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30 Jahre Literarische Turnhalle

Weilheimer Anthologie 1980 – 2010

Vorwort: Hans Maier

Reading is to the mind what exercise is to the body. Was der Sport für den Körper ist, ist das Lesen für den Geist. (Joseph Addison 1710 in der Zeitschrift  e Tatler)

66 Weilheimer Hefte zur Literatur 1 Das erste Weilheimer Heft – Ilse Aichinger: Gedichte und Prosa – erschien am Vorwort 23. April 1980. 1995 wurde der 23. April (der Todestag von Cervantes und von Shakespeare) von der UNESCO zum Welttag des Buches erklärt. Eine Anthologie, ganz anders als andere Sammlungen, mit Gedichten, Szenen und Prosatexten aus 30 Jahren, mit den Namen vieler zeitgenössischer Autoren, mit zahlreichen, oft überraschenden Informationen über sie und ihre Interpreten – ein Heft, das ganz selbstverständlich daherkommt und zu dem es doch kein Dem Andenken des in der Nähe von Weilheim Gegenstück gibt (ich kenne keines!). Literatur, gelesen und gehört in Weilheim, beheimateten Dichters Albrecht Haushofer in der inzwischen weitbekannten »Literarischen Turnhalle«. Eine kleine große gewidmet, der vor 65 Jahren, am 23. April 1945, Summe der Gegenwartsliteratur, bequem in die Tasche zu stecken und überall zu in Berlin von der SS ermordet wurde lesen, zu Hause, in der Bahn, im Flugzeug.

Selten, daß Literatur so unkonventionell, so lebendig dargeboten wird wie hier. Das Umschlagbild auf der Vorder- und Rückseite gibt etwas wieder von der At- mosphäre der Lesungen in Weilheim, der Aufmerksamkeit und Spannung im Pu- blikum, der Neugier auf die Sprecher und ihre Texte, dem Vergnügen am Wort, an der Sprech- und Dichtkunst. Und die Autoren: auch sie nehmen gern einmal »ein Bad in der Menge«, statt immer nur mit Verlegern und Lektoren zu korre- Die Weilheimer Hefte zur Literatur werden herausgegeben von den Deutschlehrern am Gymna- sium Weilheim, Murnauer Straße 12, D 82362 Weilheim i. OB. spondieren, man sieht es ihnen an. Reden, Erzählen, Zuhören, Mitdiskutieren Herausgeber sind bzw. waren: Hermann Summer (Schulleiter seit 2004), Hans Heck (Schulleiter – davon leben die Weilheimer Abende bis heute. Man schaue hinein in dieses

1984 – 2004), Alfred Loos (Schulleiter bis 1984, † 2005); Käthe Bader (1980 – 81), Elisabeth Bayer Heft, es gibt einen lebhaften Eindruck davon. Hat man einmal angefangen zu (1981 – 86, † 2009), Walter Brandsch (1980 – 83), Ingrid Klingner (1998 – 2002), Robert Kramer lesen, kommt man von der Lektüre nicht mehr los. Kann man Besseres von einen (1985 – 92), Hans Oberauer (1986 – 98), Alfred Proksch (1986 – 94, † 2003), Heinrich Rühle (1986 literarischen Schulheft sagen? – 2001), Rosmarie Schlickenrieder (1980 – 81), Franz Schreiber (1981 – 85, † 2000), Dr. Hans Peter

Syndikus (1981 – 92), Dr. Friedrich Wambsganz (2001 – 09).

Redaktionsmitglieder sind bzw. waren: Beatrix Aigner (seit 2001), Gerhard Auers (1980 – 99, † 2005),

Friedrich Denk (1980 – 2004), Helmut Fietzek (seit 2001), Irene Gesele (seit 2005), Bernhard München, im Januar 2010

Grießhammer (1980 – 2001), Claudia Herdrich (seit 2008), Jürgen Kossegg (1994 – 2003), Uta Lechner (1999 – 2009), Peter Lippert (1980 – 96), Piroschka Pongratz (seit 2007), Beate Rieger (1990 Hans Maier – 94, – 2005 Herausgeberin), Christian Rühle (seit 2006), Brigitte Schmieschek (1980–85), " omas

Schröer (1980 – 2005), Friedrich Werner (1982 – 90, 1980 –82 Herausgeber), Gerhard Werthan (1996

– 2007), Alexandra Wiegand (2005 – 6). In den 30 Jahren seit 1980 haben also insgesamt 30 Deutsch- lehrerinnen und Deutschlehrer sowie drei Schulleiter am Projekt Weilheimer Hefte mitgewirkt. Wir danken 30 Rechteinhabern für die freundliche Erlaubnis, die Texte für diese Anthologie aus den Weilheimer Heften 1 bis 64 bzw. aus den Originalausgaben abdrucken zu dürfen (nähere Angaben und ein Abkürzungsverzeichnis $ nden sich auf S. 78, ein Inhaltsverzeichnis auf S. 79). Zu den Überschriften: Das Heft enthält 41 Gedichte, sieben kurze Prosatexte (von Mario Adorf, , Robert Gernhardt, , " omas Hürlimann, Michael Krüger und Hans Joachim Schädlich), zwei kurze Szenen (von Loriot und Polt) sowie 34 Ausschnitte aus Dramen und Prosawerken: Bei drei Romananfängen (Ilse Aichinger, Gertrud Fussenegger und Sten Nadol- ny) wurde die Überschrift des ersten Kapitels übernommen, die Überschriften zu den 31 übrigen Texten wurden von der Redaktion formuliert. Die Schreibung der Texte folgt den Druckvorlagen. Graphische Gestaltung: " omas Rücker.

Weilheim, zum 23. April 2010 2 3 Mitwirkende am Projekt Ilse Aichinger, Weilheimer Heft 1 : Gedich- Ilse Aichinger: Die große Ho+ nung »Literarische Turnhalle« te und Prosa, Erscheinungsdatum: 23. April 1980. Lesung am 26. September 1980 im Rund um das Kap der Guten Ho+ nung wurde das Meer dunkel. Die Schi+ ahrts- H. G. (Hans Günther) Adler (1910 Prag – Musiksaal. W. Heft 23: Rede an die Jugend. linien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine 1988 London): Vortrag im Musiksaal am Weilheimer Literaturpreis 1988 (Laudatio: Joachim Kaiser) am 10.3.1988. Mitwirkung Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer über% utete 9.5.1986 über Die Prager deutsche Literatur alle Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie (Einführung: Ivan Diviš). Lyriker, Erzähler bei der Gedenkfeier für Hans Werner Rich- und Historiker, überlebte die Konzentra- ter am 12.11.1993 und der 20-Jahrfeier der schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine tionslager # eresienstadt (wo seine Eltern Weilheimer Hefte am 30.3.2000. Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre starben), Auschwitz (wo seine Frau ermor- Geb. am 1.11.1921 in Wien. Schulzeit im Zerrissenheit. det wurde) und Buchenwald. Bis 1947 wie- Sacré Coeur. Der Kriegsbeginn zerstörte die Die Dunkelheit landete und bewegte sich langsam gegen Norden. Wie eine große der in Prag, dann Exil in London. Nannte Ho+ nung, wie ihre Schwester emigrieren zu Karawane zog sie die Wüste hinauf, breit und unaufhaltsam. Ellen schob die Matro- sich nur noch H. G. Adler, da der Orga- können. Die Großmutter wurde 1942 de- senmütze aus dem Gesicht und zog die Stirne hoch. Plötzlich legte sie die Hand auf nisator der Judenverfolgung im »Protekto- portiert. Die Mutter lebte mit ihr in größ- das Mittelmeer, eine heiße kleine Hand. Aber es half nichts mehr. Die Dunkelheit rat Böhmen und Mähren« Hans Günther ter Gefahr in einem Zimmer im 4. (o/ zi- war in die Häfen von Europa eingelaufen. geheißen hatte. ! eresienstadt 1941 – 1945, ell: III.) Stock in der Marc-Aurel-Str. 9 im Schwere Schatten sanken durch die weißen Fensterrahmen. Im Hof rauschte ein Brun- Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 1955 1. Bezirk, nah am Donaukanal, der Salztor- nen. Irgendwo verebbte ein Lachen. Eine Fliege kroch von Dover nach Calais. / Eine Reise, E. 1962 / Panorama, R. 1968. und der Gonzagagassse und schräg gegen- Ellen fror. Sie riß die Landkarte von der Wand und breitete sie auf den Fußboden. über vom Gestapo-Hauptquartier. Mario Adorf, Weilheimer Heft 57, Le- Und sie faltete aus ihrem Fahrschein ein weißes Papierschi+ mit einem breiten Segel sung am 4. Dezember 2003 (s. S. 6). Nach dem Krieg studierte sie Medizin und Helga Aichinger, geb. am 1. November begann zu schreiben. In der Gruppe 47, in der Mitte. 1921 in Wien: Zwillingsschwester von deren Preis sie 1952 erhielt, lernte sie Gün- Das Schi+ ging von Hamburg aus in See. Das Schi+ trug Kinder. Kinder, mit denen Ilse Aichinger, % oh im Juli 39 mit dem ter Eich kennen und heiratete ihn 1953. Sie irgend etwas nicht in Ordnung war. Das Schi+ war vollbeladen. Es fuhr die West- letzten Kindertransport der Quäker nach lebten in Breitbrunn am Chiemsee, Leng- küste entlang und nahm immer noch Kinder auf. Kinder mit langen Mänteln und London, wohin ihre jüdische Mutter, bis gries und Großgmain. 1972 starb Günter ganz kleinen Rucksäcken, Kinder, die % iehen mußten. Keines von ihnen hatte die März 1938 Ärztin an einer Kinderklinik in Eich, 1998 Sohn Clemens. Viele Preise, zu- Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen. Wien, ihre Großmutter und ihre »halbjü- letzt der Joseph-Breitbach-Preis 2000 (auch Kinder mit falschen Großeltern, Kinder ohne Paß und ohne Visum, Kinder, für die dische« Schwester folgen sollten. den Büchner-Preis hätte sie verdient). niemand mehr bürgen konnte. Deshalb fuhren sie bei Nacht. Niemand wußte davon. Beim ersten Wiedersehen nach dem Krieg Die größere Ho% nung, R. 1948 / Der Gefessel- Sie wichen den Leuchttürmen aus und machten große Bogen um die Ozeandampfer. erkundigte sich Helga bei Ilse nach dem te, E.n 1953 / Werke (8 Bände) 1991 / Film Wenn sie Fischerbooten begegneten, baten sie um Brot. Um Mitleid baten sie nie- »sympathischen deutschen Arzt«, der Mit- und Verhängnis, Blitzlichter auf ein Leben, manden. (Die größere Ho% nung, Roman (Anfang), 1948, 1960) te der 30er Jahre an der Kinderklinik ihrer 2001 / Unglaubwürdige Reisen, 2005.

Mutter in Wien hospitiert, sich für Zwillings- Carl Amery (1922 – 2005) wirkte bei der forschung interessiert und sie mehrmals zu Feier für Hans W. Richter mit. Die Kapitu- Hause besucht hatte. lation oder Dt. Katholizismus heute, 1963 / Gonzagagasse – Weißt du noch, wie er geheißen hat? Der Untergang der Stadt Passau, R. 1975. – Nein. – Dr. Mengele! (Vgl. Imre Kertész) Winfried Arenhövel, geb. 1949 in Weimar, Die Flammen aus den Speichern hat der Himmel genährt,

Durch Helga Michie geb. Aichinger lern- Musiker in Greiz, wo R. Kunze 1962 – 1977 er zog sie auf, er lehrte sie brennen, er begeisterte sie ten wir H.G. Adler, Michael Hamburger, lebte, hielt dort am 3.10.1990 die Rede zur an den Pfeilerhölzern der Brücken. Hilde Spiel und Prof. Peter Stern kennen, Wiedervereinigung (Weilheimer Heft 29). Unterdessen zogen die Salzschi+ e gleichmütig vorbei, die alle zu uns nach Weilheim kamen. Sie Dr. Wolfgang Baur, geb. 1942 in Boos/ Maut wurde eingehoben, Zoll bezahlt, selbst kam im Oktober 1985 ins Atelier Schwaben, Promotion über Robert Walser, die Tauben nahmen zu. von ! omas Rücker zu einer Ausstellung Deutschlehrer, Autor und Verleger (Verlag Vor der Schusterwerkstatt gedieh das Tempelhüpfen. ihrer Gra' ken, die ihre Zwillingsschwester Kunst und Alltag), sprach am 21. April Dort sprangen sie, in dunkle Mäntel gehüllt, 1988 über Robert Walsers Jakob von Gun- einführte: Der Essay Die Linien meiner weil die Frühlingsabende kühl sind, von Feld zu Feld Schwester ' ndet sich neben Gedichten und ten (W. Literaturkalender 1988). Gra' ken in: Helga Michie, Concord, 2006. Hans Bender, W. Heft 26 (s. S. 7). dem Stein nach bis unter den Kreidebogen. (1970) 4 5 Mario Adorf: Mein Kampf Hans Bender: Willst du nicht beitreten?

Es muß der 7. oder 8. März gewesen sein. Ich schob Wache vor der O€‚ƒ„ †‡- In der Parallelklasse war ein Schüler, der sich mehr als alle anderen für die Litera- ˆ†‡‰€. Auf einmal sah ich durch den Feldstecher auf der anderen Seite der Stadt, tur interessierte. Heinz Schö" er hieß er. Weil sein Vater ein reicher Kaufmann war, auf der Kelbergerstraße, Panzer, amerikanische Panzer, eins, zwei, drei, vier! Aufge- durfte Heinz außerhalb der Schule in einem kleinen Haus hinter dem Friedhof in regt rannte ich in den Raum des Ortskommandeurs. Der saß beim Essen. Ich baute Untermiete wohnen. Beneidenswert war er. In seinem Zimmer stand ein Regal voller Männchen und schrie aus vollem Hals: »Herr Oberstleutnant, melde gehorsamst, Bücher: Klassiker-Ausgaben, Bücher von George, Rilke, Hofmannsthal, aber auch vier feindliche Panzer auf der Kelbergerstraße!« Der kaute vornehm zu Ende, tupfte von Dichtern, die noch am Leben waren. verehrte er und sagte des- sich den Mund mit einer Serviette und sagte: »Leise, mein Junge, das ist doch kein halb immer den Vornamen dazu und dehnte die zwei »a« ein wenig. ... Grund, so zu schreien.« Sprach’s, stand auf, ging hinaus zu seinem Wagen, fuhr davon Auch Heinz schrieb Gedichte und Dramen. Aber so ernst wie mir war es ihm damit und ward nie mehr gesehen. Sein Adjutant hingegen, ein junger Leutnant, war ein nicht. Er wolle Schauspieler werden, sagte er; oder noch lieber »Kulturattaché«. So ganz scharfer Hund. Durch mein Fernglas sah er sich die amerikanischen Panzer an, könne er fremde Länder kennenlernen. Auch in seiner Lebensart war Heinz mir vor- die immer noch da oben auf der Kelbergerstraße standen und bedrohlich ihre Türme aus. Er nahm mich mit in die Weinstube »Zur Traube«. Er schäkerte mit der Tochter, schwenkten. Plötzlich wurde auf dem Goloturm der Genovevaburg die Hakenkreuz- die uns bediente. Mit Messer und Gabel aßen wir Camembert-Brote, tranken dazu Œ agge eingeholt und gleich darauf eine weiße Fahne gehißt. Der Leutnant Œ uchte Spätburgunder aus dicken Kelchgläsern und redeten über Literatur. Heinz gebrauch- und schrie ins Telefon: »Wer zum Teufel hat den Befehl gegeben, die Flagge einzuho- te gern Fremdwörter. »Sublim« und »sublimiert« sagte er immer wieder. Er hatte len? Den Kerl lass’ ich an die Wand stellen! Los! Runter mit dem weißen Fetzen und schon eine Zeitschrift abonniert: Das innere Reich. die deutsche Fahne hoch!« Ich wetteiferte mit Heinz. Jeden Tag ein Buch, wenigstens ein Drama oder eine Er- Tatsächlich ging nach ein paar Minuten die weiße Fahne runter, die Hitlerfahne zählung zu lesen, nahm ich mir vor und notierte alle Titel, die ich gescha t hat- wieder hoch. So ging es drei- oder viermal. Es müssen sich dramatische Szenen in der te. Ein Kunterbunt kam zusammen: der Werther und Die Majorin, der Zarathustra Burg abgespielt haben, wo einige couragierte Bürger mit den unbelehrbaren Durch- und Hilligenlei , Kraft und Sto# und Pallieter , Aus dem Leben eines Taugenichts und haltefanatikern um die Erhaltung der schon so sehr zerstörten Stadt rangen. Das Wäldchen 125. Ich las die Machiavelli-Biographie von Giuseppe Prezzolini, die Jedermann wußte, daß sich die Amerikaner bei der geringsten Gegenwehr zurückzie- van-Gogh-Biographie von Irvin Stone. ... Kein Buch kam zu einem günstigeren hen würden, um erst noch einmal ihre Bomber zu schicken. Zeitpunkt als Hesses Demian. Was Sinclairs Freunde, Demian und Pistorius, mich Inzwischen ließ unser Leutnant den Volkssturm zusammentrommeln, ein erbärmli- lehrten, war aufregender als alles, was die Lehrer uns beibrachten. Es gab eine »lichte« ches HäuŒ ein alter Männer und einer Handvoll Jungens wie ich. Die Wa enkam- und eine »dunkle« Welt, eine »unerlaubte«. Beide mußte man bejahen. ... mer wurde aufgeschlossen, und es wurden Gewehre und Panzerfäuste verteilt. Ich Mitten im Hof stand ein Fahnenmast. Da hißten am Morgen uniformierte Jungen schulterte zwei Panzerfäuste, und unter dem Kommando meines Freundes, dem die Hakenkreuzfahne und holten sie am Abend ein. Ein Teil der Schüler gehörte UnteroŽ zier, hieß es: »Ohne Tritt Marsch! Richtung Panzersperre Kelbergerstraße.« dem »Jungvolk« und der »Hitlerjugend« an; mehr Schüler der Realabteilung als der Aber schon nach ein paar hundert Metern sagte mein UnteroŽ zier: »Das Ganze halt! humanistischen Gymnasialabteilung. Auf dem Sportplatz hinter den Schulgebäuden Wa en vorsichtig nach rechts in die Büsche! So, und jetzt ist für uns der Krieg zu vollzogen sie ihre größeren Zeremonien. Da gab es Aufmärsche, wenn die Fähnlein Ende. Und ihr«, er wandte sich an uns Jungen, »ab nach Hause zu Mutti! Und zieht oder die Banne zusammenkamen: Trommeln wurden geschlagen, Fanfaren geblasen, die Uniformen aus!« Ich lief nach Hause, zog meine Uniform aus und warf sie in den Gedichte und Kantaten rezitiert und Sonnwendfeuer abgebrannt. In den Kellerräu- Bach hinter unserem Haus, zusammen mit meinem Fahrtenmesser und einem Buch: men hielten sie ihre Heimabende. An den Wochenenden zogen sie aus zu Gelände- »M‡ K† ‘’«. (Der Mäusetöter, 1992) spielen. Ab und zu kam ein Gesandter der HJ und fragte: »Willst du nicht beitreten?« (Postkarten aus Rom, 1989) Geb. am 8. September 1930 in Zürich als Sohn eines italienischen Arztes, aufgewachsen bei der Mutter in der Eifel. Vielfach ausgezeichneter Schauspieler auf der Bühne (1955 Geboren am 1. Juli 1919 in Mühlhausen (Kraichgau), nach Kriegsdienst und russischer bis 1962 in den Münchner Kammerspielen), im Fernsehen und in mehr als 140 Filmen. Gefangenschaft (bis 1949) Studium in . Publizist, Lektor und Herausgeber

Der Mäusetöter. Unrühmliche Geschichten, 1992 / Der Dieb von Trastevere. Geschichten aus (u. a. der Zeitschrift Akzente und zahlreicher Anthologien), Erzähler, Lyriker und Essayist. Italien, 1994 / Der Fenstersturz und andere merkwürdige Geschichten, 1996 / Himmel und Eine Sache wie die Liebe, R. 1954 / Der Hund von Torcello, 32 Geschichten, 1984 / Bruderherz, Erde. Unordentliche Erinnerungen, 2004 / Mit einer Nadel bloß. Über meine Mutter 2005. Erzählungen 1987 / Postkarten aus Rom. Autobiographische Texte, 1989 / Wie es kommen wird. Weilheimer Heft 57: Das Orakel und andere Erzählungen. Lesung am 4. Dezember 2003 Meine Vierzeiler, 2009. Weilheimer Heft 26: Drei Geschichten; Lesung am 6. April 1989, in der Hochlandhalle (Einführung: Prof. Dieter Borchmeyer). Mitwirkung bei der 20-Jahrfeier der Weilheimer Hefte am 30. März 2000. 6 7 Peter Bichsel, W. Heft 50 (s. S. 9). Prof. Dieter Borchmeyerstellte am 2.10. Peter Bichsel: Die Leser Horst Bienek führte den Exil-Abend am 1991 H. J. Schädlich vor, hielt im März 1993 19.3.87 ein. Geb. 1930 in Gleiwitz, Schü- die Laudatio auf Gertrud Fussenegger, wirk- Im Restaurant hängt eine große Tafel mit den Speisen, die heute angeboten werden. ler von Brecht am Berliner Ensemble, 1951 te bei der 20-Jahrfeier mit und führte die Mittags kommen die Gäste, bleiben nach der Tür stehen, heben ihren Blick hoch zur verhaftet, wegen »staatsfeindlicher Hetze« Lesungen von P. Ustinov und M. Adorf ein. Tafel und wählen ihr Menü aus. zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, La- Geb. 1941 in Essen, Prof. für # eater- Und wenn sie so dastehen, sehen sie aus, als würden sie beten – ihr Blick ist wie der gerhaft in Workuta (Sibirien), 1955 entlas- wissenschaft in München (1982 – 88) und sen, seit 1961 in München, wo er 1990 starb. Ordinarius für Neuere deutsche Literatur Blick der Frommen zum Hochaltar. Wäre da ein TV-Gerät, der Blick wäre ein ande- rer. Sie stehen hier andächtig, und es beschämt mich ein bißchen, ihnen zuschauen Gleiwitzer Tetralogie, R.e 1975 – 1982. und # eaterwissenschaft in Heidelberg. , W. Heft 37 : Nur wer sich Präsident der Bayerischen Akademie der zu müssen. Ich habe den Eindruck, ich beobachte sie bei etwas sehr Intimem – näm- ändert, bleibt sich treu; L. und Konzert am Schönen Künste. Herausgeber von Goe- lich beim Lesen.

21.4.1994 in der Stadthalle. Für das W. the, Richard Wagner, # omas Mann u. a. An der Busstation steht eine Frau. Sie hat ein dickes Taschenbuch in der Hand, ein Heft schrieb er seine Biographie: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, sehr benütztes, zer' eddertes, sie streckt ihren Hals vor, wird eins mit dem Buch und »November ’36: geboren in Hamburg. Beide 1994 / Schnellkurs Goethe, 2005 / Mozart liest – eine sehr junge Frau, eine sehr schöne Frau. Sie liest. Ich bin wieder beschämt, Eltern Arbeiter, beide auch Kommunisten. Der oder die Entdeckung der Liebe, 2005. daß ich sie dabei beobachte. Der Bus kommt. Sie steigt lesend ein, liest weiter. Sie Vater saß politisch und wurde 1943, weil er Sein Vortrag über »Faust als Komödie« (am erinnert mich an einen frommen Mönch mit seinem Brevier. außerdem noch Jude war, aus dem Gefängnis 22.6.1998 im Musiksaal) inspirierte Cordula In meiner Beiz gibt es wenige Leser. Auch der Blick wird hier nicht von allen gelesen, in Bremen nach Auschwitz entlassen und dort Trantow dazu, bei ihrer »Faust«-Inszenie- aber von allen erzählt. Es wird hier behauptet und gesagt und noch einmal gesagt. Ich ermordet. 1953, also mit 16 Jahren, kurz nach rung im Stadttheater die obszönen »Para- gehöre hier mit dazu, vielleicht nicht einmal gern, aber einfach so. Stalins Tod und kurz vor dem Arbeiteraufstand lipomena« zur Walpurgisnacht spielen zu am 17. Juni, übersiedelte Wolf Biermann aus lassen. Die Frau des Bürgermeisters verließ Einer von meinen Kumpanen heißt Paul. Er redet auch und er behauptet auch, und seiner Vaterstadt in sein rosarotes Vaterland türeknallend das Theater – Skandal! Ende er gehört auch dazu. Er ist Geleisemonteur – früher hieß das Gramper. Er ist jung, und wurde Bürger der DDR. Abitur, Studium des Weilheimer Theatersommers, Vorhang sehr jung, und er macht nie den Eindruck, daß er mit Buchstaben zu tun hat. der Wirtschaftswissenschaften, Regieassistenz auf für die »Weilheimer Festspiele«! Nun kommt das Gespräch zufällig auf Calvados, und Paul sagt: »In Drei Kameraden am Brecht-# eater ‚Berliner Ensemble‘. ... Günter de Bruyn, Weilheimer Heft 45: trinken sie auch Calvados.« Ich kenne das Buch und den Autor, Erich Maria Remar- Erste Lieder und Gedichte seit 1960. … Non scholae; Lesung am 23. Oktober 1997. que. Ich erschrecke, es kann doch nicht sein, daß er liest. »Du hast das gelesen?« frage November ’65: Beginn des totalen Auf- Geb. am 1. November 1926 in Berlin, 1942 ich, und nun sprudelt es aus ihm heraus. Am liebsten lese er Tschechow. Und dann tritts- und Publikationsverbots in der DDR. starb der Vater; zwei Brüder % elen im Krieg, fragt er: »Kennst du Meister und Margarita von Bulgakow?« Das kenne ich, eines der Seine Lieder und Gedichte verbreiteten sich 1943 wurde das elterliche Haus bei einem größten Bücher, die je geschrieben wurden, lang und schwer zu lesen. in der DDR von da ab immer mehr durch Luftangri& zerstört. 1944/1945 war er Sol- Er hat es gekauft in der Buchhandlung, ein teures Buch. »Wie kamst du dazu, wer Handabschriften und Tonbandkopien. … dat, wurde am 1.4.1945 (Ostersonntag) bei hat es dir empfohlen?« frage ich, und er sagt: »Ich wollte eigentlich Charles Bukow- Der Kon$ ikt verschärfte sich seit der Nieder- Wien schwer verwundet und überlebte in ski, und dann habe ich danebengegri& en in der Buchhandlung. Weißt du«, sagt er, schlagung des ‚Prager Frühlings‘ 1968, und mehreren Lazaretten (im ersten Roman er kulminierte im Der Hohlweg (1963) verarbeitet). Rück- »ich lese auch Comics, ich lese alles – ich lese gern. « Und dann sagt er, und deshalb November ’76. Gegen alle Rechtsnormen – auch kehr nach Berlin, Ausbildung zum »Neu- schreibe ich das hier auf: »Aber du bist in die richtigen Schulen gegangen, und du der DDR – wurde W. B. von den Bonzen derlehrer«, dann zum Bibliothekar. Seit 1961 weißt das alles – bei mir ist das nur Zufall.« Partei, nach einem Konzert für die IG Metall infreier Schriftsteller. Protestierte mehrfach Er glaubt wirklich, daß jene, die »in die Schulen gegangen sind« – Leser sind. Sie sind Köln, ausgebürgert. Die Protestbewegung gegengegen die DDR-Kulturpolitik. Jean-Paul- es nicht. Leser sind selten, und das Lesen in diesem Sinne hat noch niemand in der diesen Willkürakt markiert für viele MenschenPreis 1997, Deutscher Nationalpreis 2002. Schule gelernt. ... (Alles von mir gelernt, 2000) den Anfang vom Ende des SED-Regimes. ...« Buridans Esel, Roman, 1968 / Märkische Büchner-Preis 1991, Dt. Nationalpreis 1998. Forschungen, Erzählung, 1978 / Zwischen- Geb. am 24. März 1935 in Luzern, von 1951 bis 1955 Ausbildung am Lehrerseminar, Die Drahtharfe. Balladen, Gedichte, Lieder, bilanz. Eine Jugend in Berlin, 1992 / Vierzig dann bis 1968 Primarlehrer. Preis der Gruppe 47 1965, Gottfried-Keller-Preis 1999. Berlin (West) 1965 / Alle Lieder, 1991 / Jahre. Ein Lebensbericht, 1996 / Als Poesie Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen, 21 Geschichten, 1964 / Kin- Über Deutschland unter Deutschen, Essays, gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 dergeschichten, 1969 / Zur Stadt Paris, Geschichten, 1993 / Alles von mir gelernt, Kolumnen

2002 / Heimat. Neue Gedichte, 2006 / Ber- bis 1807, 2006. 1995 – 1999, 2000 / Über Gott und die Welt, Schriften zur Religion, 2009. lin, du deutsche deutsche Frau, G. 2008. Lothar-Günther Buchheim, W. Heft 43, Weilheimer Heft 50: Acht Geschichten, Lesung am 29. März 2000 (Einführung: # omas Zahlreiche Platten und CDs. Lesung am 13. November 1996 (s. S. 12). Hürlimann), Mitwirkung bei der 20-Jahrfeier am 30. März 2000. 8 9 Wolf Biermann: Ermutigung Und als wir ans Ufer kamen Günter de Bruyn: Assessor Krättge, Deutschlehrer Peter Huchel gewidmet Und als wir ans Ufer kamen Ein kritischer Kopf war der Referendar oder Assessor Krättge, ein junger Mann mit Und saßen noch lang im Kahn starker Brille, hoher Stirn und wirren Haaren, der bei uns Deutschunterricht gab. Du, laß dich nicht verhärten Da war es, daß wir den Himmel Der war vielleicht ein schlechter Pädagoge, weil er oft satirisch wurde und allzu In dieser harten Zeit Am schönsten im Wasser sahn deutlich seinen Widerwillen gegen geistig träge Schüler zeigte, aber sein Literatur- Die all zu hart sind, brechen, Und durch den Birnbaum % ogen Enthusiasmus riß die weniger Trägen mit. Paul Schulz prophezeite er ein schwieriges Die all zu spitz sind, stechen Paar Fischlein. Das Flugzeug schwamm Leben, da die Normalen Genies nicht ertragen könnten; der lange Sturm bekam oft Und brechen ab sogleich Quer durch den See und zerschellte den klassischen Vers: »Hört ihr’s wimmern hoch vom Turm ...« zu hören; wenn Kohl- Sachte am Weidenstamm haase rezitierte, malte Krättge eine große Null an die Tafel; und meine Faulheit wurde Du, laß dich nicht verbittern – am Weidenstamm von ihm mit der Intimbemerkung geahndet: wer schon morgens um sieben beim In dieser bittren Zeit Bäcker (über dem Krättge wohnte) dem schönsten Mädchen von Britz au% auere, Die Herrschenden erzittern Was wird bloß aus unsern Träumen dem bleibe natürlich für Geistiges keine Zeit. – sitzt du erst hinter Gittern – In diesem zerrissnen Land Zwei Drittel der Klasse haßten und fürchteten Krättge; die anderen liebten ihn nicht Doch nicht vor deinem Leid Die Wunden wollen nicht zugehn gerade, aber sie mochten, daß er sie forderte und keine Nachbeterei wollte. Bei ihm Unter dem Dreckverband habe ich gelernt, über das Erzählen nachzudenken. Sein Grundsatz wurde mir wich- Du, laß dich nicht erschrecken Und was wird mit unsern Freunden tig, daß beim Nacherzählen von Der Traum ein Leben oder der Jungfrau von Orleans In dieser Schreckenszeit Und was noch aus dir, aus mir – keine Boten vorkommen dürfen. Bei der detaillierten Beschreibung eines tropfenden Das wolln sie doch bezwecken Ich möchte am liebsten weg sein Wasserhahns und bei einer Geschichte, zu der die Brücke von Arles eine Illustration Daß wir die Wa" en strecken Und bleibe am liebsten hier hätte sein können, habe ich zum erstenmal schulischen Ehrgeiz entwickelt. Er ließ Schon vor dem großen Streit – am liebsten hier (1976) uns freie Aufsätze zu phantastischen Titeln schreiben, mitten im Kriege Meyers Frie- de auf Erden lernen, wobei der »ew’ge Glaube, / daß der Schwache nicht zum Raube / Du, laß dich nicht verbrauchen jeder frechen Mordgebärde / werde fallen allezeit« im Mittelpunkt stand, und Krätt- Gebrauche deine Zeit Bitte an mich ge das kommende Reich der Gerechtigkeit, »das den Frieden sucht der Erde«, sehr Du kannst nicht untertauchen deutlich gegen das momentane stellte, das immer neue Kriegsschauplätze suchte und Du brauchst uns, und wir brauchen mach weiter! ja, so wie bisher fand. Dem Tod im Ährenfeld, wo ein Soldat »zwei Tage schon, zwei Nächte schon, Grad deine Heiterkeit mein Freund, doch ich begehr mit schweren Wunden, unverbunden« liegt, nahm seine Interpretation alles Idylli- auch das: ich bitt dich, bitte mach sche, und die Folter-Ballade Die Füße im Feuer gab ihm Anlaß, über die mörderische Wir wolln es nicht verschweigen auch weiter Verfolgung Andersdenkender so zu reden, als seien nicht nur die Hugenottenkrie- In dieser Schweigezeit auch weiter ge gemeint. Sein Glanzstück aber war die wie improvisiert wirkende Lektion über Das Grün bricht aus den Zweigen auch weiter a l s bisher! (1978) das Hitler-Wort: Ihr seid die Garanten der Zukunft! – wir, die Jungen nämlich, die Wir wolln das allen zeigen (Alle Lieder, 1991) in dieser ganz auf Ironie gestellten Stunde viel zu lachen hatten, hauptsächlich auf Dann wissen sie Bescheid (1966) Kosten des Führers, teilweise aber auch auf unsere. Denn eine Zukunft, die wir gei- stig Armen und Trüben garantierten, konnte auch nur arm und trübe sein. Bei ihm mußten wir noch 1942 den Wilhelm Tell mit verteilten Rollen lesen, obwohl dessen Behandlung in der Schule schon ein Jahr zuvor von Hitler untersagt worden war. Im Herbst 1944 traf ich den noch sehschwächer gewordenen Assessor in einer Kaser- ne in Neuruppin wieder, in genauso schäbiges Grau gekleidet wie ich. Er duzte mich; ich sagte Herr Krättge zu ihm, was er nicht dulden wollte: Arme Schweine sind wir doch beide! Aber mir war die erzwungene Gleichheit so peinlich, daß ich seine Einla- dung in die Kantine ausschlug; und da ich am nächsten Tag schon weiterverfrachtet wurde, verpaßte ich die Gelegenheit, ihm zu sagen, was er bedeutet hatte für mich. (Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, 1992)

