<<

MATERIALIEN

Bernd Hüttner/Christoph Jünke (Hrsg.) ROTER OKTOBER 1917 BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER RUSSISCHEN INHALT

Vorwort 3

Christoph Jünke Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution 4

Alexandre Froidevaux Libertäre und SozialrevolutionärInnen in der Russischen Revolution (1917–1921) 13 Vom Scheitern der «dritten Revolution»

Philippe Kellermann Zur Wahrnehmung der Oktoberrevolution und des Bolschewismus  im internationalen Anarchismus 1917 bis 1923 22

Gisela Notz Die vielen Leben der Alexandra Kollontai 30

Bini Adamczak Hauptsache Nebenwiderspruch 39 Geschlechtliche Emanzipation und Russische Revolution

Marcel Bois In den Abgrund 52 Eine kurze Geschichte des Stalinismus in der ­Sowjetunion

Christoph Jünke Die «Große Säuberung» als ­Schädelstätte des Sozialismus 62

Ausgewählte Literatur 65

Die AutorInnen 67 Vorwort 3

VORWORT

Im Herbst 2017 jährt sich die russische «Ok- Mit dieser Broschüre wollen wir einen Über- toberrevolution», eines der Schlüsselereignis- blick über das komplexe Thema bieten; wir, se des 20. Jahrhunderts, zum 100. Mal. Diese das sind in diesem Fall überwiegend Mitglie- Revolution hat einen gesellschaftspolitischen der des Gesprächskreises Geschichte der Prozess ausgelöst, der die Ideen des Sozialis- Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die vorliegende mus und Kommunismus erstmals zur Grund- Broschüre spannt den Bogen von der Vorge- lage staatlichen Handelns beim Aufbau der schichte der russischen Revolutionen bis zum viel zitierten «neuen Gesellschaft» machte. Stalinismus der 1930er Jahre. Dies sorgte damals zu Recht für Aufsehen und Christoph Jünke gibt einen einführenden weltweite Resonanz. Die Strahlkraft dieser Überblick über die Ereignisgeschichte und die Epoche des Sozialismus/Kommunismus ist politischen Konflikte und Debatten. Ale­xandre zwar seit Längerem erloschen, doch die kom- Froidevaux und Philippe Kellermann untersu- munistischen und sozialistischen Theorien chen auf je eigene Weise nichtbolschewisti- und Vorstellungen werden wieder überall dis- sche Akteure des russischen Revolutionspro- kutiert – auch und gerade in den Metropolen zesses, die Sozialrevolutionäre auf der einen der in Turbulenzen geratenen Weltwirtschaft. und die anarchistische Bewegung auf der an- Für die internationale wie die deutsche Linke deren Seite. Gisela Notz erinnert dann an die hatte die Auseinandersetzung mit der Okto- Bolschewistin und Feministin Alexandra Kol- berrevolution und ihren Folgen bis in die jün- lontai und Bini Adamczak untersucht die Ge- gere Vergangenheit hinein identitätsstiften- schlechterpolitik des Bolschewismus. Marcel de Bedeutung – ob positiv oder negativ. Viele Bois und Christoph Jünke runden das – natür- grundsätzliche und strittige Fragen wurden lich alles andere als lückenlose – Bild ab, in- vor der Folie der historischen Ereignisse in dem sie einen Blick auf die anschließende Russland debattiert, etwa die Organisations- Entwicklung hin zum Stalinismus bis zu den frage, das Verhältnis von Plan und Markt oder Moskauer Schauprozessen werfen, die einen das von Staat und Demokratie. Die Rosa-Lux- gewissen Abschluss des «roten Oktober» bil- emburg-Stiftung hat sich diesem historischen den. Hinweise auf empfehlenswerte Literatur Wendepunkt und den jahrzehntelangen Fol- für weitergehend interessierte Leserinnen und gen aus ureigenstem Interesse schon früher Leser beschließen unseren Band. und ausgiebig gewidmet. Auch in diesem Jahr Wir wünschen eine anregende Lektüre! beschäftigt sie sich damit in unterschiedlichs- ten Formen und Formaten sowohl national Bernd Hüttner/Christoph Jünke wie international. Bochum/Bremen, im Juni 2017 4 Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution

Christoph Jünke ZUR EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE DER RUSSISCHEN REVOLUTION

