SWR2 Musikstunde
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Unser grösster Kirchencomonist“ (1) Gottfried August Homilius zum 300. Geburtstag Von Anette Sidhu-Ingenhoff Sendung: Dienstag, 22. April 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde mit Anette Sidhu-Ingenhoff Dienstag 22. April 2014 „Unser grösster Kirchencomonist“ Gottfried August Homilius zum 300. Geburtstag Mod 1 „Verehren möchte ich ihn manchmal wie einen Heiligen, wenn ich so von seinen Werken zu seinem Bildnisse komme; wie er da in seinem Schlafrocke und seiner Mütze, mit vom Alter ehrwürdigen Kopfe, aber immer noch thätigen Geiste, die Partitur in der Hand hält, und sie mit forschendem Blicke untersucht.“ So Ernst Ludwig Gerber um 1790 im Leipziger Tonkünstlerlexikon über die wohl einzige Abbildung des Komponisten Gottfried August Homilius, die erhalten ist. Eine Radierung von Christian Ludwig Seehas, heute zu finden in der Staatsbibliothek Berlin. Ein Heiliger mit einer Schlafmütze auf dem Kopf? In der Tat, er wirkt hier wie der deutsche Michel der Biedermeierzeit. Und doch typisch, Textilmuseen kennen mehrfach solche Abbildungen ganz privater Natur. Dass Carl Philipp Emanuel Bach vor 300 Jahren geboren wurde, hat sich schon herumgesprochen. Aber dass dies auch auf Gottfried August Homilius und Niccoló Jommelli zutrifft, sicher nicht. Kaum bekannt, ist das erste Urteil! Doch im 18. Jahrhundert liegen auch Schätze verborgen, die über Bach, Mozart und Beethoven einfach vergessen wurden. Es lohnt sich, nochmal genauer hinzuschauen und hinzuhören. Zu einer Musikstundenwoche, die den beiden weitgehend vergessenen Komponisten gewidmet ist, begrüße ich Sie ganz herzlich, meine Damen und Herren. Noch ein Blick auf das betulich-bürgerliche Bildnis des 68-jährigen Homilius. Wenn wir uns heute in das Werk dieses ganz großen evangelischen Kirchenkomponisten einhören, werden wir überrascht sein, dass sein Leben so gar nicht betulich-bürgerlich begann. Dazu gleich mehr. 1:45 3 Musik 1: Gottfried August Homilius: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ HoWV 1,2 Passionskantate in 2 Teilen für Soli, Chor und Orchester Daran ist erschienen (10) (Chor) Basler Madrigalisten Neue Düsseldorfer Hofmusik Leitung: Fritz Näf Mod 2 „Daran ist erschienen die liebe Gottes“, ein Chorsatz mit schlichten, gefühlvollen Melodien, von Streichern unterstützt. Dann ein kunstvolles Fugato „Dass wir durch ihn leben sollen“. Das stammte aus Homilius‘ Passionsoratorium „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ und ist typisch für den Stil dieser Zeit: Bachnachfolge und Empfindsamkeit. Die Basler Madrigalisten und die Neue Düsseldorfer Hofmusik waren zu hören. Der erwähnte Ernst Ludwig Gerber sagt an andrer Stelle, Homilius sei „..ohne Widerrede unser größter Kirchencomponist“. Warum aber wurde der so bekannte und wichtige Schöpfer von Werken des Nachbarocks völlig vergessen? Ein Blick in ältere Musikgeschichtsbücher zeigt: Johann Sebastian Bachs Schaffen gilt als eine so tiefgreifende musikhistorische Zäsur, dass alles, was nach ihm kommt, unter dem Zeichen von Niedergang und Verfall steht! So kam es zum Desinteresse an Werken aus der Zeit nach Mitte des 18. Jahrhunderts. Erst heute ist das anders. Neben den Bachsöhnen Wilhelm Friedemann, Johann Christian, Carl Philipp Emanuel wendet man sich jetzt auch dem Schaffen von Homilius neu zu. Vor allem, seit dem Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche rückte der Kantor und Organist, der dort viele Jahre tätig war, wieder ins Blickfeld. Und siehe da: eine Fülle von Motetten, Kirchenkantaten und Passionen tauchte auf. Für die Forschung und für die musikalische Praxis Grund genug, Manuskripte & Abschriften neu zu ordnen und zu drucken und Stücke auch wieder einzustudieren. Der Carus Verlag geht hier mit großer Sorgfalt vor. Soeben sind weitere Kantaten erschienen. 