10 11 Lothar-Günther Buchheim: Donauabwärts treibt mein Boot (* 1905 in Bulgarien, † 1994 Dr. Ulrich Dittmann, geb. 1937 in Ber- in Zürich) war der erste Autor, der uns lin, Germanist an der Münchner Uni, Ich bin wieder auf einem Strom! absagte (später , Botho Strauß Herausgeber von Stifter, Oskar Maria Graf Ich tauche meine Hände über die Süllränder, lasse das Wasser kühlend an den Pulsen und ). Unterstützt von Barbara und Pocci, leitete den Roman-Lesezirkel hochsteigen und spüre den sanften Druck, mit dem es durch die Finger rinnt. König, die ihn vom Hanser Verlag kannte, zum Weilheimer Literaturkalender 1988. Donauabwärts treibt mein Boot. schrieben wir im September 1981 nach Ivan Diviš, W. H. 21: Lyriker im Exil; L. London. Dann die Sensation: Canetti, in am 19.3.1987, führte auch den Vortrag von Auf ein paar auslaufenden Dampferwellen tut es wie ein ungebändigtes Fohlen die London und Zürich im Exil lebend, erhält H. G. Adler über Prager dt. Literatur ein. ersten schwerfälligen Hupfer: Es steigt hoch, schiebt auf dem Wellenberg den Bug den Nobelpreis! Um so mehr freute uns der Geb. am 18.9.1924 in Prag. Für das Weil- ein wenig vor, verharrt so eine Weile und staucht dann wieder hinab: »Patsch – patsch handgeschriebene Brief vom 11.11.: »Es tut heimer Heft schrieb er seine Biographie: – patsch ... « mir ganz besonders leid, dass ich nicht zu Ihnen »Mit 17 Jahren eingesperrt ins Gestapo-Ge- Bei den ersten kräftigen Schlägen merke ich, daß mein »Stups« gar nicht recht laufen kommen kann. Frau König, die ich seit langem fängnis Prag-Pankratz, weil er sich der Bil- will und nur träge und widerwillig wie eine schwerfällige Bugsierbarkasse dem Steu- nicht gesehen habe, wusste o" enbar nicht, dass ligung des Attentats auf Reinhard Heydrich erdruck gehorcht. es mir gesundheitlich schlecht geht und dass ich verdächtig gemacht hatte; um ein Haar dem Kein Wunder, ist doch die Ausrüstung für eine mehrmonatige Fahrt in Bug und darum schon seit zwei Jahren gar keine Lesun- Galgen entkommen, entlassen! … Kriegsen- Heck gestaut, und auch das Mittelschi ist fast gestrichen voll, so daß ich Mühe gen mehr geben kann. Das hat mit dem letz- de, zehn Minuten Ho" nung, aber kurz da- habe, meine langen Beine unterzubringen. ten lauten Ereignis nichts zu tun. Ich führe ein nach Stalinismus und der durch und durch Da ist der ganze Fahrten- und Kulturkrempel, das kleine Bergsteigerzelt, Angelgeräte, völlig zurückgezogenes Leben, um jede bessere verlogene Sozialismus, der den protrahierten der Bootswagen, Beil und Zeltlampe, Malzeug, Fotoapparat, mein Benzinkocher, der Zwischenperiode zum Schreiben zu verwenden. Tod für Millionen und Abermillionen be- Das ist aber gar nicht interessant und ich spre- deutet. … Auszeichnungen, Literaturpreise, trotz vieler gehässiger Prophezeiungen noch immer nicht in die Luft gegangen ist, che sonst nicht davon. Ihnen sage ich es nur, um Ehrungen sowie Di" amierungen, A" ronts Reparaturkästchen, die Bootsapotheke, meine Lederhosen – meine lieben Speckjäger meine Absage zu erklären. Ihr Unternehmen und Verleumdungen kommen diesem Hilfs- – und meine Landausgehpanten, zwiegenäht und dem Gang eine eindrucksvolle, gefällt mir über die Massen gut und ich möch- arbeiter vor wie Fliegenkadaver auf einer breitspurige Schwere gebend. Zwischen meinen Waden liegt zur Zeit ein großer hell- te Sie dazu beglückwünschen. Für mein Leben Glühbirne am Perron eines kleinen Bahn- grüner Kohlkopf in kunterbuntem Durcheinander mit ziegelroten Möhren, violetten gern wäre ich einer Ihrer Schüler. Dann würde hofs in Böhmen, Deutschland, Rußland oder Kohlrabis und rotblanken Äpfeln. ich sogar Herrn Hildesheimer kennenlernen.« Tennessee um halb drei Uhr nachts.« In den Tresoren der aufblasbaren, festgebundenen Luftbeutel stecken die behördli- Dies war ernst gemeint. Eines Tages fragte Ganz gleichgültig war der Ruhm I. D. doch chen und wertbeständigen Papiere, die Ausweise, der Paß mit den Visa, Triptiques, die Wirtin des Hotels »Croce Bianca« in nicht. Einmal rief er zornig aus: »Was heißt Kreditbriefe. – Ja, nur so mit Fernsüchten ist es eben leider nicht mehr getan. Poschiavo (Graubünden) Hildesheimer (der Goethe? Was heißt Dante? – Boris Becker!« Wo ich denn eigentlich hin will, möchtest du wissen? das später mit größtem Bedauern erzählte), In Prag hatte er bis 1968 elf G.-Bände Ganz genau weiß ich das noch nicht. In meiner Kartentasche steckt außer einer wie das Treffen mit Canetti gewesen sei. verö entlicht, im Exil (seit 1969) in Mün- Stromkarte der Donau nur eine aus meinem alten Schulatlas herausgerissene Seite – Welches Treffen? – Canetti hatte sich bei chen weitere acht (zwei wurden in Weil- ihr nach dem Weg zu Hildesheimer erkun- heim gedruckt). 1997 kehrte er zurück »Balkanstaaten«. Ich fahre also auf den Balkan – nach Südosteuropa. digt, war aber nicht eingetroffen. Der Grund: und wurde schließlich noch von Präsident Ich habe allerlei Vorstellungen von starkem Ka ee, Steppenvieh, Paprika, Wasser- das Schild an Hildesheimers Haustür, mit Vaclav Havel geehrt. Er starb am 7.4.1999. pfeife, Allah-ist-groß, Zigeunermusik, Ferkel am Spieß, Rosenfeldern, halbwilden dem spontane »Literaturtouristen« abge- Sursum, Gedichte, tschechisch und dt., 1995. Gebieten und hypermodernen Hochhäusern zwischen patriarchalischen Holzhütten schreckt werden sollten: »Besuche nur Lew Druskin, W. H. 21: Lyriker im Exil; –, und nun will ich einmal nachschauen, was es damit auf sich hat. nach telefonischer Anmeldung!« Damals Lesung seiner Frau Lida und des Überset- (Tage und Nächte steigen aus dem Strom (Anfang), 1941) erzählte Hildesheimer auch, wie er einmal zers Ludolf Müller am 20.3.87. Geb. am von einem Fremden angeredet worden sei: 8.2.1921 in Leningrad, schon als Kind ans Geb. am 6.2.1918 in Weimar, gest. am 22.2.2007 in Starnberg. Von 1940 bis 1945 Ma- Sie sind doch Herr Hildesheimer!? – Nein! Bett, später an den Rollstuhl gefesselt. Sechs rinekriegsberichter, danach Sammler, Verleger, Künstler und Autor in Felda" ng. Bücher (Vgl. G. Grass und H. W. Richter) Gedichtbände, aus dem Schriftstellerver- u. a. über Max Beckmann, Otto Mueller und über »Die Brücke«. Seine Sammlung ist seit Magdalena Constantinescu, W. Heft 21: band ausgeschlossen. Seit 1981 im Exil in 1999 im »Museum der Phantasie« in Bernried zu bewundern. Tage und Nächte steigen aus Lyriker im Exil; Lesung am 20.3.1987. Tübingen, wo er am 26.11.1990 starb. dem Strom. Eine Donaufahrt, 1941 / Das Boot, R. 1973 / Die Festung, R. 1995. W. Heft Geb. 1938 in Rumänien, 1962 Ehe mit Die- Der Neckar % ießt nach Leningrad. Erinne- 43: Neunzehnhundertvierundvierzig, L. am 13.11.1996 (Einführung: Heinz Friedrich) in ter Schlesak, seit 1974 in München. Briefe rungen, 1986 / Licht im Fenster. Russische der Stadthalle. Ausstellung mit Werken 1930 – 1937 im Stadtmuseum, 13. – 17.11.1996. über die Grenze (mit Dieter Schlesak), 1978. Gedichte aus Heimat und Fremde, 1990. 12 13 , Weilheimer Heft 22: Sze- Joseph Frhr. v. Eichendor" (* am 10. Tankred Dorst: Parzival und die Engel nen aus Merlin; Lesung am 10.12.1987. März 1788 in Lubowitz bei Ratibor/ Geb. am 19.12.1925 in Sonneberg (! ü- Oberschlesien, † am 26.11.1857 in Nei- Am Waldrand stehen zwei Ritter. Sie sind übergroß und glitzern im Licht. Parzival rennt ringen). Nach Krieg und Gefangenschaft ße/Oberschlesien), Lyriker und Erzäh- aus dem Wald, fällt verzückt vor ihnen nieder und faltet die Hände in Anbetung. (bis 1947) besuchte er in Westfalen noch ler der Romantik (Aus dem Leben eines PARZIVAL Ich danke euch! Ihr seid wiedergekommen! Ihr wunderbaren Engel! Ich Taugenichts) . Bei unserer Eichendor% - einmal die Oberschule (Abi 1950) und stu- danke euch, ihr wunderbaren Engel, daß ihr wiedergekommen seid. Ich danke Gott, dierte in Bamberg und München Germa- Feier am 130. Todestag (26.11.1987) mit nistik und ! eaterwissenschaft. Seit 1951 Vorträgen der besten Kenner Wolfgang daß er euch zu mir geschickt hat. Meine Mutter hat mir nicht geglaubt, meine Mut- schrieb er für die studentische Marionet- Frühwald und Peter Horst Neumann und ter hat gesagt, ich hätte geträumt. Ich habe meine Augen zugemacht und habe euch tenbühne »Das kleine Spiel« in Schwa- der Darbietung des »Liederkreises« von gesehen, aber jetzt mache ich meine Augen auf und ihr seid wirklich da! Aus dem bing acht Stücke, drei werden noch heute Robert Schumann durch Florian Prey Himmel seid ihr zu mir heruntergekommen wie der Wind von den Bergen fällt. Ich gespielt. Seit 1971 ist Ursula Ehler seine wurde auch der Empfänger des ersten fürchte mich nicht vor euch, obwohl mir die Augen wehtun, wenn ich euch ansehe, Partnerin und Mitarbeiterin. Dramatiker W. Lit.preises bekanntgegeben, der am ich mache die Augen nicht zu, solange ihr da seid, lieber will ich danach blind sein. und Regisseur (2006 inszenierte er den 200. Geburtstag Eichendor% s prämiert Ich sehe euch. Ich sehe euch, ich liebe euch. Bleibt noch einen Augenblick da, und Ring des Nibelungen in Bayreuth). Büch- werden sollte. Passender konnte die Wahl noch einen Augenblick und noch einen und noch einen, löst euch nicht auf in Luft ner-Preis 1990, Max-Frisch-Preis 1998. nicht sein: Ilse Aichinger, Witwe von G. und Himmel. Geheimnis der Marionette, 1957 / Toller, Eich, dem schlesischen Landsmann und Bewunderer des Freiherrn v. E., dessen SIR BEDIVERE blasiert, mit gezierter Stimme: Wo kommst du denn her? Szenen aus einer deutschen Revolution, 1968 PARZIVAL Von meiner Mutter, lieber Engel. / Merlin oder Das wüste Land, 1980 / Die Dichtungen auch die heutige Jugend bezaubern können. Hier eine Kopie aus SIR PINEL LE SAVAGE blasiert, mit gezierter Stimme: Ja ja, natürlich! Aber wo wohnst Reise nach Stettin, 1984 / Werkausgabe (8 Bände mit 50 # eaterstücken), 1985 – 2008. der Erstausgabe seiner Gedichte (1837). du denn mit deiner Mutter? Prof. Eberhard Dünninger, geb. 1934 in PARZIVAL In den Bäumen, lieber Engel. Würzburg. 1965 bis 1986 im Kultusminis- SIR BEDIVERE Wohnt ihr nicht bei Menschen? terium, dann Generaldirektor der Bayeri- PARZIVAL Wir brauchen niemand. Es ist noch nie ein Mensch gekommen. Aber schen Staatlichen Bibliotheken, Honorar- wenn einer kommt, springe ich unter den Stein. professor für Neuere dt. Lit.wissenschaft SIR BEDIVERE Wer ist dein Vater? an der Univ. Regensburg, heute Stadtrat in PARZIVAL Er ist tot, lieber Engel. Regensburg. Mitwirkender beim Abend für SIR PINEL LE SAVAGE Hat dir deine Mutter nichts über deinen Vater erzählt? Hans W. Richter. Zahlreiche Publikationen PARZIVAL Meine Mutter hat mir gesagt, er wäre ein Ritter. zur bayerischen Geschichte und Literatur. Die glitzernden Schuppenkleider der Ritter klirren von ihrem Gekicher. Günter Eich, Weilheimer Heft 20: Win- SIR BEDIVERE Sein Vater war ein Ritter! Wie interessant! terliche Fahrt und andere Gedichte (zum SIR PINEL LE SAVAGE Ja, aber dann bist du auch ein Ritter! 1.2.1987, ohne Veranstaltung). Geb. am 1.2.1907 in Lebus an der Oder, Sinolo- PARZIVAL Ich weiß nicht, lieber Engel. gie-Studium in Berlin, Leipzig und Paris. SIR PINEL LE SAVAGE Natürlich! Der Ritter Pißpott! Seinen Unterhalt verdiente er seit 1929 PARZIVAL Ich weiß nicht, was ein Ritter ist. (erstes Hörspiel) durch Arbeiten für den SIR BEDIVERE Wir sind Ritter, du Pißpott! Rundfunk. Nach 1945 wurde er als Lyriker PARZIVAL Ach, lieber Engel, ihr seid Engel, ich weiß doch, daß ihr Engel seid! und Hörspielautor berühmt, erhielt 1950 SIR PINEL LE SAVAGE Wir sind Ritter. Wir sind nicht vom Himmel heruntergeweht. den ersten Preis der Gruppe 47, 1959 Wir kommen von König Artus. den Büchner-Preis. 1953 heiratete er Ilse PARZIVAL Keine Engel! Aber ich will, daß ihr Engel seid! Aichinger (als Clemens und Miriam Eich SIR BEDIVERE spöttisch: Vielleicht willst du auch ein Ritter werden, du Pißpott! zur Schule gingen, waren beide Eltern Le- Dann wasch dein Gesicht und geh zu König Artus! sebuch-Autoren). Er starb am 20.12.1972 PARZIVAL Ihr seid keine Engel? Er wirft rasend vor Wut und Enttäuschung Steine und in Salzburg. Abgelegene Gehöfte, G. 1948 / Michael Ende, W. Heft 28 (s. S. 18). Erdbrocken nach ihnen. Sie lachen, gehen weg. Botschaften des Regens, G. 1955 / Maulwür- , W. Heft fe, Prosa, 1968 / Sämtliche Gedichte, 2006. 38: Wörter wie Pappelsamen (s. S. 17). (Merlin oder Das wüste Land, Szene 11, 1980) 14 15 Günter Eich: Ende eines Sommers Hans Magnus Enzensberger: Altes Medium Vor dem Techno und danach Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! Was Sie vor Augen haben, Der Herr v. Eichendor" meine Damen und Herren, Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben! hat sich nicht erschossen. dieses Gewimmel, Die P‚ rsiche sind geerntet, die Pƒ aumen färben sich, Der Herr v. Eichendor" das sind Buchstaben. während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht. kokste nicht, kam ohne Duelle Entschuldigen Sie. und ohne Quickies aus. Entschuldigen Sie. Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiƒ ung an. Der Herr v. Eichendor" , Schwer zu entzi" ern, Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab. sprach ƒ ießend polnisch. ich weiß, ich weiß. Seine Strecken Sein Ehrgeiz hielt sich in Grenzen. Eine Zumutung. werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang, Der Herr v. Eichendor" – Sie hätten es lieber audiovisuell, die Bewegung der Flügel färbt die Früchte. schwache Lunge, Hilfsarbeiter digital und in Farbe. in preußischen Ministerien, Aber wem es wirklich ernst ist Es heißt Geduld haben. dreißig Jahre lang – mit virtual reality, Bald wird die Vogelschrift entsiegelt, träumte von Waldhörnern sagen wir mal: unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken. in seinem Büro, taugte Füllest wieder Busch und Tal, und taugte nicht, oder: Einsamer nie D-Zug München – Frankfurt lebte unau" ällig, starb als im August, oder auch: und hinterließ ein paar Zeilen, Die Donaubrücke von Ingolstadt, Die Nacht schwingt ihre Fahn, haltbarer als die morschen Ziegel der kommt mit wenig aus. das Altmühltal, Schiefer bei Solnhofen, von Lubowitz, heutigen Tags in Treuchtlingen Anschlußzüge – Rzeczpospolita Polska, Sechsundzwanzig im tauben Ohr unsrer Kinder: dieser schwarz-weißen Tänzer, Dazwischen nur ein paar Zeilen, ganz ohne Graphik-Display Wälder, worin der Herbst verbrannt wird, die ihnen eines Tages, und CD-ROM, Landstraßen in den Schmerz, wenn sie in Rente gehen, als Hardware ein Bleistiftstummel – Gewölk, das an Gespräche erinnert, vielleicht etwas Weiches, das ist alles. ƒ üchtige Dörfer, von meinem Wunsch erbaut, Unbekanntes zu fühlen geben, in der Nähe deiner Stimme zu altern. Entschuldigen Sie. das früher Wehmut hieß. Entschuldigen Sie bitte. Zwischen den Zi" ern der Abfahrtszeiten Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. (Die Geschichte der Wolken, 2003, Aber Sie wissen ja, wie das ist: breiten sich die Besitztümer unserer Liebe aus. Kiosk. Neue Gedichte, 1995) Ungetrennt Manche verlernen es nie. bleiben darin die Orte der Welt, Geb. am 11.11.1929 in Kaufbeuren, Abitur in Nördlingen, Studium in Erlangen, Frei- nicht vermessen und unau# ndbar. burg i.Br., Hamburg und Paris (Promotion über Brentano). Mitglied der Gruppe 47, Re- dakteur beim Süddeutschen Rundfunk, Lektor bei Suhrkamp, Gründer und Herausgeber Der Zug aber der Zeitschrift Kursbuch und der Anderen Bibliothek. Viele Reisen und Gastdozenturen. treibt an Gunzenhausen und Ansbach Lyriker, Essayist, Dramatiker, Übersetzer. Büchner-Preis 1963, Pour le mérite 2000. und an Mondlandschaften der Erinnerung verteidigung der wölfe, G. 1957 / Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, 1988 / Der – der sommerlich gewesene Gesang Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, dieAngst vor der Mathematik haben, 1997 / Hammer- stein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte, 2008Rebus, / G. 2009. der Frösche von Ornbau – Weilheimer Heft 38: Wörter wie Pappelsamen; L. am 18.10.94 in der Stadthalle (Einfüh- vorbei. (Botschaften des Regens, 1955) rung: Prof. Neumann), Begrüßung bei der Verleihung des W. Lit.preises an Wole Soyinka.

16 17 Michael Ende: Beppo Straßenkehrer Ota Filip , tschechischer Erzähler und Gertrud Fussenegger, W. Hefte 33 (Auf Publizist, geb. 1930 in Ostrau, seit 1974 der Suche) und 35 (Rede an die Jugend) ; L.n Er fuhr jeden Morgen lange vor Tagesanbruch mit seinem alten, quietschenden Fahr- im Exil in München, wirkte beim ersten am 11. und 12.3.1992 (Einführung:Hans- rad in die Stadt zu einem großen Gebäude. Dort wartete er in einem Hof zusammen Abend zur Exil-Lyrik mit. Das Café an der Rüdiger Schwab und Barbara von Wul$ en). mit seinen Kollegen, bis man ihm einen Besen und einen Karren gab und ihm eine Straße zum Friedhof, R. 1968 / Der siebente W. Lit.preis 1993 am 23.3.1993 (Laudatio: bestimmte Straße zuwies, die er kehren sollte. Lebenslauf. Autobiographischer R., 2001. Dieter Borchmeyer). Weitere Lesungen am Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er Prof. Heinz Friedrich (1922 – 2004) führ- 5.5.1999 (Goethe – Sein Leben für Kinder te die Lesungen von S. Lenz und L.-G. erzählt) und 17.4.2002 (Bourdanins Kinder, tat seine Arbeit gern und gründlich. Er wußte, es war eine sehr notwendige Arbeit. Buchheim ein. Nach fünf Jahren Krieg und R. 2002). Mitwirkung bei der 20-Jahrfeier. Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: bei jedem Schritt einen schwerer Verwundung war er Redakteur G. F., geb. am 8.5.1912 in Pilsen, aufge- Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. beim Hessischen Rundfunk, Che! ektor wachsen in Böhmen, Vorarlberg und Ti- Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Dazwischen blieb bei S. Fischer, Programmdirektor bei Radio rol, studierte Geschichte und promovierte er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann Bremen, dann Gründer und Leiter des dtv 1934 in Innsbruck über den Rosenroman. ging es wieder weiter – Schritt – Atemzug – Besenstrich – – – . (1961 bis 1990). Präs. der Bayer. Akademie Wie viele Sudetendeutsche und Österrei-

Während er sich so dahinbewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die der Schönen Künste 1983 – 95. Vom Gegen- cher war sie von »großdeutschen« Ideen saubere, kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedan- glück des Geistes, Zeit und Zeitgenossen (u. a. begeistert und hat, während andere münd- ken, die sich so schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich nur über Buchheim und S. Lenz), 2002 / Erlern- lich gejubelt haben, dies auch schriftlich gerade eben noch erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat. Nach der ter Beruf: Keiner. Erinnerungen, 2006. getan. Sie hat aber auch mit der noch 1936 Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da sie auf ihre Prof. Maria Friedrich, mit ihrem Mann erschienenen Mohrenlegende gegen den Ras- besondere Art zuhörte, löste sich seine Zunge, under fand die richtigen Worte. H. Friedrich seit 1947 bei der Gruppe 47 . sismus und Antisemitismus der Nazis pro- 1971 – 1990 Leiterin von dtv junior. Wirk- testiert (der Mohr kommt aus Palästina und ‚Siehst du, Momoƒ, sagte er dann zum Beispiel, »es ist so: Manchmal hat man eine te beim Abend für Hans W. Richter mit. wird auf den jüdischen Namen Gideon ge- sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man nie- Bairische Frühlingslieder des Mittelal- tauft). Dazu hieß es in zwei »Gutachten« mals scha„ en, denkt man.« ters, W. Heft 24. Als Weilheim 1988 das des Amtes Rosenberg: »Die ‚Mohrenlegende’ Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: »Und dann fängt 750. Stadt-Jubiläum feierte, beteiligten … ist geeignet, den falschen Gedanken von man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, wir uns am 6. Mai mit einem Abend in der Gleichheit alles dessen, was Menschenant- sieht man, daß es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt der neuen Stadthalle. Prof. Hans Pörn- litz trägt, aufs neue zu verbreiten. Aus diesem sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluß ist man ganz außer bacher führte ein, Hubert Witt hatte mit Grund müssen wir die Erzählung ablehnen.« Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man Mühe die Ausreiseerlaubnis aus der DDR Und: »Der Natur, dem Blute entgegen gipfelt es nicht machen.« erhalten und sprach über »Neidhart und die Legende in dem Satz: »Sie sind einander alle Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: ‚Man darf nie an die ganze Straße Weilheim«, das »ensemble für frühe musik gleich«. … Eine Widerlegung dieses Satzes er- auf einmal denken, verstehst du? Man muß nur an den nächsten Schritt denken, an augsburg« spielte und sang. übrigt sich. Das Buch muss abgelehnt werden.« den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den Prof. Wolfgang Frühwald, W. Heft 29: Ein ähnlich antirassistisches Buch aus Zum 3. Oktober 1990; Vortrag am 4. Okto- NS-Deutschland ist bisher nicht bekannt nächsten.ƒ ber 1990: Die Deutschen und ihr Vaterland . geworden (vgl. F. Denk, Die Zensur der Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das W. F. (* 1935 in Augsburg) war Ordinari- Nachgeborenen. Zur regimekritischen Lite- ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ us für Germanistik in Trier und München, ratur im Dritten Reich, 1995, S. 334 „ .). (Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben, 1973) Mitglied im Wissenschaftsrat, Präs. der Dt. G. F. war zweimal verheiratet und hatte

Forschungsgemeinschaft (DfG) (1992 – 97) fünf Kinder. Für ihr nach 1945 entstande- und der Alexander-von-Humboldt-Stif- nes Werk – mehr als 50 Bücher: Romane,

Geb. am 12.11.1929 in Garmisch, Abitur in München, Ausbildung zum Schauspieler. tung (1999 – 2007). Herausgeber u. a. von Dramen, Gedichte, Biographien und Es- Sein erstes Buchmanuskript (Jim Knopf) schickte er an mehr als zehn Verlage. Von 1970 Eichendor$ (über den er am 26.11.1987 says – erhielt sie 1993 den Jean-Paul-Preis. bis 1985 lebte er bei Rom, wo er den Märchenroman Momo schrieb, für den er 1974 (mit bei uns sprach), Brentano und Stifter. Sie starb am 19. März 2009 in Linz. knappster Mehrheit) den Dt. Jugendbuchpreis erhielt und der seinen Weltruhm begrün- Das Talent, Deutsch zu schreiben. Goethe – Das Haus der dunklen Krüge, R. 1951 / Das ver- dete. Er starb am 28.8.1995 in Filderstadt. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, 1960 Schiller – % omas Mann, 2005 / Wie viel schüttete Antlitz, R. 1957 / Zeit des Raben, Zeit / Momo, 1973 / Die unendliche Geschichte, 1979 / Der lange Weg nach Santa Cruz, 1992. Wissen brauchen wir? 2007 / Das Gedächtnis der Taube, R. 1960 / Die Pulvermühle, R. 1968 / W. Heft 28: Aus sieben Büchern; Lesungen am 19. (in der Stadthalle) und 20. März 1990. der Frömmigkeit, 2008. So gut ich es konnte, Erinnerungen, 2007. 18 19 Bairische Frühlingslieder des Mittelalters Wolfgang Frühwald: Die Deutschen und ihr Vaterland, Rede zum 3.10.1990 Aus den Carmina Burana Lied aus Benediktbeuern So wie wir aber nach unserer Gattung an der Kette des Menschseins hängen und als Menschen schuldig sind an all dem, was der Mensch der Natur getan hat und noch Floret silva nobilis Herrlich blühen baum und strauch, tut, so hängen wir als Einzelne an der Kette unserer Herkunft aus Familie und Volk. ! oribus et foliis. Blumen sprießen, blätter auch. Wir können nicht gut unsere individuelle Identität akzeptieren, ohne die gemein- ubi est antiquus aber mein geselle schaftliche mitzumeinen. Zur Freude über die Messen Mozarts und die Symphonien meus amicus? ritt so schnelle, Beethovens, zur Andacht vor der Schönheit klassischer und romantischer Kunst gehö- hinc equitavit, ist fortgeblieben. ren das Entsetzen über Auschwitz und Treblinka, die Scham über die Behandlung der eia, quis me amabit? Ach, wer wird mich lieben? Asylanten in unserem Land, die Betro' enheit über die Verdrängung der Geschichte ... So äußerlich das Datum des 3. Oktober 1990 auch sein mag, niemand kann Floret silva undique; Grün der wald, wohin ich seh. mehr sagen, er trage keine Verantwortung für den Teil der deutschen Geschichte, nah mîme gesellen ist mir wê! nah mîme gesellen ist mir wê! der sich im Osten des Landes ereignet hat. So gehören der sozialistische Traum, den auch viele aufrechte Menschen geträumt haben, nun ebenso zu unserer gemeinsamen Geschichte wie die Verbrechen des Stalinismus. Wer die »Kinderhymne« Brechts mit Gruonet der walt allenthalben. Gruonet der walt allenthalben. Recht bewundert, wird nicht davon absehen können, daß nur wenige Monate nach wâ ist mîn geselle alsô lange? wâ ist mîn geselle alsô lange? Piecks Geburtstag 1951 der junge Horst Bienek, der nichts »verbrochen« hatte, als der ist geriten hinnen. der ist geriten hinnen. die Worte seines Lehrers Brecht für den Frieden der Welt ernst zu nehmen, dafür zu owî! wer sol mich minnen? owî! wer sol mich minnen? 25 Jahren Zwangsarbeit im Archipel Gulag verurteilt worden ist.– Wenige Stunden vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland fragte ein Reporter der ARD vor der Kamera einen jungen Mann am Brandenburger Tor, Walther von der Vogelweide Mailied was er denn in dieser Stunde emp* nde. Und dieser antwortete im breitesten Berliner Stadtdialekt: »Ick * nde det geil!« Als die Umstehenden lachten, rechtfertigte er sich Muget ir schouwen was dem meien Wollt ihr nicht am maien schauen laut: »Ick bin keen Berliner, ick bin keen Deutscher! Aber ick * nde det jut! Ick * nde wunders ist beschert? was er wunder bringt det ehrlich jut.« Mir scheint diese kleine Szene bewegender und zukunftsträchtiger seht an pfa' en, seht an leien, seht an männern, seht an frauen als viele Gesten und Reden dieser aufgeregten Tage: Ein in der deutschen Sprache wie das alles vert. wie das springt und singt beheimateter Ausländer (vielleicht ein Türke aus Kreuzberg), der sich bewußt ist, im grôs ist sîn gewalt: mächtig ist sein schwung Grunde nicht zu denen zu gehören, die da feiern, freut sich herzlich über Deutsch- ine weis ob er zouber kunne: was kann er für zauberkünste land. Vielleicht meint das Lied des Liberalen aus dem Vormärz, daß Freiheit und swar er vert in sîner wunne, wo er kommt und seine dünste Recht in Deutschland nicht nur für die Deutschen gelten, sondern auch für die, dân ist nieman alt. da wird alles jung welche unsere Gäste sind, die bei uns und für uns arbeiten, und besonders für die, welche Zu! ucht suchen vor der Tyrannei und dem Hunger in ihrer Heimat. Sagt Uns wil schiere wol gelingen. Alles muß uns wohl gelingen dieses Lied den Verfolgten nicht auch, daß unser Land nach besten Kräften (nicht wir suln sîn gemeit, wir sind froh dabei mehr, aber auch nicht weniger) den Unglücklichen der Erde wie ein Vater und unsere tanzen lachen unde singen, tanzen, springen, lachen, singen Sprache den unter der Knute der Despotie Verstummten wie eine Mutter sein soll? âne dörperheit. ohne tölpelei Über diese Frage soll und muß in Deutschland und in Europa »Einigkeit« hergestellt wê, wer w ae re unfrô? fröhlichkeit ist brauch werden; kaum eine Aufgabe der Zukunft ist dieser Aufgabe gleich. sît diu vogellîn alsô schône alle vögel singen wieder So ist das alte Lied, auch wenn es auf Schlachtfeldern, auf Fußballfeldern, in Sporta- singent in ir besten dône – ihre besten, schönsten lieder renen und Bierzelten oft mißbraucht und mißhandelt wurde, lebendiger als wir mei- tuon wir ouch alsô! … also tun wirs auch nen. Und wenn es schon einen Ausdruck der Gemeinschafts-Identität geben soll, dann ist mir ein Lied, und gerade dieses Lied, lieber als andere Möglichkeiten, als (Nachdichtungen: Hubert Witt) Fahne, Wachbataillon, Trinkspruch und Salut. Warum also sollten wir nicht singen: »Einigkeit und Recht und Freiheit / Sind des Glückes Unterpfand. – Blüh’ im Glanze dieses Glückes, / Blühe deutsches Vaterland!«