Bewundert und zum Modell erklärt von den stützte sich dabei auf eine umfangreiche Mi- einen, kritisierten und bekämpften andere die litär- und Verwaltungskaste sowie auf die al- Russische Revolution von 1917 und ihre Fol- te russisch-orthodoxe Kirche. Um den An- gen als vermeintliche Wurzel allen Übels im schluss an das europäische Niveau zu halten, 20. Jahrhundert. Doch was war diese Revolu- setzte diese schon früh auf eine über den Krieg tion eigentlich? Wie ist sie vonstattengegan- führenden Rüstungssektor herum sich organi- gen? Und mit welchen Konzeptionen wurde sierende Industrialisierung. Und um an die für sie von ihren Protagonisten durchgeführt und die Kriegführung nötige neueste europäische von ihren Gegnern bekämpft? Technik zu kommen, lud man großzügig west- europäische Unternehmen ein und begab sich Vom Zarismus zur Februar­ zu diesem Zwecke in eine starke Abhängigkeit revolution von Teilen des europäischen Industrie- und Fi- Wie die meisten anderen Revolutionen der nanzkapitals. Auf diesem Wege bekam man Geschichte ist auch die Russische Revolution jedoch auch die modernsten Formen industri- von 1917 ein Produkt des Krieges, in diesem eller Arbeitsorganisation – was der damals vor Falle des 1914 begonnenen Ersten Weltkrie- sich gehenden russischen Industrialisierung ges. Doch schon ein Jahrzehnt zuvor, in den einen insgesamt stürmischen und zutiefst wi- Jahren 1904/05, hatte das russische Kaiser- dersprüchlichen Charakter verlieh. reich einen verlustreichen Krieg geführt. Das Fast alle ökonomischen Gesellschaftsfor- damals machtpolitisch erst aufsteigende ja- mationen der Geschichte waren, so Richard panische Kaiserreich hatte den asiatischen Lorenz, im Russland des beginnenden 20. Rivalen Russland angegriffen. überraschen- Jahrhunderts «gleichzeitig vertreten. So über- derweise besiegt und eine erste Revolution in kreuzten sich Elemente des entwickelten Mo- Russland ausgelöst, in der sich die lang ange- nopolkapitalismus sowohl mit älteren kapita- stauten und tief greifenden gesellschaftlichen listischen Entwicklungsformen als auch mit Widersprüche der russischen Gesellschaft feudalen Strukturen und sogar mit Überres- machtvoll entluden. ten der patriarchalischen Gentilgesellschaft.»2 Als europäische Großmacht war das dama- Und Leo Trotzki, gleichermaßen Aktivist wie lige Russland im sogenannten imperialen Historiker der Revolution, verdeutlicht: «Oh- Zeitalter1 zwar noch immer ein politisch-mi- ne durch das europäische Handwerkswesen litärischer Machtfaktor ersten Ranges, ge- und die Manufaktur hindurchgegangen zu sellschaftlich jedoch ein im Vergleich zum sein, ging Russland direkt zu mechanisier- europäischen Westen zurückgebliebenes Ag- ten Betrieben über. Die Zwischenstufen zu rarland, das von einer noch halbfeudalen und überspringen, ist das Schicksal der zurück- im Wesentlichen autokratischen Monarchie gebliebenen Länder. Während die bäuerli- regiert wurde. Dieser sich im russischen Za- che Landwirtschaft häufig auf dem Niveau ren selbst bespiegelnde Absolutismus war ei- des 17. Jahrhunderts verblieb, stand Russ- ne den Boden und die ihn bewirtschaftenden lands Industrie, wenn nicht dem Umfange, so Bauern ausbeutende Adelsherrschaft und dem Typus nach, auf dem Niveau der fortge- Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution 5

