirtschaften sowie die Stei- gerung der Agrarproduktion unter den Erwartungen. Trotz vermehrten Einsatzes von anorganischem Dünger und von Maschinen stagnierte mit fortschreitendem Kriegsverlauf die Agrarproduktion. Ab 1940 entwickelte sie sich sogar wieder rückläufig.

32 Kap. 3_1

Wie in der Landwirtschaft begann der NS-Staat auch im Industriesektor vom ers- ten Tag des „Anschlusses“ an, die Ressourcen in den Dienst der Kriegsvorberei- tungen bzw. nach Beginn des Zweiten Weltkrieges der Kriegsführung zu stellen. Strukturell änderte sich für die Landesökonomie nichts. Ungeachtet der kriegswirt- schaftlichen Ziele kam es zu keiner weitreichenden Erweiterung der industriellen Basis. Die Unternehmenslandschaft blieb weiterhin kleinbetrieblich orientiert. Was an Industrieunternehmen vorhanden war, wurde gemäß den Prinzipien vom to- talen Staat für die NS-Rüstungspolitik exzessiv genutzt. So kam es – aufgrund des Wasserreichtums des Landes – aus rüstungstechnischen Überlegungen zum Bau von Wasserkraftwerken für die Stromgewinnung und zum Ausbau des Stromnet- zes. Bis 1943 konnte die Produktion der Rüstungsbetriebe teils um mehr als 50 Prozent gesteigert werden. Doch veränderte sich weder hinsichtlich der Produk- tionsorientierung noch der Größe Gravierendes. Sieht man von kriegsbedingten Produktionsverlagerungen (Zweigwerk der Wiener Neustädter Flugzeugwerke in Klagenfurt; „Thermotechnik“ Berlin in Greifenburg) nach Kärnten und dem Ausbau der Wasserkräfte ab, entstanden keine neuen Produktionssegmente.

Von der verspäteten Industrialisierung bis zur beginnenden Entindustrialisierung Kraftwerksbau der Österreichischen Draukraftwerke, 1950er-Jahre. So stellte sich bei Kriegsende im Mai 1945 die Situation der Landesökonomie hin- Foto: Krünes/IGKA. sichtlich der Rahmenbedingungen ähnlich schwierig wie nach 1918 dar. Vor dem Hintergrund neuer wirtschaftspolitischer Prinzipien, die sich einem Mixtum von Staatsinterventionismus und Marktwirt- schaft verschrieben, vollzog Kärnten unter den günstigen Marktbedingun- gen der Nachkriegsjahre mit einer stei- genden Nachfrage nach Industriegütern den Eintritt in das Industriezeitalter. Nun setzte in einem Nachholverfahren jener Prozess ein, der ab den frühen 1950er- Jahren zu einer rasanten Auflösung der Agrargesellschaft führte. Den Sprung in die Ära der Hochindustrialisierung schaffte die Landeswirtschaft aber nicht. Die Impulse der fast drei Jahrzehnte an- haltenden Wachstumsdynamik gingen von der Modernisierung bestehender Industrieanlagen, der Ansiedlung von Unternehmen und dem Ausbau der Wasserkräfte aus. Der forcierte Bau von überregionalen Verkehrswegen (ab den 1970er-Jahren Süd- und Tauernauto- bahn) und die Verdichtung des Stra-

33 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

ßennetzes ermöglichten eine verbesserte Anbindung an die Märkte. Allerdings Eröffnung der elektrifizierten waren die meisten Flaggschiffe in den ersten Nachkriegsjahren (Bleiberger Berg- Bahnlinie Villach – Tarvis 1953. Foto: KLA. werksunion, Treibacher Chemische Werke, Zellstoffwerk Frantschach, Eisenerz- bergbau Hüttenberg, Radentheiner Magnesitwerk) schon vor 1938 Leitbetriebe gewesen. Bei der Ansiedlung neuer Unternehmen handelte es sich in der Mehr- zahl um „verlängerte Werkbänke“.

Mit dem Ausbau der Industriewirtschaft einhergehend, bildeten sich Strukturen heraus, die à la longue zu einer Hypothek wurden. Zum einen existierten (zu) viele periphere Einzelstandorte und ein geringer Diversifizierungsgrad, zum an- deren entwickelte sich nur eine schmale Zone mit einem relativ hohen Indus- trialisierungsgrad im Kärntner Zentralraum. Hier fanden nahezu 60 Prozent der Industriebeschäftigten Mitte der 1960er-Jahre ihre Arbeit. Dieser Zentralraum er- fuhr aber nie jene industrielle Verdichtung, die weitreichende Agglomerationsvor- teile geschaffen hätte. Eine professionalisierte Industrieforschung fehlte. Moderne Schlüsselindustrien wie die Elektroindustrie verbreiteten sich nur zaghaft. Wohl

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stieg ihr Anteil an der Gesamtwertschöpfung von 1,8 Prozent (1948) auf 6,1 Prozent (1975) an, doch war die Zunahme im internationalen Vergleich unter- durchschnittlich. Bis in die späten 1960er-Jahre florierten vor allem die auf tradi- tionelle Konsumgüter-, Grundstoff- sowie Halbfertigungsproduktion ausgerichte- ten Segmente. Deren Bedeutung begann aber zu schwinden. Bis 1975 sank der Anteil der Montanwirtschaft an der Gesamtwertschöpfung auf 12,2 Prozent. Ein weiteres Manko stellte die hohe Dichte von verstaatlichten Betrieben im Grund- stoffsektor dar. Mit der Förderung der beschäftigungsintensiven, aber überkom- menen Grundstoffindustrie durch die öffentliche Hand wurde eine wirtschaftliche Grundstruktur gestärkt, die innovative Entwicklungsmöglichkeiten mehr verbaute als förderte. Nicht außer Acht zu lassen ist der weiterhin existierende Mangel eines breit gefächerten Privatunternehmertums. Kärnten konnte in den Nachkriegsjah- ren nicht mit der auf gesamtstaatlicher Ebene stattfindenden Gründerwelle mit- halten. In den Bereichen der unternehmerischen Aktion und Innovation bewegte sich das Land im österreichischen Schlussfeld.

Obwohl mit dem industriellen Wachstum ein Strukturwandel in der Landesöko- Fortleben industrieller Tradition: Bergbau in Kärnten, 1950er-Jahre. nomie verbunden war, blieb ein nachhaltiger hochtechnologischer Innovations- Foto: Krünes/IGKA. schub aus. Nur zögerlich wurden die Weichen in Richtung der „high technologies“ gestellt. Allerdings reduzierte sich unter dem Konkurrenzdruck aus Niedriglohn- ländern die Bedeutung der grundstoff- industriellen Branchen mit einer hohen Arbeitsintensität und einem geringen Humankapital. Das waren vorrangig die Textil- und Bekleidungsindustrie, deren Unternehmen in Standorte mit Lohn- kostenvorteilen abwanderten, des Wei- teren die holz- und lederverarbeitende Industrie, der Bergbau und die eisenver- arbeitende Industrie. Letztere spielte in- nerhalb der Landesökonomie mit einem Anteil von 3,3 Prozent am Ende des 20. Jahrhunderts nur mehr eine untergeord- nete Rolle. 1978 war der Hüttenberger Erzbergbau stillgelegt worden, 1993 folgte die Liquidation der Bleiberger Bergwerksunion. Mit dem Konjunktureinbruch der Jahre 1974/1975 („Ölkrise“) endete die lan- ge Zeit der industriellen Expansion. Vor dem Hintergrund einer Liberalisierung des Weltmarktes und einer technischen

35 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Revolutionierung begannen schwierige Zeiten. Was wie ein kurzzeitiger konjunk- tureller Einbruch aussah, entpuppte sich als längere Krise. Betroffen waren nicht nur die Industrie, sondern ebenso der Handel und – in einem geringeren Ausmaß – das Gewerbe. Im Handel verschwanden die Kleinstbetriebe. Der Greißler um die Ecke gehörte bald der Vergangenheit an. An seine Stelle traten neue Verkaufsfor- men des auf Selbstbedienung ausgerichteten Großmarktes. 1968 wurde der ers- te in Klagenfurt eröffnet. Dagegen überstand das auf klein- und mittelbetrieblichen Strukturen basierende, auf den regionalen Markt ausgerichtete Gewerbe die Krise relativ unbeschadet. Der industrielle Sektor dagegen geriet unter den ungünsti- gen Bedingungen einer weltweiten Rezession in den Sog der Krise. „Verlängerte Werkbänke“ konnten im Standortwettbewerb nicht mehr bestehen. Zu gering war ihre Wettbewerbsfähigkeit. Zugleich verschwanden im industriellen Nachzüg- lerland Kärnten alte Produktionssektoren. An ihre Stelle traten allmählich neue. Die Weichen wurden – später als anderswo – in Richtung moderner industrieller Seg- mente gestellt. Vor allem die Elektro- und Elektronikindustrie expandierte stärker als in den Jahren davor. Bis Anfang der 1990er-Jahre stieg sie mit einem Anteil von 16,2 Prozent an der Gesamtproduktion zur führenden Industriebranche auf. Ein Handikap blieb weiterbestehen: Nur wenige Betriebsansiedlungen konnten sich von bloßen Produktionsbetrieben zu voll integrierten Konzernunternehmen mit hoher Forschungs- und Entwicklungskompetenz entwickeln. Ungeachtet dessen erhielt Kärntens Ökonomie im ausgehenden 20. Jahrhundert ein neues Gesicht. Das änderte nichts daran, dass der Wachstumsverlauf der Kärntner Wirt- schaft schwächer als in anderen Bundesländern ausfiel. Die Ursache lag nicht so sehr in der Sachgüterproduktion, sondern in der voranschreitenden Tertiärisierung, vor allem in dem sich unterdurchschnittlich entwickelnden Dienstleistungsseg- ment mit einem Defizit an wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen sowie einer ungünstigen Entwicklung im Tourismus ab den 1980er-Jahren. Seit den Zeiten eines Ernst Wahliß, der im späten 19. Jahrhundert in den bei- den Wörtherseeorten Pörtschach und Velden den modernen Tourismus begrün- det hatte, nahm dieser einen kontinuierlichen Aufschwung, ohne zunächst zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor zu werden. Ungeachtet der schwierigen Wirtschaftslage brachten die 1920er-Jahre eine Ausweitung der Kapazitäten. Von 1924/1925 bis 1931/1932 nahm die Bettenzahl um 118,2 Prozent und die Zahl der Nächtigungen um 92,9 Prozent zu. Zwar brachten die Jahre der Weltwirtschaftskrise für die Fremdenverkehrsbranche sowohl für die Sommer- als auch Wintersaison schwerere Zeiten, doch wirkte sich diese weniger negativ aus als in anderen Wirtschaftszweigen. Eine wenn auch schmale Schicht von Ver- mögenderen konnte sich nach wie vor einen Urlaub leisten. Als die Lage durch die 1.000-Mark-Sperre Hitler-Deutschlands ab Ende Mai 1933 schwieriger wur- de, kam es zwar zu einem nahezu völligen Versiegen des Gästezustroms aus Deutschland, doch fiel der Gesamtrückgang an Übernachtungen weniger stark aus, als von Seiten des NS-Staates intendiert. Gab es 1931/1932 noch ca. 1,65 Millionen Nächtigungen, ging deren Zahl 1933/1934 auf ca. 1,39 Millionen zurück.

36 Kap. 3_1

Der Verlust fiel weniger dramatisch aus, weil das Ausbleiben deutscher Urlauber durch neue Gäste etwa aus dem Inland, aus Italien oder Ungarn kompensiert werden konnte. 1934/1935 verzeichnete die Statistik mit 1,58 Millionen Über- nächtigungen wieder einen Anstieg. Nach dem nationalsozialistischen „Kraft-durch-Freude“-Tourismus, dem Erlahmen des Tourismus während des Weltkrieges und den Bemühungen um die Wieder- belebung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte ab Mitte der 1950er- Jahre eine Phase des Booms ein. Die Jahre des „Wirtschaftswunders“ bedingten einen rasanten Aufschwung. Die Mischung aus „Heimatimage“ und internationa- lem, mondänem Flair führten zu einem exorbitanten Anstieg der Nächtigungs- zahlen: von 1,72 Millionen im Jahre 1952/1953 auf 10,21 Millionen im Jahre 1962/1963. 1979/1980 verzeichnete man mit ca. 19 Millionen Übernachtungen nochmals einen Rekordwert. Der Sommertourismus überragte den Wintertouris- mus, wobei letzterer seit Mitte der 1980er-Jahre an Terrain gewann. Hatte der Anteil 1952/1953 noch 7,9 Prozent Winter- und 92,1 Prozent Sommertourismus gelautet, betrug das Verhältnis 1999/2000 23,3 Prozent zu 76,7 Prozent. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Nächtigungszahlen kontinuierlich auf den Stand von

Tourismuswerbung um 1930, Vel- 15,8 Millionen zurückgegangen. Die „goldenen Jahre“ waren Vergangenheit. Im den am Wörthersee. Foto: KLA. letzten Dezennium des 20. Jahrhunderts verzeichnete insbesondere der Sommer- tourismus starke Einbrüche, und die Nächtigungszahlen pendelten sich auf das Ni- veau der 1960er-Jahre ein. Der Tourismus bekam die Veränderungen in den Urlaubs- und Reisege- wohnheiten (kostengüns- tige Fernreisen), die starke Konkurrenz der Adrialänder sowie die schlechter ge- wordene Wirtschaftslage, aber auch die Versäumnis- se der Vergangenheit, wie zu klein strukturierte Frei- zeiteinrichtungen vor Ort, zu spüren. Diese verstärk- ten den rezessiven Trend. Viele Beherbergungsbe- triebe waren der globaler werdenden Konkurrenz nicht mehr gewachsen. Dennoch war Kärnten noch immer ein „Tourismusland“.

37 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Der erwirtschaftete Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung Kärntens hielt sich High Tech-Produktion in Kärnten: aber in Grenzen. 1998 betrug er lediglich 5,2 Prozent. Im Vergleich zur Industrie Reinraum von Infineon, Villach. Foto: Infineon Technologies und dem verarbeitenden Gewerbe mit 20,2 Prozent war das wenig überragend. AG. In dem Maße wie im Nachkriegskärnten die Bedeutung der Industrie und des Tourismus für die regionale Wirtschaft zunahm, verlor der Agrarsektor an Boden. Am Ende des 20. Jahrhunderts war der Einstieg in eine „industrialisierte Agrar- wirtschaft“ in Gang gekommen, verbunden mit der Einführung agrartechnischer Innovationen und einer verstärkten Kapitalisierung der Produktion mit sektoralen Schwerpunktsetzungen. Aufgrund von Standortvorteilen erfolgte eine Konzen- tration der Intensivlandwirtschaft auf den Kärntner Zentralraum, wo es zu einer Produktionsverdichtung kam. Dagegen verzeichneten die agrarischen Extensiv- gebiete Oberkärntens und des Lavanttales aufgrund ihrer naturräumlichen Nach- teile Produktionsrückgänge. Das seit der Jahrhundertmitte im Gang befindliche „Bauernsterben“ setzte sich fort. Bis 1990 halbierte sich im Vergleich zu 1951 die Zahl der Zwerg- („Eisenbahnbauer“) und Kleinstbetriebe unter 5 Hektar. Im Gegenzug stieg als Ergebnis einer Strukturanpassung die Zahl der mittelgroßen bäuerlichen Betriebe an. 1990 wurde mit 321 Betrieben mit mehr als 200 Hek- tar Wirtschaftsfläche ein Rekordwert erreicht. Hand in Hand damit beschleunigte sich der Rückgang bei der Gruppe der Vollerwerbsbauern. Von 1970 (12.678) bis 1990 (6.157) kam es zu einer Halbierung. Viele Bauernhöfe konnten nur mehr

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im Neben- oder – bestenfalls noch – Zuerwerb betrieben werden. Für einen Voll- erwerb gaben sie zu wenig her. Die Vollmechanisierung der Arbeitsabläufe und der Produktion erfasste die Stall- und Feldarbeit. Das auf der Wiese sich im Dreck sulende Schwein war eine Rarität. Es verschwand aus der Landschaft. Was wie ein atemberaubender Paradigmenwechsel aussah, war jedoch eine Anpassung an die internationale Entwicklung. In diese wurde die Kärntner Ökonomie nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (1992) stärker als in den Jahrzehnten davor eingebunden. Einerseits öffnete sich für sie ein größerer Absatzmarkt, ande- rerseits bedingte der größer gewordene Markt härtere Konkurrenzbedingungen. Und mit diesen Herausforderungen begann ein neues Zeitalter in Richtung Indus- trie 4.0.

Literaturhinweise:

Hans Joachim Bodenhöfer, Kärntens Wirtschaft im österreichischen und internationalen Kontext. Wirtschaftspolitische Probleme und Leitlinien, in: Helmut Rumpler (Hg.) – Ulfried Burz (Mitarbeit), Kärnten. Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bundesland. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, hg. von Herbert Dachs – Ernst Hanisch – Robert Kriechbaumer. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch- historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, Bd. 6/2. Wien – Köln – Weimar 1998, S. 327-349.

Werner Drobesch, Industrie, Gewerbe und Handel im Spiegel der Statistik 1945-1994, in: Helmut Rumpler (Hg.) – Ulfried Burz (Mitarbeit), Kärnten. Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bundesland. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, hg. von Herbert Dachs – Ernst Hanisch – Robert Kriechbaumer. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, Bd. 6/2. Wien – Köln – Weimar 1998, S. 379-413.

Werner Drobesch, Gebirgsland im Süden – Kärntens Landwirtschaft 1918 bis 1999., in: Ernst Bruckmüller – Ernst Hanisch – Roman Sandgruber (Hg.), Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert. Regionen. Betriebe. Menschen. Wien 2003, S. 189-241.

Katharina Eder, NS-Staat und Agrarökonomie in Kärnten 1938 bis 1945. Die „Entschuldungs” und „Aufbau”aktion als Teil kriegswirtschaftlicher Zielsetzung. Diplomarbeit. Klagenfurt 2017.

Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938 – 1945. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Landeshauptstadt Klagenfurt 2. Klagenfurt 1976.

Heidi Rogy, Tourismus in Kärnten: Von der Bildungsreise zum Massentourismus (18.-20. Jahrhundert). Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 87. Klagenfurt 2002.

39 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Dynamik gesellschaftlichen Wandels: von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft

Werner Drobesch

enn seitens der demographischen Forschung festgehalten wird, das Jahr 2000 stelle „für die Bevölkerungsentwicklung Kärntens eine Zäsur dar“, es Wmarkiere „jenen Wendepunkt in der Bevölkerungsgeschichte“ des Landes, „ab dem die Einwohnerzahl […] einer auf längere Zeit absehbare Abnahme unter- worfen sein wird“ (Peter Ibounig), nimmt der Autor indirekt auch auf die Bevölke- rungsentwicklung und den gesellschaftlichen Wandel im „kurzen“ 20. Jahrhundert Bezug. Dieses stellte den (vorläufigen) Endpunkt kontinuierlicher Bevölkerungszu- nahme – unterbrochen durch kurzzeitige Negativphasen – seit der frühen Neu- zeit dar. Ökonomisch bestimmten Agrarisierung, Entagrarisierung und Industria- lisierung die Epoche. Alle drei Phänomene waren in Kärnten während des 20. Obkircher Schnitter bei der Jahrhunderts geschichtsmächtig und beeinflussten sowohl die demographische Jause, St. Oswald 1929. Entwicklung als auch die gesellschaftlichen Strukturen nachhaltig, ohne dass es zu Foto: Oswin Moro/KLA. einer demographischen Revolution und radikalen gesellschaftlichen Neustrukturierung kam. Faktum ist: Während des 20. Jahr- hunderts nahm die Kärntner Be- völkerung deutlich zu. Wies die Volkszählung des Jahres 1900 für Kärnten (bezogen auf den heuti- gen Gebietsstand) 343.531 Ein- wohner aus, waren es am Ende des 20. Jahrhunderts 560.821 Einwohner. Das war das Resul- tat einer stetig positiven Gebur- tenbilanz. Sie war der Garant für ein phasenweise hohes jähr-

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liches Bevölkerungswachstum, das wiederholt durch eine negative Wande- rungsbilanz relativiert wurde. Kärnten war – ausgenommen die Perioden von 1939-1951 und 1981-1998 – ein Abwanderungsland. Nur selten konnte der Bevölkerungszuwachs aufgrund der mangelnden ökonomischen Prosperi- tät zur Gänze im Land gehalten werden. Die Geburtenzuwächse bildeten aber nicht den einzigen ausschlaggebenden Faktor für das Bevölkerungswachs- tum. Ein zweites, nicht unwesentliches Element stellte die stetig sinkende Sterberate dar. Beide Parameter – Geburten - wie Sterberate – blieben in den hundert Jahren nicht konstant, sondern veränderten sich aufgrund exogener Ein- flüsse wie Krieg, Wirtschaftskrisen oder – das gilt für die Geburten – Wertewandel. Am Beginn des 20. Jahrhunderts dominierten noch eine relativ hohe, aber stark sinkende Sterblichkeitsrate (1900-1910: 23,8 Gestorbene auf 1.000 Einwohner) und eine hohe Geburtenrate (1900-1910: 31,9 Geborene auf 1.000 Einwohner). Konkret hieß das, dass nach der Wende von 1899/1900 ca. 11.000 bis 12.000 Geburten pro Jahr cirka 8.500 Sterbefälle gegenüberstanden. In den ökonomisch schwierigen Zeiten der 1920er-Jahre änderte sich dieses Muster. Die Sterblichkeit sank zwar weiter – sogar deutlich – ab (1923-1934: 15,0 Gestorbene auf 1.000 Einwohner), doch ist aufgrund der prekären ökonomischen Lage bei der Gebur- tenhäufigkeit ein Rückgang festzustellen (1923-1934: 23,2 Geborene auf 1.000 Einwohner). Zugleich nahm die Abwanderung erheblich zu, weil es schwierig war, im Lande eine Erwerbsmöglichkeit zu finden. So wanderten zwischen 1923 und 1934 7.500 Personen ab. Dieser Trend setzte sich in den 1930er-Jahren fort. Während sich die Sterberaten auf einem niederen Niveau (1923-1934: 15,0 auf 1.000 Einwohner) stabilisierten, ging die Zahl der Geburten weiter zurück. 1935 wurde mit 7.300 Geburten ein Tiefstwert erreicht. Das bedeutete zwar noch im- Verpacken von Stiften in der mer einen Geburtenüberschuss, aber aufgrund der negativen Wanderungsbilanz Stiftenfabrik der KESTAG, Ende der 1950er-Jahre. wuchs die Bevölkerung deutlich geringer an. Zwischen 1934 und 1939 war es le- Foto: Krünes/IGKA. diglich ein jährliches Mehr von 2.000 Personen. Unter dem Einfluss der NS-Bevöl- kerungspolitik, deren Ziel die kinderreiche Familie war, kamen ab Beginn des Zweiten Weltkrieges wieder mehr Kinder zur Welt. Bis 1944 verzeichnete man jährlich ca. 11.000 Geburten. Auch die Abwanderung wurde gestoppt. Es gab sogar wieder eine Zuwanderung. So kamen – basierend auf den politischen Absprachen zwischen Hitler und Mussolini – ca. 4.700 Kanalta- ler ins Land. Das bildete den Startschuss zu einer „demographi- schen Wende“ (Thomas Zeloth), die sich in den ersten Jahren nach dem Ende des Weltkrieges fortsetzte. Die Friedenszeiten brachten ab 1946 einen neuerlichen An- stieg der Geburtenzahlen. Sie erreichten annähernd das Niveau des ersten Jahrzehnts nach 1900. Jährlich wurden zwischen 10.000 und 11.000 Kinder geboren. Es war das (bis 1951) auch eine Phase, in der es mehr Zu- als Abwanderung gab. Für den Wanderungsgewinn zeichneten Flüchtlinge und Heimat-

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vertriebene verantwortlich. Das ergab einen Bevölkerungszuwachs von ca. 40.000 Per- sonen und einen Bevölkerungsstand von 474.764 Einwohnern (1951). Nie in der Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Kärntner Bevölkerung so stark gewachsen wie im Zeitabschnitt 1934-1951 (+14,6 Prozent). In den „Wirtschaftswunderjah- ren“ erhöhte sich die Bevölkerungszahl nochmals, ohne das Niveau der Periode von 1934-1951 zu erreichen. Die „Baby- boomphase“ mit Rekordwerten bei der Geburtenrate (1951-1961: 20,6 auf 1.000 Einwohner; 1961-1971: 20,0 auf 1.000 Einwohner) ebbte Mitte der 1960er-Jahre ab, um in den folgenden drei Jahrzehnten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, bedingt u. a. durch die Anti-Baby-Pille („Pillenknick“) und ein neues Familienverständnis Freizeit-und Konsumgesellschaft („1-2-3-4-Familie“) rapid zurückzugehen. Geburten- und Sterberate näherten kündigt sich an: Schifffahrt am Wörthersee, 1950er-Jahre. sich an. Am Ende des Jahrhunderts verzeichnete man das erste und einzige Mal Foto: Krünes/IGKA. nach 1945 mehr Gestorbene als Geborene und somit eine negative Geburtenbi- lanz (-114). Die Zahl der Geburten, die in den Jahren des „Babybooms“ noch über 10.000 gelegen war (1961: 10.733), war 1999 auf 5.233 zurückgegangen. Der rasant verlaufende Geburtenrückgang seit den 1970er-Jahren war ein Aspekt. Der andere war, dass die Menschen erheblich älter wurden. Betrug die durch- schnittliche Lebenserwartung vor dem Ersten Weltkrieg bei Frauen 47 Jahre und bei Männern 44 Jahre, stieg diese Lebenserwartung bis 1999 bei Frauen auf 81,3 Jahre und bei Männern auf 75 Jahre an. Damit ging eine Entwicklung einher, die zu einem Mehr an älteren Menschen (> 60 Jahre) führte. Gegenüber 1900 hatte sich ihr Anteil am Ende des 20. Jahrhunderts mehr als verdoppelt und belief sich auf 20,7 Prozent. Der Kinderanteil dagegen war auf 17,3 Prozent der Bevölkerung zurückgegangen. Zu Jahrhundertbeginn hatten noch ca. 30 Prozent der Bevölke- rung zur Gruppe der „Kinder unter 15 Jahren“ gezählt. Konstant zwischen 55 bis 60 Prozent blieb der Kreis der für das Erwerbsleben in Frage kommenden Men- schen. Diese Konstanz war seit dem Nachlassen der Geburtenbilanz insbesondere auf den Wanderungsüberschuss im Gefolge der „Ostöffnung“ und kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Zerfall Jugoslawiens zurückzuführen. Zwischen 1981 und 1998 kamen etwa 12.000 Menschen aus anderen Ländern nach Kärn- ten. Die Zuwanderung „von außen“ und die Binnenwanderung manifestierten sich regional sehr unterschiedlich. Es waren die städtischen Zentren, allen voran Klagenfurt und Villach, sowie die Industriestandorte – eingebettet in eine gute Verkehrsinfrastruktur –, die eine positive Wanderungsbilanz verzeichneten. Die agrarisch geprägten Bezirke verloren dagegen durch Abwanderung an Bevölke-

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rung. So büßte der Bezirk Hermagor zwischen 1923 und 1934 72,7 Prozent sei- nes Geburtenüberschusses bzw. 9,1 Prozent seiner Bevölkerung ein. Das war ös- terreichweit einer der höchsten Werte. Damit deutete sich bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Trend an, der sich nach 1945 im Zuge des Industrialisie- rungsprozesses verstärkte. Die Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt er- fasste immer mehr Menschen. Die Städte Klagenfurt und Villach mit ihrem Umland wuchsen auf Kosten der ländlichen Gebiete weiter. Besonders betroffen waren Kleingemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern in entlegenen Tälern wie dem Lesach- oder Metnitztal. Die Gemeinde Birnbaum, die bereits zwischen 1951 und 1961 20,0 Prozent ihrer Bevölkerung durch Abwanderung verloren hatte, ver- zeichnete zwischen 1961 und 1971 einen Wanderungsverlust von 23,2 Prozent. Das Ausscheiden aus der land- und forstwirtschaftlichen Tätigkeit war gleichbe- deutend mit der Abwanderung aus dem Tal, das keine Lebensbasis mehr bot. Ein Ende war nicht in Sicht. 1996 wiesen 69,5 Prozent der Kärntner Gemeinden einen negativen Binnenwanderungssaldo auf. Nur die urbanen Zentren und die Gebiete entlang des unteren Drautales und das Klagenfurter Becken gewannen bis in die 1990er-Jahre an Bevölkerung. 1999 zählte Kärnten 559.404 Einwohner. Diese verteilten sich unterschiedlich stark auf die einzelnen Bezirke, wobei Kärnten bis in die Gegenwart zu einem wenig dicht besiedelten Bundesland zählt. 1991 ergab sich eine Bevölkerungsdichte von 57 Personen pro Quadratkilometer. Mit diesem Wert lag man unter dem österreichischen Durchschnitt. Ein Grund für die niedrige Dichte findet sich in der naturräumlichen Diskrepanz zwischen dem Unter-, Mittel- und Oberkärntner Raum. Der Mittelkärntner Raum („Kärntner Zentralraum“) mit dem Städtedreieck Villach – St. Veit an der Glan – Klagenfurt entwickelte sich seit Frauen in der Industrieproduktion dem Mittelalter zum Siedlungsschwerpunkt des Landes. Mit den angrenzenden in den 1950er-Jahren. Foto: Krünes/IGKA. Randzonen lebten hier Anfang der 1990er-Jahre 58,1 Prozent der Landesbevöl- kerung. Neben diesem zentralen Siedlungsraum ent- standen in peripherer gelegenen Räumen aufgrund vorhandener wirtschaftlicher Ressourcen sowie guter Verkehrsanbindungen kleinere Siedlungszentren: die Gegend Lurnfeld-Millstätter See, das Krappfeld so- wie das mittlere Lavanttal zwischen Wolfsberg und St. Andrä, wo ca. 100 Menschen auf einem Quadrat- kilometer lebten. Völlig anders stellte sich die Situati- on in den inneralpinen Tälern Oberkärntens dar. Das Malta-, Lesach-, Möll- und Liesertal wiesen am Ende des 20. Jahrhunderts nur eine Bevölkerungsdichte von unter 20 Einwohnern je Quadratkilometer auf. Verbunden mit dem Wandel in der Wirtschaftsstruk- tur kam es zu einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen. Zur Jahrhundertwende 2000/2001 war die Kärntner Bevölkerung gänzlich anders struk- turiert als 100 Jahre zuvor. An die Stelle einer sich

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noch stark an feudalen Mentalitäten und Handlungsmustern orientierenden Agrargesellschaft war eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft, in der sich die Muster einer Konsumgesellschaft widerspiegelten, getreten – „postindustri- ell“ verstanden als relativ starker Rückgang der im Industriesektor Beschäftigten. Bis zur Jahrhundertmitte war dieser Erosionsprozess der traditionellen Agrarge- sellschaft noch gemächlich verlaufen. Der agrarisch-ländliche Charakter hatte sich erhalten. 1900 waren von den 196.939 Berufstätigen 67,5 Prozent in der Land- und Forstwirtschaft tätig. Auf das Segment „Industrie und verarbeitendes Ge- werbe“ entfielen 18,5 Prozent und auf die Dienstleistungen 13,3 Prozent. Bis zur Jahrhundertmitte gab es lediglich moderate Veränderungen in Richtung einer De- Agrarisierung. Erst in den 1950er-Jahren veränderte sich im Verlaufe der verstärkt einsetzenden Industrialisierung das Gesellschaftsgefüge tiefgreifender. Zur „de- mographischen Wende“ gesellte sich die Wende in der Gesellschaftsverfassung. Kärnten hörte auf, ein Agrarland zu sein. Es setzte eine rasante Abwanderungs- welle aus der Land- und Forstwirtschaft ein. Der prozentuelle Beschäftigtenanteil verringerte sich von 37,5 Prozent (1951) auf 13,4 Prozent (1981), um bis 1993 auf 7,0 Prozent zu sinken. Analog zum Bedeutungsverlust des Agrarsektors ge- wann zunächst der industriell-gewerbliche und bald verstärkt der Dienstleistungs- Moderne Event-Gesellschaft: Ironman-Veranstaltung in sektor an Gewicht. Die Entwicklung ging in Richtung einer industriell geprägten Klagenfurt, 2016. Erwerbsgesellschaft. Anfang der 1960er-Jahre lebten erstmals mehr Menschen Foto: trinews.at

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vom Einkommen in Industrie und Gewerbe (38,6 Prozent) als in der Landwirt- schaft (25,3 Prozent). 1971 war der Zenit mit einem Anteil von 40,4 Prozent an den Beschäftigten bereits überschritten. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Dienstleistungssektor bereits auf der Überholspur (44,6 Prozent). Kontinuierlich weitete er in den folgenden Jahrzehnten seinen Anteil aus. 1993 stellte er mit 57,8 Prozent die Mehrheit der Berufstätigen. Im Zuge dieses Übergangs kam es in Folge geänderter Rahmenbedingungen so- wie eines Wertewandels in anderen Bereichen zu weiteren, teils markanten Ver- änderungen. In der Wirtschaft stieg der Frauenanteil an den Berufstätigen (1993: 40,4 Prozent) an. Die Zahl der selbstständig Erwerbstätigen ging deutlich zurück und sank – im Wesentlichen begründet durch den Rückgang im Agrarsektor – bis 1993 auf ein Drittel des Standes von 1900. Im demographisch-gesellschaftlichen Bereich halbierte sich die Eherate (1947: 11,0 Ehen auf 1.000 Einwohner; 1999: 4,6 Ehen auf 1.000 Einwohner). Die Scheidungsquote explodierte seit Anfang der 1980er-Jahre (1965: 42 Scheidungen auf 100.000 Einwohner; 1981: 738 Schei- dungen je 100.000 Einwohner; 1999: 1.125 je 100.000 Einwohner). Und die Quote der unehelich geborenen Kinder bewegte sich in Richtung der 50-Prozent- Grenze (1961: 16,2 Prozent; 1999: 43,2 Prozent). In Summe zeigten die unter- schiedlichen Variablen der gesellschaftlichen Entwicklung an, dass an der Wende 1999/2000 an die Stelle der agrarischen, mit feudalen „Beimengungen“ versehe- nen Gesellschaftsverfassung der ersten Jahrhunderthälfte eine sich an marktwirt- schaftlichen Denkmustern und Konsumbedürfnissen orientierende postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft getreten war, ohne dass die Lebenswelten und -stile einer „peasant society“ gänzlich abgestreift (worden) waren.

Literaturhinweise:

Peter Ibounig, Die Wirtschaft und Gesellschaft Kärntens im Spiegel der Statistik: Ein Überblick der Entwicklung im 20. Jahrhundert, in: Grubenhunt und Ofensau. Vom Reichtum der Erde. Bd. 1: Katalog zur Kärntner Landesaus- stellung in Hüttenberg, Heft, vom 29. April bis 29. Oktober 1995. Klagenfurt 1995, S. 423-428.

Peter Ibounig, Die Bevölkerung Kärntens um die Jahrtausendwende: Rückschau und Ausblick. Lebenschancen in Kärnten 1900-2000, in: Claudia Fräss-Ehrfeld (Hg.), Lebenschancen in Kärnten 1900-2000. Ein Vergleich. Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 80. Klagenfurt 1999, S. 11-34.

Paul Kellermann, Gesellschaftliche Grundmuster: Sozioökonomische Entwicklungsperspektiven, in: Helmut Rumpler (Hg.) – Ulfried Burz (Mitarbeit), Kärnten. Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bundesland. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, hg. von Herbert Dachs – Ernst Hanisch – Robert Kriechbaumer. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer- Bibliothek, Salzburg, Bd. 6/2. Wien – Köln – Weimar 1998, S. 350-364.

Thomas Zeloth, Bevölkerungsbewegung und Wirtschaftswandel in Kärnten 1918-2001. Demographische Überlebensstrategien einer österreichischen Randregion. Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 86. Klagenfurt 2002.

45 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Aus Donuts müssen wieder Krapfen werden!

Roland Gruber – Peter Nageler

eben auf dem Land? Nichts für junge Talente, auf den ersten Blick jeden- falls. Im Wettbewerb um kreative Köpfe gewinnen die großen Metropol- „LRegionen und universitären Schwarmstädte, die die 18-35-Jährigen un- widerstehlich ansaugen. Das Land scheint abgeschlagen – der ländliche Raum verliert jährlich mehr als 5.000 gut ausgebildete Menschen allein an den Groß- raum Wien.“, so ein Blogeintrag von „Future Spirit“ im November 2017 (https:// blog-ztb-zukunft.com).Die Abwanderung ist eines der großen Themen des ländli- chen Raumes in Kärnten, diese verstärkt die raumplanerischen Fehlentwicklungen in den letzten Jahrzehnten zusätzlich. Der daraus resultierende Leerstand und die damit einhergehende Verödung der Ortszentren stellt eine weitere zentrale Herausforderung für die zukünftige räumliche Entwicklung des Landes dar. Dem schonenden und ressourceneffizienten Umgang mit unversiegeltem Boden an den Ortsrändern und der Reaktivierug von leerstehenden Gebäuden in Orts- und Stadtzentren sind in Kärnten hohe Priorität einzuräumen.

Ökonomie und Raum

Den mit Abstand größten Teil unseres Einkommens geben wir für den Erwerb oder die Miete von Wohnraum sowie dessen Betrieb und Erhaltung aus. Bereits geringe Veränderungen im Kostensegment Wohnen haben großen Einfluss auf den finanziellen Handlungsspielraum der privaten Haushalte. Auch die öffentliche Hand tätigt bedeutende Aufwendungen für ihre Gebäude und ihre Infrastruktur. Für Errichtung, Betrieb und Erhaltung werden Milliardenbeträge von den Minis- terien, den Bundesländern und Gemeinden bzw. von vielen ausgelagerten Ge- sellschaften aufgewendet. Man würde meinen, dass alles versucht wird, diese Ausgaben möglichst effizient zu gestalten. Das ist jedoch nicht der Fall, tatsächlich orientiert sich die Siedlungsentwicklung und Flächenwidmung nicht am Ziel der

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Leerstehende Gebäude sind eine effizienten Nutzung der Siedlungsinfrastruktur, sondern laufend wird neues Bau- zentrale Herausforderung für land ausgewiesen, obwohl der Baulandüberhang bei Weitem nicht aufgebraucht die Gemeinden, hier ein Beispiel aus Frantschach–St. Gertraud, ist. Hier gilt es das Bewusstsein für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Bezirk Wolfsberg. Grund und Boden aller Beteiligten zu schärfen. Foto: Roland Gruber/nonconform. Laut Bundesumweltamt beträgt der tägliche Flächenverbrauch alleine für Sied- lungs- und Verkehrstätigkeit rund zehn Hektar. Zählt man die gesamten Flächen für Produktion, Freizeit etc. dazu, liegen wir inzwischen bei 22 Hektar Land pro Tag. In FIFA-Norm-Fußballfelder umgerechnet, entspricht das 30 Fußballfeldern pro Tag! Mit allen negativen finanziellen Begleiterscheinungen, wie zusätzliche In- frastrukturkosten in Errichtung und Betrieb, der Verödung der Zentren, des stei- genden Verkehrsaufkommens etc.

Univ.-Prof. Erich Raith hat es in einer gemeinsam mit unserem Büro nonconform erarbeiteten Projektstudie so formuliert: „Die laufende Ausdünnung der Siedlungs- strukturen führt unausweichlich zu individueller Zwangsmobilität, da eine post- industrielle Gesellschaft ihre alltäglichen Lebensprozesse längst nicht mehr vor Ort organisieren kann und daher ständig auf immer längeren Distanzen und immer öfter von Staus behindert mobil sein muss. Diese Tatsache schlägt vor allem auf jene sozialen Schichten zurück (die Alten, die Kinder, die Armen etc.), die nicht im erforderlichen Ausmaß mobil sein können und daher mit Mobilität (z. B. mit Essen auf Rädern oder mobilen Pflegediensten) versorgt werden müssen. Dieses

47 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

System funktioniert nur durch die Akzeptanz von Ungerechtigkeit, durch massive Querfinanzierungen und die Verweigerung von Kosten- und Haftungswahrheit.“ Auch die etablierten Planungsstrategien der Funktionstrennung und der Minimie- rung nutzungsspezifischer und räumlicher Komplexität – repräsentiert durch den separierenden Charakter des zentralen Planungsinstruments Flächenwidmungs- plan – leisten ihren Beitrag zur Erhöhung des Flächenbedarfs. Sie führen zu einer Aushöhlung der Nutzungsintensität aller einzelnen funktionellen, räumlichen und baulichen Komponenten und erzwingen in der Folge enorme Aufwände für Trans- port und Mobilität. Hinter diesen Betrachtungen steht daher die Überzeugung, dass entscheidende Schritte in Richtung höherer Ressourceneffizienz nicht allein durch Verbesserungen einzelner Systemkomponenten (z. B. die Errichtung von Passivhäusern oder die Forcierung von Elektromobilität) zu erreichen sein werden. Wesentlicher wird sein, die gesellschaftlichen Prozesse so im Raum zu organi- sieren, dass Transport und individuelle Zwangsmobilität entscheidend reduziert werden können. Im Zuge zukünftiger Transformationen werden deshalb wieder komplex funktionierende Lebensräume auf möglichst intensiv und vielfältig ge- nutzten Flächen geschaffen werden müssen. Das wird sich auch überaus positiv auf die Gestaltqualität dieser Lebensräume auswirken. Allein dieser Gewinn an räumlichen und kontextuellen Qualitäten würde die Mühen der Transformation rechtfertigen.

Selbst in den urbanen Ballungsräumen gelingt es nicht, neue Siedlungsstrukturen zu etablieren, die sich durch feinkörnige Nutzungsmischung und vitale Urbanität auszeichnen. Die kompakten Kerne der Klein- und Mittelstädte werden weiter funktionell ausgehöhlt, ihre Peripherien mit flächenfressenden, konkurrierenden Monostrukturen entstellt und die umliegenden Kulturlandschaften zersiedelt. Sol- che offensichtlichen Fehlentwicklungen, die exakt gegen eine Erhöhung der Dich- te und Komplexität der Lebensräume gerichtet sind, werden von der öffentlichen Hand sogar massiv gefördert (Zuteilung von Wohnbauförderung ohne raumplane- rische Lenkwirkung, Pendlerpauschale etc.).

Zentren mit Leuchtkraft

Die verwinkelte Altstadt, der belebte Marktplatz oder das schnuckelige Dorfzen- trum. Diese Bilder haben wir im Kopf und empfinden sie als schön. Aber warum? Ist es die Architektur? Sind es die Materialien und Oberflächen? Sowohl als auch – aber das Wesentliche ist nicht die gebaute Welt, sondern es sind die Menschen, die in dieser Welt leben und diese Atmosphäre mitgestalten: Menschen und ihre Stimmen, verschiedene Szenen, Flaneure, Geräusche und Menschengewühl, eine angenehme Form von Hektik. Ein Platz ohne Menschen ist nicht nur leer, sondern auch leise. Der Mensch, immer schon ein Herdentier, will unter Menschen sein, auch wenn er nicht mit ihnen unmittelbar verbal kommuniziert. Wenn Menschen den öffentlichen Raum beleben, machen sie ihn für sich selbst lebenswert.

48 Kap. 3_1

Was führt die Menschen in das Zentrum ihrer Stadt oder ihres Dorfes? Sie gehen nicht dorthin, weil sie gerne spazieren gehen, sondern um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der städtebauliche Kern bildet das pulsierende Herz eines Ortes und dessen Gemeinschaft und dort waren seit jeher wichtige Funktionen des täglichen Lebens angesammelt. Die Ortsmitte hält eine Stadt oder ein Dorf zu- sammen und versorgt sie wie das Herz seinen Organismus. Nicht selten wird ein städtisches Gefüge mit etwas Lebendigem verglichen.

Aber stimmt das vorhin beschriebene Bild heutzutage noch? Noch nie stand die Herausforderung, wie mit den Leerständen im Zentrum der eigenen Stadt oder Gemeinde umzugehen sei, an so zentraler Stelle der gesellschaftlichen Diskus- sion. Denn das Phänomen der aussterbenden Orts- und Stadtkerne ist nicht zu übersehen. „Durch die rapide Überalterung im ländlichen Raum und die jahrzehn- telange monofunktionale Siedlungserweiterung an den Ortsrändern kommt es schnell zum Donut-Effekt“, erklärt Hilde Schröteler von Brandt, Professorin an der Universität Siegen in Deutschland. „Das bedeutet, dass sich zuerst die identitäts- Der Donut-Effekt. Grafik: Bundesstiftung Baukultur prägenden Ortszentren entleeren. Wo die Einwohner fehlen, rutschen auch die Deutschland. Handelsflächen mit ins Donut-Loch.“

Wie wird gewohnt? Der Donut-Effekt Wohnungszählung Zensus 2011 Wachsende Einfamilienhausgebiete und Handelsstandorte am Ortsrand aufgeschlüsselt nach Gebäudetyp führen zu Leerstand im Ortskern Quelle: BBSR 2015; BBSR 2016; Destatis 2014b; Destatis 2013; Kommunalbefragung zur Baukultur 2015; Bevölkerungsbefragung zur Baukultur 2015 83% nur 46% der Wohngebäude der Wohneinheiten sind in Deutschland sind darin untergebracht! Aussterbende Gemeinde Vitale Gemeinde Einfamilienhäuser (Donut-Effekt) (Krapfen-Effekt)

Gibt es in Ihrer Gemeinde neu entstehende Einfamilienhausgebiete?

Ja Ja 84% 64,7% Gemeinden gesamt in stark schrumpfenden Gebieten

Prognose Neubaubedarf

Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser (BBSR) Gibt es in Ihrer Gemeinde nennenswerten Leerstand?

290.600

Ja Wenn ja, wo gibt es eine räumliche 33% Konzentration von Leerstand?

53% 153.300 155.400 59 % Ortskern 60% 90.700 Ortsnahe Lage 39%

Ortsrand 20% 2016 2030 Separate Ortsteile 32% Treffpunkt Ortskern – Die soziale Bedeutung des Zentrums

70% 62% Helgoland alle drei Tage komplett beplant 54% 53% Planerisch in Anspruch genommene Tag 1 45% 44% Fläche pro Tag in Deutschland Unser Ortskern ist ein zentraler (Schnitt 2011–2014) Treffpunkt für Jung und Alt. 30% 34% Ja Flächenzuwachs/Tag: Nein 69ha Tag 3 Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie 2020: 18–29 30–44 45–59 60+ Jährige Jährige Jährige Jährige 30 ha Tag 2

49 Themenschwerpunkt Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum

Wir brauchen einen Krapfen-Effekt! Ein gefüllter Krapfen als Sinnbild für lebendige Ortskerne. Foto: nonconform. Dass Stadt- und Dorfzentren verstummen, hat viele Gründe – ein wesentlicher ist die gestiegene Automobilisierung der letzten Jahrzehnte, durch die sich viele vita- le Funktionen an die Ortsränder verlagert haben. Zuerst entstanden ausgedehnte Einfamilienhausgebiete, bald folgten die Handels- und Einkaufszentren und mitt- lerweile finden sich da und dort auch Verwaltungs- oder Gesundheitseinrichtun- gen in peripheren Lagen. Denn der Donut-Effekt – die Verlagerung an den Rand und die damit einhergehende Verödung der Zentren – macht die Gemeinden unattraktiv. Er entzieht den Orten ihren Boden und ihre Identität und er macht sie auch für kommende Generationen wenig lebenswert. Es ist dringend an der Zeit, aus den Donuts wieder Krapfen zu machen, mit wohlschmeckender Marillenmar- melade oder anderer guter Füllungen in der Mitte. Wobei wir von einer Sache Abschied nehmen müssen: Der Handel in der klassischen Form ist nicht mehr zurückzuholen, der ist verloren. Es geht daher darum, neue Krapfenfüllungen zu finden. In der Mitte, im Zentrum, darf kein Loch, keine Leere sein. Hier braucht es die Fülle des süßen Lebens.