20 21 Gertrud Fussenegger: Winternacht Robert Gernhardt, W. Heft 60: Spaßma- F. Denk, der zuhörte, wollte auch etwas bei- cher – Ernstmacher; L. am 6.4.06 (s. S. 24). tragen und berichtete, was uns Mählich wurde es Nacht. Die Kiefern standen unter hreri Schneelast gebeugt dunkel Günter Grass, W. H. 42: Wie fange ich an?; erzählt hatte: Er fuhr 1955 per Schiff von und geheimnisvoll da [...] Im Westen lag unter schweren Wolkenbänken ein langer L.n am 10.+11.5.96 (Einf.: Barbara König). Amerika nach Europa, um seinen todkran- schmaler, messinggelber Streifen, der wie eine einsam leuchtende Straße die tiefver- Geb. am 16.10.1927 als Sohn eines Kolo- ken Vater zu besuchen, und kam mit einem Mitpassagier ins Gespräch, der ihm sagte: schneiten Felsen der Mieminger mit den dunkelnden Flanken der Ötztaler Berge ver- nialwarenhändlers in Danzig, kath. erzogen (wie auch Heinrich Böll und Walser), wur- »Your father was a great man. He gave us band. Es wurde  nster, nur der Schnee schimmerte gleichmäßig wie ein großes Leichen- de 1944 zur Wa" en-SS eingezogen, wie er the Atombomb.« (Vgl. Lew Kopelew) laken zwischen den Bäumen. es auch in seiner autobiographischen Erzäh- Evelyn Hamann (1942 – 2007) las zusam- Da begann die Stille zu summen und leiser Singsang ertönte, er kam immer näher, lung Beim Häuten der Zwiebel (2006) be- men mit Vicco von Bülow alias Loriot am bewegte sich langsam klingelnd durch die lauschende Nacht. schrieben hat. Nach einer Verwundung am 8. und 9.12.1983 für unsere Schüler. Der Mohr hielt inne, von kaltem Schrecken gepackt. Aber da geschah es, daß er ein 20.4.1945 geriet er in am. Gefangenschaft, Michael Hamburger (geb. 1924 in Berlin, Licht zwischen den Kieferstämmen gewahrte, ein Licht, das einem kleinen Stern glich, wurde am 24.4.1946 entlassen, arbeitete bei gest. 2007 in Su" olk) emigrierte mit seiner und hinterdrein kam noch ein ungewisses Flimmern und Schimmern, drei Menschen Bauern und in einem Kalibergwerk, bevor jüdischen Familie 1933 nach England, stu- kamen aus dem Wald, drei Kinder, und sie trugen einen Stern vor sich her. er eine Steinmetzlehre begann und dann dierte ab 1941 in Oxford, wo er Gedichte Gideon zog Martin an sich und duckte sich mit ihm in ein Versteck. Von dort konn- Bildhauerei und Graphik in Düsseldorf zu schreiben (zwischen 1950 und 2006 pu- te er den seltsamen Zug betrachten. Je näher er kam, desto wunderlicher erschien und Berlin studierte. 1956 bis 1959 schrieb blizierte er mehr als 20 Gedichtbände) und er: festlich bunte Kleider trugen die Drei, und ihre Köpfe waren mit Kronen ge- er in Paris Die Blechtrommel, aus der er 1958 zu übersetzen begann; 1943 erschien sei- bei der Tagung der Gruppe 47 in Groß- ne erste Hölderlin-Übersetzung als Buch, schmückt, von ihnen kam das Gegleiß mitten in der Nacht; und einer trug gar einen holzleute bei Isny den Anfang vorlas, den 2008 seine siebente. Später übersetzte er weißen Pelz um die Schultern wie ein echter König ... Preis der Gruppe erhielt und bekannt wur- u. a. Gedichte von Rilke, Trakl, Paul Ce- Und jetzt sah der versteckte Mohr, daß der eine von ihnen schwarz war, schwarz wie de. Seit 1961 meldete er sich immer wie- lan, Enzensberger, Grass, Huchel und Jandl er selbst …. Das Herz stand ihm im Leibe still, er fuhr sich mit den Händen über die der zu Wort und unterstützte Willy Brandt sowie Prosa von Bichsel, Eich und Muschg. Augen, aber nein: es war so, es war wirklich so: der eine war ein schwarzer Mensch, und die SPD in Wahlkämpfen. 1989/90 ge- Bei uns sprach er am 13.6.84 im Musiksaal ein Mohr! Und er trug eine Krone, er trug den weißen Pelz um die Schultern, er trug hörte er zu den Kritikern der schnellen deut- über »Probleme des Übersetzens«. Petrar- das schönste Kleid, es war mit Gold gestickt und mit kleinen Glöckchen besetzt, schen Vereinigung. G. G. erhielt 1965 den ca-Preis 1992, Horst-Bienek-Preis 2001. er war prächtig wie die Weißen, auch er! und er durfte neben ihnen gehen und mit Büchner-Preis und 1999, als elfter deutsch- $ e Truth of Poetry, 1969 (Die Dialektik ihnen singen, er war kein Ausgestoßner, kein rechtloser Fremdling, er gehörte zu den sprachiger Autor, den Nobelpreis für Lite- der Modernen Lyrik. Von Baudelaire bis anderen und sie waren einander alle gleich. (Mohrenlegende, 1937) ratur. Vor ihm: # eodor Mommsen (Histo- zur konkreten Poesie, 1972) / Baumgedichte, riker, 1902), Rudolf Eucken (Philosoph, 1995 / Letzte Gedichte, 2009. 1908), Paul Heyse (1910), Gerhart Haupt- Peter Handke schrieb uns als zweiter Au- Die Hochzeitsnacht mann (1912), Carl Spitteler (1919, Schwei- tor (nach Canetti) eine Absage: zer), # omas Mann (1929), Hermann »Liebe Damen und Herren, natürlich hat es Es war im Jahre 1870: Im Hause Bourdanin wurde Hochzeit gefeiert. Hesse (1946, seit 1923 Schweizer), Nel- mich zum Nachdenken gebracht, daß Sie so- Ehe die Sonne des langen glühendheißen Augusttages unterging, führte der Bräuti- ly Sachs (1966, im schwedischen Exil), gar Frau Ilse Aichinger bemühten, damit ein gam, der kaiserliche und königliche Rittmeister Balthasar Bourdanin, seine jungange- Heinrich Böll (1972) und Elias Canetti (mit der Zeit) verstockter Nicht-Vorleser vor- traute Frau aus der Gesellschaft der Festgäste in die für ihn eingerichteten Gemächer (1981), nach ihm die Österreicherin Elfrie- läse. ... Aber ich kann mich trotzdem nicht seines Vaterhauses. Die Stuben waren still und leer. Die Fenster standen o" en; durch de Jelinek (2004) und Herta Müller (2009). entschließen, aus meinen Sachen vorzulesen; die weißen Schleierbahnen der Vorhänge drang, in schräge Strahlen gebrochen, das Die Blechtrommel, R. 1959 / Katz und Maus, mir kommt es auch vor, ich hätte im Lauf der Jahre die dazugehörige Stimme verloren. schwere gelbrote Abendlicht. Der Rittmeister warf Hut und Handschuhe ab und Nov. 1961 / Ein weites Feld, R. 1995 / Mein Jahrhundert, R. 1999 / Im Krebsgang, 2002. ... Ihre Einladung war sehr lieb. In den ›Weil- schwang seinen Hochzeitsrock über die Sessellehne. »Und nun«, sprach er, »nun sage Am 12.11.1988 saßen einige Gäste der Ge- heimer Heften‹ habe ich nicht nur geblättert, mir auch, Marie, wie glücklich du bist!« (Das Haus der dunklen Krüge (Anfang), 1951) burtstagsfeier von Hans Werner Richter in sondern mit Freude die mächtigen Gedichte Saulgau zusammen, und Günter Grass er- von Peter Huchel und die Zaubersprüche von Am Abend unseres Hochzeitstages sah E. D. Tränen in meinen Augen. Er fragte zählte, wie er einmal in Indien von einem Rik- Ilse Aichinger wiedergelesen. Dafür danke mich: Weinst du, weil du so glücklich bist? Ich sagte: Ja, weil ich so glücklich bin. schafahrer erkannt worden sei: »Oh, Mister, ich Ihnen und wünsche Ihrem Kreis und Ih- (So gut ich es konnte, 2007) I know you. You are – Graham Greene.« rem Ort alles Gute.« (Brief vom 10.12.81) 22 23 Robert Gernhardt: Lieblingsplural Günter Grass: Wie fange ich an? »Hunderttausende RegierungsgegnerInnen marschierten am Donnerstag durch die Bruno Münsterberg ... kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Straßen der birmanischen Hauptstadt Rangun« – so begann der Bericht der ›taz‹ [...] Zehn Blatt zählte ich ab, der Rest wurde im Nachttischchen versorgt, den Füllfe- vom 9.9.88, und ich jauchzte natürlich begeistert auf, da ich meine Sammlung dieser derhalter fand ich in der Schublade neben dem Fotoalbum: er ist voll, an seiner Tinte Spielart zeitgenössischer Mehrzahlbildung um ein Prachtexemplar bereichern konn- soll es nicht fehlen, wie fange ich an? te: »RegierungsgegnerInnen«. Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn Ho te selbstredend auf mehr, wurde jedoch bitter enttäuscht, als ich nach so vielver- ausschreitend Verwirrung anstiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Ent- sprechendem Anfang weiterlas, ohne fortan fündig zu werden: fernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man habe »Demonstrierten eine halbe Million Birmaner« endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz »Gottesdienst im Gedenken an die Anfang August erschossenen Demonstranten« zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich einen Roman zu schreiben, dann »Regierung verliert Unterstützung ihrer Mitarbeiter« sowie aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um »Fünf Plünderer erschossen« – schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn. Auch habe ich mir sagen Was soll taz? Wieso nicht »BirmanerInnen, DemonstrantInnen, MitarbeiterInnen« lassen, daß es sich gut und bescheiden ausnimmt, wenn man anfangs beteuert: Es und »PlündererInnen«? Wobei ich gerne bereit bin, die ersten drei Plurale für den gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine Individualisten mehr gibt, weil die Indi- vierten zu opfern. Auf dem freilich muß ich bestehen. Den will ich lesen, bevor ich in vidualität verloren gegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, die Grube fahre. Solange ich schon sammle – noch nie ist mir ein Beispiel vor Augen ohne Recht auf individuelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlos einsame gekommen, das den alternativ-feministischen Plural auf negative Tätigkeiten oder Be- Masse bildet. Das mag alles so sein und seine Richtigkeit haben. Für mich, Oskar, rufe ausgedehnt hätte. LehrerInnen, RichterInnen und SportlerInnen gibt es zuhauf, und meinen P" eger Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden, VerbrecherInnen, AusbeuterInnen oder BlutsaugerInnen fehlen völlig. Und Plündere- ganz verschiedene Helden, er hinter dem Guckloch, ich vor dem Guckloch; und rInnen sowieso. Schreibt sie mir, druckt sie mir, gebt sie mir! Damit ich, wenn mein wenn er die Tür aufmacht, sind wir beide, bei aller Freundschaft und Einsamkeit, Auge bricht, wenigstens noch röcheln kann: Taz ich taz noch erleben durfte!(1988) noch immer keine namen- und heldenlose Masse. Ich beginne weit vor mir; denn niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht Behindertes Kind am Strand Bitte ausschneiden die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz wenigstens der Hälfte und bei Bedarf vorlegen seiner Großeltern zu gedenken. Ihnen allen, die Sie außerhalb meiner Heil- und Dieses zarte Bein P" egeanstalt ein verworrenes Leben führen müssen, Euch Freunden und allwöchent- und dann dieser Klumpfuß Leis ö net sich das Tor zur Nacht, lichen Besuchern, die Ihr von meinem Papiervorrat nichts ahnt, stelle ich Oskars Dieser schöne Arm es wird von einem Hund bewacht, Großmutter mütterlicherseits vor. und dann dieser andre der stumm auf einen Stern starrt. Meine Großmutter Anna Bronski saß an einem späten Oktobernachmittag in ih- Dieses feine Gesicht Der Hund läßt jeden durch das Tor, ren Röcken am Rande eines Karto elackers. Am Vormittag hätte man sehen kön- und dann dieser Buckel legt er ihm diese Zeilen vor nen, wie es die Großmutter verstand, das schla e Kraut zu ordentlichen Haufen zu Dieses arme Geschöpf gez. Robert Gernhardt (1981) rechen, mittags aß sie ein mit Sirup versüßtes Schmalzbrot, hackte dann letztmals und dann diese fröhliche Mutter. (1994) den Acker nach, saß endlich in ihren Röcken zwischen zwei fast vollen Körben. Vor senkrecht gestellten, mit den Spitzen zusammenstrebenden Stiefelsohlen schwelte ein manchmal asthmatisch au" ebendes, den Rauch " ach und umständlich über die Geb. am 13.12.1937 in Reval (Tallinn), Estland, gest. am 30.6.2006 in Frankfurt am kaum geneigte Erdkruste hinschickendes Karto elkrautfeuer. Man schrieb das Jahr Main. Abitur in Göttingen, Kunst- und Germanistikstudium in und Berlin. neunundneunzig, sie saß im Herzen der Kaschubei, nahe bei Bissau, noch näher der Seit 1964 freier Maler, Karikaturist und Autor, Mitarbeit bei der Satirezeitschrift Pardon, Ziegelei, vor Ramkau saß sie, hinter Viereck, in Richtung der Straße nach Brenntau, später beim Satiremagazin Titanic, das er 1979 mit begründete. Heinrich-Heine-Preis zwischen Dirschau und Karthaus, den schwarzen Wald Goldkrug im Rücken saß sie 2004, Wilhelm-Busch-Preis 2006. Die Blusen des Böhmen, 1977 / Später Spagat, Gedichte, und schob mit einem an der Spitze verkohlten Haselstock Karto eln unter die heiße 2006 / Vom Schönen, Guten, Baren. Die schönsten Bildergeschichten und Bildgedichte, 2007 Asche. (Die Blechtrommel, 1959) / Denken wir uns, Erzählungen, 2007 / Gesammelte Gedichte 1954 – 2006, 2008. Weilheimer Heft 60: Spaßmacher – Ernstmacher; Lesung am 6. April 2006 (die letzte Lesung seines Lebens, auch im Buchhandel auf CD erhältlich). 24 25 Albrecht Haushofer, W. Heft 39: Macht Wolfgang Hildesheimer, W. Heft 4: Orte; Albrecht Haushofer: Augustus (I. Akt, 1. Szene) und Ohnmacht; Gedenkabend am 7.12. Lesung am 12.3.1981. W. Lit.preis 1991 1994 mit Carl Friedrich v. Weizsäcker, Al- am 12.3.1991 (W. H. 31: Rede an die Ju- Landhaus des Horatius bei Tibur ... Horatius, Vergilius und Catullus an einem erlesenen bert v. Schirnding und Guntram Vesper. gend, Peter H. Neumann: Laudatio). Aus- Frühstückstisch. Ein Sklave schenkt ihnen Wein und verläßt dann den Raum. A. H. wurde am 7. Januar 1903 als Sohn stellung im Stadtmuseum: W. H.: Collagen des »Geopolitikers« Prof. Karl Haushofer 1990, 9. – 17.3.1991 (Einführung: Ingo F. Horatius. Gedenken wir des allerhöchsten Wohls! in München geboren, machte 1920 das Walther). W. H. wurde am 9.12.1916 in Abitur, studierte Geographie (Promoti- einer jüd. Familie in Hamburg geboren. Augustus Octavianus Caesar lebe! on 1924), ging nach Berlin und wurde Er besuchte die Odenwaldschule, emigrier- Catullus (sein Glas umwerfend). Generalsekretär der Ges. für Erdkunde. te 1933 nach Palästina, wo er eine Lehre Ick kanns nicht ändern, daß er lebt – Sein Wohl – Trotz seiner »Überzeugung, daß wir einer Tischler machte. Nach einem Kunststudi- Horatius. Was tust Du, Freund! Mein bester Wein – so großen allgemeinen Katastrophe entgegen- um in London (1937 – 39) arbeitete er als Catullus. Verzeih! gehen, daß es auf die persönliche bald nicht Englischlehrer in Tel Aviv, dann als Infor- Horatius. Du wagst zu viel. Man hätt es hören können! mehr ankommen wird« (Brief an die Eltern mationso% zier der britischen Regierung Vergilius. Es ist doch niemand hier. am 3.3.1933), wurde er außenpolitischer in . Daneben malte er (erste Aus- Horatius. Mein neuer Sklave – Berater des »Stellvertreters des Führers« stellungen 1945). 1946 kehrte er nach Eng- Catullus. Der junge Bengel, der uns grad verließ, Rudolf Heß, eines Schülers seines Vaters, land, dann Deutschland zurück und war Steht in besondrem Dienst? dann Mitarbeiter des späteren Außen- Simultandolmetscher, später Redakteur Horatius. Das weiß ich nicht. ministers Ribbentrop, versuchte die dt. der Protokolle bei den Nürnberger Pro- Vergilius. Wenn Du Dich nicht einmal auf Deine Sklaven Außenpolitik positiv zu beein# ussen und zessen. 1949 bis 1953 lebte er in Ambach kritisierte zugleich den NS-Staat in seinen am Starnberger See. Dort hörte er »am 18. Verlassen kannst – Römerdramen Scipio (1934), Sulla (1938) Februar 1950 vormittags« mit dem Malen Catullus. Was jagst Du ihn nicht weg! und Augustus (1939), die unter den Augen auf, um sich dem Schreiben zu widmen. Horatius. Maecenas hatte doch die Freundlichkeit, der Machthaber gedruckt wurden - zwei Bis 1957 lebte er in München, dann in Ihn mir zu schenken! wurden sogar aufgeführt. Seit Kriegbeginn Poschiavo (Graubünden), wo er wieder zu Catullus. Dann vergift ihn doch! stand er in engem Kontakt zum Wider- malen begann und am 21.8.1991 starb. Horatius. Maecenas oder meinen Sklaven? stand, weshalb er nach dem 20. Juli 1944 1984 hatte er seinen endgültigen Abschied Catullus. Beide! vom väterlichen Hartschimmel-Hof (12 von der Literatur erklärt: »Der Lauf der Soviel ich sehe, hast Du vor beiden Angst! km nördlich von Weilheim) auf die Part- Welt (genauer: der Erde) hat mir die Sprache Für einen Dichter würdelos! nachalm # oh, wo er am 7.12. entdeckt verschlagen.« (Vgl. E. Canetti) Horatius. Catull – und ins Gefängnis nach Berlin-Moabit ge- Hörspielpreis der Kriegsblinden 1955, Ge- Wann hatten Dichter Würde! bracht wurde. Dort schrieb er 80 Sonette, org-Büchner-Preis 1966. Lieblose Legenden, Catullus. Oder Mut! (1939) das Manuskript hielt er in der Tasche, als 1952 / Mozart, 1977 / Endlich allein, Col- ihn sein Bruder am 12. Mai 1945 fand. lagen, 1984 / Ges. Werke in sieben Bänden, Am 23. April, kurz vor der Befreiung, hat- 1991 / Rede an die Jugend. Mit einem Post- ten ihn SS-Männer ermordet. Moabiter scriptum für die Eltern, 1991 (posthum). Gefährten Sonette, 1946 (Neuausgabe: 1999). Katja Huber, W. Heft 62: Vielleicht auch Prof. Heinz Haushofer (1906-88), Bruder nur geträumt; L. am 29.3.2007. Geb. am Als ich in dumpfes Träumen heut versank, von A.H., sprach bei der Heselloher- Feier. 12.7.71 in Weilheim, besuchte unser Gym- Sah ich die ganze Schar vorüberziehn, Den Weggefährten gilt ein langer Blick. Hans Heselloher, W. H. 18: Zwei Lieder, nasium, war Mitglied der Jury zum W. Lite- Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin,Sie hatten alle Geist und Rang und Namen, Die gleichen Ziels in diese Zellen kamen – hrsg. von Hans Pörnbacher, mit einer Nach- raturpreis 1991, den Hildesheimer erhielt, Die Hassell, Popitz, Helferich und Planck – dichtung von Hubert Witt. H. war Richter studierte Slawistik und Politikwissenschaft Und ihrer aller wartete der Strick. in WM und starb um 1486. Am 14.7.1986 in München, seit 1996 Mitarbeiterin des Nicht einer, der des eignen Vorteils dachte, Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt. feierten wir im Stadttheater »500 Jahre Bayerischen Rundfunks. Bayer. Staatsför- Nicht einer, der gefühlter P# ichten bar, Hans Heselloher« mit Vorträgen der Profes- derpreis für Literatur 2006. Fernwärme, R. In Macht und Glanz, in tötlicher Gefahr, Dann sinds die besten Köpfe, die man henkt. soren Haushofer und Pörnbacher und dem 2005, Reise nach Njetowa, R. 2007. Nicht um des Volkes Leben sorgend wachte! »ensemble für frühe musik augsburg«. Peter Huchel, W. Heft 5 (s. S. 30). (Moabiter Sonett XXII, 1944/45) 26 27 Wolfgang Hildesheimer: Das Märchen vom Riesen Katja Huber: Erster Schultag

Es war einmal ein Bauer, der hatte zwei Söhne. Der erste war arbeitsam und tapfer. Erster Schultag, einfach saublöd. Kaum hatte Anna ihre Schultüte ausgepackt, ihr Er bestellte seinem Vater das Feld ... und zog aus, das Land von Drachen, Räubern Schweizermesser, das sie sich schon im Kindergarten gewünscht hatte, heimlich am und anderen Schädlingen zu befreien. Der zweite aber war faul und lebte in den Tag hölzernen Klorollenhalter ausprobiert, kaum hatte sie sich, weil sie zu spät aus dem hinein. Oft sprach der Vater zu ihm: »Du bist ein Faulpelz und wirst es niemals zu Klo gekommen war, auf den einzigen noch freien Platz neben einer rosa berüschten etwas bringen.« Aber der Sohn scherte sich nicht darob. Er legte sich auf die Wiese Kuh namens Veronika, natürlich in die erste Reihe, setzen müssen, kaum waren die und kaute an einem Grashalm. Namensschildchen aufgestellt worden, kaum waren ihre Mutter und Großmutter Da geschah es, daß ein großer Riese das Land bedrängte. Er fraß den Bauern die mit all den anderen Eltern verschwunden, ƒ ng es an. Kühe, die Ziegen und die Bäuerinnen: es war eine große Not. Darum ließ der König »Meine Familie« schrieb die Lehrerin an die Tafel, was natürlich keiner wissen konn- des Landes ausrufen, daß er den reichlich belohnen wolle, dem es gelänge, den Riesen te. Nur Veronika, die »meine Familie« zischte, noch bevor die Lehrerin es vorlesen zu töten. Als der erste Sohn diese Botschaft vernahm, schnürte er sein Ränzel und zog konnte. »Jeder erzählt jetzt mal, was seine Geschwister und Eltern machen«, sagte aus, um den Riesen zu töten, denn er wollte die schöne Königstochter gewinnen und sie und deutete – auf Veronika. »Meine Mutter kümmert sich um mich und meinen die Hälfte des Königreiches obendrein. ... Papa. Geschwister habe ich nicht. Mein Vater ist Direktor bei Dornier!«, sagte Ve- Wie nun unser wackerer Bauernsohn ein gar lustig Liedchen pfeifend rüstig fürbaß ronika, und »An-na« sagte die Lehrerin auch schon. Anna schwieg. »Anna«, zischte schritt, sah er eine schöne Pfauenfeder auf dem Wege liegen. »Ei der Daus«, sprach Veronika. »Anna?«, fragte die Lehrerin. »Annaaaa, Annnna!«, riefen plötzlich alle, er, »die nimmst du mit, weißt du doch nie, wozu so etwas taugen mag.« ... Als er und Anna stand auf. »Meine Familie!«, sagte sie. »Mein Bruder ist drei Jahre älter als wiederum ein Stück Wegs zurückgelegt hatte, sah er einen großen Mühlstein auf ich. Er kann schon lesen und schreiben und rechnen und " iegen. Eigentlich darf ich demselben liegen. »Ei der Daus«, sprach er ..., »den nimmst du mit, weißt du doch das nicht verraten, aber hier hört er mich ja nicht. Meine Mutter arbeitet in einer nie, wozu so etwas taugen mag.« Er las ihn auf, steckte ihn in die Tasche und ging Honigfabrik. Sie muß die Bienen füttern. Mein Vater ist gerade in Rußland, auf weiter. Nach einer Weile sah er einen großen Käse auf dem Wege liegen. Er hob ihn Geschäftsreise. Er prüft für eine große deutsche Firma Trockenƒ sch! Trockenƒ sch ist auf und steckte ihn in sein Ränzel. ... Dann kam er zum Waldrand. so trocken wie ein Blatt Papier, so hart wie ein Holztisch, und er stinkt schlimmer Da lag der Riese und schnarchte laut. ... Unser Jüngling, nicht faul (– der Faule war, als Limburger Käse. Dafür schmeckt er ganz gut. Außerdem hat er mindestens soviel wie sich der Leser erinnert, der andere –), spuckte sich in die Hände, nahm die Pfau- Vitamin C wie Sauerkraut, hilft also gegen Skorbut. Mein Vater soll den besten russi- enfeder vom Hut und kitzelte den Riesen damit an der Nase. Darauf brummte dieser schen Trockenƒ sch ƒ nden und nach Deutschland bringen. Er sucht schon seit einem und ö‚ nete den Mund, um zu niesen. Da warf ihm unser wackerer Jüngling den halben Jahr und schreibt mir jeden Tag einen Brief. Hinter einem kleinen Dorf, in Mühlstein hinein. Nun erwachte der Riese vollends, denn er hatte sich verschluckt dem nur drei Familien leben, hat er letzte Woche einen russischen Ureinwohner ... . Er spuckte den Mühlstein aus, als sei er ein Kirschkern, packte den Jüngling und gefunden. ... Er hat meinen Vater in einen Birkenwald geführt. Sie mußten sich verschlang ihn sowohl mit Haut als auch mit Haar. ... die Schuhe ausziehen und schleichen, damit sie nicht die Braunbären wecken. Die Währenddessen lag der zweite Bauerssohn auf der Wiese und kaute immer noch an Braunbären schlafen nämlich immer tagsüber, weil sie so dunkel sind, daß man sie seinem Grashalm. Da kam die schöne Königstochter des Weges und fragte ihn: »Was nachts nicht sehen kann. Wenn sie nachts auf dem Boden liegen würden, würden alle macht Ihr denn da, fauler Bauerssohn?« Der faule Bauerssohn aber sprach: »Ei, seht Igel, Ameisen und Füchse auf sie treten. Also ist mein Vater mit dem Mann durch Ihr denn nicht? Ich liege auf der Wiese und kaue an einem Grashalm.« – »So will ich den Wald geschlichen, und an einer riesengroßen alten, dicken Birke, die mindestens mich zu Euch legen«, sprach die schöne Königstochter. Und so legte sich die schöne hundert Meter hoch und hundert Jahre alt war, sind sie stehen geblieben. Dann hat Königstochter zu dem faulen Bauerssohn. Da er ihr aber wohlgeƒ el, hielt sie bei sei- der Ureinwohner an den Stamm geklopft und ›Ryba‹ geschrien – ›Ryba‹ heißt näm- nem Vater um seine Hand an. Der Bauer war froh, seinen nichtsnutzigen Sohn loszu- lich Fisch. Mein Vater kann nämlich Russisch, aber verstanden hat er es nicht. Weil: werden, und willigte ein. Aber auch dem König geƒ el der junge Faulpelz, und er war Wo sollen denn in einem Birkenwald bitte Fische sein?« mit der Wahl wohlzufrieden. Und so wurde eine große Hochzeitstafel gerichtet und »Vielen Dank, Anna, das reicht!«, hatte die Lehrerin unterbrochen. Veronika hatte ein frohes Fest gefeiert, zu welchem viele Gäste aus aller Herren Ländern kamen ..., gekichert. »Wieso reicht das? Sie haben den Fisch noch gar nicht gefunden«, rief und man war munter und fröhlich; das Fest dauerte sieben Tage und sieben Nächte, Anna und wollte weitererzählen. »Den müssen sie heute auch nicht mehr ƒ nden. Wir und am achten Tag kam der Riese, den man inzwischen völlig vergessen hatte, und wollen nur gerne noch erfahren, was die Familien anderer Kinder machen.« verspeiste die ganze Gesellschaft, und wenn er daran nicht gestorben ist, so lebt er (Fernwärme, 2005) heute noch. (Lieblose Legenden, 1952, gekürzt)

28 29 Peter Huchel: Dezember 1942 : wien: heldenplatz

Wie Wintergewitter ein rollender Hall. der glanze heldenplatz zirka 1944 1945 Zerschossen die Lehmwand von Bethlehems Stall. versaggerte in maschenhaftem männchenmeere drunter auch frauen die ans maskelknie krieg krieg Es liegt Maria erschlagen vorm Tor, zu heften heftig sich versuchten, ho ensdick. krieg krieg Ihr blutig Haar an die Steine fror. und brüllzten wesentlich. krieg krieg krieg krieg Drei Landser ziehen vermummt vorbei. verwogener stirnscheitelunterschwang krieg mai Nicht brennt ihr Ohr von des Kindes Schrei. nach nöten nördlich, kechelte krieg mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme krieg Im Beutel den letzten Sonnblumenkern, hinsensend sämmertliche eigenwäscher. krieg Sie suchen den Weg und sehn keinen Stern. krieg pirsch! krieg Aurum, thus, myrrham o erunt ... döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz krieg Um kahles Gehöft streicht Krähe und Hund. mit hünig sprenkem stimmstummel. krieg balzerig würmelte es im männechensee ... quia natus est nobis Dominus. und den weibern ward so p& ngstig ums heil (markierung einer wende) Auf fahlem Gerippe glänzt Öl und Ruß. zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte. (29.10.66, sprechblasen) (4.6.62, Laut und Luise) Vor Stalingrad verweht die Chaussee. Sie führt in die Totenkammer aus Schnee. (Chausseen, Chausseen) beschreibung eines gedichtes

bei geschlossenen lippen Friede ohne bewegung in mund und kehle jedes einatmen und ausatmen Zugzeiten der Vögel. mit dem satz begleiten In den stachligen langsam und ohne stimme gedacht Grannen gedroschener Ähren ich liebe dich wohnt noch die milde Leere des Sommers. so daß jedes einziehen der luft durch die nase In den Schießscharten des Wasserturms sich deckt mit diesem satz wuchert das Gras. (Die neunte Stunde) jedes ausstoßen der luft durch die nase und das ruhige sich heben Geb. am 3.4.1903 in Berlin-Lichterfelde, Kindheit auf dem Hof des Großvaters in der und senken der brust Mark Brandenburg, Literaturstudium in Berlin, Freiburg und Wien, zahlreiche Reisen. (24.6.79, der gelbe hund) Seit 1934 schrieb er (wie sein Freund Günter Eich) Hörspiele. Er wurde nach dem Krieg und russischer Gefangenschaft Sendeleiter, dann künstlerischer Direktor beim (Ost-)Ber- Geb. am 1.8.1925, gest. am 9.6.2000 in Wien. Erlebte Hitlers Triumph auf dem Helden- liner Rundfunk und 1949 erster Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form. 1962 zum platz in Wien am 15.3.1938 mit: »Als Führer … der deutschen Nation … melde ich vor der Rücktritt gezwungen, lebte er in völliger Isolation bei Potsdam, bis er 1971 ausreisen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich!« Nach dem Abi- konnte und sich in Staufen bei Freiburg niederließ, wo er am 30.4.1981 starb (das W. tur 1943 Soldat, Gefangenschaft in England, Germanistik- und Anglistikstudium (Promo- Heft hatten wir ihm noch zugeschickt). Seit 1976 Mitglied des Ordens "Pour le mérite$. tion über Schnitzler), bis 1979 Gymnasiallehrer. Büchner-Preis 1984, Huchel-Preis 1990. Gedichte, 1948 / Chausseen, Chausseen, G. 1963 / Gezählte Tage, G. 1972 / Die neunte Laut und Luise, 1966 / sprechblasen, gedichte, 1968 / der gelbe hund, g. 1980 / idyllen, 1989 / Stunde, G. 1979 / Gesammelte Werke in zwei Bänden, 1984. Letzte G., 2001. Zahlreiche CDs. W. Heft 8: frühlingshaft; L.n am 4. (Einführung: Peter Horst W. Heft 5: Zwölf Gedichte; Gedenkveranstaltung am 29. Mai 1981 mit Prof. Hans Mayer. Neumann) und 5.5.1982 (aufgenommen auf CD: Frühlingshaft. Eine Live-Lesung, 2008). 30 31  omas Hürlimann, W. H. 36: Unter die- Prof. Friedhelm Kemp sprach am 24.2. # omas Hürlimann: Der Tunnel sen Sternen; L. am 21.10.1993 (Einf.: Dr. 1988 über Annette Kolbs R. Die Schaukel H.-R. Schwab). W. Heft 40: Rede an die (W. Lit.kalender 1988). Geb. 1914 in Köln, Im Januar 91, wie man sich erinnert, hat in Bellinzona das eidgenössische Jubeljahr Jugend, W. Lit.preis 1995 am 21.3.1995 Studium der Romanistik. Seit 1934 in begonnen. Also fuhren die Ehrengäste aus allen Landesteilen Richtung Süden, letzter (Laudatio: ) . Einführung der München. Übersetzer aus dem Franz. und Halt in Arth Goldau, nun war man komplett – der Extrazug, aus lauter Speisewa- Lesung von Peter Bichsel , Mitwirkung bei Engl. (vor allem von Lyrik), Rundfunkre- der 20-Jahrfeier, L. aus Fräulein Stark am dakteur, Hrsg. von Anthologien u. Werk- gen bestehend, brauste los. Die Berner waren bereits in Stimmung, man jaßte, man lachte, der Festwein ' oß in Strömen. Neben den meisten Räten saß eine Gattin, und 2.10.2001, Festrede bei unserer 125-Jahr- ausgaben (Baudelaire u. a.). Das europäische feier am 17.10.2003. Geb. am 21.12.1950 Sonett, 2002 / Einmal für immer, G. 2004. erhob sie sich, um kurz auszutreten, kam sie nach erstaunlich kurzer Zeit zurück.Sie in Zug als Sohn des konservativen Politi- Walter Kempowski, W. Heft 9: Reisen; wirkte leicht verstört, und ' üsterte ihrem Stände-, National- oder Regierungsrat kers Hans H. (1974-82 Bundesrat, 1979 L.n am 25. und 26.10.1982. Als Sohn eine Botschaft ins Ohr, die diesen erbleichen ließ. Was war los? Der Zug raste durch Bundesprä sident), Besuch der Stiftsschule eines Reeders am 29.4.1929 in Rostock den verwinterten Talkessel von Schwyz, dann durch Brunnen, durch Flüelen, und es in Einsiedeln, Philosophie-Studium in Zü- geboren, begann er 1946 eine Lehre und muß kurz vor Erstfeld gewesen sein, als ein bekannter Nationalrat das Wort ergri+ . rich und Berlin, lebt seit 2002 in Berlin. fand Ende 1947 Arbeit in Wiesbaden. Am Er trinke zwar nur Mineralwasser, polterte er los, aber auch ein Mineralwassertrin- Dramatiker, Erzähler und Essayist. Joseph- 8. März 1948 wird er bei einem Besuch ker müsse hin und wieder, manchmal sogar dringend, und er frage sich, was für ein Breitbach-Preis 2001, Jean-Paul-Pr. 2003. in Rostock verhaftet und als »Spion« zu 25 Schafskopf diesen Zug zusammengestellt habe. Da setzte fraktionsübergreifend ein Die Tessinerin, Geschichten, 1981 / Die Sa- Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Auch seine Klagen und Fluchen ein, und allen, auch den Biertrinkern, deren Blase robuster ist, tellitenstadt, Geschichten, 1992 / Der große Mutter und sein Bruder werden festge- wurde allmählich bewußt, daß die Festlogistiker etwas Wichtiges übersehen hatten: Kater, R. 1998 (Film: 2010) / Fräulein Stark, nommen. Nach acht Jahren Haft in Baut- Novelle, 2001 / Vierzig Rosen, R. 2006. zen werden die Brüder amnestiert und Der Extrazug bestand aus Speisewagen, und Speisewagen, wer wüßte es nicht, haben Al Imfeld (*1935), zunächst Missionar, ziehen zu der 1954 freigelassenen Mutter keine Toilette. dann Publizist, lebt in Zürich, Autor von nach Hamburg. Er holt das Abitur nach, Eine Katastrophe bahnte sich an. Die Christliche Volkspartei schlug Sofortmaß- zahlreichen Büchern (zehn über Afrika). studiert Pädagogik, arbeitet von 1960 bis nahmen vor, und ein bodenständiger Ständerat, der kräftig gebechert hatte, stürzte Hielt am 26.10.1999 vor dem Besuch von 1979 als Dorfschullehrer in Niedersach- Hals über Kopf in die Kombüse, wo er ultimativ eine Suppenschüssel verlangte. Die Wole Soyinka zwei Vorträge über Afrika. sen. Er starb am 5.10.2007 in Rotenburg/ Küchen-Tamilen wandten diskret den Blick ab. Göschenen, der Gotthard, Geratter, Ernst Jandl, W. Heft 8 (s. S. 31). Wümme. Seit 1983 hat er immer wieder Gedonner, der Tunnel, dem Dürrenmattschen ähnlich, drohte sich ins Endlose aus- Jacek Kaczmarski: W. Heft 21: Lyriker Weilheimer Schüler zu seinen Literatur- zudehnen – Gejammer, Gewinsel, Nothalt, riefen die Sozis im Chor, und ein Freisin- im Exil; Konzert am 19.3.1987. Dichter, Seminaren nach Nartum eingeladen. Wil- niger (nicht gerade feinsinnig): Schi+ halt! Gitarrist und Sänger, geb. am 22.3.1957 helm-Raabe-Preis 1972, # omas-Mann- Endlich kam man überein, die Standes- und Bundesweibel nach vorn zu schicken, zu in Warschau, ging nach der Ausrufung Preis 2005. Im Block. Ein Haftbericht, 1969 den Lokführern. Airolo! schrien die Weibel, Airolo!, sie wanden und krümmten sich, des Ausnahmezustands durch General Ja- / Deutsche Chronik (sechs Romane, erschie- wankten mit verknäulten Beinen im Führerstand herum, drohten, jaulten, hüpften, ruzelski Ende 1981 ins Exil und arbeitete nen zwischen 1971 und 1984, u. a.): Tadel- für Radio Free Europe in München. Nach löser & Wol$ , 1971, Uns geht’s ja noch gold, aber die Lokführer, stramme Gewerkschafter, blickten stur geradeaus in die Finster- dem Ende des Kommunismus kehrte er 1972, Herzlich willkommen, 1984 / Hamit. nis, die ihrer Maschine entgegenschoß. zurück. Er starb am 10.4.2004 in Danzig. Tagebuch 1990, 2006. Irgendeiner muß dann doch gehandelt haben. In Rodi-Fiesso quietschten die Brem- Prof. Joachim Kaiser, # eater-, Musik- Imre Kertész, W. Heft 58 (s. S. 35). sen. Alle Türen ' appten auf, und die Herren und Damen des Landes purzelten in und Literaturkritiker, geb. 1928 in Milken/ Die Kester-Haeusler-Stiftung in Fürs- Festgarderoben aus den Waggons. Eine Primarlehrerin, die mit ihrer Klasse dem Ostpreußen, seit 1953 als Kritiker bei der tenfeldbruck wurde 1988 von RA Prof. vorbeifahrenden Extrazug hatte zujubeln wollen, glaubte ihren Augen nicht zu Gruppe 47, seit 1959 Feuilleton-Redakteur Heinz # ieler gegründet, der mit seiner trauen. Die Damen strebten im Galopp den Toiletten zu, indes sämtliche Männer der Süddeutschen Zeitung. Hielt die Lau- Familie in Weilheim wohnt. Die Stiftung durchs Geschotter die Böschung hinunterstolperten. Die Primarlehrerin kni+ sich dationes auf Ilse Aichinger (1988) und Lori- & nanziert seit 1991 den Weilheimer Lite- in die Wange. Dann wies sie die Kinder an, die Nationalhymne zu singen, aber mit ot (1999) u. wirkte bei der Gedächtnisver- raturpreis mit, außerdem unterstützt sie geschlossenen Augen. (Die Satellitenstadt, Geschichten, 1992) anstaltung für Hans W. Richter am 12.11. besondere Aktivitäten wie die »Weilheimer 1993 mit. Große Pianisten in unserer Zeit, Bibliothek für junge Leser« und die Feiern 1965 und 2004 / Erlebte Literatur, 1988 zum 20. und 30. Jubiläum der W. Hefte. (mit der Laudatio auf I. Aichinger) / Kaisers , W. Heft 47 (s. S. 36). Klassik, 100 Meisterwerke der Musik, 2001. Wulf Kirsten: W. Heft 27 (s. S. 37). 32 33 Walter Kempowski: Die Verhaftung Imre Kertész: Die Untersuchung Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast Die Untersuchung selbst kann im übrigen nicht mehr als etwa zwei, drei Sekun- du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich. Einer nahm aus dem den (annähernd) gedauert haben. Gerade war vor mir noch Moskovics an die Reihe Wäscheschrank Briefe und Tagebücher. Ein anderer strich über die Tapete. gekommen – ihn hatte der Arzt sofort, mit gestrecktem Zeige‚ nger, in die andere Zwei Pullover zog ich mir über, meinen Ring konnte ich unbemerkt in die Nacht- Richtung gewiesen. Ich hörte noch, wie Moskovics zu erklären versuchte: »Arbeiten tischschublade abstreifen. ... sechzehn ... « – aber von irgendwoher packte ihn eine Hand, und schon hatte ich seinen Platz eingenommen. Mich, so sah ich, betrachtete der Arzt schon gründlicher, Sie legten mir keine Handschellen an. Beim Hinuntergehen faßte einer mit zwei mit einem abwägenden, ernsten und aufmerksamen Blick. Ich habe mich dann auch Fingern meinen Ellbogen. aufgerichtet, um ihm meinen Brustkasten zu zeigen, und – so erinnere ich – sogar et- Oben stand meine Mutter mit aufgelöstem Haar. was lächeln müssen, als ich so nach Moskovics drankam. Zu dem Arzt hatte ich auch Auf der Straße Doppelposten mit Gewehr. gleich Vertrauen, weil er von angenehmer Erscheinung war und ein sympathisches Im Fenster des Hausmeisters bewegte sich die Gardine; im Schaufenster der Drogerie langes, glattrasiertes Gesicht hatte, eher schmale Lippen und blaue oder graue, auf Fotos vom Strand. jeden Fall helle, gütig blickende Augen. Ich konnte ihn mir gut anschauen, während er, seine behandschuhte Hand beidseits auf meine Wangen stützend, mir mit dem Im Opel Olympia: Trug der Fahrer eine Pickelmütze? Daumen die Haut unter den Augen ein bißchen herunterzog – geradeso, mit dem (In Riga erstach man die Stadtverordneten und warf sie in einen Brunnen.) gleichen Handgriƒ , wie ich es von den Ärzten zu Hause kannte. Gleichzeitig fragte er Ich hielt mich an der Troddel fest und suchte die Straße nach Bekannten ab. Da drü- mich mit einer leisen, aber klaren Stimme, die den gebildeten Menschen verriet: »Wie ben hatte immer der alte Weltzin in seinem Erker gesessen. alt bist du?« – aber irgendwie nur so nebenbei. Ich sagte: »Sechzehn.« Er hat leicht genickt, aber es schien eher deswegen zu sein, weil es die richtige Antwort, und nicht, Ein Bretterzaun versperrte die verbotene Villenstraße. Glatzköp‚ ge Russenkinder weil es die Wahrheit war – jedenfalls ist es mir in der Eile so vorgekommen. Ich habe davor. Rasch war der Schlagbaum aufgeseilt, ein Ausweis wurde nicht verlangt. Alle auch noch eine andere Beobachtung gemacht, oder eher eine " üchtige, vielleicht Türen standen oƒ en. auch falsche Wahrnehmung – als hätte er irgendwie zufrieden, ja fast schon erleich- Von O„ zieren geleitet, schritt ich die Treppe hinauf. tert gewirkt; mir schien, ich ge‚ el ihm irgendwie. Dann schob er mich weg, mit der Der Wachhabende saß auf einem Gartenstuhl. Er hatte die Ärmel hochgestreift. einen Hand noch auf meinem Gesicht, während er mir mit der anderen die Richtung wies, auf die andere Seite der Straße, zu den Tauglichen. Die Jungen erwarteten mich Im Keller nahm mich ein freundlicher Mongole entgegen. Krawatte abbinden – ich schon triumphierend, vor Freude lachend. Und beim Anblick dieser strahlenden Ge- trug eine rote –, Schnürsenkel herausziehen, Brieftasche hingeben. Brille ab. sichter war es vielleicht, daß ich den Unterschied verstand, welcher unsere Gruppe Mit Stacheldraht umwobene Gitterstäbe: Kette und Schuß. Vor der Nachbarzelle von denen auf der anderen Seite wirklich trennte: es war der Erfolg, wenn ich es stand eine Beinprothese. richtig empfand. (Roman eines Schicksallosen, 1975/1996)

