Der Politische Walser Im Gespräch Mit Carl Seelig

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Der Politische Walser Im Gespräch Mit Carl Seelig Gestürm und Gelächel : der politische Walser im Gespräch mit Carl Seelig Autor(en): Perrig, Severin Objekttyp: Article Zeitschrift: Appenzellische Jahrbücher Band (Jahr): 133 (2005) PDF erstellt am: 10.10.2021 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-283395 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Zit. «Motto», das sich Robert Walser da neben einem Gedicht in den nach: Robert Walser: Aus dem Mikrogrammen vom Herbst 1927 notiert hat. Und unter Bleistiftgebiet. Hg. Bernhard Echte/ Werner Morlang. 6 Bde. Frankfurt «Gestürm» verstand bekanntlich Schwärmen er schwindelerregendes a.M. 1985-2000. und verworrenes Lieben, aber «auch ein gewisses Politisieren».2 Politisch beredsam zu «stürmen» beinhaltet letztlich 2 Robert Walser an Frieda Mermet, immer auch den Wunsch, sich über Tatsachen und Möglichkeiten, 4.1.1924. In: Ders.: Briefe. Hg. lörg Mächler. Genf 1975, Macht und Ohnmacht, Realistisches und Tagträumerisches in Schäfer/Robert S. 210. einem grösseren gesellschaftlichen Rahmen zu verständigen. Noch nach seinem literarischen Verstummen wird Robert Walser diese Gefilde politischer «Ereiferung» (AdB4/71) gerne beschreiten. Jedenfalls in den Gesprächen der Herisauer Jahre mit Carl Seelig (1894-1962). Doch von heute aus betrachtet, erscheinen viele dieser Stürmereien wieder einem artigen Lächeln gewichen. Die zeitliche Distanz wie unser Walser-Bild lassen viele Dokumente von damals politisch verhaltener wirken. War das bloss Gestürm um des Gestürmes willen? Walser als Polit-Anekdote Beginnen wir mit dem Inbegriff eines politisierten Schweizer Autors. Beginnen wir mit Max Frisch (1911-1991). In seinem Tagebuch findet sich 1968 folgende Notiz aus dem Tessiner Dörfchen Berzona: «Jemand berichtet von einer verbürgten Begegnung zwischen Robert Walser und Lenin an der Spiegelgasse in Zürich, 1917, dabei habe Robert Walser eine einzige Frage an Lenin gerichtet: Haben Sie auch das Glarner Birnbrot so gern? Ich zweifle im Traum nicht an der Authentizität und verteidige Robert Walser, bis ich daran erwache - ich verteidige Robert Walser noch beim Rasieren.»3 3 Max Frisch: Tagebuch 1966-1971. Diese verträumte Polit-Anekdote sagt zunächst sehr viel über Frankfurt a.M. 1979, S. 165. Max Frisch selber aus. Im damaligen ideologischen Blockdenken des Kalten Krieges isoliert und am «Malaise Suisse» leidend, war er auf der Suche nach Verbündeten, bei denen ihm wieder «heimatlicher» zumute werden konnte. Einer von ihnen wurde Robert Walser, gleich gesinnt in Sachen «heimlicher Verzweiflung» sowie im illusionslosen Blick auf das eigene «ExuVDasein 4 Max Frisch: Die Schweiz als in der Schweiz. «Ein grosser Landsmann auf der Flucht in die Heimat? Rede zur Verleihung des Grossen Grazie»,4 den Frisch selbst im Traum verteidigen zu müssen Schillerpreises (1974). In: Ders.: des Tages. Porträts, glaubte. Forderungen Skizzen, Reden 1943-1982. Hg. Walter Aber auch unser wacher Blick in den Spiegel dieser Traumgeschichte Schmitz. Frankfurt a.M. 1983, hinterlässt Zweifel, ob die Begegnung nicht nachgerade S. 324-331, hier S. 327. doch etwas geradezu Wahrscheinliches hat.5 Und dies, 5 Vgl. Peter Rippmann: Robert Walsers obwohl sich Robert Walser im Frühjahr 1917 bekanntlich in Biel politisches Schreiben. Bielefeld und nicht in Zürich aufhielt. Genügt zur Beglaubigung allein 2002 (Aisthesis Essay 14), S. 58 f. 44 Robert Walser (1878-1956) schon die absurd anmutende Walser'sche Frage an den politischen Emigranten und Berufsrevolutionär Lenin, der kurz vor seiner Abreise ins unruhige Russland steht? AufAnhieb verstanden hätten sie sich wohl sowieso eher über die von beiden als 6 Vgl. AdB 1 /116 bzw. Nadeshda Wanderproviant favorisierte Nussschokolade.6 Aber vor allem Konstantinowna Krupskaja: wäre ein Aufscheinen dieser Begegnung in irgendeiner Form im Erinnerungen an Lenin. Bd. 2. Zürich Walser'schen Briefwerk erwartbar. Speziell dann, wenn er gegen 1933. S. 180. Ende des 1. Weltkriegs auf die «schlimmen» russischen 7 Robert Walser an Frieda Mermet, Zustände zu sprechen kommt.7 30.6.1918. In: Ders.: Briefe (wie Stattdessen erwähnt er Lenin rund 25 Jahre später im Januar Anm. 2). S. 134. 