schrittenen Länder und eilte diesen in man- ten landwirtschaftlichen Basis des Reiches Ar- cher Beziehung voraus. Es genügt zu sagen, mut, Hunger und Unwissenheit in einem sol- dass die Riesenunternehmungen mit über je chen Ausmaße, dass die noch in alten Formen tausend Arbeitern in den Vereinigten Staaten von Leibeigenschaft gefangenen Bauern (im- [von Amerika] weniger als 18 Prozent der Ge- merhin etwa 100 Millionen Menschen) eben- samtzahl der Industriearbeiter beschäftigten, so aufbegehrten wie das junge Industriepro- in Russland dagegen über 41 Prozent. Diese letariat. So kombinierten sich politische und Tatsache lässt sich schlecht vereinbaren mit soziale Rechtlosigkeit mit Formen nationaler der banalen Vorstellung von der ökonomi- Unterdrückung. Die Folge war eine leicht ent- schen Rückständigkeit Russlands. Sie wider- zündliche Mischung sozialer und politischer legt indes nicht die Rückständigkeit, sondern Widerständigkeit, die sich bereits in der Revo- ergänzt diese dialektisch.»3 lution von 1905 machtvoll artikuliert hatte. Als aufkommender Industriestaat besaß Russ- Die militärische Niederlage des Zarismus ge- land zu Beginn des 20. Jahrhunderts also ein gen Japan hatte in der russischen Bevölke- zwar nur vergleichsweise geringes und histo- rung die Hoffnung auf tief greifende Refor- risch junges Industrieproletariat (das – ohne men geweckt, auf Demokratisierung und ihre Familien – auf etwa vier Millionen Perso- eine gesamtrussische Agrarreform, auf mehr nen geschätzt wird), doch war dieses in we- nationale und kulturelle Selbstbestimmung, nigen Städten und Industriekonglomeraten so auf den Achtstundentag und andere soziale stark konzentriert, dass sich die noch immer und demokratische Rechte. Vertreten wur- bäuerlich geprägte, aber bereits in modernste den solche Forderungen aber nicht vom rus- Formen der Fabrikorganisation eingebundene sischen Wirtschafts- und Großbürgertum (das Arbeiterschaft schnell radikalisieren und poli- ohne den Zaren meinte nicht auszukommen tisieren konnte. Ihr gegenüber stand eine nur zu können), sondern von radikalen Bewegun- kleine Schicht russischer Wirtschaftsbürger gen des Kleinbürgertums und des Proletari- und ein umfangreicheres Verwaltungs- und ats. In der politischen Tradition der alten Na- Bildungsbürgertum, das einen ständischen rodniki-Volkstümler setzte die Bewegung der Ursprung hatte und dessen rebellische Söh- russischen Sozialrevolutionäre vor allem auf ne und Töchter fast schon traditionell bestrebt eine plebejische Bauernrevolution mit dem waren, «ins Volk zu gehen», um sich zu Vor- Ziel der umfassenden Sozialisierung von Land kämpfern einer nationalen und sozialen Be- und Boden und der Erringung einer radikal- freiung gegen den rückständigen Zarismus demokratischen, bürgerlich-liberalen Repub- und seine internationalen Helfershelfer zu lik – notfalls, auch dies hatte Tradition, mithilfe ­machen. individuellen Terrors. Die russischen Sozialde- Der gesamtgesellschaftliche Humus einer mokraten dagegen teilten zwar die Forderung solch plebejischen Revolte war reichhaltig.4 nach einer bürgerlich-liberalen Republik, lehn- Das imperiale Russland war als zahlreiche eu- ten den individuellen Terror aber grundsätzlich ropäische und asiatische Völker umfassende ab. Sie betrachteten die politischen Fähigkei- und vereinnahmende Großmacht von natio- ten des Bauerntums zudem skeptisch und sa- nalen und ethnischen Widersprüchen zerris- hen sich selbst vor allem als Vorkämpfer und sen. Während in den früh- und hochkapitalis- östlicher Außenposten einer gesamteuropä- tischen Verhältnissen der russischen Industrie ischen Revolution gegen den Kapitalismus. klassische Formen der Überausbeutung und Und in Russland selbst verstanden sie sich als Entmündigung dominierten, herrschten an der kritische Bündnispartner eines radikaldemo- primitiven, noch stark mittelalterlich gepräg- kratischen, aufgeklärten Bürgertums. 6 Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution

Die bevorstehende russische Revolution soll- von jeder Teilnahme am Staat […], unbekannt te also, so die vorherrschende Meinung rus- mit den Regeln des parlamentarischen Reprä- sischer Oppositioneller, eine «bürgerliche Re- sentativsystems, übte er [der russische Ar- volution» werden. Doch was ist eigentlich eine beiter; CJ] durch die Sowjets ein Stück prak- spezifisch bürgerliche Revolution? Eine bür- tischer Demokratie. Die allgemeine Wahl der gerliche Revolution lässt sich programmatisch Deputierten in der Fabrik, die Möglichkeit ihrer verstehen als die Durchsetzung von spezifisch ständigen Kontrolle und jederzeitigen Abberu- bürgerlichen Eigentums- und Organisations- fung gaben den Arbeitern das Gefühl einer tat- formen zur Entfaltung der privatkapitalisti- sächlichen und wirksamen Teilnahme an der schen Produktivkräfte. Zugleich lässt sie sich Tätigkeit des von ihnen gewählten Organs.»5 charakterisieren durch ihre politisch-soziale Das russische Bürgertum schreckte vor die- Trägerschaft, in diesem Falle durch das liberale ser Radikalisierung einer städtischen Arbei- terklasse zurück, und so kam es 1906 zur Das liberale Bürgertum wollte nicht die ihm Niederschlagung der zugeschriebene progressive Rolle spielen, Revolution durch die sondern verbündete sich mit dem monar­ zaristische Armee chistischen Adel, um die plebejischen und zu einer daran Revolten in engen Grenzen zu halten. anschließenden Res- taurationsperiode, in Bürgertum als Träger einer solchen Revolution. der auch die wenigen errungenen Reformen Beide Aspekte gehören in der Theorie zusam- weitgehend zurückgenommen wurden. In der men. In der historisch-praktischen Bewegung erneut in die Illegalität getriebenen politischen jedoch fallen sie nicht unbedingt zusammen, Opposition jedoch beflügelten diese Erfahrun- wie sich unter anderem in der russischen Re- gen die politischen Strategiediskussionen. volution von 1905 zeigte – in der das liberale Während die menschewistischen Sozialde- Bürgertum die ihm zugeschriebene progres- mokraten auch nach der Erfahrung der Revo- sive Rolle nicht spielen wollte, sich nicht zum lution von 1905 bei ihrem Konzept einer von Vorreiter der Bauern- und Arbeiterrevolten auf- links zu unterstützenden bürgerlichen Repub- schwang, sondern sich mit dem monarchisti- lik blieben, setzten die bolschewistischen So- schen Adel verbündete, um die plebejischen zialdemokraten um Lenin fortan stärker auf Revolten in engen Grenzen zu halten. eine revolutionär-demokratische Diktatur von Auf der anderen Seite erwiesen sich gerade Proletariat und Bauernschaft, um den bürger- die proletarischen Kräfte dieser Revolte als lichen Charakter der Revolution auch gegen überaus stark und selbstständig. Vor allem in das Bürgertum selbst durchzusetzen. Eine der industriell geprägten russischen Haupt- dritte einflussreiche Strömung der sich mar- stadt St. Petersburg (die 1914 in Petrograd xistisch verstehenden Sozialdemokratie be- umbenannt wurde) offenbarten sie ihre radi- gründete Leo Trotzki, der Vorsitzende des Pe- kale Selbstständigkeit, indem sie – in Abwe- tersburger Arbeiterrates von 1905/06, der in senheit eines bürgerlichen Parlamentes oder der niedergeschlagenen Revolution die Bestä- anderer Formen bürgerlich-demokratischer tigung dafür sah, dass man die Ziele einer an Selbstregierung – eigene Organisationsfor- sich bürgerlichen Revolution nur mithilfe einer men direkter Demokratie, die sogenannten über dieselbe hinausdrängenden, ebenso so- Arbeiterräte, bildeten, um ihre Interessen und zialistischen wie internationalen Arbeiterrevo- Forderungen zu vertreten: «Ausgeschlossen lution erreichen könne. Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution 7