Erstes Verhör in einem Wohnzimmer. Geb. am 9.11.1929 in Budapest, wurde als Vierzehnjähriger im Sommer 1944 im An der Wand ein Stalin-Bild. Drei O„ ziere mit hängenden Orden um mich herum. Rahmen der von Adolf Eichmann organisierten Judendeportation nach Auschwitz ver- Ich antwortete nach allen Seiten. schleppt, wo die meisten nach der Selektion (oft durch Dr. Mengele) in den Gaskammern Einer strich mir übers Haar: Guter Junge. ermordet wurden. Er selbst wurde als »arbeitsfähig« nach Buchenwald weitertransportiert, Er stellte ein Bein auf den Stuhl, fummelte an meinem Identi cation Pass und zählte wo er am 11.4.45 von den Amerikanern befreit wurde. Nach seiner Rückkehr lebte er es an den Fingern her: Aus dem Westen gekommen, Labor Company der U.S. Army, u. a. als Journalist, Verfasser von Boulevardstücken und Übersetzer aus dem Deutschen Ami-Hose – also Spion. (u. a. von Elias Canetti und Tankred Dorst) . Sein erster Roman, an dem er mehr als zehn Im Straßenlautsprecher Chopin. Jahre gearbeitet hatte, hatte zunächst nur wenig Echo. Erst das Erscheinen der zweiten Übersetzung machte ihn in Deutschland bekannt. Pour le mérite 2000, Nobelpreis 2002. (Im Block. Ein Haftbericht (Anfang), 1969/1987) Sorstalanság, 1975: Mensch ohne Schicksal, 1990; Roman eines Schicksallosen (Ü: Christina Viragh), 1996 / Fiasko, 1999 / Galeerentagebuch, 1993 / Dossier K. Eine Ermittlung, 2006 / Briefe an Eva Haldimann, 2009. – Weilheimer Heft 58: Geschichte und Geschichten (Vor- wort: Christian Meier), Februar 2004. 34 35 Sarah Kirsch: Im Sommer Wulf Kirsten: September am Ettersberg Dünnbesiedelt das Land. 1 Trotz riesiger Felder und Maschinen ach, Rußland, mütterchen, du bist unendlich, Liegen die Dörfer schläfrig am blankgefegten septemberhimmel fuhr nicht ein wölkchen In Buchsbaumgärten; die Katzen zu dir, beladen mit fracht, ich weiß nicht, wie viele Tri‚ t selten ein Steinwurf. unter diesem himmel schon desertiert sind von den deinen und wie viele ihnen nachfolgen werden, eh sie abfahren. Im August fallen Sterne. irgendeiner muß die seuche eingeschleppt haben, einfach Im September bläst man die Jagd an. stiften zu gehen quer über die felder wie damals, als sie Noch ƒ iegt die Graugans, spaziert der Storch blind vor frühlingssehnsucht vom Ettersberg türmten Durch unvergiftete Wiesen. Ach, die Wolken und wie die feldhasen niedergestreckt wurden. Wie Berge ƒ iegen sie über die Wälder. am bahndamm liegt schon wieder einer in uniform, keinen orden an der brust, viel zu jung zum sterben, Wenn man hier keine Zeitung hält vielleicht achtzehn, als wär’s der erstbeste pappkamerad. Ist die Welt in Ordnung. In Pƒ aumenmuskesseln 2 Spiegelt sich schön das eigne Gesicht und welch schöner september hier oben, Feuerrot leuchten die Felder. vor meinen augen ö‚ net sich das vom blanken himmel zur ebenheit niedergedrückte land. einer neben mir weiß nichts mehr von sich, die erinnerungen sind ihm Die Luft riecht schon nach Schnee davongelaufen. ein anderer schreibt sein verƒ ossenes leben um, bringt es nachträglich Die Luft riecht schon nach Schnee, mein Geliebter in die passende form und fasson. einer hat den lieben gott Trägt langes Haar, ach der Winter, der Winter der uns über die klinge springen lassen. einer trug den decknamen Eng zusammenwirft steht vor der Tür, kommt Petrus und schrieb getreulich berichte. die boshaftigkeit Mit dem Windhundgespann. Eisblumen seiner verleumdungen sucht ihresgleichen, Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und wird mir berichtet. mehr begehr ich nicht zu wissen Du Schönster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den Schoß von diesem tag, in wolkenlose geschichte getaucht. Ich sage das ist wo aber bleibt die reine poesie? (1991) Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns Mitten ins Herz, er glüht Auf den Aschekübeln im Hof Darling ƒ üstert die Amsel (Rückenwind, 1977) Wulf Kirsten wurde am 21. Juni 1934 als Sohn eines Steinmetzen und Häuslers in Klipp- Sarah Kirsch wurde am 16. April 1935 in Limlingerode im Südharz geboren, besuchte in hausen bei Meißen geboren. Kaufmännische Lehre in einer Bäckergenossenschaft (1950 Halberstadt die Schule, studierte Biologie in Halle, dann, von 1963 bis 1965, am »Litera- bis 1952), Bauhilfsarbeiter, Buchhalter und Sachbearbeiter, holte an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät (ABF) in Leipzig 1960 das Abitur nach, studierte bis 1964 Germanistik turinstitut Johannes R. Becher« in Leipzig, u. a. mit und Karl Mickel. 1976 unterzeichnete sie den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und wurde dar- und Slawistik in Leipzig, war kurze Zeit Lehrer, dann Lektor im Aufbau-Verlag, Berlin aufhin aus dem Schriftstellerverband und aus der SED ausgeschlossen. Im August 1977 und Weimar, wo er seit 1966 lebt. 1989/90 wirkte er maßgeblich bei der Aufarbeitung übersiedelte sie nach West-Berlin, seit 1983 lebt sie in einem Dorf in Schleswig-Holstein. der Stasi-Vergangenheit in Weimar mit. Für sein Werk erhielt er u. a. den Peter-Huchel- Peter-Huchel-Preis 1993, Georg-Büchner-Preis 1996. Preis 1987 und den Joseph-Breitbach-Preis 2006. Landaufenthalt, Gedichte, 1967 / Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See, Erzählungen, satzanfang, gedichte, 1970 / Die Erde bei Meißen, G. 1986 / Die Prinzessinnen im Krautgar- 1973 / Sämtliche Gedichte, 2005 / Regenkatze, 2007 / Krähengeschwätz, 2010. ten. Eine Dorfkindheit, Erzählungen, 2000 / erdlebenbilder, gedichte aus 50 jahren, 2004 / Weilheimer Heft 47: Im Sommer, im Winter, Lesung am 10. Dezember 1998. Brückengang, Reden und Essays, 2009. Weilheimer Heft 27 (auf Empfehlung von Martin Walser): Das Haus im Acker und andere Gedichte. Lesung am 23. Oktober 1989. 36 37 Horst Köhler, Weilheimer Heft 61: »Tol- Und dann erzählte Richter, wie er einmal in Barbara König: Mein Hitleraufsatz le, lege« – Laudatio auf Wole Soyinka. Bun- Pasing, wo er wohnte, beim Spazieren an despräsident Horst Köhler lud die Schüler- der Amper von einem jungen Mann ange- Dr. G. H. war die beste Lehrerin, die ich je gekannt habe; sie unterrichtete die Jury zur Verleihung des Weilheimer Litera- sprochen worden sei: Entschuldigen Sie naturwissenschaftlichen Fächer mit einer Leidenschaft, die ganze Jahrgänge von turpreises 2006 nach Berlin ein, überreich- bitte – Sie sind doch Hans Werner Richter? – Ja! – Sie werden sicher oft angesprochen! Schülerinnen mitriß. Und ich könnte schwören, daß ihr Ton anders wurde, trocken, te am 13. Juni in seiner Residenz persön- distanziert, wenn sie von den biologischen " eorien der Nazis sprach: man brauch- lich den Preis und hielt die Laudatio. Als er das erzählte, lachte Hans W. Rich- Barbara König: W. Heft 7: Übergänge. L. ter herzlich. Er hatte sich daran gewöhnt, te da nicht mitzudenken. Sie war es auch, die die Hand aufs Herz legte – womit am 5.2.1982, wirkte bei der Gedenkver- von niemandem erkannt zu werden. (Vgl. sie gleichzeitig ihr Parteiabzeichen verdeckte – und sagte: »Ich kann es nicht ver- anstaltung für Hans W. Richter und beim I. Diviš, G. Grass und W. Hildesheimer). antworten, Ihnen den genialen Schöpfer der Psychoanalyse zu verschweigen«, und 20. Jubiläum mit und führte die L.n von Dr. Waltraud Krainz, Klagenfurt, kletter- »Sigmund Freud« an die Tafel schrieb. Das ließ mich aufmerken: eine persönliche Günter Grass ein, den sie aus seiner Pariser te als erste Kärntnerin im 9. Grad, führte Verantwortlichkeit außerhalb der Vorschriften? Daran hatte ich noch nicht gedacht. Zeit kannte. Geb. am 9.10.1925 in Rei- den Vortrag von R. Messner am 8.3.04 ein. Die Frau, deren Ehrgeiz darin zu liegen schien, die Grundsätze des NS-Regimes so chenberg (heute: Liberec). Als sie 11 war, Michael Krüger, Weilheimer Heft 54: getreu wie möglich auf unsere Schule zu übertragen, die uns zu Führerreden im Turn- nahm sich ihr Vater das Leben, mit 19 war Der Freund meiner Schwester und andere Er- saal versammelte und unseren Blick auf das allgegenwärtige Hakenkreuz lenkte, war sie wegen einer Beziehung zu einem ukra- zählungen. Lesung am 21. Februar 2002. Dr. K., die Direktorin. Sie war eine starke Persönlichkeit. Groß, ein wenig vorge- inischen Arzt monatelang inhaftiert. 1945 Geb. am 9. Dezember 1943 in Wittgen- beugt, das graumelierte Haar zu einem unordentlichen Knoten aufgesteckt, ein Paket ! üchtete sie nach Bayern und begann dorf (Kreis Zeitz) in Sachsen. Seit 1950 Bücher unter dem Arm, von einer losen Strickweste umweht, die hellen, scharfen Au- in Berlin, nach dem Abitur Verlagsbuch- journalistisch zu arbeiten. 1950 kam sie gen überall, so fegte sie durch die Gänge unserer Schule, und wenn sie den Arm zum zur Gruppe 47. Sie lebt in Dießen und hat händler- und Druckerlehre, von 1962 bis unser Projekt von Anfang an beraten und 1965 als Buchhändler in London. Gab das Führergruß hochriß, dann war das mehr als eine bloße Geste, dann war das Autorität. unterstützt. Kies, R. 1961 / Schöner Tag, die- Jahrbuch des Wagenbach-Verlags Tinten- Wahrscheinlich hat sie Hunderten von Mädchen das Zerrbild einer Weltanschauung ser 13. Ein Liebesroman, 1973 / Hans Werner % sch mit heraus (1968 – 87) und von 1976 vermittelt, das ihnen wie ein hartnäckiges Gift noch Jahre und Jahrzehnte zu scha# en Richter. Notizen einer Freundschaft, 1997. bis 1980 mit Hans Bender die Zs. Akzen- machen sollte, und doch, absurd genug, war sie es, die mich das Zweifeln lehrte, den Isolde Kolbenho! , Witwe von Walter K. te, seither als alleiniger Herausgeber. Seit ersten Schritt zur bewußten Kritik.

(1908– 93), dem Freund H. W. Richters, 1968 Lektor, seit 1986 literarischer Leiter, Wir hatten sie in Deutsch, und Deutsch war mein Glanzfach. Sie förderte mich. Sie wirkte beim Gedenkabend für diesen mit. seit 1995 Geschäftsführer des Carl Hanser ermutigte meine kleinen Gedichte und das, was sie mein kritisches Denkvermögen Lew Kopelew (1912 Kiew – 1997 Köln), Verlags in München. Peter-Huchel-Preis nannte, sie lobte meine Arbeiten, auch wenn sie das nationale " ema verfehlten, sie russ. Germanist, wegen »Mitleid mit dem 1986, Großer Literaturpreis der Bayer. ließ mich wachsen. Dann geschah die Sache mit dem Hausaufsatz. Wir sollten an Feind« (er hatte gegen die Verbrechen der Akademie der Schönen Künste 2004. einem großen Mann der deutschen Geschichte die nationalen Wesenszüge darstel- Roten Armee in Ostpreußen protestiert) Reginapoly, G. 1976 / Aus dem Leben eines len, Vaterlandsliebe, Willenskraft und wie sie alle hießen. Ich weiß, daß ich zuerst Erfolgsschriftstellers, Geschichten, 1998 / Die neun Jahre im Gulag. Seit 1980 im Exil in Bismarck nehmen wollte, ihn aber dann zu zeitraubend fand und statt seiner Hitler Köln. Führte die Lesung von Hans Werner Turiner Komödie, R. 2005 / Literatur als Richter am 3. Oktober 1985 ein. Lebensmitel, 2008 / Schritte, Schatten, Tage, wählte. An dieser sauber ausgesägten Kunst$ gur war jede deutsche Tugend mühelos aufzuhängen, in einer halben Stunde war ich fertig, ich brauchte ja nur wiederzuge- Als Kopelew, der mit seinem Bart wie ein Grenzen, Gedichte 1976 – 2008, 2008.

Prophet aussah, am 2. Oktober in München Erich Kuby (1910 – 2005): »Meine Jahre ben, was ich aus der Direktorin eigenem Munde wußte. Umso erstaunter war ich, aus dem Zug stieg, stürzte eine Frau auf ihn in Weilheim« am 24.4.1995 im Musiksaal als sie mich nach der nächsten Stunde an ihr Pult rief. Vor ihr lag mein Aufsatz. Sie zu und umarmte ihn. Hans Werner Richter, (Einführung: Josef Othmar Zöller). K. ging wartete, bis die anderen gegangen waren, legte die Hand auf das Heft und fragte: mit dem wir Prof. Kopelew abholten, fragte in Weilheim zur Schule (vgl. Lauter Pat- »Warum hast du das geschrieben?« Ich wußte keine Antwort. »Ausgerechnet du«, ihn, wer die Frau gewesen sei. Seine Ant- rioten. Eine dt. Familiengeschichte, 1996), sagte Dr. K., schüttelte den Kopf, stand auf und ging. wort: Ich kenne sie nicht! Vor dem Hotel studierte in Berlin, war Soldat (Mein Krieg, beim Lenbachplatz noch eine Frau, die ihn 1975) und begann zu schreiben. Nach (Die Erinnerung Mein Hitleraufsatz, von der hier ein Teil wiedergegeben ist, war – neben umarmt. – Woher kennst du die denn? – Ich 1945 arbeitete er für die amerikanische der Rede von Prof. Frühwald zum 3. Oktober 1990 und den Übersetzungen für die Mit- kenne sie nicht! – Beim Abendessen fragte Militärverwaltung, übernahm nach der telalterhefte sowie das Exil-Heft – der einzige Originalbeitrag für ein Weilheimer Heft. Er Richter, den die Bekanntheit unseres Gas- Kündigung Hans Werner Richters 1947 die wurde für das 7. Weilheimer Heft (Januar 1982) geschrieben, erschien am 27.2.1982 – tes beschäftigte: »Du, Lew, in Moskau hat- Zeitschrift Ruf und wurde bald zu einem unter dem Titel Die verpaßte Chance – in der F.A.Z. und dann in dem von Marcel Reich- test du doch noch keinen Bart?!« der führenden politischen Publizisten. Ranicki herausgegebenen Band: Meine Schulzeit im Dritten Reich, 1982.) 38 39 Michael Krüger: Der Freund meiner Schwester Günter Kunert, W. Heft 53: Aus fünf In den 25 Jahren seit seinem Prosadebüt Jahrzehnten; Lesung am 25.10.2001. Geb. (Das stille Haus, 1947) wurde er kaum be- Zur Feier des Bestehens ihres Abiturs durfte meine Schwester ihren ersten Freund mit am 6.3.1929 in Berlin. Nachdem die Fa- achtet. Ein Aufsatz von Peter Handke in nach Hause bringen. Und weil eine meiner indiskreten Tanten sofort fragte, welcher milie (seine Mutter war Jüdin) Krieg und der SZ vom 22./23.12.1973 (Tage wie aus- Arbeit dieser Freund denn nachgehe, wußten wir, was uns erwartete. Dieser Freund NS-Zeit überlebt hatte, studierte er Gra- geblasene Eier. Einladung, war ein Dichter. Wir lebten damals in einer Stadt, die den Dichtern ein gewisses ! k und begann zu schreiben. Er gehörte zu lesen) machte ihn schlagartig bekannt. mit Horst Bienek (vier Jahre Sibirien) und Büchner-Preis 1978, Jean-Paul-Preis 1991. Verständnis entgegenbrachte, was dazu führte, daß immer mehr Dichter in die Stadt Erich Loest (sieben Jahre Bautzen) zu den In neun Romanen erzählt er aus dem Le- kamen, um zu dichten, so daß man in bestimmten Kreisen unweigerlich auf einen von Anfang an kritischen jungen Auto- ben des Schriftstellers Eugen Rapp, z. B. Dichter stoßen mußte. Bis zu uns hatte sich allerdings noch keiner vorgewagt, aber in ren (Wegschilder und Mauerinschriften, G. Andere Tage, 1968 / Neue Zeit, 1975 / Tage- der Nachbarschaft wohnten schon zwei von ihnen, die wir gelegentlich beobachten 1950). Nach der Verö‚ entlichung dreier buch vom Überleben und Leben, 1978 / Der konnten, wenn sie bei Feinkost-Dietrich einkauften. Einer war Pole und bevorzugte Gedichte in der Weltbühne (s. S. 42) wurde Wanderer, 1986 / Freunde, 1997. italienische Rotweine, der andere war aus Irland eingereist und den weißen Weinen ein schon angekündigtes Buch zurückgezo- Siegfried Lenz, W. H.e 30 u. 52 (s. S. 45). aus Frankreich zugeneigt. Da aber trotz dieser Nachbarschaft sich keiner in unse- gen, weshalb er im Westen zu publizieren Loriot, W. Hefte 11 (Dramatische Werke) rer mit vielen Tanten angereicherten Beamtenfamilie – mein Vater arbeitete bei der begann. Im November 1976 unterschrieb und 48 (Rede an die Jugend); L.n (mit Eve- Post – vorstellen konnte, was ein Dichter den lieben langen Tag trieb, wenn er nicht er als einer der ersten die Protestresoluti- lyn Hamann) am 8. und 9.12.1983, Verlei- gerade bei Dietrich Weine einkaufte, sahen wir alle dem mit meiner Schwester be- on für Wolf Biermann, was zu Repressalien hung des W. Lit.preises 1999 am 12.6.1999 freundeten Dichter mit einer gewissen Spannung entgegen. [...] und einer Ausreisewelle führte: 1977 gin- in der Hochlandhalle (Laudatio: Joachim Der junge Mann, der dann am Abend am Arm meiner Schwester in unser Wohnzim- gen u. a. Kunze, Sarah Kirsch und Schädlich Kaiser). Mitwirkung bei der 20-Jahrfeier. in den Westen, 1979 übersiedelte Kunert Vicco v. Bülow wurde am 12.11.1923 in mer gezogen wurde, sah eher meinem Vater in jungen Jahren ähnlich als den beiden mit seiner Frau Marianne in ein Dorf in Brandenburg an der Havel geboren. Er be- Dichtern, die in unserer Nähe wohnten. Er sah zwischen der Tante aus Jena und Schleswig-Holstein. Heinrich-Heine-Preis suchte humanistische Gymnasien in Ber- der Tante aus Zeitz so erbärmlich normal aus, daß wir schon zur Tagesordnung des 1985, Georg-Trakl-Preis 1997. lin und Stuttgart (Notabitur 1941), wur- bei Familienfesten üblichen Streits übergehen wollten, aber der Dichter, der auf den Erwachsenenspiele, Erinnerungen, 1997 / de zur Panzerwa‚ e eingezogen und erlebte nach Ansicht aller wenig poetischen Namen Knut hörte und zu unserer Verblü‚ ung Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast, den Krieg an der Ostfront (sein einziger auch Knut genannt werden wollte, dieser Knut besaß doch einen in seinen Kreisen Aufzeichnungen, hrsg. v. Hubert Witt, 2004 Bruder ! el). 1946 machte er noch einmal o‚ enbar verbreiteten Sinn für Dramatik, als er sich nämlich plötzlich von den feisten / Irrtum ausgeschlossen, Geschichten zwi- Abitur, studierte an der Kunstakademie Schenkeln der Tanten löste und mit einem gurrenden Geräusch nach der eben von schen gestern und morgen, 2006 / Auskunft in Hamburg, arbeitete als Graphiker und meiner Schwester hereingebrachten Torte gri‚ , die eigentlich für die gesamte Fami- für den Notfall, hrsg. von Hubert Witt, 2008 wurde durch Zeichnungen in Illustrier- lie gedacht war. Er ist tatsächlich ein Dichter, der Knut, sagte die Tante aus Zeitz, / Als das Leben umsonst war, G. 2009. ten bekannt, die er mit »Loriot« signierte die in Unkenntnis der poetischen Tradition das schmatzende Verzehren von Butter- , W. H.e 6, 29, 44 (s. S. 43). (frz. Pirol, Wappenvogel der Familie). Seit cremetorten für ein sicheres Merkmal dichterischer Potenz hielt, mein Vater ging Franz Peter Künzel (geb. 1925 in König- 1967 arbeitete er auch als Autor, Schau- grätz), Übersetzer aus dem Tschechischen, spieler und Regisseur für Fernsehen, Film nach dieser wenig einnehmenden Demonstration ostentativ zu Bett, meine Mutter wirkte beim Exil-Abend am 19.3.1987 mit. und Oper. Jacob-Grimm-Preis Deutsche verstummte und schlief kurz darauf in ihrem Sessel ein, die Nachbarn und die Freun- Hermann Lenz, W. Heft 14: Aus dem Le- Sprache 2004, Wilhelm-Busch-Preis 2007. dinnen meiner Schwester, die allesamt mehr erwartet hatten, machten sich grußlos ben des Eugen Rapp; Lesung am 21. März Auf den Hund gekommen, 44 lieblose Zeich- auf den Heimweg – am Ende waren die Tanten, meine Brüder und ich und meine 1985 (Einführung: Prof. Hans Maier). nungen von Loriot, eingeleitet von Wolfgang Schwester mit dem Dichter alleine. Geb. am 26.2.1913 in Stuttgart als Sohn Hildesheimer, 1954 / Loriots Großer Ratge- Was nun folgte, gehört zu den eindrucksvollsten Erlebnissen meiner Jugend. eines Zeichenlehrers, studierte # eologie, ber, 1968 / Loriots Dramatische Werke, 1981 (Aus dem Leben eines Erfolgsschriftstellers, 1998) dann Kunstgeschichte in Heidelberg und / Sehr verehrte Damen und Herren ..., 2002 (ab 1937) in München. 1936 erschien ein (mit seiner Rede an die Jugend) / Gesam- erster Gedichtband. 1940 bis 1945 war er melte Prosa, 2006. Soldat an Ost- und Westfront (am. Gefan- Zahlreiche CDs, Videos und DVDs. genschaft). Bis 1975 wohnte er mit seiner Prof. Christine Lubkoll, seit 2002 Nach- Frau im elterlichen Haus in Stuttgart, folgerin von Prof. P. H. Neumann in Er- seit 1975 im Haus der Schwiegereltern in langen, sprach am 27.6.88 über Kafkas R. München, wo er am 12.5.1998 starb. Der Prozeß (W. Literaturkalender 1988). 40 41 Günter Kunert: »Schlechte Gedichte« Reiner Kunze: kinderzeichung gebildete nation

Jahreswende. 1962 neigt sich, und die Zeitschrift Weltbühne druckt drei meiner Du hattest ein viereck gemalt, Peter Huchel verließ die kleinen Sprüche. darüber ein dreieck, Deutsche Demokratische Republik (nachricht aus Frankreich) A UCH DIE W ÜRMER darauf (an die seite) zwei striche mit rauch – haben ein Reich: Das Erdreich. fertig war Er ging Wer sonst dort leben will, DAS HAUS muß tot sein. Die zeitungen meldeten Man glaubt gar nicht, keinen verlust Und: U NTERSCHIEDE Und der Höhepunkt: was man alles Betrübt ALS UNNÖTIGEN L UXUS nicht braucht (1960) höre ich einen Namen aufrufen: herzustellen verbot, was die Leute Wolf Biermann singt Nicht den meinigen. Lampen nennen, Aufatmend König $ arsos von Xantos, der Im zimmer kreischt die straßenbahn, höre ich einen Namen aufrufen: von Geburt auf dich im blauen mantel sie kreischt von Biermanns platte, Nicht den meinigen. Blinde. Für Elisabeth der, als er die chansons aufnahm, kein studio hatte Von neuem lese ich von vorn Die Weltpresse hat sogleich die Sprüche nachgedruckt und entsprechend interpre- die häuserzeile suche Er singt von Barlachs großer not, tiert. Hans Mayer, der % üchtig Abgegangene, notiert: Sklavensprache. die faßt uns alle an, Hinter den Kulissen der Macht hebt ein Raunen an, das auch mich erreicht. Etwas nicht dich das blaue komma das denn jeder kennt doch das verbot Geheures zieht sich über mir zusammen... Die Mühlen fangen an zu mahlen.... sinn gibt (1970) und hört die straßenbahn (1971) Am 10. Januar bläst die Ostseezeitung zum Halali: »Rostock, 10.1.1963. Um der Zukunft willen Partei ergreifen. Von Prof. Dr. Hans Jürgen Mitschüler Geerdts, Greifswald, Mitglied des Vorstandes des Deutschen Schriftstellerverbandes. Das, was mir beim Lesen der drei Sprüche von Günter Kunert au' el, war: Ein talen- Sie fand, die Massen, also ihre Freunde, müßten unbedingt die farbige Ansichtskarte tierter Schriftsteller, von dem ich weiß, daß er zahlreiche gute Gedichte geschrieben sehen, die sie aus Japan bekommen hatte: Tokioter Geschäftsstraße am Abend. Sie hat, zeigt hier deutlich seine Zurückgebliebenheit und Verwirrung. Denn das, was er nahm die Karte mit in die Schule, und die Massen ließen beim Anblick des Exoten mitteilt, ist banal und belanglos, weil es verschwommen und abstrakt ist und kaum kleine Kaugummiblasen zwischen den Zähnen zerplatzen. mithelfen kann, denjenigen, der Aufschluß auf neue Seiten des Lebens gewinnen will, In der Pause erteilte ihr der Klassenlehrer einen Verweis. Einer ihrer Mitschüler hatte zu bereichern. Aber es geht nicht nur darum, schlechte Gedichte schlecht zu nennen. ihm hinterbracht, sie betreibe innerhalb des Schulgeländes Propaganda für das kapi- Diese drei Sprüche erschienen doch zu Beginn des Jahres 1963, zu einer Zeit, in talistische System. (Die wunderbaren Jahre, 1976) der die Menschen von großen Fragen ihres gesellschaftlichen Daseins berührt wer- den und wo sie darum ringen, den Weltfrieden zu festigen und beispielhaft für ganz Reiner Kunze, geb. am 16.8.1933 als Sohn eines Bergarbeiters in Oelsnitz im Erzgebirge, Deutschland an der Entwicklung eines wahrhaft sozialistisch-humanistischen Lebens studierte Philosophie und Journalistik in Leipzig. 1959 verließ er, kurz vor der Promo- in unserer Republik teilzunehmen. Diesem Bestreben geben die Stimmen zahlreicher tion, die Universität aus pol. Gründen. Am 22.8.1968 trat er nach 18 Jahren Mitglied- junger Lyriker Ausdruck. Im Gegensatz zu ihnen versucht Günter Kunert, im Schein schaft aus der SED aus, 1976 wurde er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, einer vorgetäuschten Talentlosigkeit, seine subjektivistisch-egozentrischen Vorbehal- 1977 siedelte er in den Westen über. Er lebt heute bei Passau. Büchner-Preis 1977. te gegenüber der sozialistischen Parteilichkeit in Versen abzureagieren, deren schein- Sensible Wege, G., Reinbek 1969 / Brief mit blauemSiegel, G., Leipzig 1973 / Die wunderbaren Jahre, bare Unverbindlichkeit bei näherer Betrachtung als eine durchaus verbindliche Hal- Frankfurt/Main 1976 / Am Sonnenhang, Tagebuch eines Jahres, 1993 / lindennacht, g. 2006. Weilheimer Heft 6: Wo wir wohnen, Lesungen am 5. und 6. November 1981; Mitwirkung tung Kunerts zu erkennen ist. Denn Kunert überläßt es nur scheinbar dem Leser, zu beim Abend zur Exil-Lyrik am 20.3.1987; Weilheimer Heft 29: Zum 3. Oktober 1990 entscheiden, wen er unter dem Gleichnis des blinden Königs verstehen soll. Meint er (neun Gedichte zum $ ema Deutschland); Weilheimer Heft 44: Rede an die Jugend, nicht in Wahrheit mit diesem Bild die führenden Kräfte unseres ö( entlichen Lebens? Weilheimer Literaturpreis 1997, Verleihung am 13. März 1997 (Laudatio: Arnold Vaatz). ... « (Erwachsenenspiele, 1997) 42 43 Hermann Lenz: In den Augen des Vaters Siegfried Lenz: Schweigeminute Von deinem Sohn weißt du nicht viel, obwohl er mit dir im Haus wohnt, dachte »Wir setzen uns mit Tränen nieder«, sang unser Schülerchor zu Beginn der Gedenk- Vater Rapp und sog an seiner Zigarre. Er wurde vom Licht beschienen, das hinter stunde, dann ging Herr Block, unser Direktor, zum bekränzten Podium. Er ging ihm durchs Fenster drang. [...] Rauchschleifen durchschlangen sich wie Fragezei- langsam, warf kaum einen Blick in die vollbesetzte Aula; vor Stellas Photo, das auf chen, und hinter ihnen schimmerten die geschli enen Glasscheiben der Standuhr einem hölzernen Gestell vor dem Podium stand, verhielt er, stra te sich, oder schien aus dem Jahre 1911; damals hast du geheiratet und mit deiner Irene einen guten Fang sich zu stra en, und verbeugte sich tief. gemacht ... Und er hörte durchs o ene Fenster nach dem Garten einen Buch nken Wie lange er in dieser Stellung verharrte, vor deinem Photo, Stella, über das ein trillern und wunderte sich immer noch, weil ihm sogar die Möbel von damals ebenso geripptes schwarzes Band schräg hinlief, ein Trauerband, ein Gedenkband; während erhalten geblieben waren wie das Einfamilienhaus, in dem er wohnte. Nach zwei er sich verbeugte, suchte ich dein Gesicht, auf dem das gleiche nachsichtige Lächeln Weltkriegen war dies immerhin ein Wunder. lag, das wir, die ältesten Schüler, aus deiner Englischstunde kannten. Dein kurzes Siebenmal hatte er im Krieg mit seiner Frau das Dach gedeckt. Das war fast fünfzehn schwarzes Haar, das ich gestreichelt, deine hellen Augen, die ich geküßt habe auf dem Jahre her. Und er dachte, in der Jugend sei dies eine lange Zeit gewesen, während sie Strand der Vogelinsel: Ich mußte daran denken, und ich dachte daran, wie du mich ihm jetzt, als Siebenundsiebzigjährigem, wie eine Rauchschleife erschien, die sich ermuntert hast, dein Alter zu erraten. Herr Block sprach zu deinem Photo hinab, au„ öste. Daß aber sein Sohn immer nur droben unterm Dach saß und schrieb, das er nannte dich liebe, verehrte Stella Petersen, er erwähnte, daß du fünf Jahre zum kam ihm komisch vor. Ob der denn keine anderen Gelüste hatte? Lehrerkollegium des Lessing-Gymnasiums gehörtest, von den Kollegen geschätzt, Allerdings, verheiratet war sein Eugen, und daß er diese Frau bekommen hatte, das bei den Schülern beliebt. Herr Block vergaß auch nicht, deine verdienstvolle Tätig- hätte er ihm niemals zugetraut. Immerhin, Sekretär des Schriftstellerverbandes, keit in der Schulbuchkommission zu erwähnen, und schließlich  el ihm ein, daß das war er noch und bekam dafür dreihundert Mark im Monat. Für den Rund- du ein allzeit fröhlicher Mensch gewesen warst: »Wer ihre Schulaus„ üge mitmachte, funk schrieb er Buchkritiken, obwohl er alles andere als ein kritischer Kopf war, und schwärmte noch lange von ihren Einfällen, von der Stimmung, die alle Schüler be- brachte in einer Lokalzeitschrift, die auf glattes Papier gedruckt wurde, jeden Monat herrschte, dies Gemeinschaftsgefühl, Lessingianer zu sein; das hat sie gestiftet, dies einen Aufsatz unter. Mühselig sammelt das Eichhörnchen seine Speise, hieß es bei Gemeinschaftsgefühl.« ihm . . . Und der hätte sich angeschaut, wenn er damit auch noch seine Frau hätte Ein Zischlaut, ein Warnlaut von der Fensterfront, von dort her, wo unsere Kleinen ernähren müssen. Die aber war jetzt Lektorin eines großen Verlages und scha te auch standen, die Quartaner, die nicht aufhörten, sich darüber auszutauschen, was sie inter- im Haushalt. Eugen ging gegen neun Uhr in sein Büro drunten am Charlottenplatz. essierte. Sie bedrängten, sie schubsten sich, sie hatten einander etwas zu zeigen; der Bald aber würde er mit seinen Schriftstellerverbands-Akten droben unterm Dach Klassenlehrer war bemüht, Ruhe zu stiften. Wie gut du aussahst auf dem Photo, den hocken, weil der Verband die Miete fürs Büro einsparen mußte. grünen Pullover kannte ich, kannte auch das seidene Halstuch mit den Ankern, das Er erinnerte sich, zu seinem Sohn gesagt zu haben: »Das ist ein Bubabberles-Verein!« trugst du auch damals, am Strand der Vogelinsel, an die es uns antrieb im Gewitter. und dachte, wahrscheinlich sei’s Eugen gleichgültig, wie er sein Geld verdiente, wenn Nach unserem Direktor sollte auch ein Schüler sprechen, sie forderten zuerst mich er nur durchkam, sich über Wasser hielt. Und eigentlich war eine solche Einstellung auf, wohl deswegen, weil ich Klassensprecher war, ich verzichtete, ich wußte, daß ich beneidenswert. es nicht würde tun können nach allem, was geschehen war. Verstehen aber kannst du’s trotzdem nicht. Im Leben mußte man es doch zu etwas (Schweigeminute (Anfang), 2008) bringen. Du hast’s zum Oberstudienrat und zum Oberstleutnant der Reserve ge- bracht und bist jetzt Ruheständler. Nie hättest du erwartet, daß du so alt wirst. Dein Siegfried Lenz wurde am 17.3.1926 in Lyck, dem Hauptort Masurens, geboren. 1943 Sohn aber sagt immer wieder, er habe den Ehrgeiz, ohne Titel ins Grab zu sinken. mit Notabitur zur Marine eingezogen, desertierte er 1945 (vgl. Ein Kriegsende, 1984), ge- Das kannst du nicht verstehen. Wie man etwas Derartiges über die Lippen brachte riet in englische Gefangenschaft, war Dolmetscher und wurde noch 1945 nach Hamburg . . . . sonderbar. Wer nicht geehrt wurde, keine Anerkennung fand, der hatte doch entlassen. Schwarzhandel, Germanistik- und Anglistikstudium, seit 1948 bei der Tages- umsonst gelebt. Da schrieb sein Eugen Bücher, aber Geld kam dafür kaum herein. zeitung Die Welt, 1949 Heirat mit Lieselotte Lenz († 2006). Seit 1951 freier Autor, seit Hätte sich dein Eugen ein schönes Bankkonto und ein nettes Häuschen (vielleicht 1952 bei der Gruppe 47. Friedenspreis des Dt. Buchhandels 1988, Jean-Paul-Preis 1995. sogar eine Villa), sagen wir mal: am Bodensee erschrieben und dazu zwei Kinder in So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten, 1955 / Das Feuerschi" , Erzählungen, die Welt gesetzt – einen Buben und ein Mädchen – , dann hättest du dir sogar die 1960 / Deutschstunde, R. 1968 / Schweigeminute, Novelle, 2008 / Landesbühne, 2009. Schriftstellerei gefallen lassen. So aber hatte der ja nicht einmal einen Volkswagen . . . Weilheimer Hefte 30 (Die Kunstradfahrer) und 52 (Rede an die Jugend). Lesung in der Stadthalle am 28. November 1990 (Einführung: Heinz Friedrich) . Verleihung des Weil- (Ein Fremdling, 1983) heimer Literaturpreises 2001 in Hamburg am 10. März 2001 (Laudatio: Helmut Schmidt). 44 45 Loriot: Inhaltsangabe Lyriker im Exil, Weilheimer Heft 21, Golo Mann, W. Heft 25: Frühes Lesen und Nachwort: Horst Bienek. Lesungen (und Erleben. Lesung am 30. September 1988. ANSAGERIN (mit gewinnendem Lächeln): Guten Abend, meine Damen und Herren! Konzert) am 19. und 20. März 1987. Als drittes von sechs Kindern von & o- Heute sehen Sie die achte Folge unseres sechzehnteiligen englischen Fernsehkrimis Durch Ota Filip hatten wir schon 1975 den mas und Katia Mann wurde G. M. am ›Die zwei Cousinen‹. Zunächst eine kurze Übersicht über den Handlungsablauf der tschechischen Dichter Ivan Diviš ken- 27.3.1909 in München geboren. Er stu- bisher gesendeten sieben Folgen. nengelernt. Da es von ihm kaum Über- dierte Philosophie, Geschichte und Latein setzungen gab, entschlossen wir uns zu in München, Berlin und Heidelberg, wo er Auf dem Landsitz North Cothelstone Hall von Lord und Lady Hesketh-Fortescue einem Heft mit Gedichten von Exil-Ly- 1932 bei Karl Jaspers promovierte. 1933 be% nden sich außer dem jüngsten Sohn Meredith auch die Cousinen Priscilla und rikern aus den fünf wichtigsten Litera- ging er ins Exil nach Frankreich und ar- Gwyneth Molesworth aus den benachbarten Ortschaften Nether Addlethorpe und turen des Ostblocks: den Ungarn Tibor beitete als Lektor. Ab 1937 redigierte er in Middle Fritham, ferner ein Onkel von Lady Hesketh-Fortescue, der neunundsiebzig- Tollas, den Polen Jacek Kaczmarski und Zürich die Zs. Maß und Wert. 1940 mel- jährige Jasper Fetherston, dessen Besitz & rumpton Castle zur Zeit an Lord Moles- die Rumänin Magdalena Constantinescu dete er sich zum Armeehilfsdienst des Ro- worth-Houghton, einen Vetter von Priscilla und Gwyneth Molesworth, vermietet ist. fanden wir in München, den russischen ten Kreuzes in Frankreich und wurde nach Gwyneth Molesworth hatte für Lord Hesketh-Fortescue in Nether Addlethorpe Dichter entdeckten wir in Tübingen: dem Wa' enstillstand interniert, doch einen Schlipth ... Verzeihung ... einen Schlips besorgt, ihn aber bei Lord Moles- Lew Druskin. – Das Exil-Heft war das gelang ihm, mit seinem Onkel Heinrich worth-Houghton in & rumpton Castle liegenlassen. Lady Hesketh-Fortescue ver- bis dahin aufwendigste: 36 Seiten und Mann, die Flucht nach Spanien, später in dächtigt ihren Gatten, das letzte Wochenende mit Priscilla Molesworth in Middle zweisprachig, 12 Gedichte hatten wir ei- die USA. Nach Kriegsende arbeitete er für Fritham verbracht zu haben. Gleichzeitig % ndet Meredith Hesketh-Fortescue auf gens übersetzen lassen: von Franz P. Kün- am. Rundfunksender in Europa; 1945/46 war er maßgeblich am Aufbau von Ra- einer Kutschfahrt mit Jasper Fetherston von Friddle ... äh ... Fiddle Mith ... Middle zel, und Guntram Vesper. Am 19.3. lasen in unserer Turnhalle Ivan dio Frankfurt beteiligt (und förderte u. a. Frithan nach North Cothelstone Hall in & rumpton Castle den Schlipth aus Nathel Diviš, Tibor Tollas, Franz Peter Künzel Hans Mayer) . 1947 bis 1958 war er Ge- ... Naddle ... Entschuldigung ... Nether Addlethorpe ... und Heinz Piontek, Jacek Kaczmarski schichtsprof. in Kalifornien. Dann kehrte Nach einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen Lady Hesketh-Fortescue und sang, Horst Bienek führte ein. Am 20.3. er zurück und lebte zuletzt in Kilchberg bei Priscilla Molesworth in North Cothelstone Hall eilt Gwyneth Molesworth nach dem kamen Magdalena Constantinescu, Lida Zürich, dem letzten Wohnort seiner El- zwei Meilen entfernten South & oresby, um ihre Tanten Amelie Hollingworth und Druskin, Ota Filip, Reiner Kunze, Prof. tern. Er starb am 7.4.1994 in Leverkusen. Lucinda Satterthwaite aufthuthu ... aufzusuchen. Ludolf Müller, Prof. Peter Horst Neumann Büchner-Preis 1968, Pour le mérite 1973. Diese sind jedoch nach North & urston zu ihrem Schwager & omas & atcham gefahren, und Wladimir Woinowitsch. Drei Jahre Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahr- der als Gärtner in & rumpton Castle bei Lord Molesworth-Houghton arbeitet. später war der »Ostblock« zerbrochen. Das hunderts, 1958 / Wallenstein. Sein Leben er- Gwyneth Molesworth fährt nach North Cothelstone Hall zurück, aber nicht über Exil, unter dem schon die ersten Lyriker zählt von G.M., 1971 / Erinnerungen und Maddle ... Middle Addlethorpe, thondern über North & urston, & rumpton Castle, – Sappho und Alkaios – um 600 v. Chr. Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, zu leiden hatten, gibt es jedoch noch im- 1986 / Wir alle sind, was wir gelesen, 1989 Middle Fritham und Nether Addlethorpe. Dort tri' th thie Priscilla Molesworth, die / Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in mit Lord Molesworth-Houghton noch nachth von Naddle .... & addle Nather .... mer (vgl. Wole Soyinka) , weshalb der PEN- Club notwendig bleibt (s. Johano Strasser). Frankreich, 1999. & oddle Nether ... Noddle ... (Verzweifelter Blick in die Kamera. Abblende) Prof. Hans Maier (geb. 1931 in Freiburg Als wir Professor Mann in Kilchberg abhol- (Dramatische Werke) i. Br.), der die Lesungen von Hermann Lenz ten, sagten wir ihm, als er ins Auto einstieg: Man hat uns vor Ihnen gewarnt. – Warum?? und Hilde Spiel einführte, war u. a. Prof. für Politische Wissenschaften am Geschwister- – Prof. Stöcklein hat uns gesagt, Sie seien »Vor allem sollte immer genügend Zeit zum Fernsehen bleiben. Die Schule neigt dazu, Scholl-Institut der Universität München ein hervorragender Autofahrer, weshalb man durch überreichliche Hausaufgaben das geregelte Fernsehen zu erschweren. Ihr aber solltet (seit 1962), Bayerischer Kultusminister Sie niemals zu Ihrer Zufriedenheit chauffi e- nicht nachlassen, vor allem die Werbung intensiv zu verfolgen, die ja leider alle paar Mi- (von 1970 bis 1986), Prof. für christliche ren könne! – Erleichtert erzählte er uns, nuten durch unverständliche Spiel" lmteile unterbrochen wird. Dann wißt Ihr, was unser Weltanschauung (Guardini-Lehrstuhl) von schon sein Vater sei mit seinen Fahrküns- Leben so glücklich macht: nicht Bildung, nicht Kunst und Kultur ... neinnein ... der echte 1988 bis 1999 und Präsident des Zentral- ten zufrieden gewesen – allerdings sei die Mutter auch arg schlecht gefahren, habe bei Kokos-Riegel mit Knusperkruste, die sanfte Farbspülung für den Kuschelpullover und der komitees der deutschen Katholiken (1976 Kreuzungen immer erst im letzten Moment Mittelklassewagen für die ganze glückliche Familie mit Urlaubsgepäck und Platz für ein – 1988). Welt ohne Christentum – was wäre gebremst. (Später erzählte er uns, wie sein Nilpferd.« (Rede an die Jugend, 12. Juni 1999) anders? 1999 u. 2009 / Cäcilia, Essays zur Musik, 2005 / Gesammelte Schriften, 2006$ ., Vater einmal mit Albert Einstein verwechselt Band 3: Kultur und Politische Welt, 2008. worden sei, s. oben bei G. Grass.) 46 47 Lyriker im Exil: Ivan Diviš: Gefängnis Pankratz Golo Mann: Vorlesen und Lesen

