„Die Gläserne Wand“ Siege Und Niederlagen Der Frauen Im Kampf Gegen Die Männerherrschaft
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Gesellschaft Alice Schwarzer, 1942 in Wuppertal gebo- viewten Frauen auf. Ihre Analyse: „Der va- Die Feministin Alice Schwarzer ren, studierte in Paris Psychologie und So- ginale Orgasmus ist ein Mythos“, die „Se- zieht Bilanz: „Die Saat geht auf“ ziologie, als sie sich in der Bundesrepublik xualität ein Instrument der Unterdrückung“. 1971 als Initiatorin einer breiten Kam- Das traf. Patriarchalische Familienordnung pagne gegen den Abtrei- und erigiertes Selbstbildnis der Männer- „Der kleine Unterschied bungsparagrafen 218 welt gerieten ins Wanken. Es schäumte die und seine Folgen“ hieß das hervortat. Ihren durch verbale Erregung in den Medien und an Buch, das Alice Schwarzer 1975 berühmt machte. spektakuläre TV-Auftritte den Stammtischen: „Schwanz-ab-Schwar- Ihre Streitschrift gegen die erworbenen Ruf als radi- zer“, „Hexe“, „frustrierte Tucke“. Die geifern- Unterdrückung des weib- kale Kritikerin der Männer- de Wut vieler Männer und die Mundpropa- lichen Geschlechts gilt gesellschaft festigte die ganda der Frauen machten das Buch zum seitdem als Manifest der Journalistin mit ihrem Bestseller. Die Autorin wurde 1977 Heraus- Frauenbewegung in Deutsch- Buch vom „kleinen Unter- geberin und Chefredakteurin einer neu ge- land. Nächste Woche schied“: In 14 Protokollen gründeten „Zeitschrift von Frauen für Frau- erscheint ihr neues Buch zeichnete sie den von Bit- en“ namens „Emma“. Schwarzer bewies („Der große Unterschied“) – ternis und sexueller Ge- fortan ihr Talent, sich selbst und ihre The- eine streitbare Bestands- DPA walt gekennzeichneten men medienwirksam zu inszenieren. Sie aufnahme. Autorin Schwarzer Alltag der von ihr inter- erfand den „Pascha des Monats“ (das Erst- FRAUENBEWEGUNG „Die gläserne Wand“ Siege und Niederlagen der Frauen im Kampf gegen die Männerherrschaft. Von Alice Schwarzer ie trägt ein blaues Kostüm. Tailliert und kniekurz. Dazu Stöckelschuhe Ton in Ton. Wir kennen sie alle. Es ist Bar- Sbie. Aber diesmal nicht im Minirock oder Hochzeitskleid. Diesmal im Karriere-Outfit der Präsidentin von Amerika. Ja. Der weltweit ins Stocken geratene Verkauf der Barbie-Puppe zwang den Hersteller, seiner magersüchtigen Blondine ein zeitgemäßes Image zu verpassen. Auch Hillary begnügt sich schließlich nicht länger damit, dekorative First Lady zu sein, sie will mächtige First Woman werden. Nach dem ersten Emanzipationsschock latschte Barbie als Fußballerin aus der Schachtel, sodann als Astronautin, jetzt tippelt sie als President 2000 Barbie ans Mikro. – Das ist der Stoff, aus dem zu Beginn des dritten Jahrtausends die Mädchenträume sind. Die Saat geht auf. Wir Feministinnen haben mehr erreicht, als ich vor 30 Jahren auch nur zu träumen gewagt hätte. Sicher, da- mals wollten wir die Welt aus den Angeln heben und die Sterne vom Himmel holen. Dass wir dazu aber auch Muskeln und Macht auf Erden brauchen, das hatten wir noch nicht so richtig zu Ende gedacht. Da kamen wir erst mit den Jahren drauf, nach dem Aus- zug aus den Frauenzentren und dem Einzug in die Welt. Es fiel nur ein Schuss. Am 3. Juni 1968 zielte in Manhattan Va- lerie Solanas, die Autorin des provokanten