Damit das süße Leben wieder in die Ortszentren zurückkehren kann, sind ein um- fassendes Bündel an Maßnahmen und vor allem das Rückgrat und die Ausdauer der handelnden Personen vor Ort notwendig – der sogenannte Krapfen-Effekt. An oberster Stelle steht das Bekenntnis der Politik und Verwaltung zur Innenent- wicklung vor Außenentwicklung. Ein weiterer Schritt ist es, die Bürgerschaft mit mutigen Beteiligungsprozessen zum gemeinsamen Weiterdenken zu motivieren und zu gewinnen und ihnen auch die richtigen Werkzeuge für das Beteiligungs-

50 Kap. 3_1

handwerk zu vermitteln. Die Bürgerinnen und Bürger sind vom ersten Akt der Ideenfindung bis zur konkreten Umsetzung als Experten für den eigenen Ort in die Veränderungsarbeit einzubeziehen. Und gleichzeitig ist ein umfassendes Be- wusstsein für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Grund und Boden zu schärfen.

Trotz hohem Leerstand in gut erschlossenen Ortskernen werden die meisten dieser neuen Einfamilienhaus- oder Gewerbegebiete in flächenverbrauchenden, neuen Baugebieten am Ortsrand umgesetzt. Es wäre jedoch wesentlich klüger und vor allem auch ressourcenschonender, unsere verödeten Orts- und Stadtzen- tren mit kreativen und zeitgemäßen Formen von Wohnen, Arbeiten, Handel und Freizeit zu beleben, vorhandene Gebäude und Flächen zu nutzen, umzubauen, weiter zu bauen oder, wo noch Platz ist, neu zu bauen. Diese kompaktere Bau- weise und höhere Dichte sowie die dabei entstehenden Nutzungsdurchmischun- gen sind essentiell für den Sozialraum der Menschen und auch für ein intaktes Ortsbild.

Rezepte

1. Polyzentralität wiederbeleben Politisches und planerisches Handeln nicht nur auf die Metropolen und großen Zuzugsstädte konzentrieren, sondern auch kleine Städte berücksichtigen. Eine in- frastrukturelle und gute digitale Anbindung ist dafür die Grundvoraussetzung. Auf Bundes- und Länderebene sollten mehr Initiativen für ländliche Räume geschaf- fen, gebündelt und gestärkt werden.

2. Ortskerne und den Bestand baukulturell stärken In der Kombination aus Zugang zum Arbeitsmarkt und attraktivem Wohnen ent- stehen Ankerstädte für die Regionen. Gemeinden sind gefragt, neuartige, ge- mischte und bedarfsgerechte Konzepte zu entwickeln, um lebendige Ortszentren zu schaffen. Die wohnungspolitische Förderung des Bundes und der Länder sollte vorrangig für Kauf sowie Sanierung, Bestandsumbau und Ersatzneubau in inte- grierten Lagen bereit gestellt werden.

3. Durch aktive Bodenpolitik steuern Aktive Bodenpolitik stärkt die öffentliche Verantwortung und macht eine Gemein- de (neu) handlungsfähig. Ankerstädte in ländlichen Räumen benötigen stärkere Eingriffsrechte bei der Stadtentwicklung als bisher. So sollte zum Beispiel das Zu- sammenlegen von zu kleinen Grundstücken sowie die Bereinigung nicht mehr funktionsfähiger Grundstücksflächen und Gebäudegrundrisse ermöglicht werden. Die Kommunen sollten ihr Vorkaufsrecht in besonderen Lagen häufiger einsetzen und mit Hilfe revolvierender Bodenfonds Entwicklungen in Gang setzen. (Quelle: Bundesstiftung Baukultur Deutschland).

51 _1 Infrastruktur (wirtschaftliche) Entwicklung Raum _2 Kapitel 3 Vernetzung Nachbarn Dialog _3 Identität Erinnerungskultur _4 Demokratie- entwicklung _5 Migration Kap. 3_2

Vom Umgang mit Grenzen am Beispiel Kärntens

Theodor Domej

„Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben muss man es aber vorwärts.“ (Søren Aabye Kierkegaard)

ärnten war weder im 19. noch im „kurzen 20. Jahrhundert“ (1914/1918–1989) ein Sonderfall auf dem europäischen Kontinent, auch wenn dies mitunter gerne Kso gesehen wird. Es hatte beträchtlichen Anteil am „Zeitalter der Extreme“, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert benannte. Selbst die Grenzkämpfe (1918/1919) und die Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 haben wenig Einmaliges an sich, denn Auseinandersetzungen um den Verlauf von Staatsgrenzen gab es in vielen europäischen Regionen. In Kärnten waren es Schlüsselzeiten im langen Drama des regionalen Nationalismus, in dem es um na- tionale Herrschaft und Macht ging. Sie sind aber in ein Kontinuum eingebettet, das im Revolutionsjahr 1848 seinen Anfang nahm. Grenzen von vielerlei Art, innere und äußere, sichtbare und hörbare, unsichtbare und scheinbar unüberwindbare, bestimmten das Geschehen.

Kärnten war seit jeher eine Begegnungsregion mehrerer Sprachen. Auf histori- schem Kärntner Boden kommen einander die großen europäischen Sprachfami- lien der Germanen, Romanen und Slawen so nahe wie nirgendwo sonst. Zwischen der slowenischsprachigen Minderheit und der deutschsprachigen Mehrheitsbe- völkerung Kärntens bestehen aber keine zivilisatorischen Bruchlinien. Beide bedie- nen sich derselben kulturellen Muster und Codes. Die über Jahrhunderte beste- hende Zwei- und Mehrsprachigkeit vieler Bewohner prägen die Region weit über (Südost-)Kärnten hinaus. Die christliche Religion, Latein als Vorbildsprache der Schriftsprachen und das gemeinsame Herrschaftsgefüge führten dazu, dass die Menschen einander im Bereich der Alltagskultur und der Werte trotz sprachlicher

53 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Unterschiede nicht fremd gegenüber standen. Das gilt für den gesamten Alpen- Adria-Raum. Die politische Geschichte brachte es jedoch mit sich, dass gewaltige Störungen das Zusammenleben erschwerten.

Grenzerfahrungen Grenzen vielfacher Art begleiteten aber die Menschen, die in diesen Regionen be- heimatet waren, seit der Antike. Die politischen Grenzen waren in der Regel leich- ter zu überwinden als die sozialen, zum Beispiel diejenigen zwischen Stadt und Land, Adel und Bürgertum, freien und unfreien Bauern, Arbeitern und Keuschlern, Knechten, Mägden und anderen Besitzlosen. Zumindest seit dem 19. Jahrhundert bestimmten auch die ethnische Herkunft und besonders die nationalpolitische Ori- entierung das gesellschaftliche und private Leben.

Bis zum Beginn des nationalen Zeitalters wurde die Zugehörigkeit der Sprecher des Slowenischen zum slowenischen Volk von niemandem in Frage gestellt. In den Köpfen der Menschen waren mentale Landkarten abgespeichert, lange be- vor Sprachenkarten gezeichnet wurden. Man wusste, ob man „im Windischen“ (oder „auf der windischen Seite“) beheimatet war oder „auf der deutschen Seite“. Erst in der nationalpolitischen Konfliktsituation, die in Kärnten im Revolutionsjahr 1848 begann, seit den 1860er-Jahren aber der gesamten Politik einen Stem- pel aufdrückte, setzten Verunsicherungsbestrebungen ein. Infolgedessen sind bei weitem nicht alle Sprecher des Slowenischen zu Slowenen im Sinne der Kriterien des Nationalismus geworden. Viele wurden sogar zu entschiedenen Gegnern der slowenischen Nationalbewegung. Warum im Vergleich dazu Sprecher des Deut- schen zu Deutschen im nationalen Sinn geworden sind (oder zumindest ihre Zu- gehörigkeit zu dieser Ethnie nicht in Frage gestellt wurde), ist leicht zu erklären: Es war Folge der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse, welche die Sprecher des Deutschen bevorzugten.

Im 19. Jahrhundert kam durch die nationalen Bewegungen eine neue Dynamik ins gesellschaftliche Geschehen, womit traditionelle Solidaritäten abgebaut wur- den und neue entstanden. Proklamiert wurde das Prinzip der nationalen Gesell- schaft, das als Idealzustand die Möglichkeit des Lebens in Einsprachigkeit von der Wiege bis zur Bahre umfasste. Zwei- oder gar Mehrsprachigkeit breiter Bevölke- rungsschichten wurde in Verruf gebracht oder als Ausnahme für Hochgebildete angesehen. Zweisprachigkeit führe zur Assimilation oder sei Ausdruck nationaler Unterdrückung, sie gefährde eine stabile Identität des Einzelnen oder sei gar psy- chisch belastend, hieß es. Selbst in Regionen, in denen traditionell zwei oder mehr Sprachen und Kulturen präsent waren, galt es, sich für die eine oder die andere zu entscheiden. Das alte Sprichwort „So viele Sprachen du sprichst, so oft bist du Mensch“ wurde mit politischer Propaganda und Sprachenpolitik außer Kraft gesetzt. Ein harter Kampf um die Seelen und Identitäten entbrannte. Gleichran- gigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung mehrerer Sprachen und Kulturen

54 Kap. 3_2

Karawanken: Blick vom Hochobir schienen in der Praxis kaum möglich. Dem entsprach das Bestreben, Minderhei- (2.139 m) nach Süden in Richtung tensprachen zu verdrängen. In den 1860er-Jahren begann in Kärnten die konse- Staatsgrenze zu Slowenien. Foto: Peter Fritz. quente Ausgrenzung derjenigen Sprecher des Slowenischen, die Wert auf Gleich- berechtigung ihrer Sprache und Kultur legten. Der Assimilationsschub, den die Kärntner Slowenen besonders nach 1920 erlebten, zerstörte in vielen Gegenden Südostkärntens mit einstmals slowenischer Bevölkerung das slowenische Sprach- milieu. Schenkt man den Resultaten amtlicher Volkszählungen seit 1880 Glauben, verringerte sich in Kärnten (in den Grenzen von 1920 und heute) der Anteil der Personen mit slowenischer Umgangssprache von 26 Prozent auf 2,5 Prozent (im Jahr 2001), und der verbliebene Rest ist überaltert. Das könnte Anlass für eine ge- neralisierte Angst vor dem baldigen Verlust der letzten Volksgruppenreste geben. Zumindest mittelbar ist auch das Folge von Grenzziehungen.

Persönliche Grenzerfahrungen Den Begriff Grenzen kann man mit vielen Verben, Adjektiven und Nomen verbin- den. Man kann Grenzen ziehen, schützen, respektieren, verteidigen, abschotten, missachten, überwinden, überschreiten, zum Verschwinden bringen, niederrei- ßen, öffnen, man kann mit ihnen leben, sich mit ihnen Vorteile verschaffen und vieles mehr. Mit all diesen und noch anderen Verben (sowie zahllosen Adjektiven) kann man fast unendlich viele sinnvolle Sätze niederschreiben, die auf Kärnten zutreffen. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass die Wortfamilie auch das Verb „aus- grenzen“ umfasst und einen wesentlichen Teil dessen umschreibt, was Grenzen hervorbringen.

55 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Meine Kindheitsjahre verbrachte ich in einem kleinen Südkärntner Dorf, das nicht weiter als zehn Kilometer Luftlinie von der Staatsgrenze zum damaligen Jugosla- wien entfernt liegt. Von dort aus hatte ich zwei Grenzen im Blick: die Staatsgrenze am Gebirgskamm der Karawanken und die Saualm. Diese Silhouette brannte sich in mein Gedächtnis ein. Die Grenze im Landesinneren, am vorgelagerten Bergrü- cken der Saualm, verband ich mit Diex, dem nördlichsten Ort, in dem bis in die neueste Zeit Slowenisch die althergebrachte Sprache der einheimischen Bevöl- kerung war. Über das Wesen beider hoch über dem Jauntal gelegenen Grenzen wurde ich zu Hause belehrt. Sowohl die Karawankengrenze als auch die Sprach- grenze bildeten auch die Grenzen des Bezirks Völkermarkt, und dort verlief auch die Grenze der Abstimmungszone A.

Diese visuelle Inbesitznahme der Grenzregion und der natürlichen Grenzen hatte einen Wesenszug: Es war der Blickwinkel von unten, aus der Froschperspektive, ganz demjenigen ähnlich, der von Kärntner Geographen, Historikern und Politikern lange nachhaltig gepflegt wurde. „Kein Land in Mitteleuropa ist von Natur aus so klar umgrenzt […] wie Kärnten“, lautet etwa der erste Satz in Martin Wuttes Buch „Kärntens Freiheitskampf“. So ähnlich las oder hörte man ihn unzählige Male. Besonders die Gebirge an der Südgrenze des Landes wurden politisch überhöht. Diese Perspektive wurde für viele zur Falle, die ihr Leben einengte.

Meinen ersten, aber lange nach- wirkenden Eindruck von der Welt jenseits der Staatsgrenze gewann ich, es war um das Jahr 1958, im Rahmen eines Klassenausflugs von Bleiburg ins Lavanttal. Damals führ- te die Eisenbahnstrecke noch über jugoslawisches Gebiet, denn es war vor dem Bau der Jauntalbahn, die in Erinnerung an die Volksab- stimmung erst am 10. Oktober 1964 eröffnet wurde. Der Korri- dorzug hielt zwar in den Stationen auf jugoslawischem Territorium, die Waggontüren blieben jedoch ver- sperrt und selbst die Fenster mussten während des Aufenthaltes am Bahnhof Jauntalbrücke über die Drau: geschlossen bleiben. Wir bekamen einen anschaulichen Unterricht in geistiger das imposanteste Bauwerk der Jauntalbahn und die Landesverteidigung, was Grenze heißt, wenn sie abgeschottet ist. höchste Eisenbahnbrücke Österreichs, 1964. Wie mir erging es auch vielen anderen. Vom Lebensalter und von den Einstel- Foto: Waagner-Biro. lungen des Einzelnen hing es ab, welche persönlichen Erfahrungen er mit der Staatsgrenze zwischen Jugoslawien beziehungsweise Slowenien und Österreich

56 Kap. 3_2

hatte. Manch einer mied oder verweigerte jede Fahrt über die Grenze. Wer die gesamte Zeitperiode nach dem Ende des 2. Weltkriegs bewusst erlebte, konnte Erfahrungen in mehreren Phasen machen. Es gab Zeiten, als es lebensgefährlich war, die Grenze außerhalb der Grenzübergänge zu überqueren oder sich ihr auch nur zu nähern. Einige Kinder fielen Schüssen jugoslawischer Grenzstreifen zum Opfer. Festnahmen nach unbeabsichtigtem Grenzübertritt abseits der kontrollier- ten Übergänge gab es viele. Andererseits wählten Flüchtlinge, die wegen des in Jugoslawien herrschenden gesellschaftspolitischen Systems oder aus wirtschaft- lichen Gründen in den Westen wollten, den Weg über das Grenzgebirge. Lange konnte man die Staatsgrenze nur mit einem Sichtvermerk (Visum) überqueren, penible Kontrollen der Identität und aller mitgeführten Waren eingeschlossen. Ab 1965 konnte man nach Jugoslawien allerdings ohne Visum einreisen und die Grenze zum Nachbarland wurde zur offensten innereuropäischen Staatsgrenze zwischen zwei Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung.

Kollektive Erinnerung und Gedenkkultur in Kärnten und ihre Grenzen Kein Bundesland in Österreich und kaum ein europäisches Land stellt in seiner Ge- denkkultur die Grenze so in den Mittelpunkt wie Kärnten. Als Kulminationspunkt der aus historischem Anlass begangenen Gedenktage gilt in Kärnten unbestritten der 10. Oktober, der Tag der Volksabstimmung. Dass es um weit mehr als um blo- ßes Gedenken an ein denkwürdiges Ereignis geht, wird jedem klar, der die Feiern und die seit 1920 von ihnen ausgehenden Botschaften einer ehrlichen Analyse unterzieht. Einen Schluss sollte man auf Basis dieser Analyse ziehen: Der 10. Ok- tober müsste auch ein „Bedenktag“ sein. Die bewaffnete Auseinandersetzung und der Urnengang am 10. Oktober 1920 waren in eine geschichtliche Periode eingebettet, die lange vorher begann und danach lange andauerte. Sie waren vom Nationalismus geprägt und verbreiteten ein Kärntner Wir-Gefühl, das nicht alle Kärntner als gleichberechtigte Staatsbürger im Sinn hatte.

Im Zusammenhang mit den Ereignissen nach dem 1. Weltkrieg erfolgt oft der Hin- weis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sowohl von den russischen Revolutionsführern Lenin und Trotzki als auch vom US-Präsidenten Wilson prokla- miert wurde. Im Gegensatz dazu standen bei der Durchsetzung der Nachkriegs- ordnung geostrategische Interessen der Groß- und Siegermächte im Vordergrund. Mehrere kleine und große Nationen fühlten sich enttäuscht und betrogen. Auch der mitteleuropäische Raum stellte keine Ausnahme dar. Selbst Österreich wur- de gegen den Willen eines Großteils seiner politischen Eliten ein selbstständiger Staat. Staatsgrenzen, wie sie im 20. Jahrhundert gezogen wurden, mit dem Nim- bus der Selbstbestimmung der Völker zu umgeben, ist also nicht in allen Fällen berechtigt. Letztlich konnten auch die Kärntner Abstimmungsberechtigten am 10. Oktober 1920 nur darüber entscheiden, ob die alte innerstaatliche Landesgrenze zwischen Kärnten und Krain, die als Ergebnis feudaler Machtpolitik im Mittelalter entstand, (mehr oder weniger) bestehen bleiben und zur Staatsgrenze erhoben

57 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

– oder eine andere willkürlich mitten durchs Land gezogen werden sollte. Das än- dert aber weder etwas am Ergebnis der Kärntner Volksabstimmung noch an der Gültigkeit aller anderen Staatsgrenzen im Alpen-Adria-Raum.

Die Gedenkkultur Kärntens, Sloweniens und des gesamten Alpen-Adria-Raumes konzentriert sich hauptsächlich auf Ereignisse und historische Perioden des 20. Jahrhunderts, wobei der 1. Weltkrieg bereits ziemlich an den Rand des Gesichts- kreises geriet. Anders ist es, wie angedeutet, um die Kärntner Grenzkämpfe und die Volksabstimmung bestellt. Sie boten unablässig Anlass für zahlreiche Ver- anstaltungen auf Orts-, Gemeinde- oder Landesebene. In Kärnten konnte kein Gedenktag mit gesamtösterreichischem Anstrich Massenzuspruch gewinnen, ja das Gedenken an die Zeit 1918–1920 transportierte in der peripheren Provinz manchmal offen, manches Mal erdecktv Kritik am politischen Zentrum des Staa- tes, bis hin zum Vorwurf, in entscheidenden Tagen das Land allein gelassen oder gar verraten zu haben. Erst in allerletzter Zeit kam es zu einem Umdenken, das aber bei weitem noch nicht von allen Politiker- und Bevölkerungskreisen ange- nommen wurde. Den offiziellen Landesfeiern wurde der minderheitenfeindliche Stachel genommen. Im kleinen Rahmen gibt es sogar erstaunliche Ansätze zu neuartigen symbolischen Handlungen: Auf Initiative von Vereinsfunktionären von Organisationen, die sich lange Jahrzehnte im nationalen Konflikt als Gegner ge- genüberstanden, wird etwa am Völkermarkter Stadtfriedhof an der gemeinsamen Grabstätte der in den Grenzkämpfen Gefallenen beider Seiten ein grenzüber- schreitendes gemeinsames Opfergedenken veranstaltet.

Wegen der zeitlichen Nähe ist im kollektiven Gedächtnis die Zeit des 2. Weltkriegs verankert, nicht nur weil in vielen Familien die Erinnerung an die eigenen Gefalle- nen oder andere Opfer wach gehalten wird. Die Organisatoren von Gedenkveran- staltungen stellen unterschiedliche Inhalte in den Mittelpunkt, weshalb von einer Gemeinsames Opfergedenken zumindest teilweise gespaltenen, vereinzelt auch konfrontativen Gedenkkultur am Stadtfriedhof von gesprochen werden kann. Organisationen, die von ehemaligen Wehrmachtssol- Völkermarkt, 2015. Foto: Fritzpress.

58 Kap. 3_2

daten oder Angehörigen anderer Formationen des NS-Staates gegründet wurden, setzen eben andere Akzente als Gruppen, die die Erinnerung an den Widerstand gegen das NS-Regime hoch halten. In diese Kategorie gehört auch der Gedenkmarsch durch Klagenfurt zum Denkmal der Namen, das an die zum Tod verurteilten und hingerichteten Widerstandskämpfer erinnert. Auch auf regionaler und lokaler Ebene mehren sich Veranstaltun- gen, die auf die zahlreichen Opfer des NS-Regimes aufmerksam machen. Erst allmählich erkennt die breite Öffentlichkeit, dass aus rassischen, religiösen, nationalpolitischen Gründen oder durch die angeordnete „Euthanasie“ körperlich und geistig Behinderter systematisch gemordet wurde.

Ein besonderes Kapitel des 2. Weltkriegs stellen die zivilen Opfer aus den Reihen der NS-Sympathisanten und Gegner des be- waffneten Widerstandskampfes dar. Vergeltung war schon Teil des Krieges gewesen und danach war es Begleit- erscheinung des militärischen Siegesrausches. Eine Untersuchung der österreichischen Staats- polizei erfasste 125 österreichische Staatsbürger (und fünf andere), die 1945 in den ersten Nach- kriegstagen von jugoslawischen Einheiten ver- haftet und außergerichtlich hingerichtet wurden. Die meisten liegen in einem Massengrab in Leše (Liescha), auf slowenischem Staatsgebiet unweit der Staatsgrenze. Seit einigen Jahren findet dort eine Kranzniederlegung mit anschließender Ge- denkmesse statt. Der Weg zu einer grenzüberschreitenden und die nationale Orientierung überwindenden Erinne- Geteilte Gedenkkultur: rungs- und Gedenkgemeinschaft wird zögerlich beschritten. Nur durch objektive Denkmäler für getötete Wider- Geschichtsforschung und nachhaltige politische Überzeugungsarbeit können die standskämpfer und zivile Opfer des Nationalsozialismus selektive Betrachtungsweise, Wahrnehmung und Schlussfolgerungen überwun- einerseits, wenige Meter den werden. entfernt für im Abwehrkampf 1918/1919 und durch die Ver- Nachbarschaftliche Zusammenarbeit schleppung von Partisanen im Mai 1945 Getötete andererseits Nicht zu Unrecht pflegt man die Außenpolitik als Fortsetzung der Innenpolitik zu auf dem Friedhof Eisenkappel/ definieren. Wenn sie als Abwehr- oder Angriffspolitik verstanden wird, lässt sie Železna Kapla. die echten und imaginierten Zäune zu den Nachbarn höher wachsen. Das bringt Fotos: Peter Fritz. Menschen Nachteile, die beiderseits der Grenze leben, verschlechtert zumindest deren immaterielle Lebensqualität, weil es sie in Vorurteilen und Ängsten gefan- gen hält. Das Gefühl, hinter einer befestigten Grenze sicher oder geborgen zu sein, ist ein denkbar schlechter Tausch gegen konstruktive und offene Beziehungen.

59 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Kärnten machte zwar im Lauf der Geschichte mehrmals Erfahrung, Grenzland zu sein, nachhaltigen Einfluss auf das kollektive Bewusstsein hatte die Grenze jedoch erst, nachdem 1866 Italien zum direkten Nachbarn wurde. 1915 wurde diese Grenze entlang der Karnischen Alpen zur umkämpften Front. Während des Kärnt- ner Grenzkonflikts nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Südostkärntner Bevöl- kerung, mit welchen Nachteilen eine geschlossene Grenze verbunden ist, umso mehr, weil es um eine völlig ungewohnte ging. Zunächst hieß sie Waf- fenstillstandslinie, später Demarkationslinie. Je nach Frontverlauf gab es meh- rere Linien, am längsten hatte jedoch die von der Pariser Friedenskonferenz bestimmte Bestand, wel- che die Abstimmungszo- nen A und B voneinander trennte. Die Zone A stand unter jugoslawischer, die Zone B unter österrei- chischer Verwaltung. Von Juni/Juli 1919 bis August 1920 wurde diese Demar- kationslinie militärisch be- wacht und gesichert, der Personen- und Warenver- kehr war erschwert oder verboten. All das griff massiv ins private und öffentliche Vertreter der interalliierten Leben ein. Einige Wochen vor der Volksabstimmung wurde die Demarkationslinie Plebiszitkommission zur Überwachung der auf Geheiß der internationalen Plebiszitkommission geöffnet, die negativen Er- Volksabstimmung, Klagenfurt. fahrungen mit ihr hatten jedoch Einfluss auf die Entscheidung bei der Volksab- Foto: KLA. stimmung. Dabei waren zweifellos mehr als nur wirtschaftliche Motive ausschlag- gebend, denn schließlich ging es um die Zerreißung der vertrauten Lebenswelt. Nach der Volksabstimmung hieß es, mit einer neuen Grenze leben zu lernen.

Kärnten und Slowenien waren bedingt durch die neuere Geschichte zeitweise schwierige Nachbarn. Kärnten pflegte besonders nach 1920 das Image eines Bollwerkes des Deutschtums, in der NS-Zeit waren Kärntner auf slowenischem Gebiet als rücksichtslose Besatzungsmacht aktiv, nach 1945 sah sich das Land an der Außengrenze des „freien Westens“ wieder in Abwehrstellung. Andererseits wähnte sich Slowenien lange um das Gebiet mit slowenischer Bevölkerung in Kärnten betrogen und hatte gegenüber seinem nördlichen Nachbarland Vorbehal- te, weil es die Sprachgenossen ungerecht behandelt sah. Ein weiterer Faktor, der

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die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hemmte, war die von 1945 bis 1991 unterschiedliche Gesellschaftsordnung. Das gegenseitige Misstrauen äußerte sich auch in den Aktivitäten der Geheimdienste beider Staaten.

Weitgehend „tot“ – wie etwa die österreichische Staatsgrenze zur Tschechoslo- wakei und Ungarn zu Zeiten des Eisernen Vorhangs – war die Grenze zu Ju- goslawien allerdings nicht. Wer wollte (mit einigen ideologisch und strafrechtlich bedingten Einschränkungen), konnte Beziehungen pflegen und aufbauen, weil sich Jugoslawien nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito (1948) nicht herme- tisch einschließen konnte, ohne Gefahr zu laufen unterzugehen. Darüber hinaus erwarb sich Slowenien das Image einer relativ liberalen Teilrepublik Jugoslawiens, die Interesse an politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit den angrenzenden Regionen der westlichen Hemisphäre zeigte. Die ab 1965 sich bil- dende Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria bekam mit Slowenien eines ihrer aktivs- ten Mitglieder.

Die Grenze zwischen Österreich und Slowenien verlor vor allem nach der Ver- selbstständigung Sloweniens (1991) viel von ihrer einstigen Rolle. Auf Schritt und Tritt kommen im Alltagsleben Gemeinsamkeiten zum Vorschein: die große De- ckungsgleichheit der gesellschaftspolitischen Systeme, das gleiche Zahlungsmit- tel, dieselben Produkte in den Kaufhausregalen (versehen mit Produktbeschrei- bungen in vielen Sprachen, darunter auch in Deutsch und Slowenisch), dieselben Automarken auf den Straßen usw. Dazu trägt auch das Engagement österrei- chischer Firmen, Banken und Versicherungen in Slowenien bei (relativ und absolut geringer ist die Präsenz slowenischer Firmen in Österreich). Arbeitspendler in bei- de Richtungen gehören ebenfalls zum Gesamtbild der Grenze. Dass die Vernet- zung eng geworden ist und Fortschritte macht, ist offenkundig.

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Slowenien und Österreich entwickelten sich sehr gut. Durch den EU-Beitritt Österreichs (1995) und Sloweniens (2004), die gemeinsame Währung (seit 1. Jänner 2007 ist in Slowenien der Euro offizielles Zahlungsmittel, in Österreich bereits seit dessen Einführung 1999, als Bargeld seit 2002) erfuhren sie noch eine Intensivierung. Österreich gehört zu den wichtigs- ten Handelspartnern Sloweniens. Nach Deutschland und Italien nimmt es aktuell den dritten Rang ein. 11,8 Prozent aller slowenischen Einfuhren kommen aus Österreich und 8,5 Prozent der Ausfuhren gehen dorthin (2015). Aus Österreich kommt auch Investitionskapital nach Slowenien. Laut slowenischer Wirtschafts- statistik (2015) liegt Österreich hinsichtlich der direkten ausländischen Investitio- nen mit einem Anteil von 30,7 Prozent (das entspricht 3,56 Milliarden Euro) weit vor allen anderen Staaten. Im österreichischen Außenhandel nimmt Slowenien den 12. Platz bei den Ausfuhren und die 17. Stelle bei den Einfuhren ein (2015). Die Verflechtung und Vernetzung im wirtschaftlichen Bereich ist also groß, und die positiven Auswirkungen bekommen auch die grenznahen Gebiete zu spüren.

61 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Auf politischer Ebene kam es unter den Landeshauptmännern Leopold Wagner (1974–1988), besonders aber Jörg Haider (1989–1991 und 1999–2008) zu einer langen Durststrecke in den Beziehungen zwischen Kärnten und Slowenien. Das Kontaktkomitee Kärnten-Slowenien, unter Hans Sima (1965– 1974) eingerichtet, das bis 2004 bestand, ruhte ein ganzes Jahrzehnt. Die Ortsta- fellösung (2011), an der Landeshauptmann Gerhard Dörfler (2008–2013), Haiders Nachfolger, wesentlich beteiligt war, hatte eine Entkrampfung in den nachbarschaft- lichen Beziehungen zur Folge. In der Regierungszeit des Landeshauptmannes Peter Kaiser (seit 2013) trat am 25. April 2014 erstmals der Gemeinsame Ausschuss Slowenien-Kärnten zusammen, der sich ein inhaltlich reiches Arbeitspensum in vie- len wichtigen Sphären des öffentlichen Lebens auferlegte.

Ein wichtiges Kooperationsfeld ist der Kulturbereich. Ob nun Musikgruppen aus Slowenien in Kärnten bei einem Zeltfest oder Kirchtag aufspielen oder es sich um größere Gastspiele und Ausstellungen handelt, die von öffentlichen Institutionen oder Vereinen getragen werden, solche Veranstaltungen bringen sowohl Künstler als auch Kulturliebhaber zusammen. Wertvolle Arbeit leisten Verlage. Zunehmend informieren Medien über das kulturelle Geschehen im jeweiligen Nachbarland. Viel zur Intensivierung tragen EU-Förderprogramme bei, die der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gewidmet sind. Ein erheblicher Teil der Kulturkontakte zwischen Kärnten und Slowenien ging lange von Initiativen slowenischer Vereine in Kärnten aus. Ohne diese Zusammenarbeit wäre das kulturelle Angebot dieser Vereine um vieles geringer, sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht.

Nicht zu vergessen ist der Sport. Es gibt kaum eine Sportart, in der keine Kontakte zwischen Aktiven und Vereinen bestehen würden. Im professionellen, halbprofessio- nellen und Amateursport gibt es einen regen Austausch von Spielern und Trainern. Symbolischer Höhepunkt der Zusammenarbeit im Sportbereich war die (erfolglose) Bewerbung Klagenfurts um die Austragung der Olympischen Winterspiele 2006. Unter dem Motto „Senza confini – Ohne Grenzen – Brez meja“ wurden Slowenien und Friaul-Julisch-Venetien eingebunden.

Jeder Versuch, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu dokumentieren, bleibt unvollständig. Nicht zu übersehen sind private Kontakte, Ausflüge in die Kultur- und Naturlandschaft des jeweiligen Nachbarlandes, Urlaubsaufenthalte, Besuche von Musik- und anderen Kulturveranstaltungen, bis hin zur kulinarischen Erkundung der Nachbarschaft. All das trägt nicht nur zur Lebensqualität des Einzelnen bei, sondern auch zur Überwindung des Gefühls, sich in der unmittelbaren und nahen Nachbar- schaft fremd zu sein.

Ein Blick nach vorne Identitäten verändern sich, mit absichtlichem Zutun oder ohne. Die Kärntner Slo- wenen von 2020 werden wenig mit denjenigen von 1920 gemeinsam haben,

62 Kap. 3_2

gleiches gilt für die deutschsprachigen Kärntner. Aus beiden sind in den meisten Fällen Österreicher geworden, weshalb es schwerfällt und vielleicht sogar falsch ist, von Deutschen und Slowenen zu sprechen. Es gibt sie, aber nicht mehr im Sinn des Nationalitätenkonflikts, wie er sich bis in die 1980er-Jahre manifestierte. Die Identi- täten werden sich auch künftig verändern. Welche Resultate es geben wird, kommt auf Erfahrungen und Impulse an, die Menschen in konkreten Lebenswelten machen und bekommen.

In erster Linie sollten Kindern und Jugendlichen attraktive Möglichkeiten geboten werden, den Nachbarn im eigenen Land und im jeweiligen Nachbarland kennen zu lernen. Einen besonderen Auftrag haben Schulen aller Schultypen und Jugendor- ganisationen. Zu erfahren, dass uns von den Nachbarn viel weniger trennt, als uns die vom Nationalismus der vergangenen Jahrzehnte kontaminierten Einstellungen ehemaliger Meinungsführer glauben machen wollten, wäre eine optimale Basis für die Zukunft. Es ist leicht, die Wahl zu treffen, ob wir jenseits der Grenze einen guten Nachbarn oder einen Erzfeind haben wollen. Gute Nachbarschaft stellt sich jedoch nicht automatisch ein, sie verlangt nach aufmerksamer Pflege guter Beziehungen. Der Gefahr neuer Nationalismen, europäischer Desintegrationsprozesse und sonsti- ger durch aggressive Ideologien befeuerter Konflikte sollte man sich bewusst sein.

Es kommt aber nach wie vor darauf an, den eigenen Standpunkt und Blickwinkel zu verändern oder wenigstens kritisch zu hinterfragen. Dadurch ergeben sich neue Sichtweisen, die das bisherige Selbst- und Fremdbild ergänzen. Das ist wie mit den Bergen. Steigt man höher und höher, bekommt die Welt andere Konturen, neue Horizonte öffnen sich, das Bild wird kompletter. Auch Kärnten sieht aus der Vogel- perspektive anders aus als aus der eines Frosches. Nicht nur im übertragenen Sinn kann man erkennen, dass beide Nachbarländer relativ klein sind. Kärnten hat Nach- barn jenseits der Karawanken, genauso wie jenseits der Pack, der Hohen Tauern oder der Karnischen Alpen – auf unserem kleinen blauen Planeten.

Literaturhinweise:

Hanns Haas – Karl Stuhlpfarrer, Österreich und seine Slowenen. Wien 1976.

Stefan Karner – Janez Stergar (Hg.), Kärnten und Slowenien – „Dickicht und Pfade“, in: Stefan Karner (Hg.), Kärnten und die nationale Frage, Band 5. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005.

Werner Koroschitz – Nadja Danglmaier, Nationalsozialismus in Kärnten. Opfer, Täter, Gegner. Innsbruck – Wien – Bozen 2015.

Dušan Nećak et al. (Red.), Slowenisch-österreichische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Ljubljana 2004.

Wolfgang Petritsch – Wilfried Graf – Gudrun Kramer (Hg.), Kärnten liegt am Meer. Konfliktgeschichte/n über Trauma, Macht und Identität. Klagenfurt 2012.

63 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Die Alpen-Adria-Region als Chance für Kärnten

Peter Fritz – Julia Walleczek-Fritz

Gemeinsam relevant

Die Lage Kärntens an der Schnittstelle dreier Kultur- und Sprachräume, der deut- schen, der romanischen und der slawischen, und die staatlichen, sprachlichen oder kulturellen Grenzziehungen prägten im Laufe des 20. Jahrhunderts maßgeblich seine Entwicklung. Grenzen trennen einerseits, andererseits sind sie Kontaktzo- nen. Sie bilden den Rahmen für das Spannungsfeld von Austausch und Ab- oder Mitglieder der Alpen-Adria- Ausgrenzung mit bis heute spürbaren Auswirkungen. In diesem Beitrag soll ge- Allianz, 2017. zeigt werden, welche Chancen eine starke Integration Kärntens in eine Alpen- Foto: Alpen-Adria-Allianz. Adria-Region mit dem Fokus auf Kärnten-Slowenien-Friaul- Julisch Venetien haben könn- te, welche Aktivitäten bereits umgesetzt wurden, welche Hemmnisse den Prozess er- schweren und welche Maß- nahmen notwendig erschei- nen, die langfristig auch zur Herausbildung einer Alpen- Adria-Identität führen könnten. Eine stärkere Kooperation von Slowenien, Friaul-Julisch Ve- netien und Kärnten macht allein schon aufgrund der geografischen und wirtschaft- lichen Ausgangssituation Sinn, wobei Kärnten als der kleinste Partner das größte Interesse haben sollte: Slowenien hat

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2,1 Millionen Einwohner und eine Fläche von etwa 20.200 km2, Friaul-Julisch Venetien ca. 1,2 Millionen und 7.800 km2 und Kärnten ca. 560.000 Einwohner und eine Fläche von etwa 9.500 km2. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt in Slowenien 43 Milliarden EURO, in Friaul-Julisch Venetien 36 Milliarden EURO und in Kärnten um 19 Milliarden EURO. Das BIP/Kopf ist hingegen in Kärnten am höchsten.

Alpen-Adria-Aktivitäten Der Begriff Alpen-Adria wurde von der Kärntner Landespolitik in den 1960er- Jahren geprägt und bezog sich auf die Zusammenarbeit mit Slowenien und Friaul- Julisch Venetien. Später wurde er auch in einem größeren geografischen Kontext für die Staaten und Länder zwischen Alpen und Adria verwendet. Er ist in Kärnten, wie es Hellwig Valentin formulierte, „zu einer Chiffre für die Politik der guten Nach- barschaft geworden, die das Gemeinsame vor das Trennende stellt.“ Viele Kooperationen tragen den Namen „Alpen-Adria“, um damit ihre überregi- onale Bedeutung zu unterstreichen. Auf der institutionellen Ebene bestand von 1978 die „Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria“ mit dem Schwerpunkt auf kulturel- ler, politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit von Ländern zwischen Alpen und Adria, die zahlreiche Aktivitäten inkludierte. Als Reaktion auf die zunehmen- den Abnutzungserscheinungen und Austritte von Mitgliedern wurde sie 2013 als „Alpen-Adria-Allianz“ neu aufgestellt. Die Gründungsmitglieder von 2013 Logo der Alpen-Adria-Allianz und der Vorgänger- waren die Bundesländer Kärnten, Steiermark, Burgenland, die kroatischen Ge- organisation. spanschaften Istrien, Karlovac, Krapina-Zagorje, Koprivnica-Križevci, Međimurje, Foto: Alpen-Adria-Allianz. Varaždin, in Slowenien der Skupnost Občin Slovenije (SOS – Verband der Städte und Gemeinden Sloweniens) und das Komitat Vas in Ungarn. Ziel ist nach Eigen- definition eine unbürokratische, flexible, projektorientierte Zusammenarbeit mit einem niederschwelligen Zugang, an der auch NGOs teilnehmen können.

Eine offizielle Plattform für denustausch A des Landes Kärnten mit Slowenien bil- den das „Gemeinsame Komitee Kärnten – Slowenien/Skupni odbor Slovenija- Koroska“ sowie mit den italienischen Regionen Friaul-Julisch Venetien und Veneto die 2007 initiierte „Euregio Senza Confini – Euregio ohne Grenzen“ auf Basis des Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ). In der Alpen-Adria-Rektorenkonferenz (AARC) arbeiten derzeit 48 Universitäten aus acht Staaten im Alpen-Adria-Raum und dem Westbalkan in wissenschaftli- chen, künstlerischen und zukunftsorientierten Bereichen zusammen. Vorzeigepro- jekte sind das Sommerkolleg in Bovec (Slowenien), in dem sich seit 1994 jähr- lich unter Federführung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Studierende aus Österreich, Slowenien und Italien treffen, oder das Programm „Danube Future“, das bis 2020 angelegt ist und sich im Donauraum Themen wie Nachhaltigkeit oder Natur- und Kulturerbe in Forschung und Ausbildung widmet. Unter anderem sind die Universität für Bodenkultur Wien, die Universitäten in Klagenfurt, Triest, Novi Sad oder Russe in Bulgarien beteiligt.

65 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

In vielen Gesellschafts- und Wirtschafts- bereichen hat man Aktivitäten gesetzt. So brachte etwa die gemeinsame Be- werbung für die Olympischen Win- terspiele 2006 im Dreiländereck neue Impulse. In der Sendereihe „Servus, Srečno, Ciao“ berichtet der ORF Kärn- ten jeden Samstag aus Slowenien und Italien über Menschen, Kulinarik, Veran- staltungen und Tipps. Zeitungen setzen grenzübergreifende Schwerpunkte. Die 1970 in Klagenfurt gegründete Hoch- schule für Bildungswissenschaften heißt seit 2004 Alpen-Adria-Universität. 1986 eröffnete die Alpen-Adria-Autobahn Villach – Udine. Von 1989 bis 2000 bestand Der Alpe-Adria-Trail führt vom der Verein Alpen-Adria Alternativ, der die Idee einer Alpen-Adria-Friedensregion Großglockner bis nach Triest, hier beim Granattor auf der verfolgte. Schul- und Jugendprojekte firmieren unter der Marke, ebenso wie Millstätter Alpe. kulinarische und kulturelle Aktivitäten, etwa Malwochen und Musikfestivals. Die Foto: Franz Gerdl. Kärntner Landes-Hypothekenbank wurde 1995 in Hypo Alpe-Adria-Bank AG und 2006 in Hypo Group Alpe Adria umbenannt. Der Alpe-Adria-Trail ist als Weitwan- derweg bekannt, Radfahrer nutzen den Ciclovia Alpe-Adria-Radweg, Gäste kön- nen in Alpe(n)-Adria-Hotels schlafen und die Buslinie „AlpeAdria Line“ verkehrt seit 2014 vier Mal täglich zwischen Klagenfurt und Ljubljana.

Hemmnisse Die vielen Vorteile einer Zusammenarbeit Kärntens mit Slowenien und Friaul- Julisch Venetien werden in öffentlichen Diskussionen immer wieder betont. Den- noch findet ein intensiver Austausch erst in einzelnen Bereichen statt. Von einer gemeinsamen Identität oder Wahrnehmung einer Alpen-Adria-Region ist man weit entfernt. Die Hemmnisse sind vielfältig und bedingen einander. Sie liegen in einer derzeit noch sehr ausgeprägten Verankerung der Politik und der Bevölkerung in nationalen und regionalen Identitäten und Narrativen, die zum Teil von gegen- sätzlichen Geschichtsbildern geprägt sind und die Zusammenarbeit erschweren. Vielen Akteuren erschließen sich die konkreten Chancen einer stärkeren Koope- ration in der Alpen-Adria-Region unzureichend. Viele Zukunftsstrategien sind bei allen drei Partnern stark national ausgerichtet und Kooperationen mitunter auf- grund gesetzlicher Schranken nicht möglich. Dies zeigt sich z. B. bei den national organisierten Tourismusagenden, weshalb es an einer gemeinsamen Angebots- palette oder an Ansätzen für ein grenzübergreifendes Standortmarketing fehlt.

Hinzu kommt, dass die bestehenden Identitätskonstruktionen der Bevölkerung auf ihren eigenen Staat, die Region und den Wohnort ausgerichtet sind, vielfach in Abgrenzung zu den „Anderen“. Eine Verbundenheit mit „Europa“ ist deutlich

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geringer ausgeprägt und spielt daher als Anknüpfungspunkt für eine Alpen-Adria- Identität noch keine Rolle. Ob sich eine solche Identität in einem europäischen Kontext ausbilden wird können, hängt auch von der weiteren Entwicklung der Eu- ropäischen Union und deren Wahrnehmung als integrative Kraft ab. Ein Fokus liegt daher aktuell auf Programmen für Jugendliche über die Staatsgrenzen hinweg. Zu Recht, denn gerade bei ihnen sind einerseits aufgrund des noch geringen Erfah- rungshorizontes transnationale Identitäten, andererseits die Bindung an tradierte nationale Erzählmuster und Geschichtsbilder noch schwächer. Dennoch, es domi- niert der Staat als oberster Bezugsrahmen, gefolgt vom Wohnort und der Region. Daraus eine überregionale, transnationale Alpen-Adria-Identität herauszubilden, erfordert lange und intensive Arbeit über Generationen hinweg.

Umsetzungsvorschläge Die Vorschläge für Integrationsmaßnahmen in der Alpen-Adria-Region sind in vielen Büchern, Denkschriften oder Memoranden ausreichend erörtert worden. Darunter finden sich: ein institutionell etablierter Dialog unter Einbindung vieler in Sport, der Wirtschaft, den Medien, der Politik und Verwaltung, der Schule, in Bil- dungs- und Kulturprojekten, gemeinsamen Initiativen zur Geschichte und Zukunft der Region und ihres Kultur- und Naturraumes oder zum Sprachenerwerb. Ebenso praktische Maßnahmen wie Informationen zu Fördermöglichkeiten, Unterstützung in der Antragstellung, Durchführung und Abschluss der Projekte. Die Wirtschaft bietet sich für einen intensiveren Austausch an. Die aktuellen Wirtschaftsbezie- hungen sind als gut einzustufen, jede weitere Vernetzung auch im bilateralen grenzüberschreitenden Austausch von Waren- und Dienstleistungen wäre aber wünschenswert. Denn für Kärnten als den deutlich bevölkerungsschwächsten und kleinsten Partner im Dreiländereck der Alpen-Adria-Region kann jede Form der Kooperation nur von Vorteil sein. Bezieht man den weiter gefassten Alpen-Adria- Raum mit Burgenland, Steiermark, Kärnten, Slowenien, Kroatien, Vas (Ungarn), Friaul-Julisch Venetien und Veneto mit ein, so erstreckt sich dieser auf 136.000 km2 mit etwa 14 Millionen Einwohnern, demnach ein riesiges Potential. Nimmt man alle Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria aus 2011 zusammen, so sind es sogar etwa 24 Millionen Einwohner.