Bei diesem worte überläuft mich sofort romadur ... Während der letzten Kriegsjahre las uns die Mutter an Samstagabenden häu% g et- was vor. Sie wählte Geschichten, die auch für Erwachsene taugten, und daran tat Das war das erste nämlich, was mir die tante mit butter und brot zu essen gab, sie recht; warum sollten Kinder das Gute nicht genießen und für ihren Geist davon als sie uns freigelassen hatten. Ich taumelte und sprang aus den straßenbahnen – Vorteil haben können, auch wenn sie das eine oder andere Detail nicht verstehen? So sie fuhren mir zu langsam. Mutter ging eben in den keller nach kohle, las sie uns E. T. A. Ho$ manns Majorat und Sandmann, Selma Lagerlöfs Herrn Arnes und als sie mich heraufkommen sah, sank sie zusammen. Schatz, Tiecks Blonden Eckbert, Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl und andere solche Meisternovellen. ... Diese meine lausigen buchstaben! Alle buchstaben sind lausig, Als die Mutter die Geschichte vom braven Kasperl las, unterbrach sie nach ein paar nur die musik lebt, meine mutter lebt und mein bruder lebt, Seiten und überschlug etwas. Es war die Stelle, an der die alte Bäuerin den Erzähler mein vater lebt auch, und ich begreife nur nicht, fragte, von welchem Handwerk er sei, und er nach einigem Zögern antwortet, er sei warum wir das immer nicht alle feiern miteinander. (Nachdichtung: Reiner Kunze) ein Schreiber. Später las ich diese Seite selber: »Es ist wunderbar, daß ein Deutscher sich immer ein wenig schämt, zu sagen, er sei ein Schriftsteller« etc. Das wollte sie uns nicht lesen, es hätte uns die Idee eingeben können, unser Vater habe einen aus- Lew Druskin: Das Gastmahl gefallenen oder gar unehrenhaften Beruf. Tatsächlich war ich ab meinem vierzehnten Lebensjahr stolz auf meines Vaters Ruhm, vorher kümmerte er mich nicht, es wußten Das Brot war fröhlich wie ein strammer Bube, auch meine Kameraden nichts davon. es kam zu uns grad aus der Bäckerstube, Selten, sehr selten, las auch TM uns vor. Das waren nun ernste, ja feierliche Stunden, sein Duft war herrlich, seine Kruste braun. die einzigen, die wir in seinem Arbeitszimmer verbrachten. Las schon die Mutter gut, Wir waren Freunde, die zusammensaßen, so war er der begabteste Vorleser, den ich im Leben getro$ en habe – von Professionel- die wir gemeinsam von dem Brote aßen, len ist hier nicht die Rede. Auch er wählte nur die besten Dinge, meistens Russisches. und eine Freude war es, zuzuschaun. Als er uns Ein ehrlicher Dieb von Dostojewskij gelesen hatte, kamen mir zum Schluß Frei # oß die Rede in der frohen Runde, die Tränen. ... Die großen Geschwister fanden Aufspielerei darin oder weibische ergoß sich Wort und Witz aus aller Munde, Schwäche oder beides. ... und fröhlich ging von Hand zu Hand der Wein. Nachdem ich es gelernt hatte, begann ich zu lesen, und bald genügte mir das Lese- Doch plötzlich war’s, als trät’ ein Schatten ein, buch für die Volksschulen nicht. Was da stand, war doch gar zu albern, etwa so: »Der als ob der Tisch, als ob der Raum sich wandle, Regen ist vorüber. O wie köstlich ist es nun im Garten. Die Rose duftet noch einmal als ob sich’s nicht mehr um ein Gastmahl handle, so schön. Pfui, eine häßliche Raupe möchte an ihr nagen. Schon hat der Star sie das Brot ward hart, die Gläser blieben leer, gesehen. Naschhaftes Räupchen, nun bist Du verloren ...« Nur das »Religionsbuch« und keiner wußte, wer aus unsrer Mitte der Judas sei, fand ich schön und las in den Ferien auf eigene Faust darin. Ein gänzlich neues und der seinen HERRN verriete, und wer der HERR. (Ludolf Müller) wunderbares Gefühl, so als ob einem nie gekannte Flügel wüchsen; schöner noch als später das erste Radfahren. Besonders tat es mir Geschichte und Leidensgeschichte des Herrn an und prompt machte ich im Tölzer Garten segnende Bewegungen, die Jacek Kaczmarski: Ein Märchen über Polen ich den Illustrationen entnahm, zum Spott der beiden Großen, welche die Quelle dieser # üchtigen Gewohnheit prompt durchschauten. Es folgten Hau$ s Märchen ... Guck auf mein schlafversunkenes Polen, Hau$ s Märchen gehören zu den besten unter jenen, die nicht aus dem Volksmund von den Sternen durch Wolken getrennt, kamen, sondern von einem Schriftsteller frei erdacht wurden; gleich schön für Kin- Häuser ohne Licht der und Erwachsene, wie alle gute Literatur. … wie gekenterte Dampfer. Man soll Kindern nur das Beste zu lesen geben. Oh, ein banaler Satz, aber bedeu- Schwer zu glauben in diesen Nächten, tungsschwer, wie die meisten Banalitäten, die auszusprechen man sich darum nicht daß im Innern der toten Schi$ e, in den letzten Blasen aus Luft, schämen sollte; heute, im Zeitalter der Video-Filme, noch brennender wichtig als die Mannschaft noch atmet. (Guntram Vesper) dazumal. (Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, 1986)

48 49 Prof. Hans Mayer, Weilheimer Heft 15: Die beiden erreichten den Gipfel, der Bru- Hans Mayer: Personenkult um J. W. Stalin Literatur und Politik; Lesung am 25. April der kam jedoch ums Leben, während er 1985. Zuvor hatte er am 29. Mai 1981 mit schwersten Erfrierungen zurückkehr- Alle Wege jedoch führten zu Stalin. Als er tot war, sein Geheimdienstchef erschos- eine Totenrede auf Peter Huchel gehalten. te. Danach bezwang er als erster Mensch sen, seine ausgewählten und installierten engen Mitarbeiter ein Pensionärsdasein zu Geb. am 19.3.1907 in Köln, studierte er alle 14 Achttausender. Er schrieb mehr als führen hatten oder irgendwo in der unendlichen Provinz zu irgendeiner subalternen Geschichte, Philosophie, Musik und Jura, 50 Bücher, u. a. zurück in die berge. Berg- Arbeit degradiert wurden, was alles seine Zeit brauchte, kam die Vokabel vom »Per- emigrierte als Jude und Marxist 1933 nach steigen als Lebensform, 1970 / Die Freiheit Frankreich, dann in die Schweiz, wo er bei aufzubrechen, wohin ich will. Ein Bergstei- sonenkult« in den Umlauf. Es war nicht Kühnheit, was den neuen und vorerst un- der von Golo Mann herausgegebenen Exil- gerleben, 1989 / Der nackte Berg. Nanga angefochtenen Sekretär der Bolschewiki, was N. S. Chruschtschow zur Verurteilung Zs. Maß und Wert mitarbeitete. 1946 wur- Parbat – Bruder, Tod und Einsamkeit, 2002 des Stalinismus mit Hilfe der Formel vom Personenkult gezwungen hatte. Personen- de er von Golo Mann zu Radio Frankfurt / Die rote Rakete am Nanga Parbat, 2010. kult war ganz allgemein und »unpersönlich«: er konnte einem jeden von irgendei- geholt und dort politischer Chefredakteur, Gerd Meuer, geb. 1941, moderierte die ner Parteiinstanz vorgeworfen werden. Aus der Schuld Stalins und seinen Untaten folgte 1948 jedoch einem Ruf nach Leip- L.n von Wole Soyinka, den er als Student hatte man, im ängstlichen Schrumpfungsprozeß, eine politische »Fehlentwicklung« zig, wo er legendäre germanistische Vor- 1968 in Nigeria im Gefängnis besucht gemacht, die zu korrigieren sei. Man durfte und wollte nicht genau wissen, was Stalin lesungen hielt. 1963 verließ er die DDR, hatte. Seither als Rundfunkredakteur und im einzelnen an Götzendienst und Menschenopfern veranlaßt hatte. Ein verdienter lehrte in Hannover, lebte seit 1974 in Übersetzer Vermittler afrikanischer Kultur. Bolschewik, der Fehler beging, weshalb es nicht länger angängig war, ihn an Lenins Tübingen, wo er am 19.5.2001 starb. Er Prof. Norbert Miller (geb. 1937 in Mün- Seite im Mausoleum zur Schau zu stellen. ... Er wurde eingeäschert u nd neben ande- gehörte neben Walter Jens, Joachim Kaiser chen), Prof. für Germanistik und Kompa- ren Veteranen des Bolschewismus, soweit er sie nicht hatte hinrichten oder ermorden und Marcel Reich-Ranicki zu den »Starkri- ratistik an der TU Berlin (1970 bis 2005), lassen, wie Trotzki und Bucharin und so viele andere, an der Kremlmauer beigesetzt. tikern« der Gruppe 47. Georg Büchner und sprach am 12.11.1987 bei der Vorstellung seine Zeit, 1946 / Außenseiter, 1975 / Die des W. Literaturkalenders 1988 (24 Ro- Ich hatte in Leipzig zwischen 1948 und 1953, noch über Stalins Tod hinaus (er starb unerwünschte Literatur. Deutsche Schrift- mananfänge) über »Anfangen – zu einer am 5. März 1953, fast fünfzehn Wochen vor dem 17. Juni), hinreichend Gelegen- heit, dies kennenzulernen: Personenkult um J. W. Stalin, den Vater der Völker und steller und Bücher 1968 – 1985, 1989. Poetik des Romans« (Einführung: Barbara

Prof. Christian Meier (geb. 1929 in Stolp/ König). Hrsg. von Goethe, Jean Paul u. a. weisen Steuermann, den Generalissimus und Philosophen, Geschichtsschreiber und Pommern) , Ordinarius für alte Geschichte Der Wanderer, Goethe in Italien. 2002 / Euro- Sprachwissenschaftler, den Kenner schlechthin, der einem Schostakowitsch erklärt, in Basel, Köln, Bochum und München päische Romantik in der Musik, 2 Bände, 2007 wie er komponieren müsse, und der jahrelang geduldig wartet, bis sich die Chance

(1981 – 97), Präsident der Dt. Akademie (mit Carl Dahlhaus) / Die ungeheure Gewalt der bietet, den Widersacher Trotzki im fernen Mexiko mit Hilfe eines Eispickels aus der für Sprache und Dichtung (1996 – 2002), Musik. Goethe und seine Komponisten, 2009. Welt zu scha* en. ... schrieb das Vorwort zum 57. W. Heft für Horst Mönnich , geb. 1918 in Senftenberg Viele Geschichten sind bekannt geworden über Stalins Späße. Chruschtschow hat Imre Kertész. Caesar, 1982 / Kultur, um der i.d. Lausitz, wirkte beim Gedenkabend für berichtet, mit welchen Gefühlen, und die waren nicht götzenfürchtig, oder gerade Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Hans W. Richter mit. Früh in der Gruppe doch!, eine Einladung zum Abendessen mit dem Generalsekretär und Generalissimus Europas? 2009 / Das Gebot zu vergessen und 47, Verfasser von Hörspielen, eines Romans entgegengenommen wurde. Stalin freute sich an der Furcht der Gäste. Es war Wie- die Unabweisbarkeit des Erinnerns, 2010. (Erst die Toten haben ausgelernt, 1956) und Reinhold Messner, W. Heft 55: Eine Ju- Reportagen ( Die Autostadt, 1952; BMW – derholung der römischen Kaiserzeit. Oderint dum metuant. Mögen sie mich hassen, gend in Südtirol . Vortrag in der Hochland- eine deutsche Geschichte, 2004). wenn sie mich nur fürchten. ... halle am 8.3.2004 (Einführung: Waltraud Stefan Moses, geb. 1928 in Liegnitz, foto- Mein Freund und Fakultätskollege Walter Markov, ein vorzüglicher Neuhistoriker, Krainz). Als zweites von neun Kindern ei- gra& erte seit 1949 (' omas Mann in Wei- der im Dritten Reich im Zuchthaus gewesen war, hielt im Jahre 1950 eine o; zielle nes Lehrers am 17.9.1944 in Brixen gebo- mar) immer wieder Autoren, u. a. beim Rede bei irgendeiner der zahlreich angeordneten Jubelfeiern, die man durch erhöhte ren, wuchs unter den Geisler-Spitzen auf, Tre* en der Gruppe 47 in Saulgau 1963, Arbeitsleistung und Erfüllung eines »Übersoll« besonders festlich zu machen suchte. kletterte schon als Schüler immer schwie- von den »Weilheimer« Autoren (meist im Markov muß wohl gesagt haben, was vom Redner erwartet wurde. Doch nicht so rigere Routen in den Dolomiten, arbeitete Zusammenhang mit ihren Lesungen) Ilse ganz. Hinterher nahte sich der zuständige sowjetische O; zier. Markov stammte aus als Mathematiklehrer, machte Abitur (1967) Aichinger, Biermann, Gertrud Fussenegger, Slowenien, man sprach russisch miteinander. Der Kollege hat es mir kurz darauf und studierte Hoch- und Tiefbau in Padua. Grass, Kunze und Walser. erzählt: bleich und verstört. »Nun, Genosse Markov, was haben Sie gegen den Genos- 1969 wurde er mit seinem Bruder zu der Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft, sen Stalin?« – »Wie meinen Sie das?« – »Sie haben ihn bloß viermal erwähnt!« deutschen Expedition eingeladen, die im 1998 / Stefan Moses. Die Monographie. Fo- (Ein Deutscher auf Widerruf, Erinnerungen, Bd. 2, 1984) Frühsommer 1970 den Nanga Parbat togra% en 1947 bis heute, 2002 / Ilse Aichin- über die Rupal$ anke bezwingen wollte. ger – Ein Bilderbuch, 2006. 50 51 Reinhold Messner: Einfach Angst Prof. Ludolf Müller (1917 – 2009), Sla- Prof. Neumann hat die Weilheimer Lite- wist in Kiel und Tübingen, sprach beim raturprojekte von Anfang an mitgeprägt. Die allerwenigsten nur wissen, wie oft ich am Berg schon umgekehrt bin, wie oft Exil-Abend am 20. März 1987. Er führte die Lesungen von Ilse Aichinger, ich aufgegeben habe, ohne den Gipfel zu erreichen. Und ich bereue keine meiner Prof. Walter Müller-Seidel, geb. 1918 in Ernst Jandl und Hans Magnus Enzensberger abgebrochenen Touren, weine keinem Gipfelerfolg nach, der mit mehr Einsatz oder Schöna, Sachsen, seit 1960 Ordinarius für ein, hielt die Laudatio auf Wolfgang Hildes- Selbstüberwindung vielleicht möglich gewesen wäre. Neuere dt. Literaturgeschichte an der Univ. heimer, sprach über das Singen bei Eichen- München, führte den Vortrag von Prof. Pe- dor$ und wirkte beim zweiten Exil-Abend Mit Schmunzeln aber bekenne ich, daß es unter all meinen Rückzügen einen gibt, ter Stern am 11.4.1986 ein. ! . Fontane. und bei der 20-Jahrfeier mit. den ich mir in der bloßen Erinnerung nicht erklären kann. Es war vor mehr als Soziale Romankunst in Deutschland, 1975 / Heinz Piontek, W. Heft 10 (s. S. 56). zwanzig Jahren; ich war damals keine zehn, hatte aber schon zahlreiche Wanderun- Die Deportation des Menschen. Kafkas E. »In Clemens Graf Podewils (1905 – 1978), gen und mit meinen Eltern den Sass Rigais über den Klettersteig gemacht. Ich hielt der Strafkolonie« im europäischen Kontext, Erzähler und Lyriker (Wegwarte, 1978) , mich deshalb für einen erfahrenen Bergsteiger und führte das Wort, wenn es unter 1989 / »Nicht das Große, nur das Menschliche 1949 bis 1975 Generalsekretär der Bayer. Gleichaltrigen am Spielplatz oder in der Schule ums Klettern ging. geschehe«. F. Schiller und die Politik, 2009. Akademie der Schönen Künste, lebte mit In der Ministrantengruppe, zu der ich damals gehörte, war soeben ein Aus‚ ug be- , W. H. 19: Annäherungen; seiner Familie (eine Tochter ist Barbara sprochen worden und zwei Bergtouren in Aussicht genommen: eine einfache Wande- Lesung am 25.11.1986. Geb. am 13. Mai von Wul$ en) in der Nähe von Weilheim rung oder die Besteigung des Peitlerkofels über die leichte Südseite. Da diese Route 1934 in Zollikon, studierte Germanistik, am Rotsee. 1975 war er Juror bei einem mit Drahtseilen versichert ist, sollte es auch für eine Gruppe, wie wir sie darstellten, Anglistik und Psychologie in Zürich und Schreibwettbewerb unserer Schülerzeitung. keine ernsten Gefahren geben. Ich war natürlich für den Peitler und verzehrte mich Cambridge, war Kantonsschullehrer, ging Der Kontakt zu seiner Familie und zur in Erwartung auf diesen Berg. In vielen Stunden Fußmarsch stiegen wir von St. Peter 1962 als Lektor für Deutsch nach Tokio, Akademie blieb nach seinem Tod erhalten. war Assistent von Walther Killy in Göttin- Sophie Dorothee Grä" n Podewils , geb. in Villnöß aus über Almwiesen und die Peitler-Scharte bis an die Südseite des Peit- gen und von 1970 bis 1999 Prof. für deut- Freiin von Hirschberg (1909 – 1979), hatte lerkofels auf. Die Hänge waren nur mehr teilweise begrünt und die Schnee‚ ecken sche Sprache und Literatur an der Eidge- schon 1941 einen Roman verö! entlicht blendeten in der Mittagssonne. Auf dem Hügel unter der Schlußwand, von dem nössischen Technischen Hochschule (ETH) (Die ge% ügelte Orchidee) und schrieb bis zu links ein Steiglein zum kleinen Peitler aufsteigt, stand ich und beobachtete die Kame- in Zürich. Georg-Büchner-Preis 1994. ihrem Tod an einem Irland-R., der post- raden, die über die steile Wand emporkletterten. Ich war nicht der einzige, der hier Im Sommer des Hasen, R. 1965 / Gottfried hum erschien (Schattengang, 1982). Sie er- zurückgeblieben war, den Angst überkommen hatte. Nun standen wir oben in der Keller, 1977 / Die Insel, die Kolumbus nicht zählte uns von Besuchen Günter Eichs und Scharte und ich hatte Angst, Angst einzusteigen, Angst vor der Tiefe, einfach Angst. gefunden hat. Sieben Gesichter Japans, 1995 Ilse Aichingers bei ihnen. Das erste W. Heft Der Fels erschien mir steil, die Scharte – der Übergang vom Vorberg zur Schlußwand / Kinderhochzeit, Roman, 2008 / Wenn (für Ilse Aichinger) war deshalb ihrem und – ausgesetzt. Auch wähnte ich den Gipfel noch weit oben, so daß mein Mut nicht es ein Glück ist. Liebesgeschichten aus vier ihres Mannes Andenken gewidmet. ausreichte, um nach ihm zu greifen. Jahrzehnten, 2008. Prof. Hans Pörnbacher, geb. 1929 in Auch unter den anderen Buben, die mit mir zurückgeblieben waren, kam keine rech- Sten Nadolny, W. Heft 64 (s. S. 55). Schongau, Herausgeber des 18. Weilhei- te Unterhaltung auf. So saßen wir alle wortlos da und schauten hinüber zum Kletter- Prof. Peter Horst Neumann, geb. am 23. mer Hefts für Hans Heselloher, Berater 4.1936 in Neiße/Oberschlesien, studierte beim 24. Weilheimer Heft (Bairische Früh- steig, als würde dort ein Film ablaufen. Musik, dann Germanistik in Leipzig, in lingslieder des Mittelalters) , sprach bei der Da kamen auch schon die ersten von oben zurück und fragten, ob wir es nicht doch West-Berlin und Göttingen (Promotion Heselloher-Feier am 14. Juli 1986 im Stadt- noch versuchen wollten, es sei ganz leicht und nicht lang. Ich überlegte, aber wieder über Jean Paul). Prof. für Neuere dt. Lite- theater und führte am 6. Mai 1988 in der umfaßte mich die Angst und ich schüttelte verneinend den Kopf. Wenig später liefen ratur in Fribourg (1968 – 1980), in Gießen Stadthalle unseren Mittelalter-Abend ein. wir talwärts und mir war, als ob sich die Umklammerung löste, als dürfte ich jetzt und Erlangen (1983 bis 2001), auch Präs. Er war Ordinarius für Deutsche Sprache wieder freier atmen. Wenn ich mich heute in jene Bubenhaut zurückversetze, bin ich der Eichendor$ - Gesellschaft. 2002 wurde und Literatur des Mittelalters in Nijme- froh, daß mich niemand gezwungen hat, daß ich unten geblieben bin ... vielleicht er zugleich mit Prof. Dieter Borchmeyer in gen in Holland. Er ist Verfasser zahlreicher hätte die niedergetretene Angst genügt, um mir das Bergsteigen für das ganze Leben die Bayer. Akademie der Schönen Kün- Kunstführer zu Kirchen im Pfa! enwinkel, zu verekeln. (Klettersteige Dolomiten, 1974) ste gewählt, deren Literaturabteilung er war Mitherausgeber der Bayerischen Biblio- als Nachfolger Albert von Schirndings seit thek (5 Bände, 1978 ! .) und schrieb über 2004 leitete. Er starb am 27. Juli 2009 in 1000 Jahre Literatur aus Bayerisch Schwa- Nürnberg. Die Rettung der Poesie im Un- ben. Zu seinem 80. Geburtstag erschien sinn. Der Anarchist Günter Eich, 1981 / Der die Festschrift Museion Boicum oder baju- Heckenspringer. Ausgewählte G., 2009. warische Musengabe, 2009. 52 53 Adolf Muschg: Marsmensch, hör zu Sten Nadolny: Netzkarte, Frühjahr 1976 Andres liegt im Strandbad und stellt sich vor, er müsse es beschreiben. Soll es in »Davor kann ich nur warnen!« einem Roman vorkommen? Das wäre ja Arbeit, und so weitläu‚ ge, daß er gar nicht Das waren die Worte des Kollegen N., als ich ihm meinen Plan erö" nete, mit einer erst anfangen mag, von der Hitze ganz abgesehen. Und anfangen will er ja; so lange Netzkarte einen Monat lang kreuz und quer durch die Bundesrepublik zu fahren. es ein Spiel bleibt, hat er Lust dazu. Also: er beschreibt das Strandbad jemandem, Kollege N. hilft mir unaufgefordert mit so manchem Wink und Kni" . Er erkundigt der noch nie ein Strandbad gesehen hat. Einem Eisländer, oder noch besser: einem sich stets nach meinen Fortschritten und sagte des öfteren, ich sei genau der Richtige Marsmenschen. Marsmensch, hör zu. für die Schule. Was da herumliegt, sind Menschen wie du und ich – ich meine: Menschen wie ich. »Das bringt nichts«, sagte er jetzt. »Man muß schon wissen, was man will!« – »Und Das liegt nicht immer. Das steht auch. Dort drüben siehst du ein Beispiel: das hat um das zu wissen«, entgegnete ich, »muß ich erst meine Möglichkeiten prüfen.« – Beine, knotige, fette Beine, was auf ein gewisses Alter schließen läßt; Alter hat mit »Jetzt, vor dem Examen?« – »Jawohl, jetzt!« Ich hätte, sagte ich, schon lange genug Zeit zu tun, aber das führt uns schon zu weit. Was da steht auf diesen knotigen, Referendar gespielt und könne von Lernzielen und Urlaubszielen und sonstigem Ge- fetten Beinen, ist weiblich. Bei uns unterscheidet man männlich und weiblich; im zieltem und Geplantem nichts mehr hören. Ich hätte übrigens gar keine Lust, Lehrer Strandbad tritt dieser Unterschied besonders hervor. Was er zu bedeuten hat, weiß zu werden. Ich hielte es für das beste, durch das Examen zu fallen und dann einen man nicht. Er wird mit dem Gefühl wahrgenommen. Unser Gefühl irrt ganz selten. Beruf zu ergreifen, in dem ich weder mich noch andere krank machen müsse. Wäh- Wollen wir das, was da steht, eine Dame nennen? Sie selbst würde es tun. Die Dame rend meiner letzten Worte drehte Kollege N. sich vorsichtig um und sicherte nach sieht sich matt lockend nach ihrem kleinen Mädchen um. Das ist ein poetischer Satz, allen Seiten. »Herr Reuter!« sagte er beschwörend und machte eine Pause. Dann faßte aber das kannst du nicht abschätzen: du hast viele Wörter noch nicht gehabt. Das er mich mit jenem bohrenden Blick ins Auge, mit dem er auch Schüler festzuhal- kleine Mädchen ist das, was sich bewegt. Es soll sich aber nicht bewegen ... ten p# egt, und versuchte leise, aber eindringlich, mich zu retten. Tiefes Verständnis Willst du einen Mann sehen? Dann sieh dir das dort auf dem Sprungbrett an. Das sprach aus seinen Worten, für einen »gewissen Lebenshunger einerseits«, aber auch ist mein Klassenkamerad Raoul. Ist Raoul ein Mann? Er glaubt es. Er wippt auf dem für meine »nicht auszuschließende Arbeitsscheu«, vor der ich mich lieber hüten solle. Brett. Was er tut, heißt Wippen; er wippt sogar sehr stark. Ist das nicht gefährlich? Als seine Augen sich zu Schlitzen verengten und sein Mund von einem pädagogi- Nein, Marsmensch. Es spritzt dann, aber wenn man schwimmen kann, ist das nicht schen Lächeln umspielt wurde – wie bei allen Lehrern, wenn sie merken, daß der gefährlich. Einige Leute, die hier liegen, sind sogar wegen des Wassers gekommen. Schüler sich ihnen zu entziehen beginnt –, versicherte ich ihm, er meine es gut, und Es sind nicht viele. Die meisten sind gekommen, weil sie hier liegen wollen. Können wünschte ihm schöne Osterferien. sie nicht zu Hause liegen? Marsmensch, wenn man hier liegt, wird man braun und Da auch alle anderen Versuche, mich vor meinem Unheil zu bewahren, fehlgeschlagen kann sich zeigen. Kann man nicht auch zu Hause liegen und sich zeigen? Nicht so sind, sitze ich jetzt im Zug Berlin – Hannover und studiere das Kursbuch. Helmstedt, gut, Marsmensch. Braunschweig, Hannover, Minden, Herford, Bielefeld, Gütersloh, Hamm – wenn ich

Raoul wippt immer noch. Ob er nicht springen will? Marsmensch, er tut nur so. War- in diesem Zug bleibe, bin ich morgen früh um 7 h 46 in Aachen. Zwischen Dortmund um wippt er denn? Jetzt wird es kompliziert, Marsmensch. Raoul wippt, weil er nicht und Wanne-Eickel müßte etwa die Sonne aufgehen. Meine Netzkarte gilt einen Mo- braun genug ist und weil er doch etwas zeigen möchte. Was will er denn zeigen? Daß nat lang für alle dem ö" entlichen Personenverkehr dienenden Züge der Deutschen er ein Mann ist. Wem will er etwas zeigen? Marsmensch, jetzt mußt du scharf hinse- Bundesbahn und auf allen Buslinien von Bahn und Post. Nur Ole Reuter, geboren am hen. Siehst du den Menschen, der dort auf dem Mäuerchen sitzt, zwei dunkle Gläser 10.8.1947, darf damit fahren. Gestempeltes Lichtbild, Unterschrift. vor den Augen hat und mit der Hand in einer Tasche wühlt, die eine Badetasche ist? (Netzkarte (Anfang), 1981) Du ‚ ndest vielleicht, daß das eine Dame ist. Wir haben da feine Unterscheidungen: wir würden eher von einem Mädchen sprechen. Ein Mädchen ist noch keine Dame, Sten Nadolny, geb. am 29.7.1942 in Zehdenick an der Havel als Sohn der späteren denn es hat noch keine knorrigen Beine. Es hat bloß braune Beine. Das Mädchen ist Schriftsteller Isabella und Burkhard Nadolny, wuchs in Oberbayern auf, besuchte das noch keine Dame, es benimmt sich nur so. Es ist aber auch kein Kind mehr, wie das Gymnasium in Traunstein, studierte in München, Göttingen, Tübingen und Berlin Ge- kleine Mädchen, es benimmt sich nur so. Jetzt benimmt es sich eher wie eine Dame. schichte und Politik (Promotion 1976). Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, Weilheimer Li- teraturpreis 2010. Netzkarte, R. 1981 / Die Entdeckung der Langsamkeit, R. 1983 / Selim oder Es heißt Esther und ist nicht meine Klassenkameradin. Bei uns werden junge Damen Die Gabe der Rede, R. 1990 / Er oder ich, R. 1999Ullsteinroman, / 2003. Weilheimer Heft und junge Männer in getrennten Klassen behandelt. Wäre es anders, brauchte Raoul 64: Erzählen ist eine Art Fortbewegung. Lesung am 29. Januar 2009 in der Stadthalle, Ein- vielleicht nicht so zu wippen. (Mitgespielt, Roman, 1969) führung: Wilfried F. Schoeller. Verleihung des Weilheimer Literaturpreises am 27. Januar 2010 (Laudatio: Volker Weidermann). Weilheimer Heft 65: Rede an die Jugend.