Manifestes der „Ge- sellschaft zur Vernichtung der Männer“ (S.C.U.M.) im Namen des Feminismus auf den Popkünstler Andy Warhol. Er überlebte. An- sonsten bewahrte die Frauenbewegung in Zeiten blutiger Auf- stände die Ruhe und machte sich lächelnd an die gewaltfreieste und erfolgreichste Revolution des 20. Jahrhunderts. Was Feministinnen nach 4000 Jahren unerschütterlicher Män- nerherrschaft innerhalb von diesen nur 30 Jahren erreicht haben, ist überwältigend. Und das, obwohl ihnen von Anfang an schärfs- ter Gegenwind ins Gesicht blies. Die Erwartung, mit der eine junge Frau heute in die Welt geht, unterscheidet sich fundamen- © Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. Der ungekürzte Text erscheint am 17. Oktober unter dem Titel „Der große Unterschied. Gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen“. 304 Seiten; 36 Mark. Demonstration gegen den Abtreibungsparagrafen (1971): „Es ist viel 80 der spiegel 41/2000 recht gestand sie SPIEGEL-Herausgeber nicht mehr ganz so schrill, was auch Rudolf Augstein zu), verklagte den am veränderten gesellschaftlichen „Stern“ wegen sexistischer Titelblätter Hallraum liegt. Doch selbst die Passa- und startete eine PorNo-Kampagne: gen, die wie Veteranenerzählungen da- „Pornografie ist eine direkte Reaktion herkommen, können den Schwung auf die Emanzipation.“ Aufsehen erre- nicht bremsen, mit dem die Autorin gend waren ihre Erfolge als Buchauto- die Fortschritte der letzten Jahrzehnte rin, ihre Biografien (Marion Dönhoff, feiert: „Die erfolgreichste Revolution 1996, und Romy Schneider, 1998) des 20. Jahrhunderts“. Und nicht min- und ihre Fallstudie über den Tod von der breit ist die Leinwand, auf der sie Petra Kelly und Gert Bastian (1993). vor der Reaktion warnt. Obwohl längst zum Mediendarling und Gerade weil die Frauen zur vielfach geehrten Stütze der Gesell- so viel an Terrain gewon- schaft avanciert, versteht die Publizis- nen hätten, nehme „die tin auch heute noch zu polarisieren. Sexualgewalt“ in der Her- Das beweist sie in ihrem neuen Buch, renwelt nun wieder zu: AP aus dem der SPIEGEL einen Vorab- „Das Imperium schlägt Männerdomäne Politik (G-8-Gipfeltreffen in Tokio) druck bringt. Zwar klingen die Fanfaren zurück.“ tal von dem, was ihre Altersgenossin in den Fünfzigern und Sech- dunkle Herz der Männerwelt. Und es ist kein zigern auch nur hoffen konnte. Innerhalb einer einzigen Ge- Zufall, dass mit der Forderung nach mehr neration hat es eine Revolution in den Köpfen gegeben. Junge Emanzipation auch die Sexualgewalt steigt. Frauen fühlen sich heute gleich stark mit Männern, das sehen wir Doch erstmals brechen Frauen auf breiter nicht nur im Alltag, das zeigen auch alle Umfragen – auch wenn Front ihr Schweigen und benennen das Grauen. es darunter eine wortlose Unterströmung gibt, die das neue Selbst- Seit sie formal die gleichen Rechte und ökono- bewusstsein unterhöhlt. misch eine relative Unabhängigkeit haben, Die weiterhin existierende Kluft zwischen den Geschlechtern schicken sie sich an, nun auch die härteste Bas- klafft nicht mehr wie einst in der Pubertät, sondern erst ein paar tion der Männerherrschaft zu stürmen: das Jahre später. So um 22, 23, wenn die männliche Gewaltmonopol über Frauen und neuen Frauen beginnen, ernsthaft Kinder. Sie