Es liegen daher ausreichend Vorschläge am Tisch. An Möglichkeiten für eine Zu- sammenarbeit mangelt es nicht, denn die drei Partner in der Region haben, trotz unterschiedlicher Ausgangslage, ähnliche Themenfelder und Herausforderungen zu bewältigen, wenn es um die zukünftige Entwicklung geht: Fragen der Raum- planung, des Umgangs mit der Ressource Raum, der Umwelt oder des kulturellen Erbes in einer globalisierten Welt, der Abwanderung, des Spannungsfelds Zen- trum – Peripherie, zu Infrastruktur und Verkehr, Tourismus etc. Es ist nunmehr eine Sache der Umsetzung. Vorgeschlagen wird dazu ein gemeinsamer Zukunfts- prozess der Länder Slowenien, Friaul-Julisch Venetien und Kärnten mit dem Ziel, partizipativ eine umfassende Kooperationsstrategie für die Region zu entwerfen

67 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

und dazu konkrete gemeinsame Projekte aus- zuarbeiten. Mit starker Unterstützung nationa- ler Förderstellen, um bürokratische Hürden zu bewältigen, sollen erste Leitprojekte mit kon- kreten regionalen oder örtlichen Auswirkungen umgesetzt werden. Die Unterstützung sowie erste Ergebnisse schaffen Vertrauen bei allen Beteiligten. So kann Knowhow in der Zusam- menarbeit und dem nachbarschaftlichen Zu- sammenwirken aufgebaut werden. Wesentlich ist, Betroffene zu Beteiligten zu machen und sie in einen partizipativen Prozess aus Exper- ten, Stakeholdern, Politik und Verwaltung ein- zubinden. Feier anlässlich des Beitritts

Sloweniens zum Schengener Die Stärkung der Alpen-Adria-Region muss von den Interessen und Bedürfnis- Abkommen und des Endes der sen der Bevölkerung ausgehen. Daher müssen diese ersten Leitprojekte konkrete Grenzkontrollen am Grenz- Ergebnisse mit einem spürbaren Nutzen für die Bevölkerung vor Ort haben. Die übergang Karawankentunnel, 21. Dezember 2007. Ausbildung einer Alpen-Adria-Identität bedarf gemeinsamer Kraftanstrengungen. Foto: Gert Eggenberger. Ziel ist die Verankerung der Region in den Köpfen als eine attraktive Zukunfts- vision. Eine Verbundenheit entsteht über Bezugspunkte und Erfahrungsräume. Diese könnten über einen derartigen Zukunftsprozess mit Leitprojekten geschaf- fen werden.

Kulturtourismus als Chance zur Zusammenarbeit Ein wichtiger Katalysator für den Prozess einer gemeinsamen Identitätsbildung ist die Zusammenarbeit im kulturellen und kulturtouristischen Bereich. Hier sollte man daher erste Leitprojekte andocken. Kultur, Kunst, Geschichte, Bildung und Kreativität bieten sich als Motor für kulturtouristische Projekte an. Konkrete Bei- spiele dafür wären: grenzüberschreitende Museums- und Ausstellungsprojekte, Themenwege, Veranstaltungsreihen zu Alltag, Mentalität, volks- und naturkund- lichen Themen etc. Die an kulturellem Erbe reiche Alpen-Adria-Region ist durch ihre Grenzlage ein besonders geprägter Natur- und Kulturraum, der in Form von grenzüberschreitenden Kooperationen weiter gestärkt und im Sinne einer Nach- haltigkeit genützt werden sollte.

Grenzüberschreitend initiierte Kulturprojekte und kulturtouristisch gesetzte Akti- vitäten fördern den Austausch bei gleichzeitiger Einbeziehung breiter Bevölke- rungsgruppen. Sie stiften unmittelbaren konkreten Nutzen durch das Gefühl der Selbstwirksamkeit und Erfüllung durch gemeinsames Tun und Handeln oder auch einfach nur aufgrund von Einnahmen. Die Beteiligten tragen damit aktiv zur Stär- kung des Gemeinschaftsgefühls bei. Diese Projekte bieten gleichzeitig eine Platt- form für einen Dialog über bestimmte, mitunter historisch belastete Themen oder

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auch einander widersprechende Zugänge. In vielen anderen Regionen Europas tragen kulturtouristische Aktivitäten bereits wesentlich zur Sicherung eines fried- lichen Miteinanders bei und unterstützen dabei, eine gemeinsame Zukunft zu denken und mitzugestalten. Genannt sei als Beispiel etwa die deutsch-französi- sche Grenzregion.

Mit Blick auf die allgemeine touristische Entwicklung wird deutlich, dass in Zeiten einer bereits vielfach Realität gewordenen „Vermassung“, Wachstumschancen in jenen Bereichen liegen, die das Individuelle und damit Besondere herausstrei- chen. Die Nachfrage nach kulturellen Ressourcen regionaler und lokaler Art steigt. Angesichts dieses Befundes wird angeregt, in einer grenzübergreifenden Tou- rismusstrategie ein klares Bekenntnis zu Kulturtourismus und seiner Förderung abzulegen. Immerhin nannte das Land Kärnten 2015 die Optimierung des Alpe- Adria-Trails als ein Beispiel in der Tourismusstrategie. Darauf kann aufgebaut wer- den, ebenso wie auf dem weiteren Ausbau verschiedener Radwege und Moun- tainbike Strecken, wie etwa der Drau- oder der Ciclovia Alpe-Adria Radweg. Der Fortbestand des „Alpe-Adria-Trails“ wurde 2016 durch eine Kooperation zwi- schen Kärnten, Friaul-Julisch Venetien und Slowenien für weitere drei Jahre ver- längert. Das ist eine lohnenswerte Kooperation: so stieg im Jahr 2016 der Umsatz auf EUR 4,7 Millionen und die Übernachtungszahlen konnten um rund 13 Prozent (72.000) gesteigert werden, die Zahl der Tageswanderer betrug 20.000. Im Jahr 2016 wurde der Alpe-Adria-Trail zum zweiten Mal von National Geographic zu den attraktivsten Weitwanderwegen weltweit ausgewählt und trägt mit dieser (Be-)Werbung zu einer wesentlichen Sichtbarmachung und Internationalisierung der Region bei. Im Sinne einer kulturtouristischen Nutzung bereits bestehender Konzepte und Routen sollte unbe- dingt in diesen Bereichen angeknüpft werden und das vorhandene Angebot um verschiedene (kultu- relle) Schwerpunkte grenzüberschreitend erweitert werden. Dies könnten etwa Veranstaltungs- und Ausstellungsprojekte oder Themenwege mit Bezug zur gemeinsamen Geschichte sein, wie sie etwa mit den vom Verein „Dolomitenfreunde“ initiierten „Friedenswegen“ in den Karnischen Alpen oder der slowenischen Initiative „pot miru“ in Kobarid be- trieben werden. Es könnten aber auch Kunst- oder Bildungsprojekte sein, wie etwa das EU-Interreg Projekt (Danube Transnational Programme) „Net- Am Karnischen Kamm: world – Networking in preserving the First World War multicultural heritage in Freilichtmuseum des the Danube countries,“ das sich mit dem Schutz und der Vermittlung des bau- Gebirgskrieges 1915 –1917, kulturellen Erbes des Ersten Weltkrieges, wie Schützengräben, Soldatenfriedhöfe Kleiner Pal/Plöckenpass. Foto: Archiv Dolomitenfreunde. oder Kriegsdenkmäler sowohl in Österreich als auch in den Nachfolgestaaten der

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Donaumonarchie auseinandersetzt. Deutlich soll der vor allem unter Touristikern Kirche in Javorca verbreiteten These widersprochen werden, dass z. B. Themen mit Bezug zu Krieg (Slowenien), 1916/1917 erbaut von k.u.k. Soldaten, heute Teil oder Gewalt und Tourismus kulturtouristisch nicht vereinbar seien. Es bliebe eine des „Walk of peace“ von Chance ungenützt, die nicht nur Wertschöpfung bringen, sondern zudem zu einer „pot miru“. aktiv gestalteten Erinnerungskultur und Identitätsbildung beitragen würde. Foto: Tomaž Ovčak, Archiv der Stiftung Weg des Friedens, Kobarid, Slowenien. In Hinblick auf eine Sichtbarmachung und Vermittlung des kulturellen Erbes in der Alpen-Adria-Region würde sich gerade im Jahr 2018 z. B. das von der Eu- ropäischen Union ausgerufene „Sharing Heritage – Europäisches Kulturerbejahr“ oder 2020 als Anknüpfungspunkt anbieten. Aktuell laufen im Rahmen des EU- Förderprogramms Interreg V-A Slowenien–Österreich bzw. Italien–Österreich fünf Projekte mit Kärntner Beteiligung, die sich dem Natur- und Kulturerbe widmen. Allerdings ist zu bedenken, dass die Inszenierung von vor allem historisch aufgela- denen Stätten und Themen ein großes Risiko einer Trivialisierung, einer „Sinnent- leerung“ oder auch Umdeutung birgt. Wissenschaftlich fundierte Angebotsaufbe- reitung ist daher von großer Bedeutung.

Resümee Die gemeinsame Entwicklung einer Region und eines regionalen (Selbst-)Be- wusstseins ist die Summe von Maßnahmen, die über Jahrzehnte hinweg kon- sequent von allen beteiligten Partnern verfolgt werden muss. Naturgemäß ist die Motivation dazu sehr unterschiedlich. Auf lokaler Ebene ist der wirtschaftliche

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Nutzen sicher ein wichtiger Motivationsfaktor zur Umsetzung derartiger Projek- te, ebenso der Wunsch nach guten nachbarschaftlichen Beziehungen. Folglich nimmt die interkommunale, überregionale, bi- und trilaterale Zusammenarbeit zu. Dies stärkt die gegenseitige Verständigung, wie jede Form des Austausches die Wahrnehmung als gemeinsame Region fördert. Wenngleich man bisher in der Alpen-Adria-Region bereits Wesentliches geschaffen hat, schlummert noch unge- nutztes Potenzial hinsichtlich der Umsetzung gemeinsamer Projekte, das verstärkt in den Bereichen Bildung, Forschung, Kultur, Natur und Kulturtourismus zu finden ist. Dieses gilt es zu heben. Bei Politik und Verwaltung aller drei Länder liegt die Verantwortung, dafür einen unbürokratischen Rahmen zu schaffen. Letztlich wird die Alpen-Adria-Region jedoch nicht umhin kommen, einen Zukunftsprozess zu durchlaufen, um eine attraktive Vision für diesen Raum zu entwickeln, in der sich möglichst viele wiederfinden.

Literaturhinweise:

Heike Egner – Horst Peter Groß (Hg.), Die Alpen-Adria-Region. Bindung und Grenzen. München – Wien 2013.

Michael Fischer – Johannes Hahn (Hg.), Europa neu Denken. Regionen als Ressource. Salzburg 2014.

Peter Fritz, „Krieg schauen“ – Militärgeschichte als kulturtouristisches Potenzial in Kärnten: das Beispiel des Karnischen Kamms, in: Ulfried Burz (Hg.), Das Grenz- und Frontland Kärnten 1914–1918. ÖGL – Österreich in Geschichte und Literatur, Heft 4/2015, S. 402-415.

Armin Klein – Yvonne Pröbstle – Thomas Schmidt-Ott (Hg.), Kulturtourismus für alle? Neue Strategien für einen Wachstumsmarkt. Bielefeld 2017.

Kurt Luger – Karlheinz Wöhler (Hg.), Welterbe und Tourismus. Schützen und Nützen aus einer Perspektive der Nachhaltigkeit. Innsbruck – Wien – Bozen 2008.

Wolfgang Petritsch – Wilfried Graf – Gudrun Kramer (Hg.), Kärnten liegt am Meer. Konfliktgeschichte/n über Trauma, Macht und Identität. Klagenfurt 2012.

Werner Wintersteiner – Georg Gombos – Daniela Gronold (Hg.), Grenzverkehr | ungen. Mehrsprachigkeit, Transkulturalität und Bildung im Alpen-Adria-Raum. Klagenfurt 2010.

Cordula Wohlmuther – Werner Wintersteiner, „Dort, wo unsere Großväter gegeneinander kämpften …“ Die „Friedenswege“ an der Frontlinie des Ersten Weltkriegs: Tourismus und Frieden im Alpen-Adria-Raum. Klagenfurt / Celovec 2018.

71 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Die regionale Medienkolonie

Peter Plaikner

er durch Globalisierung und Digitalisierung verursachte gesellschaftliche Um- bruch zeigt sich in kaum einem anderen Bereich so deutlich wie in der Me- Ddiennutzung. Durch das Web 2.0, die Rückkanalfähigkeit des Internets und seine populären Anwendungen wie Facebook, YouTube und Twitter erhält der öffentliche Diskurs nicht nur neue Plattformen neben den herkömmlichen Zeitun- gen, Radio- und TV-Programmen. Wenn jeder Empfänger zumindest theoretisch und technisch auch ein Sender sein kann, raubt dies vor allem der gewohnten Torwächter-Funktion des Journalismus einen Teil seiner Privilegierung. Alle Infor- matoren werden zwangsläufig zu Kommunikatoren. Die hierarchische Abstufung zwischen Massenmedien und ihren Nutzern weicht zunehmend einer Beziehung auf Augenhöhe. Unterdessen schwinden die Grenzen zwischen Print-, Hörfunk- und Fernsehproduzenten. Öffentlich-rechtlich organisierte wie privatwirtschaftlich strukturierte Anbieter sind durchwegs Multimediahäuser und treten online auch direkt in Wettbewerb zueinander.

Ein österreichischer Sonderfall In dieser Entwicklung unterscheidet sich Kärnten nicht von anderen Regionen Österreichs. Doch es ist auch in diesem Bereich ein austriakischer Sonderfall. Denn lediglich im Burgenland und hier konnte sich kein wirklich eigener großer Zeitungsverlag halten. Seit 2014 und dem Ende der KTZ ist Kärnten nur noch ein Exerzierfeld für die drei größten Medienhäuser Österreichs – der ORF, die Mediaprint und die Styria. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sowohl das öffentlich-rechtliche Landesstudio als auch Kleine Zeitung, Woche, Anten- ne, Kärntner Regionalmedien, Kärntner Monat (alle Styria) und Krone (Mediaprint) hier operativ einen sehr eigenständigen Kurs fahren können. Die strategischen Letztentscheidungen fallen in Wien und Graz. Kärnten ist mittlerweile eine Me- dienkolonie ohne autochthonen Widerpart. Die verbliebenen Wochenzeitungen vom Sonntag – Kärntner Kirchenzeitung und den Unterkärntner Nachrichten bis zu Novice und Nedelja, den Blättern der slowenischen Volksgruppe, vermögen darüber so wenig hinwegzutäuschen wie das regionale Fernsehprogramm KT1 und das mehrsprachige, nicht kommerzielle Rundfunkprojekt Radio Agora. Paradoxerweise führt neben der geographischen Randlage als Grenzregion und dem Schnittpunkt der drei großen europäischen Kulturen ausgerechnet dieses Filialdasein zu besonders akzentuiert kärntnerischen Inhalten. Das gilt für Zeitun- gen wie Radio und Fernsehen. In keinem anderen Bundesland erzielt ein Tagblatt

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noch 50 Prozent Reichweite wie hier die Kleine Zeitung, nirgends sonst hören das regionale ORF-Programm täglich 40 Prozent der Bevölkerung. Nur in Vorarlberg hat „Bundesland heute“ noch mehr Marktanteil als die 64 Prozent des frühabend- lichen Kärntner TV-Publikums. Auch insgesamt liegt hier der tägliche Zeitungskonsum um zehn Prozentpunkte über dem österreichischen Schnitt und ist wie beim Reichweiten von Massenmedien in Kärnten Radiohören und Fernsehen der anteilsmäßig höchste in allen Bun-

Leser pro Ausgabe | täglich | über 14-Jährige desländern. Diese außergewöhnlich starke Verwendung herkömm- licher Medien resultiert auch aus einem vergleichsweisen Rückstand Kleine Zeitung 241.000 50,0 % bei der Internetnutzung. Vor einem Jahrzehnt noch Letzter in einer Kronen Zeitung 210.000 43,6 % entsprechenden Reihung der Regionen, ist Kärnten inzwischen be- Leser pro Ausgabe | wöchentlich + 14-täglich | 14+ reits Fünfter. Durch diese Aufholjagd in der Hinwendung zu digita- len Angeboten erodiert auch der vor einer Dekade noch wesentlich Woche 262.000 54,2 % deutlichere Vorsprung bei der Nutzung von Printmedien. Kärntner Regionalmedien 309.000 64,1 % Doch dieses Bild ist unvollständig, weil – wie der öffentliche Rund- Tagesreichweite | über 10-Jährige funk – auch die Zeitungen umfangreiche Informationsangebote Radio Kärnten 201.000 39,9 % online stellen. Sie erreichen bei Kleine und Krone derzeit bereits täglich ungefähr ein Sechstel der Papierleserschaft. Dieses deutlich Antenne Kärnten 94.000 18,7 % jüngere Publikum wirkt in hohem Maße komplementär zu den Kon- Ö3 167.000 33,1 % sumenten der herkömmlichen Medienangebote. Es ist also davon Kronehit 42.000 8,3 % auszugehen, dass die Kleine insgesamt Tag für Tag über 60 Prozent

Unique User pro Monat | % der Internetnutzer 14+ der Kärntner erreicht – und auch die Krone mehr als die Hälfte. Ähnliches gilt auch für den ORF in Kombination mit seinen Radio, ORF.at 236.000 55,5 % Fernseh- und Online-Angeboten. Mit einer solchen Gesamtmar- kleinezeitung.at 176.000 42,6 % kenreichweite läge er insgesamt voran. (Zum Vergleich: Die jüngs- krone.at 146.000 35,4 % ten verfügbaren Eigenangaben von Facebook sprechen von rund der Hälfte der österreichischen Bevölkerung als Nutzer – allerdings meinbezirk.at 131.000 31,8 % pro Monat.) Die Daten stammen aus der Media-Analyse 2016/2017, dem Reichweite ist nicht gleich Relevanz Radiotest 2017_2 (2016/2017) Ein solcher Vergleich hinkt aber nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Tiefe und der Webanalyse ÖWA plus 2017-II (2. Quartal 2017). und Flüchtigkeit zu lesender, zu hörender und zu sehender Informationen. Die mit Die Zahlen sind nicht direkt Hauptaugenmerk auf die werbetreibende Wirtschaft angebotenen gemeinsamen vergleichbar. Würde z. B. Marktforschungen der Branche beschreiben vor allem die Kontaktmöglichkeiten bei der Kleinen Zeitung die jedes Mediums. Als quantitative Erhebungen taugen sie aber kaum, um den Stel- Wochenreichweite als weitester Leserkreis angegeben, wären lenwert für den gesellschaftlichen und politischen Diskurs zu beschreiben. In einer dies schon 358.000. Umge- derart qualitativen Betrachtung liegen die Styria im Allgemeinen und die Kleine kehrt hat beispielsweise orf.at Zeitung im Besonderen weit voran. Dieser Vorsprung entsteht auch unabhängig eine Österreich-Reichweite von von der journalistischen Qualität schon durch den schieren Umfang der Kärnten- 3,317 Millionen, täglich aber nur noch 817.000. Die ÖWA weist Berichterstattung. keine Tageswerte für Bundes- Das Erfolgsgeheimnis der Kleinen liegt in sieben unterschiedlichen Regionalausga- länder aus. ben für Kärnten, für die der Blattkern jeweils ausschließlich bezirksbezogen gestal- tet wird. Dadurch kommt sie auf ein Vielfaches an Kärnten-Artikeln im Vergleich zu

73 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

sämtlichen Mitbewerbern. Denn weder die Filialen von ORF noch Krone schaffen eine derartige „Glokalisierung“. Dieses Kunstwort beschreibt am besten die lokale Nutzung digitaler Kommunikationstechniken kontra die globale Kolonialisierung. Die Woche – ebenfalls aus dem Hause Styria – ist zwar mindestens so tief in den einzelnen Bezirken verankert, aber durch ihr nur wöchentliches Erscheinen im Hintertreffen. Außerdem hat sie ihren ursprünglichen Anspruch an landespolitisch relevante Berichterstattung auf ein Mindestmaß reduziert. Neben dem kompletten Wegfall der KTZ ist also ein weiterer einstiger Mitspieler fast verloren gegangen. Während der Styria-Sender Antenne Kärnten durch regio- nale Nachrichten punktet und damit das Match gegen das ORF-Radio Kärnten mit dessen wesentlich älterem Publikum eingeht, sind bei der Mediaprint-Konkurrenz Kronehit landesbezogene Informationen so selten wie bei Ö3. Während im Raum Klagenfurt noch Welle 1 und Lounge FM das Hörfunkangebot vervollständigen, ist das landesweit zu empfangende Radio Agora ein österreichisches Unikum an Privat Public Partnership. Denn der gleichnamige Medienverein vertraut in der Gestaltung der Nachrichten auf die slowenische Redaktion im ORF-Landesstudio. Im Fernsehen wirkt zwar die öffentlich-rechtliche Dominanz am stärksten, weil eben Kärnten auch die zweithöchste Quote aller „Bundesland heute“-Sendungen aufweist. Insgesamt brachte es das Landesstudio 2016 auf 176 Stunden Lokal- ausstiege. Doch auch beim Bewegtbild erwächst dem ORF immer stärkere Kon- kurrenz. Insbesondere die Kleine agiert auf ihrer Website zunehmend und sehr aktuell mit Videos und Live-Streaming von herausragenden Ereignissen. Auch hier ist sie der Krone voraus, deren Regionalisierung in diesem Bereich noch nicht an- nähernd so fortgeschritten ist. Seit dem Scheitern der Kooperation mit ServusTV und dem im Wettbewerb zu „Bundesland heute“ konzipierten „Servus Krone“ sind diese vom linearen Fernsehen ausgehenden Bemühungen ins Stocken ge- raten. Anders als im Radiosektor, wo Kronehit ein 50:50-Joint-Venture mit der zweiten Mediaprint-Marke Kurier ist, hat er Schau TV allein erworben. Das der Krone nachgesagte Interesse an ATV ist seit dessen Aufkauf durch Puls4 hinfällig. Die Styria hingegen hat sich 2009 nach zehn Jahren von ihrem regionalen Fern- sehsender KT1 getrennt. Seitdem betreiben ihn drei Kärntner in Eigenregie und er ist auch Teil von R9, einem österreichweiten Verbund mit acht anderen privaten Bundesländer-TV-Angeboten geworden.

Das Ende der Parteizeitungen Nicht nur der wirtschaftliche Status Quo der regionalen Medienlandschaft, son- dern auch die Positionierung der einzelnen Titel und Programme erklären sich in einem hohen Maß aus der etwas anderen Kärntner Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie überall in Deutschland und Österreich wurde das Pres- sewesen auch von den westlichen Besatzungsmächten durchaus unterschiedlich neu aufgebaut. Daraus ergeben sich bis heute wirkende Dominanzen. Lücken, Mono- und Duopole von Schleswig-Holstein bis Kärnten. Die genannten Regio- nen waren beide unter britischer Verwaltung. Hier gab sie bereits ab 16. Mai 1945

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die am Jahresende eingestellten Kärntner Nachrichten heraus. Denn ab 28. Oktober erschienen die Volkszeitung (ÖVP), die Neue Zeit (SPÖ) und der Volkswille (KPÖ) als Parteizeitungen vorerst wöchentlich. Als Tageszeitungen ereilte sie durchwegs das Schicksal der gesamten Gesinnungspres- se: Sie passten nicht mehr in die Zeit. Die Volkszeitung wurde 1990 eingestellt, der in der Volkstimme aufgegangene Volkswille 1991. Die 1965 zur Kärntner Tageszeitung (KTZ) umgetaufteNeue Zeit hielt dank ei- ner 1990 geschlossenen Verlagskooperati-

ORF-Landesstudio Kärnten. on mit der Mediaprint immerhin bis 2014 durch. Sie war die letzte Zeitung der Foto: ORF/Harald Haimburger. Sozialdemokratie. Heute betreibt nur noch die Volkspartei ein eigenes Tagblatt – in Oberösterreich. In Kärnten vollzog sich der Abstieg der ideologisch geprägten Gazetten auch des- halb langsamer, weil hier nicht gleich nach dem Krieg auch ein – zumindest von Parteien – unabhängiges Printmedium starten konnte; wie in nahezu allen an- deren Bundesländern. Die ab 1948 vom katholischen Pressverein der Diözese Graz-Seckau etablierte Kleine Zeitung erschien zwar mit ein paar mutierten Kärn- ten-Seiten, war aber eine – klar als solche erkennbare – steirische Zeitung. Das änderte sich erst 1954 – als ihr Chefredakteur Hans Dichand in dieser Funktion zum Kurier wechselte – mit der Eröffnung eines eigenen Druckstandortes in Kla- genfurt. So wurde die Kleine Schritt für Schritt die einzige Zwei-Bundesländerzei- tung Österreichs. Ausgerechnet die von Hans Dichand 1959 gegründete Kronen Zeitung verhinderte, dass daraus eine Monopolstellung wurde. Denn Anfang der 1980er-Jahre erfasste der Expansionsdrang dieses Wiener Boulevardblattes auch den Süden: Seitdem hat sich die Kärntner Krone im heftigen Wettbewerb als Nr. 2 etabliert, wenngleich es ihr hier – anders als in der Steiermark – nie gelungen ist, die Reichweite der Kleinen zu übertreffen.

Der Einfluss der Politik Die Jahreszahlen der höchsten Reichweiten von Kleine (61,8 Prozent 1999) und Krone (54,2 Prozent 2001) sagen etwas über die gesellschaftspolitische Relevanz dieser Blätter. Die Topwerte stammen vom Vorabend und aus der Hochphase der schwarzblauen Bundeskoalition, als hier Jörg Haider regierte. Eine Phase der Polarisierung, auch der Medien. Doch wie bei der Kleinen waren auch die Eigen- tümer der Krone für die Landespolitik nie greifbar – weil außer Landes. Sie gehört zu gleichen Teilen der Familie Dichand und der Funke-Gruppe, die besser unter ihrem früheren Namen WAZ (für Westdeutsche Allgemeine Zeitung) bekannt und eines der größten Medienhäuser Deutschlands ist. Lediglich bei der KTZ waren – ungeachtet ihres Status als Parteizeitung – immer vor Ort Interventionen möglich.

75 Themenschwerpunkt Vernetzung, Nachbarn, Dialog

Dies gilt zumindest indirekt auch für den ORF, dessen öffentlich-rechtliche Kon- struktion über das einstige Kuratorium bis zum aktuellen Stiftungsrat den ent- Sendeanlage am Dobratsch. Foto: ORF/Mario Mayer. sprechenden Einfluss sichert. Es ist ein offenes Geheimnis, dass einst kein Landesintendant und heute keine Landesdirektorin ohne Zu- stimmung der regional dominierenden Partei in diese Position kommt. Zuletzt tat Gerhard Dörfler dieses politische Selbstverständnis so- gar öffentlich kund. Erst unter Peter Kaiser wandelt sich der Stil: Die unter seinem Vorgän- ger bestellte Filialleiterin ist ebenso weiter in Funktion wie der einst gekürte Stiftungsrat des Landes Kärnten. Dessen ORF-Geschichte be- ginnt 1954 mit der Aufnahme in den österrei- chischen Radiobeirat. Der Sender auf dem Py- ramidenkogel sorgt ab 1957 für die technische Verbreitung. 1971 wird mit der Anlage auf dem Dobratsch die bundesweit letzte große Versor- gungslücke geschlossen, 1982 das renovierte und ausgebaute Landesstudio in Klagenfurt er- öffnet. Dort gibt es bereits seit 1977 alljährlich das öffentliche ettlesenW um den Ingeborg- Bachmann-Preis – die heute wahrscheinlich traditionsreichste TV-Kulturveranstaltung im deutschen Sprachraum. 1988 kommt von hier erstmals „Kärnten heute“, 1989 entsteht „Do- ber dan Koroška“, die slowenische Minderhei- tensendung, 2004 beginnt die Kooperation mit Radio Agora.

Demokratie benötigt Medienbildung Diese (Un)abhängigkeiten prägen bis heute die Einstellungen insbesondere der regionalen Par- teien und ihrer Anhänger zu den Zeitungen im Land. In kaum einem anderen Bundesland wird dem ansässigen Tagblatt und dem Wiener Bou- levard-Ableger so sehr Lagernähe unterstellt wie in Kärnten. Durch die jeweilige Berichterstattung lassen sich diese Vorurteile Lesung beim Ingeborg- allerdings nicht erhärten. Eher als ideologisch getrieben sind beide ökonomisch Bachmann-Preis 2017. Foto: ORF/Johannes Puch. konstituiert; so wie alle ernst zu nehmenden privatwirtschaftlich organisierten Massenmedien. Ihre grassierende Fehleinschätzung ist allerdings keine Kärntner Spezialität, sondern beruht auf einem für die Zukunft der liberalen Demokratie ka- tastrophalen gesamtgesellschaftlichen Mangel an politischer Bildung und dadurch

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zwangsläufig auch fehlendem Medienwissen. Die Auswirkungen dieses sozialen Defizits sind in der Ära von Social Media – ein doppelt hinterfragenswerter Be- griff – und der dadurch bewerkstelligten massenhaften Irreführung bereits syste- merschütternd spürbar. Sie werden durch den Trend zu Owned Media endgültig demokratiegefährdend. Owned Media ist nichts anderes als eine Fortsetzung von Parteizeitungen mit den Mitteln der Digitalisierung. Propaganda und Agitation statt Information und Kommunikation. Auf nationaler Ebene betreiben bereits zumin- dest FPÖ, ÖVP und SPÖ uneingestanden über Mittelsmänner solche Kanäle im Internet. Sie liefern geschickt frisierte Pseudo-Infos, die gleichwertig stehen sollen neben Nachrichten im Sinne von Meldungen, nach denen wir uns richten können. Frei nach Pippi Langstrumpfs „Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.“ Noch hat dieser Trend die regionale Ebene und somit auch Kärnten nicht erreicht. Doch er wird die größte Herausforderung an eine Gesellschaft, die grundsätzlich das Vertrauen in alle Institutionen verliert. Je näher sie aber sind, desto scheinbar überprüfbarer und kontrollierbarer erscheinen sie. Deshalb sinkt die Glaubwürdig- keit der regionalen und lokalen Institutionen am wenigsten. Darum werden sie der wichtigste Angelpunkt für digitale Desinformation durch die unterschiedlichsten Interessensgruppen. Daraus leitet sich ein klarer Auftrag auch für die Kärntner Lan- despolitik ab. Ihre gesellschaftlich wichtigste Aufgabe ist die rasante Intensivierung aller Formen von politischer und damit auch Medienbildung. Sonst ist dieser Text Makulatur und sind viele seiner Hauptdarsteller Geschichte, noch bevor die nächs- te Festschrift zu einem Jubiläum der Kärntner Volksabstimmung in Druck geht.

Literaturhinweise:

Harald Fidler, Österreichs Medienwelt von A bis Z. Das komplette Lexikon mit 1000 Stichwörtern von „Abzockfernsehen“ bis „Zeitungssterben“. Wien 2008.

Franz Ivan – Heinz Pürer – Helmut W. Lang, 200 Jahre Tageszeitung in Österreich 1783–1983. Festschrift und Ausstellungskatalog. Wien 1983.

Peter Muzik, Die Zeitungsmacher. Österreichs Presse: Macht, Meinungen und Milliarden. Wien 1984.

ORF – Österreichischer Rundfunk, Die österreichische Rundfunk-Chronik. Online verfügbar unter mediendaten.orf.at/ chronik.htm (aufgerufen am 05.11.2017).

Peter Plaikner, Die Medienlandschaft zwischen Donau-Wasserkopf und Alpen-Herrgottswinkel, in: Peter Filzmaier – Peter Plaikner – Karl A. Duffek (Hg.), Mediendemokratie Österreich. Edition Politische Kommunikation, Bd. 1. Wien 2007, S. 179-207.

Thomas Steinmaurer, Das Mediensystem Österreichs, in: Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hg.), Internationales Handbuch Medien, 28. Auflage. Baden-Baden 2009.

Karl Vogd, Information als Ware. Die Geschichte der österreichischen Zeitungen im Überblick. Wien 2000.

77 _1 Infrastruktur (wirtschaftliche) Entwicklung Raum _2 Kapitel 3 Vernetzung Nachbarn Dialog _3 Identität Erinnerungskultur _4 Demokratie- entwicklung _5 Migration Kap. 3_3

Identität(en) und Erinnerungskulturen in Kärnten

Helmut Konrad

enige Begriffe haben in der Geschichtswissenschaft eine ähnliche Konjunk- tur wie Erinnerung, Gedächtnis oder Identität. Hatten andere Länder mit Wdynamischeren Wissenschaftskulturen sich schon länger diesen Fragen zugewendet, so bedurfte es in Österreich des Anstoßes durch die sogenannte Waldheimdebatte, um die Tür zu einem historisch-kulturwissenschaftlichen Dis- kurs über den Umgang mit unserer Geschichte aufzustoßen. Seit drei Jahrzehnten haben aber die genannten Begriffe, die der Psychologie oder der Medizin entlehnt sind, bei uns Eingang auch in die historisch-politischen Analysen gefunden.

Aus der gesamtösterreichischen Perspektive stellt sich für die Zeitgeschichte da- bei vor allem die Frage nach dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergan- genheit. Das spielt auch für Kärnten eine entscheidende Rolle, doch bekommt diese Frage durch die zusätzlichen Verwerfungen rund um die Vertreibungen und Vernichtungen von Teilen der slowenischsprachigen Minderheit, den Parti- sanenkampf und die Partisanenbekämpfung eine eigenständige Kärntner Version. Identität und Erinnerung spielen schließlich in einem Bundesland mit der Spezifik von Abwehrkampf und Volksabstimmung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine besondere Rolle, ging es im 20. Jahrhundert ja nicht nur um Abgrenzung nach außen, sondern auch um die Trennlinien im Inneren des Bundeslandes, um das Vorhandensein von unterschiedlichen historischen Erzählsträngen mit wenig Überlappungen.

Während „Identität“ ein Begriff ist, mit dem meist aktuell oder zeitnah die Abgren- zung zu einer „Alterität“ vollzogen wird (individuell „Ich“ und „Du“, kollektiv „Wir“ und „Ihr“), weisen „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ unzweifelhaft auf Vergangenes, durch das aber aktuelle Identitäten geformt worden sind.

79 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Gedächtnis und Erinnerung stehen in einem Spannungsverhältnis zu den Er- kenntnissen der Geschichtswissenschaft. Das deutet nicht notwendigerweise auf einen Widerspruch der beiden Formen der Bewahrung von Vergangenem hin. Jeder und jede von uns kann, ein gewisses Lebensalter vorausgesetzt, sich an Ereignisse erinnern, bei denen er oder sie dabei gewesen sind, die man klar vor Augen hat und die doch durch die Brille der historischen Forschung „zur Kennt- lichkeit entstellt“ dargeboten werden. Man erinnert individuell, ja sogar als Gruppe jeweils anders, die Wissenschaft aber bringt nicht nur die Summe der individuellen Erinnerungen auf einen gemeinsamen Nenner, sondern versucht noch auf einer Metaebene die Einbindung des erinnerten Ereignisses in einen größeren Kontext.

Was eine Person erinnert, ist weitgehend, aber nicht ausschließlich, individuell. In die vermeintlich eigene Erinnerung speisen sich Erzählungen, Lektüren, Fotos und ähnliches ein. Meine Tochter war drei Jahre alt, als sie mit uns ein halbes Jahr an der Cornell Universität in Ithaca, New York verbrachte. Gut zwei Jahrzehnte später, bei einem neuerlichen Besuch an den alten Plätzen, war sie sich nicht sicher, ob sie sich selbst daran erinnert oder ob unsere Erzählungen und Fotos in ihrem Kopf ein Bild geformt hatten, das sie vom individuellen Erinnern nicht mehr abspalten konnte. So hat fast jedes Erinnern auch eine kollektive Komponente.

Die Wissenschaft spricht hier vom „kommunikativen Gedächtnis“, das von den Erzählungen und Mythen einer Gruppe (der amilie,F eines Vereins, eines Dorfes oder auch größerer Einheiten) mit geformt ist und daher die Erinnerungen der älteren Angehörigen der Gruppe in das Gedächtnis der jüngeren einfließen lässt. Dass der KAC mit 30 Meistertiteln Österreichs Rekordmeister im Eishockey ist, ist Teil meines kommunikativen Gedächtnisses, obwohl ich selbst nur wenige dieser Titel individuell miterleben durfte. Aber die gemeinsame Erinnerung hat dafür einen Platz im „Wir“ geschaffen.

Dieses kommunikative Gedächtnis ist also eine kollektive Erinnerungsform. Liegen Ereignisse länger zurück, also außerhalb des gemeinsamen realen Erinnerns der Bezugsgruppe, so sind sie, wenn sie Einfluss auf die Gruppe haben, dem kulturel- len Gedächtnis zuzuordnen. Kein Serbe erinnert sich persönlich oder in der fami- liären Kommunikation an die Schlacht auf dem Amselfeld gegen das Osmanische Reich im Jahre 1389, aber das weit über ein halbes Jahrtausend zurückliegende Ereignis formte die letzten Jahrzehnte auf dem Balkan emotional wesentlich mit. Sie bietet sogar eine Erklärungsfolie für das Ausmaß des wechselseitigen Has- ses und damit der ausbrechenden Gewalt. Über Denkmäler, Museen und andere Erinnerungsorte, über Schulbücher, Literatur und andere künstlerische Formen leisten Ereignisse wie das genannte einen wesentlichen Beitrag zur kollektiven Erinnerung an Heldentaten, schwere Prüfungen oder erlittene Schmach der Be- zugsgruppe. Dieses kollektive Erinnern erzeugt für die innere Festigung der Grup- pe Identität. Diese innere Festigung braucht an den Außenlinien Feindbilder.

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Identität umfasst all das, was eine Entität, also eine Person oder eine Gruppe, cha- rakterisiert und sie von anderen Entitäten unterscheidet. Sie macht dieses „Ich“ oder aber das „Wir“ aus. Sprachlich meint der Begriff Identität, dass etwas ident, also absolut gleich ist. Für die Gesellschaft bedeutet es aber vorerst einmal, dass man eine Trennlinie zum „Nicht-Gleichen“ ziehen kann. Das gilt zwischen den Ge- schlechtern, zwischen den Alterskohorten, zwischen den Einkommensschichten, zwischen den Bildungsgraden, zwischen den Sprachen, zwischen den Hautfarben oder zwischen den politischen Ansichten, zwischen den Staatsbürgerschaften, zwischen Herkunftsländern oder -regionen. Und „Identitäten“ sind immer multi- pel, der Begriff ist jedenfalls nur als Plural zu verwenden. Jede Person hat mehrere Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten mit durchaus wechselnden Ansprüchen und Verhaltensregeln. Ich bin Lavanttaler, Kärntner, Österreicher oder Europäer, aber gleichzeitig auch Mann, Hochschullehrer, Passivsportler, zwanghafter Leser, Theaterliebhaber, Katzenfreund und vieles mehr, in jeweils eigenen Bezugsgrup- pen, teils eigener Sprache und jeweils spezifischen Mustern und Ritualen. Man kann sogar sagen, dass jede dieser Identitäten eine eigene Sprache mit eigenem Wortschatz kreiert. Oftmals verlangt sie spezifische Kleidung, und immer setzt sich die Bezugsgruppe, wenn auch zeitlich begrenzt, von den „Anderen“ ab.

Nicht jede Gruppenidentität ist allerdings leicht überwindbar, abzustreifen wie ein Kostüm und gegen ein anderes zu tauschen. Man wird in solche Identitäten hin- eingeboren, man erfährt Zuschreibungen von außen, es werden Mauern hochge- zogen, die exkludieren. Der Wunsch, einer Gruppe anzugehören, reicht da allein nicht aus. Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird also nicht nur von innen, sondern auch von außen bestimmt. Man wird einer Gruppe „zugewiesen“, manchmal si- cher gegen den eigenen Willen und zur eigenen Scham. Den Judenstern hat man nicht freiwillig getragen, er wurde aufgezwungen.

Es braucht, um dazuzugehören, die Zustimmung der jeweiligen Gruppe und oft mühsamer, ja sogar demütigender Aufnahmerituale. In englischen und amerika- nischen Eliteschulen und Universitäten ist der Zugang zu einer „Fraternity“ ein echter Spießrutenlauf. Und als Syrer oder Nigerianer in Österreich als Mitglied der Gemeinschaft angenommen zu werden, ist ein Prozess, dessen Schwierigkeiten wir tagtäglich beobachten können.

Wir sehen also kollektive Identitäten von unterschiedlichen Festigkeiten. Es ist leicht, sich ein Vereinstrikot überzuziehen und für zwei Stunden Teil einer emoti- onalen Gemeinschaft zu werden, sich aufgenommen zu fühlen und mitzujubeln oder mitzuleiden. Schwerer wird es an anderen Grenzen, an manchen zeigt sich Unüberwindbarkeit (Alter, Hautfarbe, meist auch Geschlecht). Und schwierig ist es dort, wo Traditionen, die Politik oder die kulturelle Prägung Zuschreibungen von außen oder gar von oben vorgenommen und aufgezwungen haben, die das Individuum nicht einfach abstreifen kann.

81 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Kärntner Identitäten Kollektive Identität entsteht zwangsläufig durch soziale Interaktion. Daher kommt der Sprache auf diesem Feld auch eine ganz besondere Bedeutung zu, denn sie ist das Hauptinstrument, das bei diesen Interaktionen eingesetzt wird. Zwei Landessprachen (oder zwei im Land verwendete Sprachen) erzeugen, zumin- dest seit der Entfaltung des Sprachnationalismus im späten 19. Jahrhundert, eine Abgrenzungslinie für differente, vorgeblich nationale Identitäten. Wenn dies durch die Erkenntnis von sozialen Zugehörigkeiten und Zuschreibungen, von religiösen Bindungen, von der Teilhabe an einem separierten, aber der Gruppe gemeinsamen kulturellen Gedächtnis verstärkt wird, wenn zusätzlich kulturelle Über- oder Unterlegenheit über die Sprachlinie thematisiert wird, dann verfes- tigt sich diese Trennlinie.

Soziale Interaktion ist aber vielfältiger und nicht auf die Sprachenfrage zu redu- zieren. Sie manifestiert sich auch in gemeinsamen Handlungen, bei denen die Der Kärntneranzug, gezeich- sprachliche Trennlinie wieder unwichtiger wird. Feste, wie etwa der Bleiburger net von Maler Prof. Leopold Wiesenmarkt, wie Kirchtage oder aber Kulturveranstaltungen, weisen über die Resch, von dem der Entwurf Gruppengrenze hinaus. Die vertraute Landschaft, das verwandte Liedgut, die für die 1911 eingeführte Lan- destracht stammt. zweisprachigen Friedhöfe, kulinarische Traditionen in Speis und Trank, Sportver- Foto: Kärntner anstaltungen und vieles mehr lassen oftmals Landsmannschaft. die Sprache als Hauptinstrument der sozialen Interaktion in den Hintergrund treten.

Die Sprache ist außerdem von vielfälti- gen Binnendifferenzierungen durchzogen. „Halbsteirer“ nannten mich meine Klagen- furter Schulkollegen, was durchaus nicht freundlich gemeint war, denn sie machten sich über meine Klangfärbung in der Spra- che lustig, verbunden auch mit einer sozialen Zuschreibung für das Landei, verglichen zu den meist gutbürgerlichen und sozial besser gestellten Stadtkindern. Jedes Kärntner Tal ist durch eigene sprachliche Besonderheiten gekennzeichnet, und auch das Slowenische zeigt eine erstaunliche Vielfalt. Dazu kommen, vor allem, aber nicht nur, in den sprachlichen Mischgebieten, zahlreiche Lehnwörter aus der jeweils anderen Sprache.

Was aber erlaubt überhaupt einem Kärntner oder einer Kärntnerin sich als solche zu be- zeichnen? Ist es der Geburtsort? Darf man zu-

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gezogen sein? Warum wurde gerade ich aufgefordert, diesen Artikel zu schrei- ben, obwohl ich drei Viertel meines Lebens außerhalb dieses Bundeslandes verbracht habe und allein meine steirische Existenz meine Kärntner Lebens- jahre um das Doppelte übertrifft? Ich habe nie einen Kärntneranzug besessen, ich kann nicht singen und ich mache mich über die Kärntner Dehnung in der Sprache meiner Kärntner Verwandten lustig. Wie schaut das mit dem „Heimat“- Begriff aus? Kann, ja muss man diesen nicht auch, wie den Begriff „Identitäten“, besser im Plural verwenden? Sehe ich Kärnten inzwischen nicht vielmehr mit den Augen eines treuen Touristen, der sich regelmäßig an der Schönheit der Landschaft erfreut, seine Besuche absolviert und Kärntner Nudeln oder Jauntaler Salami im Gepäck mit nach Hause nimmt? Wie lange muss ein Zugewanderter hier wohnen, um als Teil der Gemeinschaft akzeptiert zu werden? Oder bleibt man eigentlich für die ganze Lebensspanne über den Geburtsort definiert?

Meine Eltern und Großeltern wanderten zwischen dem oberen Lavanttal und dem weststeirischen Kohlerevier hin und her. Mein Vater ist in Kärnten, die Mutter in der Steiermark geboren. Aber war die Pack eine wirkliche Identi- tätstrennlinie, die sich real und nicht nur im Witz über das Kulturgefälle (mit dem man ein Kraftwerk betreiben könnte – die Seite kann man sich aussuchen) ma- nifestierte? War nicht die innere Barriere, die man als Volksgruppenfrage (Wer ist warum Teil des Volkes?) bezeichnet, für Kärnten die viel deutlichere Markierung als so manche Landesgrenze, etwa zu Osttirol oder zur Steiermark?

Mein Sohn ist in Linz geboren, weil ich meine Frau dort kennenlernte und wir einige Lebensjahre dort verbringen konnten. Sein Vater ist Kärntner, die Mutter Vorarlbergerin mit italienischem Migrationshintergrund, und ab seinem dritten Lebensjahr lebte er in Graz. Aber auch sein steirischer Lebensabschnitt wird bald an Dauer vom Leben an anderen Orten Österreichs und der Welt übertroffen sein. Wird man ihn je auffordern, über seine (nicht einmal rudimentär vorhandene) oberösterreichische Identität einen Artikel zu verfassen?

Kann man überhaupt seriös von einer „Kärntner Identität“ sprechen? Mit einem gewissen Abstand vom Land selbst wird es zweifellos leichter. Ich habe jeden- falls prägende Lebensjahre in Kärnten verbracht. Der Weg nach Wien war ein gewagter Schritt ins Fremde. Außerhalb des Bundeslandes, bei der Arbeit oder beim Studium, in Entfernung vom Herkunftsort, entstand und entsteht oftmals eine Gemeinsamkeit in einer (lautstarken) Defensive, ein Zusammenstehen in der meist spielerischen, oft aber durchaus ernsten Minderheitensituation über die im Lande selbst vormals gelebten Trennlinien hinweg. Fast alle Bundesländer zelebrieren ihre jährlichen Feste in der Bundeshauptstadt. Und aus der Distanz relativiert sich auch die im Lande selbst schmerzhaft zu fühlende Scheidelinie der unterschiedlichen historischen Referenzpunkte und der unterschiedlichen Interpretation der wenigen für alle Seiten wichtigen Daten.