54 55 Heinz Piontek: Im Pfa enwinkel Gerhard Polt, W. Heft 51 (s. S. 58). und wurde deshalb auch einmal zur Grup- Birgitta Poschenrieder (-Eila) begleitete pe 47 eingeladen. Seit 1955 lehrte er Phi- Alte Meister Florian Prey (* 1960, Sohn von Hermann losophie an der Universität München. Er Prey), als er bei unserer Eichendor! - Feier starb am 11.1.1997. A Wassafoi mechat i 1 6 am 26. November 1987 erstmals den sei, G. 1968 / Meine Versln san wias Leem. Sie lebten unter Bauern, Boten, Was galt und zählte Liederkreis von Robert Schumann sang. Ausgewählte bairische Gedichte 1978 / A Florian Prey studierte Gesang bei Prof. bißl Zeit für d Ewigkeit, G. 1980 / I sag da Äbten und Jägern. für einen eingesessenen Maler, wenn er wachlag oben in seiner Hanno Blaschke und singt als lyrischer Welt an schöna Gruaß. G. 1986 / Reis rings niedrigen Stube, Bariton an namhaften Opernhäusern. um d Welt. 30 Jahre bayrische Poesie, 1996. 2 Hans Werner Rich ter, W. Heft 3: Chronist Herbert Rosendorfer, Weilheimer Heft 13: Von ihren Lehrmeistern seiner Zeit; Lesung am 21.11.1980. Wei- Merkwürdige Begebenheiten; Lesung am sehe ich noch unten ein neugeborenes Kind tere L., eingeführt von Lew Kopelew, am 28. November 1984. das Gebirge oder die tote Frau? 3.10.1985. Gedenkfeier »Hans W. Richter R. wurde am 19. Februar 1934 im Stadtteil und den Lech zu Ehren« am 12. November 1993. Gries in Bozen geboren. 1939 zog die Fa- mit maultiergrauen Schwaden. 7 Geb. am 12. November 1908 auf Usedom, milie, im Rahmen der von Hitler und Mus- Und % elen sie morgens Sohn eines Fischers. Volksschule, Buch- solini geplanten Umsiedlungsaktion »heim 3 mit strammen Bäuchen händlerlehre, von 1940 bis 1943 Soldat, bis ins Reich«, nach München. (Vorausgegan- aufs Knie, 1945 in amerikanischer Gefangenschaft, gen war die sog. Option: die Entscheidung Oben in den Kuppelgerüsten, entweder für die Aussiedlung oder das vor Perspektiven wo er mit eine Zeitschrift herausgab. Gründete, wiederum mit An- Dableiben und damit den Verzicht auf die mit gefolterten während der helle trockene Geist des achtzehnten Jahrhunderts dersch, 1946 die Zs. Ruf . Als ihm die deutsche Sprache.) Der Vater % el 1943, des- Heiligen, Nonnen, Chorherren, halb wohnte die Mutter mit drei Kindern umging, Amerikaner kündigten (s. Erich Kuby), lud ge$ ügelten Kindern, er im September 1947 die Mitarbeiter des bis 1948 meist bei den Großeltern in Kitz- Rufs an den Bannwaldsee bei Füssen ein. bühel. R. studierte in München zuerst an emp% ngen sie Hellblau und hielten um Gnade an – Die »Gruppe 47« entstand und bestand der Kunstakademie, dann Jura und begann und Rosa dank ihm 20 Jahre lang . Bei 29 Tagungen zu schreiben. »Entdeckt« wurde er von eh sie wieder zum Zirkel gri en, in hochgeseilten Kübeln. bis 1967 erhielten u. a. Günter Eich 1950, Gertrud Fussenegger, die 1956 seine E. Die die Kreiden einsteckten, Heinrich Böll 1951, Ilse Aichinger 1952, Glasglocke publizierte. Er war Assessor in 4 den Tabaksbeutel? Walser 1955, Grass 1958 und Bichsel 1965 Bayreuth, seit 1966 Amtsrichter in Mün- Das alles bringe ich unter den Preis der Gruppe 47. Richter starb am chen, zuletzt Richter in Naumburg. Er lebt in meiner Schrift. 8 23.3.1993 in München. (Vgl. L. Kopelew) in Eppan bei Bozen. Jean-Paul-Preis 1999. Keine Gedanken überliefert, Die Geschlagenen, R. 1949 / Spuren im Der Ruinenbaumeister, Roman, 1969 / Brie- nur Kostenrechnungen. Sand, R. 1953 (Nachwort: Siegfried Lenz, fe in die chinesische Vergangenheit, 1983 / 5 2004) / Blinder Alarm. Geschichten aus Ban- Kindheit in Kitzbühel und andere Geschich- Aber was mochten sie denken (Wie sich Musik durchschlug, 1978) sin, 1970 / Im Etablissement der Schmetter- ten, 1998 / Die Donnerstage des Oberstaats- über den Grund ihrer Bilder, linge. 21 Portraits aus der Gruppe 47, 1986. anwalts, 2004 / Der Mann mit den goldenen ihre sich in den Wiesen Franz Ringseis, W. Heft 2: Bairische Ge- Ohren. Ein Italienroman, 2009. verlierende Zeit? dichte, Lesung am 18. Juli 1980; zwei wei- Auch ' eaterstücke, Fernsehspiele, Dreh- tere Lesungen am 11. Dezember 1986. bücher, Kompositionen und künstlerische Heinz Piontek wurde am 15.11.1925 in Kreuzburg in Oberschlesien geboren, noch als F. R., eigentlich Anton Neuhäusler, geb. Arbeiten (Buchillustrationen, Zeichnun- Schüler eingezogen, war zwei Jahre lang Soldat und geriet in Bayern in Gefangenschaft. am 20.2.1919 in München/Schwabing, gen, Ölbilder, Aquarelle). Er holte in Lauingen das Abitur nach, studierte Germanistik, wurde freier Schriftsteller war sieben Jahre lang Soldat, konnte des- ! omas Rücker , geb. 1932 in Heilbronn, und hatte schon mit seinen ersten Gedichtbänden Erfolg . Georg-Büchner-Preis 1976. halb erst ab 1946 Philosophie und Psycho- seit 1980 Gestalter und Graphiker der Seit 1961 lebte er in München, er starb am 26.10.2003 in Rotthalmünster bei Passau. logie studieren. Er debütierte als Unge- Weilheimer Literaturprojekte. Seine mehr nannter in dem von Hans Werner Richter als 50 Plakate zu den Weilheimer Lesun- Die Furt, G. 1952 / Wie sich Musik durchschlug, G. 1978 / Werke in sechs Bd.n, 1981 – 1985 / Zeit meines Lebens. Autobiographischer R., 1984 / Goethe unterwegs in Schlesien. Fast ein R., 1993. 1947 herausgegebenen Band Deine Söhne, gen sind im Treppenhaus unseres Gymna- W. Heft 10: Erscheinungen, L. am 15.4.1983. Mitwirkung beim Exil-Abend am 19.3.1987. Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener siums zu bewundern. 56 57 Gerhard Polt: Die Postleitzahl von Weilheim Hans Werner Richter: Aufenthalt in Weilheim, September 1947

IRMGARD Was is’n die Postleitzahl von Weilheim? Der Personenzug, der uns von München nach Füssen im Allgäu bringen soll, fährt ERWIN Irgendwas mit acht, weil des is in Bayern. nur bis Weilheim in Oberbayern. Das ist die halbe Strecke. Niemand weiß, wie IRMGARD Ja, des weiß ich selber! wir von dort aus weiterkommen. Die Verkehrsverbindungen sind immer noch so ERWIN Ja, dann schreib’s halt hin! schlecht wie kurz nach dem Ende des Krieges. Es ist ein schöner Septembertag, Alt- IRMGARD Da! Unterschreib! weibersommer. In den Dritte-Klasse-Abteilen des Personenzugs drängen sich die ehe- ERWIN unterschreibt Wieso schreibst überhaupts dene Ströbels? Des hätt’s doch ned maligen Mitarbeiter des verbotenen »Ruf«. Nur Alfred Andersch fehlt. Er ist meiner braucht! Einladung nicht gefolgt, vielleicht, weil er dieses Tre* en für sinnlos hält, vielleicht IRMGARD Die ham uns schon dreimal a Karte aus’m Urlaub gschickt! auch aus Mangel an Zeit – er arbeitet inzwischen im Hessischen Rundfunk. Die ERWIN Schad ums Geld! (man spricht deutsh, 1988) Fahrt mit dem Personenzug ist beschwerlich. Auf dem Bahnhof in Weilheim erfahren wir, daß ein fahrplanmäßiger Omnibus nach Füssen geht, aber er ist bereits dicht Hindemith besetzt. Auch ein Sonderomnibus, der kommen soll, bleibt aus. Wir sitzen vor dem Bahnhof auf den Bordsteinen und Bänken mit unseren schäbigen Ko* ern, zerkratz- PAUL Ah, hallo, grüß dich ... Du ich wollt dich bloß amal fragen – pfui, ja gehst ten Aktentaschen und Rucksäcken. Zwei von uns gehen in die Stadt, um irgendein du weg da, he, gehst du weg, ja läßt du des. – Nein, net du Herbert, Entschuldigung. Fahrzeug zu organisieren und kommen nach Stunden mit einem stinkenden Holz- Du, ich wollt dich bloß fragen, weil wir fahren doch in Urlaub nach Spanien – pfui, gas-Lkw zurück. Die Fahrt nach Füssen beginnt, eine staubige Fahrt in einem o* enen ja gehst du weg da, he, was hast denn da an der Vitrine zu tun, gehst du weg, nicht Lastwagen, hügelauf, hügelab durch das Alpenvorland, mit rauchendem Holzgas- da kratzen, gell – Herbert, Entschuldigung, ja, also paß auf: Wir fahren doch nach Schornstein, mehr geschaukelt als gefahren. Spanien runter in Urlaub drei Wochen, jetzt wollten wir dich fragen, ob du nicht Am Bannwaldsee empfängt uns die Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel. Sie hat unseren Hindemith – Hinde mith gehst du weg, haut doch die Spreißel raus – Her- uns ihr kleines Haus zur Verfügung gestellt. Ihr gehört auch der kleine See, der Bann- bert, du paß auf, ich wollt dich nur mal fragen, wir fahren doch nach Spanien runter waldsee, in dem sie Hechte gefangen hat, damit wir, die Empfänger von tausendfünf- drei Wochen in Urlaub, jetzt wollt ich dich fragen, ob du – pfui, ja, gehst du weg, ja, hundert Kalorien, die Stadtverhungerten, etwas zu essen haben. Hindemith, hörst du net – ob du, Herbert, ob du, Entschuldigung, ja, ob du unseren Nach der beschwerlichen Fahrt springen die meisten nackt in den See, um den Staub, Hindemith nicht drei Wochen – pfui, jaja, was machst du, jetzt is er schon wieder den Dreck des Holzgasgenerators abzuwaschen, die Anstrengungen des Tages abzu- am Perser, ja Hindemith, gehst du weg da vom Perser, na – Herbert, Entschuldigung, schütteln. Das Haus der Ilse Schneider-Lengyel ist eng. Es hat nur wenige kleine du kennst doch den Hindemith, der is ja immer so lieb, drei Wochen nimmst du ihn Stuben, die voller Möbel stehen. Es ist ein Lagerleben, gewohnt für die meisten aus uns vielleicht in Pension – he Hindemith, pfui, ja Herrschaft, pfui, ja gehst du weg Krieg und Gefangenschaft, ein Lagerleben mit siebzehn Teilnehmern unter der All- da, Herrschaft – Entschuldigung, Herbert, jetzt muß ich – ja pfui, ja alles verschissen, gäuer Septembersonne. Was alles erträglich macht, ist die nach den Jahren der Un- ja Herrschaft – Herbert, ich ruf dich wieder zurück, gell. Was, du hast kei Zeit? terdrückung wiedergewonnene Freiheit. Niemand emp+ ndet die Entbehrungen. Die (Da schau her, 1984) Zukunft ist trotz allem ho* nungsvoll. Am Spätnachmittag beginnt die erste Bespre- chung. Es ist eine Art Redaktionssitzung. Im Mittelpunkt steht die in Vorbereitung be+ ndliche literarische Zeitschrift »Der Skorpion«, für die ich noch keine Lizenz be- Geb. am 7. Mai 1942 in München, wuchs Gerhard Polt nach der Evakuierung (1943) sitze. Die Besprechung wird von mir geleitet. Ich bin der Einlader zu diesem Tre* en in Altötting auf und kehrte 1950 nach München zurück. Nach dem Abitur studierte er und für die ehemaligen Mitarbeiter des »Ruf« auch immer noch dessen Herausgeber. Nordische Sprachen in Göteborg (bis 1966) und (bis 1975) Politische Wissenschaften. Ich hatte auf meinen handgeschriebenen Postkarten gebeten, noch nicht verö* ent- Er arbeitete als Sprachlehrer und Übersetzer und begann (mit Hanns Christian Müller) lichte Manuskripte mitzubringen. Fast alle sind dieser Au* orderung gefolgt. Da sie für das & eater zu schreiben. Ab 1979 wurde die TV-Serie »Fast wia im richtigen Leben« alle literarische Anfänger, Neulinge in der Kunst des Schreibens sind, gibt es auch gesendet, durch die er auch als Schauspieler bekannt wurde. Seit 1981 tritt er gern mit keine Meisterwerke zu entdecken. Es sind Versuche, Anfänge, dilettantisch oft, aber der Biermösl Blosn auf. Jean-Paul-Preis des Freistaats Bayern 2001. hin und wieder auch Talent, ja Begabung verratend. Anfang ist alles in dieser Zeit Fast wia im richtigen Leben, Sketche, Monologe, Liederund Einakter, 1982 (in WM gedruckt) und in diesen Tagen. (Hans Werner Richter und die Gruppe 47, 1979) / Circus Maximus. Das ges. Werk, 2002 / Hundskrüppel. Lehrjahre eines Übeltäters, 2006 / Drecksbagage, 2008. Zahlreiche CDs und DVDs. Weilheimer Heft 51: Die Postleitzahl von Weilheim und andere Szenen; Auftritt am 5. Dezember 2000 in der Hochlandhalle. 58 59 Franz Ringseis: Vorwort Aa i Herbert Rosendorfer: Was ich studieren wollte

Mei liaber Bua, jetz lies amoi: Aa i bin a Merda, Ich weiß nicht, ob es das überhaupt gibt: Jurist aus Überzeugung, Berufung oder in- Was is dees für a Sprach? a Diab, a Reiba, nerer Bestimmung, so wie beim Arzt aus ganzer Seele oder gar Priester. Wenn es das Göi, dees konn nur Bayrisch sei, a Lump a gscherta, beim Juristen gibt, wäre ich kein solcher geworden. Es war die heute unvorstellbare und liest si a weng zach. a Schuidibleiba. Zeit, wo jeder, sofern einen das bestandene Abitur umstrahlte, studieren konnte, was er wollte. Kein Numerus clausus, keine Wartelisten, nichts dergleichen. Man ging Mei liabs Madl, lies dees laut, Meine Opfa wern einfach hin, zeigte das Abiturzeugnis und inskribierte. Die Frist für die Inskription und scho werst sehgn, daß s geht. nur nia entdeckt. endete an einem bestimmten Tag Ende Oktober. Der Vater war schon ungeduldig, Scho klingt alles ganz vatraut, Mecht net seng und net hern, wollte wissen, was ich zu studieren beabsichtige; ein nicht unerklärlicher Wunsch. aso hoit, wia ma redt! wer zweng meina vareckt: Ich schob hinaus, erstens, weil ich selber noch nicht wußte, was ich studieren wollte (am liebsten wäre ich, davon später, auf die Kunstakademie gegangen, aber das wagte So wia mir ebn von Haus aus redn, Wem i an Ploz hob gnumma, ich nicht zu äußern, wegen der zu erwartenden Aufschreie von »brotloser Kunst« und die Mundart nennt ma dees. wem i hob d Ehr obgschniin, so fort), und zweitens, weil ich den unangenehmen Gang scheute. Immerhin machte Die Muattersprach iss für an jedn, wem i net z Huif bin kumma, ich mich nicht am allerletzten, sondern schon (!) am vorletzten Tag auf den Weg. drum sei ma hoit net bäs, zu wem i grob gwen bin, Im Vorortzug traf ich meinen Klassenkameraden Haberg Günter. »Und?« fragte ich. wenn i heit lauter Versln mach daß as sei Lebtog nimma »Weiß noch nicht. Und du?« in unserer liabn Muattersprach. vawindn ko. »Hm«, sagte ich. Du bist ois wia dahoam, I sitz in meim Zimma, Am Ostbahnhof mußten wir in die Tram umsteigen. und bayrisch redn schadt koam! und neamd zoagt mi o. (1973) »Weißt du’s jetzt?« fragte er. »& eologie nicht«, sagte ich. Doch in da Schui, wenns Rechtschreibn hoaßt, »Die Chancen sollen aber gut sein.« da paß schee auf, daß d as ja woaßt: »Daß man Papst wird?« Statt Oa hoaßts Ei, statt Goaß hoaßts Geiß – »Das nicht direkt, aber – « Da muaßt hoit schreibn, ois waarst a Preiß. »Eben. Aber.« (1980) Am Stachus mußten wir in die andere Trambahnlinie umsteigen, ich glaube mich zu erinnern, daß es die Linie 6 war. »Ich schätze«, sagte er, »Volkswirtschaft. Obwohl, habe ich gehört, bei Pharmazie die Breigaulliad S Gred vom Sex hübschesten Studentinnen sein sollen.« »Volkswirtschaft? Ist das nicht schrecklich langweilig?« I sog das, dees Gred vom Sex Aso a Breigaul a richtiga, »Aber wenig anspruchsvoll. Und kurz.« is nix für uns, Bua. a zentnagwichtiga, Wir kamen an die Universität. Nach einigem Suchen fanden wir den Raum für die Host a Madl von Herzn gern, a schenklprächtiga, Immatrikulationen. Es gab für jede Fachrichtung einen Schalter. O* enbar hatten vie- kriagst des anda dazua. a oschbackamächtiga, le zukünftige Kommilitonen den Weg hierher bis zuletzt aufgeschoben. Sie standen a wampnstrotzada, in Schlangen. Host a Madl von Herzn liab, a musklprotzada, »Weißt du was«, sagte Haberg Günter, »ich stell’ mich einfach bei der kürzesten mit oim Drum und Dro, aso a langmähnada, Schlange an.« Haberg Günter ist heute – inzwischen emeritiert – Professor für Ägyp- geht di des ganze Gred schwoafsträhnada, tologie. (Der Mann mit den goldenen Ohren, 2009) huafschallada, vom Sex nix mehr o. (1976) roßboinprallada Breigaul is a Freid, in dera PS-krankn Zeit. (1978)

60 61 Hans Joachim Schädlich , Weilheimer Von 1971 bis 1977 verö' entlichte er in Hans Joachim Schädlich: Am frühen Abend Heft 32: Kriminalmärchen und andere Ge- arabischer und dann in dt. Sprache Mär- schichten, Lesung am 21. November 1991; chen und Geschichten in Zeitschriften Am frühen Abend des achtundzwanzigsten Februar betrat der junge Handelsreisende Vortrag »Der vergebliche Versuch – Erfah- und Anthologien. Seit 1982 ist er freier Saller die kleine Halle des Bahnhofs von Schwäbisch-Hall, einem Ort in der Nähe rungen mit der DDR-Zensur« am 2. Okto- Schriftsteller. Er erhielt u. a. den (von Prof. Stuttgarts. ber 1991 im Musiksaal (Einführung: Prof. Harald Weinrich initiierten) Adelbert- Die Luft ist um diese Zeit kalt, so daß Saller die Helle und Wärme der kleinen Halle Dieter Borchmeyer). von-Chamisso-Preis 1993 (für ursprünglich willkommen war. Er sah, daß auf dem steinernen Fußboden vor dem Ofen ein Mann Geb. am 8.10.1935 in Reichenbach (Vogt- fremdsprachige Autoren, die jetzt in deut- land). Er studierte Germanistik in Ost-Ber- scher Sprache schreiben) sowie den Nelly- lag. Saller gab sich den Anschein, als achte er nicht auf den Schlafenden. Er betrach- tete den Fahr plan, suchte die Abfahrtszeit des Zuges, mit welchem er in das nahe lin und Leipzig, u. a. bei Prof. Hans Mayer, Sachs-Preis 2007. und promovierte 1960 über die »Phono- Das Schaf im Wolfspelz, Märchen und Fa- Stuttgart fahren wollte, sah auf die Uhr über der Tür und warf einen schnellen Blick logie des Ostvogtländischen«. Seit 1959 beln, 1982 / Eine Hand voller Sterne, R. auf den Mann. Saller bemerkte, daß der Mann sich den Anschein gab, als bemerkte arbeitete er in der Ostberliner Akademie 1987 / (Mit Root Leeb) Die Farbe der Worte, er Saller nicht. der Wissenschaften zu den # emen Dia- Bilder und Geschichten, 2002 / Die dunkle Saller setzte sich. Zu seiner Linken hatte er den halbwachen Mann im Auge. lektologie, Deutsche Grammatik und Or- Seite der Liebe, R. 2004 / Das Geheimnis des Bis zur Einfahrt seines Zuges waren es noch sieben, bis zur Abfahrt acht Minuten. thographie-Reform. Im November 1976 Kalligraphen, R. 2008. Saller rechnete zwei Minuten für den Weg zum Bahnsteig. Sechs Minuten kann ich unterzeichnete er die Petition gegen die Albert von Schirnding, W. Heft 46: Was ausruhen, sagte er. Der Mann sagte nichts. Ausbürgerung Wolf Biermanns und verlor dir gehört; Lesung am 2.4.1998 (s. S. 65). Saller sah das strähnige, wirre Haar des Mannes, die schmutzigbraune Haut des Ge- seine Stellung. Da er in der DDR keine Helmut Schmidt, Weilheimer Heft 52: sichts, den schütteren Vollbart, die * eckige Joppe, deren Knöpfe fehlten, die schmut- Möglichkeit hatte, seine seit 1969 ge- »Wer nicht liest, der schrumpft« – Laudatio auf zig-schwarzbraune Haut der Hände, die schmierige Hose, die nassen Halbschuhe. schriebenen Erzählungen zu publizieren, Siegfried Lenz am 10.3.2001 in Hamburg. Saller sagte auf gut Glück, Es ist zu kalt auf dem Steinfußboden. erschien sein erstes Buch 1977 bei Ro- Geb. 1918, von 1937 bis 1945 Soldat, Stu- Der Mann ö' nete die Augen, sagte, Ich wollte am Ofen stehen, aber die Beine, die wohlt in Hamburg. Wenig später konnte dium der Volkswirtschaft. Nach Konrad verdammten, tragen mich nicht mehr. Ich bin zusammengesackt. Ich habe Beine, er ausreisen. Seit 1979 lebt er im Westteil Adenauer (1949 – 1963), Ludwig Erhard ganz kaputt. Wund. Die Wunden groß wie meine Hand. von Berlin. Kleist-Preis 1996, Bremer Li- (1963 – 66), Kurt Georg Kiesinger (1966 – Auf der Bank wäre es besser für Sie, sagte Saller und zeigte auf den Platz neben sich. teraturpreis 2007. Versuchte Nähe, 1977 / 69) und Willy Brandt (1969 – 1974) von Der Sprachabschneider (Kinderbuch), 1980 1974 bis 1982 fünfter Bundeskanzler der Aber wie hinkommen, sagte der Mann. Ich könnte Ihnen helfen, sagte Saller. / Tallhover, R. 1986 / Schott, R. 1992 / Ko- Bundesrepublik Deutschland. Er warb Aber Sie können mich nicht tragen, sagte der Mann. Nein, sagte Saller. Ich hab mir was gebettelt in Schwäbisch-Hall, sagte der Mann. Aber nicht viel. Leute, koschkins Reise, R. 2010. immer für das Lesen, u. a. mit seinem Plä- Ra! k Schami, Weilheimer Heft 41: Schul- doyer für einen fernsehfreien Tag (Die Zeit, fromm und geizig. Wo wollen Sie hin, sagte Saller. geschichten, zwei Auftritte am 19.10.1995. 26.5.78). Außer Dienst. Eine Bilanz, 2008. Wo will ich hin, sagte der Mann. Wohin soll ich wol len. Ich bin hier. Heft 56: Ein Garten für die Jugend, W. Wilfried F. Schoeller, geb. 1941 in Iller- Hier können Sie nicht bleiben, sagte Saller. Literaturpr. 2003 (Laudatio: Harald Wein- tissen, führte die Lesung von Sten Nadol- Wie soll ich weg? Allein scha' ich es nicht. Mir hilft kein Gott und kein Bulle. Und rich) am 3.4.2003, zusätzlicher Auftritt am ny ein. Prof. für Literatur des 20. Jahr- wenn ich drei Mal schrei, Herzlieber Jesu mein. Sie brauchen einen Arzt, sagte Saller. selben Tag. R. S. (eig. Suheil Fadél) wurde hunderts, Literaturkritik und Medien in Du redest, wie du’s verstehst. Wie klein Moritz, sagte der Mann. Bezahlst du den Arzt? am 23.6.1946 als Sohn eines Bäckers in Bremen. Von 2002 bis 2009 Generalse- Nein, sagte Saller. Einen Notarzt. Damaskus geboren, besuchte ein christli- kretär des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Hatte ich schon, sagte der Mann. Hat leise gesagt zu mir, Dreckskerl elender. ches Gymnasium, studierte Chemie und Deutschland vor Ort. Geschichten, Mythen, Sie müssen in ein Krankenhaus, sagte Saller. war zwei Jahre Chemielehrer. Früh begann Erinnerungen, 2005. Und wo? sagte der Mann. In Stuttgart, sagte Saller. er unter dem Pseudonym Ra& k Schami Prof. Hans-Rüdiger Schwab führte die Bravo! sagte der Mann. Darauf noch’n Asbach uralt. Ich scha' ’s nicht bis zu deiner (»Freund aus Damaskus«) zu verö' entli- Lesungen von Gertrud Fussenegger (am 11. chen. 1971 verließ er Syrien aus politischen März 1992) und # omas Hürlimann (am Bank, der Doktor faßt mich nicht an, die Bullen rollen mich aus’m Bahnhof und der Gründen und ging – mit vier Wörtern 21. Oktober 1993) ein. Prof. für Medi- liebe Gott selig pfeift auf mich. Nee, Märchen glaub ich nur noch meine eigenen. Deutsch (»jawohl« und »ich liebe dich«) enpädagogik an der Kath. Fachhochschu- Saller schwieg. – nach Deutschland ins Exil, studierte in le Münster. München: Dichter sehen eine Der Zug nach Stuttgart fuhr ein, Saller stand auf, sagte, Auf Wiedersehen! und ging Heidelberg noch einmal Chemie (Promo- Stadt, 1990 / Gott im Gedicht. Ein Streifzug auf den Bahnsteig. tion 1979) und arbeitete in der Industrie. durch die deutschsprachige Lyrik, 2007. Der Mann sagte, Er hilft mir auch nicht. (Ostwestberlin, 1985) 62 63 Ra k Schami: Das neue Schuljahr Albert von Schirnding: Schulaus" ug

11. Oktober. Die Schule hat wieder angefangen. Die Lehrer sind dieselben geblieben. Vor dem Museum wartete der Bus, der uns in die Berge bringen sollte. Wir hatten Mein Alter scheint vergessen zu haben, daß er mir die Schule verboten hat. Ich gehe bei der Planung der Exkursion dem Vorschlag des Lehrers, sie bis zum Sonntagabend ihm seit dem letzten Streit auch aus dem Weg. auszudehnen, begeistert zugestimmt. »Der altgewordene Wandervogel in mir regt Am liebsten mag ich unseren Arabischlehrer und den Geschichtslehrer. Seit einem wieder einmal die Flügel«, hatte Stadelmann gesagt. So alt konnte der noch nicht Jahr unterrichtet uns Herr Katib in Arabisch. Er ist ziemlich alt und sehr witzig. Er sein; wir schätzten unseren Lehrer auf kaum vierzig Jahre. In der Tat bewältigte er den sitzt oft in einer Ecke und liest ein Buch. Auch wenn wir eine Klausur schreiben. Aufstieg vom Spitzingsee auf den Stümp" ing und Roßkopf mühelos, während wir In den Pausen geht er nie ins Lehrerzimmer, sondern sitzt allein im Schulhof unter ins Schwitzen gerieten. Dabei schleppte er neben dem vollgepackten Rucksack noch der großen Trauerweide und liest. Ich habe ihn mal beobachtet. Er ist dann ganz in eine Gitarre mit sich. Sie bewährte sich auf der Hüttenterrasse. Der Rucksack enthielt sein Buch versunken, manchmal weint er beim Lesen, dann wieder lacht er laut und Brot, Wurst und Käse in einer uns alle sättigenden Menge. Bei der resoluten Wirtin schlägt sich auf die Schenkel, daß alle, die ihn sehen, mitlachen müssen. Mahmud konnte man Milch, Bier oder Rotwein bestellen. Wir waren die einzigen Gäste; Sta- sagt, Herr Katib habe ein gutes Herz, und das ist nicht übertrieben. Er gibt uns delmann spielte und sang Lieder aus dem »Zupfgeigenhansl«. Er hätte damit rechnen immer die besten Noten und hat auch mal erzählt, daß er deswegen Schwierigkei- können, ihn hier vorzu nden, hatte aber sein eigenes, stark ramponiertes Exemplar ten an anderen Schulen hatte. Er mag unsere Schule sehr, weil unser Schulleiter ein mitgebracht. »Der hat mich zu Don und Wolga begleitet, seitdem ist er bei solchen vernünftiger Mensch ist. Unternehmungen immer dabei.« Wir wußten, daß Stadelmann den größten Teil des Unser Geschichtslehrer ist ein Palästinenser. Herr Maruf ist noch jung, aber er ist Krieges zuerst in Frankreich, dann in Rußland mitgemacht hatte. Unseren Wunsch, wirklich gut. Er verlangt viel von uns in den Klausuren, aber er erzählt interessant er möge davon erzählen, schlug er ab. »Freuen wir uns lieber an der Gegenwart.« und viel. Er ist auch der einzige Lehrer, der auf alle arabischen Regierungen schimpft. Er gri# wieder zur Gitarre und forderte den neben mir sitzenden Toni auf, die Sing- Wenn ich nicht Journalist werden würde, wäre Lehrer auch ein ganz guter Beruf. stimme zu übernehmen. Der ließ sich nicht bitten. Er sang »Ich bin vom Berg der 12.10. Heute gab’s wieder mal einen Putsch. Die Schule ist bis zum nächsten Montag Hirtenknab« und »Der Mond ist aufgegangen« (der stand wirklich wie bestellt am geschlossen. Das ist schon das zweite Mal dieses Jahr. klaren Himmel) und stimmte schließlich den Kanon »O wie wohl ist mir am Abend« So ein Putsch geht hier in Damaskus meistens im Morgengrauen los. Wir im alten an, den er, den Domkapellmeister imitierend, übertrieben exakt dirigierte. Wir be- Viertel kriegen erst durch das Radio mit, was los ist. Es wird dann plötzlich still, dann klatschten ihn und uns selbst. Die Hüttenwirtin fuhr dazwischen. »Ab zehn muß folgt zackige Marschmusik, und dann werden die Kommuniqués der neuen Regie- Ruhe herrschen! Ab in die Betten!« »Es ist doch niemand da, den wir stören könn- rung verkündet, die voller Beschuldigungen auf die alte Regierung sind. ten«, wandte Stadelmann ein. »Vorschrift ist Vorschrift«, zeterte die Frau. »Sie als Onkel Salim hat mir vorhin gesagt, bei dem ersten Putsch vor fünfzehn Jahren hat er Lehrer sollten am besten wissen, daß man sich an Hausordnungen halten muß.« »Ja, das geglaubt, was die neue Regierung versprochen hat. Er hat gejubelt und bis zum das sollte ich. Gehen wir.« Einige von uns hatten diese Worte als Au# orderung zum Morgengrauen gefeiert. Beim zweiten Putsch hat er nur geklatscht, und seit dem Exodus aufgefaßt und verließen die Terrasse in Richtung Waldrand, wo ein mond- dritten kann er nur noch den Kopf schütteln. beschienener Heuschober stand. Stadelmann schloß sich ihnen mit uns übrigen an, Mein Vater kam nach Hause und erzählte uns von seiner Angst. »Die neue Regierung nachdem wir aus dem Bettenzimmer einen Stapel Decken geholt hatten. Alles ging redet viel zuviel vom Krieg.« Ich hasse den Krieg und habe auch Angst davor. wortlos vor sich. Die Wirtin war verschwunden. Nadias Vater ist immer noch Geheimdienstler oder besser wieder. So ein Verräter! Am nächsten Morgen standen wir vor der verschlossenen Tür des Hauses, in dem un- Er arbeitet seit heute für die Gegner der gestrigen Regierung. Ich verstehe das nicht. ser Gepäck zurückgeblieben war. (Vorläu" ge Ankunft, 2010) 18. 10. Die Schule ist wieder auf. Herr Maruf, unser Geschichtslehrer, ist verschwun- den. Ob er verhaftet wurde oder ob er abgehauen ist, weiß niemand. Albert von Schirnding wurde am 9. April 1935 in Regensburg geboren, wo sein Vater Ver- (Eine Hand voller Sterne, 1987) waltungschef beim Fürsten $ urn und Taxis war. Er studierte Germanistik und Altphilo- logie in München und Tübingen und unterrichtete seit 1958 Griechisch, Lateinisch, Ethik und Deutsch am Münchner Ludwigsgymnasium. Daneben schrieb er, vor allem in der SZ, mehr als 1000 Beiträge zu pädagogischen, philosophischen und literarischen $ emen. Alphabet meines Lebens, 2000 / Übergabe, 80 Gedichte, 2005 / Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen. 2008 / Vorläu" ge Ankunft, R. 2010. Weilheimer Heft 46: Was dir gehört; Lesung am 2. April 1998. Mitwirkung beim Abend für Albrecht Haushofer und bei der 20-Jahrfeier, Vorwort zum 50. Weilheimer Heft.