Von der Februarrevolution agierenden politischen Parteien und Gewerk- zur Oktoberrevolution schaftsorganisationen, gewannen immer grö- War es kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrie- ßeren organisatorischen Einfluss. ges erneut zu massiven Streikbewegungen Es entstand eine eigenartige Pattsituation, in gekommen, führte derselbe auch in Russland der sich die vor allem von Menschewiki und zu einem vorübergehenden «Burgfrieden» Sozialrevolutionären getragenen Sowjets zwischen den Klassen. Ökonomische und mi- ebenso weigerten, die politische Macht zu litärische Rückschläge sowie politische Recht- übernehmen, wie die von den bürgerlichen losigkeit sorgten allerdings schon bald dafür, Liberalen gestellte Provisorische Regierung. dass das Elend und der Unmut wieder wuch- In dieser neuartigen Form einer «Doppel- sen. Die unmittelbare Kriegserfahrung mobi- herrschaft» versinnbildlicht sich das instabile lisierte und politisierte breite Bevölkerungs- Gleichgewicht der russischen Kriegsgesell- schichten. schaft, die aus der Februarrevolution hervor- Als es Ende Februar 1917, noch mitten im gegangen war und in deren Folge es zwar zu Krieg, zu Brotrevolten der hungernden Bevöl- einer Liberalisierung, nicht aber zu einer De- kerung kam, gingen diese in einen von einem mokratisierung der gesellschaftlichen Ver- Generalstreik begleiteten neuen Volksauf- hältnisse gekommen war. Die Meuterei in der stand über. Innerhalb von nur wenigen Tagen kriegsmüden Armee hielt daher an, die städ- sah sich der russische Zar – das Sinnbild einer tische Arbeiterschaft radikalisierte sich weiter 300-jährigen, vermeintlich allmächtigen Herr- und nach wenigen Wochen begann eine sich schaftsform – zum Rücktritt gezwungen. über immer zahlreichere Provinzen ausdeh- Das Alte war tot, ohne dass es bereits ein nende Rebellion der russischen Bauernschaft. Neues gab. Im politischen Vakuum der Re - Auch in oppositionellen Kreisen, bei Sozialre- volte jedoch bildeten sich, wie schon 1905, volutionären und Sozialdemokraten, wurden Sowjets (Räte) der Arbeiter- und Soldatende- die Auseinandersetzungen härter. Hatte man putierten, die sich als Organe einer direkten anfänglich noch einmütig von der Notwendig- Demokratie, einer Gegenmacht des Volkes, keit einer bürgerlichen Revolution unter der verstanden. Gleichzeitig konstituierte sich ei- Kontrolle des sich sozialistisch verstehenden ne ausschließlich von bürgerlichen Liberalen Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates ge- bestellte und ohne jedes Parlament agierende sprochen und sich um eine neue linke Einheit «Provisorische Regierung». Während die Räte bemüht, änderte sich dies schnell, als der po- und die Volksmassen «Frieden – Land – Brot» litische Führer der bolschewistischen Sozial- forderten, lehnte die Provisorische Regierung demokraten, Wladimir Iljitsch Lenin, Anfang grundlegende Reformen vorerst ab, um nicht April 1917 aus dem Schweizer Exil zurück- die weitere Kriegführung zu behindern. Bis der kehrte. Lenin stellte sich vorbehaltlos auf die an der Seite der Entente geführte Krieg gegen Seite der radikalen Kräfte und prangerte die Deutschland nicht gewonnen sei, wollte man Fortsetzung des Krieges und das Verschie- die geforderte Agrarreform, die Wahlen zu ei- ben demokratischer Strukturreformen an. In ner verfassungsgebenden Versammlung (Konstituan- te) und andere große Refor- Die neuartige Form einer «Doppelherr­ men verschieben. Dadurch schaft» versinnbildlicht das instabile wuchs rasch der Unmut der Gleichgewicht der russischen Kriegs­ Massen, und die Räteorgane, gesellschaft, die aus der Februar­ zusammen mit den nun frei revolution hervorgegangen war. 8 Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution

seinen «April-Thesen» forderte er «Alle Macht nenten Revolution politisch-strategisch ange- den Sowjets» und proklamierte, zur Überra- nähert. Er machte damit auch den Weg frei für schung selbst eigener Anhänger, die Inangriff- eine neue politische Einheit von Bolschewiki, nahme einer rein proletarisch-sozialistischen linken Menschewiki und den um Trotzki sich Revolution. Nicht mehr um eine von liberalen gruppierenden linken Internationalisten – die Bürgern getragene, spezifisch bürgerliche Ei- politischen Fronten wurden im Frühjahr 1917 gentums- und Organisationsformen durchset- neu bestimmt. zende «bürgerliche Revolution» sollte es nun Während also ein Teil der linken Organisatio- gehen, sondern um eine von der russischen nen immer radikaler wurde, hielten Mensche- Arbeiterklasse getragene und von der rebel- wiki und (rechte) Sozialrevolutionäre weiter- lierenden Bauernschaft unterstützte proleta- hin an ihrem Kurs fest und traten mit einigen rische Revolution. Le- Ministern sogar in die nin rief zu einer sozialen Provisorische Regie- und politischen Revo- Lenin hatte deutlich zu rung ein, um die bürger- lution auf, die den Ka- machen versucht, dass lich-liberale Demokratie pitalismus überwinden man Russland weniger von links her zu festi- und sozialistische, das denn je national isoliert gen und vorwärtszu- heißt kollektiv-gemein- betrachten könne. treiben. Doch um jeden wirtschaftliche Eigen- Preis festhalten wollten tums- und Organisationsformen durchsetzen sie dabei an ihrer Gesellschaftsreformen hin- sollte, um die darniederliegenden gesamtge- auszögernden Politik einer linken Vaterlands- sellschaftlichen Produktivkräfte neu zu organi- verteidigung. «Bestrebt, um jeden Preis die sieren und entsprechend zu entfalten. Koalition mit den bürgerlichen Parteien zu ret- Verständlich wird diese politisch-programma- ten; voller Angst, die ‹Zensuselemente› oder, tische Wende Lenins durch die ökonomischen einfacher gesagt, die Bourgeoisie von der Re- und politischen Studien zur Weltwirtschaft, volution abzuschrecken, fuhren Sozialrevolu- die er noch kurz zuvor im Schweizer Exil be- tionäre und Menschewiki fort, sich der Durch- trieben hatte.6 Mit seinem gerade fertigge- führung solcher demokratischer und sozialer stellten Werk «Der Imperialismus als jüngstes Reformen zu enthalten, an denen nichts Sozi- Stadium des Kapitalismus»7 hatte er deutlich alistisches war und die sogar vom Standpunkt zu machen versucht, dass man Russland we- dieser ‹gemäßigten› sozialistischen Parteien niger denn je national isoliert betrachten kön- aus durchaus nicht verfrüht waren.»9 ne und eine mögliche russische Revolution Eine von der Provisorischen Regierung zum stärker denn je im Kontext einer gesamteuro- linken Aufstandsversuch stilisierte große De- päischen Revolte gegen den imperialistischen monstrationswelle im Juli 1917 wurde erfolg- Kapitalismus verstehen müsse. Der Imperi- reich niedergeschlagen, die für die Unruhen alismus werde, durch den Weltkrieg verur- verantwortlich gemachte (und als angeblich sacht, an seinem schwächsten Kettenglied gekaufte Handlanger des deutschen Gene- brechen. Dadurch würde die an sich bürger- ralstabes zum Staatsfeind erklärte) bolsche- liche russische Revolution zum Katalysator wistische Partei verboten und viele Mitglieder einer sozialistischen Revolution in ganz Eu- wurden verhaftet. Doch als die rechten Adels- ropa werden. Mit seiner These von der welt- und Militärkreise diese Gelegenheit nutzen geschichtlichen «Aktualität der Revolution»8 wollten, um einen Staatsstreich zu inszenie- hatte sich Lenin nicht nur der von Trotzki zehn ren, wehrten sich vor allem die von den Bol- Jahre zuvor formulierten Theorie einer perma- schewiki massiv unterstützten Arbeiter- und Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution 9