83 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Historische Referenzpunkte Sogar weiter zurück als die erwähnte Schlacht auf dem Amselfeld reicht die bis heute oft heftige Diskussion um die Besiedelung Kärntens. Der Fürstenstein weist auf das erste nachchristliche Jahrtausend zurück, und seine Abbildung auf der slo- wenischen 2 Cent-Münze verlegte die Diskussion über den sprachlich-kulturellen Hintergrund der ersten Kärntner herauf ins dritte Jahrtausend. Zum Herzogstuhl auf dem Zollfeld führten uns (deutsch-)national geprägte Lehrer in Schulausflügen, um uns ihre Version der Frühgeschichte des Landes zu erzählen.

Sicher ist, dass es, vergleichbar mit Böhmen, über Jahrhunderte ein Kärntner Lan- desbewusstsein gab, das sich um Sprache als Abgrenzungsmerkmal wenig scherte. Man war Kärntnerin oder Kärntner, verbunden durch eine in ihrem Wirkungsbereich definierte Landesverwaltung in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Erst die Wel- le der Sprachnationalisierung im späten 19. Jahrhundert veränderte auch die Kärnt- ner Situation. Dabei waren die sogenannten „Deutschkärntner“ im Vorteil, hatte sich doch ein deutschsprachiges Bildungsbürgertum konstituiert, das die Städte domi- nierte. Damit waren sozialer Aufstieg, der Zugang zu ökonomischen Förderungen und der Weg zur höheren Bildung an die deutsche Sprache gebunden, während Slowenisch eigentlich nur über die kirchliche Laufbahn als Priester einen Aufstiegs- weg kannte. In der Dynamik des Modernisierungsprozesses wurde die slowenische Muttersprache zum sozialen Stigma. Das Fehlen slowenischsprachiger Universitäten im gesamten Gebiet der Habsburgermonarchie verzögerte auch für die slowenisch- sprachige Bevölkerung Kärntens den Eintritt in eine damals zeitgemäße selbstbe- wusste sprachnationale Auseinandersetzung, was einerseits dazu führte, dass man sich lange als Kärntnerin oder Kärntner fühlte (und nicht als Slowenin oder Slowene), dass man anderseits aber auch die Zurücksetzung in der sozialen und kulturellen Positionierung der eigenen Person wohl schmerzhaft wahrnehmen konnte.

Der gemeinsam erlebte und erlittene Erste Weltkrieg ließ die Differenzen zurücktre- ten. In Franz Theodor Csokors Drama „3. November 1918“ brechen zwar gerade die sogenannten Nationalitäten auseinander, aber deren Vertreter an der Kärntner Grenze stehen beispielhaft noch gemeinsam um den Sarg ihres Kommandanten, der das Übergeordnete des zerfallenden Reiches symbolisiert. Im Zerbrechen des alten Staates stellte sich die Frage nach der Grenzziehung. Das Habsburgerreich konnte entweder entlang der alten Kronländergrenzen oder aber entlang vermu- teter Sprachgrenzen aufgeteilt werden. Gegenüber dem SHS-Staat verlor die jun- ge Republik Deutschösterreich die Untersteiermark, ein Verlust deutschsprachiger städtischer Sprachinseln im slowenischsprachigen ländlichen Umfeld. Der Marburger Blutsonntag stellte den schmerzhaften Höhepunkt dieses Abtrennungsprozesses dar. Kärnten war aber anders. Da gab es die natürliche Barriere der Berge gegenüber dem Süden, den Wirtschaftsraum Klagenfurter Becken und die Region um Villach. Und der ausgeprägte Sprachnationalismus hatte erst die deutschsprachige Bevöl- kerung erfasst.

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Es ist hier nicht der Ort, den Kärntner Abwehrkampf nachzuerzählen. Aber es wird wichtig sein, daran zu erinnern, wie er sich im historischen Gedächtnis manifestiert hat. „Deutschland durften wir nicht sagen, Österreich wollten wir nicht sagen, also haben wir Kärnten gesagt….“, interpretiert die deutschnationale Wahrnehmung des Konflikts als Abwehr gegen den südslawischen Staat. Und als die auch durch die internationale Aufmerksamkeit auf den Konflikt erzielte Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 Kärnten ungeteilt ließ, verdrängte man sehr rasch das starke Votum der slowenischsprachigen Bevölkerung Kärntens und deutete das Resultat zugunsten eines Siegs des Deutschtums um. Der 10. Oktober konnte so zu kei- nem gemeinsamen Erinnerungsort werden, obwohl das Potential dafür vorhan- den war.

Dass der Nationalsozialismus diese deutschnationale Position übernahm und über- höhte, lag in der Wesensart des Systems. Der Balkanfeldzug, die Aussiedelung der slowenischen Bevölkerung, das Einziehen in die Deutsche Wehrmacht, der Partisanenkampf und die damit verbundenen durchaus nicht nur einseitigen Grau- samkeiten und letztlich der durch die slowenischsprachige Bevölkerung geleistete, international geforderte Beitrag zur Befreiung Österreichs machten gemeinsame historische Referenzpunkte nur noch schwerer. Der Artikel 7 des österreichischen Staatsvertrags von 1955 ist gleichsam die Ikone der sogenannten „Minderheit“, wie es die Volksabstimmung für die „Mehrheit“ darstellt. Das in beiden enthaltene Element für ein gemeinsames Interpretieren der historischen Ereignisse wurde verkannt und wohl auch ganz bewusst im Sinne einer Tradierung von Abgrenzun- gen verdrängt.

Erinnerungskulturen Es ist für die Gegenwart nicht das historische Faktum, also das durch die Wissen- schaft geprüfte und außer Streit gestellte Ereignis, von Bedeutung, sondern es ist die Form der Erinnerung. Historische Erinnerung ist stets gruppenspezifisch, spricht einem Ereignis eine für die Bezugsgruppe relevante Bedeutung zu. Ein uni- versales umfassendes Gedächtnis kann es nicht geben. Das gilt nicht nur für Kärn- ten, sondern generell. Kolonialgeschichtliche Ereignisse werden in Afrika anders wahrgenommen als in Westeuropa, die sogenannte „Dolchstoßlegende“ wurde in Frankreich anders gelesen als im Deutschen Reich. Erst wenn ein Ereignis im historischen Gedächtnis „unbewohnt“ ist, wie es Aleida Assmann nennt, wenn es also nicht mehr für Legitimationszwecke einer Gruppe benutzt wird, kann man es langfristig außer Streit stellen und einen Gedächtnisort damit musealisieren. Er ist dann ein Artefakt ohne aktuelle Aufladung.

Das bedeutet nicht, dass die Geschichtswissenschaft nicht auch zu „bewohnten“ Ereignissen valide Ergebnisse liefert, aber deren Aufnahme in einer Gesellschaft, die die Argumente zur Absicherung der eigenen Identität nutzt, wird selektiv sein. Nur allzu deutlich wurde dies im Gegensatzpaar wissenschaftliche Auseinander-

85 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

setzung mit Österreichs Geschichte im Nationalsozialismus versus öffentlicher und privater Erinnerung.

Zeugnisse einer Erinnerungskultur findet manauch, ja sogar vornehm- lich, im öffentlichen Raum. Das gilt in erster Linie für die Denkmallandschaft. Betrachtet man hier die Situation in Kärnten, so fällt vorerst eine Gemein- samkeit auf, die Kärnten mit den an- deren Denkmalkulten in Österreich teilt. Dominant, und zwar flächende- ckend, gibt es die Kriegerdenkmä- ler, an denen der Gefallenen beider Weltkriege gedacht wird und die in den Dörfern an oder zumindest in der Nähe der Kirche stehen. Sieht man bei den Siegermächten Inszenierungen des „Großen Krieges“ oder Ehrungen von Das Kriegerdenkmal von St. Andrä für die Gefallenen Helden, ist die österreichische Version notwendigerweise zurückhaltender. Und beider Weltkriege und des ebenso ist Kärnten im Einklang mit den anderen Bundesländern, wenn es um die Abwehrkampfes. Bescheidenheit der Erinnerung an Widerstand und Opfer aus der Zeit 1938 bis Foto: Monika Gschwandner-Elkins. 1945 geht, in Kärnten noch überhöht durch die Partisanenthematik, die einen ei- genen Erzählstrang außerhalb des dominierenden deutsch-kärntner Erzählstrangs Denkmal an der Gurkbrücke bedient. (inzwischen umgestaltet). Foto: KLA.

Diese konträre Denkmalkultur habe ich gern in Exkursionen mit meinen Studierenden, durchaus aber auch allein, besucht. Die „Abstimmungs- stadt“ Völkermarkt, das Denkmal an der Gurkbrücke (inzwischen umge- staltet), die 10. Oktober-Straßen auf der einen, den Peršmanhof auf der anderen Seite der historischen Erinne- rung. In Grabelsdorf/Grabalja vas, wo ich Teile meiner Jugend verbrachte und wo meine Schwester wohnt, ist Erzählungen zufolge der berüchtig- te Ortstafelsturm ausgebrochen, das Foto vom Wegweiser nach Obersam- melsdorf hat es inzwischen bis in die Schulbücher gebracht. Der Friedhof bei der Danielskapelle erzählt in den

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Museum am Peršmanhof. unterschiedlich geschriebenen Familiennamen aus jeweils einer einzigen Familie Foto: Peršman/wafra. die Geschichte von Anpassungsdruck und familiärer Spaltung. Überall in Unter- kärnten kann man die schmerzhafte Geschichte dieser Region im 20. Jahrhundert sehen, nachvollziehen und im Sinn des Wortes auch begreifen. Der Fremdenver- kehr hat einiges aus dieser Konfliktgeschichte überdeckt, hat vieles zur Folklore verniedlicht. Aber wenn die Gäste, die „Fremden“, weg sind, wird noch immer das Fremdsein im eigenen Land spürbar gemacht.

Gedächtnisorte sind aber nicht nur an konkreten, geografisch fixierten Plätzen ma- teriell vorhandene Zeugnisse für jeweils bestimmte Sichtweisen von Geschichte, sondern sie führen zur Stärkung der gruppenspezifischen Erinnerung. Gedächt- nisorte können vielfältig sein. Es muss nicht die Rasenbank am Elterngrab sein, es kann auch einfach eine lieb gewordene, vielleicht durch Verklärung verzerrte Erinnerung sein, ohne konkrete, intersubjektiv teilbare Positionierung in Raum und Zeit. Und ganz besonders bietet sich die Kunst an, in vielfältigster Weise eine Bandbreite an möglichen Gedächtnisorten zur Verfügung zu stellen.

Bei mir zu Hause hängen an der Wand wunderbare Arbeiten von Werner Berg, aber auch von Switbert Lobisser, die als bildende Kärntner Künstler Erinnerungs- stränge aufgreifen, Lobisser sogar parteiergreifend direkt, etwa in seiner Begrü- ßung des sogenannten „Anschlusses“ von Österreich an Hitlerdeutschland im Jahr 1938. Aus den Gesichtern der Menschen auf Bergs Bildern lese ich hingegen das Bemühen um die Bewahrung gewohnter Lebensverhältnisse heraus, damit wohl auch das Widerständige gegen den Anpassungsdruck in Sprache und Kultur.

87 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Die entscheidenden Impulse für ein Verstehen der unterschiedlichen Erzählstränge in der Kärntner Ge- schichte des 20. Jahrhunderts liefert allerdings die Literatur. Gerade habe ich „Seelenruhig“ von Florjan Lipuš gelesen, was mir tief bewegt eine schlaflose Nacht bereitet hat. Da mischen sich dann die Sprach- bilder mit Fetzen meiner eigenen Erinnerung und ma- chen das Herz schwer. Das ist Lipuš auch schon mit seinen älteren Texten bei mir gelungen.

Peter Handkes großartiges Drama „Immer noch Sturm“ macht es mir leicht, mit Freunden, die mit der Kärntner Geschichte wenig vertraut sind, nach dem Theaterbe- such oder nach der Lektüre über die Bruchlinien in der Kärntner Erinnerung zu diskutieren und Verständnis für die Komplexität dieser Verwerfungen zu wecken. Aber ganz besonders gilt dies für Maja Haderlap, die mit ihrem bisher zentralen Werk „Engel des Verges- sens“ einen Text vorgelegt hat, der breit auf beiden Seiten der historischen Gräben gelesen und diskutiert wurde. Die erstaunliche Wirkung der Lektüre war auch in meinem persönlichen Umfeld wahrzunehmen. Und meine tapfersten Freunde ließen sich dann auch auf Haderlaps Gedichte im „Langen Transit“ ein.

Haderlap, Handke und Lipuš haben sich alle auf ihre Art der jeweiligen Familienge- Titelblatt von Maja Haderlap, schichte gestellt, sie haben das individuelle Erinnern und die Einbettung dieser Er- Engel des Vergessens. Foto: Wallstein Verlag. innerung in ein kollektives Gedächtnis mit den Mitteln ihrer Kunst verdeutlicht. Sie konnten etwas machen, was der Geschichtswissenschaft ausdrücklich verwehrt ist: Sie durften die Trennlinie zwischen Fakten und Fiktionen überschreiten und sprachgewaltig Bilder entwickeln, die letztlich „wahrhaftiger“ sind als jede histo- risch ermittelte „Wahrheit“. Damit werden die Texte geschichtsmächtig, sie beein- flussen massiv individuelles und kollektives Erinnern. Die Sichtweisen auf histori- sche Referenzpunkte werden durch diese Bücher verändert, und auch Menschen mit anderen, ja vielleicht gegensätzlichen Familiengeschichten können sich der Wirkung dieser Texte und damit der Beeinflussung der eigenen Wahrnehmung kaum entziehen.

Es besteht damit durchaus Grund für Optimismus. Nicht nur die Kunst hat den Weg bereitet, auch manche Schritte der Politik tragen vor allem im 21. Jahrhundert dazu bei, die harten Bruchlinien erodieren zu lassen. Der zeitliche Abstand, die Entwick- lung der Europäischen Union machen dies jetzt möglich. Jürgen Pirker, selbst Ak- teur im Geschehen, hat gerade in seiner zweiten Dissertation („Geschichte(n) im

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Konflikt. Der Konsens- und Dialogprozess in Kärnten. Vom nationalen Konflikt zur Friedensregion Alpen-Adria?“) diese wichtigen Schritte nachgezeichnet. Nachbar- schaftspolitik in einem nicht mehr nur nationalstaatlich interpretierten Europa wird es zudem leichter machen, die Selbstfesselung in der eigenen Erinnerungskultur zu überwinden.

Ausblick Unzweifelhaft wird die Gestaltung des Ereignisses „100 Jahre Kärntner Volksab- stimmung“ rund um den 10. Oktober 2020 der ganz entscheidende Lackmus- test. Meine individuelle Erinnerung an die jeweiligen Gedenktage scheint eine Bestätigung dafür zu sein, wie sehr dieser historische Bezugspunkt der nationalen und politischen Instrumentalisierung zum Opfer gefallen war und wie sehr subku- tan politische Inhalte aus einer „völkischen“ Tradition bei diesen Festen vermittelt wurden. Selbst harmlose Interventionen wie Umdichtungen von historischen Pa- rolen führten zu Drohgebärden des damaligen Mainstreams.

Landeshauptmann Hans Sima und Bundeskanzler Bruno Kreisky bekamen 1972 vor der Kärntner Arbeiterkammer in der Klagenfurter Bahnhofstrasse die Rech- nung dafür präsentiert, dass sie die Vorgaben des Österreichischen Staatsvertrags 17 Jahre später teilweise einzulösen versuchten. Die Proteste waren wohl die heftigsten, mit denen sich der österreichische Bundeskanzler im Inland auseinan- derzusetzen hatte, so hoch der Zustimmungsgrad zu seiner Politik auch in Kärnten allgemein war. Dass sich der Ortstafelsturm dann am 9. Oktober entfaltete, steht mit dem Gedenken am Folgetag in unmittelbarem Zusammenhang.

Wenn es also gelingen sollte, den hoch aufgeladenen Gedächtnisort zu entladen (ganz kann es nicht gelingen, denn er ist ja nicht „unbewohnt“), zumindest so weit, dass das Erinnern nicht mehr als Affront für die oft ausgegrenzte Gruppe empfunden wird, ist vielleicht ein wesentlicher Schritt gesetzt, Kärnten nicht mehr als „Sonderfall“ unter den österreichischen Bundesländern verstehen zu müssen. Und dann wäre es leichter, ja nachgerade logisch, die Regionen zwischen dem Alpenhauptkamm und der oberen Adria trotz der zumindest drei verschiedenen Sprachen als kulturelle Einheit zu verstehen.

Literaturhinweise:

Jürgen Pirker, Geschichte(n) im Konflikt. Der Konsens- und Dialogprozess in Kärnten. Vom nationalen Konflikt zur Friedensregion Alpen-Adria? Diss. Graz 2017.

Hellfried Valentin, Der Sonderfall. Kärntens Zeitgeschichte 1918-2004/08. Klagenfurt 2009.

Josef Feldner – Marjan Sturm, Kärnten neu denken. Zwei Kontrahenten im Dialog. Klagenfurt 2007.

Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2010.

89 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Die Hierarchie der Erinnerungen. Kärntner Erinnerungsgemein- schaften, Gruppenidentität und Trauma

Daniel Wutti

1. Von der Erinnerung zur Großgruppenidentität In Kärnten/Koroška treffen nicht nur seit Jahrhunderten eine germanische und eine slawische Sprache aufeinander, sondern auch verschiedene „Erinnerungs- gemeinschaften“. So werden innerhalb des Bundeslands deutlich unterscheidbare Erinnerungskulturen gepflegt. Erst durch Kommunikation mit anderen Menschen oder durch die Bezugnahme zu anderen „Erinnerungen“ bekommt persönliche Erinnerung eine Bedeutung, erst so kann sie geordnet und verstanden werden. Persönliche Erinnerung ist auf gesellschaftliche Bezüge angewiesen. Erinnerun- gen, die von mehreren Menschen getragen werden, stützen sich aufeinander – und stützen gleichzeitig die Identität der Gruppe. Außerhalb der Gruppe liegen- de Erinnerungen werden eher ausgeklammert, schrieb Maurice Halbwachs, ein Pionier in der Gedächtnisforschung, schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Dieser Ausschluss von „anderen Erinnerungen“ trägt wiederum zur Festigung der jeweiligen Gruppenidentität bei.

Im Fachdiskurs wurde, wohl nicht ganz ungerechtfertigt, von einem „Kampfplatz der Erinnerung“ gesprochen: Wenn wir von ‚Erinnerung‘ sprechen, dann meinen wir einen aktiven Prozess der Rekonstruktion von Vergangenheit, einen Prozess, den gedächtnispolitische Akteure initiieren, steuern und gestalten. Erinnerung geschieht also nicht von selbst, sondern will erkämpft sein, schreibt etwa Peter Gstettner. Dabei sind Erinnerungen „multidirektional“, das heißt sie sind miteinan- der verflochten und aufeinander bezogen. Stark präsent ist jedenfalls eine Hierar- chie von Erinnerungen: „Welche Gruppen ihr Geschichtsbild öffentlich ausstellen und somit sichtbar und geltend machen können, hängt davon ab [...], welchen Platz sie in der Hierarchie der Erinnerung einnehmen [...]. Welche Interpretatio-

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nen und Narrative sich etablieren können, ist immer politisch bestimmt und das Ergebnis eines permanenten Aushandlungsprozesses“, schreiben die Kärntner Literaturwissenschafter Hajnalka Nagy und ernerW Wintersteiner. Persönliche Er- innerung steht also stark im Zusammenhang mit der Erinnerung der jeweiligen sozialen Gruppe. Diese wiederum steht in Relation zur Erinnerung anderer Grup- pen. Wie sichtbar und in der Öffentlichkeit präsent die Erinnerung einer Gruppe tatsächlich ist, hängt vom sozialen Status der Gruppe ab.

Ethnische oder nationale Großgruppen unter Überschriften wie beispielsweise „die KärntnerInnen“ oder „die Kärntner SlowenInnen“ geben den Menschen die Möglichkeit zur Identifikation oder auch zur Abgrenzung. Sie bieten persönlichen Identitätsanteilen eine schützende Funktion. Daher ist die Zugehörigkeit zu einer Großgruppe in unsicheren Zeiten – bzw. vermeintlich unsicheren Zeiten – stets bedeutender als in Friedenszeiten. In der Gegenwart etwa liegt für viele Men- schen in Europa eine Unsicherheit in der angenommenen Gefahr, von „Flüchtlin- gen überschwemmt“ zu werden. In den volksgruppenpolitisch höchst brisanten 1970er-Jahren lag für viele KärntnerInnen die Unsicherheit gewiss auch in der Nähe zum kommunistischen Nachbarn Jugoslawien begründet. Großgruppen tendieren dazu, das „Andere“ bzw. „Fremde“ auszuschließen. Sie sind zugleich ein- als auch ausschließend, worin auch ihr problematischer Charakter besteht: Nur zu leicht lassen sich Großgruppen von narzisstischen Führern oder Dema- gogen verleiten, meint etwa der türkisch-zypriotische Psychoanalytiker Vamik Volkan.

In diesem Kontext wird die Einsicht relevant, Großgruppen bzw. Gemeinschaften und ihre Traditionen seien nichts weiter als erfunden und imaginiert. Eigentlich sei jegliche Gemeinschaft, die persönlichen Kontakt („face-to-face“) übersteigt, ima- giniert bzw. vorgestellt, schrieb beispielsweise Benedict Anderson. Er spricht da- her von Nationalitäten und nationalen Kulturen als „vorgestellten Gemeinschaften - imagined communities“. Unterschiede zwischen Nationen und Kulturen seien nur in den Weisen begründet, in denen sie sich imaginieren. Nationalitäten beru- hen demnach auf der Vorstellung einer gemeinsamen Erzählung der Nation, auf der Betonung von Ursprünglichkeit, Kontinuität und Zeitlosigkeit eines „nationa- len Charakters“, der Erfindung von Tradition der Nation, einem Gründungsmythos sowie der Idee eines reinen, ursprünglichen Volkes, das die Nation begründete, fügte der britische Soziologe Stuart Hall hinzu. Das Konzept von „Fäden der Groß- gruppenidentität“ des bereits erwähnten Psychoanalytikers Volkan zeigt in eine ähnliche Richtung der Konstruktion kollektiver Identitäten. Er beschreibt detailliert sieben Elemente, die bedeutsam für die Identität einer Gruppe seien. Während sich davon die meisten auf die Gegenwart beziehen, handeln zwei der „Fäden der Großgruppenidentität“ explizit von der Vergangenheit. So trägt der Fokus auf die traumatische Vergangenheit einer Gruppe – auch über Jahrhunderte hinweg – stark zur Gruppenidentität bei. Eine Gruppe „wählt“ demnach ein vergange-

91 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

nes traumatisches Ereignis und hängt sich daran fest. Dieses Ereignis dient oft auch der Abgrenzung von einer anderen Gruppe. Ebenso wichtige Pfeiler der Großgruppenidentität sind nach Volkan „glorreiche Blätter“ aus der Vergangenheit: Ereignisse, derer von der Gruppe (im Gegensatz zur „gewählten“ traumatischen Vergangenheit) überaus positiv gedacht wird. Heikel wird es nun, wenn wie in Kärnten/Koroška ein vergangenes Ereignis von unterschiedlichen Erinnerungsge- meinschaften bzw. Großgruppen unterschiedlich erinnert wird. So stellt der Wi- derstand der Kärntner PartisanInnen gegen die Nationalsozialisten einerseits ein „Ruhmesblatt“ für viele KärntnerInnen dar. Andererseits aber – mit negativem Fo- kus auf Vergeltungsaktionen und Verschleppungen nach dem Zweiten Weltkrieg – ist er ein „gewähltes Trauma“ für viele andere KärntnerInnen. Ähnlich verhält es sich mit dem Kärntner Abwehrkampf. Er ist einerseits ein „Ruhmesblatt“, anderer- seits aber, beispielsweise mit negativem Fokus auf antislowenische Tendenzen in und um die Feierlichkeiten, ein „gewähltes Trauma“ für manche Kärntner Slowe- nInnen.

2. Das unterschätzte Trauma der nationalsozialistischen Vergangenheit Das vergangene Jahrhundert war ein Zeitalter der Extreme. Unzählige Menschen erlitten dabei Traumata, die mitunter identitätsstiftend wirkten. In den letzten Jah- ren wurde vermehrt der Fokus darauf gelegt, wie auf gesellschaftlicher Ebe- ne mit dem belastenden Erbe umge- gangen wurde. In Deutschland be- schrieben die PsychoanalytikerInnen Alexander und Margarete Mitscherlich bereits in den 1960er-Jahren eine „Derealisierung“ und „Entwirklichung“ der Vergangenheit bezogen auf den Nationalsozialismus. Statt diese ein- schneidende Zeit – und etwaige per- sönliche Schuldanteile – gesellschaft- lich grundlegend aufzuarbeiten, habe man sich manisch auf den Wieder- aufbau gestürzt und die Vergangen- heit verschwiegen, sie derealisiert und sich auch der persönlichen Aufarbeitung Vertriebene Kärntner entzogen. Die durchschnittliche deutsche Familie habe sich ihrer moralischen Ver- Slowenen bei der Arbeit im Lager Hesselberg, 1942. antwortung nicht gestellt und dieses Verhalten auch auf die nächste Generati- Foto: KLA. on übertragen, bestätigte auch der israelische Psychoanalytiker Dan Bar-On. Der Sozialpsychologe Harald Welzer stellte in diesem Sinn in einer für Deutschland repräsentativen Umfrage die Tendenz fest, dass die eigenen Vorfahren in den seltensten Fällen als TäterInnen gesehen werden und stattdessen viel eher zu „HeldInnen“ umgedeutet werden. Seine Studie ergab, dass nur zwei Prozent der Deutschen der Meinung sind, ihre Eltern bzw. Großeltern hätten den Nationalso-

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zialismus als „sehr positiv“ empfunden. Von den Befragten mit Abitur bzw. Hoch- schulabschluss glauben 30 Prozent, ihre Eltern oder Großeltern hätten Verfolgten geholfen. 65 Prozent der Deutschen sind der Meinung, ihre Angehörigen haben viel im Krieg gelitten. Die österreichische Zeithistorikerin Margit Reiter nimmt eine Abwehr vor ‚unliebsamen‘ Entdeckungen und ein Schonverhalten sich und den Vorfahren gegenüber an. „Nur ein kleiner Teil der Nachkommen begibt sich tat- sächlich auf die schwierige Suche nach der ‚historischen Wahrheit‘ [...]“. Familiäre Loyalitäten verpflichten dazu, die eigene Familie in gutem Licht zu erhalten. Es ist gewiss nicht leicht, sich eigene, liebende und geliebte Vorfahren als TäterInnen in einem menschenverachtenden Regime vorzustellen. Hätten sich tatsächlich nur so wenige Menschen, wie in der Studie zuvor erwähnt, vom Nationalsozialismus begeistern lassen und wären tatsächlich so viele Menschen auf der Seite der Opfer gestanden, wäre es wohl nie zur Machtübernahme dieses Regimes gekommen. Es ist ein Beispiel, das zeigt, dass zumeist dem eigenen Selbstbild entsprechend erinnert wird. Dies wiederum erschwert die Verständigung und Versöhnung ver- schiedener Erinnerungsgemeinschaften. Auf Kärnten übertragen führte es dazu, dass die Opfer des Nationalsozialismus in ihrem Geschichtsnarrativ, ihrer Emotio- nalität zur Zeitgeschichte im Nationalsozialismus über Generationen hinweg als auch in ihrem Gefühl, das erlittene Unrecht sei noch nicht wiedergutgemacht, eine Minderheit blieben. Der niederländische Psychoanalytiker Hans Keilson stellte in den 1970er-Jahren fest, dass nicht nur die offenbar traumatisierenden Ereignisse im Nationalsozialismus für die spätere psychische Entlastung oder sogar Heilung von Opfern hinderlich waren und sind, sondern auch erneute belastende, gege- benenfalls retraumatisierende Phasen nach dem Nationalsozialismus. Für Kärntner und Kärntnerinnen, die beispielsweise aufgrund ihrer slowenischen Muttersprache von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, wurden die psychischen Belastun- gen nach dem Zweiten Weltkrieg noch durch zumindest folgende Ereignisse ver- stärkt: „Ortstafelsturm“ 1972. Foto: H. G. Trenkwalder/IGKA. • 1946: eine Gedenkversammlung der zwangsdeportier- ten Kärntner SlowenInnen in Klagenfurt/Celovec wird polizeilich aufgelöst • 1958/59: die gemeinsame zweisprachige Erziehung im zweisprachigen Teil des Bundeslands Kärnten/Koroška wird aufgehoben • 1972: der deutschnationale „Ortstafelsturm“ • 1976: das Bundesgymnasium für Slowenen in Klagen- furt wird auf öffentlichen Demonstrationen als „großes Gift“ bezeichnet • 2006: der Kärntner Landeshauptmann droht mit einem erneuten Ortstafelsturm und wirbt mit dem Slogan „Kärnten wird einsprachig!“ auf Flugblättern und Plaka- ten um WählerInnenstimmen

93 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

Diese Ereignisse trugen gewiss nicht dazu bei, dass sich ehemals von den Nationalsozialisten verfolgte und de- portierte Menschen – sowie ihre Nach- kommen – psychisch erholen konnten. Viel eher mussten traumatisierende Sequenzen stets aufs Neue durchlebt werden und sie erinnerten stets an das vergangene Leid im Nationalsozialismus. Die traumatische Vergangenheit ist also in den familiären Gedächtnissen betrof- fener Kärntner Familien nicht nur „ge- wählt“ (im Sinne Volkans, siehe oben) und zeitlich weit entfernt, sondern auch „real“. Von Bedeutung ist aber, dass es die Generation der heutigen jugend- lichen Nachkommen dieser Familien schafft, aus den traumatischen Belas- tungen der Vergangenheit ihrer Vorfah- ren Ressourcen zu schöpfen.

3. Ableitungen. Ein Resümee Jüngste Analysen haben gezeigt, dass Jugendliche gegenwärtig eine recht un- terschiedliche Umgangsweise mit dem Thema Nationalsozialismus und der Er- innerung daran pflegen, je nachdem, wie der Nationalsozialismus in ihren Familien und ihrem Umfeld thematisiert wurde Kampagne von oder noch wird. In Familien, in denen die Erzählungen stark aus der Opfersicht wie- Landeshauptmann Jörg Haider, 2006. dergegeben werden, kann die emotionale Beteiligung an der Vergangenheit auch Foto: Privatbesitz. in der jüngsten Generation nach wie vor sehr stark sein. In Familien hingegen, in denen über diese Zeit geschwiegen wurde bzw. wird, sind die Jugendlichen vom Nationalsozialismus emotional distanziert und spüren keine Anknüpfungspunkte zu diesem Thema – obwohl es diese wahrscheinlich bei den meisten Familien gibt. Solchen Jugendlichen kann es deutlich schwerer fallen, die gesellschaftliche Bedeutung dieses dunklen Kapitels der Vergangenheit zu erkennen, Lehren dar- aus zu ziehen oder die Ereignisse von damals in gegenwärtige Kontexte zu stel- len. Dabei ist es durchaus vorteilhaft, die dunkle Vergangenheit auch heute noch gesellschaftlich zu thematisieren. So wirkt etwa guter schulischer Unterricht über Nationalsozialismus demokratisierend und regt die SchülerInnen zum kritischen Denken an. Aktuelle, gesellschaftlich brisante Themen wie etwa Flucht, Asyl und Migration lassen sich sehr gut im Unterricht mit dem Thema des Nationalsozialis- mus verknüpfen.

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Es kann seit den 2000er-Jahren langsam, aber stetig eine Änderung im Kärntner Geschichtsdiskurs beobachtet wer- den: Mehr und mehr werden nun auch die Geschichten der „Anderen“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Familienver- gangenheit, der Historie des Wohnorts oder der Nachbarn, die eines Tages plötzlich verschwanden, ist kein Tabu mehr. Viel eher kann davon ausgegangen werden, dass diese Art der Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen kann, Jugendliche für Geschichte zu begeistern. Als ein Resultat eines mehrjährigen Forschungsprojekts an der Universität Klagenfurt können wir explizit empfehlen, Schul- projekte in diese Richtung zu unterstützen und durchzufüh- ren. Jahrzehntealte ideologische Positionen werden gegen- wärtig verlassen. So wurde in den letzten zwanzig Jahren eine Reihe neuer Erinnerungsinitiativen für ein anderes Ge- denken gegründet. Genannt seien hier beispielsweise der Verein Erinnern Gailtal, der Verein Erinnern Rosegg – Rožek se spominja, der Verein Erinnern Villach, Kuland Verein für Kultur & Informationsvielfalt, der Verein Memorial Kärnten- Koroška und nicht zuletzt der Verein Mauthausen Komitee

Erinnerungsarbeit mit Kärnten/Koroška. Diese Initiativen setzen sich – vermehrt Jugendlichen, Klagenfurt/Celovec. von der Öffentlichkeit wahrgenommen und auch immer wieder mit diversen Prei- Foto: Stefan Reichmann/Cover sen und Ehrungen ausgezeichnet – für die Sichtbarkeit von bisher unbekannte- „Erinnerungsgemeinschaften in Kärnten/Koroška“ ren Narrativen und „Erinnerungssubkulturen“ der Kärntner Geschichte ein. Junge Menschen tun sich oft schwer damit, ältere, eindeutige Positionen, bezogen auf vergangene Ereignisse, zu verstehen. Dies bietet die Möglichkeit für neue, inklu- sivere und grenzüberschreitende Sichtweisen auf die Vergangenheit. Zum 100. Jubiläum der Kärntner Volksabstimmung bzw. zum 75. Jahrestag der Vernichtung des nationalsozialistischen Regimes bleibt zu hoffen, dass diese einen umso höhe- ren Platz in der „Hierarchie der Erinnerung“ in Kärnten/Koroška einnehmen.

Literaturhinweise:

Nadja Danglmaier – Andreas Hudelist – Samo Wakounig – Daniel Wutti (Hg.), Erinnerungsgemeinschaften in Kärnten. Eine empirische Studie über gegenwärtige Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus in Schule und Gesellschaft. Klagenfurt/Celovec 2017.

Peter Gstettner, Erinnern an das Vergessen, Gedächtnispolitik und Bildungspolitik. Klagenfurt/Celovec 2013.

Hajnalka Nagy – Werner Wintersteiner (Hg.), Erinnern – Erzählen – Europa. Das Gedächtnis der Literatur. Innsbruck – Wien – München – Bozen 2012.

Klaus Ottomeyer, Jörg Haider – Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt/Celovec 2009.

Daniel Wutti, Drei Familien, drei Generationen. Das Trauma des Nationalsozialismus im Leben dreier Generationen von Kärntner SlowenInnen. Klagenfurt/Celovec 2013.

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Diskussionen und Historiographie zum 10. Oktober 1920 – ein Konfliktfeld mit Emotionen ohne Grenzen?

Ulfried Burz

Einleitung Der „Kärntner Abwehrkampf“ und die Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 haben in der öffentlichen Erinnerungskultur Kärntens einen überaus hohen Stel- lenwert. Es sind Themen, die der regionalen und lokalen Politik seit jeher als Instrumentarium dienten, um im Rahmen der nationalen Frage Interessen zu kanalisieren und Stimmenkapital für die jeweilige Partei zu maximieren. Mythen wurden beharrlich kultiviert und immer wieder Halb- und Teilwahrheiten zum his- torischen Geschehen artikuliert, die, um einen aktuellen modernen Begriff zu ver- wenden, schlichtweg als Fake-News bezeichnet werden können. Das Ringen um die Landesgrenze Kärntens verlief bereits nach 1848 auf einem Fürsten- und Untertanenweg der besonderen Art. Spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts taten sich Baustellen auf, die vor und nach dem Plebiszit von 1920 eine fast immerwährende mentale Hypothek für das Land zeitigten. Dafür sind sowohl die Konfrontationskultur im öffentlichen Raum als auch – mit Einschränkungen – die Geisteswissenschaft, die sich mit diesem weitreichenden Forschungsterrain beschäftigt hat, verantwortlich zu machen. Dabei blieb auch in- nerhalb der Historikerzunft ein Grundsatz geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, nämlich Ereignisse sine ira et studio darzustellen, lange Zeit nicht selten graue Theorie. Erst in der jüngeren Vergangenheit scheint sich der heiße Fluss der „his- torischen Lava“ (Ernst Hanisch, 1994) etwas abgekühlt zu haben.

Denkschulen Im Wesentlichen waren es drei Konfliktthemen, die im Zentrum der Kontroversen standen und zur Bildung von drei „Denkschulen“ führten. Grob vereinfacht sind sie in vier Städten zu lokalisieren: die Klagenfurter Schule, mitunter – mutmaßlich

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unreflektiert – als Kärntner Wissenschaft bezeich- net, die Wiener/Salzburger Schule und die Schule in Ljubljana/Laibach. (Die Reihenfolge ist nicht im Sinne einer Rangwertigkeit oder einer Qualifikati- onsordnung zu verstehen.)

Zur Klagenfurter Schule: Diese rekrutiert(e) sich vorwiegend aus Histori- kerInnen, die dem engeren und weiteren Umfeld des Kärntner Landesarchivs zuzuordnen sind. 1970 brachte der langjährige Direktor dieser Instituti- on, die sich als Gedächtnis des Landes versteht, (Deutsch-)Österreichische Wilhelm Neumann, eine Kernaussage der Klagenfurter Schule zu Papier: „Es bleibt Maschinengewehrstellung im somit bei den Tatsachen: ohne Abwehrkampf keine Volksabstimmung und kein Raum Völkermarkt, Frühjahr 1919. Foto: KLA. ungeteiltes Kärnten!“ Während die Behauptung „kein ungeteiltes Kärnten“ durch das Faktum, dass Kärnten nach 1918 das Kanal- und das Mießtal mit Unter- drauburg sowie die Gemeinde Seeland an Italien respektive Jugoslawien abtreten musste, schnell widerlegbar ist, lässt sich die These, wonach die militärischen Aus- einandersetzungen das Plebiszit herbeiführten, aufgrund der derzeit vorliegenden Fakten- und Quellenlage weder eindeutig verifizieren noch falsifizieren. Leichter nachvollziehbarer ist, dass die Ereignisse vor dem 10. Oktober 1920 das spätere Abstimmungsverhalten der Zeitgenossen mit beeinflusst haben. Neumann und „seinen SchülerInnen“ dienten als Orientierungsmaßstab vor allem einschlägige Publikationen von Martin Wutte. Der tief in Kärnten sozialisierte, an der Universität Graz ausgebildete Mittelschullehrer für Geographie und Geschichte (mit Einschränkungen für Deutsch) war ab 1923 Direktor des Kärntner Landes- archivs. 1922 erschien sein wohl bekanntestes Werk „Kärntens Freiheitskampf“. Rund zwei Jahrzehnte später veröffentlichte Wutte unter demselben Titel das Jugoslawische Brückenwache auf vorwiegend um Militaria erweiterte opus eximium. 1985 kam es zu einem ver- der Ostseite der Reinegger-Brücke, besserten Neudruck der zweiten umgearbeiteten und vermehrten Auflage von Herbst 1919. Foto: KLA. 1943. Diese Version, verkürzt um „wenige[n] Passagen mit zeitbedingter Phra- seologie“ und mit minimalen Eingriffen, habe die Zeitgeschichtsforschung in Österreich – so Wilhelm Neumann in der Einleitung zur Neuauflage – er- öffnet. Ob die zuletzt gemachte Aussage zutrifft, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Nachweisbar ist, dass Wuttes Ausführungen zur Geschichte des 10. Oktober 1920 die Klagenfurter Schule erheblich geprägt haben. Das mag auch da- her rühren, dass Wutte (1876–1948) in wichtige Entscheidungsprozesse der Politik eingebunden, und damit ein nicht unwesentlicher Mitgestalter der Zeitumstände gewesen ist. Er war im Rahmen

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der Waffenstillstandsverhandlungen im Jänner 1919 in der steiermärkischen Lan- deshauptstadt bei den Gesprächen mit den u. a. dort anwesenden US-amerika- nischen Offizieren persönlich präsent. Zum anderen fungierte er von Anfang an als Sachverständiger in der deutschösterreichischen Delegation für die Friedensver- handlungen in St. Germain. Wutte ist damit einerseits ein authentischer Begleiter auf dem Weg zur Kärntner Volksabstimmung. Andererseits muss beachtet wer- den, dass auch er kein politisch-weltanschauliches Neutrum war. Die politische Grundhaltung des richtungsweisenden Landeshistorikers war seit jeher von einer deutschfreiheitlichen, deutschnationalen Leitkultur bestimmt. Das wiegt aber in einem gemischtsprachigen Land wie Kärnten mit einem ausgedehnten national- politischen Konfliktfeld doppelt. Nicht zuletzt deshalb erfordern seine zahlreichen Veröffentlichungen zur nationalen Frage in Kärnten einen geschärften quellenkri- tischen Blick. Flugaufnahme der gesprengten Brücke bei Tainach, Juni 1919. Zur Wiener/Salzburger Schule: Foto: KLA. Die Interpretationen von Wutte in „Kärntens Freiheitskampf“ und dessen politische Position wurden 1969 anlässlich einer Tagung im Bil- dungshaus Tainach/Tinje von Historikern, die in Wien, später zum Teil in Salzburg wirkten, in Frage gestellt und dazu drei Thesen formuliert. 1. Die militärischen Kämpfe in den Jahren 1918– 1919 waren für die Zuerkennung der Volks- abstimmung bedeutungslos, nicht zuletzt deshalb, weil die militärischen Anfangserfolge letztendlich in einer Niederlage der Deutsch- kärntner Truppen, die von Freiwilligen aus Tirol, der Steiermark, Wien und Deutschland unter- stützt worden waren, mündeten. Militärische Einheiten des neuen Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (=SHS-Staat) hielten die Landeshauptstadt Klagenfurt mehr als ein Monat besetzt (6. Juni – 31. Juli 1919), große Teile Unterkärntens mehr als ein Jahr (bis zum 13. September 1920). 2. Die Ereignisse in Kärnten müssen vor dem Hin- tergrund multilateraler Interessen der Sieger- mächte betrachtet werden. Das Fazit der Wie- ner/Salzburger Schule war, dass geopolitische Überlegungen für die Entscheidungen der Großmächte verantwortlich zu machen sind, unter anderem die gegensätzlichen Interessen von Italien und dem neuen SHS-Staat, vor al-

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lem in der Frage der Zukunft des Hochseehafens Triest. Zudem zielten Frankreich, Italien und England darauf ab, Deutschland und dessen ehemalige Bündnispartner als machtpolitische Faktoren im künftigen Europa nachhaltig zu schmälern. Die USA waren in erster Linie daran interessiert, neue Absatzmärkte in Europa aufzu- bauen und parallel dazu den drohenden Kommunismus international einzudäm- men. 3. Politisch und militärisch führende Akteure im damaligen Kärnten sahen im posi- tiven Ausgang der Volksabstimmung keinen Beitrag zur Konsolidierung der jun- gen (Hunger-)Republik Österreich, sondern einen Sieg des erträumten größeren Deutschland, ein Wunschdenken, von dem noch bis 1938 und vereinzelt darüber

Sherman Miles (1882–1966), hinaus viele Zeitgenossen beseelt waren. Leiter der „Miles-Mission“ in Kärnten (Jänner–Februar 1919), Vor allem die zuletzt angeführte These hat die Diskussionen im öffentlichen Raum undatierte Fotografie (vermutlich 1917). Kärntens und auch innerhalb der Historiographie zur und über die Volksabstim- Foto: KLA. mung bis in die jüngere Vergangenheit ständig begleitet. Im Zuge der näheren Erforschung der Geschichte des inneren und äußeren Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 und der Aktivitäten von ÖsterreicherInnen im na- tionalsozialistischen Regime, konnte die Behauptung, dass darunter nicht wenige einst führende Abwehr- kämpfer waren, in den letzten zwei Jahrzehnten teilwei- se verifiziert werden, wobei manche Erkenntnisse von überzogenen, einseitigen moralischen Bewertungen überfrachtet wurden.

1970 veröffentlichte Claudia Kromer (heute Fräss- Ehrfeld) ihre Dissertationsschrift zur Haltung der Verei- nigten Staaten von Amerika. Die Publikation, nicht nur auf umfangreichem Quellenmaterial US-amerikanischer Provenienz ruhend, lässt sich in einer Hauptthese sub- sumieren: Der Coolidge-Miles-Mission kommt bei der Zuerkennung der Kärntner Volksabstimmung eine ent- scheidende Rolle zu.

Im Jahr 2000 wurde zu Ehren Sherman Miles, des US-Präsidenten Woodrow Wilson und Archibald Cary Coolidge, dem ehemaligen Leiter der US-Mission mit Sitz in Wien, ein Denkmal errichtet und in Klagenfurt vor dem Hauptsitz der Kärntner Landesregierung aufgestellt, die Hauptargumentationslinie der Klagenfurter Schule und damit gleichsam in Stein gemeißelt. Dabei gerieten drei, schon von Kromer herausgearbeitete Fakten in den Hintergrund, die in Erinnerung zu rufen sind.