1:47 4 Musik 2: Gottfried August Homilius: „Warum toben die Heiden“, Kantate zum Sonntag nach Neujahr für Sopran, Bass, 4-stimmigen gemischten Chor, Orchester und Basso continuo HoWV II.31 Warum toben die Heiden. Coro Handel's Company Choir Handel's Company Leitung: Rainer Johannes Homburg Mod 3 Der Eingangschor der Kantate „Warum toben die Heiden“ mit Handel’s Company & Choir, Leitung: Rainer Johannes Homburg. Uwe Wolf, der seit Jahren über Homilius forscht und beim Carus Verlag in diesen Wochen ein Gesamtwerkverzeichnis herausgegeben hat, beobachtet richtig, dass – ungeachtet unsrer heutigen Wahrnehmung – das Musikleben in der Zeit nach Bach besonders lebendig war. Der bürgerliche Konzertbetrieb brauchte Nahrung, die Kirchenkantate, zuvor ein besonderes Aufführungsereignis an den Höfen, erreichte jetzt kleine und kleinste Städte. Ja die Kantate wurde Musik für alle. Und daran hat Homilius großen Anteil. Er kommt am 2. Februar 1714 als Sohn des Dorfpfarrers von Rosenthal in der Sächsischen Schweiz zur Welt. 8 Geschwister hat er, nach der Geburt des 9. Kindes stirbt – mal nicht die Mutter – sondern der Vater! Die Mutter zieht mit den vielen Kindern in den Nachbarort Porschendorf. Man lebt bei den Großeltern. Es folgen Schicksalsschläge, wie sie dramatischer kaum sein können: innert eines Jahres stirbt 1722 der Großvater, wenige Monate später wird das Haus der Familie bei einem Brand völlig vernichtet und kurz darauf stirbt die Großmutter. Wie fühlt man sich da? Als Kind einer Witwe mit 8 Geschwistern? Was für eine Lage! Die Kinder werden verteilt, weil die Mutter mit der Situation nicht mehr fertig wird. Im Alter von 9 Jahren kommt Homilius zu seinem Onkel Christian August Freyberg, der ist Direktor der Annen-Schule in Dresden. Was hilft nach all diesen Zusammenbrüchen: Schule, Disziplin, Ordnung? Das Erlernen von Latein und Griechisch? Der Glaube, erste Erfolge, vielleicht auch die Kirchenmusik? Irgendetwas von all dem 5 sicherlich. Jedenfalls ist da ein begabter Musiker in der Schule, der schon bald durch gutes Cembalo- und Orgelspiel auffällt. Der erst 10- Jährige verfasst, als die Mutter wieder heiratet, eine Familienchronik, gereimt und mit gelehrten Anmerkungen versehen. Sie wird sogar gedruckt! Musik 3: Gottfried August Homilius: „Kommt her und sehet an die Wunder Gottes“ Motette, HoWV V.21 sirventes berlin Leitung: Stefan Schuck MOD 4 Mit Sirventes Berlin soeben neu erschienen: Motetten von Homilius. Bei diesen sogenannten Spruchmotetten auf Psalmverse entfaltet er eine unglaubliche Formenfülle, wie hier mit einem Fugenthema, das im wahrsten Sinne „weit erschallt“, indem es sich echoartig immer wieder im weiten Raum verliert. Wenn man sich das alte Leipzig und Dresden vor etwa 300 Jahren vorstellen möchte, muss man ganz einfach nur die Bilder Canalettos betrachten. Da steht die neu erbaute Frauenkirche zwischen den bürgerlichen Barockbauten des Neumarkts und der Altstädter Wache. Prächtig, ja fast monumental ragt sie empor mit ihrer hoch aufgerichteten Kuppel und den schön ausgestatteten Seitentürmchen. Davor die Elbe mit ihren Brücken. 1734 wird an der Frauenkirche eine neue Silbermann Orgel eingeweiht. Als Homilius hier mit knapp 30 Organist wird, ist er genau an der richtigen Stelle. Er versucht zwar noch, sich in Zittau zu bewerben, weil ihm das Gehalt nicht reicht, Konkurrenten sind – man höre und staune - Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann Bach. Doch Homilius bleibt in Dresden. Fast filmisch realistisch ist der Eindruck der Stadt, den man aus Canalettos Bildern gewinnen kann, der Band mit seinen Stichen erschien 2009. Ganz ähnlich: anonyme Lithographien von Leipzig mit seiner Stadtmauer. So also sah die Welt aus, in der Homilius umherging, lebte und arbeitete. 1:30 6 Musik 4: Gottfried August Homilius: „Selig seid ihr, wenn ihr geschmähet werdet“, Kantate zum Sonntag Exaudi für Sopran, Alt, Tenor, Bass, Chor und Orchester 1. Satz: Selig seid ihr, wenn ihr geschmähet werdet Chor 2. Satz: Wie groß, wie wichtig ist die Pflicht. Rezitativ (Alt) Vasiljka Jezovsek (Sopran) Anne Buter (Alt) Hubert Nettinger (Tenor) Christian Hilz (Bass) Dresdner Kreuzchor Dresdner Barockorchester Leitung: Roderich Kreile Mod 5 Vasiljka Jezovsek, Sopran, Anne Buter, Alt, der Dresdner Kreuzchor und das Dresdner Barockorchester unter Leitung von Roderich Kreile. Die instrumentale Einleitung mit Streichern und Holzbläsern, das Solistenduett, der Chorsatz dieser Kantate „Selig sei ihr, wenn ihr geschmähet werdet“ zum Sonntag Exaudi vermitteln ein Gefühl dafür, wie weit weg vom alten Bach wir hier schon sind. Und? Kann er ein Schüler Johann Sebastian Bachs gewesen sein? Das fragen sich die Biographen. Beweise gibt es dafür keine! Öfters aber war er Continuo-Spieler des Thomaskantors. Beim Bach-Biografen Johann Nikolaus Forkel kann man lesen: „Alle seine (Bach’s) Schüler sind bey dieser so vortrefflichen Lehrart ausgezeichnete Künstler geworden…Homilius in Dresden nicht nur ein vortrefflicher Organist,