Soldatenräte schnell, effizient und erfolgreich. Dekret über den Frieden, mit dem die russi- Als zur gleichen Zeit auch die letzte Kriegsof- schen Kriegshandlungen eingestellt wurden fensive der russischen Armee kläglich schei- und allen kriegführenden Ländern ein soforti- terte, verließen die überwiegend bäuerlichen ger demokratischer Frieden ohne Annexionen Soldaten in Scharen ohne Erlaubnis die Trup- und Kontributionen angeboten werden sollte. pe, um auf die heimischen Höfe zurückzukeh- Man bekannte sich zur umfassenden Arbeiter- ren und endlich mit den Gutsbesitzern abzu- kontrolle in der Wirtschaft und verkündete das rechnen. Während immer mehr Bauern sich Recht auf nationale Selbstbestimmung. Das zu Bauernbewegungen zusammenschlossen Dekret über den Grund und Boden schließlich und zur eigenhändigen Enteignung, teils auch enteignete alle Gutsbesitzer sowie die Kirche Tötung von Gutsbesitzern übergingen, be- und übertrug den Grund und Boden den loka- gannen auch die radikalisierten Betriebsräte len Bodenkomitees und Bauernsowjets. Und der Industrieregionen immer häufiger, in den neben dem die formale Macht übernehmen- Produktionsprozess einzugreifen und einzelne den Zentralexekutivkomitee der Gesamtrus- Unternehmer in ihren Funktionen teilweise zu sischen Räte (in dem alle linken Strömungen entmachten. Die Rätebewegung verbreitete vertreten waren) wurde ein Rat der Volkskom- sich über ganz Russland, die Bolschewiki wur- missare gebildet, in dem zuerst nur Bolsche- den zur hegemonialen Massenpartei – und al- wiki saßen, da sich die linken Parteien nicht les erwartete mit Spannung den für Ende Ok- auf eine gemeinsame Koalitionsregierung tober angesetzten Zweiten Gesamtrussischen verständigen konnten. Nachdem sich Men- Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldaten- schewiki und rechte Sozialrevolutionäre auch deputierten. in den nächsten Wochen weigerten, mit den Lenin und andere führende Bolschewiki woll- Bolschewiki zusammenzuarbeiten (und sich ten jedoch nicht mehr so lange warten und partiell sogar an Versuchen beteiligten, das bereiteten mithilfe der von ihnen politisch do- neue Regime wieder zu stürzen), traten die minierten Sowjetstrukturen den organisierten Linken Sozialrevolutionäre Ende 1917 in die Aufstand vor. Kurz vor der Eröffnung des Sow- Regierung mit ein. jetkongresses nutzte das vom Petrograder So- wjet zuvor gebildete und von Leo Trotzki ge- Von der Machtergreifung leitete Revolutionäre Militärkomitee eine neue zur Machtsicherung Offensive Kerenskis, des starken Mannes der Die politischen Machthebel der russischen Provisorischen Regierung, um alle Schalthe- Gesellschaft zu ergreifen war das eine, die bel der politischen Macht zu besetzen und die Proklamation eines historisch neuartigen, von Provisorische Regierung für abgesetzt zu er- der Arbeiterklasse getragenen Rätesystems klären. mit Leben zu füllen, ein anderes. Der Akt der Der gleichzeitig einberufene Zweite Gesamt­ Oktoberrevolution war zuerst kaum mehr als russische Sowjetkongress, auf dem die Bol- ein symbolischer Akt. Und von Beginn an sah schewiki und die Linken Sozialrevolutionäre sich die neue Macht nicht nur einer scharfen über eine Mehrheit verfügten, billigte diese politischen und ökonomischen Opposition ge- Machtergreifung («in der Essenz eine plebis- genüber, sondern musste sich auch bewaffne- zitär gestützte Militäraktion», wie Manfred Hil- ten Putschversuchen vonseiten der Anhänger dermeier treffend schrieb10) und proklamierte der Provisorischen Regierung, von Adligen die Errichtung einer Räterepublik. Der Kon- und Militärs, aber auch von Teilen der Men- gress beschloss die weitgehende Demokra- schewiki und der Sozialrevolutionäre erweh- tisierung der Armee und verabschiedete ein ren. Während man mit der Waffe in der Hand 10 Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution

Die politischen Machthebel der russischen Gesellschaft zu ergreifen war das eine, die Proklamation eines historisch neuartigen, von der Arbeiterklasse getragenen Rätesys­ tems mit Leben zu füllen, ein anderes. Der Akt der Oktober­ revolution war zuerst kaum mehr als ein symbolischer Akt.