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1. Die Berichte der vierköpfigen US-Fieldmission an die US-Delegation in Paris bo- ten bei den Verhandlungen zweifellos eine nicht zu unterschätzende wertvolle Entscheidungsgrundlage. Sie waren aber nicht immer einstimmig verabschiedet worden! 2. Hätten sich die von einer Majorität getragenen Ansichten der Coolidge-Miles- Mission in Paris auf dem grünen Tisch der Sieger-Diplomatie durchgesetzt, wäre das später festgelegte Abstimmungsgebiet ohne Plebiszit sofort bei Kärnten und Österreich verblieben. 3. Ein dritter Punkt betrifft die zeitliche Perspektive. Die besondere Rolle der vier- köpfigen US-Fact-finding-Mission (kurz Miles-Mission), die je von einem Vertreter Kärntens und Sloweniens und entsprechendem Funktionspersonal begleitet wur- de und die die Kärntner Grenzregion vom 27. Jänner bis zum 6. Februar 1919 be- reiste, hat schon Wutte hervorgehoben. Die dabei rekonstruierte Chronologie der Ereignisgeschichte ist allerdings oberflächlich. Wutte 1943/(1985): „Die Jänner- kämpfe gaben auch den Anlaß, daß eine amerikanische Kommission nach Kärnten kam, ein Erfolg, den man erst später voll zu schätzen lernte.“

Die USA hatten bereits im Herbst 1917 (!) begonnen, eine Forschungsstelle („In- Werbeplakat für die quiry“) einzurichten, die ein Friedensprogramm für das Nachkriegs-Europa er- Volksabstimmung 1920. arbeiten sollte; sie setzte sich aus Fachleuten der Foto: KLA. Wissenschaftsdisziplinen Geographie, Geschichte, Politik, Wirtschaft usw., in jedem Fall Kennern der europäischen Verhältnisse zusammen. Und Coolidge, Leiter der US-Studienkommission in Wien und di- rekter Vorgesetzter von Sherman Miles, hatte bereits am 26. Dezember 1918 (!) – also knapp mehr als eine Woche vor den Jännerkämpfen in Kärnten – von Washington den Auftrag erhalten “to observe political conditions in Austria-Hungary and neighbor- hood countries.“

Zur Schule in Ljubljana/Laibach: Die erste umfangreiche Abhandlung zur Geschichte der Volksabstimmung in Kärnten, aus der Sichtwei- se der slowenischen Historiographie, wurde 1965 von Metod Mikuž veröffentlicht. Die Darstellung von Mikuž baute, nach Ansicht eines Zunftkollegen aus Ljubljana/Laibach, „noch auf einer identifizierenden Begriffswelt auf“, weil darin die jugoslawische Armee, „die Ende Mai und Anfang Juni 1919 die (deutsch) österreichischen Truppen in Kärnten vernichtend ge- schlagen hatte, ausdrücklich als Bestandteil „unserer Armee“ gewürdigt wurde. Mikuž scheute aber nicht

100 Kap. 3_3

davor zurück, die von den Regierungen in Laibach und Belgrad geduldeten Inter- nierungen und Geiselnahmen in Kärnten anzusprechen. Gleichzeitig, quasi relati- vierend, führte er ähnliche Repressalien von Deutschkärntner Seite ins Treffen. Das Standardwerk zur Kärntner Volksabstimmung, von „der Sonnenseite der Al- pen“ aus betrachtet, verdankt seine Entstehung dem Autorenkollektiv Janko Ple- terski, Lojze Ude und Tone Zorn, die allerdings nicht nur als Herausgeber Verant- wortung übernahmen, sondern profunde Beiträge zur Geschichte jenes Kärntner Raumes, in dem seit Jahrhunderten die slowenische Volksgruppe siedelte, liefer- ten. Die Veröffentlichung dieses Sammelbandes war von einer Ursachenforschung motiviert, warum es zum – für die Mehrheit der Slowenen – überraschenden Ausgang der Volksabstimmung gekommen ist. 1938 stellte Bogo Grafenauer im öffentlichen Raum das Plebiszit von 1920 in Fra- ge. Es habe durch den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich seine Gültig- keit verloren, stand doch 1920 ein Bekenntnis zum SHS-Staat oder zur Republik Österreich zur Option und nicht ein Anschluss an Deutschland. Diese Ansicht wur- de nach 1945 im Zuge der territorialen Forderungen des nun kommunistischen Jugoslawiens gegenüber der Zweiten Republik Österreich von Belgrad offiziell bis 1947 und darüber hinaus vorwiegend von slowenischen Medien immer wieder vertreten. Das hat nicht zur Beruhigung verunsicherter Gemüter in Kärnten bei- getragen, sondern die historisch-politischen Diskussionen, vor allem die apostro- phierte Urangstthese negativ befeuert und u. a. eine zufriedenstellende Klärung der Ortstafelfrage – für alle Beteiligten – erschwert. HistorikerInnen, die der slowenischen Volksgruppe in Kärnten angehören, haben ebenso Motivationsanalysen angestellt und versucht, die unterschiedlichen Ur- sachen für das Abstimmungsverhalten der slowenischen Ethnie, die ausschlag- gebend für den Abstimmungserfolg zugunsten Österreichs und Kärntens waren, zu ergründen. Es ist ein breites Band an Argumenten: die Angst des vorwiegend bäuerlichen slowenischen Agrarmilieus, Absatzmärkte in den größeren Orten Un- terkärntens zu verlieren, die jahrhundertelange Verbundenheit über Generationen hinweg mit dem Lebensraum Kärnten, und die negativen Erfahrungen mit der jugoslawischen Besetzungspolitik. Hinzu gesellten sich Sorgen, die von religiösen Überlegungen gespeist wurden - der von Orthodoxie und teilweise muslimischer Bevölkerung getragene SHS-Staat usw. Vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren haben die Zunftkollegen aus der slowenischen Volksgruppe Kärntens, allerdings auch nicht wenige Deutschkärnt- ner Historiographen, mitunter ein emotionsgeladenes, politisches Engagement an den Tag gelegt, wenn Fragen der Assimilation der slowenischen Ethnie in Kärnten erörtert wurden.

Zusammenfassung und Fragen zum Thema – in einer offenen Gesellschaft? In einer jüngst erschienenen Publikation hat Claudia Fräss-Ehrfeld wichtige Ergeb- nisse der Historiographie zu „Abwehrkampf“ und Volksabstimmung konzise zu- sammengefasst und dabei manchen, lange Zeit kolportierten Meinungen der Lan-

101 Themenschwerpunkt Identität, Erinnerungskultur

despolitik widersprochen. Zum einen, dass jene Politiker, die 1918 bis 1920 die Geschicke Kärntens mitbestimmten, keineswegs unbeirrt an der Landeseinheit festgehalten haben, sondern das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also auch jenes der Kärntner Slowenen im Auge hatten. Zum anderen, dass die politisch Verantwortlichen in der Staatsmetropole Wien die Anliegen Kärntens im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt und nicht, wie immer wieder bei politischen Fest- tagsreden in Kärnten behauptet wurde, das Land im Stich gelassen haben. Die Autorin hält aber nach wie vor an der These fest, dass die Coolidge-Miles-Mission Entscheidendes für die Anerkennung der Kärntner Volksabstimmung geleistet hat. Der Schlüssel zur endgültigen Klärung dieser Frage scheint in Italien zu liegen. Rom hat noch wenige Tage vor dem 10. Oktober 1920 versucht, das Plebiszit zu verhindern, weil es einen Sieg der jugoslawischen Seite fürchtete. Ungeachtet dessen ist es ein Faktum, dass die Geschichte der Kärntner Volksabstimmung, trotz oder gerade wegen der Fülle an Veröffentlichungen, noch keineswegs vollständig erforscht wurde. Themen auf der Basis einer systematischen wissenschaftlichen Erforschung wären beispielsweise die Frage der Finanzierung der Propagandatä- tigkeiten vor dem 10. Oktober 1920 – eine über weite Strecken Terra incognita. Informationsblatt zur Was zudem fehlt, ist eine allumfassende Prosopographie-Forschung, vereinfacht Volksabstimmung von 1920. formuliert, eine Rekonstruktion des Netzwerkes führender Akteure in Kärnten rund Foto: KLA.

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um das Jahr 1920, deren Tätigkeiten bis 1945 und darüber hinaus. Dabei wäre ein tiefergehender Blick auf Oberschlesien zu richten. Dessen Plebiszit-Geschichte drängt sich als Vergleich zu jener von Kärnten geradezu auf. In der Provinz des einstigen Ostdeutschlands waren deutsche Freikorpseinheiten – wieweit unter Beteiligung von Kärntner „Abwehrkämpfern“ wäre noch auszuleuchten – gegen- über polnischen Insurgenten militärisch erfolgreich geblieben, ein Fait accompli, wie es der SHS-Staat versucht hatte, anderer Art! Die Abstimmung in Oberschle- sien am 20. März 1921 ergab, prozentuell betrachtet, ein fast identisches Ergebnis wie jenes in Kärnten (59,04 Prozent für Österreich, 40,96 Prozent, zugunsten des Königreiches Jugoslawien), in Oberschlesien: 59,6 Prozent für Deutschland, 40,4 Prozent für Polen. Dennoch musste Oberschlesien Gebiete an Polen – ein Sieg der Diplomatie! – abtreten. Abschließend scheint es vor dem kommenden 100-jährigen Jubiläum zur Erin- nerung an die Volksabstimmung angebracht, einen Mythos abzustreifen, nämlich jenen, dass die zeitgenössische Kärntner Gesellschaft 1918–1919 gleichsam ge- schlossen den „ Kärntner Abwehrkampf“ geführt hat. Es war Martin Wutte, der darauf hingewiesen hat, dass die Bezirke Kärntens unterschiedliches Engagement zugunsten der jahrhundertelang bestehenden Landeseinheit bewiesen haben. Wahrscheinlich gilt aber nach wie vor: Der Sieg kennt bekanntlich viele Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind.

Literaturhinweise:

Ulfried Burz, Martin Wutte (1876–1948). Ein Kärntner Historiker und die Iānusköpfigkeit in der nationalen Frage, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Bd. 2. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 201–261.

Stefan Karner (Hg.), Die umkämpfte Republik. Österreich von 1918–1938. Innsbruck – Wien – Bozen 2017.

Wilhelm Neumann, Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918–1920. Legenden und Tatsachen. Das Kärntner Landesarchiv 2, Klagenfurt, zweite, erweiterte Auflage 1985 (eine erste Veröffentlichung unter diesem Titel erfolgte 1970).

Kärntner Landesarchiv (Hg.) unter Mitarbeit von Alfred Ogris, Wilhelm Deuer, Wilhelm Wadl, Barbara Felsner, Evelyne Webernig, Der 10. Oktober 1920. Kärntens Tag der Selbstbestimmung. Vorgeschichte – Ereignisse – Analysen. Klagenfurt 1990.

Tamara Griesser-Pečar, Die Stellung der Slowenischen Landesregierung zum Land Kärnten 1918–1920. Studia Carinthiaca, Bd. XXX. Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2010.

Janko Pleterski – Lojze Ude – Tone Zorn (Iz.), Koroški plebiscit. Razprave in članki. Ljubljana 1970.

Helmut Rumpler (Hg.), Kärntens Volksabstimmung 1920. Wissenschaftliche Kontroversen und historisch-politische Diskussionen anläßlich des internationalen Symposions Klagenfurt 1980. Klagenfurt 1981.

Hellwig Valentin – Susanne Haiden – Barbara Maier (Hg.), Die Kärntner Volksabstimmung 1920 und die Geschichtsforschung. Leistungen, Defizite, Perspektiven. Klagenfurt 2001.

Martin Wutte, Kärntens Freiheitskampf 1918–1920. Archiv für Vaterländische Geschichte und Topographie 69, verbesserter Neudruck der zweiten umgearbeiteten und vermehrten Auflage von 1943. Klagenfurt 1985.

103 _1 Infrastruktur (wirtschaftliche) Entwicklung Raum _2 Kapitel 3 Vernetzung Nachbarn Dialog _3 Identität Erinnerungskultur _4 Demokratie- entwicklung _5 Migration Kap. 3_4

Die politische Entwicklung Kärntens seit 1920: Kontinuitäten, Brüche, Sonderfälle

Hellwig Valentin

ie politische Entwicklung Kärntens in neuerer Zeit wurde stark durch die wirt- schaftliche und soziale Lage des Landes beeinflusst. Nach dem weitgehenden DNiedergang des Bergbaus Ende des 19. Jahrhunderts, der jahrhundertelang das wirtschaftliche Rückgrat Kärntens gewesen war, entstanden kaum neue In- dustrien. Die früheren Bergknappen strömten zurück in die Dörfer und mussten als Knechte und Mägde das Auslangen finden. Vermehrt wurde das ländliche Proletariat zudem durch ein bäuerliches Erbrecht, das die Hofübergabe an den ältesten Sohn vorsah. Kärnten galt daher lange Zeit als Land der Knechte und Mägde. Es überwog das Kleinbauerntum, Großbauern, die ganze Tallandschaften beherrschten, gab es kaum. Man sprach vom Bauernland ohne Bauern. Handel und Gewerbe waren wenig entwickelt. Die meisten Menschen lebten irgendwie von der Land- und Forstwirtschaft. Bis in die 1930er-Jahre gab es in Kärnten nur drei Gymnasien, die eine höhere Bildung anboten. Durchgängiges Thema der Politik war die Volksgruppenfrage. Vor allem die Zuspitzungen in diesem Bereich hatten zur Folge, dass Kärnten als Sonderfall der österreichischen Zeitgeschichte gilt. Die Slowenen strebten nach wirtschaftlicher, sozialer und politischer Eman- zipation, die Deutschkärntner waren auf die Wahrung ihrer führenden Positionen in der Gesellschaft bedacht. Hier einen Ausgleich zu schaffen, war die besondere Herausforderung für die Kärntner Politik. Wie im übrigen Österreich bildeten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Kärn- ten die politischen Lager heraus: die Sozialdemokraten, die Deutschnationalen, die Christlichsozialen und – als Kärntner Besonderheit – die Slowenischnationalen.

105 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

In der Zeit des Abwehrkampfes und der Volksabstimmung waren sich Sozialde- mokraten, Deutschnationale und Christlichsoziale – die sogenannten „deutschen Parteien“ – einig in der Abwehr der jugoslawischen Gebietsansprüche. Aus den ersten Landtagswahlen nach dem allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht im Jahre 1921 gingen die Sozialdemokraten als stärkste politische Kraft hervor, gefolgt von den auf mehrere Parteien verteilten Deutschnationalen. Mit deutli- chem Abstand folgten Christlichsoziale und Slowenischnationale. Mit Unterstüt- zung der Slowenen wurde der Sozialdemokrat Florian Gröger im Kärntner Landtag zum Landeshauptmann gewählt. Als eine Nachwirkung der Übereinstimmung in den Kärntner „Sturmjahren“ akzeptierten Deutschnationale und Christlichsoziale diese Entscheidung. Gröger löste Arthur Lemisch ab, der seit 1918 als Kärntner Landesverweser fungiert hatte. Die Gemeinsamkeit der „deutschen“ Parteien ging jedoch bald verloren. Beson- ders der Landtagswahlkampf 1923, in dem eine national-bürgerliche „Einheitslis- Wahlplakat der te“ gegen die Sozialdemokraten antrat, belastete das politische Klima nachhaltig. national-bürgerlichen Einheitsliste aus dem Nach der Wahl, die mit einem Sieg der vereinigten Deutschnationalen und Christ- Landtagswahlkampf 1923. lichsozialen endete, mussten die Sozialdemokraten das Amt des Landeshaupt- Foto: KLA. mannes abgeben. Auf Florian Gröger folgten bis 1934 die Deutschnationalen Vinzenz Schu- my, Arthur Lemisch und Ferdinand Kernmaier. Als Gegengewicht zu den Heimwehren, dem bewaffneten Arm des national-bürgerlichen Lagers, rüsteten die Sozialdemokraten den Republikanischen Schutzbund auf. Immer wie- der kam es zu blutigen Zusammenstößen. Die Sozialdemokraten rückten in der Folge an die Seite der Kärntner Slowenen, die kontinuierlich mit zwei Abgeordneten im Kärntner Landtag vertreten waren. Dadurch sollte das Überge- wicht der bürgerlich-nationalen Parteien gebro- chen werden. Auf Initiative der Sozialdemokra- ten wurde den Slowenen im Jahre 1925 eine Kulturautonomie angeboten, die vor allem das zweisprachige Schulwesen umfassen sollte. Die jahrelangen Verhandlungen im Landtag blieben jedoch ohne positives Ergebnis. Eine von vielen Kärntner Besonderheiten ist die – gegenüber anderen Bundesländern – au- ßergewöhnliche Kräfteverteilung zwischen den politischen Lagern. Die Sozialdemokraten wa- ren in den 1920er-Jahren in Kärnten die mit Abstand größte Partei. Den Erfolg verdankten sie in dem industriearmen Land dem zahlrei-

106 Kap. 3_4

chen ländlichen Proletariat. Die deutsch- nationalen Parteien – Großdeutsche und Landbündler sowie kleinere Gruppierungen – stellten zusammen das zweitstärkste La- ger. Die Deutschnationalen profitierten vom Grenzlandkonflikt und – wie auch die Sozi- aldemokraten – von der Distanz gegenüber Religion und Kirche. Die Wurzeln dieses in Kärnten weit verbreiteten Antiklerikalismus reichen bis in die Zeit der Gegenreforma- tion zurück. Die katholisch-konservativen Parteien blieben hingegen schwach, zumal ein kräftiges Bauerntum als politische Basis Werbung für eine weitgehend fehlte. Die Deutschnationalen wurden im Laufe der Zeit immer mehr Kundgebung der Kärntner Nationalsozialisten für den von den Nationalsozialisten aufgesogen. Gesamtösterreichisch gesehen gab es Anschluss Österreichs an Anfang der 1930er-Jahre in Kärnten etwa doppelt so viele NS-Mitglieder, als dies Deutschland, vermutlich dem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Bei den Landtagswahlen 1930 erziel- Anfang der 1920er-Jahre. ten die Nationalsozialisten in Kärnten die einzigen Landtagsmandate, über die sie Foto: KLA. damals in Österreich verfügten. Die Kärntner SA wuchs bis 1933 auf rund 2600 Mitglieder an, eine Kärntner SS-Standarte brachte es auf 240 Mann. Angefeuert wurde der Zulauf zu den Nationalsozialisten durch die herrschende Wirtschafts- krise und die sich ausbreitende Arbeitslosigkeit. Im Winter 1931/1932 registrierte

Titelseite des „Arbeiterwille“, man in Kärnten mit 19.000 Arbeitslosen eine Rekordzahl, in den darauffolgenden des Tagblattes der Jahren verschärfte sich die Situation. Kärnten galt als Bollwerk der Nationalsozialis- Sozialdemokraten in der ten in Österreich. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg konnte Mitte der 1930er-Jahre Steiermark und in Kärnten, sarkastisch feststellen: „Einen Stacheldraht um Kärnten und das Konzentrationsla- am 12. Februar 1934. Foto: KLA. ger ist fertig.“ Nach einer Abstimmungspanne im Nationalrat, die zur Lähmung des Parlamentspräsidiums führte, verhinderte die Bundesregierung im April 1933 mit Gewalt den neuerlichen Zusammentritt der Volksvertretung. Der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nützte die Situati- on als ersten Schritt zur Errichtung eines autoritären Ständestaates nach dem Vorbild des Mussolini-Regimes in Italien. Nach einer Reihe von Re- pressalien der Regierung gegen sozialdemokratische Organisationen und Einrichtungen kam es am 12. Februar 1934 zu einem Aufstand des zu dieser Zeit bereits verbotenen Republikanischen Schutzbundes. Die von Anfang an aussichtslose Rebellion wurde nach drei Tagen von Regie- rungskräften blutig niedergeschlagen. Die Vorgänge während des Auf- standes machten Kärnten erneut zum „Sonderfall“. Die Kärntner Sozial- demokraten beteiligten sich nicht an den bewaffneten Aktionen gegen die Regierungsmacht. Führende Vertreter der Partei distanzierten sich so- gar öffentlich vom Vorgehen ihrer kampfbereiten Genossen in Wien und anderen Bundesländern. Dennoch wurde in Kärnten wie im übrigen Bun-

107 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

desgebiet die Sozialdemokratische Partei verboten. Während es im Februar 1934 in Kärnten ruhig blieb, kam es im Zuge des NS-Putschversuchs Ende Juli 1934, bei dem in Wien Bundeskanzler Dollfuß ermordet wurde, zu heftigen Kämpfen zwischen Nationalsozialisten und Regierungstruppen. Erst nach Tagen konnten die Putschisten überwältigt werden. In Kärnten wurden die höchsten Opferzahlen in Österreich registriert. Im Frühjahr 1934 löste die Bundesregierung alle noch bestehenden Parteien auf. Sie wurden nominell in die Vaterländische Front, die Einheitspartei des Stände- staates, eingegliedert. Tatsächlich reichte der Einfluss der „Vaterländischen“ kaum über die frühere Christlichsoziale Partei hinaus. Jede Betätigung für die „alten“ Par- teien galt als Hochverrat und wurde streng bestraft. In Kärnten wurde eine Reihe von „illegalen“ Aktivisten vor Gericht gestellt und verurteilt, darunter die späteren Landeshauptmänner Ferdinand Wedenig und Hans Sima. Zahlreiche politische Gegner wurden in das „Anhaltelager“ in Wöllersdorf in Niederösterreich überstellt. An die Stelle der Parteiendemokratie trat ein autoritär-ständisches Regime. Nach der neuen Verfassung vom Mai 1934 hatten die österreichischen Landtage nur noch beratende Funktion. Die Abgeordneten wurden nicht gewählt, sondern be- standen aus ernannten Vertretern der Berufsstände. Der Landeshauptmann wur- de vom Bundespräsidenten aus einem Dreiervorschlag des Landtages bestimmt. Das autoritäre Regime sah sich zunehmend vom Deutschen Reich unter Druck gesetzt. Adolf Hitler, der Anfang 1933 an die Macht gekommen war, erklärte die Angliederung Österreichs zu einem seiner Ziele. Eine 1000-Mark-Sperre, die über deutsche Touristen, die in Österreich urlauben wollten, verhängt wurde, schadete im Besonderen dem Kärntner Fremdenverkehr. Der während des Zweiten Nachdem die österreichische Regierung gegenüber den Anmaßungen Hitlers und Weltkrieges schwer bombengeschädigte den immer offener auftretenden Nationalsozialisten im Lande resigniert hatte, voll- Villacher Hauptbahnhof. zog sich im März 1938 ohne größere Reibungen der „Anschluss“ Österreichs Foto: KLA. an das Deutsche Reich. Die Kärntner Nationalsozialisten konnten als ers- te die vollzogene Machtübernahme nach Wien melden. Die Verfolgungs- maschinerie erfasste rasch alle Perso- nen, die den NS-Vorstellungen in po- litischer, religiöser oder „rassischer“ Hinsicht entgegenstanden. Mehr als 3000 Opfer der NS-Verfolgung wur- den bislang in Kärnten namentlich festgestellt. Nach der Niederwerfung Jugoslawiens durch die Deutsche Wehrmacht im April 1941 wurden dem Reichsgau Kärnten das slowe- nische Oberkrain sowie das Mießtal angeschlossen. Kärntner NS-Größen

108 Kap. 3_4

waren an führender Stelle an der massenhaften Ermordung von Juden, Polen und vieler anderer Opfer in Osteuropa beteiligt. In einer wichtigen Schaltstelle des Holocaust in Lublin war der Kärntner Anteil vorherrschend. Nach der Besetzung Süditaliens durch alliierte Truppen geriet Kärnten in den Aktionsbereich britisch- amerikanischer Bomber. Der Luftkrieg begann in Kärnten mit dem Angriff auf Kla- genfurt im Jänner 1944, der 234 Todesopfer forderte. Die Überflüge der alliier- ten Geschwader, die große Zerstörungen in den größeren Städten verursachten, endeten erst Ende April 1945. Den Kriegsereignissen fielen mindestens 11.400 Kärntnerinnen und Kärntner zum Opfer, dazu kamen rund 5000 Vermisste. Zum besonderen Ziel der NS-Unterdrückungspolitik wurde in Kärnten die slowe- nische Volksgruppe. Der von SS-Führer Heinrich Himmler ausgegebenen Parole: „Macht dieses Land deutsch!“ ließen die Kärntner NS-Stellen bald Taten folgen. Zunächst war daran gedacht, sämtliche Kärntner Slowenen in die von der Deut- schen Wehrmacht eroberten Ostgebiete umzusiedeln. Die Höfe der als „volks- und staatsfeindlich“ gebrandmarkten Slowenen sollten an Kanaltaler Bauern über- geben werden. Im April 1942 wurden als erster Schritt rund 1000 Angehörige slowenischer Familien in Zwischenlager nach Deutschland gebracht. Dann ver- schoben die NS-Behörden die Fortsetzung der Aktion auf die Zeit nach dem Krieg, freilich nicht aus humanitären Gründen, sondern auf Grund kriegswirtschaftlicher Überlegungen. Die Aussiedlung der Kärntner Slowenen hatte ein Erstarken der Partisanenbewegung in Kärnten zur Folge, da viele Angehörige der Volksgrup- pe den „Weg in den Wald“, wie es hieß, einer drohenden Deportation vorzo- gen. Der Kärntner Partisanenkrieg in Verbindung mit dem gesamtjugoslawischen Widerstand gegen die NS-Herrschaft begann Mitte 1942 und forderte hunderte Todesopfer auf beiden Seiten. Der Kampf der Partisanen in Kärnten hatte unter- Jugoslawische Truppen im schiedliche militärische, politische und territoriale Zielsetzungen und ist deshalb Raum Faaker See, 8. Mai 1945. Foto: KLA. differenziert zu bewerten. Unbestritten ist, dass die Aktionen der Partisanen der einzige kontinuierliche, organisierte und bewaffnete Widerstand gegen das NS- Regime auf dem Gebiet des heutigen Österreich gewesen sind. Die NS-Hoch- burg Kärnten war somit zugleich Schau- platz des erbittertsten Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewalt- herrschaft. Nach dem Krieg konnte man von österreichischer Seite darauf hinwei- sen, dass das Land damit einen eigenen Beitrag zur Befreiung vom NS-Regime geleistet habe, wie dies die Alliierten in ihrer Moskauer Deklaration von 1943 als Voraussetzung für die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit verlangt hatten.

109 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Der Machtwechsel in Kärnten im Mai 1945 erfolgte in einer außerge- wöhnlichen Weise. Nach tagelangem Tauziehen übergab die NS-Führung unter dem Eindruck des sich ab- zeichnenden Kriegsendes die Ge- schicke des Landes in die Hände der Repräsentanten der alten und zu- gleich neuen demokratischen Partei- en. Als am 8. Mai die britischen Trup- pen in Klagenfurt eintrafen, wurden sie von ehemaligen Sozialdemokra- ten, Christlichsozialen und gemäßig- ten Deutschnationalen empfangen. Kärnten war das einzige Land auf

österreichischem Boden, in dem die Regierungsmacht noch vor Ankunft der Stephan Tauschitz (Mitte) alliierten Truppen formell an die ansässigen demokratischen Kräfte weitergereicht und Hans Herke von der worden war. Als wenige Stunden später die jugoslawischen Verbände in Klagen- provisorischen Landesregie- rung begrüßen die in Klagen- furt einrückten, sahen sich diese vor vollendete Tatsachen gestellt. Bis Ende Mai furt eintreffenden britischen 1945 mussten die Jugoslawen unter dem Druck der Briten das Land verlassen, Truppen, 8. Mai 1945. nicht ohne vorher zahlreiche Kärntnerinnen und Kärntner festzunehmen, von de- Foto: KLA. nen mehr als ein Drittel getötet wurde oder in der Haft umkam. Die Wahlen im November 1945 rekonstruierten im Wesentlichen die parteipoliti- schen Strukturen der Zwischenkriegszeit. Die Sozialdemokraten wurden wiede- rum die größte Partei in Kärnten und stellten bis 1989 den Landeshauptmann. Die Stärke der Sozialdemokraten war entgegen weitverbreiteter Ansichten nicht auf ehemalige NS-Angehörige zurückzuführen, zumal die früheren Nazis zunächst nicht wahlberechtigt waren. Später beteiligte sich die SPÖ wie die anderen Par- teien um die Sympathien der „Ehemaligen“. Die ÖVP war über viele Jahre auf Grund des Zusammenschlusses der ehemaligen Christlichsozialen mit den frühe- ren deutschnationalen Parteien relativ stark. Die Volkspartei durchzog jedoch eine „Sollbruchstelle“ zwischen dem christlichsozialen und dem deutschnationalen Par- teiflügel. Diese national gesinnten ÖVPler wandten sich später großteils der FPÖ unter Jörg Haider zu. Die Volkspartei wurde zugleich auf ihren christlichsozialen Kern reduziert und erreichte bei Wahlen nur mehr Vorkriegsstärke. Die Kommunis- ten erzielten bei den Herbstwahlen 1945 den höchsten Stimmenanteil unter den Bundesländern, zumal es ihnen gelang, viele jugoslawisch orientierte Slowenen anzusprechen. Nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito im Jahre 1948 versank die KPÖ in der Bedeutungslosigkeit. Der Verband der Unabhängigen VdU, der bei den Wahlen 1949 erstmals antrat, erzielte sogleich einen Achtungserfolg. Die Nachfolgepartei FPÖ bewegte sich zunächst auf einem niedrigeren Niveau, schnitt in Kärnten jedoch deutlich besser ab als im Bundesdurchschnitt. Kleinparteien hat- ten es in Kärnten traditionell schwer. Den slowenischen Listen gelang es bei den

110 Kap. 3_4

Landtagswahlen nicht, die für ein Mandat notwendige Stimmenanzahl zu erreichen. Der einzige KPÖ-Abgeordnete schied im Jahre 1970 aus dem Landtag aus. Auf Grund eines Wahlrechtes, das Kleinpar- teien benachteiligt, rückten in Kärnten die Grünen erst relativ spät in den Landtag und in die Landesregierung ein. Jahrzehn- telang herrschte in Kärnten nach 1945 eine „stille Koalition“ zwischen SPÖ und ÖVP. Die Volkspartei ermöglichte – wenn notwendig – im Landtag die Wahl eines SPÖ-Landeshauptmannes, im Gegenzug gab es Konzessionen, vor allem im Perso- nalbereich. Das „Dritte Lager“, dem bes-

Landeshauptmann Ferdinand tenfalls ein Regierungssitz zufiel, übte lange Zeit eine maßvolle Oppositionspolitik. Wedenig (rechts) mit seinem Nach Erringen der absoluten Mehrheit bei den Landtagswahlen 1970 profilierte Amtsvorgänger Hans Piesch in sich die SPÖ als „die Kärnten-Partei“ und marginalisierte den Einfluss der anderen den 1950er-Jahren. Foto: Privat/H. Valentin/Foto politischen Gruppierungen. Sepp Wallisch. Wie nach dem Ersten Weltkrieg stand in den ersten Jahren nach 1945 das Ringen um die Staatsgrenze im Vordergrund der Politik. Jugoslawien erhob erneut Ge- bietsansprüche auf Kärnten, die von einem Teil der nationalen Kärntner Slowenen zunächst unterstützt wurden. Erst der Gegensatz zwischen Tito und Stalin führte dazu, dass die Sowjetunion die territorialen Aspirationen Belgrads nicht mehr an- erkannte. Jugoslawien musste die Anschlussforderungen fallenlassen. Es verblieb der Artikel 7 des österreichischen Staatsvertrages von 1955, der die Rechte der slowenischen und kroatischen Volksgruppen regelt. Um die Verwirklichung der darin enthaltenen Bestimmungen wurde viele Jahre gerungen, was in Kärnten zu heftigen inneren Konflikten und Spannungen mit dem südlichen Nachbar- land führte. Den ersten Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen Ende der 1950er-Jahre, als die Landesbehörden unter dem Druck deutschorientierter Kräfte das großzügige Minderheitenschulgesetz vom Herbst 1945 durch die Ein- führung eines Anmeldeprinzips einengten. Ein Großteil der Eltern meldete darauf- hin die Kinder vom zweisprachigen Unterricht ab. Die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln im Sinne der staatsvertraglichen Bestimmungen führte im Herbst 1972 zum „Ortstafelkrieg“. Aktivisten aus der Mehrheitsbevölkerung entfernten dabei gewaltsam die zuvor aufgestellten deutsch-slowenischen Ortstafeln. Wochenlang herrschten in Kärnten ansatzweise geradezu bürgerkriegsähnliche Zustände. Die von Bruno Kreisky geführte Bundesregierung nahm darauf das Ortstafelgesetz zu- rück, das von der absoluten SPÖ-Mehrheit im Nationalrat gegen die Stimmen von ÖVP und FPÖ beschlossen worden war. Der Kärntner Landeshauptmann Hans Sima, der die Ortstafelregelung unterstützt hatte, geriet unter Druck und musste 1974 sein Amt aufgeben. Eine von Sima initiierte Verfassungsreform wurde ein

111 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Jahr nach seinem Rücktritt Wirklichkeit. Die neue Landesverfassung von 1975 enthielt Bestimmungen über die Durchführung von Volksabstimmungen, Volksbe- fragungen und Volksbegehren. Diese direkt-demokratischen Möglichkeiten wur- den seither jedoch nur selten genützt. Eine „besondere Sprachenzählung“ im Jahre 1976, die als Konzession an die deutschorientierten Kräfte gedacht war, wurde auf Grund des Boykotts durch die Slowenen ad absurdum geführt. So zählte man in Wien mehr Slowenischsprachige als in Kärnten. Ein 1976 beschlos- senes Volksgruppengesetz und die problemlose Aufstellung einer – wenngleich gegenüber 1972 weit geringeren – Anzahl zweisprachiger Ortstafeln hatte eine kurzzeitige Ent-

spannung zur Folge. Ein minderheitenfreundliches Erkenntnis des Verfassungsge- Prozess gegen Franz Rieser (links richtshofes ließ im Jahre 2001 die Ortstafelfrage erneut aufflammen. Der damalige mit Bart), den Attentäter auf den Landeshauptmann Haider machte mit spektakulären „Ortstafelversetzungen“ ge- damaligen Landeshauptmann Leopold Wagner (rechts), im gen neue Tafeln mobil und ließ auf Plakaten verbreiten, Kärnten werde „einspra- Klagenfurter Landesgericht, chig“. Im Jahre 2011 wurde nach intensiven Verhandlungen auf breiter politischer 1988. Foto: Gert Eggenberger. Basis eine – wie es scheint – dauerhafte Lösung dieses Kärntner „Langzeitprob- lems“ gefunden. Die Aufstellung der deutsch-slowenischen Ortstafeln ging pro- blemlos vor sich. Eine weitere Besonderheit brach- te die Kärntner Zeitgeschichte im Jahre 1987 hervor. Ein ehemaliger Mitschüler verübte wegen angebli- cher beruflicher Zurücksetzungen ein Revolverattentat auf Landeshaupt- mann Leopold Wagner, der durch die Schüsse schwer verletzt wurde. Die unterschiedlichen Reaktionen auf das Attentat und der Freispruch des Attentäters durch ein Geschwo- renengericht in Klagenfurt – bei ei- nem weiteren Prozess in Innsbruck

erfolgte eine Verurteilung – machten deutlich, dass in Kärnten ein politischer Stim- Landeshauptmann Jörg Haider mungswandel im Gange war. Die öffentlichen Diskussionen rund um das Attentat und Landesrat Gerhard Dörfler rückten Themen wie die Frage der Postenbesetzung im öffentlichen Dienst und bei der demonstrativen Ortstafelversetzung, die Art der Machtausübung durch die politische Elite in den Vordergrund. Dies 8. Februar 2006. sollte sich zu Lasten der SPÖ als der einflussreichsten politischen Kraft im Lande Foto: Gert Eggenberger.

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auswirken. Leopold Wagner, der sich darauf aus der Politik zurückzog, war je- doch nicht der erste – und auch nicht der letzte – Kärntner Landeshauptmann, der vorzeitig aus seinem Amte schied. In der Zeit der Ersten Republik mussten sämtliche Kärntner Regierungschefs aus unterschiedlichen Gründen vor Ablauf der Legislaturperiode abtreten. Der erste Kärntner Landeshauptmann nach 1945, Hans Piesch, legte auf Grund von Vorwürfen aus Jugoslawien im Jahre 1947 sein Amt zurück. Landeshauptmann Sima schied im Gefolge der gescheiterten Orts- tafellösung im Jahre 1974 aus der Politik. Eine positive Bewertung der Beschäf- tigungspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus brachte Landeshauptmann Jörg Haider 1991 nach nur zweijähriger Amtszeit um seine Position. Vorzeitig endete auch Haiders letzte Regierungsperiode im Jahre 2008 durch seinen Unfalltod. Sein Nachfolger Gerhard Dörfler musste auf Grund vorgezogener Neuwahlen ein Jahr früher als geplant den Landeshauptmannsessel räumen. Haider war nicht der einzige Kärntner Landeshauptmann, der in die Regierungs- politik zurückkehrte. In der Zeit der Ersten Republik übte Arthur Lemisch, der Kärntner Landesverweser von 1918 bis 1921, ab 1927 erneut für drei Jahre das Amt des Regierungschefs aus. Peter Ambrozy, der Kurzzeit-Landeshauptmann von 1988/1989, rückte nach mehrjähriger Pause wieder in die Landesregierung ein – jedoch nur als Landeshauptmannstellvertreter. Eine „Rückkehrerin“ aus neu- erer Zeit ist die stellvertretende Landeshauptfrau Gaby Schaunig. Offenbar fällt es Politikern in Kärnten besonders schwer, der Politik den Rücken zu kehren. Mög- licherweise ist aber das zu geringe Angebot an bereitwilligen und geeigneten Persönlichkeiten eine Erklärung für dieses Phänomen. Bei näherer Betrachtung der politischen Akteure in Kärnten fällt auf, dass – wie schon in der Zwischenkriegs- zeit – relativ viele führende Politiker dem Lehrerberuf entstammten. In gewisser Weise erfolgte ein Wechsel von der Bildungselite in die Politikerelite. Kärnten war das erste österreichische Bundesland, in dem 1989 mit Haider ein FPÖ-Landes- hauptmann ans Ruder kam. Sonderbarerweise stellte zwischen 1991 und 1999 die ÖVP als kleinste Landtagspartei mit Christof Zernatto den Landeshauptmann – unterstützt von den Sozialdemokraten. Als aus den Kärntner Landtagswahlen im Jahre 1999 die FPÖ als stärkste Partei hervorging, war dies ein österreichweites Novum. Eine weitere Kärntner Eigentümlichkeit war die im Jahre 2004 zwischen FPÖ und SPÖ vereinbarte politische Zusammenarbeit, die bereits nach zwei Jah- ren ein Ende fand. Während in vielen Ländern erst seit einigen Jahren so genannte populistische Par- teien auf dem Vormarsch sind, ergibt sich in Kärnten die Möglichkeit, anhand der FPÖ unter Jörg Haider das Auf und Ab einer frühen populistischen Bewegung über einen Zeitraum von etwa einem Vierteljahrhundert zu verfolgen. Haider, der Ende der 1970er-Jahre nach Kärnten gekommen war, präsentierte sich als Vertreter der „wahren Volksinteressen“, er neigte zu Vereinfachungen und Zuspitzungen und zeigte eine problematische Sicht auf die Geschichte. Der umtriebige Politiker pro- fitierte von den Erstarrungen der politischen Verhältnisse nach jahrzehntelanger SPÖ-Dominanz. Leopold Wagners stolzes Bekenntnis, ein „höhergradiger Hitler-

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junge“ gewesen zu sein, machte es vor allem den Sozialdemokraten schwer, Hai- Das ehemalige Verwaltungs- gebäude der Hypo Alpe-Adria- ders saloppem Umgang mit der NS-Vergangenheit entgegenzutreten. Die miss- Bank in Klagenfurt. glückte Sanierung des maroden Zellstoffwerkes in St. Magdalen in Villach, für das Foto: Gert Eggenberger. sich vor allem die SPÖ stark gemacht hatte, rüttelte an der wirtschaftspolitischen Kompetenz der lange Zeit führenden Partei. Die Bilanz des politischen Wirkens Haiders sieht jedoch ernüchternd aus. Den großen Ankündigungen folgten kaum nachhaltige Maßnahmen. Die Vorgänge rund um den Zusammenbruch der Hypo- Bank, für die in Haiders Amtszeit die Weichen gestellt wurden, werden noch viele Jahre das Landesbudget belasten. Mit der Installierung einer Koalition aus SPÖ, ÖVP und Grünen nach den Land- tagswahlen von 2013 wurden in einem knappen Vierteljahrhundert fast alle realistischen Formen der politischen Zusammenarbeit in Kärnten durchgespielt. Kärnten war zudem das einzige Bundesland, bei dem das Team Stronach (später Team Kärnten) den Einzug in das Regierungskollegium schaffte. Wie sich bald herausstellte, war damit die Zeit der Kärntner „Sonderfälle“ nicht vorbei. Durch die Auswirkungen von Altlasten aus früheren Regierungsperioden drohte Kärnten im Frühjahr 2015, als erstem Bundesland in Österreich, ein Pleite-Szenario, das nach einem heftigen auziehenT zwischen Klagenfurt und Wien im letzten Moment abgewendet werden konnte. Einmalig in Österreich ist zudem die Prozessflut, die in den letzten Jahren vor allem Politiker von FPÖ und ÖVP erfasst hat. Es erfolgten mehrere gerichtliche Verurteilungen wegen Korruption und anderer Delikte. Die Bilder von den angeklagten Politikern, darunter ein ehemaliger Landeshauptmann,

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trugen gewiss nicht zum Ansehen der politischen Elite des Landes bei. Hingegen wurde im Jahre 2017 durch eine zeitgemäße Reform der Landesverfassung der Proporz bei der Zusammensetzung der Landesregierung abgeschafft. In Kärnten fällt gegenüber anderen Bundesländern auf, dass es an einer aus- geprägten Konfliktkultur mangelt. Meinungsverschiedenheiten werden oft kaum aufgearbeitet und gerne zugedeckt oder in überzogener, emotioneller Weise dis- kutiert. Statt konstruktive Auseinandersetzungen zu führen, werden oft „Außen- feinde“ erzeugt: das „böse“ Wien, das „böse“ Brüssel, das „böse“ Laibach scheint inzwischen nicht mehr so recht zu greifen. Die verbreitete Neigung, die Gege- benheiten hinzunehmen, und die geringe Bereitschaft, sich gegen „die da oben“ aufzulehnen, mögen zum Teil auf die Nachwirkungen der Kärntner Zeitgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzuführen sein. Die Menschen hatten auf Grund der alle paar Jahre wechselnden politischen Verhältnisse erfahren, dass es vorteilhafter ist, sich zu ducken, um nicht beim nächsten Machtwechsel unter die Räder zu kommen. Die Volksgruppenfrage, dieses Dauerthema der Kärntner Zeitgeschichte, hat in den letzten Jahren zweifellos an Schärfe verloren. Immer mehr Menschen haben erkannt, dass die Zweisprachigkeit einen unschätzbaren Wert darstellt, den es zu bewahren gilt. Denn dieses Miteinander zweier Spra- chen und Kulturen ist das Besondere an dem südlichsten Bundesland und dar- um werden die Kärntnerinnen und Kärntner anderswo zu Recht beneidet. Es fällt zudem auf, dass dem relativ starken Einfluss der politischen Parteien in Kärnten eine eher schwach ausgebildete Zivilgesellschaft gegenübersteht. Es fehlen weit- gehend ein selbstbewusstes Bauerntum, ein selbstbewusstes Bürgertum, eine selbstbewusste Arbeiterschaft. Dieser Mangel ist u. a. eine Folge der wirtschaft- lichen Schwäche des Landes, das sich vom Niedergang des Bergbaus Ende des 19. Jahrhunderts nicht wirklich erholt hat. Zu wünschen wäre daher den Kärnt- nerinnen und Kärntnern in Zukunft der Aufbau einer zeitgemäßen Konfliktkultur, mehr Selbstbewusstsein, ohne in Überheblichkeit zu verfallen, und eine gehörige Portion an zivilgesellschaftlichem Engagement. Damit wären günstige Vorausset- zungen gegeben, um eine politische Entwicklung zu ermöglichen, auf die in ferner Zukunft mit Genugtuung zurückgeblickt werden kann.

Literaturhinweise:

Hellwig Valentin, Kärnten. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Innsbruck – Wien 2011. Es handelt sich dabei um die gekürzte und aktualisierte Fassung der 2009 unter dem Titel „Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918–2004/08“ im Hermagoras-Verlag in zweiter Auflage erschienenen Originalausgabe.

Hellwig Valentin, Am Rande des Bürgerkrieges. Der Kärntner Ortstafelkonflikt 1972 und der Sturz Hans Simas, Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2013.

Helmut Rumpler (Hg.) – Ulfried Burz (Mitarbeit), Kärnten. Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bun- desland. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, hg. von Herbert Dachs – Ernst Hanisch – Robert Kriechbaumer. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer- Bibliothek, Salzburg, Bd. 6/2. Wien – Köln – Weimar 1998.

115 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Die Ortstafelproblematik und ihre Lösung als Teil der Kärntner nationalen Frage 1976 bis 2011

Stefan Karner

ie kaum ein anderes Thema blieben die Fragen um die slowenische Volks- gruppe im Lande auch nach dem Volksgruppengesetz von 1976 im Brenn- Wpunkt der Kärntner Politik. Mit ihnen wurden Wählerschichten quer durch die Parteienlager mobilisiert, mit ihnen wurde Wirtschaftspolitik gemacht, wenn es um die Ansiedlung slowenisch/jugoslawischer Betriebe in Südkärnten ging, Medien fuhren mit ihnen auf einer Stimmungswelle, mit ihnen wurden letztlich Landtags- und Gemeinderatswahlen entschieden wie 1989, als Jörg Haider Lan- deshauptmann geworden war.

Obwohl sie nur ein Teil der Probleme des Landes waren, bestimmten die nationa- len Fragen auch die Lösung anderer Sachfragen und ließen sich instrumentalisie- ren. So dominierten die sozialistischen Landeshauptleute Hans Sima und Leopold Wagner die Kärntner Landespolitik der siebziger Jahre mit einer betont deutsch- nationalen Politik, die ihnen jedoch absolute Mehrheiten im Landtag einbrachte.

Der Streit um die Lösung des Teilproblems, die Anbringung zweisprachiger to- pographischer Aufschriften („Ortstafeln“), währte, mit kurzen Unterbrechungen, über 50 Jahre. Erst 2011 konnte auf Basis eines in Kärnten erreichten, weitgehend flächendeckenden Lösungsklimas, vorbereitet von der „Kärntner Konsensgruppe“, politischen Parteien und Interessensvertretungen, den Kirchen und Volksgruppen- organisationen, der Streit beendet und ein tragfähiger Kompromiss erzielt werden.

Nach dem österreichischen Volksgruppengesetz von 1976 wurden „Volksgrup- penbeiräte“ eingerichtet, eine Volksgruppenförderung installiert sowie die Ver- wendung der Amtssprache und der topographischen Bezeichnungen in 205

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Ortschaften festgelegt (Mindestanteil von 25 Prozent Slowenen in den entspre- chenden Orten). Zur Umsetzung verordnete die SPÖ-Alleinregierung Kreisky 1977 jene Gebietsteile, in denen zweisprachige „Ortstafeln“ anzubringen waren und legte die slowenischen Bezeichnungen für 91 Orte fest. Bis 2002 wurden in 73 (später 75) von ihnen zweisprachige „Ortstafeln“ aufgestellt oder zumindest zweisprachige Wegweiser angebracht. Unter den fehlenden 16 Orten waren vor allem Windisch-Bleiberg und Schwabegg.

Die Minderheitenschulgesetz-Novelle 1988 mit dem ergänzenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes 1989 und den landesgesetzlichen Ausführungen 1990/1991, schon unter FPÖ-Landeshauptmann Jörg Haider, bedeutete mit den folgenden Novellen einen weiteren Schritt der Entspannung. Damit wurde für die slowenische Volksgruppe die Möglichkeit auf Elementarunterricht in ihrer Mutter- sprache deutlich verbessert und die Bedarfsgrenzen wurden gesenkt (ab sieben Anmeldungen in einer Vorschulklasse bzw. in einer Volksschule).

Ein öffentlichkeitswirksamer Schritt gelang 1995 nach dem langjährigen Dialog im Deutsch-slowenischen Koordinationsaus- schuss der Diözese Gurk, v. a. zwischen Ernst Waldstein und Valentin Inzko sen. Landeshauptmann Christof Zernatto (ÖVP) eröffnete Inzko die Möglichkeit, erstmals bei der 75-Jahrfeier der Volksabstimmung im Wappensaal des Kärntner Landtages eine Rede in slowenischer Sprache zu halten.