64 65 Wole Soyinka, Weilheimer Heft 49:  e Köln (Promotion 1986 über Psalmen bei Wole Soyinka: ‘Why are you on hunger strike?’ Word into Flowers or Grenades, Szenen aus Af- Brecht und Celan). Büchner-Preis 1999, rika. Lesungen am 17. (Stadthalle) und 18. Kleist-Preis 2009. Ich war einmal, R. 1989 D. returned late the following morning. ‘Why are you on hunger strike?’ November 1999 (Moderation: Gerd Meuer). / ‚Die Menschen lügen. Alle‘ und andere Psal- ‘I am not on hunger strike.’ Weilheimer Heft 61: Lessons from two Ge- men, 1999 / Sehnsucht. Versuch über das erste ‘No?’ He looked puzzled. ‘I was told you did not eat last night and you haven’t eaten nerations, Rede an die Jugend. Verleihung des Mal, R. 2002 / Salvatore, 2008/ Einmal auf this morning.’ W. Lit.preises 2006 am 13.6.2006 in Berlin. der Welt. Und dann so, R. 2009. ‘Oh that! I’ve been misinterpreted. It’s not a hunger strike at all.’ Laudatio: Bundespräsident Horst Köhler, Prof. J. Peter Stern : »Bemerkungen zum Begrüßung: Hans Magnus Enzensberger. österr. Sprachbewußtsein von Nestroy bis His immediate concern was touching. ‘What’s the matter? Are you ill?’ W. S., geb. am 13.7.1934 in Ìsarà bei Abeo- Weinheber«. Vortrag im Musiksaal, 11.4. ‘No, I’m very well. Just a simple precautionary measure that’s all.’ kuta in Nigeria, studierte in Ibadan und 1986 (Einführung: Prof. Müller-Seidel). Outraged now: ‘You are afraid of being poisoned.’ (seit 1954) in Leeds Literaturwissenschaft, Joseph Peter Maria Stern, geb. 1920 in Prag ‘If only you’d let me explain. It’s these chains – oh not that I mind them – they are war Schauspieler und Dramaturg in Lon- in einer jüdisch-kath. Familie, & oh 1939 quite comfortable sitting down. Unfortunately going to the lavatory is one walk a don, schrieb erste Dramen. Nach seiner über Polen nach London, meldete sich zur man can’t avoid taking. I avoid that you see, or minimize it by not eating.’ Rückkehr (1960) lehrte er an den Univer- Royal Air Force, wurde abgeschossen und ‘You can’t do completely without eating.’ sitäten Ife und Lagos und gründete % ea- schwer verwundet. Von 1972 bis 1986 I pointed to the glass of water on the table. ‘Just one of that a day. Quite su; cient. tertruppen, mit denen er herumreiste. Als Germanist am University College London. By tomorrow I should need to piss only once a day. After that maybe I won’t need to er 1967 vor dem Bürgerkrieg zu vermit- Er starb 1991. Bücher über Ernst Jünger, go at all. % e statement is on the table.’ teln versuchte, wurde er verhaftet und blieb Hitler , Nietzsche und über die Vorausset- He took my notes and went out. ‘I’ll see what can be done.’ während des Biafra-Kriegs 26 Monate zungen der NS-Zeit:  e Dear Purchase: A Nothing that day. % e chains stayed on the second night running. % e third morning lang inhaftiert (zeitweise galt er als tot).  eme in German Modernism, 1995. Als sich 1983 ein neues Militärregime eta- Prof. Karl Stocker, geb. 1929 in Bärnau/ D. came in to ask some questions – so he said. He came in smiling. ‘I hope you’ve blierte, verließ er Nigeria und wurde Präs. Oberpfalz, bis 1995 Prof. für Didaktik der begun eating now.’ des Internationalen % eaterinstituts der dt. Sprache und Lit. an der Univ. München, ‘No. % e situation has not changed.’ Unesco in Paris. Nach seiner Heimkehr seit der Lesung von Hans W. Richter am He looked down, saw or pretended to see the chains for the < rst time. Angry or forderte er weiter die Einhaltung der Men- 21.11.80 Stammgast unserer Lesungen und anger-feigning he summoned the guard and demanded why they had not been re- schenrechte und & oh deshalb unter Gene- Berater unseres Projekts. Zahlreiche Publi- moved. % e guard explained that he had had no instructions. ral Abacha 1994 noch einmal ins Exil. Erst kationen, weltweite Vortragsreisen (vgl. Men- ‘Go and fetch the keys and remove them at once!’ nach dessen Tod (1998) konnte er heim- schen wie wir, Photographien und Impressionen, % e guard disappeared. kehren. 1986 erhielt er als erster Schwarz- 1992). Lit. der Moderne im Dt.unterricht, ‘Sorry about this Wole’ – yes, it became Wole from this morning – ‘I gave instructions afrikaner den Nobelpreis für Literatur. T 1982 (mit einem Kap. über H.W. Richter). about them last night. As soon as they have been removed and you’ve had something he Lion and the Jewel, 1963. Der Löwe und die Johanno Strasser führte die Lesung von to eat I would like us to have another chat. I shall send someone for you.’ % e chains Perle, Dr. 1973 / Aké, 1981. Aké, Eine Kind- Uwe Timm ein und las am 14.10.2008 aus were removed but I had already passed that crucial stage which I like to refer to as the heit, 1986 /  e Burden of Memory, 1999. Die seinen Erinnerungen Als wir noch Götter Last des Erinnerns, 2001 / Samarkand und an- waren im Mai (2007). Geb. am 1.5.1939 Battle of the Belly Bugs. Once that pinching feeling is past, fasting turns to & oating. dere Märkte, G. 2004 / You Must Set Forth at in den Niederlanden, seit 1945 in Nieder- % e exercise kept me evenly disposed, phlegmatic – I resolved to continue on a lower Dawn, 2006. Brich auf in früher Dämmerung, sachsen, studierte in Mainz Anglistik, key, drinking a watered-down tin of milk a day. % e guard sent someone to fetch it. Erinnerungen, 2008. Amerikanistik und Philosophie (Promo- I never had the milk. An hour later D. stormed in, angry. ‘How is it that the foreign Hilde Spiel, W. Heft 12 (s. S. 68). tion 1967) und habilitierte sich 1977 an papers are already carrying news of your arrest?’ , Weilheimer Heft 59: Hieß der FU Berlin in Politologie. Seit 1995 war I stared blankly. What was that to me? fahren wegfahren? Lesung am 21.4.2005. er Generalsekretär, seit 2002 ist er Präsi- ‘How could they have known and why all this publicity? % ey are already insinuating A. S., geb. am 9. April 1954 in Meßkirch in dent des deutschen PEN -Clubs. Grenzen that you are being ill-treated. I hope you realize that all this publicity is not helping Oberschwaben, wuchs auf einem Bauern- des Sozialstaats? Soziale Sicherung in der your case one bit. % ey simply make your position more awkward.’ hof auf. Nach dem Abitur am Heidegger- Wachstumskrise, 1979 / Leben oder Über- ( e Man Died, Prison Notes, 1972) Gymnasium in Meßkirch studierte er kath. leben. Wider die Zurichtung des Menschen % eologie in München, Rom und Freiburg zu einem Element des Marktes, 2001 / Bossa i.Br., dann Germanistik in Freiburg und nova. Ein Provinzroman, 2008. 66 67 Hilde Spiel: Skifahren Arnold Stadler: Die Fahrprüfung Um im Wienerwald Ski zu laufen, fuhr man einfach zur Endstation der Straßenbahn. Was ist das für ein aufgeregtes Huhn? Murmelte der Führerscheinprüfer unwillig ge- Aber wir reisten in die Berge, in Jugendherbergen in den Alpen, wo in steinernen Schlaf- gen meinen Fahrlehrer Herrn Knötzele hin. Er meinte mich. Ich hörte es in meinem sälen jede Nacht das Wasser in den Gläsern fror, wo wir in der Mittagssonne nur in Genick. Herr Homrighausen hatte schon meine Tante aus dem Schwarzwald dreimal Blusen skiliefen und uns eine knappe Stunde später schon die Hand an der Skibindung durchfallen lassen, so daß sie zum Idiotentest mußte, wohin die von mir bewunderte klebte. Nichts reichte an die Schönheit dieser Landschaften heran mit ihren weißver- Tante, die, wie könnte es anders sein, mit ihren über fünfhundert Stunden Fahrschul- krusteten Bäumen, an das Stäuben des Pulverschnees und das Knistern des Eises, wenn praxis, wovon Herr Knötzele über ein Jahr gelebt hat, eigenhändig gefahren war. Als wir über die Hänge hinunterstoben und die kalte, klare Luft uns um die Wangen blies. sie noch Fahrrad fuhr, und als ich noch klein war, hat sie mich oftmals ohne Licht, Jeden Sonntag um fünf Uhr morgens ging der erste Zug vom Wiener Aspangbahnhof nur mit dem Nachtlicht des Himmels, nach Hause gefahren. Den Idiotentest bestand auf den Schneeberg. Aus allen Bezirken der Stadt kamen junge Leute, Studenten, sie auch nicht, fuhr aber dennoch eigenhändig zurück und noch dreißig weitere Jahre Beamte, Arbeiter, durch die kalte Finsternis gewandert und waren häu$ g ein oder unfallfrei. In manche Häuser kehrte das Unglück ein über den nicht bestandenen zwei Stunden vorher aufgestanden, um rechtzeitig da zu sein. Unter einem Dickicht Führerschein, die verlorene Ehre wurde an Männer und Kinder und Kindeskinder von Skiern und Stöcken, die ein zweites Dach von Gepäcknetz zu Gepäcknetz form- vererbt, denn das Leben dortzulande war nicht souverän. Sie verdarben sich ihr ein- ten, fuhren wir lange, dösend und % üsternd, in unbeleuchteten Waggons, bis die ziges Leben ein Leben lang, indem sie ein Leben versuchten, das die anderen von Talstation erreicht war. Dann, allein oder in Gruppen, während Winde um die ein- ihnen erwarteten. Meine Tante hatte gewiß auch Angst, entdeckt zu werden, eine same Spitze tobten, machten wir den Aufstieg in der beißend kalten Dämmerung. lebenslängliche Angst, in eine Kontrolle zu geraten, aber es war ihr zu ihrem Glück Vor Mittag trafen wir in einer der zwei Berghütten zusammen und stärkten uns mit gleichgültig, wie die anderen über sie dachten. Suppe, belegten Broten und Tee, bevor wir eine der vielen und unendlich variierten So saß ich nun am Steuer, war jedoch noch zu unerfahren, um mir nichts daraus Abfahrten unternahmen. zu machen, wie die anderen über mich dachten. Gut, ich gebe es zu, ich war ein Auf dem Schneeberg oder der Rax wurde auch die Legende von den schwächlichen wenig aufgeregter noch als sonst und habe, bei meiner Rechts-Links-Schwäche, die und feigen Judenbuben entkräftet, noch ehe es palästinensische Terroristen gab. Diese Himmelsrichtungen verwechselt. Der Prüfer (alle Prüfer waren Ex-Feldwebel und Burschen gehörten zu den zähesten und wagemutigsten Skifahrern. Manche brachen kamen aus dem Münsterland) verzog schon beim Einstellen des Rückspiegels, wie sich Glieder nicht einmal, sondern zweimal in einer langen Wintersaison, und wenn ich beim Einstellen des Rückspiegels erstmals sehen konnte, sein Gesicht. Er konnte sie lediglich in den Arbeiterskiklubs Preise errangen, dann nur, weil ihnen seit seiner mich einfach nicht leiden und argwöhnte wohl schon, daß ich bereits den Antrag auf Begründung die Mitgliedschaft des ›Deutschen Alpenvereins‹ in Österreich versagt ge- Kriegsdienstverweigerung gestellt hatte. ... wesen war. Allen aber, die während der Woche in Bureaus oder Hörsälen saßen, be- Ich hatte damals – ein Jahr, nachdem ich bei Helga hinausge% ogen war, Lokalverbot deuteten diese Sonntage mit ihrer Mühsal und ihrem Glanz ein immer wieder erreich- bekommen hatte, zu keinem Friseur gegangen war – viel zu langes Haar, schön fal- tes Ziel, einen ewig erneuten Lohn. In den schwierigen Jahren zwischen den Kriegen lendes Haar, wie sich herausstellte, und wurde vom ungeschulten oder einschlägigen brauchte man nicht am Leben zu verzweifeln, solange die Berge Trost versprachen für Auge gerne mit einem Mädchen verwechselt. Den richtigen Mädchen ge$ el es, auch Armut, Erfolglosigkeit und Liebesschmerz. Als ich im Februar 1936, ein blasses, hohl- den Jungen, die vielleicht gar keine richtigen Jungen waren, so wie ich. ... äugiges Wrack, mit einem Doktorat aus der Versenkung auftauchte, vermochte mich Leider hatte ich auch noch an jenem Tag das Duschen vergessen. Aber das wäre noch eine Woche in Kitzbühel völlig herzustellen. Voll Verachtung für den Skilift ging ich kein Grund gewesen, zu versagen. Es gab ungewaschene Menschen genug, die trotz- mit meinen Brettln jeden Morgen auf den Hahnenkamm und machte in diesen einsa- dem, oder vielleicht gerade deswegen, im Leben mit ihrer natürlichen Rücksichtslo- men Aufstiegen wieder meinen Frieden mit der Welt ... (Rückkehr nach Wien, 1968) sigkeit und mit ihrem Kampfgeist vorankamen. Mein Buch ist ja kein Krimi, bei dem es darauf ankommt, erst am Ende zu erfahren, wer der Mörder ist. Daher nehme ich alles vorweg, kurz: Ich bin durchgefallen. Als ich daran ging, nach H.S., in einer jüdischen Familie am 19.10.1911 in Wien geboren, begann früh zu schrei- dem vorschriftsmäßigen Ö' nen und Einsteigen und Einstellen der Instrumente, den ben (ihr erster R. erschien 1933), promovierte 1936 in Philosophie bei Moritz Schlick, Wagen in die Startposition zu bringen, als ich von Knötzele schließlich den Befehl emigrierte nach England und arbeitete u. a. für den New Statesman. 1946 Rückkehr nach hörte: »Dann fahren wir bitte los!«, ist der Wagen einfach nicht angesprungen. Wien, dann zwei Jahre Berlin und wieder London (bis 1963). Seither F.A.Z.-Korrespon- dentin in Wien, wo sie am 30.11.1990 starb. Rückkehr nach Wien, Tagebuch 1946, 1968 / (Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, 2002) Die Früchte des Wohlstands, R. 1981 / Die hellen und die ! nsteren Zeiten, Erinnerungen, 1989. Weilheimer Heft 12: Ortsbestimmung, Lesung am 27.6.1984 (Einführung: Prof.Hans Mai er).

68 69 Botho Strauß war (nach Elias Canetti und Bis zu seinem Tod (1997) redigierte er eine Uwe Timm: Einfach so verschwinden Peter Handke) der dritte Autor, von dem Exilzeitung. Einige seiner Gedichte & nden wir eine Absage erhielten: »Schon manches sich in der 1957 von C. Podewils edierten Am nächsten Tag war er frühmorgens losgefahren, hatte die Kaserne und das Muste- Mal habe ich mit viel Sympathie verfolgt, Anthologie Im Frührot, G.e der Ungarn . rungsbüro gefunden, wurde auch sofort genommen: 1,85 groß, blond, blauäugig. So was Sie in Weilheim tun, wen Sie dort ehren, Peter Ustinov, Weilheimer Heft 17: How wurde er Panzerpionier in der SS-Totenkopfdivision. 18 Jahre war er alt. wie Ihre Schüler sich zur Literatur verhalten. to Deal with Children oder Vom Umgang mit Die Division galt unter den SS-Divisionen als eine Eliteeinheit, wie auch die Divisio- Einen attraktiveren Zugang kann man für Eltern, L. in der Hochlandhalle am 21.2. nen Das Reich und Leibstandarte Adolf Hitler. Die Totenkopfdivision war 1939 aus der junge Menschen zu den Autoren eigentlich 1986. Sonderheft : My Years at Westminster Wachmannschaft des Dachauer KZ gebildet worden. Als besonderes Zeichen trugen gar nicht scha" en, als daß man sie einen Li- School; zweite L. in der Hochlandhalle am die Soldaten nicht nur wie die anderen SS-Einheiten den Totenkopf an der Mütze, teraturpreis vergeben läßt. Es ist schade, daß 20.4.2001 (Einführung: Dieter Borchmeyer). sondern auch am Kragenspiegel. ich nicht lesen mag. Zu Ihnen würde ich si- Sir Peter wurde am 16.4.1921 in London Seltsam war an dem Jungen, daß er hin und wieder in der Wohnung verschwand. cher herzlich gern kommen.« (Brief 12.3.93) geboren, wo sein Vater für eine dt. Nach- Und zwar nicht, weil er eine Bestrafung zu befürchten hatte, er verschwand einfach so, Uwe Timm, W. H. 63: Erinnerung, sprich; richtenagentur arbeitete. Er besuchte die L. am 29.1.2008 in der Stadthalle (Ein- Westminster School, dann eine Schau- ohne ersichtlichen Grund. Plötzlich war er unau' ndbar. Und ebenso plötzlich war er führung: Johano Strasser). Geb. am 30. spielschule und spielte ab 1938 auf der wieder da. Die Mutter fragte, wo er gesteckt habe. Er verriet es nicht. März 1940 in Hamburg. 1943 wurde die Bühne, ab 1940 im Film (für seine Rollen Es war die Zeit, als er körperlich recht schwach war. Blutarmut und Herz% immern Familie ausgebombt und nach Coburg in Spartacus und Topkapi bekam er Oscars, hatte Dr. Morthorst diagnostiziert. In der Zeit war der Bruder nicht zu bewegen, drau- evakuiert, nach dem Krieg baute der Vater für den Nero in Quo Vadis unvergäng- ßen zu spielen. Er ging nicht aus der Wohnung, er ging auch nicht in den Laden, der in Hamburg eine Kürschnerei auf, weshalb lichen Ruhm) und führte häu& g selber von der Wohnung aus über eine Treppe zu erreichen war, auch nicht in die Werkstatt, der Sohn (der Bruder war an der Ostfront Regie. Er schrieb mehr als 20 Stücke, vor von dem Vater Atelier genannt. Er blieb in der überschaubaren Wohnung mit den vier gefallen) eine Kürschnerlehre machte und allem Komödien, auch Erzählungen und Zimmern, einer Küche, einer Toilette und einer Abstellkammer verschwunden. Die nach dem Tod des Vaters (1958) das Ge- Romane sowie zahllose Glossen für Zei- Mutter war eben aus dem Zimmer gegangen, kam wenig später zurück. Er war nicht schäft übernahm. Später machte er das Ab- tungen und Zeitschriften. In Deutschland mehr da. Sie rief, guckte unter den Tisch, in den Schrank. Nichts. Es war, als hätte er itur nach und studierte in München und war er vor allem beliebt als Entertainer. sich in Luft aufgelöst. Es war sein Geheimnis. Das einzig Sonderbare an dem Jungen. Paris Philosophie, Germanistik, später So- Er starb am 28.3.2004 am Genfer See, an Später, Jahre später, erzählte die Mutter, habe sie, als die Fenster der Wohnung ge- ziologie und Volkswirtschaft (Promotion dem er seit 30 Jahren ein Refugium hatte, strichen wurden, das hölzerne Podest entdeckt, das, die Wohnung lag im Parterre, 1971 über Camus). Er engagierte sich im wenn er nicht weltweit als Künstler oder eine Fensterbank vortäuschte. Dieses Podest konnte man abrücken, und dahinter lagen Sozialistischen Deutschen Studentenbund Unicef-Botschafter unterwegs war. Seine Steinschleudern, eine Taschenlampe, Hefte und Bücher, die Tiere in der freien Wild- (SDS), auch in der DKP, war Mitgründer eigentliche Passion war jedoch das Schrei- bahn beschrieben, Löwen, Tiger, Antilopen. An die Titel der anderen Bücher konnte der »Wortgruppe München« und gab die ben: »Meinen Lebensunterhalt verdiene ich sich die Mutter nicht mehr erinnern. Dort drin muß er gesessen und gelesen haben. Er »AutorenEdition« mit heraus. Verheiratet als Schauspieler, ich schreibe, weil ich nicht lauschte, hörte die Schritte, die Stimmen, der Mutter, des Vaters und war unsichtbar. mit der Übersetzerin Dagmar Ploetz, drei anders kann.« Vermutlich kam er auch des- Als die Mutter das Versteck fand, war der Bruder schon beim Militär. Das eine Mal, Kinder. Zahlreiche Auslandsaufenthalte halb zweimal an unser Gymnasium, wo als er noch auf Besuch kam, hatte sie versäumt, ihn zu fragen. und Gast-Dozenturen. Großer Lit.preis er vor allem als Autor eingeladen und von Blaß, regelrecht durchsichtig soll er als Kind gewesen sein. Und so konnte er ver- der Bayer. Akademie der Schönen Künste Prof. Borchmeyer auch als solcher gelobt schwinden und plötzlich wieder auftauchen, saß am Tisch, als sei nichts gewesen. 2001, Heinrich-Böll-Preis 2009. Heißer wurde, worüber er sich sichtlich freute. Auf die Frage, wo er gesteckt habe, sagte er nur, unter dem Boden. Was ja nicht ganz Sommer, R. 1974 / Rennschwein Rudi Rüssel, House of Regrets, A Tragi-Comedy in $ ree falsch war. Sein Benehmen war sonderbar, aber die Mutter fragte nicht weiter, spio- Ein Kinderroman, 1989 / Die Entdeckung Acts by Peter Ustinov, London 1943 (zur nierte ihm auch nicht nach, erzählte dem Vater nichts. der Currywurst, Nov. 1993 / Am Beispiel mei- Geburtstagslesung am 20. April 2001 Er war ein eher ängstliches Kind, sagte die Mutter. nes Bruders, 2003 / Halbschatten, R. 2008. erschien ein Reprint dieses seines ersten Er log nicht. Er war anständig. Und vor allem, er war tapfer, sagte der Vater, schon als Tibor Tollas, W. Heft 21: Lyriker im Exil, Werks, mit einem Vorwort von Wole So- Kind. Der tapfere Junge. So wurde er beschrieben, auch von entfernten Verwandten. L. am 19.3.1987. Geb. 1920 in Ungarn, yinka: $ e ‚Unbearable Lightness« of Exile) Es waren wörtliche Festlegungen, und sie werden es auch für ihn gewesen sein. 1947 zu zehn Jahren Haft verurteilt, im / Add a Dash of Pity, 1959 (Der Mann, der Die Eintragungen in seinem Tagebuch beginnen im Frühjahr 1943, am 14. Februar, Juli 56 entlassen, Teilnahme an der ungari- es leicht nahm, Erzählungen, 1993) / Dear schen Revolution im Oktober 1956. Nach Me, 1977 (Ach du meine Güte, 1978; Ich und enden am 6.8.43, sechs Wochen vor seiner Verwundung, zehn Wochen vor sei- ihrem Scheitern % üchtete er in den Westen und ich, Erinnerungen, 1990) / Bilder mei- nem Tod. Kein Tag ist ausgelassen. Dann, plötzlich, brechen sie ab. Warum? Was ist und lebte seit 1963 in München im Exil. nes Lebens, 2004. am 7.8. passiert? (Am Beispiel meines Bruders, 2003) 70 71 Peter Ustinov: Another Generation Arnold Vaatz, W. Heft 44: Laudatio auf Rundfunk, Stuttgart. Seit 1950 verheira- Reiner Kunze am 13.3.1997. Geb. 1955 in tet (die Töchter Franziska, Johanna, Alissa  e interior of a cottage. General Fitzbuttres, his son Robert. ...  e door bursts open, and Weida, Kreis Gera, studierte er nach dem und " eresia sind alle künstlerisch tätig). there stands a very pretty girl in a kind of maternity mini-jupe. She embraces her father. Abitur (1974 in Greiz, wo damals Kunze Seit 1953 bei der Gruppe 47, deren Preis er JUDY Daddy! lebte) Diplom-Mathematik und ev. " eo- 1955 erhielt. Büchner-Preis 1981, Pour le logie. 1982 sechs Monate wegen Verweige- mérite 1992. Ein F lugzeug über dem Haus GENERAL Judy! My darling little girl. Let me look at you! My, you’ve put on weight! rung des Reservedienstes inhaftiert. 1990 und andere Geschichten, 1955 / Ein  iehen- JUDY " at’s one way of putting it. (She giggles; casually) Robert. (He doesn’t reply) Staatsminister der Sächsischen Staatskanz- des Pferd, Novelle, 1978 / Ein sprin gender ROBERT Now, what are you going to make of that? lei, 1992 bis 1998 sächsischer Umweltmi- Brunnen, Roman, 1998 / Ein liebender Mann, GENERAL (after a considerable pause, gently) Don’t you think it might have been polite nister, seit 2002 Stellvertretender Vors. der Roman, 2008 / Mein Jenseits, Novelle, 2010. to write and tell me that you are engaged? CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ingo F. Walther (1940 – 2007) erö+ nete JUDY Engaged? I’m not engaged. Guntram Vesper, W. Heft 34: Birlibi und am 9.3.1991 die Ausstellung mit Collagen GENERAL (slowly) Married, then. andere Gedichte, Lesung am 5.11.1992. von Wolfgang Hildesheimer im Weilheimer JUDY I’m not married either. Mitwirkung beim Gedenk-Abend für Hans Stadtmuseum. Walther, ursprünglich Alt- GENERAL (slowly) Oh, well, contemplating marriage then. Werner Richter, bei der Albrecht-Haushofer- Germanist, schrieb seit Ende der 80er Jahre JUDY (lighting a small cigar) I’m not contemplating marriage. Feier und der 20-Jahrfeier. Geb. am 28. für einen Kunstverlag in Köln zahlreiche GENERAL (slowly) Divorced then. Mai 1941 als S ohn eines Landarztes in Bücher, u. a. über van Gogh und Picasso. JUDY I’m not divorced. Frohburg (Sachsen). Im November 1957 Prof. Harald Weinrich hielt die Laudatio Flucht über West-Berlin in die Bundesre- bei der Verleihung des W. Lit.preises an GENERAL (after a moment) You’re right, Robert … I’m too old. (He pulls himself publik, Hilfsarbeiter, dann Internatsschü- Ra% k Schami am 3.4.2003 (W. Heft 56). together. To himself) No, no, steady, Fitzbuttress ... the world belongs to the young, ler in Friedberg (Abitur 1963). Studierte Geb. 1927 in Wismar, studierte in Münster, you’ve got to understand if you’re going to survive ... (aloud) I presume ... I presume Germanistik und Medizin in Gießen und Freiburg i. Br., Toulouse und Madrid, war that protuberance is not entirely due to a surfeit of cream buns. Göttingen. Nahm 1967 an der letzten Ta- Ordinarius für Romanistik in Kiel (1959), JUDY (merry) No. I’m pregnant. gung der Gruppe 47 im Gasthof Pulver- Köln, Bielefeld und München (1978– ROBERT By the look of you, it should have arrived about two months ago. mühle in Oberfranken teil und schrieb 1992), wo er das Institut für Deutsch als JUDY Any time now. darüber die Erzählung Eingeladen, mei- Fremdsprache gründete und den Cha- GENERAL And you say there is no man involved. ner Hinrichtung beizuwohnen. Peter-Hu- misso-Preis ins Leben rief. Auch lehrte er JUDY " ere’s no man I’d care to marry involved. chel-Preis 1985. Gedichte, Stierstadt 1964 von 1992 bis 1998 als erster Ausländer am GENERAL You fell out with him. / Nördlich der Liebe und südlich des Hasses, Collège de in Paris. JUDY I fell out with them. 1979 / Frohburg. Neue G., 1985 (Neudruck Knappe Zeit. Kunst und Kritik des befristeten Lebens, 2004 / Wie zivilisiert ist der Teufel? Kur- GENERAL Oh, there’s more than one father? Who are the blighters? 2000) / Lichtversuche Dunkelkammer, 1992 / Spätvorstellung, 2006. ze Besuche bei Gut und Böse, 2007 / Vom Leben JUDY Frankly, I don’t know which one it was. Martin Walser, Weilheimer Heft 16: Ein und Lesen der Tiere. Ein Bestiarium, 2008. GENERAL Oh, well, in that case it’s much wiser not to marry. Angri$ auf Perduz. Lesung am 7. Dezember Prof. Carl Friedrich v. Weizsäcker (1912 JUDY " at’s my point of view. 1985. Weitere Lesungen am 7. Oktober – 2007), Atomphysiker, Philosoph und GENERAL Why are you so possessive? May I share your point of view? 1991 in der Stadthalle (aus: Die Verteidi- Friedensforscher, sprach bei der Albrecht- JUDY Certainly. But you don’t. gung der Kindheit) und am 19. September Haushofer- Feier am 7.12.1994. Haushofer GENERAL How can you be sure? 1999 (aus: Ein springender Brunnen). Lau- hatte mitgewirkt, als Ernst von Weizsäcker JUDY You can’t. datio bei der Verleihung des Weilheimer (der Vater von C.F. und Richard von Weiz- GENERAL I can’t? Why not? Literaturpreises an " omas Hürlimann säcker) unter Außenminister Ribbentrop JUDY You’re of another generation. am 21. März 1995 (Text im W. Heft 40). Karriere machte. In seinem Lebensbuch GENERAL So’s your child if it comes to that. But what happens when he grows up Geb. am 24. März 1927 in Wasserburg notierte Albrecht Haushofer 1937: »Höhe- and # nds he needs a father? am Bodensee, nach Arbeitsdienst, Militär punkte und Gefahrstellen eigenen Eingrei- JUDY He won’t. By then we’ll have a fully emancipated society. und Gefangenschaft 1946 Abitur in Lin- fens: … 10.II. – 4.III: Personalpolitik des dau, dann Germanistik-Studium in Re- neuen Außenministers. – Weizsäcker.« Und ROBERT (like a slow handclap) Ha ha. (Halfway Up the Tree, 1967) gensburg und Tübingen (Promotion 1951 dann, unter »Persönliches«: »Neue Freun- über Kafka). 1949 bis 1957 beim Süddt. de: Carl Friedrich von Weizsäcker ...« 72 73 Guntram Vesper: Birlibi Frühschicht Martin Walser: »Ein Mann mit Brille«

In manchen Nächten meiner Kinderzeit Hohe Schuhe mit Holzsohlen Seit er Schüler in Lindau war, war er mit keinem Mädchen mehr gegangen. Unvor- sprangen die hungrigen Ratten Aktentaschen aus Pappe, halb vier stellbar, in Lindau ein Mädchen kennenzulernen. Auch war er kein höherer Jung- aus den Abfallgruben von Frohburg volk- oder HJ-Führer. Die hatten es einfacher. Im Sommer vor einem Jahr hatte er und gaben ihre Mordlust an die zogen sie einzeln auf dem Dampfersteg gerade seine Angel ins Wasser gehängt, als die Krone- Tochter ganze Stadt weiter oder in kleinen Gruppen und die Doktors-Tochter vom Land her auftauchten; beide gingen auch in Lindau man konnte vor Haß nicht schlafen. die drei Kilometer zum Bahnhof zur Schule. Johann hatte, als er die beiden kommen sah, seine Angel gleich wieder die umgebauten Güterwagen eingezogen, hatte schnell den Wurm von der Angel gerissen. Die beiden Mädchen Die alten Geschichten. So viele. des Frühzugs in die gingen in diesem Augenblick direkt hinter ihm vorbei, blieben nicht stehen, riefen Weit weg und sehr nahe. Kohlengruben bei Borna nicht seinen Namen, wie es sich, da sie täglich im selben Zug zur Schule und wie- waren längst voll. der zurückfuhren, gehört hätte; sie waren ganz auf den Dampfer konzentriert, der gerade heranfuhr und anlegte. Jetzt sah Johann, daß die beiden Mädchen zwei Lin- Die Spur Ich ging auf Geburtstage, zum Baden dauer Jungvolkführer erwarteten. Die standen in erdfarbenen Umhängen über ihren ich las und ich lernte dunklen Uniformen auf dem Schi! , jeder hob grüßend einen Arm. Sah gut aus, wie Aus ihrer Niedertracht waren schnell ich fuhr mit den Eltern an die See die zwei Uniformierten ihre Hände noch über die Mützen hinaus hochhoben. Die spannende oder spaßige in sechzehn Jahren habe ich sie Hände standen still in der Luft. Die beiden Mädchen winkten heftig. Dann waren Geschichten geworden zweimal gesehen, von weitem die Uniformierten auf dem Steg, Händeschütteln, und ab ging’s, dem Land zu. Jo- staunen sollte man, fragen als Drohung. hann hatte rechtzeitig noch seine Angel, ohne Wurm dran, wieder ausgeworfen und durfte man nicht. tat jetzt so, als habe er für nichts Augen als für seinen Korken, der ganz wild herum- tanzte, als beiße weiß Gott was für ein Trumm Fisch an. Natürlich wußte Johann, Wie sie den jüdischen Drogisten November siebenundfünfzig daß nur die vom anlegenden und wieder abfahrenden Schi! verursachten Wellen unten am Markt und Wirbel den Korken so tanzen ließen, aber er brauchte jetzt eine Ablenkung. aufs Kreuz gelegt hatten Beim Abendbrot hieß es, morgen Erst als die hinter ihm vorbeigegangen waren, schaute er ihnen nach. Daß sie vorbei beim Verkauf des schönen gehen wir weg. waren, hörte er. Die beiden Lindauer hatten als Führer Uniformen mit eckig hinaus- stattlichen Hauses. stehenden Hosen, die man Breeches nannte. Und die dazu gehörenden Schaftstiefel. Ich packte die Tasche: Messer Und mit denen donnerten sie über die Stegbretter, die beiden Mädchen schwebten Als wir die Sachen Tagebuch, Uhr nebenher. Da war es Johann bewußt geworden, daß er barfuß war. Aber es war ja aus unserem schlechten Laden zur Hochsommer. Schönstes Wetter. Und keinerlei Appell im Dorf. Die beiden Lindauer Drogerie brachten der Rest blieb zurück, meine Freunde Führer – er kannte sie, sie waren in Lindau zwei Klassen über ihm, Uhlmann und auf einem geborgten Fuhrwerk wußten von nichts. Dummler hießen sie – waren in Uniform und Stiefeln und Umhängen nur per Schi! war unter dem Gerümpel ein Faß mit hierhergefahren, um diese beiden Mädchen zu besuchen. Eine der beiden hatte, als Honig umgefallen Am Nachmittag Potsdam, in Steglitz sie hinter Johann vorbeigegangen waren, gesagt: Ein Mann mit Brille, mein letzter und tropfte eine klebrige Spur raus aus der Bahn Wille. Also, das hatte er sich doch nicht eingebildet. Das hatte er gehört. Und er auf das P‚ aster, von allen Seiten die andere Hälfte der Frontstadt, das wußte auch, welche der beiden diesen Satz, der nur auf ihn, den mit Brille, gemünzt kamen die Hunde und andere sein konnte, gesagt hatte. Da zog er die Angel endgültig ein, ging mit gesenktem Leben blinkten Kopf, als suche er etwas Verlorenes, auf dem Moosweg, weil er da am ehesten ohne leckten die Straße wie Eis. Begegnung blieb, heim und schrieb auf eine neue Seite des Wachstuchheftes das hinter uns notwendige Gedicht. sauber, wir (Ich hörte den Namen Jessenin. Stöhnende Enge zum Licht / Prunkvolle Leere in Farben lachten und lachten. Frühe Gedichte, 1990) Ewig gequältes Gedicht / Daß dich die Dunklen erwarben (Frohburg. Neue Gedichte, 1985) Verzeiht man dir nicht. (Ein springender Brunnen, Roman, 1998)

74 75 Hubert Witt , W. Heft 18: Hans Hesello- Zwei Freunde, R. 1967 (dt. 1969) / Die Nachbemerkung und Dank her, Zwei Lieder (mit der Nachdichtung denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Iwan des »Tanzlieds« von H. Heselloher von Tschonkin, Paris 1975 (russisch, im gleichen Das 66. Weilheimer Heft ist ein Versuch, 30 Jahre Literaturprojekte am Gymnasium im H.W. W. Heft 24: Bairische Frühlingslieder Jahr deutsch, in Moskau erst 1990 erschie- oberbayerischen Weilheim alphabetisch zu dokumentieren – ohne Abbildung, nur im »al- des Mittelalters (Nachdichtungen: H.W.). nen) / Zwischenfall im Metropol. Meine er- Vortrag über »Neithart und Weilheim« am staunliche KGB-Akte, 1994. ten Medium« Schrift (ein Chronikheft mit 20 Fotos und 12 Abbildungen von Plakaten 6. Mai 1988 in der Stadthalle. Geb. 1935 Auch Christa Wolf konnte (nach Canetti, erscheint als Beiheft). in Breslau, 1946 nach Sachsen-Anhalt aus- Handke und Botho Strauß) leider nicht kom- Das Heft hat zwei Teile: 19 Seiten »Lexikon« mit 120 Artikeln, vor allem zu denen, gesiedelt, Germanistikstudium in Leipzig, men: »Ihnen gebe ich besonders ungern einen die als Lesende und Vortragende zum Erfolg der Weilheimer Hefte und Lesungen bei- u. a. bei Hans Mayer. Von 1959 bis 1986 abschlägigen Bescheid auf eine Einladung, weil getragen haben. Dieser Lexikon-Teil enthält auch Anekdoten (griechisch: an-ek-dota Lektor für dt. Literatur beim Reclam-Ver- ich Ihr Weilheimer Projekt so besonders gut und = etwas (noch) nicht Herausgegebenes), die wir in den 30 Jahren direkt gehört oder lag in Leipzig, wo er u. a. Brecht, Günter wichtig % nde.« (Brief vom 14.10.2005) selbst miterlebt haben, u. a. zu Elias Canetti, Wolfgang Hildesheimer, Lew Kopelew, de Bruyn, Wulf Kirsten, Günter Kunert, Rei- Barbara von Wul! en , geb. Grä$ n von Golo Mann und Hans Werner Richter, sowie Zitate aus Briefen von vier Autoren, ner Kunze (Brief mit blauem Siegel, 1973) Podewils-Juncker, führte die Lesung von die nicht nach Weilheim kommen konnten – den 110 Autoren und Professoren, die gekom- und Martin Walser (der uns auch auf ihn Gertrud Fussenegger am 12. März 1992 ein. men sind, sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt,desgleichen Herrn und Frau * ieler von hinwies) herausgab. Daneben übersetzte er Geb. 1936 in München, besuchte sie das der Kester-Haeusler-Stiftung, die uns, wenn nötig, mäzenatisch unterstützt haben. Ein aus dem Jiddischen ( Der Fiedler vom Getto, Gymnasium Weilheim, studierte Biologie, besonderer Dank gilt Herrn Professor Hans Maier, der unser Projekt schon in den frühen 1966) und Mittelhochdeutschen (Oswald dann Germanistik (Promotion bei Hugo 80er Jahren als Kultusminister gefördert hat, für sein Vorwort. von Wolkenstein, Walther von der Vogel- Kuhn), rezensierte Kinderbücher für die weide). 1986 bis 1993 Dozent am Leipzi- SZ und schrieb 1980 als Mutter von vier Wir bitten um Verständnis für die vielen Abkürzungen und Zahlen statt Monatsnamen. ger Literaturinstitut, seither freiberu" icher Kindern: Zwischen Glück und Ghetto: Fa- Ebenfalls aus Platzgründen haben wir bei Professoren maximal drei, bei »unseren« Auto- Literat. Neue Nachdichtungen: Rajzel Zy- milie im Widerspruch zum Zeitgeist? Da- ren nicht mehr als fünf Bücher genannt, die wir besonders empfehlen, auch nicht mehr als chlinski: di lider 1928-1991. Die Gedichte. mals hatte sie, nach dem Vorbild ihres Va- zwei Preise, kaum Doktortitel, keine Ehrendoktoren und keine Akademiemitgliedschaften Jiddisch und deutsch, 2003 / Lajser Ajchen- ters Graf Podewils, der sich in der Akade- (die meisten der Autoren und Professoren sind Mitglieder verschiedener Akademien). rand: Aus der Tiefe rufe ich. G., jiddisch und mie besonders der Autoren aus dem Osten Zu diesen Artikeln kommen als Hauptsache 54 Seiten mit Texten »unserer« Autorinnen deutsch, 2006 / Abraham Sutzkever, Wilner angenommen hatte, Familie Woinowitsch und Autoren. Von diesen Seiten sind 43 weitgehend aus den Weilheimer Heften über- Getto 1941 – 1944, Aufzeichnungen + Ge- aufgenommen (wie zuvor schon Familie nommen, eine aus dem Weilheimer Literaturkalender 1988 (Kempowski), eine aus einem sänge vom Meer des Todes, 2009. Kunze). Lichtwende. Vorsorglicher Nachruf Einladungs-Faltblatt (Walser), und neun sind neu ausgewählt. Prof. Reinhard Wittmann wirkte beim auf die Natur, 1985 / Urnen voll Honig. Ganz unterschiedliche literarische Werke auf jeweils nur einer Seite vorzustellen (was Gedenkabend für H. W. Richter mit. Geb. Böhmen – Aufbruch in eine verlorene Zeit, in manchen Prosastücken Kürzungen nötig machte) – einigermaßen repräsentativ und 1945 in München, war er Leiter der Litera- 1989 / Von Nachtigallen und Grasmücken. zugleich Jugendliche zum Lesen einladend – ist nicht einfach. Wir danken allen Autoren, tur-Abteilung beim Bayer. Rundfunk und Über das irdische Vergnügen an Vogelkunde ist Honorarprofessor für Geschichte des und Biologie, 2001. die mit unserer »einseitigen« Auswahl einverstanden waren, und ho$ en auf zahlreiche Buchwesens an der Universität München. Einmal sagte sie: Früher habe sie auf die Leserinnen und Leser. Geschichte des deutschen Buchhandels, 1991 Frage, wo sie auf der Schule gewesen sei, / Auf ge# ickten Straßen. Literarischer Neu- immer geantwortet: Südlich von München! Weilheim in Oberbayern, am 24. Januar 2010 beginn in München 1945 bis 1949, 1995 / Seit es die Dichterlesungen gebe, sage sie: (am 24. Januar 1980 wurde in unserem »Germanistenzirkel«