1943 auf einer Wanderung mit Carl Seelig. Die Rede ist von «Fritz Kochers Aufsätzen» und ihrer Entstehung 1902 an der Zürcher Spiegelgasse. «Dort, wo Lenin gewohnt hat und Georg 8 Carl Seelig: Wanderungen mit Büchner gestorben ist», wie Walser dazu ergänzend anmerkt.8 Robert Walser. Hg. Elio Fröhlich. Eine Präzisierung, die möglicherweise von Seelig selber stammt. Frankfurt a.M. S. 44. 1978, Schliesslich verweist er an anderer Stelle schon prominent auf die altzürcherische Gasse, in der sich Berühmtheiten wie Lavater, 9 Carl Seelig: Georg Büchner. Goethe, Büchner und Lenin die Klinke in die Hand geben.9 Lebensbild eines jungen Genies. In: Es fehlt eigentlich nur noch der heute so oft betonte Hinweis auf Georg Büchner: Gesammelte die Spiegelgasse Nummer 1, das «Cabaret Voltaire» der Dadaisten.10 Werke. Hg. Carl Seelig. Zürich 1944, S. 279-319, hier S. 318 f. Stellt Walser sich und sein Werk nun gegenüber Seelig 10 Vgl. Dominique Noguez: Lenin bewusst in diesen kulturhistorischen Zusammenhang, so ergibt dada Essay. Zürich 1990: bzw. daraus auch sein Scheitern als Severin Perrig: Review of <Dada sich eine schlüssige Erklärung für Zürich: A Clown's Game from Schriftsteller: «Ich besass zuwenig gesellschaftlichen Instinkt.» Nothing > edited by Brigitte Pichon Er habe sich stattdessen vielmehr auf seine Subjektivität und and Karl Riha. In: Colloquia Ironie verlassen. Eine Instinktlosigkeit, die sich neben «dem Germanica. Internationale Zeitschrift amusischen Bolschewistenhäuptling Lenin» allerdings auch für Germanistik. Hg. Theodore Fiedler/Jeannine Blackwell. Bd. 32. wieder besonders provokativ wie tiefgründig erheiternd H. 1. Tübingen/Basel 1999. S. 92- ausnimmt.11 94, hier S. 93. Womit wir noch einmal beim Traum von Max Frisch mit dem 11 Seelig: Wanderungen (wie Anm. Glarner Birnbrot wären. So subversiv die Frage eines scheinbar 8). S. 44 f. u. S. 159. Naiven hier gemeint ist, im dabei offenbarten Tonfall berührt Frisch unsere Walser-Bilder ganz eigenartig. Herzenseinfalt scheint so etwas wie ein Garant für biografische Wahrhaftigkeit geworden zu sein. Offensichtlich haben die «Wanderungen mit Robert Walser» unsere Perspektive ganz entscheidend geprägt, wenn es um seine gesellschaftspolitische Wahrnehmung geht. Er wirkt in dieser von Carl Seelig überlieferten Form mit seinem verknappten Erzählstil voller Bonmots selber häufig wie ein literari- siertes, anekdotisches Produkt. Deswegen sind wir wohl auch so schnell versucht, sein schriftstellerisches Werk ebenso unkritisch als autobiografische Quelle heranzuziehen. Also im Falle 12 Robert Walser: Teil. In: Ders.: Lenins etwa eine 1919, die sich den Bolschewisten Feuer. Unbekannte Prosa und Teil-Figur um Gedichte. Hg. Bernhard Echte. Frankfurt anzuschliessen droht;12 oder ein um 1924 literarisierter Lenin in a.M. 2005, S. 53-55, hier S. 54. der Erzählsammlung «Die Rose», welcher das in der gleichen 45 Robert Walser (1878-1956) Gasse wohnende Erzähler-Ich geradezu erdrückt (SW8/54 f.)13; 13 SW=Werke (Bd./S.). Zit. nach: oder ein vergleichbarer Lenin in den Mikrogrammen, der sich Robert Walser: Sämtliche Werke in von der gemächlich zielsicheren «Pomadigkeit» der Berner Einzelausgaben. Hg. lochen Greven. 20 Bde. Frankfurt a.M. 1985- lässt. Bärengraben-Insassen revolutionär inspirieren (AdB5/82) 86. Allein all dies mit Biografischem in Verbindung gebracht, ergibt einen merkwürdigen Wirrwarr an Begriffen, Zitaten und zeitbezogenen Referenzen. Und das soll politisch sein? Der unpolitische Walser Die «Gretchenfrage» nach dem Verhältnis Robert Walsers zur Politik lässt sich offensichtlich nur schwer eindeutig beantworten.14 Das liegt zunächst einmal am überfrachteten Begriff des 14 Vgl. lochen Greven: Robert Politischen selber. Was findet sich in der Literaturwissenschaft Walser - ein Aussenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer seit den 1960er-Jahren nicht alles an politischen «Zumutungen». einer Wiederentdeckung.
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