Die tatsächlich aufgestellten 73/75 „Orts- tafeln“ blieben im Wesentlichen bis in die späten 1990er-Jahre außer Streit, auch Valentin Inzko sen. spricht als weil man in Kärnten mit ersten vertrauensbildenden Gesprächen und Maßnah- Vertreter der slowenischen men in Verbänden und Einrichtungen begonnen hatte: Diözesansynode der Volksgruppe im Landhaus in Klagenfurt, 10. Oktober 1995. Katholischen Kirche (1971/1972), Kärntner Landsmannschaften, „Kärntner Hei- Foto: Gert Eggenberger. matdienst“ (inklusive dem „Kärntner Sängerbund“ und dem „Kärntner Abwehr- kämpferbund“), beide Slowenenverbände, die bis Mitte der 1980er-Jahre auch stark von Ljubljana/Laibach beeinflusst waren, die drei Kärntner Tageszeitungen unter Heinz Stritzl, Walter Raming und Walter Primosch.

Trotz zahlreicher Anschläge in den 1970er- und 1980-Jahren, beginnend mit dem Sprengstoffanschlag auf einen Hochspannungsmast in St. Kanzian im Oktober 1972, auf das Partisanendenkmal in Robesch im September 1973, auf das Haus des „Zentralverbandes“ in Klagenfurt, auf das „Haus der Heimat“ in Miklautzhof, auf die Kanzlei des „Heimatdienstes“ in Klagenfurt, auf mehrere Eisenbahnlinien,

117 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

auf das Hans Steinacher-Denkmal in Völkermarkt, auf das Partisanendenkmal am Kömmel oder 1979 auf das Heimatmuseum in Völkermarkt, bei dem Kustos Karl Karpf schwer verletzt wurde, rissen die zaghaften Gespräche zwischen einzelnen Vertretern der Volksgruppen nicht vollends ab. Zwei ebenfalls verletzte Jugos- lawen wurden unter Tatverdacht festgehalten, durften bald darauf jedoch nach Jugoslawien ausreisen. Vermutlich hatten bei einigen Anschlägen jugoslawische Organe mitgewirkt.

Der „Runde Tisch“ 1997/1998 wies die Richtung In diese Phase des begonnenen Dialoges platzte im Spätsommer 1997 ein An- schlag auf das seit Jahren in einer heftigen Kontroverse und Diskussion stehende Ulrichsberg-Denkmal. Dieser, von allen politisch relevanten Kräften im Lande verur- teilte Angriff auf das „Heimkehrer“-Denkmal löste allgemeines Entsetzen aus. In der Folge entwickelte sich eine breite Diskussion über die weitere Bestimmung dieses 1953, ursprünglich den „Heimkehrern“ aus Krieg und Gefangenschaft gewidmeten Ehrenmals, das seit den 1970er-Jahren – entgegen den Intentionen der Veranstal- ter – auch von rechtsextremen Gruppen frequentiert und im Bestimmungsbild ver- zerrt wurde. Bald wurde aus der Ulrichsberg-Diskussion eine Auseinandersetzung über die jüngere Geschichte Kärntens und den Umgang mit ihr. Dabei spielten die nationale Frage und die Konflikte um ihre zentralen Themen eine wichtige Rolle.

Landeshauptmann Zernatto, der gerade auf einer Klausur bei Windischgarsten weil- te, reagierte umgehend und richtete einen „Runden Tisch“ ein. Die heikle Modera- tion des Dialog-Prozesses übertrug er dem Autor, als in Graz tätigem Historiker, der sich seit vielen Jahren intensiv mit der Kärntner Zeitgeschichte befasst hatte und beide Landessprachen beherrscht. Die Spitzen aller mit der Thematik befassten Or- ganisationen nahmen an mehreren Zusammenkünften im Spiegelsaal der Kärntner Landesregierung teil. Die Ergebnisse waren richtungweisend: die Neudefinition der Funktion des „Ulrichsberges“, ein Modell für private, zweisprachige Kindergärten, die wissenschaftliche Aufbereitung der „Nationalen Frage in Kärnten im 20. Jahr- hundert“ und die einstimmige Verabschiedung einer „Prinzipienerklärung“ mit dem Kernsatz: „Zweisprachigkeit ist förderungswürdig“.

Ein durch eine Selbstanzeige wegen Schnellfahrens im Ortsgebiet St. Kanzian er- zwungenes Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zu Jahresende 2001 kipp- te die entsprechenden Passagen im Volksgruppengesetz von 1976 und in der Topographie-Verordnung 1977. Damit war die Liste jener Orte gefallen, in denen „Ortstafeln“ in deutscher und slowenischer Sprache anzubringen waren. Noch we- sentlicher war jedoch, dass mit einem Schlag die „Ortstafelfrage“ wieder in das Zen- trum der nationalen Auseinandersetzung rückte. Der 25-Prozentsatz war obsolet, ein 10-Prozent-Slowenenanteil in Ortschaften als Untergrenze in Diskussion. Das Erkenntnis führte zu heftigen, auch persönlich vorgetragen Attacken von Landes- hauptmann Jörg Haider gegen VfGH-Präsident Ludwig Adamovich.

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So stand man in der „Ortstafelfrage“ wieder vor einem Neustart. Unter den ver- schiedenen Handlungsoptionen entschied sich Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) zu Jahresbeginn 2002 für die Suche nach einem politischen Konsens. Drei „Konsenskonferenzen“ brachten keine gemeinsame, tragfähige Lösung, obwohl man nur ganz knapp gescheitert war.

In der Umsetzung des VfGH-Erkenntnis- ses von 2001 bestand jedoch weiterhin ein rechtsstaatliches Defizit. In dieser Si- tuation und in Fortsetzung der 2002 ab- gebrochenen „Konsenskonferenzen“ be- auftragten Schüssel und in der Folge auch Haider im Februar 2005 den Autor damit, vorbereitende Gespräche für eine neuerli- che „Konsenskonferenz“ mit Vertretern der Slowenenorganisationen und der „Heimat- verbände“ mit dem Ziel zu führen, zum 50-Jahr-Jubiläum des Österreichischen Staatsvertrags eine für alle Seiten akzep- table Lösung auszuloten. Der binnen eines Protestaktion auf Monats erzielte politische Kompromiss innerhalb der Verbände überraschte: Der Privatgrundstücken Kärntner Heimatdienst unter Josef Feldner, die Plattform Kärnten unter Heinz für die Aufstellung von zweisprachigen Stritzl, der Zentralverband slowenischer Organisationen unter Marjan Sturm und Ortstafeln, 2005. die Gemeinschaft Kärntner Slowenen und Sloweninnen unter Bernard Sadovnik Foto: R. Katz hatten zu einem Dialog und Ergebnis gefunden, dem sich zuletzt auch der „Rat der Kärntner Slowenen“, die Kärntner Landtagsparteien (ausgenommen das neu- gegründete BZÖ unter Haider), die Kirchen, zahlreiche Vertretungskörperschaften und Vereine anschlossen. Lediglich der „Kärntner Abwehrkämpferbund“ unter Fritz Schretter blieb abseits.

Der als „Karner-Paket“ bezeichnete Vorschlag der Konsensgruppe sah nach den Modifikationen in den folgenden Konsenskonferenzen von März und April 2005 vor: • Die Anbringung zweisprachiger „Ortstafeln“ in insgesamt 158 Orten bis 2010, wovon knapp die Hälfte bereits bestehend und insgesamt 91 bereits verordnet waren. • Ein umfangreiches Maßnahmenpaket für Südkärnten, finanziert von Bund und Land. • Laufende vertrauensbildende Informationen und Aufklärung unter der Bevölke- rung. • Eine Öffnungsklausel, womit nach 2010 weitere Aufschriften, bei entsprechender Unterstützung der Bevölkerung, über ein direkt-demokratisches Antragsrecht er- langbar wären.

119 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Die Umsetzung des Kompromisses kam al- lerdings im Jubiläumsjahr 2005 durch das Ausscheren des BZÖ nicht mehr zustande. Daran konnten auch die drei seit 1977 feh- lenden „Ortstafeln“ in Schwabegg/Žvabek, Ludmannsdorf/Bilčovs und Windisch Blei- berg/Slovenji Plajberg nichts mehr ändern, die von Schüssel und Haider Anfang Mai 2005 gemeinsam, unter Beteiligung der Öffentlichkeit, aufgestellt wurden.

In einem neuerlichen Anlauf versuchte die Bundesregierung Schüssel im Sommer 2006 einen leicht modifizierten, auf dem „Karner-Paket“ aufbauenden, mit Landes- hauptmann Haider und informell auch mit dem Kärntner Abwehrkämpferbund Landeshauptmann Jörg Haider akkordierten Vorschlag mit 141 Ortschaften als Verfassungsgesetz im Parlament und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel bei der Aufstellung durchzubringen. Vergebens. Am 14. Juli 2006 versagte die SPÖ-Parlamentsfrakti- der Ortstafel von Windisch on – bereits im Wahlkampf für die Nationalratswahlen - dem entsprechenden An- Bleiberg/Slovenji Plajberg, trag ihre Zustimmung, obwohl ihn alle im Kärntner Landtag vertretenen Parteien Mai 2005. (auch das BZÖ und die Kärntner SPÖ unter Gaby Schaunig) befürwortet hatten. Foto: Gert Eggenberger. Eine große Chance wurde leichtfertig torpediert.

Einen deutlichen, neuen Akzent setzte die Konsensgruppe am 9. Oktober 2006 im Kärntner Landhaushof mit der „Feierlichen Erklärung zum 10. Oktober, dem Tag der gemeinsamen Heimat Kärnten“. Die Deklaration wurde von allen relevan- ten Kräften Kärntens mitunterzeichnet, ausgenommen das BZÖ. Der damalige „Kleine Zeitung“-Chefredakteur Reinhold Dottolo würdigte die Erklärung als einen „historischen Schulterschluss“. Superintendent Manfred Sauer und Diözesanbi- schof Alois Schwarz sprachen gemeinsam von einem „Schritt zum Frieden“ im Lande. Die „Feierliche Erklärung“ war die Umfunktionierung und Neuinterpretation der Symbolik des 10. Oktober. Darauf konnte in der Folge aufgebaut werden. Die neue Symbolik sollte bleiben.

Die Bemühungen um eine Lösung liefen 2007, nunmehr von der SPÖ/ÖVP-Re- gierung unter Alfred Gusenbauer und Wilhelm Molterer, unter Einbindung der Kärntner Politik, vor allem von Haider, Schaunig und Josef Martinz (ÖVP) wei- ter. Nach zahlreichen, im Auftrag des Bundeskanzleramtes geführten Einzelge- sprächen zwischen den Juristen Johannes Schnitzer und Harald Dossi und den SPÖ-Bürgermeistern der betroffenen Gemeinden, präsentierte Gusenbauer im Sommer 2007 in einer großen Sitzungsrunde im Bundeskanzleramt einen neuen Kompromiss mit 163 Orten, einer Kürzung des Stufenplans, einer Modifizierung der Öffnungsklausel und mit einer leichten Erweiterung des betroffenen Gebie-

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tes. Die „Kärntner Konsensgruppe“ signalisierte generelle Zustimmung, ÖVP, BZÖ und FPÖ wa- ren – in Abstufungen - mit dem Entwurf nicht einverstanden. Gusenbauer resignierte sichtlich noch während der stundenlangen Sitzung, Mol- terer bot weitere Verhandlungen an. Dazu kam es nicht mehr. Das Thema lag politisch auf Eis.

Nach dem Unfalltod Haiders am 11. Oktober 2008 setzte die neue BZÖ-Führung (Landes- hauptmann Gerhard Dörfler) anfänglich Haiders Weg fort, sprach sich gegen weitere zweispra- chige Ortstafeln aus und brachte im Nationalrat einen erfolglosen Dringlichkeitsantrag gegen weitere zweisprachige Ortstafeln ein. Dezidiert Verleihung des „Civis versprach das BZÖ zur für die Partei erfolgreichen Landtagswahl im Frühjahr 2009 Europeus“ an die Konsens- die Beibehaltung der 25-Prozent-Hürde zur Aufstellung zweisprachiger „Ortsta- gruppe durch Miguel Angel Martinez (3. v. rechts), Vize- feln“. präsident des Europäischen Parlaments, Arnoldstein 2009. In dieser Phase bemühte sich die „Kärntner Konsensgruppe“ vertrauensbildende Foto: Fritzpress. Maßnahmen zu setzen: mehrere Diskussionsveranstaltungen in Südkärntner Or- ten, ein kärntnerisch-slowenisches Freundschaftsfest in Ljubno/Slowenien, zahl- reiche Pressegespräche, Vorträge, eine Modifizierung der „Öffnungsklausel“ als „demokratisches Antragsrecht“, die gemeinsame Publikation von Josef Feldner („Kärntner Heimatdienst“) und Marjan Sturm („Zentralverband“) „Kärnten neu denken“, ein „Fest der gemeinsamen Heimat Kärnten“ zum 10. Oktober 2008 in Ludmannsdorf, die erstmals gemeinsame Trauer um die Kärntner Partisanenopfer in Liescha/Slowenien 2009, ein „Treffen der Kulturen“ in Marburg/. Die Ar- beit der Konsensgruppe fand 2009, etwa mit der Verleihung des „Civis Europeus“ der EU, auch breite nationale und internationale Anerkennung.

Erst 2010, im 90. Jubiläumsjahr der Volksabstimmung, kam neuer Schwung in die Lösung der Frage. ÖVP-Außenminister Michael Spindelegger sprach sich nach einem Treffen mit seinem slowenischen Amtskollegen Samuel Zbogar dezidiert für eine Ortstafellösung 2010 aus. Der Obmannwechsel beim „Rat“, wo auf Karel Smolle Valentin Inzko, Hoher EU-Repräsentant in Bosnien-Herzegowina, folgte, machte für den Dialogprozess zunächst Hoffnungen, die nur teilweise erfüllt wur- den.

Der Schlüssel zur Umsetzung einer Lösung auf Basis des geschaffenen Konsens- klimas und der vorbereitenden Arbeiten der Konsensgruppe lag freilich bei der Bundes- und Landesregierung. Staatssekretär Josef Ostermayer wurde von Bun- deskanzler Werner Faymann mit den entsprechenden Sondierungs-Gesprächen

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betraut. Als Zeichen des guten Willens ließ Dörfler am 14. Juli 2010 drei zweispra- chige Ortstafeln aufstellen. Anfang November 2010 einigte man sich auf „Leitli- nien“ (keine Minderheitenfeststellung, wie sie Dörfler noch gefordert hatte, keine Öffnungsklausel,wie sie die Slowenenvertreter verlangt hatten, eine 10 Prozent- Klausel auf Ortsebene, wie sie die Slowenen wollten und auf eine Zahl zwischen 141 und 163 „Ortstafeln“). Die „Kärntner Konsensgruppe“ sah ihre Vorarbeiten bestätigt und begrüßte die erzielten Fortschritte.

Dörfler, der mit zahlreichen Skandalen (u. a. Hypo Alpe-Adria) zu kämpfen hatte, war an einer pragmatischen Lösung im Interesse des Landes interessiert, die Bun- desregierung unter Faymann und Spindelegger brauchte einen zählbaren Erfolg und die Menschen in Kärnten verlangten überwiegend nach einer Lösung des ihnen längst leid gewordenen Themas.

Die internen Gespräche mit den Slowenenorganisationen, den betroffenen Bür- germeistern und Kärntner Traditionsvereinen bogen im Frühjahr 2011 schließlich in ihre Zielgerade ein, auch wenn Slowenenvertreter Mitte Februar, völlig realitäts- fern, noch insgesamt 273 zweisprachige „Ortstafeln“ gefordert hatten. Am 1. April 2011 war die Einigung perfekt. Sie war dem Kompromiss von 2005/2006 ähnlich: 164 Orte statt 158, 17,5 Prozent-Anteil slowenischer Bevölkerung auf Basis der Volkszählung von 2001 (ausgenommen VfGH-Erkenntnisse) statt 15 Prozent auf Gemeinde und 10 Prozent-Schranke auf Ortsebene, eine Erhöhung der „Abstim- mungsspende“ des Bundes statt der ausgeweiteten Förderungsmaßnahmen für Südkärnten, ein Petitionsrecht statt der Öffnungsklausel, ein „Dialogforum“ statt der geforderten umfangreichen Aufklärungs- und Dialogarbeit (eingerichtet am 22. November 2011).

Die teilweise Ablehnung des politischen Kompromisses durch den „Rat der Kärnt- ner Slowenen“ unter Inzko erforderte neue Verhandlungen. Bundespräsident Heinz Fischer und der slowenische Präsident Danilo Türk forderten gemeinsam, die mit zweisprachigen topographischen Aufschriften zu versehenden Orte na- mentlich gesetzlich zu verankern und damit die Frage der Prozentsätze der Volks- gruppen in den einzelnen Orten zu umgehen.

Am 26. April stimmten schließlich alle relevanten Kräfte einem Kompromiss zu, den ein „Memorandum“ mit 164 Orten in 24 Gemeinden festlegte. Dazu kam als Teil des Kompromisses der Verzicht auf eine Minderheitenfeststellung sowie die Akzeptanz von Slowenisch als zweiter Amtssprache in den 164 Orten. Weitere, nicht unwesentliche Details der Lösung betrafen die Finanzierung der sloweni- schen Musikschule oder neuer Modelle zur Intensivierung des Spracherwerbs im slowenischen Gymnasium in Klagenfurt. Eine pro forma rasch durchgeführte Orts- tafel-Volksbefragung zwischen 6. und 17. Juni bestätigte, wenn auch mit Schram- men (geringe Beteiligung, knapp ein Drittel Nein-Stimmen, rechtliche Bedenken

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des Präsidenten des VfGH, Karl Korinek), den eingeschlagenen Weg des politischen Kompromisses.

Am 6. Juli 2011 beschloss der National- rat mit Zustimmung aller Parlamentsfrak- tionen das neue Volksgruppengesetz im Verfassungsrang. Die Aufstellung der ent- sprechenden topographischen Aufschriften folgte sukzessive. Mit diesem Kompromiss wurden auch die Altlasten des belastenden, nationalen Streites weggeräumt: Ortstafel- Aufstellung und „Ortstafel-Sturm“ 1972, Volksgruppengesetz und Topographie- Nach dem „Ortstafelkompro- Verordnung 1976/1977, Anschläge und Terrorakte, durch Selbstanzeige wegen miss“: Feierliche Aufstellung Schnellfahrens (Rudolf Vouk) erzwungene Erkenntnisse des Verfassungsgerichts- von Ortstafeln mit Vertretern der slowenischen Volksgruppe, hofes, das latente, tief sitzende Misstrauen. Das 2005 von der „Konsensgrup- der Bundes- und Landesregie- pe Kärnten“ ausgearbeitete „Karner-Paket“ brachte den entscheidenden Durch- rung am 16. August 2011. bruch, auch wenn die finale Beschlussfassung durch das österreichische Parlament Foto: Gert Eggenberger. noch weitere sechs Jahre dauerte.

Kärnten konnte mit dem politischen Kompromiss 2011 ein beherrschendes politi- sches Problem seiner Entwicklung seit 1955 zufriedenstellend lösen.

Literaturhinweise:

Josef Feldner, Der Ortstafelstreit. Dokumentation eines Kärntner Grenzlandkonflikts. Klagenfurt 2011.

Josef Feldner – Marjan Sturm, Kärnten neu denken. Klagenfurt 2007.

Stefan Karner (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. 5 Bände. Klagenfurt – Wien – Ljubljana 2005.

Stefan Karner, Die Lösung der Kärntner Ortstafelfrage, in: Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2011. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 213-240 (siehe dort auch die einschlägige Literatur und die Vorfassung dieses Beitrages).

Andreas Khol, Persönliche Randnoten zur Lösung der Ortstafelfrage, in: Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2011. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 241-251.

Jürgen Pirker, Kärntner Ortstafelstreit. Der Rechtskonflikt als Identitätskonflikt. Minderheiten und Nationalitäten, Bd. 16. Baden-Baden 2010.

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Politische Beteiligung in Kärnten – Status Quo und Ausblick

Kathrin Stainer-Hämmerle

Krise der Demokratie als globales Phänomen Steigende Unzufriedenheit mit den Leistungen der Politik und wachsendes Miss- trauen gegenüber politischen Eliten, Institutionen sowie Verfahren sind ein weltwei- ter Trend. Die Ursachen liegen in Modernisierungsprozessen, die die gesamte Ge- sellschaft umfassen, wie Globalisierung, Individualisierung und einem allgemeinen Wertewandel. Die Bürger sind gegenüber der Politik mündiger, aber auch kritischer geworden. Die Welt ist unübersichtlich, die Probleme komplexer, die Bindung an Milieus wie an Parteien verliert ihre Kraft. Die Zukunft erscheint für viele Menschen immer unsicherer. Der Druck sowohl im Berufsleben als auch privat steigt und lässt weniger Zeit für politisches und gesellschaftliches Engagement. Die Stimmung, die aus diesen Entwicklungen erwächst, hat auch politische Folgen wie zum Beispiel die Zunahme von Protest bei Wahlen als auch auf der Straße oder eine politisch- apathische Haltung gekoppelt mit steigendem Anspruchsdenken an den Sozial- staat. Die Sehnsucht nach einfachen Antworten lässt populistische Parteien in ganz Europa siegen. Die Ungeduld vieler Bürger lässt den Ruf nach „starken Männern“ immer lauter werden. Beim Erfolg rechtspopulistischer Politiker war Kärnten im Grunde Europas Vorreiter. Der Aufstieg Jörg Haiders fand Niederschlag auf zahlreichen Titelblättern, nicht nur in Österreich. Seine Themen wie Kampf gegen Privilegien, Stopp der Zuwanderung oder mehr direkte Demokratie finden sich heute täglich in politischen Diskussionen. Die politische Rhetorik Haiders gegen „Bonzen“, „Altparteien“, das „System“ sowie Minderheiten brachte kurzfristig Wahlerfolge, beschädigte langfristig aber das Ver- trauen in Politik und ihre Steuerungsfähigkeit. Zentrales Element einer populistischen Partei, zu der sich die FPÖ unter Jörg Haider zweifelsohne entwickelte, ist die strikte Ablehnung, eine traditionelle Partei zu sein und die Selbstdarstellung als (Bürger-)Bewegung. Ihre Spitzenvertreter sehen sich demzufolge nicht als Politiker, sondern als engagierte Bürger, als Menschen aus der Mitte der Bevölkerung. Der Hauptauftrag lautet: Kampf gegen das Polit-Establish-

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ment. Grundlage ihres Erfolges sind meist emotionale Konflikte, das Negieren von verschiedenen Interessen innerhalb einer Gesellschaft und die Fähigkeit, sich als Vertreter der „kleinen Leute“, der „Fleißigen“ und „Anständigen“ darzustellen. Viel- schichtige Faktoren der Politik und Persönlichkeit Jörg Haiders haben seinen Erfolg ermöglicht, aber auch jenen enormen Scherbenhaufen verursacht, vor dem heute das Land Kärnten, die Republik und das politische System Österreichs generell ste- hen. Am auffälligsten sind der tiefgehende Vertrauensverlust der Bevölkerung in die politischen Spitzen und Institutionen sowie ein Absturz Österreichs im Korrup- tionswahrnehmungsindex von Transparency International von Rang 15 auf 25 von insgesamt 172 Plätzen im Jahr 2012. Kärnten war insofern bereits ab den 1990er- Jahren ein Labor, von dem der Rest Österreichs leider nicht viel gelernt hat. Vielmehr mündet heute die hohe Bereitschaft der Wählerinnen und Wähler, aus Protest ihre Stimme zu vergeben, in einem rasanten Kommen und Gehen von neu- en Parteien, in einem noch kurzfristigeren Agieren von Politikerinnen und Politikern, die sich kaum mehr auf Stammwähler und Kontinuitäten im Wahlverhalten von gesellschaftlichen Gruppen und daher auf längerfristige Strategien stützen können. Die Zuwächse von rechts- als auch linkspopulistischen Parteien bei Umfragen und Wahlgängen verengen für traditionelle Parteien entweder die Möglichkeiten stabile Koalitionen zu bilden oder sie erliegen dem Druck, inhaltlich auf die Forderungen der Populisten einzugehen. Folge ist jedenfalls eine weitgehende Polarisierung in der Bevölkerung, unter der insbesondere die Möglichkeiten der Umsetzung von politi- schen Entscheidungen leiden. Am Beispiel der Flüchtlingswelle im Sommer 2015 wurde eine Entwicklung von parallelen politischen Kulturen in der Gesellschaft gut erkennbar: Auf der einen Seite stehen Citoyens mit entwickelter Staatsbürgerkultur, die bereit sind zu helfen und so staatliche Strukturen – mit ihrem Engagement als Bürger – zu unterstützen. Auf der anderen Seite finden sich jene „Politikverdros- senen“, die starke Ängste haben und sich von den politischen Institutionen allein gelassen fühlen bzw. sich nach dem bereits erwähnten „starken Mann“ sehnen, der für Ordnung sorgt. So hat sich Österreich in den letzten Jahren eher an Kärnten angenähert. Ein Land, das historisch immer schon eine starke Polarisierung aufwies und in dem die Muttersprachen als auch die parteipolitische Zugehörigkeit tiefe Grä- ben durch das Land zogen.

Modelle von Demokratie und Möglichkeiten der Beteiligung Demokratie gab einst das Versprechen, die Macht vom Volk abzuleiten und für Ge- sellschaften auf dieser gemeinsamen Basis akzeptierte Entscheidungen zu treffen. Aufgrund der eingangs erwähnten Krisensymptome gilt es heute über deren Wei- terentwicklung nachzudenken, wozu sich grundsätzlich drei Formen anbieten: die repräsentative, die direkte sowie die partizipative Demokratie. In den verschiedenen Modellen der Demokratie hat die Beteiligung der Bevölke- rung unterschiedliche Funktionen. In einer repräsentativen Ausprägung wählt das Volk (im Sinne aller Wahlberechtigten) seine Vertreter in Parlamente und andere Funktionen und überträgt ihnen durch diesen Akt die Berechtigung, stellvertretend

125 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Politische Bildung: Kärntner Entscheidungen zu treffen. Mit den Instrumenten der direkten Demokratie (Volks- Schülerinnen und Schüler be- abstimmung, Volksbefragung und Volksbegehren) trifft die Bevölkerung (wieder suchen den Kärntner Landtag eingeschränkt auf alle Wahlberechtigten) die Entscheidung an Stelle der gewählten in Klagenfurt. Foto: Kärntner Landtag. Repräsentanten. Hier kann nochmals unterschieden werden zwischen Formen, mit denen sich die Bevölkerung über den Willen der politischen Vertreter hinwegset- zen kann (Volksabstimmung) oder mit denen eine Empfehlung abgegeben wird (Volksbefragung und Volksbegehren). Ebenso unterscheiden sich plebiszitäre von basisdemokratischen Ausprägungen durch die Art ihrer Initiierung. Entscheiden bei der erstgenannten Form bereits gewählte Mandatare über die Durchführung und Art einer Befragung (Volksabstimmung, Volksbefragung), so werden im zweiten Falle die Bürger selbst aktiv (Volksbegehren). In der Schweiz zum Beispiel kann die Bevölkerung gegen den Willen des Parlaments eine Volksbefragung durchsetzen. Diese Möglichkeit eines Initiativreferendums existiert in Österreich nur in einigen Bundesländern, aber nicht in Kärnten. Bei partizipativen oder deliberativen Formen schließlich ist die Bevölkerung nicht erst in die Entscheidung selbst eingebunden, sondern in den Beratungsprozess vorher. In diesem vorparlamentarischen Raum verfassen zufällig ausgewählte Bür- ger, deren Kreis nicht notwendigerweise auf alle Wahlberechtigten eingeschränkt werden muss, eine Art Gutachten. Über das Ausmaß und die Art der Umsetzung dieser Bürgergutachten entscheiden anschließend die gewählten Repräsentanten. Die Beratung der Bürger findet dabei thematisch und zeitlich eingegrenzt in einem Workshop statt und beinhaltet keine Verpflichtungen darüber hinaus. Alle drei Formen der Demokratie sind nicht ausschließlich zu sehen, sondern ergän- zen sich je nach Aufgabe, Thema und Ausgangslage. Sowohl in den Gemeinden, auf Landes- oder Bundesebene als auch auf europäischer Ebene lassen sich alle drei Formen mit all ihren Beteiligungsmöglichkeiten finden. Je nach Art des Konflikts bzw. nach geforderter Lösung kann daher politisches Handeln durch Wahlen, Instru- mente der direkten Demokratie oder Bürgerbeteiligung zum Erfolg führen. Manch- mal erreicht man Änderungen durch Partizipation innerhalb des politischen Systems, manchmal ist es erfolgreicher, Druck von außen auszuüben, was im Rahmen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu den garantierten Grundrechten einer Demokratie gehört. Die meisten bereits vorhandenen Möglichkeiten wie Pe- titionsrechte, Volksbegehren und andere Instrumente der direkten Demokratie auf

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Gemeinde-, Landes- aber auch Bundesebene wurden immer schon in geringem Ausmaß von der Bevölkerung wahrgenommen. Hier unterscheidet sich Kärnten nicht.

Wahlbeteiligung Kärnten Überdurchschnittliche Wahlbeteiligung in Kärnten GRW LTW NRW Zentrales Element in einer Demokratie, sich zumindest indirekt an politischen Ent- 1945 89,4 89,2 scheidungen zu beteiligen, ist das Wahlrecht. Historisch lang umkämpft, dürfen 1949 94,0 94,3 erst seit 100 Jahren alle Frauen und Männer wählen. Obwohl dieser Zeitraum 1950 80,0 historisch betrachtet eher kurz ist, schwindet offenbar bei vielen Bürgern das Be- 1953 90,8 91,2 wusstsein für dieses Privileg. 1954 87,0 Prinzipiell zeigen die Kärntnerinnen und Kärntner eine konstant hohe Bereitschaft, 1956 94,3 94,9 zur Wahl zu gehen, und dies sowohl bei Nationalrats- und Landtagswahlen als 1958 88,8 auch bei Wahlen auf kommunaler Ebene. Höchstwerte von über 90 Prozent wur- 1959 92,0 den bei Landtagswahlen sowohl in den 1950er- als auch in den 1980er-Jahren 1960 87,0 erreicht, bei Nationalratswahlen lag die Beteiligung bis 1990 konstant über 90 1962 91,1 Prozent. Die Beteiligung bei kommunalen Wahlgängen lag bis 1979 hinter den 1964 87,9 anderen Politikebenen, zeigte in der Folge allerdings eine stabile Entwicklung und 1965 87,0 lag 2015 über 71 Prozent. Im Vergleich mit anderen Bundesländern fällt vor allem 1966 91,9 auf, dass in Kärnten in den 1950er-Jahren die Wahlbeteiligung mit 80 Prozent 1970 86,6 86,0 92,0 1971 91,2 unterdurchschnittlich war, aufgrund der konstanten Entwicklung heute aber über- 1973 79,2 durchschnittlich ausfällt. 1975 88,1 91,5 Kärnten führte bereits 1991 die Bürgermeisterdirektwahl als erstes Bundesland 1979 87,8 83,2 91,2 ein. Somit wurden 2015 die Bürgermeister in den 132 Gemeinden bereits zum 1983 91,7 fünften Mal direkt gewählt. Für das Amt des Bürgermeisters muss ein Kandidat 1984 83,0 mehr als die Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen erreichen und aufgrund 1985 85,9 des Ergebnisses bei der Gemeinderatswahl auch zum Mitglied des Gemeinde- 1986 93,9 rates gewählt werden. Erreicht keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die 1989 90,1 notwendige Mehrheit, so findet am zweiten Sonntag nach dem Wahltag eine 1990 89,1 Stichwahl zwischen jenen Wahlwerbern statt, die die meisten Stimmen errungen 1991 87,9 hatten. Die mögliche Auswirkung der Bürgermeisterdirektwahl, dass der direkt 1994 85,3 82,3 gewählte Bürgermeister über keine Mehrheit seiner Partei im Gemeinderat ver- 1995 85,9 fügt, erschwert allerdings das Regieren in immer mehr Gemeinden. Die Wahlbe- 1997 82,5 teiligung schwankte 2015 mit den niedrigsten Werten in den größeren Städten 1999 80,5 80,3 wie Klagenfurt (57 Prozent) und den größten in ländlichen Gemeinden wie Zell 2002 83,7 (95 Prozent). 2003 80,2 2004 78,6 Direkte Demokratie bleibt ungenützt 2006 77,3 2008 78,5 Der Begriff der direkten Demokratie oder auch unmittelbaren Demokratie um- 2009 80,6 81,8 fasst heute verschiedenste Formen der politischen Beteiligung des Volkes. Von 2013 75,2 72,5 der repräsentativen Demokratie unterscheidet sich die direkte Demokratie durch 2015 71,2 die Möglichkeit des Volkes, auch während einer Legislaturperiode und punktuell 2017 78,5 bei bestimmten Sachfragen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu neh-

Quelle: Eigene Darstellung. men. Darüber hinaus existiert aber weder eine allgemein gültige Definition des

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Begriffs noch ein allgemeiner Konsens, welche Instrumente dazugezählt werden. Der gelernte Kärntner denkt bei direkter Demokratie zumeist an die drei traditio- nellen Formen: Volksabstimmung, Volksbefragung und Volksbegehren. Die Volks- abstimmung von 1920, die so sehr die Kärntner Geschichte sowie das kollektive Gedächtnis prägte, erfolgte hingegen ohne Grundlage im österreichischen Recht. Vielmehr wurde diese Abstimmung durch den Friedensvertrag von St. Germain 1919 festgelegt. Demagogen und direkte Demokratie passen gut zusammen. So nutzte auch Jörg Haider viele Jahre in Österreich geschickt Stimmungen in der Bevölkerung, um seine politische Karriere voranzutreiben. Den Missbrauch des Instruments des Volksbegehrens durch eine politische Partei vervollkommnete Haider zur Perfek- tion. Von 1987 bis 1997 initiierten FPÖ-Abgeordnete sechs Volksbegehren auf Bundesebene, darunter 1993 „Österreich zuerst“, besser bekannt als das „Aus- ländervolksbegehren“, mit 416.531 Unterschriften. Die Beteiligung der Kärnt- ner an allen bundesweiten Volksbegehren lag üblicherweise deutlich unter dem Durchschnitt. Ausnahmen waren nur jene von der FPÖ initiierten. Auf Landesebene hingegen entstand nie eine Tradition dieser Instrumente. Das liegt einerseits am eingeschränkten eigenständigen Wirkungsbereich des Lan- des, andererseits am mangelnden Engagement der Bevölkerung selbst. Doch die Freiheitlichen ließen das Volk zweimal ohne gesetzliche Grundlage abstimmen: 2006 ließ der damalige Landeshauptmann Jörg Haider eine „Ortstafel-Urabstim- mung“ durchführen. 2011 folgte sein Nachfolger Gerhard Dörfler diesem Beispiel. Die Ergebnisse waren konträr. 10.422 (52,2 Prozent) sprachen sich 2006 gegen weitere zweisprachige Ortstafeln aus, 7.617 (38,3 Prozent) wünschten weitere Verhandlungen und 1.857 (9,3 Prozent) befürworteten den Schüssel-Entwurf aus dem Jahr 2006 mit insgesamt 158 zweisprachigen Ortstafeln. Für Jörg Haider war diese – rechtlich folgenlose – Umfrage, trotz der nur knapp 10.500 Stimmen, ein „politischer Auftrag“ gegen weitere zweisprachige Ortstafeln. 2011 hingegen stimmten 67,9 Prozent bei der von der Freiheitlichen Partei in Kärnten (FPK) ini- tiierten „Briefumfrage“ für die bereits politisch paktierte Einigung in Sachen zwei- sprachige Ortstafeln. In absoluten Zahlen bedeutete dies 95.920 Stimmen für den zwischen Bund, Land und Slowenenorganisationen ausgehandelten Kompromiss mit 164 Schildern. Rechtliche Grundlage für Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragun- gen auf Landesebene sind die entsprechenden Materiengesetze. Mit der Novelle der Landesverfassung 2017 wurde die erforderliche Hürde für die Initiierung die- ser Instrumente von 15.000 zum Landtag wahlberechtigten Personen auf 7.500 halbiert. Die Möglichkeit der Bevölkerung, eine Volksabstimmung zu erzwingen, ist jedoch weiterhin nicht vorgesehen. Doch auch mit der Senkung auf 7.500 Unter- stützer ist weder auf Landesebene noch in den Gemeinden ein großer Andrang auf diese Instrumente zu erwarten. Ebenso wenig bekannt und genutzt wird die kommunale Bürgerversammlung, für die es nur fünf Prozent der Gemeindebürger braucht. Bei einer derartigen Veranstaltung muss der Bürgermeister (in nur wenig

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Gemeinden die Bürgermeisterin) über Angelegenheiten aus dem eigenen Wir- kungsbereich der Gemeinde berichten und anschließend den Gemeindebürgern die Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Die Nicht-Inanspruchnahme all dieser Möglichkeiten erstaunt insofern, weil ausge- rechnet eine Volksabstimmung identitätsstiftend für das Land wirkt. Am 10. Ok- tober 1920 stimmten 59,04 Prozent der Kärntnerinnen und Kärntner im Grenz- gebiet Südkärntens für den Verbleib bei Österreich. Der Landesfeiertag erinnert bis heute an diese erste und bisher einzige Volksabstimmung, die allerdings wie bereits erwähnt keine Grundlage im österreichischen Recht hatte. Informationen über die tatsächliche Nutzung der Möglichkeiten der direkten De- mokratie auf Landes- und noch mehr auf Gemeindeebene sind in Kärnten bisher nicht gesammelt oder öffentlich zugänglich. So gab es laut Auskunft der zustän- digen Abteilung im Amt der Kärntner Landesregierung in der Zweiten Republik jeweils drei Volksbegehren und Volksbefragungen auf Landesebene sowie zwei auf kommunaler Ebene in Klagenfurt.

Volksbegehren in Kärnten: Eintragungszeitraum Gegenstand Stimmberechtigte Beteiligung in Prozent 24.-31.8.1984 Volksbegehren auf Erlassung eines 385.241 34.125 8,88 Gesetzes, betreffend die Ausführung der Grundsatzbestimmungen des Min- derheiten-Schulgesetzes für Kärnten 21.-28.3.1986 Volksbegehren auf Erlassung eines 390.808 21.425 5,48 Gesetzes, betreffend die Förderung der Bergbauern durch die Gewährung einer Flächenbewirtschaftungsprämie, einer Alpungsprämie und die Erhaltung des ländlichen Wegenetzes 12.-19.6.1987 Volksbegehren auf Erlassung eines 395.601 27.137 6,86 Gesetzes, betreffend die objektive Vergabe von Stellen durch das Land, die Gemeinden und die Gemeindeverbände (Objektivierungsgesetz).

Quelle: Eigene Darstellung. An Ankündigungen mangelte es hingegen nicht: so z. B. über die Errichtung eines Gasdampfkraftwerks in Klagenfurt, die von einer Bürgerinitiative gefordert wurde. Weiters sollte die Bevölkerung über den Rückbau des Wörthersee-Stadions be- fragt werden oder in Keutschach zum Neubau des Aussichtsturmes am Pyrami- denkogel. Die Kleine Zeitung sammelte etwa im Jahr 2009 Unterschriften für eine Volksbefragung gegen eine Erhöhung der Parteienförderung, erreichte allerdings mit 11.487 Unterschriften nicht die damals noch erforderliche Anzahl von 15.000. Kärnten ist zwar bei den Zugangsmöglichkeiten zu Formen der direkten Demokra- tie kein best practice Beispiel, dennoch existiert eine Vielzahl von Möglichkeiten, die allerdings weitgehend ungenutzt bleiben. Von Seite der offiziellen Landespo- litik werden die Bürger kaum ermutigt, diese Möglichkeiten zu ergreifen. Zu sehr neigt auch die politische Elite Kärntens dazu, direkte Demokratie sehr plebiszitär

129 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

Volksbefragungen des Landes Kärnten: Datum Gegenstand Stimmberechtigte Gültige Ja-Stimmen Nein-Stimmen Stimmen (in Prozent) (in Prozent) (Beteiligung in Prozent)

7.12.1980 Erhaltung des Nockgebietes 370.525 78.179 73.738 4.441 als Landschafts- bzw. Natur- (21,18%) (94,32%) (5,68%) schutzgebiet 5.10.1987 Veranstaltung von Olym- 415.140 134.293 108.982 25.311 pischen Spielen in Kärnten (32,48%) (81,16%) (18,84%) gemeinsam mit Italien und Slowenien 14.2.1999 Thermische Restmüllbe- 5.036* 3.897 2.275 1.622 handlung mit der Möglichkeit (77,88%) (58,4%) (41,6%) der Fernwärmenutzung am Standort Arnoldstein *Landesvolksbefragung fand nur in der Gemeinde Arnoldstein statt.

Volksbefragungen der Stadt Klagenfurt: Jahr Angelegenheit Stimm- Anzahl der erforderli- Gültige Eintragungen in % der berechtigte chen Unterschriften Eintragungen Stimmberechtigten 1993 NEIN zum Kreuz- 67.365 3.368 6.175 9,2 bergltunnel 2000 Wasser ist Leben 69.118 3.456 4.941 7,1 – Ausverkauf der Stadtwerke – Nein danke! Quelle: Statistisches Jahrbuch der Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee 2010, 196.

zu beurteilen. Denn: nur wenn es der politischen Mehrheit im Lande genehm ist, soll das Volk befragt werden. Ernsthafteusbaumöglichkeiten A und Reformbemühungen könnten zum Beispiel im Rahmen einer Demokratiereform durch die Schaffung eines Initiativreferen- dums gezeigt werden, durch die Möglichkeit der Unterstützung von Volksbe- gehren auch für Kommunen mittels Gemeinderatsbeschluss oder durch die freie Unterschriftensammlung bei Volksbegehren und für die Einleitung von Volksbe- fragungen. Die Politik könnte aber Bestrebungen in Form von direkter Demokratie auch durch einen verbesserten Informationsfluss unterstützen, sei es in Form von Aufklärung über die Vorgangsweise bei den einzelnen Instrumenten als auch durch Veröffentlichung von Gesetzesanträgen mit Erläuterungen auf der Home- page des Landes Kärnten. Doch nicht nur die Höhe der Prozentsätze an Unterschriften beeinflusst die Nut- zungshäufigkeit von direkter Demokratie. Auch politische, kulturelle und sozio-

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ökonomische Faktoren spielen eine Rolle. So wird ein positiver Zusammenhang mit der vorhandenen Parteienfragmentierung, der Stärke der linken und grünen Parteien oder von Protestparteien und bei der Wahlbeteiligung an subnationalen Wahlen vermutet. Weiters positiv auswirken kann sich der Anteil der Partei- bzw. Gewerkschaftsmitglieder oder die Bereitschaft in der Bevölkerung, ehrenamtlich tätig zu sein. An sozioökonomischen Faktoren begünstigend wirken die Bevölke- rungsgröße, der Urbanisierungsgrad sowie der Anteil Beschäftigter im tertiären Sektor und ein hohes BIP pro Kopf. Hemmend für die Ausübung von direkter Demokratie sind hingegen: eine starke Regierungskoalition wie die in Kärnten bisher übliche Proporzlösung, eine heterogene Bevölkerung, ein hoher Anteil an Beschäftigten im primären Sektor wie auch eine hohe Arbeitslosenquote. Nicht unterschätzt werden darf auch die Rolle der po- litischen Bildung bei der Fähigkeit der Bürger, selbst aktiv mitzubestimmen. Beginnend mit dem Interesse an Politik, der Bereitschaft sich regelmäßig zu infor- mieren, an Wahlen teilzunehmen oder gar bei Partei- en oder Bürgerinitiativen mitzuarbeiten bis hin zur ak- tiven Ausübung von politischen Mandaten spielt der Bildungshintergrund eine Rolle. Es sollte daher eine Selbstverständlichkeit sein, dass in Demokratien auch die Bildungssysteme die erforderlichen Kompetenzen vermitteln. Neben Sachkompetenz sind dies vor allem Erster Bürgerrat in Villach, Handlungskompetenz, Urteilsfähigkeit und Methoden- 2017. kompetenz. Mit ein paar Stunden trockener Institutionenkunde in der Schule Foto: Peter Plaikner. werden allerdings keine begeisterten Demokraten „erzogen“. Dazu braucht es die Erfahrung der „Selbstwirksamkeit“. Diese entsteht durch die Erkenntnis, dass persönliches Engagement auch zu Veränderungen in der Umwelt führen kann. Diese Vermittlung einer gelebten Demokratie kann in Schulen, aber auch in Fami- lien, Betrieben oder Vereinen erfolgen. Unterstützende Erklärung von politischen Zusammenhängen und Geschehnissen durch Medien in einer niederschwelligen Form und verständlichen Sprache müssten die Angebote ergänzen. So wird in der Schweiz von der öffentlichen Verwaltung zu allen Abstimmungsthemen ein Bulletin mit ausgewogenen Informationen an die Bevölkerung verteilt bzw. im Internet veröffentlicht. Instrumente der direkten Demokratie bieten der Bevöl- kerung auch während einer Legislaturperiode Möglichkeiten der aktiven Parti- zipation und Einfluss auf politische Entscheidungen – sei es durch unmittelbare Bindungswirkung oder durch öffentlichen Druck. Werden diese Instrumente nur wenig genutzt, neigen politische Verantwortungsträger nur allzu gerne dazu, Skandale auszusitzen und auf das schlechte Gedächtnis der Wählerinnen und Wähler zu vertrauen. Unklar ist aber noch, ob direkte Demokratie die Politik mehr auf das öffentliche Interesse reagieren lässt oder doch nur wieder ein Einfallstor für Spezialinteressen einer nur begrenzten Gruppe innerhalb der Bevölkerung ist. Denn direkte Demokratie birgt immer die Gefahr in sich, durch kleine Gruppen

131 Themenschwerpunkt Demokratieentwicklung

jegliche Entscheidungen zu blockieren. Konstruktivität ist kein genuines Element der direkten Demokratie, besonders nicht, wenn sie nur bei spontanen Protestbewe- gungen eingesetzt wird.