könnten es schaffen. Denn es ist die Hälfte der Welt zu fordern – viel passiert in diesen letzten 30 Jahren. und von den Männern im Gegen- Erst seit 1974 kann eine Frau überhaupt um zug die Übernahme der Hälfte des „die Erlaubnis“ bitten, in den ersten zwölf Hauses erwarten. Erst dann wird Schwangerschaftswochen abtreiben zu dürfen. offensichtlich, dass die Realitäten Bis 1977 konnte ein deutscher Ehemann seiner sich nicht so schnell verändern las- Frau noch die Berufstätigkeit verbieten, wenn sie Schwarzer-Bücher sen wie das Bewusstsein. Aber das seiner Meinung nach „ihre Hausfrauenpflichten 1975, 2000 Bewusstsein ist der erste Schritt. vernachlässigt“. Erst seit 1994 haben Frauen das „Klein und groß“ Den zweiten, den Griff nach ihrer Recht, ihren eigenen Namen zu behalten, auch Hälfte, den üben die Frauen gerade wenn der Name einer Frau offiziell noch immer als „Mädchen- – und sie lernen dabei, dass die name“ bezeichnet wird. Als sei ihre eigenständige Existenz eine Art Männer auf ihre Privilegien nicht Jugendsünde. Und erst seit 1997 – und nur, weil die Politikerinnen freiwillig verzichten. aller Parteien sich zusammenschlossen und Druck machten! – Je mehr die reale Gleichheit ist die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Bis dahin konnte der wächst, umso mehr wird die sym- Mann auf seinem Recht zur „Erfüllung der ehelichen Pflichten“ be- bolische Ungleichheit propagiert stehen. und steigt die Gewalt. Der angebli- che „Unterschied“ zwischen den uch das, wofür die englischen Suffragetten Anfang des 20. Geschlechtern ist, wie offizielle Sta- Jahrhunderts verhaftet und mit Zwangsernährung gefoltert tistiken belegen, das Software-Pro- Aund deutsche Feministinnen 1933 von den Nazis ins Exil ge- gramm zur Aufteilung der Welt in jagt wurden – das Wahlrecht und den uneingeschränkten Zugang 99 Prozent Männerbesitz und ein zu Bildung und Beruf –, haben die Frauen sich längst im Sturm er- Prozent Frauenbesitz. Die Gewalt obert: Zu Beginn des dritten Jahrtausends macht in Deutschland ist die Hardware. Denn alle Macht- jedes dritte Mädchen Abitur, und an den Universitäten beginnen verhältnisse – egal, ob zwischen Völ- inzwischen mehr Studentinnen ein Studium als Studenten. Im kern oder Geschlechtern – basieren Parlament, das die Frauen nach langen Kämpfen 1918 erstmals be- im Kern auf Gewalt: ausgeübt oder treten durften, gibt es heute viermal so viele Frauen wie in den drohend. Und so ist das auch zwi- fünfziger Jahren: Fast jeder dritte Abgeordnete ist weiblich. schen Männern und Frauen. Und trotz aller Widernisse und trotz Arbeitslosigkeit sind 43 Diese Gewalt zwischen den Ge- Prozent aller Berufstätigen Frauen, und in den Nachbarländern schlechtern ist fast immer eine se- liegt die Zahl noch höher. Stimmt, die Mädchen gehen noch im- xualisierte Gewalt, die Frauen oft mer überwiegend in die 10 „weiblichen“ von insgesamt 331 Aus- schon in der Kindheit – durch Miss- bildungsberufen, wie zum Beispiel Arzthelferin oder Friseu- H. SÜLBERG brauch – bricht und lebenslang in rin. Aber sie haben ja auch noch gar nicht so lange die Wahl und passiert in diesen 30 Jahren“ Schach hält. Sexualgewalt ist das erst seit kurzem ermutigende Vorbilder: Architektinnen, die Flug- der spiegel 41/2000 81 aufgeschlossen