Der Carl Hanser Verlag 1928 – 2003, 2005. Am Gymnasium Weilheim! die Gründung der Weilheimer Hefte zur Literatur beschlossen) Wladimir Woinowitsch (geb. 1932 in Hans Zehetmair, damals Bayerischer Kul- Duschanbe, Tadschikistan) sprach beim tusminister, führte am 12. März 1991 die Der Arbeitskreis »30 Jahre Weilheimer Hefte« Exil-Abend am 20.3.87. Er lebte seit 1980 Preisverleihung für W. Hildesheimer ein. südlich von München (bei Familie Wul$ en), Josef-Othmar Zöller (1926 – 2004) führ- da er sich mit seinem Iwan Tschonkin unbe- te am 24. April 1995 den Vortrag von liebt gemacht hatte, 1974 aus dem Schrift- Erich Kuby ein. Von 1960 bis 1990 beim stellerverband ausgeschlossen, schließlich Bayerischen Rundfunk, hatte er seit 1971 ausgebürgert worden war. 1990 wurde er Bayern 3 als erste Pop- und Servicewelle in rehabilitiert, lebt heute wieder in Moskau. Deutschland aufgebaut. 76 77 Dank an die Rechteinhaber Inhaltsverzeichnis

Ein besonderer Dank gilt den Verlagen und den Autoren, die uns den Abdruck der Grußwort Umschlagseite 2 Günter Kunert – Christine Lubkoll 41 Texte erlaubt haben: Ammann, Zürich (€ omas Hürlimann, Wulf Kirsten); Athesia, Bozen Hans Maier: Vorwort S. 3 Günter Kunert: »Schlechte Gedichte « 42 (Reinhold Messner); Beltz & Gelberg, Weinheim (Ra! k Schami), Bergstadt W. G. Korn, Mitwirkende seit 1980: Reiner Kunze: Vier Gedichte, Prosatext 43 Freiburg i.Br. (Heinz Piontek); Diogenes, Zürich (Loriot); DVA, München (Sarah Kirsch); H. G. Adler bis Wolfgang Baur 4 Hermann Lenz: In den Augen des Vaters 44 S. Fischer, Frankfurt am Main (Ilse Aichinger, Günter de Bruyn, Robert Gernhardt, Ilse Aichinger: Die große Ho# nung 5 Siegfried Lenz: Die Gedenkstunde 45 Reiner Kunze, Golo Mann, Arnold Stadler); Carl Hanser, München (Hans Bender, Mario Adorf: Mein Kampf 6 Loriot: Inhaltsangabe, Zeit zum Fernsehen46 Barbara König, Günter Kunert); Ho# mann und Campe (Wolf Biermann, Siegfried Lenz); Hans Bender: Willst du nicht beitreten? 7 Lyriker im Exil – Golo Mann 47 Kein & Aber, Zürich (Gerhard Polt); Kiepenheuer & Witsch, Köln (Mario Adorf, Herbert Horst Bienek – Günter de Bruyn 8 Lyriker im Exil 48 Rosendorfer, Uwe Timm); P. Kirchheim, München (Katja Huber); Albrecht Knaus (Walter Peter Bichsel: Die Leser 9 Golo Mann: Vorlesen und Lesen 49 Kempowski), LangenMüller Herbig, München (Lothar-Günther Buchheim, Gertrud Wolf Biermann: Drei Lieder 10 Hans Mayer – Stefan Moses 50 Fussenegger); Langewiesche-Brandt, Ebenhausen (Albrecht Haushofer, Albert von Günter de Bruyn: Assessor Krättge 11 Hans Mayer: Personenkult um Stalin 51 Schirnding); Luchterhand, München (Ernst Jandl); Milena, Wien (Hilde Spiel); Lothar-G. Buchheim: Donauabwärts 12 Reinhold Messner: Einfach Angst 52 Monika Neuhäusler, Hausham (Franz Ringseis); Pavor S.A., Glarus (Peter Ustinov); Piper, Elias Canetti – Lew Druskin 13 Ludolf Müller – Hans Pörnbacher 53 München (Sten Nadolny); Hans Werner Richter-Stiftung, Remagen (Hans Werner Richter); Tankred Dorst – Joseph von Eichendor# 14 Adolf Muschg: Marsmensch, hör zu 54 Rowohlt, Reinbek (Imre Kertész, Hans Joachim Schädlich); Sanssouci, München(Michael Tankred Dorst: Parzival und die Engel 15 Sten Nadolny: Netzkarte 55 Krüger); Steidl, Göttingen (Günter Grass); Suhrkamp und Insel, Berlin (Peter Bichsel, Günter Eich: Zwei Gedichte 16 Heinz Piontek: Im Pfa# enwinkel 56 Tankred Dorst, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Peter Huchel, Hermann Lenz, H. M. Enzensberger: Zwei Gedichte 17 Florian Prey – € omas Rücker 57 Hans Mayer, Adolf Muschg, Martin Walser); € ienemann, Stuttgart (Michael Ende); Michael Ende: Beppo Straßenkehrer 18 Gerhard Polt: Die Postleitzahl von WM 58 schließlich Wolfgang Frühwald, Wole Soyinka, Guntram Vesper und Hubert Witt. Ota Filip – Gertrud Fussenegger 19 Hans W. Richter: Aufenthalt in WM 59 Bairische Frühlingslieder des Mittelalters 20 Franz Ringseis: Vier bairische Gedichte 60 Wolfgang Frühwald: Rede zum 3.10.90 21 H. Rosendorfer: Was ich studieren wollte 61 Gertrud Fussenegger: Drei Prosatexte 22 Hans J. Schädlich – Hans-R. Schwab 62 Abkürzungen Günter Grass – Peter Handke 23 Hans J. Schädlich: Am frühen Abend 63 Robert Gernhardt: Prosatext, Gedichte 24 Ra& k Schami: Das neue Schuljahr 64 Bd., Bd.e = Band, Bände Günter Grass: Wie fange ich an? 25 Albert von Schirnding: Schulaus& ug 65 Dr. = Drama Albrecht Haushofer – Katja Huber 26 Wole Soyinka – Johano Strasser 66 dt. = deutsch Wole Soyinka: Hunger Strike 67 E., E.n = Erzählung(en) Albrecht Haushofer:Augustus, Gefährten 27 G. = Gedicht(e) W. Hildesheimer: Das Märchen vom Riesen 28 Hilde Spiel: Skifahren 68 H. = Heft Katja Huber: Erster Schultag 29 Arnold Stadler: Die Fahrprüfung 69 Hrsg. = Herausgeber, -gegeben Peter Huchel: Zwei Gedichte 30 Botho Strauß – Peter Ustinov 70 L.n = Lesung(en) Ernst Jandl: Drei Gedichte 31 Uwe Timm: Einfach so verschwinden 71 Lit. = Literatur € omas Hürlimann – Kester-Haeusler-Stiftung 32Peter Ustinov: Another Generation 72 Nov. = Novelle " omas Hürlimann: Der Tunnel 33 Arnold Vaatz – Carl F. von Weizsäcker 73 Pr. = Preis Walter Kempowski: Die Verhaftung 34 Guntram Vesper: Vier Gedichte 74 Präs. = Präsident Imre Kertész: Die Untersuchung 35 Martin Walser: Ein Mann mit Brille 75 R.., R..e = Roman(e) Sarah Kirsch: Zwei Gedichte 36 Hubert Witt – Josef Othmar Zöller 76 Ü = Übersetzung Nachbemerkung und Dank 77 W. = Weilheimer Wulf Kirsten: September am Ettersberg 37 Zs. = Zeitschrift Horst Köhler – Erich Kuby 38 Dank an die Verlage 78 Barbara König: Mein Hitleraufsatz 39 Inhaltsverzeichnis 79 Michael Krüger: Druckvermerk 80 Der Freund meiner Schwester 40 Bisher erschienene Weilheimer Hefte U 3

78 79 Dieses Heft wurde in einer Au age von 3000 Exemplaren bei ESTA-Druck GmbH in Verzeichnis nach Textgattungen 82398 Polling gedruckt. 150 Exemplare (mit den Nummern 1 bis 100 und I bis L) Gedichte (41): Ilse Aichinger: Gonzagagasse (S. 7); Wolf Biermann: Ermutigung, Und wurden auf Büttenpapier abgezogen und zum 30. Jubiläum der Weilheimer Hefte als wir ans Ufer kamen, Bitte an mich (12); Joseph von Eichendor! : Mondnacht (16); von sieben Lyrikern signiert: Hans Magnus Enzensberger, Wulf Kirsten, Michael Krüger, Günter Eich: D-Zug München – Frankfurt, Ende eines Sommers (18); Hans Magnus Reiner Kunze, Albert von Schirnding, Guntram Vesper und Hubert Witt. Enzensberger: Vor dem Techno und danach, Altes Medium (19); Bairische Frühlingslie- der des Mittelalters, übersetzt von Hubert Witt: Lied aus Benediktbeuern, Mailied von Nr. Walther von der Vogelweide (22); Robert Gernhardt: Behindertes Kind am Strand, Bitte ausschneiden (26); Albrecht Haushofer: Gefährten (29); Peter Huchel: Dezember 1942, Friede (32); Ernst Jandl: wien heldenplatz, 1944 1945, beschreibung eines gedichts (33); Sarah Kirsch: Im Sommer, Die Luft riecht schon nach Schnee (38); Wulf Kirsten: Sep- tember am Ettersberg (39); Günter Kunert: Auch die Würmer, Unterschiede, Als unnöti- gen Luxus (44); Reiner Kunze: Kinderzeichnung, Auf dich im blauen mantel, Gebildete Nation, Wolf Biermann singt (45), Ivan Diviš: Gefängnis Pankratz, Lew Druskin: Das Gastmahl, Jacek Kaczmarski: Ein Märchen über Polen (50); Heinz Piontek: Im Pfa$ en- winkel (58); Franz Ringseis: Vorwort, Breigaulliad, Aa i, S Gred vom Sex (62); Guntram Vesper: Birlibi, Die Spur, Frühschicht, November 57 (76) Szenen (6): Tankred Dorst: Merlin (17), Albrecht Haushofer: Augustus (Anfang) (29), Loriot: Inhaltsangabe (48), Gerhard Polt: Die Postleitzahl von Weilheim, Hindemith (60), Peter Ustinov: Halfway Up the Tree (74) Erzählungen, Anekdoten, Märchen, Feuilleton (10): Mario Adorf: Mein Kampf (8), Peter Bichsel: Die Leser (Anfang)(11), Gertrud Fussenegger: Winternacht (Ausschnitt) (24), Robert Gernhardt: Lieblingsplural (Ausschnitt)(26), Wolfgang Hildesheimer: Das Märchen vom Riesen (30), $ omas Hürlimann: Der Tunnel (35), Michael Krüger: Der Freund meiner Schwester (Anfang, gekürzt)(42), Reiner Kunze: Mitschüler (45), Hans Joachim Schädlich: Am frühen Abend (65), Albert von Schirnding: Narbe (67) Romananfänge und -episoden (17) (von der Redaktion formulierte Überschriften) Anfänge: Ilse Aichinger: Die größere Ho$ nung (7), Lothar-Günther Buchheim: Tage und Nächte steigen aus dem Strom (14), Gertrud Fussenegger: Das Haus der dunklen Krüge (24), Günter Grass: Die Blechtrommel (27), Walter Kempowski: Im Block (36), Siegfried Lenz: Schweigeminute (47), Sten Nadolny: Netzkarte (57); Episoden: Michael Ende: Beppo Straßenkehrer (20), Katja Huber: Erster Schultag (31), Imre Kertész: Die Untersuchung (37), Hermann Lenz: In den Augen des Vaters (46), Adolf Muschg: Marsmensch, hör zu (56), Herbert Rosendorfer: Was ich studieren wollte (63), Ra' k Schami: Das neue Schuljahr (66), Arnold Stadler: Die Fahrprüfung (71), Uwe Timm: Einfach so verschwinden (73), Martin Walser: Ein Mann mit Brille (77) Aus Erinnerungen (11) (die Überschriften wurden von der Redaktion formuliert): Hans Bender: Willst du nicht beitreten? (9), Günter de Bruyn: Assessor Krättge (13), Gertrud Fussenegger: Am Abend unseres Hochzeitstages (24), Barbara König: Mein Hitleraufsatz (41), Günter Kunert: „Schlechte Gedichte“ (44), Golo Mann: Vorlesen und Lesen (51), Hans Mayer: Personenkult um J. W. Stalin (53), Reinhold Messner: Einfach Angst (54), Hans Werner Richter: Aufenthalt in Weilheim (61), Wole Soyinka: Why are you on hunger strike? (69), Hilde Spiel: Skifahren (70) Aus Reden (2): Wolfgang Frühwald: Die Deutschen und ihr Vaterland (Ende der Rede) (23), Loriot: Vor allem sollte immer genügend Zeit zum Fernsehen bleiben … (S. 48) 80 81 Martin Walser: »Ein Mann mit Brille« Hubert Witt , W. Heft 18: Hans Hesello- Zwei Freunde, R. 1967 (dt. 1969) / Die her, Zwei Lieder (mit der Nachdichtung des denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Iwan Seit er Schüler in Lindau war, war er mit keinem Mädchen mehr gegangen. Unvor- »Tanzlieds« von H. Heselloher von H.W. Tschonkin, Paris 1975 (russ., im gleichen stellbar, in Lindau ein Mädchen kennenzulernen. Auch war er kein höherer Jung- W. Heft 24: Bairische Frühlingslieder des Jahr dt., in Moskau erst 1990 erschienen) / volk- oder HJ-Führer. Die hatten es einfacher. Im Sommer vor einem Jahr hatte er Mittelalters (Nachdichtungen: H.W.). Vor- Zwischenfall im Metropol. Meine erstaunli- auf dem Dampfersteg gerade seine Angel ins Wasser gehängt, als die Krone-Tochter trag über »Neithart und Weilheim« am 6. che KGB-Akte, 1994. und die Doktors-Tochter vom Land her auftauchten; beide gingen auch in Lindau Mai 1988 in der Stadthalle. Geb. 1935 in Auch Christa Wolf konnte (nach Canetti, Breslau, 1946 nach Sachsen-Anhalt aus- Handke und Botho Strauß) leider nicht kom- zur Schule. Johann hatte, als er die beiden kommen sah, seine Angel gleich wieder gesiedelt, Germanistikstudium in Leipzig, men: »Ihnen gebe ich besonders ungern einen eingezogen, hatte schnell den Wurm von der Angel gerissen. Die beiden Mädchen u. a. bei Hans Mayer. Von 1959 bis 1986 Lek- abschlägigen Bescheid auf eine Einladung, weil gingen in diesem Augenblick direkt hinter ihm vorbei, blieben nicht stehen, riefen tor für dt. Literatur beim Reclam-Verlag ich Ihr Weilheimer Projekt so besonders gut und nicht seinen Namen, wie es sich, da sie täglich im selben Zug zur Schule und wieder in Leipzig, wo er u. a. Brecht, Günter de wichtig % nde.« (Brief vom 14.10.2005) zurückfuhren, gehört hätte; sie waren ganz auf den Dampfer konzentriert, der gera- Bruyn, Wulf Kirsten, Günter Kunert, Reiner Barbara von Wul! en , geb. Grä" n von de heranfuhr und anlegte. Jetzt sah Johann, daß die beiden Mädchen Lindauer Jung- Kunze (Brief mit blauem Siegel, 1973) und Podewils-Juncker, führte die Lesung von volkführer erwarteten. Die standen in erdfarbenen Umhängen über ihren dunklen Martin Walser (der uns auch auf ihn hin- Gertrud Fussenegger am 12. März 1993 ein. Uniformen auf dem Schiff, jeder hob grüßend einen Arm. Sah gut aus, wie die zwei wies) herausgab. Daneben übersetzte er Geb. 1936 in München, besuchte sie das Uniformierten ihre Hände noch über die Mützen hinaus hochhoben. Die Hände aus dem Jiddischen (Der Fiedler vom Getto, Gymnasium Weilheim, studierte Biologie, standen still in der Luft. Die beiden Mädchen winkten heftig. Dann waren die Uni- 1966) und Mittelhochdeutschen (Oswald dann Germanistik (Promotion bei Hugo formierten auf dem Steg, Händeschütteln, und ab ging‘s, dem Land zu. Johann hatte von Wolkenstein, Walther von der Vogel- Kuhn), rezensierte Kinderbücher für die rechtzeitig noch seine Angel, ohne Wurm dran, wieder ausgeworfen und tat jetzt so, weide). 1986 bis 1993 Dozent am Leipzi- SZ und schrieb 1980 als Mutter von vier ger Literaturinstitut, seither freiberufl icher Kindern: Zwischen Glück und Ghetto: Fa- als habe er für nichts Augen als für seinen Korken, der ganz wild herumtanzte, als Literat. Neue Nachdichtungen: Rajzel Zy- milie im Widerspruch zum Zeitgeist? Da- beiße weiß Gott was für ein Trumm Fisch an. Natürlich wußte Johann, daß nur die chlinski: di lider 1928-1991. Die G. Jid- mals hatte sie, nach dem Vorbild ihres Va- vom anlegenden und wieder abfahrenden Schiff verursachten Wellen und Wirbel disch und deutsch, 2003 / Lajser Ajchen- ters Graf Podewils, der sich in der Akade- den Korken so tanzen ließen, aber er brauchte jetzt eine Ablenkung. Erst als die hin- rand: Aus der Tiefe rufe ich. G., jiddisch und mie besonders der Autoren aus dem Osten ter ihm vorbeigegangen waren, schaute er ihnen nach. Daß sie vorbei waren, hörte er. deutsch, 2006 / Abraham Sutzkever, Wilner angenommen hatte, Familie Woinowitsch

Die beiden Lindauer hatten als Führer Uniformen mit eckig hinausstehenden Hosen, Getto 1941 – 1944, Aufzeichnungen + Ge- aufgenommen (wie zuvor schon Familie die man Breeches nannte. Und die dazu gehörenden Schaftstiefel. Und mit denen sänge vom Meer des Todes, 2009. Kunze). Lichtwende. Vorsorglicher Nachruf donnerten sie über die Stegbretter, die beiden Mädchen schwebten nebenher. Da war Prof. Reinhard Wittmann wirkte beim auf die Natur, 1985 / Urnen voll Honig. es Johann bewußt geworden, daß er barfuß war. Aber es war ja Hochsommer. Schön- Gedenkabend für H. W. Richter mit. Geb. Böhmen – Aufbruch in eine neue Zeit, 1989 stes Wetter. Und keinerlei Appell im Dorf. Die beiden Lindauer Führer – er kannte 1945 in München, war er Leiter der Litera- / Von Nachtigallen und Grasmücken. Über sie, sie waren in Lindau zwei Klassen über ihm, Uhlmann und Dummler hießen sie tur-Abteilung beim Bayer. Rundfunk und das irdische Vergnügen an Vogelkunde und – waren in Uniform und Stiefeln und Umhängen nur per Schiff hierhergefahren, ist Honorarprofessor für Geschichte des Biologie, 2001. Einmal sagte sie: Wenn sie Buchwesens an der Universität München. früher gefragt worden sei, wo sie auf der um diese beiden Mädchen zu besuchen. Eine der beiden hatte, als sie hinter Johann Geschichte des deutschen Buchhandels, 1991 Schule war, habe sie geantwortet: Südlich vorbeigegangen waren, gesagt: Ein Mann mit Brille, mein letzter Wille. Also, das / Auf ge# ickten Straßen. Literarischer Neu- von München! Seit es die Dichterlesungen hatte er sich doch nicht eingebildet. Das hatte er gehört. Und er wußte auch, welche beginn in München 1945 bis 1949, 1995 / gebe, sage sie: Am Gymnasium Weilheim! der beiden diesen Satz, der nur auf ihn, den mit Brille, gemünzt sein konnte, gesagt Der Carl Hanser Verlag 1928 – 2003, 2005. Hans Zehetmair, damals Bayerischer Staats- hatte. Da zog er die Angel endgültig ein, ging mit gesenktem Kopf, als suche er etwas Wladimir Woinowitsch (geb. 1932 in minister für Unterricht, Kultus, Wissen- Verlorenes, auf dem Moosweg, weil er da am ehesten ohne Begegnung blieb, heim Duschanbe, Tadschikistan) sprach beim schaft und Kunst, führte am 12. März 1991 und schrieb auf eine neue Seite des Wachstuchheftes das notwendige Gedicht. Exil-Abend am 20.3.87. Er lebte seit 1980 die Preisverleihung für W. Hildesheimer ein.

südlich von München (bei Familie Wul$ en), Josef-Othmar Zöller (1926 – 2004) führ- Stöhnende Enge zum Licht / Prunkvolle Leere in Farben da er sich mit seinem Iwan Tschonkin unbe- te, durchaus kritisch, den Vortrag von Ewig gequältes Gedicht / Daß dich die Dunklen erwarben liebt gemacht hatte, 1974 aus dem Schrift- Erich Kuby am 24.4.1995 ein. Von 1960 Verzeiht man dir nicht. stellerverband ausgeschlossen, schließlich bis 1990 beim Bayerischen Rundfunk, (Ein springender Brunnen, Roman, 1998) ausgebürgert worden war. 1990 wurde er hatte er 1971 Bayern 3 als erste Pop- und rehabilitiert, lebt heute wieder in Moskau. Servicewelle in Deutschland aufgebaut. 82 83 Martin Walser: »Ein Mann mit Brille« Martin Walser: »Ein Mann mit Brille« Seit er SN üler in Lindau war, war er mit keinem MädN en mehr gegangen. Unvor- Seit er Schüler in Lindau war, war er mit keinem Mädchen mehr gegangen. Unvor- stellbar, in Lindau ein MädN en kennenzulernen. AuN war er kein höherer Jung- stellbar, in Lindau ein Mädchen kennenzulernen. Auch war er kein höherer Jungvolk- volk- oder HJ-Führer. Die ha en es einfaN er. Im Sommer vor einem Jahr ha e er oder HJ-Führer. Die hatten es einfacher. Im Sommer vor einem Jahr hatte er auf dem auf dem Dampfersteg gerade seine Angel ins Wasser gehängt, als die Krone-ToN ter Dampfersteg gerade seine Angel ins Wasser gehängt, als die Krone-Tochter und die und die Doktors-ToN ter vom Land her auV auN ten; beide gingen auN in Lindau Doktors-Tochter vom Land her auftauchten; beide gingen auch in Lindau zur Schu- zur SN ule. Johann ha e, als er die beiden kommen sah, seine Angel gleiN wieder le. Johann hatte, als er die beiden kommen sah, seine Angel gleich wieder eingezo- eingezogen, ha e sN nell den Wurm von der Angel gerissen. Die beiden MädN en gen, hatte schnell den Wurm von der Angel gerissen. Die beiden Mädchen gingen in gingen in diesem AugenbliO direkt hinter ihm vorbei, blieben niN t stehen, riefen diesem Augenblick direkt hinter ihm vorbei, blieben nicht stehen, riefen nicht seinen niN t seinen Namen, wie es siN , da sie tägliN im selben Zug zur SN ule und wie- Namen, wie es sich, da sie täglich im selben Zug zur Schule und wieder zurückfuh- der zurüO fuhren, gehört hä e; sie waren ganz auf den Dampfer konzentriert, der ren, gehört hätte; sie waren ganz auf den Dampfer konzentriert, der gerade heranfuhr gerade heranfuhr und anlegte. Jetzt sah Johann, daß die beiden MädN en Lindau- und anlegte. Jetzt sah Johann, daß die beiden Mädchen Lindauer Jungvolkführer er- er Jungvolkführer erwarteten. Die standen in erdfarbenen Umhängen über ihren warteten. Die standen in erdfarbenen Umhängen über ihren dunklen Uniformen auf dunklen Uniformen auf dem SN iff , jeder hob grüßend einen Arm. Sah gut aus, wie dem Schiff, jeder hob grüßend einen Arm. Sah gut aus, wie die zwei Uniformierten die zwei Uniformierten ihre Hände noN über die Mützen hinaus hoN hoben. Die ihre Hände noch über die Mützen hinaus hochhoben. Die Hände standen still in der Hände standen still in der LuV . Die beiden MädN en winkten heV ig. Dann waren Luft. Die beiden Mädchen winkten heftig. Dann waren die Uniformierten auf dem die Uniformierten auf dem Steg, HändesN ü eln, und ab ging‘s, dem Land zu. Jo- Steg, Händeschütteln, und ab ging‘s, dem Land zu. Johann hatte rechtzeitig noch seine hann ha e reN tzeitig noN seine Angel, ohne Wurm dran, wieder ausgeworfen und Angel, ohne Wurm dran, wieder ausgeworfen und tat jetzt so, als habe er für nichts tat jetzt so, als habe er für niN ts Augen als für seinen Korken, der ganz wild her- Augen als für seinen Korken, der ganz wild herumtanzte, als beiße weiß Gott was für umtanzte, als beiße weiß Go was für ein Trumm FisN an. NatürliN wußte Johann, ein Trumm Fisch an. Natürlich wußte Johann, daß nur die vom anlegenden und wie- daß nur die vom anlegenden und wieder abfahrenden SN iff verursaN ten Wellen der abfahrenden Schiff verursachten Wellen und Wirbel den Korken so tanzen ließen, und Wirbel den Korken so tanzen ließen, aber er brauN te jetzt eine Ablenkung. aber er brauchte jetzt eine Ablenkung. Erst als die hinter ihm vorbeigegangen waren, Erst als die hinter ihm vorbeigegangen waren, sN aute er ihnen naN . Daß sie vorbei schaute er ihnen nach. Daß sie vorbei waren, hörte er. Die beiden Lindauer hatten als waren, hörte er. Die beiden Lindauer ha en als Führer Uniformen mit eO ig hinaus- Führer Uniformen mit eckig hinausstehenden Hosen, die man Breeches nannte. Und stehenden Hosen, die man BreeN es nannte. Und die dazu gehörenden SN aV stiefel. die dazu gehörenden Schaftstiefel. Und mit denen donnerten sie über die Stegbretter, Und mit denen donnerten sie über die Stegbre er, die beiden MädN en sN webten die beiden Mädchen schwebten nebenher. Da war es Johann bewußt geworden, daß nebenher. Da war es Johann bewußt geworden, daß er barfuß war. Aber es war ja er barfuß war. Aber es war ja Hochsommer. Schönstes Wetter. Und keinerlei Appell HoN sommer. SN önstes We er. Und keinerlei Appell im Dorf. Die beiden Lindauer im Dorf. Die beiden Lindauer Führer – er kannte sie, sie waren in Lindau zwei Klassen Führer – er kannte sie, sie waren in Lindau zwei Klassen über ihm, Uhlmann und über ihm, Uhlmann und Dummler hießen sie – waren in Uniform und Stiefeln und Dummler hießen sie – waren in Uniform und Stiefeln und Umhängen nur per SN iff Umhängen nur per Schiff hierhergefahren, um diese beiden Mädchen zu besuchen. hierhergefahren, um diese beiden MädN en zu besuN en. Eine der beiden ha e, als Eine der beiden hatte, als sie hinter Johann vorbeigegangen waren, gesagt: Ein Mann sie hinter Johann vorbeigegangen waren, gesagt: Ein Mann mit Brille, mein letzter mit Brille, mein letzter Wille. Also, das hatte er sich doch nicht eingebildet. Das hatte Wille. Also, das ha e er siN doN niN t eingebildet. Das ha e er gehört. Und er er gehört. Und er wußte auch, welche der beiden diesen Satz, der nur auf ihn, den mit wußte auN , welN e der beiden diesen Satz, der nur auf ihn, den mit Brille, gemünzt Brille, gemünzt sein konnte, gesagt hatte. Da zog er die Angel endgültig ein, ging mit sein konnte, gesagt ha e. Da zog er die Angel endgültig ein, ging mit gesenktem gesenktem Kopf, als suche er etwas Verlorenes, auf dem Moosweg, weil er da am ehe- Kopf, als suN e er etwas Verlorenes, auf dem Moosweg, weil er da am ehesten ohne sten ohne Begegnung blieb, heim und schrieb auf eine neue Seite des Wachstuchheftes Begegnung blieb, heim und sN rieb auf eine neue Seite des WaN stuN heV es das das notwendige Gedicht. notwendige GediN t.

Stöhnende Enge zum Licht / Prunkvolle Leere in Farben Stöhnende Enge zum LiN t / Prunkvolle Leere in Farben Ewig gequältes Gedicht / Daß dich die Dunklen erwarben Ewig gequältes GediN t / Daß diN die Dunklen erwarben Verzeiht man dir nicht. Verzeiht man dir niN t. (Ein (Ein springender Brunnen, Roman, 1998)

84 85 Martin Walser: »Ein Mann mit Brille« 30 Jahre Weilheimer Hefte zur Literatur Seit er Schüler in Lindau war, war er mit keinem Mädchen mehr gegangen. Unvor- Lob der Literatur – Lob des Lesens stellbar, in Lindau ein Mädchen kennenzulernen. Auch war er kein höherer Jungvolk- oder HJ-Führer. Die hatten es einfacher. Im Sommer vor einem Jahr hatte er auf dem Dampfersteg gerade seine Angel ins Wasser gehängt, als die Krone-Tochter und die Donnerstag, 22. April 2010, 19.00 Uhr, Stadthalle Weilheim Doktors-Tochter vom Land her auftauchten; beide gingen auch in Lindau zur Schule. Johann hatte, als er die beiden kommen sah, seine Angel gleich wieder eingezogen, hatte schnell den Wurm von der Angel gerissen. Die beiden Mädchen gingen in die- Mozart, Divertimento No. 1, KV 439b, Rondo sem Augenblick direkt hinter ihm vorbei, blieben nicht stehen, riefen nicht seinen Namen, wie es sich, da sie täglich im selben Zug zur Schule und wieder zurückfuhren, Begrüßung: Hermann Summer, Schulleiter gehört hätte; sie waren ganz auf den Dampfer konzentriert, der gerade heranfuhr und Staatsminister Dr. Wolfgang Heubisch: Grußwort anlegte. Jetzt sah Johann, daß die beiden Mädchen Lindauer Jungvolkführer erwar- teten. Die standen in erdfarbenen Umhängen über ihren dunklen Uniformen auf dem Lob der Literatur Schiff, jeder hob grüßend einen Arm. Sah gut aus, wie die zwei Uniformierten ihre Hände noch über die Mützen hinaus hochhoben. Die Hände standen still in der Luft. Geschichte und Gedichte: Reiner Kunze, Guntram Vesper, Hubert Witt Die beiden Mädchen winkten heftig. Dann waren die Uniformierten auf dem Steg, Einführung: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Maier Händeschütteln, und ab ging‘s, dem Land zu. Johann hatte rechtzeitig noch seine Angel, ohne Wurm dran, wieder ausgeworfen und tat jetzt so, als habe er für nichts Dichten und Zaubern: Tankred Dorst, Hans Magnus Enzensberger, Petra Morsbach Augen als für seinen Korken, der ganz wild herumtanzte, als beiße weiß Gott was für Einführung: Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer ein Trumm Fisch an. Natürlich wußte Johann, daß nur die vom anlegenden und wie- der abfahrenden Schiff verursachten Wellen und Wirbel den Korken so tanzen ließen, Pause aber er brauchte jetzt eine Ablenkung. Erst als die hinter ihm vorbeigegangen waren, schaute er ihnen nach. Daß sie vorbei waren, hörte er. Die beiden Lindauer hatten als Altgrazer Kontratanz Führer Uniformen mit eckig hinausstehenden Hosen, die man Breeches nannte. Und die dazu gehörenden Schaftstiefel. Und mit denen donnerten sie über die Stegbretter, Erzählte Jugend: Katja Huber, Albert von Schirnding, Arnold Stadler die beiden Mädchen schwebten nebenher. Da war es Johann bewußt geworden, daß er Einführung: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Frühwald barfuß war. Aber es war ja Hochsommer. Schönstes Wetter. Und keinerlei Appell im Dorf. Die beiden Lindauer Führer – er kannte sie, sie waren in Lindau zwei Klassen Merkwürdige Begegnungen: " omas Hürlimann, Michael Krüger, Sten Nadolny über ihm, Uhlmann und Dummler hießen sie – waren in Uniform und Stiefeln und Einführung: Prof. Dr. Reinhard Wittmann Umhängen nur per Schiff hierhergefahren, um diese beiden Mädchen zu besuchen. Eine der beiden hatte, als sie hinter Johann vorbeigegangen waren, gesagt: Ein Mann Lob des Lesens mit Brille, mein letzter Wille. Also, das hatte er sich doch nicht eingebildet. Das hatte er gehört. Und er wußte auch, welche der beiden diesen Satz, der nur auf ihn, den Weilheimer Erklärung zur Zukunft des Lesens mit Brille, gemünzt sein konnte, gesagt hatte. Da zog er die Angel endgültig ein, ging Prämierung des Lese- und Literaturquiz mit gesenktem Kopf, als suche er etwas Verlorenes, auf dem Moosweg, weil er da am ehesten ohne Begegnung blieb, heim und schrieb auf eine neue Seite des Wachstuch- Mozart, Divertimento No. 4, KV 439b, Polonaise heftes das notwendige Gedicht. Holzbläsertrio des Gymnasiums Weilheim (Fidelis Edelmann, K12, Karl Edelmann, Klarinetten; Leonhard Kohler, K12, Fagott) Stöhnende Enge zum Licht / Prunkvolle Leere in Farben Ewig gequältes Gedicht / Daß dich die Dunklen erwarben Das Gymnasium Weilheim i. OB und der Arbeitskreis »30 Jahre Weilheimer Hefte« Verzeiht man dir nicht. laden Sie zu dieser Jubiläumsfeier recht herzlich ein (Programmänderungen vorbehalten). (Ein springender Brunnen, Roman, 1998) Umschlag: Hans Werner Richter am 21.11.1980 im Gymnasium Weilheim (Foto: Manfred Gierig)

86 87 30 Jahre Weilheimer Hefte zur Literatur Lob der Literatur – Lob des Lesens

Donnerstag, 22. April 2010, 19.00 Uhr, Stadthalle Weilheim

Mozart, Divertimento No. 1, KV 439b, Rondo

Begrüßung: Hermann Summer, Schulleiter Staatsminister Dr. Wolfgang Heubisch: Grußwort

Lob der Literatur

Geschichte und Gedichte: Reiner Kunze, Guntram Vesper, Hubert Witt Einführung: Prof. Hans Maier

Dichten und Zaubern: Tankred Dorst, Hans Magnus Enzensberger, Petra Morsbach Einführung: Prof. Dieter Borchmeyer

Pause

Altgrazer Kontratanz

Erzählte Jugend: Katja Huber, Albert von Schirnding, Arnold Stadler Einführung: Prof. Wolfgang Frühwald

Merkwürdige Begegnungen: " omas Hürlimann, Mi chael Krüger, Sten Nadolny Einführung: Prof. Reinhard Wittmann

Lob des Lesens

Weilheimer Erklärung zur Zukunft des Lesens Prämierung des Lese- und Literaturquiz

Mozart, Divertimento No. 4, KV 439b, Polonaise Holzbläsertrio des Gymnasiums Weilheim (Fidelis Edelmann, K12, Karl Edelmann, Klarinetten; Leonhard Kohler, K12, Fagott)

Das Gymnasium Weilheim i. OB und der Arbeitskreis »30 Jahre Weilheimer Hefte« laden Sie zu dieser Jubiläumsfeier recht herzlich ein (Programmänderungen vorbehalten).

Umschlag: Hans Werner Richter am 21.11.1980 im Gymnasium Weilheim (Foto: Manfred Gierig)

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