Partizipative Demokratie: ein noch unbekannter Zugang Daher brauchen neue Probleme auch neue Lösungen und neue Denkansätze. Unter- stützt werden diese politisch innovativen Gedanken von neuen Medien, neuen sozialen Begegnungsformen, neuen Diskursplattformen und vor allem neuen Beteiligungsmög- lichkeiten zur Aktivierung des Potenzials innerhalb der Bevölkerung. Selbstorganisation macht als Schlagwort diesbezüglich die Runde. Das bisherige Regelsystem der Politik und Verwaltung mit Ver- und Geboten, Appellen oder Bewusstseinskampagnen soll durch die simple Logik eines Kreisverkehrs ersetzt werden. Denn bei einem Kreisver- kehr müssen sich alle Teilnehmer selbst organisieren, selbstständig denken, Entschei- dungen treffen und handeln. Ein Kreisverkehr in diesem Sinne sind die Bürgerräte. Es sind organisierte und struk- turierte Orte, an denen Bürger sich begegnen, sich austauschen, gemeinsam nach- denken und an breit akzeptierten Lösungen arbeiten. Nicht gegen die Politik wie bei Bürgerprotesten, auch nicht statt der Politik wie bei Formen der direkten Demokratie, sondern mit der Politik. Bürgerräte zeigen einen neuen, aber nicht den einzigen Weg, die Bevölkerung wieder für Politik zu interessieren und sie in konstruktiver Form einzu- binden (anstatt nur kurzfristig aus Proteststimmungen politisches Kapital zu schlagen). Der innovative Gehalt dieser partizipativen Form und vor allem die Unterschiede zur repräsentativen oder direkten Demokratie sind schnell aufgezeigt. 1: Zu einem Bürgerrat kann man sich nicht melden. Die teilnehmenden Personen werden nach dem Zufallsprinzip (z. B. aus dem Melderegister) ausgewählt und eingeladen. So- mit wird verhindert, dass sich hauptsächlich Besser-Gebildete und Besser-Verdienende politisch beteiligen – wie es bei freiwilligen Formen des politischen Engagements meist der Fall ist. Ein Bürgerrat besteht auch nicht dauerhaft aus denselben Vertretern, son- dern wird nach jedem erstellten Gutachten wieder aufgelöst bzw. neu bestellt. 2: Die Bürger treffen sich für zwei Tage (z. B. an einem Wochenende), um gemeinsam ein Thema zu erörtern. Das Engagement ist daher zeitlich und meist auch thematisch begrenzt und vom Aufwand abschätzbar. Um sich einzubringen, wird kein jahrelanges Erscheinen etwa bei Sitzungen erwartet. 3: Der Bürgerrat soll nicht bestehende politische Einrichtungen ersetzen, sondern diese er- gänzen. Die Einführung von partizipativer Demokratie erfolgt nicht anstelle von Formen der repräsentativen oder direkten Demokratie, sondern anlassbezogen und passend, aber immer zusätzlich. 4: Der Bürgerrat trifft keine Entscheidungen, sondern spricht Empfehlungen aus und dient somit der Entscheidungsvorbereitung. Die Entscheidungsgewalt, aber auch die Recht- fertigung dafür, bleibt bei den gewählten Mandataren, denn nur sie können regelmäßig bei Wahlen für ihre Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden. 5: Als Ergebnis des Bürgerrates wird eine einstimmige, gemeinsame Erklärung verfasst, die öffentlicherörtert werden kann. Ziel eines partizipativen Prozesses ist es nicht, eine

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Mehrheit über eine Minderheit abstimmen zu lassen, auch der Konsens über Dissens ist möglich. Es soll versucht werden, alle Interessen und Anforderungen möglichst in einem gemeinsamen Papier darzustellen. Auf diesem Wege führt partizipative Demokratie – anders als die direkte – nicht zu weiterer Polarisierung innerhalb der Bevölkerung, son- dern fördert die Suche nach dem gemeinsamen Kompromiss. Der Bürgerrat eignet sich für unterschiedliche Zielsetzungen: zur Information, zur Kon- sultation oder zur Mitbestimmung. Er empfiehlt sich aber besonders für komplexe Fra- gestellungen, bei denen ganz unterschiedliche Interessen aufeinander treffen. Mögliche Einsatzgebiete sind das Sammeln von Ideen und die Bündelung von Kommunikati- on und Energien, das Entwickeln von Visionen und die Gestaltung der Zukunft, die Bearbeitung von Konflikten und die Integration von Standpunkten, das Einholen von Meinungen und die Aktivierung von Bürgern, die Initiierung von Planungsprozessen und die gestaltende Begleitung von derartigen Prozessen. Je komplexer die Probleme, desto geeigneter sind Bürgerräte und andere Formen der partizipativen Demokratie. Wesentliche Voraussetzung allerdings ist die Wertschätzung gegenüber dem Engage- ment der Bürger durch die Politik. Die Vorteile partizipativer Demokratie liegen auf der Hand, nicht nur für die Politik, son- dern auch für die Verwaltung: Sie führt zu einer höheren Qualität der Ergebnisse, weil vielfältige Sichtweisen und Bedürfnisse im Vorfeld in den Entscheidungsprozess ein- fließen. Unterschiedlichste Bürger, per Zufall ausgewählt, erarbeiten gemeinsam eine Entscheidungsgrundlage für die gewählten Repräsentanten auf Gemeinde- oder Lan- desebene. Partizipative Demokratie führt dadurch zu höherem Vertrauen in Instituti- onen, vorausgesetzt diese setzen sich nicht kommentarlos über die Vorschläge der Bürgerräte hinweg. Ein weiterer Vorteil ist die höhere Legitimation der Entscheidungen, da die Festlegung nicht nur von den gewählten politischen Vertretern – die oftmals von der Bevölkerung als abgehoben und eigene Kaste empfunden werden – getroffen wird. Partizipative Demokratie führt auch zu einer höheren Identifikation im Umset- zungsprozess und zur höheren Selbstverpflichtung gegenüber Regelungen, an deren Entstehung die Bevölkerung in Form von Bürgerräten direkt miteingebunden war. Nicht zuletzt führt dies zu einer höheren Verantwortung gegenüber dem eigenen Umfeld, einem Gegengewicht zur oft beklagten gesellschaftlichen Entwicklung der Entsolidari- sierung. Erste Erfahrungen etwa in Villach zeigen, dass Bürger nach gewisser Skepsis und auch Zögern durchaus bereit sind, sich im Rahmen eines Bürgerrates zu engagieren. Sie er- fahren die Diskussionen und Workshops durchaus als bereichernd und freuen sich meist über die Anfrage bzw. die Gelegenheit, ihre Meinung einzubringen. Somit liegt es an den Politikern selbst und hier hauptsächlich bei den gewählten Volksvertretern, ob sie diese Prozesse zulassen und unterstützen wollen. Ein wichtiger Paradigmenwechsel ist allerdings Voraussetzung: Politik darf nicht (mehr) als Kampf von Interessen, sondern muss als Herstellung von Gemeinwohl verstanden werden. Für die bisher Herrschenden bedeutet Partizipation automatisch Machtverlust, aber eventuell Vertrauensgewinn.

Literaturhinweise: Karl Anderwald – Peter Filzmaier – Karl Hren (Hg.), Kärntner Jahrbuch zur Politik, Klagenfurt. Erscheint jährlich.

133 _1 Infrastruktur (wirtschaftliche) Entwicklung Raum _2 Kapitel 3 Vernetzung Nachbarn Dialog _3 Identität Erinnerungskultur _4 Demokratie- entwicklung _5 Migration Kap. 3_5

Wer kommt? Wer geht? Wer bleibt? – Migrationen von und nach Kärnten im 20. Jahrhundert

Wilhelm Wadl

Vorbemerkung Jeder Kärntner hat Vorfahren mit Migrationshintergrund – es kommt nur auf den Be- trachtungszeitraum an! Seit der römischen Okkupation des keltischen Fürstentums Noricum um 15 v. Chr. war die Geschichte Kärntens wiederholt von ethnogeneti- schen Umformungsprozessen geprägt. Die keltoromanische Restbevölkerung Nori- cums und die im 6. Jahrhundert eingewanderten Slawen verschmolzen zum Stamm der Karantanen und gründeten das erste slawisch dominierte Gemeinwesen in Europa. Mit der politischen Anlehnung der Karantanenfürsten an die Baiernherzöge setzte im 8. Jahrhundert eine Migrationsbewegung aus Bayern und anderen deutschen Gebie- ten ein. Die Rodung und der Siedlungsausbau im 10. bis 13. Jahrhundert waren dann eine Gemeinschaftsleistung bairischer und slawischer Siedler. Deren enges Nebenei- nander spiegelt sich bis heute in der Kärntner Namenlandschaft wider. Im Spätmittel- alter wurde der jeweils schwächere Bevölkerungsteil allmählich assimiliert und es kam zur Ausbildung deutsch- und slowenischsprachiger Landesteile. In weiten Bereichen blieb die Bevölkerung jedoch mehrsprachig. Unabhängig von der Sprache sahen sich alle Bewohner als Kärntner. Der humanistische Geschichtsschreiber Michael Gothard Christallnick hat dies im späten 16. Jahrhundert treffend beschrieben: „Dann es haben sich … die Windischen Khärndter mit den Deutschen in Khärndten also gewaltiglich vereiniget und under einander vermischet … daß aus ihnen beyden einerley Volck ist worden.“ Durch das Aufblühen der Städte und der Montanorte im Gebirge kam es im Spätmit- telalter zu einer beachtlichen Binnenmigration. Einzelne Montanorte, wie z. B. Bleiberg, hatten noch im 19. Jahrhundert mehr Einwohner als alle Kärntner Städte (Klagenfurt

135 Themenschwerpunkt Migration

ausgenommen). Kärntner Städte entlang viel frequentierter Handelsstraßen waren auch für auswärtige Zuwanderer attraktiv. Es sei nur an jene Nürnberger Handelsbürger (Gleismüllner, Kaltenhauser) erinnert, die den Dreinagelkult nach Kärnten transferierten, den geistig-religiösen Ursprung des Vierbergelaufes. Auch Juden begründeten in zahl- reichen Kärntner Städten beachtliche Gemeinden, wurden allerdings 1496 vertrieben. Klagenfurt, das nach der Schenkung von 1518 rasch anwuchs, lockte viele Zuwanderer an, die auch ein Faktor für die rasche Ausbreitung der Reformation waren. Die Gegenreformation löste ab 1600 mehrere Wellen an Zwangsmigrationen aus. Tau- sende Kärntner nahmen im 17. Jahrhundert ihr Recht auf Auswanderung in Anspruch und zogen in protestantische Territorien. 1628/1629 kam es dadurch auch zu einem erheblichen Austausch der adeligen Führungsschichten. Der protestantische Adel emi- grierte und wurde durch Zuwanderer aus katholischen Gebieten ersetzt (Niederlande: Goëss, Trentino: Lodron, Friaul: Porcia, Venedig: Widmann usw.). Im 18. Jahrhundert verweigerte der habsburgische Landesfürst seinen andersgläubigen Untertanen das Recht auf Emigration. Es kam zur Zwangsdeportation von Geheim- protestanten nach Siebenbürgen, andere flüchteten in die protestantischen Territorien Deutschlands. Migranten haben seit dem Spätmittelalter das Wirtschaftsleben in Kärnten ungemein bereichert. Klagenfurt ist noch heute geprägt von den Werken italienischer Renaissan- cebaumeister. Wesentliche Anstöße zur Frühindustrialisierung gingen von Migranten aus (Rosthorn aus England, Thys aus Belgien usw.). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigten sich Mobilität und Migration durch den Eisenbahnbau, aber auch durch den wirtschaftlichen Niedergang Kärntens (weitgehender Verfall der Montanindustrie), was zeitweilig sogar einen Bevölkerungs- rückgang auslöste.

Mobilität und Migration vor 100 Jahren Wie mobil war die Kärntner Bevölkerung vor rund 100 Jahren? Die Ergebnisse der Volkszählung von 1910 liefern dazu interessante Daten.

dauernd anwesende Zivilpersonen 382.689 100,0 % davon weniger als 1 Jahr Aufenthaltsdauer 60.599 15,8 % 1 und 2 Jahre Aufenthaltsdauer 52.232 13,6 % 3 und 4 Jahre Aufenthaltsdauer 39.363 10,3 % 5 bis 9 Jahre Aufenthaltsdauer 60.668 15,9 % 10 und mehr Jahre Aufenthaltsdauer 167.079 43,7 % Mobilität der unbekannt 2.748 0,7 % Kärntner Bevölkerung 1910.

Dies bedeutet, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung zwischen 1900 und 1910 ihren Aufenthaltsort gewechselt hatte. Der Großteil dieser Wanderungsbewegungen vollzog sich (z. B. beim Arbeitsplatzwechsel der ländlichen Dienstboten) in einem über- schaubaren örtlichen Radius, doch war auch die Migration zwischen den einzelnen Kronländern des Habsburgerreichs durchaus beachtlich.

136 Kap. 3_5

Herkunft der anwesen- Aufenthalt der 1910 den Bevölkerung Geburtsbevölkerung Kärnten 90,8 84,6 Steiermark 3,3 7,6 Krain 1,6 0,7 Niederösterreich (inkl. Wien) 0,6 2,7 Oberösterreich 0,2 0,3 Salzburg 0,1 0,6 Tirol 0,5 1,9 Triest 0,1 0,6 Görz 0,4 0,2 Istrien 0,1 0,3 Volkszählung 1910: Herkunft der Böhmen / Mähren / Schlesien 0,7 0,4 anwesenden Bevölkerung / Aufenthalt der Geburtsbevölkerung. Ausland 1,5 ?

Von den 1910 in Kärnten anwesenden Menschen waren 90,8 Prozent in Kärnten geboren, von den in Kärnten Geborenen lebten jedoch nur 84,6 Prozent im Lande. Gegenüber den meisten anderen Kronländern weist Kärnten, das schwer unter dem Niedergang der Montanindustrie litt, deutliche Wanderungsverluste auf. Besonders aus- geprägt ist dies im Verhältnis zur Steiermark. Obwohl aus den ländlichen Regionen der Untersteiermark viele Menschen nach Kärnten einwanderten, konnte dies die massive Abwanderung in die obersteirischen Industriegebiete in keiner Weise kompensieren. Ei- nen positiven Wanderungssaldo gibt es zu den böhmischen Ländern. Sudetendeutsche Zuwanderer haben in Kärnten in Politik (Florian Gröger, Hans Piesch) und Kultur (Anton Kolig) bald Bedeutung erlangt.

Auch für Zuwanderer aus ländlichen Armutsregionen Krains und des Küstenlandes war das Nachbarland Kärnten attraktiv, vor allem aber auch für Migranten aus den Bergge- bieten Friauls, von wo der Großteil der ausländischen Zuwanderer stammte. Letztere siedelten sich bevorzugt in Orten entlang der Bahnlinien an, waren auf einzelne Wirt- schaftszweige konzentriert (Bauwesen, Ziegeleien, Holzhandel, Sägewerke usw.) und sind dort bis heute im lokalen Namengut stark vertreten.

Adami De Cillia Fabbro Assaloni De Monte Faleschini Azola De Zordo Missoni Buttazoni (34) Della Pietra Rizzoli Colavizza (8) Di Bernardo Roseano Collino (8) Dionisio Simonitti Ein kleiner Auszug aus dem Telefonbuch von Feldkirchen (2010). Costisella Dorighi Virgolini (15)

Die Auswanderung aus Kärnten erfolgte im frühen 20. Jahrhundert auch schon stark in die großen Städte anderer Kronländer.

137 Themenschwerpunkt Migration

Wien 8358 Laibach / Ljubljana 615 Graz 7703 Görz / Gorizia 561 Triest / Trieste 2439 Pola / Pula 543 Gebürtige Kärntner in großen Städten Innsbruck 1710 der Habsburgermonarchie (1910).

Fluchtbewegungen im und nach dem Ersten Weltkrieg Mit dem Kriegseintritt Italiens wurde Kärnten im Mai 1915 direkter Leidtragender der kriegerischen Auseinandersetzungen. Besonders stark betroffen war das Kanaltal, das völlig verwüstet und dessen Zivil- bevölkerung fast zur Gänze umgesiedelt wurde. Auch aus Frontgebie- ten des Küstenlandes kamen zahlreiche Zivilflüchtlinge nach Kärnten.

In Wolfsberg wurde ein großes Lager für Zivilisten aus Galizien errich- tet, die vor den russischen Truppen geflohen waren. In diesem „Ru- thenenlager“ lebten zeitweilig über 7.000 ukrainische Zivilflüchtlinge. Bezogen auf die damalige Bevölkerungszahl der Stadt entsprach dies einer „Flüchtlingsquote“ von über 200 Prozent!

Freilich dachte damals niemand daran, diese Flüchtlinge zu integrieren, und tatsächlich kehrten sie 1917 restlos in ihre Heimat zurück. Die Lagerstadt wurde im Spätherbst 1917 abgebaut und die Baracken ins Kanaltal transferiert, um die dortige Bevölkerung nach der Zurückdrän- gung der Italiener beim Wiederaufbau zu unterstützen. Wolfsbach (heute: Valbruna) im Kanaltal nach dem Wenig beachtet blieb lange in der Literatur, wie groß die Fluchtbewegungen im Ver- italienischen Artilleriebeschuss (1915). lauf des Kärntner Abwehrkampfes waren. Thomas Zeloth hat dieses Thema erst 2014 Foto: KLA. umfassend behandelt. 4.804 Menschen flohen 1919 aus der jugoslawisch besetzten Abstimmungszone I (A), weitere 325 aus jenen Gebieten Kärn- tens, die aufgrund des Staats- vertrags von St. Germain an Jugoslawien fielen, so z. B. 95 Menschen aus Unterdrauburg/ Dravograd (= 11,5 Prozent der Bevölkerung). Diese Fluchtbe- wegung erfolgte sehr unein- heitlich. Aus Völkermarkt floh ein Viertel der Gesamtbevölkerung, aus Bleiburg mehr als ein Fünftel. Insgesamt 15 Abstimmungsge- meinden hatten einen Flücht-

lingsanteil von mehr als sieben Die Kirche im Ruthenenlager in Wolfsberg. Prozent der Gesamtbevölkerung. Foto: Katalog Lagerstadt Wolfsberg.

138 Kap. 3_5

Flüchtlinge ausgewählter Kärntner Einwohner 1910 Flüchtlinge % der Bevölkerung Gemeinden 1919/1920. 1919/1920 Völkermarkt 2631 683 26,0 Bleiburg 1070 226 21,1 Tainach 597 108 18,1 Lavamünd 1548 263 17,0 Rosegg 612 96 15,7 St. Jakob im Rosental 3554 400 11,3 Eisenkappel 1176 129 11,0 Haimburg 1505 157 10,4 Unterloibl 1597 146 9,1 Maria Rain 1056 94 8,9 Unterferlach 1100 88 8,0 Ferlach 3194 242 7,6 Ledenitzen 1184 87 7,3 Waisenberg 2873 207 7,2 Ruden 1534 111 7,2

nach: Thomas Zeloth, Kärntner Kriegsflüchtlinge 1918–1920, in: Carinthia I 2014, S. 343 ff.

Angesichts dieser Zahlen wird verständlich, warum die Rückkehr und Teilnahme dieser Flüchtlinge an der Abstimmung so ent- scheidend für den Ausgang des Plebiszits war.

Vergleichsweise gering war die Zahl jener Personen, die nach dem 10. Oktober 1920 nach Jugoslawien auswanderten. Für die slowenische Volksgruppe war der Wegzug einiger Dutzend Priester, Lehrer und Beamter trotzdem ein schmerzlicher Verlust.

Neue Grenzen – beschränkte Möglichkeiten Durch die Grenzziehung von St. Germain wurden die bislang in- tensiven Verbindungen zwischen Kärnten und seinen südlichen Blick in einen zu Wohnraum und Nachbarländern gekappt. Arbeitsmigration war nur noch eingeschränkt möglich. In den Küche ausgebauten Flüchtlingswaggon am Bahnhof Sachsenburg. 1920er- und 1930er-Jahren kam es sogar zur Abschiebung ausländischer Arbeits- Er beherbergte Flüchtlinge kräfte; selbst deutsche Staatsangehörige waren davon betroffen. Die wirtschaftliche aus Eisenkappel. Not beflügelte in den frühen 1920er-Jahren zeitweilig auch die Auswanderung nach Foto: KLA. Amerika (z. B. aus dem Unteren Gailtal). Die Wanderungsbilanz Kärntens in der Zwi- schenkriegszeit war markant negativ. Trotzdem gab es einige ganz spezifische Zuwan- derergruppen. Der Zuzug von Konfessionsjuden während und kurz nach dem Welt- krieg ermöglichte 1923 die Gründung einer Israelitischen Kultusgemeinde für Kärnten in Klagenfurt. Bulgarische Gärtner kamen nach Klagenfurt und sind nun schon in drit- ter Generation längst voll integriert. Aus nationalpolitischen Erwägungen förderte man die Einwanderung reichsdeutscher Siedler, aus denen bemerkenswerte Vertreter des Kärntner Kulturlebens hervorgehen sollten (Udo Jürgens, Werner Berg).

139 Themenschwerpunkt Migration

Zwangsmigrationen in der NS-Zeit Im Zweiten Weltkrieg kamen unzählige Men- schen zwangsweise nach Kärnten. Allein im STALAG XVIIIA in Wolfsberg waren über 38.000 alliierte Kriegsgefangene registriert. Dazu kamen zehntausende zivile Zwangsarbeiter (Polen, Franzosen, Russen, Italiener, Slowenen etc.). Auch von der verbrecherischen NS-Volkstums- politik war Kärnten stark betroffen. Als Folge des Hitler-Mussolini-Abkommens von 1939 wurden bis Ende 1942 rund 6.000 Kanaltaler und Süd- tiroler, die für das Deutsche Reich optiert hat- ten, nach Kärnten „umgesiedelt“. Für sie wur- den insgesamt 2.200 Wohnungen errichtet. Die Ankunft von Kanaltaler „Optanten“ Kanaltaler-Siedlung in Klagenfurt ist heute noch ein markantes Stadtviertel. in Klagenfurt, 1941. Foto: Deutsches Bundesarchiv Berlin.

Den grundbesitzenden „volksdeutschen Umsiedlern“ aus dem Kanaltal und aus Südtirol hatte man „Höfe“ und „Herdstellen“ versprochen. Diese waren am freien Immobilien- markt nicht aufzutreiben. Daher schritt man zu Gewaltmitteln. Im April 1942 wurden Zur Deportation bestimmte Kärntner Slowenen im RAD-Lager Ebenthal, 917 Kärntner Slowenen von ihren Höfen vertrieben und nach Deutschland deportiert. April 1942. Foto: KLA.

140 Kap. 3_5

Eine Völkerwanderung nie gekannten Ausmaßes Der Mai 1945 brachte Kärnten eine Völkerwanderung nie gekannten Ausmaßes. Mit den ins Land strömen- den Truppeneinheiten unterschiedlichster Nationalität kamen auch zehntausende Zivilflüchtlinge und Vertrie- bene. Tausende Schutzsuchende (Kosaken, kroatische Ustascha- und slowenische Domobraneneinheiten) wurden von den Briten zwangsrepatriiert und in den Tod geschickt. Andere Gruppen wurden in organisier- ten Transporten außer Landes gebracht. Die Heimkehr der alliierten Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiter brachte nur partielle Erleichterungen. Viele ehemalige Improvisiertes Flüchtlingslager bei Zwangsarbeiter weigerten sich, in ihre unter kommunistischer Herrschaft stehenden Grafenstein, Mai 1945. Heimatländer zurückzukehren. Foto: KLA.

Viele Kärntner sahen in den Flüchtlingen nach 1945 eine Landplage. Es herrschte ver- ständlicherweise Brotneid. Die Versorgung in den Lagern war zeitweilig besser als jene der Einheimischen. Schwarzhandel und Lebensmitteldiebstahl waren im Umfeld der Lager ungeahndete Massendelikte. Obwohl alljährlich tausende Flüchtlinge emigrierten, kam jahrelang permanenter Nachschub an Vertriebenen und Flüchtlingen vom Balkan. Daher leerten sich die Lager nur sehr langsam. Ende 1945 hielten sich noch mehr als 54.000 zivile Flüchtlinge in Kärnten auf. Das waren mehr als 10 Prozent der anwe- Auswandererzug, Villach, 4. März 1949. senden Bevölkerung! Im Herbst 1950 zählte man noch immer 32.000 Flüchtlinge und Foto: KLA. 1955 – im Jahr des Österreichischen Staatsvertrags – über 14.000.

141 Themenschwerpunkt Migration

60000 54.000

50000

40000 40.584 33.888

30000 32.073 26.313

18.235 20000 21.259 14.150 15.951 9.977 Flüchtlinge in Kärnten 1945–1960. 10000 5.281 Quelle: Statistisches Handbuch des 10.715 Landes Kärnten 8 (1962); 6.716 4.293 0 Bevölkerungsbewegung in Kärnten 1945* 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1869-1949; 1945: Schätzung.

Ab den 1950er-Jahren entstanden auf dem Gelände der großen Flüchtlingslager mo- derne Wohnsiedlungen und Einfamilienhäuser. Die typischen „Flüchtlingsgemeinden“ der Nachkriegszeit waren durch ein erhebliches Bevölkerungswachstum geprägt, so insbesondere Paternion, das seine Einwohnerzahl zwischen 1939 und 1951 mehr als verdoppelte.

9.000

8.000

7.000

6.000

5.000

4.000

3.000

2.000

1.000

0 1869 1880 1890 1900 1910 1923 1934 1939 1951 1961 1971 1981 1991 2001 2011 2015

Die „Umsiedler“ der NS-Zeit und die Flüchtlinge der Nachkriegszeit wurden zwischen Bevölkerungsentwicklung der 1946 und 1956 in großer Zahl eingebürgert. Danach sanken die jährlichen Einbürge- „Flüchtlingsgemeinde“ Paternion. Quelle: ÖSTAT, Ein Blick auf die rungszahlen in Kärnten rasch auf unter 500. Insgesamt wurden in Kärnten seit 1945 Gemeinde. über 54.000 Menschen eingebürgert.

142 Kap. 3_5

5000 4500 4000 3500 3000 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 1972 1974 1952 1976 2012 1962 1992 1978 1982 1956 1970 1954 1966 1996 1958 2014 1946 1964 1994 1968 1986 1950 1998 2010 1948 1984 1960 1990 1988 1980 2002 2006 2004 2008 2000

Einbürgerungen in Kärnten Ab November 1956 wurden zwar insgesamt 8.539 Ungarnflüchtlinge in Kärnten un- 1946–2014. tergebracht; zwei Monate später waren 4.500 von ihnen schon ins Ausland (großteils Quelle: Statistisches Handbuch nach Übersee) emigriert! Insgesamt haben sich von den 180.000 nach Österreich ge- des Landes Kärnten 55 (2010), S. 63 und 60 (2014). flohenen Ungarn nur 18.000 hier dauerhaft niedergelassen.

Vom jugoslawischen Bürgerkrieg bis zur Gegenwart Im Gegensatz dazu sind von den 90.000 Bosnienflüchtlingen der 1990er-Jahre zwei Drittel in Österreich verblieben. Von diesen Zuwanderern aus Ex-Jugoslawien war Kärn- ten stark betroffen. Die Einbürgerungszahlen stiegen daher in Kärnten zehn Jahre nach dem jugoslawischen Bürgerkrieg stark an. Allein 2004 gab es fast 1.600 Einbürgerun- gen, in der großen Mehrheit Exjugoslawen. Diese Neubürger hatten den Willen, sich in Österreich eine neue Existenz aufzubauen. Sie strebten selbst nach rascher Integration. Sie waren gut qualifiziert und füllten Lücken in handwerklichen Berufen auf. In Kärnten haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass der Bevölkerungsrückgang nicht noch ärger ausgefallen ist.

1800

1600

1400

1200

1000

800

600

400 Einbürgerungen in Kärnten Ex-Jugoslawen 2000-2009. 200 Quelle: Statistisches Handbuch des 0 Landes Kärnten 55 (2010), S. 63. 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Einbürgerungen gesamt

143 Themenschwerpunkt Migration

Die zeitweise chaotisch wirkenden Ereignisse des Jahres 2015 mit den hunderttausen- den Transitmigranten sind nur mit der Völkerwanderung des Jahres 1945 vergleichbar. Die Zahl der in Kärnten längerfristig untergebrachten Asylwerber lag jedoch in den letz- ten Jahren stets weit unter jenen Flüchtlingszahlen, die Kärnten nach 1945 über viele Jahre bewältigen musste. Freilich waren die Versorgungsansprüche der Schutzsuchen- den damals vergleichsweise bescheiden. Die Aufnahmebereitschaft der klassischen Auswanderungsländer war weit höher als heute, und die kulturelle Homogenität er- leichterte die Integration der im Land verbliebenen Flüchtlinge. Der große Männerüberhang und die geringe durchschnittliche Bildung werden die Inte- gration der heutigen Flüchtlinge sicher sehr erschweren. Dazu kommen riesige Gegen- sätze in den kulturellen Mentalitäten. Der demokratisch-säkulare Wertekanon unserer Gesellschaft und die konservative islamische Einstellung eines Teiles der Migranten er- scheinen grundsätzlich unvereinbar. Asylwerberzahlen allein sagen noch wenig aus über die Zahl derer, die sich dauerhaft niederlassen werden. Im Gegensatz zu den Jugoslawienflüchtlingen dürften nur weni- ge der gegenwärtigen Asylwerber nach Abschluss ihrer Verfahren dauerhaft in Kärnten bleiben. Die längerfristigen Integrationsprobleme dürften sich daher rasch nach Wien und in andere urbane Zentren Österreichs verlagern. Dass Kärnten angesichts der negativen demografischen Prognosen und der zuneh- menden Überalterung der Bevölkerung qualifizierte Zuwanderer dringend benötigt, ist unbestritten.

Literaturhinweise:

Thomas Zeloth, Bevölkerungsbewegung und Wirtschaftswandel in Kärnten 1918–2001. Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 86. Klagenfurt 2002.

Gabriela Stieber, Flüchtlingsnot und Flüchtlingshilfe in Kärnten nach 1945. Klagenfurt 1999.

Igor Pucker – Christian Klösch (Hg.), Lagerstadt Wolfsberg. Flüchtlinge – Gefangene – Internierte. Wolfsberg 2013.

Thomas Zeloth, Kärntner Kriegsflüchtlinge 1918–1920, in: Carinthia I 2014, S. 343–368.

144 Kap. 3_5

Vielfältiges Kärnten – Perspektiven für die Zukunft

Marika Gruber

Migration – ein Überblick Arbeitskräftemobilität, Familiennachzug, Studierendenmobilität, wirtschafts-/armuts- bedingte Migration, Asylsuche, Wohlstandsmigration, GastarbeiterInnenzuwanderung, klimabedingte Migration, Rückwanderung von ÖsterreicherInnen – es gibt viele Formen der Migration und unterschiedliche Gründe, um zu- oder abzuwandern. Migration wird nach dem Soziologen Petrus Han „… durch eine Vielzahl zusammenhängender Ursa- chen und Zwänge kultureller, politischer, wirtschaftlicher, religiöser, demographischer, ökologischer, ethnischer und sozialer Art ausgelöst.“ Migration beruht meist auf einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren, sowohl auf gesellschaftlicher wie auch auf indivi- dueller Ebene. Daher greift eine monokausale Erklärung vielfach zu kurz. Generell kann zwischen freiwilliger und erzwungener Migration (Flucht, Vertreibung) unterschieden werden, doch sind die Gründe oft derart miteinander verflochten, dass eine klare Ab- grenzung nicht möglich ist.

ZuwanderInnen bringen oft ein ganzes Bündel an Neuem mit: unterschiedliche Spra- chen, andere kulturelle Gepflogenheiten, verschiedene Religionen, andere Lebensstile und Weltanschauungen, unterschiedliches Know-how und verschiedene Professionen und Fertigkeiten; in ihrem Rucksack gepackt sind meist auch Neugierde, Mut und Moti- vation, die Suche nach neuen, besseren Perspektiven, aber oft auch Traumatisierungen, Kriegsverletzungen, Verwundungen der Ausbeutung oder Schändung, Bildungsarmut und wirtschaftliche Armut.

Die verschiedenen Formen der Zuwanderung bringen unterschiedliche Menschen und Biographien mit sich, die von den Zuwanderungsländern nicht in gleicher Weise ge- wollt sind. Demzufolge sind auch die ZuwanderInnen unterschiedlich willkommen. Die einzelnen Arten der Zuwanderung stellen auch unterschiedliche Herausforderungen an die ansässige Gesellschaft.

Was in politischer Polemik oft einfach als „Ausländer“ bezeichnet wird, wird vom ös- terreichischen Rechtssystem eingeteilt in „Fremde“ (= Personen ohne österreichische

145 Themenschwerpunkt Migration

Staatsbürgerschaft = AusländerInnen; siehe dazu z. B. § 1 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG), „AsylwerberInnen“ (Personen, die um Asyl ansuchen; sie- he dazu Asylgesetz 2005; Grundversorgungsgesetz 2005), anerkannte „Flüchtlinge“ (siehe dazu die Genfer Flüchtlingskonvention) oder „Eingebürgerte“ (Personen, die nach dem Erfüllen bestimmter Voraussetzungen die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen bekommen; siehe dazu Staatsbürgerschaftsgesetz 1985). Auch die Statistik kennt zur Beschreibung der internationalen ZuwanderInnen unterschiedliche Bezeich- nungen: AusländerInnen/ausländische Staatsangehörige/Personen ohne österrei- chischen Pass, im Ausland Geborene, Personen ausländischer Herkunft, Personen mit Migrationshintergrund. All diese Bezeichnungen sagen jedoch nichts über Zugehörig- keit und Fremdheit aus.

Kärntens interkulturelle Vielfalt Migrationsbewegungen haben auch Kärnten über die Jahre hinweg interkulturell vielfältiger gemacht. Zu Jahresbeginn 2017 umfasst Kärntens Bevölkerung 561.077 EinwohnerInnen. 56.099 davon (ca. 10 Prozent) sind AusländerInnen, also Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die aus mehr als 140 verschiedenen Nati- onen stammen. Die überwiegende Mehrheit der AusländerInnen, 33.789 Personen (60,2 Prozent), sind EU-BürgerInnen. 39,8 Prozent (22.310 Personen) sind Drittstaats- angehörige, also Personen, die nicht der Europäischen Union angehören. Die meisten ausländischen Staatsangehörigen (nach Einzelnationen betrachtet) sind Deutsche, ge- folgt von Staatsangehörigen des ehemaligen Jugoslawien (Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Slowenien). Würden Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien (EU- und Nicht-EU-BürgerInnen) gesammelt betrachtet werden, wäre ihr Anteil der Größte.

15 häufigste Nationalitäten in Kärnten Staatsangehörigkeit Anzahl (Anteil an der ausländ. Bevölkerung) Deutschland 10.957 (19,5 %) Bosnien und Herzegowina 7.491 (13,5 %) Kroatien 5.411 (9,6 %) Slowenien 4.235 (7,5 %) Rumänien 3.115 (5,6%) Italien 2.572 (4,6 %) Afghanistan 2.515 (4,5 %) Ungarn 2.300 (4,1 %) Serbien 1.670 (3,0 %) Syrien 1.386 (2,5 %) Russische Föderation 1.145 (2,0 %) Niederlande 899 (1,6 %) Türkei 863 (1,5 %) Häufigste Staatsangehörigkeiten. Irak 647 (1,2 %) Quelle: Eigene Darstellung; zu den Schweiz 608 (1,1 %) Zahlen vgl. Statistik Austria (2017).

146 Kap. 3_5

Zahl und Anteil der Personen mit Migrationshintergrund sind im Vergleich zur Zahl und zum Anteil der AusländerInnen höher. Denn in der Zahl der Personen mit Migrations- hintergrund sind nicht nur die nicht-österreichischen StaatsbürgerInnen enthalten, son- dern auch jene Personen, die bereits in Österreich geboren oder bereits eingebürgert wurden, aber Eltern haben, die selbst im Ausland geboren sind. In Kärnten hatten im Jahresdurchschnitt 2016 rund 68.400 Personen einen Migrationshintergrund, das sind ca. 12,4 Prozent der Bevölkerung.

Die internationale Zuwanderung hat dazu geführt, dass der AusländerInnen-Anteil über die Jahre hinweg stetig angestiegen ist. Anfang der 1960er-Jahre hatte Kärnten – ähnlich wie Gesamt-Österreich – einen niedrigen AusländerInnen-Anteil von rund 1,5 Prozent (ca. 7.600 Personen). Obwohl die Zuwanderungsentwicklung Kärntens ähnlich der von Gesamt-Österreich ist, erreichte dennoch der AusländerInnen-Anteil mit An- fang 2017 – selbst nach der starken fluchtbedingten Zuwanderung 2015/16 insbe- sondere aus Syrien, Afghanistan und Irak – lediglich rund 10 Prozent. Im Vergleich dazu lebten am 1.1.2017 in Österreich knapp 1,342 Millionen ausländi- sche Staatsangehörige, was einem Anteil von 15,3 Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht (vgl. Statistik Austria/Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres 2017). Für den Anstieg des AusländerInnenanteils sind im Wesentlichen drei Ereignis- se verantwortlich: 1. GastarbeiterInnen-Zuwanderung in den 1960er-/1970er-Jahren; 2. Zuwanderung aufgrund der Jugoslawienkrise, Fall des Eisernen Vorhangs und Aus- wirkungen der guten konjunkturellen Lage zwischen 1989–1993; 3. Verstärkte Zu- wanderung aus der Europäischen Union seit den 2000er-Jahren. Zuletzt war der An- stieg auch durch die Zahl der Asylsuchenden mitbestimmt.

12

10 10,0%

8 9,0%

7,8% 6 6,3% 6,0% 5,3% 4

Entwicklung des AusländerInnen- 2 1,5% 2,8% Anteils in Kärnten in Prozent zwischen 2,1% 2,1% 1,5% 1961 und 2017. 1,6% Quelle: Eigene Darstellung; zu den 0 Zahlen vgl. Statistik Austria (2017), 1971 1961 2011 1991 1981 1977 1973 1975 1967 1997 1979 2013 1963 1987 1993 2015 1965 1995 1983 1999 1985 1989 2001 2007 2003 2005 eigene Berechnungen. 2009 2017**

Der Bundesländervergleich zeigt, dass Kärntens AusländerInnen-Anteil für die Jahre 2014 (vor der starken fluchtbedingten Zuwanderung) und 2017 (nach der starken Fluchtzuwanderung) mit 8,1 Prozent (2014) bzw. 10,0 Prozent (2017) im unteren

147 Themenschwerpunkt Migration

Drittel bzw. Mittelfeld liegt. Niedrigere AusländerInnen-Anteile weisen nur Burgenland und Niederösterreich auf, vergleichsweise hohe hingegen – abgesehen von Wien (2014: 24,2 Prozent; 2017: 28,6 Prozent) – Salzburg und Vorarlberg. Kärntens Aus- länderInnen-Anteil hat nach der starken fluchtbedingten Zuwanderung weniger zuge- nommen als in anderen Bundesländern. Ein Grund dafür kann darin liegen, dass viele Personen nach Erhalt einer Asylberechtigung in andere Bundesländer mit der Erwar- tung abwandern, u. a. auf ethnische Netzwerke einer bereits etablierten Community zurückgreifen zu können und ein größeres Arbeitsplatzangebot vorzufinden. Mehr als 95 Prozent der AsylwerberInnen, die Asyl zuerkannt bekommen, ziehen in den darauf- folgenden Monaten aus Kärnten weg, wie Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser in der dritten Integrationskonferenz des Landes Kärnten als Problembereich hervorhebt. Dadurch werden beispielsweise innovative Konzepte der Lehrlingsausbildung für junge AsylwerberInnen und -berechtigte konterkariert.

30 28,6

25 24,2

2014 2017 20

16,9 16,2 15,3 15,0 15 14,3 13,7 12,5 12,4 11,8 10,2 10,0 10 9,7 9,4 8,5 8,1 8,0 7,7 6,8 5

0

Ö B K NÖ OÖ S St T V W

AusländerInnen-Anteil im Bundes- ländervergleich, 2014 und 2017 (in Demographische Zukunft Kärntens Prozent). Die Bevölkerungsprognose der Statistik Austria nach dem Hauptszenario 2016– Quelle: Eigene Darstellung; zu den 2100 sagt für Österreich einen Zuwachs an 1.361.414 Personen bis zum Jahr Zahlen vgl. Statistik Austria (2017). 2100 voraus. Auffallend dabei ist, dass zwar die Zahl der unter 20-Jährigen abso- lut gesehen zunimmt, ihr Anteil an der Bevölkerung jedoch kontinuierlich abnimmt (-0,8 Prozentpunkte). Relational zurück geht auch der Anteil der Bevölkerung zwi- schen 20 und 64 Jahren, die den Großteil der Erwerbsbevölkerung ausmacht (-10,1 Prozentpunkte). Anteilsmäßig nimmt bis 2100 nur die Bevölkerung ab 65 Jahren zu (+10,9 Prozentpunkte, vgl. Statistik Austria 2017). Für Kärnten zeichnet sich bevölkerungsmäßig ein etwas anderer Trend ab. Anders wie für Gesamt- Österreich wird die Bevölkerung in Kärnten nicht zu-, sondern abnehmen. Zwi- schen 2017 und 2021 stagniert die Bevölkerung in Kärnten bzw. nimmt leicht zu, zwischen 2021 und 2030 wird ein stärkeres Bevölkerungswachstum auf 563.480

148 Kap. 3_5

Personen prognostiziert. Danach nimmt die Bevölkerung kontinuierlich ab. Im Ver- gleich zum Ausgangsjahr 2016 wird die Bevölkerung im Jahr 2100 um 20.835 Menschen weniger betragen. Der Anteil der unter 20-Jährigen wird in Kärnten laufend und stärker zurückgehen (-1,4 Prozentpunkte) als für Gesamt-Österreich. Auch der Anteil der 20- bis 64-Jährigen nimmt vergleichsmäßig stärker ab (-11,1 Prozentpunkte). Nur der Anteil der älteren Menschen ab 65 Jahren wird um 12,5 Prozentpunkte bis 2100 zunehmen (vgl. Statistik Austria 2017). Hinzu kommt eine kontinuierliche negative Geburtenbilanz (die Zahl der Sterbefälle überwiegt die Zahl der Geburten). Während die Außenwanderungsbilanz (mehr Zuwande- rung aus dem Ausland als Abwanderung in das Ausland) auch für die Zukunft kontinuierlich positiv sein wird und zunimmt (ca. 2.300 Personen im Jahr 2018, rund 2.400 Personen im Jahr 2030, ca. 2.500 Personen im Jahr 2060 und im Jahr 2100), ist die Binnenwanderungsbilanz (Zuwanderung nach Kärnten abzüglich der Abwanderung in ein anderes österreichisches Bundesland) voraussichtlich bis zum Jahr 2071 – zuerst stärker, dann nur mehr leicht – negativ. Ab 2071 wird auch für Kärnten ein positiver Binnenwanderungssaldo, der kontinuierlich zunimmt, pro- gnostiziert. Obwohl der Gesamtwanderungssaldo (Außenwanderungssaldo plus Binnenwanderungssaldo) positiv ist, überwiegt die negative Geburtenbilanz die- sen so stark, dass bis zum Jahr 2070 Kärnten mit Bevölkerungsverlusten rechnen muss (vgl. Statistik Austria 2017). Wie die nachfolgende Grafik zeigt, ist Kärnten voraussichtlich das einzige Bundesland, dessen Bevölkerung langfristig schrumpft.

Österr. Bgld. Ktn. NÖ OÖ Sbg. Stmk. Tirol Vbg. Indexwert (Basisjahr 2016) (Basisjahr Indexwert Wien 2017 2077 2027 2072 2037 2022 2032 2057 2047 2052 2067 2062 2042 2080

Bevölkerungsentwicklung nach Die Bevölkerungsverluste gehen mit einer Reihe von weiteren Veränderungen Bundesländern einher, die auch große gesellschaftliche Herausforderungen bedeuten. In den 2016 bis 2080 mittlere Variante. Quelle: Statistik Austria 2017. Gemeinden sind die Auswirkungen des demographischen Wandels am unmit- telbarsten spürbar. Sie werden u. a. sichtbar in einem geringeren Bedarf an Kin- derbetreuungseinrichtungen, Kindergarten- und Schulplätzen (bis hin zu Klas- senzusammenlegungen und Schulschließungen) und einer steigenden Zahl an betreuungsbedürftigen SeniorInnen. Auswirkungen zeigt die veränderte Bevöl-

149 Themenschwerpunkt Migration

kerungszusammensetzung und -abnahme in gewissen Regionen auch auf Ver- kehr, Infrastruktureinrichtungen und Versorgungsangebote wie Wasserver- und -entsorgung. Daraus ergeben sich weitere Fragestellungen, wie z. B.: Wie können die Nahversorgung und der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in ländlichen Abwanderungsregionen gesichert werden? Welche Gesundheitsversorgung wird zukünftig gebraucht werden? Wie können Innovation und eine gute wirtschaftliche Entwicklung bei teilweise mangelndem Arbeitskräftepotential gefördert werden? Wie kann ein aktives gesellschaftliches Leben – auch am Land – aufrechterhalten werden? Und: Welche Chancen und Herausforderungen bringt internationale Zu- wanderung für Kärnten mit sich?

Interkulturalität: Herausforderung und Chance In der Koalitionsvereinbarung 2013–2018 der Kärntner Landesregierung wurde die Entwicklung eines Integrationsleitbildes für Kärnten beschlossen. Die vorhan- dene und steigende Interkulturalität im Land hat es erforderlich gemacht, sich verstärkt über Fragen eines guten Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft zu verständigen.

Der Integrationsleitbildprozess dauerte zwei Jahre (2014–2016) und war als breiter, par- tizipativer und diskursiver BürgerInnenbeteili- gungsprozess konzipiert, der auf den Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung basiert. Ziel des Prozesses war es, ein Integrationsleitbild zu ent- wickeln, das Steuerungsinstrument und Orien- tierungsrahmen für die zukünftige Ausrichtung der Integrationspolitik sowie -arbeit in Kärnten ist, zu einem positiven Zusammenleben zwi- schen bereits ansässiger und zugewanderter Bevölkerung beiträgt und Handlungsansätze für die aktuelle fluchtbedingte Zuwanderung bietet. Der Integrationsleitbildpro- Soldaten geben in Klagenfurt zess Kärnten war getragen von den Eckpfeilern aktiver Öffentlichkeitsbeteiligung, Essen an Flüchtlinge aus, Herbst 2015. Transparenz, Meinungsvielfalt und Qualitätssicherung. In unterschiedlichen Orten Foto: Bundesheer/Arno Pusca. der Mitbestimmung, wie den landesweiten Integrationskonferenzen, den hand- lungsfeldorientierten Arbeitskreisen oder den regionalen Bezirkskonferenzen be- arbeiteten VertreterInnen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Bildungssektor und Forschung, Sozialpartnern, Vereinen, NGOs und der Zivilgesellschaft unterschied- liche Themenstellungen, die wichtige Inhalte für die Integrationsleitbilderstellung lieferten. Im Zuge der Erarbeitung des Integrationsleitbildes wurde auch eine Inte- grationslandkarte erstellt, die einen ersten Überblick über die Vielfalt der integrati- onsfördernden NGOs und ehrenamtlichen Vereine in Kärnten gibt, da sie oft eine wichtige Brücken- und Vermittlungsrolle zwischen ZuwanderInnen und Behörden einnehmen. Ihre Arbeit ist eine wertvolle Ressource für das Land.

150 Kap. 3_5

AsylwerberInnen und Asylberechtigte stehen vor anderen Herausforderungen wie Personen, die beispielsweise aufgrund von Familiennachzug nach Kärnten kommen oder eine Tätigkeit als SpezialistIn in einem der großen Technologieun- ternehmen Kärntens aufnehmen. Doch nicht nur die Personen, die zuwandern, stehen vor Herausforderungen. Auch auf das Land Kärnten, die Gemeinden und die ansässige Gesellschaft kommen neue Fragen zu: Wie kann mit Fremdem/ Fremden umgegangen werden? Welche Art von Integration soll es geben? Ist eher eine Anpassung der ZuwanderInnen an die hiesigen Gepflogenheiten ge- wünscht oder soll es in Richtung eines gegenseitigen Lernens und einer Ver- flechtung von kulturellen Praktiken der ansässigen und zugewanderten Bevölke- rung im Sinne der Verwirklichung eines transkulturellen Lebens gehen? Welche Rolle können/sollen Vereine und BürgermeisterInnen (insbesondere im ländlichen Raum) im mehrdimensionalen Integrationsprozess einnehmen? Wie kann mit dem Spannungsverhältnis zwischen „Brauchen und Wollen“ in Bezug auf die in- ternationale Zuwanderung umgegangen werden? Viele Gemeinden stehen noch dazu vor der Herausforderung eines engen finanziellen Spielraums, was das An- gebot von integrationsfördernden Angeboten und die Einrichtung von spezialisier- ten Integrationsbüros erschwert. Migration ruft sowohl akute (z. B. Unterbringung von einer größeren Zahl an AsylwerberInnen) wie auch längerfristige Fragen (z. B. Qualifizierung und Beschäftigung von Asylberechtigen) hervor.

(Internationale) Zuwanderung bringt aber auch vielfältige Chancen für das Land. Insbesondere die ländlichen, vom demographischen Wandel betroffenen Regio- nen können von Zuwanderung profitieren, z. B.: • Stabilisierung der Bevölkerungszahlen und Abfederung der negativen Geburten- bilanzen, • Aufrechterhaltung der lokalen Infrastruktur (u. a. Kindergarten, Schule, Nahversor- gung), • Abfederung der Überalterung der Bevölkerung, da internationale MigrantInnen in der Regel im jüngeren Alter zuwandern, • Wiederbelebung handwerklicher Berufsfelder, die von ZuwanderInnen auch in den Herkunftsländern ausgeübt wurden (z. B. Schneiderei), • Verbesserung der Nahversorgung, da ZuwanderInnen durch Selbstständigkeit das Kleingewerbe stärken können, • Etablierung der Region als attraktiver und dynamischer Wirtschafts- und Lebens- standort durch Signalisierung von Offenheit gegenüber anderen Herkunftskulturen und dem Vorhandensein von mehrsprachigen Arbeitskräften, die ihrerseits neue Ideen und Lösungsansätze mitbringen.

Im Rahmen des Integrationsleitbildprozess Kärnten wurden einige zentrale Hand- lungsbedarfe von den Mitwirkenden identifiziert: • „Es bedarf der Sicherstellung und Weiterführung vorhandener Ressourcen im Inte grationsbereich.

151 Themenschwerpunkt Migration

• Um Ängste und Vorurteile abbauen zu können, müssen Begegnungsmöglichkei- ten und -räume für alle geschaffen werden. • Es bedarf einer intensiven Vernetzung relevanter AkteurInnen und Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen. • Angebote zum Deutschspracherwerb für ZuwanderInnen sind flächendeckend sicherzustellen und deren Inanspruchnahme entsprechend einzufordern. • Informations- und Sensibilisierungsangebote zu Integrationsthemen für die Kärnt- ner Gesamtbevölkerung sind zu schaffen. • Weiterbildungsmaßnahmen im Bereich Migration, Diversität und Interkulturalität sind für die ansässige Bevölkerung als auch für ZuwanderInnen zu forcieren. • Es bedarf einer positiven, faktenbasierten Berichterstattung. • Es bedarf der Etablierung einer Ankommenskultur vor allem auf regionaler Ebene, im Rahmen derer alle Beteiligten umfassend Informationen zu Integrationsthemen erhalten. • Die Installation kompetenter Ansprechpersonen zu Integrationsthemen zumindest auf Bezirksebene soll forciert werden. • Hürden am Arbeitsmarkt sollen verringert, Beschäftigungsmöglichkeiten ausge- baut werden. • Vielfalt soll sich auch in der Verwaltung widerspiegeln.“

In Summe wurden über 150 Maßnahmenblöcke erarbeitet. Die Maßnahmen- empfehlungen reichen von der Begleitung des Integrationsprozesses für die an- sässige Bevölkerung über die Förderung der Arbeitsmarktintegration, spezifische Unterstützungsmaßnahmen für AsylwerberInnen und anerkannte Flüchtlinge bis hin zur Stärkung der Chancengleichheit von MigrantInnen im Gesundheitsbereich. Darüber hinaus werden Empfehlungen zur Implementierung von strategischen und strukturellen Kernmaßnahmen gegeben, die bei der Umsetzung der Maß- nahmenempfehlungen helfen sollen. Diese betreffen u. a. auf Ebene der Politik die Sicherstellung einer politischen Zuständigkeit, die die Umsetzung von inte- grationsfördernden Maßnahmen vorantreibt und die Verwaltungsabteilungen mit dieser Aufgabe betraut, die Einrichtung eines politischen Integrationsausschusses und eine angemessene budgetäre Ausstattung. Auf der Ebene der Verwaltung gehören hierzu beispielsweise die Verankerung des Integrationsreferats als Koordi- nationsstelle zur Umsetzung und Weiterentwicklung des Integrationsleitbildes und die Weiterführung der landesweiten Integrationskonferenzen.

Im Integrationsleitbild sind auch einige integrationspolitische Leitlinien enthalten, die für das zukünftige Zusammenleben in Kärnten bestimmend sein sollen:

• Fördern und Fordern: Kärnten bekennt sich dazu, Integration aktiv zu fördern. Das beinhaltet auch einerseits das Schaffen und Zugänglichmachen von Integrations- angeboten und andererseits das gleichzeitige Einfordern der Nutzung dieser An- gebote.

152 Kap. 3_5

• Orientierung am Individuum: Menschen sind – unabhängig von ihrer nationalen Herkunft – vielfältig. Diese Vielfalt zeigt sich in Form unterschiedlicher Dimensionen wie jung/alt, berufstätig/arbeitslos, reich/arm, gesund/krank, traditionell/modern etc. Es ist daher bei der Gestaltung von Integrationsprozessen wichtig, Menschen jenseits diffuser Kollektive und pauschalisierender Zuschreibungen wahrzuneh- men und sich am Individuum zu orientieren.

• Niederschwelligkeit: Die Kenntnis- und Inanspruchnahme von integrationsfördern- den Angeboten soll für die Zielgruppen möglichst einfach und niederschwellig erfolgen können.

• Respekt, Gleichbehandlung und Rechtsstaatlichkeit: Österreich ist getragen vom Grundsatz der Gleichbehandlung. Zu einem guten Zusammenleben gehört auch, seine Mitmenschen mit Respekt zu behandeln und eine respektvolle Behandlung beispielsweise im Behördenkontakt zu erfahren. Es darf keine Ungleichbehand- lung aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, des Alters, der Bildung oder Religion erfolgen.

• Ressourcenorientierung: Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit stellen die Prä- missen für die Umsetzung des Integrationsleitbildes Kärnten dar. Ressourcen sind effizient und sparsam einzusetzen und die Schaffung von Doppel- oder Parallel- strukturen zu vermeiden. Viele Institutionen und Vereine leisten bereits seit Jahren wertvolle Integrationsarbeit. Auf ihr Wissen und ihren Erfahrungsschatz soll auf- gebaut und die entsprechende Arbeit weitergeführt werden. Ressourcenorientie- rung bedeutet in diesem Zusammenhang aber auch, Zuwanderung nicht nur als gesamtgesellschaftliche Herausforderung, sondern auch als Chance für Kärnten zu sehen.

Wie der Beitrag zeigt, ist die Gestaltung der Integrationsprozesse eine zentrale Zukunftsaufgabe, an der sich alle Einrichtungen in Kärnten, aber auch die ansässi- ge und zugewanderte Bevölkerung beteiligen müssen. Migration und Integration sind dynamische Prozesse, die ein flexibles und situationsangepasstes Handeln erfordern und kein Ende kennen.

Literaturhinweise:

Amt der Kärntner Landesregierung, Abteilung 1 – Landesamtsdirektion Flüchtlingswesen-Grundversorgung und Integration, Gemeinsam in Kärnten. Integrationsleitbild des Landes Kärnten. Kurzfassung. Klagenfurt 2017. Online unter URL: https://www.ktn.gv.at/312432_DE-Integration-Gemeinsam_in_Kaernten_-_Integrationsleitbild_des_ Landes_Kaernten.

Marika Gruber, Integration im ländlichen Raum. Ein Praxishandbuch. Innsbruck 2013.

Marika Gruber, Gemeinden – Vordenker der Integration. In: Johannes Mindler-Steiner (Hg.), Integration nach vor Denken. Österreichs Umgang mit dem (noch) Fremden. Wien 2016, S. 137-146.

Petrus Han, Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle – Fakten – Politische Konsequenzen – Perspektiven. 4. Aufl., Stuttgart 2016.

Statistik Austria/Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, Migration und Integration. Zahlen, Daten und Indikatoren 2017. Wien 2017.

153 Inhalte und Themen Die Zukunft in die Hand nehmen

Peter Fritz Kapitel 3_5

Das Projekt CARINTHIja 2020 beschäftigt sich nicht nur mit Zeitreisen in die Geschichte, sondern auch mit Perspektiven für die Zukunft. Der Artikel stellt Überlegungen für einen Zukunftsprozess für Kärnten Inhalte und Themen an, konkret, womit sich Kärnten in den nächsten 15, 20, 30 Jahren Die Zukunft in die Hand nehmen beschäftigen soll.

Peter Fritz Die Zukunft in die Hand nehmen

Die Zukunft in die Hand nehmen – Überlegungen zu einem Zukunfts- prozess für Kärnten

Peter Fritz

Über Zukunft nachdenken? „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Diese Aussage wird unterschiedlichen Personen zugeschrieben, etwa dem dänischen Physiker Niels Bohr oder auch Mark Twain. Wer auch immer der Urheber war, sie beschreibt ein ural- tes Dilemma: Der Wunsch zu wissen, was in der Zukunft passieren wird, ist so alt wie die Menschheit selbst, aber es fehlen seit jeher zufriedenstellende Mittel und Wege dazu. Waren es früher zum Beispiel Orakel, Eingeweideschau oder Naturbeobachtun- gen, so bedienen sich heute viele moderne Gesellschaften primär wissenschaftlich ge- stützter Prognosen. So gerne wir auch über unsere Zukunft Bescheid wissen würden, so schwierig gestaltet sich dieses Vorhaben. Ob Wetterbericht für morgen, Horoskop für das neue Jahr oder auch modellbasierte Zukunftsprognosen: Wir können zwar Progno- sen abgeben, die Zukunft verlässlich und wiederholt vorherzusagen bleibt ein unerfüll- barer Traum. Der Artikel stellt Überlegungen für einen Zukunftsprozess für Kärnten an, konkret, wo- mit sich Kärnten in den nächsten 15, 20, 30 Jahren beschäftigen soll. Er versteht sich vor allem als eine Aufforderung zur Beschäftigung mit Perspektiven für Kärntens zu- künftige Entwicklungen, diese Zukunft in die Hand zu nehmen und sie nach den eige- nen Vorstellungen zu gestalten. Denn, die jeweilige Zukunft, auch Kärntens, war und ist immer bereits in der jeweiligen Gegenwart angelegt. Das Fazit gleich vorweg: Kärnten hat nicht nur eine Zukunft, sondern viele, verschiede- ne und widersprüchliche „Zukünfte“, deren Vorhersage nicht möglich ist. Denn die wei- teren Entwicklungen Kärntens hängen auch davon ab, was wir alle in der Gegenwart tun oder zu tun unterlassen. Daher haben wir heute eine gemeinsame Verantwortung für diese gemeinsamen „Zukünfte“.

156 Sehnsuchtsorte aus der Die Zukunft Kärntens: viele Teilaspekte, aber keine Gesamtsicht Werbung und auch Realität Im Zuge der Beschäftigung mit der hematikT stößt man rasch auf eine Schwierig- in Kärnten: idyllische Landschaften, Turnersee. keit: es gibt zwar viele, mitunter sehr populäre Schriften zur Entwicklung der Erde als Foto: Daniel Zupanc Gesamtes oder Teilen davon (Stichworte: Globalisierung, Nachhaltigkeit, Ökosysteme, Klimawandel, Gemeinwesen ...), zum technischen Fortschritt (Digitalisierung, Mobilität, Grenzen des Wachstums etc.) oder zu (sicherheits-) politischen Fragestellungen (global governance, Staatenbündnisse, Migration etc.); jedoch gibt es im Verhältnis dazu weni- ge wissenschaftlich fundierte Ansätze, die diese globalen Trends konkret auf regionale Entwicklungen herunter brechen. So verhält es sich auch für Kärnten. Studien oder Stra- tegien widmen sich einzelnen Bereichen oder Teilaspekten, zum Beispiel Strategien zur Umwelt oder zu Kultur oder Tourismus, zu wirtschaftlichen Kooperationen oder anderen Formen grenzüberschreitenden Austauschs, Überlegungen zu Raumplanung und Re- gionalentwicklung etc. Aber es liegt keine aktuelle Betrachtung für die zukünftige Ent- wicklung Kärntens als Ganzes, eingebettet in seine Umwelten, vor. Sie haben oftmals regionale und sehr spezifische Aufgabenstellungen und daher auch keine oder wenig Verschränkung mit nationalen, internationalen oder globalen Zukunftsperspektiven im Sinne einer Gesamtdarstellung. Die für Kärnten vorliegenden branchenübergreifenden, interdisziplinären Überlegungen weisen eher den Charakter von Prozessbeschreibun- gen zur Entwicklung von Zukunftsperspektiven oder Strategien auf. Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass sich die Landesausstellung 2020 einer umfassenden Be- trachtung von Perspektiven für die zukünftige Entwicklung Kärntens annehmen und eine Diskussion dazu anstoßen will.

157 Die Zukunft in die Hand nehmen

Motive und Methoden Mit Zukunftsprognosen verbinden Menschen Hilfestellungen und Anleitungen für zu- künftiges Handeln, erwarten sich eine Reduktion von Unsicherheit und Komplexität, Sinnstiftung und Orientierung, die Klärung oder Zuweisung von Verantwortlichkeiten bis hin zur Zuweisung allfälliger Schuld. Auch Neugier oder Sensationslust können Mo- tive für das Wissen um die Zukunft sein. Die Zukunft betreffende Fragestellungen kön- nen durch Intuition („Mein Bauchgefühl sagt mir ...“), aus Erfahrung („Das hat schon einmal funktioniert“), durch Versuch und Irrtum („Probieren geht über Studieren“), aus Tradition heraus („Das haben wir immer so gemacht“) oder mittels Autorität („Das ist so“ bzw. „laut Gesetz“) bearbeitet werden.

Ein großes Manko von Zukunftsprognosen ist ihre Personen- und Gegenwartsbezo- genheit. Viele Zukunftsdiskussionen kom- men nicht über eine Analyse der Gegenwart hinaus, selbst wenn die Zukunftsforschung mittlerweile mit wissenschaftlichen Metho- den untermauert und betrieben wird. Die Palette ihrer Methoden ist umfangreich: Szenariotechniken, die ein Denken in al- ternativen Handlungsstrategien beinhalten, Delphi-Studien, ein Abschätzen zukünftiger Entwicklungen auf Basis von Expertenwis- sen, Simulationen, also der Versuch, die (zu- künftige) Wirklichkeit über große Datenmengen, Wechselwirkungen und Zusammen- Auch eine Kärntner Realität: hänge abzubilden, Trendanalysen auf Basis von „Signalen“, Zukunftswerkstätten, die leerstehende und herunterge- kommene Gebäude von Wünschen und Visionen ausgehend in Gruppen Lösungen für gesellschaftliche als Herausforderung für die Themen erarbeiten etc., um nur einige Beispiele zu nennen. Gemeinden. Foto: Roland Gruber, Zukunftsforschungen und -prognosen erfahren und unterlaufen ihrerseits Trends. Do- nonconform. minierten in den 1960er-Jahren (mitunter utopische) Vorstellungen von einer optimis- tischen Zukunft den Zukunftsdiskurs, so stellten sich diesen in den 1970er-/1980er- Jahren zunehmend pessimistische Zukunftsprognosen entgegen (Kollaps, Grenzen des Wachstums etc.). Später folgten systemische Zugänge, die Zusammenhänge etwa zwischen Mensch, Technik, Wirtschaft, Raum oder Ressourcen miteinbezogen, oder die Trendforschung. Zuletzt rückten Aspekte des Zufalls, der Unsicherheit und damit der Resilienz stärker in den Vordergrund.

Internationale Trends und Zukunftsthemen Je nach fachlichem Hintergrund der Autoren werden zukünftige Trends verschieden bewertet und daher unterschiedliche Empfehlungen für vordringlich zu bearbeitende Themenfelder abgegeben. Beispielsweise machte der Geowissenschafter Laurence C. Smith in seinem Buch „Die Welt im Jahr 2050. Die Zukunft unserer Zivilisation“ vier glo-

158 Rückgang der Pasterze am bale Kräfte aus, die die Entwicklung der Welt beeinflussen: (1) die Demografie, also die Großglockner: Vergleich Bevölkerungszahl und die -bewegungen; (2) der Zugriff des Menschen auf Ressourcen 1900/2000. Foto: Sammlung Gesellschaft der Natur und Eingriffe auf die Artenvielfalt; (3) die Globalisierung, also die steigende für ökologische Forschung/ Vernetzung der Handels- und Kapitalflüsse, aber auch die Zunahme an Problemen, Wolfgang Zängl. die nicht mehr national gelöst werden können; (4) der Klimawandel, also die mögliche Erwärmung der Erdatmosphäre und die damit verbundenen Auswirkungen auf das Kli- ma. Als eine wichtige, fünfte Kraft fügt er noch die Technik hinzu, die alle vier Bereiche betrifft. Viele Prognosen setzen ähnliche Schwerpunkte, andere wiederum streichen die Digi- talisierung stärker hervor: alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden – dies betrifft industrielle Fertigung mittels Roboter, die Behörden und Verwaltung oder den Umgang mit persönlichen Daten. Individualisierung wird als Trend ausgemacht, die eine Zunahme von egozentrischem Verhalten ebenso beinhalten kann, wie auch den zunehmenden Wunsch nach einer Individualisierung von Angeboten und zusätz- lichen Wahlmöglichkeiten. Wieder andere Studien betonen die steigende (weltweite) Vernetzung und damit die Zunahme von Kooperationen, zum Teil auch als Folge der Globalisierung, aufgrund der Vernetzung der Handels- und Kapitalflüsse, von Arbeitstei- lung oder der Komplexität von zu treffenden Maßnahmen. Den Klimawandel oder die Folgen weltweiter Migration wird Österreich alleine nicht lösen können, dafür braucht es Kooperationen.

Zukunftsthemen für Kärnten Auf den Mangel an Gesamtdarstellungen für Kärnten wurde bereits hingewiesen. Die aktuellste und umfassendste Strategie für die zukünftige Entwicklung des Landes Kärn- ten stellt die „Strategische Landesentwicklung Kärnten 2025 – STRALE 2025“ dar. Sie wurde 2015 von der Kärntner Landesregierung als Leitfaden für die Abwicklung von die Zukunft betreffenden Projekten beschlossen. Als Basis der zukünftigen Lan- desentwicklung wurden vier Aufgaben formuliert: Standortqualität sichern (gemeint sind Infrastruktur, gesetzliche Rahmenbedingungen, Investitionssicherheit, Bildung, Umweltqualität, soziale Versorgung etc.), soziales Kapital entwickeln und für die Lan- desentwicklung nutzen (gemeint sind Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen der

159 Die Zukunft in die Hand nehmen

Menschen), Strukturen zur Umsetzung von Projekten schaffen sowie Modellvorhaben initiieren und umsetzen. Als „Herausforderungen und Rahmenbedingungen“ für die weitere Entwicklung Kärn- tens werden drei Themen vorgestellt: (1) „Bevölkerung und soziale Aspekte“, darin enthalten etwa die Aspekte Abwanderung in Ballungszentren, eine im österreichischen Vergleich erhöhte Armutsgefährdung, Abnahme der Erwerbsbevölkerung, wachsende internationale Migration oder Alterung, (2) „Wirtschaft und Infrastruktur“ mit Themen wie Tourismus, Land- und Forstwirtschaft, die Verbindung von Forschung, Unterneh- men und Bildung, Steigerung regionaler Wertschöpfung, der hohe Anteil des öffent- lichen Dienstes, aber auch Stärken etwa in der (Mikro-)Elektronik, im Anlagenbau, in der Holzwirtschaft, innovativer Forschung und anderen sowie (3) „Naturraum und Umwelt“ mit Aspekten wie Erhaltung öko- logischer Funktionen des Naturraumes, auch als Erholungsraum für Tourismus und Bevölkerung, Nutzung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, Sicherung der land- und forstwirtschaftlichen Bewirtschaftung, Naturgefahren oder Siedlungsentwicklung. Laut Studie basiert die Themensetzung auf der Analyse vorhandener Strategien so- Schäden nach dem Sturm wie einem moderierten Prozess von Mitgliedern der Landesverwaltung und ver- „Paula“ im Raum Metnitz, Albeck und Glödnitz, 2008. schiedenen Stakeholdern. Ein starker Fokus auf die Themen Wirtschaft, Demografie, Foto: Bundesheer. Raum und Raumplanung ist angesichts des Auftraggebers (Amt der Kärntner Lan- desregierung, Abteilung 3 – Gemeinden und Raumordnung) nachvollziehbar. Keine Erwähnung finden die in Zukunftsdiskursen ebenfalls stark diskutierten Aspekte wie Identität, gesellschaftlicher Zusammenhalt oder gesellschaftliche Aushandlungsprozes- se. Angesprochen werden hingegen die in Kärnten traditionell schwach ausgebildeten Formen zivilgesellschaftlichen Mitwirkens bei politischen Themen. Der Ausbau solcher Mitgestaltungsmöglichkeiten und vereinfachte Prozesse werden als konkrete Arbeits- aufgaben festgehalten. Damit führt die Strategie konkrete, gewichtige Themenfelder zur weiteren Bearbeitung an und stellt einen Fahrplan dar, wie sich das Land Kärnten Fragen der Entwicklung des Landes stellen will.

In der Vorbereitung der Landesausstellung 2020 wurde im inhaltlich-wissenschaftlichen Team ebenfalls die Frage nach zukunftsrelevanten Themen für Kärnten gestellt. Den Ausgangspunkt bildeten Überlegungen, womit man sich in Kärnten in den nächsten 15, 20, 30, 50 Jahren beschäftigen wird müssen. Diese Themen wurden anschließend auch über die vergangenen 100 Jahre gelegt. Das Ergebnis sind fünf große, für die Entwicklung Kärntens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besonders relevan- te Themenschwerpunkte: (1) „Infrastruktur, (wirtschaftliche) Entwicklung, Raum“ mit Themen wie Ökonomie und Gesellschaft, Infrastruktur und Mobilität, Tourismus sowie

160 Umgang mit der Ressource Raum; (2) „Vernet- zung, Nachbarn, Dialog“ unter den Gesichtspunk- ten Vernetzung in Kärnten, mit den Nachbarn (mit Fokus auf die Alpen-Adria-Region) sowie mit europäischen Staaten; (3) „Identität und Erinne- rungskultur“ mit Schwerpunkten auf Identität und Alterität, die Entwicklung der Denkmallandschaft und der Gedenkkultur in Kärnten sowie Narrati- ve und Mythen (Wer ist Kärntner/Kärntnerin?); (4) „Demokratieentwicklung“ mit Themen wie Entwicklung und Zukunft der Demokratie sowie Zivilgesellschaft; (5) „Migration“ mit Fragen wie: Warum kommen Menschen nach Kärnten? Wer geht, wer bleibt und warum? Diese stehen im Lakeside Park: der Mittelpunkt der Aktivitäten der Landesausstellung 2020 und werden in Folge in un- Wissenschafts- und terschiedlichen Formaten bearbeitet und diskutiert. Die zugrunde liegenden Fragestel- Technologiepark in Klagenfurt. lungen sind im Aufsatz „Inhalte und Themen der Landesausstellung 2020“ am Beginn Foto: Lakeside Park GmbH 2015. dieser Publikation ausgeführt. Je nach Zugang, Intention des Auftraggebers, fachlicher Ausrichtung der teilnehmenden Gruppe etc. werden Fragestellungen nach denjenigen Themen, die für Kärnten in den nächsten 15, 20, 30, 50 Jahren von Bedeutung sein werden, unterschiedliche Ergebnisse liefern. Zu erwarten ist, dass die Unterschiede vor allem in der Prioritätensetzung und in der Form der Umsetzung liegen.

Ein Zukunftsprozess für Kärnten Für Kärnten wird von mir ein umfassender Zukunftsprozess vorgeschlagen. Wichtig erscheint mir dabei, dass in einem derartigen Zukunftsprozess alle Themen gemeinsam bearbeitet werden. Denn sie stehen allesamt direkt miteinander in Verbindung, beein- flussen sich und erfordern bei Widersprüchen und Zielkonflikten umso mehr gemein- same Entscheidungen. Für einen derartigen Zukunftsprozess für Kärnten möchte ich drei Themenbereiche be- sonders hervorheben und betonen:

Identität und Narrative Kärntens Viele gegenwärtige Narrative in und zu Kärnten sind stark vergangenheitsorientiert. Sie haben ihre Wurzeln in historischen Zuständen und stellen den Versuch dar, jene Aspekte, die aus der jeweiligen Eigensicht für Kärnten in der Vergangenheit Bedeutung hatten, fortzuschreiben oder wiederzubeleben (Industrie, Sommerfrische, Tourismus, Seen, Tradition, Bräuche, Landeseinheit, Grenzland, Antikommunismus, Antislawismus, Religion, Sprachen etc.). Vieles davon war prägend für bestimmte Phasen der Kärntner Geschichte oder Regionen. Ich schlage vor, einem Zukunftsprozess für Kärnten die Fra- ge nach der Identität und den Narrativen Kärntens voranzustellen, um die Wirkmäch- tigkeit und die Zukunftstauglichkeit der gängigen Erzählungen zu überprüfen. Die zen- tralen Fragestellungen sind: Was wird Kärnten in 20, 30, 50 Jahren ausmachen? Was

161 Die Zukunft in die Hand nehmen

wird man sich über Kärnten erzählen? Was nicht mehr? Diese Fragen scheinen banal, möglicherweise auch als Zumutung oder unbeantwortbar. Vielleicht werden sie gera- de deswegen vielfach ausgespart. Mitunter geschieht dies, weil dabei grundlegende Werte und persönliche Haltungen eines jeden Beteiligten berührt werden und weil es konkreter Entscheidungen bedarf, was von dem bisherigen Narrativ in Zukunft weniger und was an einem neuen mehr an Bedeutung gewinnen soll. Dies fällt vielen schwer.

Die Beantwortung dieser Fragen ist jedoch Voraussetzung für alle weiteren Schritte, da sich vom Selbstverständnis eines Lan- des und seiner Bürgerinnen und Bürger die Bewertung und Reihung aller anderen Zukunftsschritte ableiten. Es macht einen Unterschied, ob Kärnten zu aller erst als In- dustrieland oder als Tourismusoase, als Vor- zeigeland für moderne Architektur oder als Musterbeispiel für traditionelle Kulturland- schaft gesehen werden soll – oder vielleicht auch alles von dem zugleich.

Für eine solche Identität ist auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte Zielkonflikt: Transit versus und Erinnerungskultur von Bedeutung. Hier sei auf die Artikel von Helmut Konrad und Naturschutz und Erholung: Autobahnknoten bei Villach. Daniel Wutti in dieser Publikation verwiesen. Jürgen Pirker etwa schlägt in Anlehnung Foto: Edwin Stranner. an Vamik Volkan in der Publikation „Kärnten liegt am Meer“ einen dreistufigen Prozess vor (Diagnose – Dialog – Institutionalisierung), in dem auf Basis der eigenen Geschich- ten, der Sicht auf die Kärntner Geschichte und die wechselseitigen Verletzungen ein neuer Weg, ein neues Narrativ gesucht werden soll. Als ein wesentlicher Bezugsrah- men könnte hier die Alpen-Adria-Region in Form einer regionalen oder europäischen Herausforderung für die Zukunft: Diversität in der Identität dienen. Werner Wintersteiner formulierte eine solche Identität in derselben Gesellschaft anerkennen Publikation mit dem Bild: „Kärnten liegt am Meer, Udine liegt an der Drau und Ljubljana und leben. liegt am Wörthersee“. Foto: Gert Eggenberger.

Soziale Kohäsion Sehr oft wird Zukunftsentwicklung zumeist aus dem Blickwinkel räumli- cher oder technologischer Entwicklung gesehen. Daher findet der Aspekt der sozialen Kohäsion, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, meist wenig oder nur unter wirtschaftlich-technischen Gesichtspunkten Beachtung. Sie wird aktuell viel in Verbindung mit Migration genannt, geht jedoch weit über Integration hinaus. Sie meint den gesellschaftlichen Zusammenhalt von allen Menschen in einer Gesellschaft und die Stärke sowie Stärkung des Gemeinwesens. Darunter fallen Maßnahmen zur Gesundheitsvorsor- ge und -versorgung, zur Vermeidung von Armut wie etwa Altersarmut, Chancen und Zugang zu Bildung und Arbeit, gelebter Solidarität unterei-

162 nander, des Zusammenlebens von Generationen, Geschlechtern, Mehrheit und Min- derheiten, alten und neuen Minderheiten, der Anerkennung von Vielfalt und Diversität oder der gleichberechtigten Teilhabe und Teilnahme an Aushandlungsprozessen, um nur einige Beispiele zu nennen. Wertefragen stehen auch dabei im Mittelpunkt. Drin- gend empfehle ich für Kärnten eine Bearbeitung des Themas zur Vorbeugung von Des- integrations- und Spaltungsprozessen und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf ein Projekt der Industriellenvereinigung zum Thema „2033 – Neue Perspektiven für gesellschaftlichen Zusammenhalt“, das im Mai 2017 vorgestellt wurde. Mit Blick auf Österreich geht es „der Frage nach einem ge- lingenden Zusammenleben in einer zunehmend pluralen Gesellschaft“ nach. „Ziel des Projekts ist, konkrete Handlungs- und Haltungsmöglichkeiten für Politik, Gesellschaft, Unternehmen und Bürger zu erarbeiten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch in Zeiten massiver Veränderungen zu stärken.“

Partizipation und Vertretung Hellwig Valentin hat in seinem Beitrag darauf hin- gewiesen, dass in Kärnten die Zivilgesellschaft schwach ausgeprägt ist, und wünscht sich für Kärnten „den Aufbau einer zeitgemäßen Kon- fliktkultur [...] und eine gehörige Portion an zivil- gesellschaftlichem Engagement“. Kathrin Stainer- Hämmerle schreibt in ihrem Aufsatz zur politi- schen Partizipation über Maßnahmen zur Behe- bung dieses Defizits. In einem Zukunftsprozess für Kärnten ist den Ur- sachen für diese Unterentwicklung nachzuspüren und es sind Maßnahmen auszuarbeiten, die zu ei- nem Ausbau zivilgesellschaftlichen Engagements beitragen. Dazu gehören, um nur einige Beispie- le zu nennen, Bildung und Information über die Zielkonflikt: Energieerzeugung bereits bestehenden Möglichkeiten für eine Teilhabe an Entscheidungsprozessen wie versus Erhalt der Kultur- auch ein Ausbau des Angebots an Partizipation, Verwaltungs- und Institutionenreform landschaft und Tourismus, oder auch eine offene und direkte Willkommenskultur für mehr Partizipation seitens Freiländeralm, Koralpe. Foto: Brigitte Pontasch. Politik und Verwaltung auf Landes- und Gemeindeebene.

Echte Partizipation schafft Teilhabe und Vertrauen, sie trägt zu einem Gefühl von „Selbstwirksamkeit“ ebenso bei wie zu einer Erhöhung der Qualität und Nachhaltigkeit von Entscheidungen. Zukunftsziele können einander widersprechen und Interessens- konflikte erzeugen: die in vielen Strategiepapieren für Kärnten als wichtig angespro- chene Metall- und Holzverarbeitung, der Ausbau von Transportwegen für die Wirt- schaft oder schnelle Autobahnen erfordern Eingriffe in den Naturraum, der Wunsch nach Wohnqualität und Erholungsräumen für Bevölkerung und Gäste wiederum bedarf Rückzugsräume und „Anderswelten“ ohne Störung durch Strommasten, Windräder,

163 Die Zukunft in die Hand nehmen

Autobahnen und Fabriken. Hier gilt es gesellschaftliche Aushandlungsformen zu finden, die Betroffene zu Beteiligten machen. Damit steigt die Chance, dass Entscheidungen getroffen werden können, die nachhaltig sind und langfristig halten, weil sie von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen werden. Der Journalist und Autor Wolf Lotter hat einmal „Differenzierung lernen und Extreme überwinden“ als die wichtigsten Werkzeu- ge für das 21. Jahrhundert beschrieben. Partizipation ist dafür eine ganz wesentliche Maßnahme.

Ich möchte noch einmal betonen, dass ich diese drei Maßnahmen in einem Zukunfts- prozess für Kärnten als besonders bedeutend erachte. Der gesamte Prozess kann je- doch nur unter Einbeziehung aller fünf Themenschwerpunkte erfolgen.

Methoden und Zugänge zum Thema Zukunft Wesentlich für einen solchen Zukunftsprozess ist die zugrunde liegende Haltung und das daraus abgeleitete Projektdesign. Dieses beinhaltet etwa die Analyse der Themen- felder, Festlegung der Beteiligten, den Prozessablauf, Feedbackschleifen, Kommunika- tion oder Implementierungsstrategien. Essentiell ist dabei, die Erfahrungen aus bishe- rigen derartigen Prozessen einfließen zu lassen. Daher wird dringend eine Evaluierung von bisherigen Zukunfts- und Strategieprozessen in Kärnten sowie anderer Regionen empfohlen. Dafür könnten beispielhaft folgende Fragen gestellt werden: Wie verlief der Prozess? Was hat es möglich gemacht, dass Ergebnisse erzielt wurden? Wer von den Betroffenen wurde beteiligt? Wie wurde vor, während und nach dem Projekt kommu- niziert? Essentiell ist auch die Frage nach dem Output der untersuchten Prozesse: Was wurde umgesetzt und warum? Was nicht? Was wurde kommuniziert?

Widerstände und viele „Zukünfte“ Zu zukünftigen Entwicklungen gibt es eine Bandbreite an Zugängen. Auf der einen High Tech-Produktion Seite stehen jene, denen an einer Fortschreibung der Gegenwart gelegen ist und die in Kärnten: das Werk der Mahle Filtersysteme in möglichst wenig ändern mögen, auf der anderen Seite jene, die eine Zukunft nur dann St. Michael ob Bleiburg. sehen, wenn sich alles aktuell Bestehende zur Gänze ändert. Dies erzeugt Spannungen Foto: Mahle Filtersysteme und Verunsicherungen bei Zukunftsüberlegungen. Austria GmbH.

Es besteht eine natürliche Veränderungs- resistenz bei vielen Menschen und Organi- sationen, insbesondere dort, wo es an Wis- sen oder Perspektiven mangelt, die Folgen der aktuellen Lage noch nicht bis zu Ende gedacht wurden, sich kein ausreichend at- traktives Zukunftsbild anbietet, der Nutzen einer Veränderung nicht erkannt wird oder eine Veränderung tatsächlich oder gefühlt Nachteile bringen könnte, wie etwa Verlust an Status, Einkommen, Macht oder Einfluss.

164 Widerstände gegen Veränderungen sind, wie Untersuchungen zeigen, eine Frage der Persönlichkeit und der eigenen Haltung. Die gängigen Widerstände sind Leugnen („Kli- mawandel ist eine Erfindung.“), Aufschieben („abwarten und weiter prüfen“), Umdeu- ten („Es hat immer Katastrophen gegeben.“), Relativieren („die Untersuchungen zum Klimawandel sind widersprüchlich“), Desavouieren oder den Überbringer der Nachricht strafen („Nestbeschmutzer“, „Profiteur“). Hinzu kommt, dass viele Zukunftsprognosen mit Bildern des Verzichts („Du darfst dann nicht mehr ...“, „Dann ist ... verboten!“) oder, wie es der Sozialpsychologe Harald Welzer ausdrückt, mit einer „Verzichtsrhetorik“ ver- bunden sind, die Verhaltensänderungen noch weniger erstrebenswert macht. Was es braucht, sind attraktive Bilder einer neuen Vision der Zukunft, unterfüttert mit dem Nut- zen aus der dazu notwendigen Veränderung. Erste Schritte dazu sind wiederum echte Partizipation und Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe. Bei der Beschäftigung mit der Zukunft entstehen abhängig vom eigenen Blickwinkel auch unterschiedliche Annahmen für die weitere Entwicklung. Dies wiederum erhöht die Komplexität. Am Beginn dieses Beitrages habe ich formuliert, dass Kärnten nicht nur eine Zukunft hat, sondern viele, verschiedene und auch widersprüchliche „Zukünfte“. Die Widersprüche ergeben sich einerseits aufgrund der unterschiedlichen Haltungen, Wertvorstellungen, dem Wissen oder auch der Bedeutung, die bestimmten Themen beigemessen wird. Andererseits erzeugen Zukunftsfragen auch innere Widersprüche bei den Beteiligten selbst: Nicht immer ist die Priorisierung von Themen einfach oder möglich. Manche Fragen oder Perspektiven erzeugen bewusste und unbewusste Ängste und Sorgen. Sie bedürften möglicherweise Entscheidungen, die wir nicht tref- fen können oder wollen. Oder es sind die naheliegenden richtigen Entscheidungen für morgen nicht die richtigen für übermorgen. Beschäftigung mit Zukunft erzeugt Unsi- cherheit, Widerstände aber auch gegensätzliche Ergebnisse. Widersprüche und Irrita- tionen können aber auch Teil der Methode sein. Trendforscher Matthias Horx meinte dazu: „Die wichtigste Aufgabe der Prognostik ist in Zukunft die produktive Irritation. Es geht darum, die linearen Standard-Modelle der Welt, die in den Köpfen von Politikern, Bildung als Zukunftsfaktor: die Alpen-Adria-Universität Managern und Meinungsbildnern herrschen, mit den Mitteln der komplexen Modellbil- Klagenfurt. dung herauszufordern. Es geht um ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge, der Foto: Gert Steinthaler. Vernetzungen, in denen Wandel und Zukunft entsteht.“ Wie kann man mit diesen Widersprüchen umge- hen? Den inneren, eigenen Widersprüchen kann man mit Wissenserwerb, Rollenklärungen, der In- anspruchnahme von Beratungen, Coachings oder Therapien begegnen. Dies ist in der Verantwor- tung eines jeden Einzelnen. Wie jedoch gehen wir um mit den Widersprüchen bei und zwischen den Beteiligten oder die innerhalb der Gesellschaft vorhanden sind und bei einer Beschäftigung mit den zukünftigen Perspektiven auch offen zu Tage treten? Auch hier geht es wieder um einen ge- sellschaftlichen Aushandlungsprozess, um einen

165 Die Zukunft in die Hand nehmen

klaren, direkten und offenen Zugang, in der Vorbereitung und Begleitung der Betei- ligten, im Ansprechen und Aushalten von Vielfalt, von Zufällen und Unsicherheiten, aber auch bei den Handlungsspielräumen: Was ist tatsächlich beeinflussbar, was mögli- cherweise und was gar nicht? Klarer, direkter und offener Austausch schafft Vertrauen. Für diese Aushandlungsprozesse braucht es daher Formate auf Basis von Partizipation, eines zivilgesellschaftlichen Engagements und einer gemeinsamen Verantwortung aller Beteiligten und Betroffenen für ihre Zukunft.

Was steht auf dem Spiel? Die Landesausstellung 2020 hat sich zum Ziel gesetzt, sich mit den Perspektiven für die zukünftige Entwicklung Kärntens zu beschäftigen und eine Diskussion darüber an- zustoßen. Die in der Vorbereitung auf das Jahr 2020 bisher am häufigsten gehörte Kritik an diesen Überlegungen war jene, dass es völlig unrealistisch sei, Vorhersagen für Kärnten in 15, 30, 50 oder gar 100 Jahren zu tätigen. Ja, dem stimme ich zu. Das ist auch nicht gedacht. Es geht um eine Beschäftigung mit den erspektivenP für die zukünftige Entwicklung Kärntens und damit um eine Übernahme einer gemeinsamen Verantwortung für diese „Zukünfte“. Natürlich ist vieles unsicher und die Zukunft nicht vorhersehbar. Aber es wäre grob fahrlässig, es aus diesem Grund zu unterlassen sich damit zu beschäftigen. Philipp Blom schrieb dazu in seinem Werk „Was auf dem Spiel steht“: „Niemand weiß, was geschehen wird, niemand kennt alle Faktoren und kom- plexen Kausalitäten, die im Nachhinein immer logisch erscheinen. In dieser Unsicherheit liegt eine mögliche Zukunft, eine Verpflichtung sogar. Was auf dem Spiel steht? Alles.“ Dieser Verpflichtung stimme ich ebenfalls zu. Eine Beschäftigung mit den „Zukünften“ Kärntens lohnt sich allemal. Und diese Auseinandersetzung muss jetzt beginnen, denn die Zukunft ist bereits unter uns. 2020 wäre ein guter Anlass.

Literaturhinweise:

Amt der Kärntner Landesregierung, Abteilung 3 – Gemeinden und Raumordnung (Hg.), Strategische Landesent- wicklung Kärnten – STRALE 2015, Klagenfurt 2015.

Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht. München 2017.

Ernst A. Grandits (Hg.), 2112 – Die Welt in 100 Jahren. Hildesheim – Zürich – New York 2012.

Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 2017.

Wolfgang Petritsch – Wilfried Graf – Gudrun Kramer (Hg.), Kärnten liegt am Meer. Konfliktgeschichte/n über Trauma, Macht und Identität. Klagenfurt 2012.

Laurence C. Smith, Die Welt im Jahr 2050. Die Zukunft unserer Zivilisation. München 2014.

Nassim Nicholas Taleb, Anti-Fragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München 2014.

Harald Welzer (Hg.), Die nachhaltige Republik. Umrisse einer anderen Moderne. Frankfurt am Main 2017.

166 Anhang Anhang

Funktionen und wissenschaftliche Tätigkeiten der Autorinnen und Autoren

Ulfried Burz, Ass.-Prof. Mag. Dr.; Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte; Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Politikgeschichte im Rahmen der Neueren und Österreichischen Geschichte, Erster Weltkrieg, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus.

Theodor Domej, Mag. Dr.; Klagenfurt; Fachinspektor für Slowenisch an mittleren und höheren Schulen im Ruhestand; Forschungsschwerpunkte: Geschichte, Kultur und Sprache der Kärntner Slowenen, Nationalismusforschung.

Werner Drobesch, ao. Univ.-Prof. Mag. Dr.; Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte; Forschungsschwerpunkte: Österreichische Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Südostalpenraumes und Kärntens 16.–20. Jahrhundert.

Peter Fritz, Mag.; Historiker, Kulturmanager, Mediator; Kurator der Kärntner Landesausstellung 2020; Geschäftsführer des MAMUZ Museum für Ur- und Frühgeschichte und Nitsch Museum; Forschungsinteressen: Geschichte des 20. Jahrhunderts, Kriegsfolgen, Konfliktforschung und -bearbeitung, Denkmalpflege, Kulturmanagement, Ausstellungsgestaltung.

Marika Gruber, Mag. (FH); Fachhochschule Kärnten, Studienbereich Wirtschaft & Management; Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Migration Studies mit speziellem Fokus auf Integrationspolitik und Integrationsmanagement in Gemeinden sowie im ländlichen Raum, modernes Verwaltungsmanagement, Interventionsforschung.

Roland Gruber, Mag. arch., MBA, MAS; Architekt; Mitgründer von nonconform – Büro für Architektur und Bürgerbeteiligung; Mitgründer und Vorsitzender von LandLuft – Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen; Mitgründer von Zukunftsorte – Plattform der innovativen Gemeinden Österreichs; Arbeitsschwerpunkte: Zukunftsraum Land, Baukultur und artizipation.P

Stefan Karner, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c.; Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte, Universität Graz; Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung; Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Zeitgeschichte Österreichs und Osteuropas, humanitäre Kriegsfolgen.

Helmut Konrad, emeritierter Univ.-Prof. Dr.; Universität Graz, Institut für Geschichte; Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, allgemeine Geschichte des 20. Jahrhunderts.

168 Peter Nageler, DI; Architekt; Mitgründer von nonconform – Büro für Architektur und Bürgerbeteiligung; Mitgründer und stellvertretender Vorsitzender des Denk.Raum. Fresach – Europäische Toleranzgespräche; Arbeitsschwerpunkte: Projektentwicklung – nutzungsoffene Gebäude und Stadtquartiere, energie- und ressourceneffizientes Bauen.

Peter Plaikner, Politikanalyst, Medienberater, Publizist, Journalismustrainer, Kolumnist, Autor, Lektor; selbstständig mit plaiknerpublic medienarbeit und als geschäftsführender Gesellschafter von IMPact (Institut für Medien und Politik – Analyse, Consulting, Training); Leiter des Master-Lehrgangs „Politische Kommunikation“ an der Donau-Uni Krems.

KathrinSt ainer-Hämmerle, FH-Prof. MMag. Dr.; Fachhochschule Kärnten, Studienbereich Wirtschaft und Management; Forschungsschwerpunkte: politisches System Österreichs, Partizipation und Demokratie, Politische Bildung.

Hellwig Valentin, Univ.-Doz. Dr.; Historiker, Autor, Lehrbeauftragter; Universität Graz, Institut für Geschichte; Forschungsschwerpunkte: Österreichische und Kärntner Zeitgeschichte, Arbeitergeschichte, grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Wilhelm Wadl, Dr. MAS; Historiker; Direktor des Kärntner Landesarchivs, Klagenfurt; Forschungsschwerpunkte: Kärntner Landesgeschichte und regionale Zeitgeschichte.

Julia Walleczek-Fritz, Mag. Dr.; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, EU-Projektleiterin an der Donau-Universität Krems, Department für Bauen und Umwelt; Forschungsschwerpunkte: Erster Weltkrieg, Geschichte Österreichs (Zwischenkriegszeit), Kulturtourismus, historische Migrationsforschung.

Daniel Wutti, HS-Prof. MMag. Dr.; Pädagogische Hochschule Kärnten – Viktor Frankl Hochschule, Institut für Mehrsprachigkeit und Interkulturelle Bildung; Forschungsschwerpunkte: Mehrheiten-/Minderheitenverhältnisse, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, Erinnerungskultur, Psychotraumatologie.

169 Impressum

Herausgeber Amt der Kärntner Landesregierung Abteilung 6 – Bildung Wissenschaft, Kultur und Sport Unterabteilung Kunst und Kultur Erika Napetschnig Burggasse 8 9020 Klagenfurt am Wörthersee

Peter Fritz/Kurator der Landesausstellung 2020

Konzeption und inhaltliche Verantwortung Peter Fritz/Kurator der Landesausstellung 2020

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Hinweise Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge liegt bei den Autorinnen und Autoren. Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wurde zum Teil von geschlechtergerechteren Formulierungen Abstand genommen. Die gewählte Form gilt jedoch für Frauen und Männer gleichermaßen.

Abbildungsnachweis Für den Bildnachweis wurden folgende Abkürzungen verwendet: KLA für „Kärntner Landesarchiv“ IGKA für „Archiv der Kärntner Arbeiterbewegung“ und für „Institut für die Geschichte der Kärntner Arbeiterbewegung“

Cover Blick auf die Drau, Oberkreuth. Foto: Daniel Zupanc.

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