Widerstand gegen die politischen Gegner leis- herrschaft (während Bolschewiki und Linke tete, beschloss der Rat der Volkskommissare Sozialrevolutionäre auf dem ebenfalls im Ja- ein Dekret nach dem anderen, um die neue nuar 1918 zusammentretenden Dritten Ge- gesellschaftliche Macht nicht nur zu veran- samtrussischen Sowjetkongress – dem for- kern, sondern auch mit Leben zu füllen. mell höchsten Organ des neuen Systems – die Nach der politischen Entmachtung des Bür- eindeutige Mehrheit besaßen, waren sie in der gertums und der adligen Gutsbesitzerklasse Konstituante die Minderheit) und als Ausdruck wurden das russische Bankwesen (Dezem- bürgerlich-repräsentativer Macht wurde die ber 1917) und das Verkehrs- und Transport- Konstituante anschließend, ohne großen Wi- wesen (Januar 1918) verstaatlicht. Mit dem derstand, aufgelöst. Zur wirklichen Belas- Dekret über die Arbeiterkontrolle (November tungsprobe der neuen Macht wurde dagegen 1917) und der Einführung des imperativen einmal mehr die Kriegsfrage. Mandats (Dezember 1917) wurde die Arbei- Hatte die neue Sowjetmacht anfänglich auf ei- terselbstverwaltung ausgeweitet und mit der nen Frieden ohne Annexionen und Kontributi- Errichtung eines Obersten Volkswirtschafts- onen gehofft – noch immer tobte in Europa der rates (Dezember 1917) wurden die Grund- Erste Weltkrieg –, zogen sich die Friedensver- lagen für eine geplante Wirtschaft gelegt. handlungen mit dem deutschen Kaiserreich Weitgehende soziale Rechte wurden einge- hin. Sie endeten erst, nachdem die Deutschen führt wie der Achtstundentag, die 48-Stun- eine neue Militäroffensive gegen Petrograd er- den-Woche und eine Kranken- und Arbeits- öffnet hatten und dabei schnell ins kriegsmü- losenversicherung, Kinderarbeit wurde de Land eingedrungen waren, im März 1918 verboten, Frauendiskriminierung beseitigt, mit der Unterwerfung der neuen Sowjetregie- das Eherecht liberalisiert, das Schulsystem rung unter den Friedensvertrag von Brest-Li- reformiert und die Trennung von Staat und towsk. Mit dem Brester Diktatfrieden wurde Kirche durchgesetzt. All dies ging Stück für Russland schlagartig zu einem Rumpfstaat, Stück vor sich, zog sich über Wochen, Mo- verlor die Ukraine, die Kornkammer Russ- nate und sogar Jahre hin und ist vor dem Hin- lands, den Nordkaukasus und die baltischen tergrund eines ab Mitte 1918 von allen Seiten Staaten. Verloren gingen damit nicht nur Land ausgesprochen blutig und brutal geführten und Menschen, sondern auch zwei Drittel der Bürgerkrieges zu betrachten. sowjetrussischen Kohle- und Eisenförderung, Im Januar 1918 verließen Bolschewiki und 50 Prozent der Industrieanlagen und der Ar- Linke Sozialrevolutionäre die erstmals zusam- beiterschaft sowie, beispielsweise, 90 Pro- mentretende Konstituierende Versammlung zent der Zuckerindustrie. Das ohnehin schon wieder, als sich diese weigerte, die «Dekla- nachhaltig zerrüttete, von Arbeitslosigkeit, Ar- ration der Rechte des werktätigen und aus- mut und Hunger geschundene Land hatte nun gebeuteten Volkes» mit ihrer Festlegung auf auch noch mit Rohstoff- und Brennstoffman- ein umfassendes Rätesystem zu akzeptie- gel und mit einem ruinierten Transport- und ren. Als Organ einer neuen Form von Doppel- Verkehrswesen zu kämpfen. Der Güteraus- Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution 11

tausch zwischen Stadt und Land kam zum Er- ist. Und wenn gefragt wird, wie denn Russ- liegen und die politischen Auseinandersetzun- land zur kommunistischen Gesellschafts- gen nahmen ungeahnte Ausmaße an. ordnung übergehen könne, da es doch ein In einigen Provinzen ging die zaristische Op- zurückgebliebenes­ Land sei, so muss diese position militärisch gegen das neue Regime Frage vor allem mit dem Hinweis auf die in- vor, bildete sogenannte Weiße Armeen und ternationale Bedeutung der Revolution be- verbündete sich dabei mit noch im Land ste- antwortet werden. Die Revolution des Pro- henden ausländischen Truppenteilen. Auch letariats kann jetzt nur eine Weltrevolution große Teile der Menschewiki und Sozialrevo- sein. Und in dieser Richtung entwickelt sie lutionäre agierten weniger als politische Op- sich auch. […] [Russlands] Rückständigkeit, position denn als widerständige Rebellen. die verhältnismäßig schwache Entwicklung Aus Protest gegen das vermeintliche Einkni- seiner Industrie u. dgl. – alle diese Mängel cken der bolschewistischen Führung vor dem werden aufgesogen werden, wenn Russland deutschen Imperialismus traten nun auch die sich zusammen mit den fortgeschrittensten Linken Sozialrevolutionäre aus der Koalitions- Ländern zu einer internationalen oder we- regierung wieder aus. Selbst die sich um Ni- nigstens europäischen Räterepublik vereini- kolai Bucharin und Karl Radek formierenden gen wird. […] Unter der Voraussetzung, dass sogenannten Linken Kommunisten innerhalb ganz Europa unter die Herrschaft des Proleta- der bolschewistischen Partei – die alles ande- riats gelangt, würde eine entwickelte Indust- re war als jene monolithische Organisation, rie für alle ausreichen.»11 die die spätere marxistisch-leninistische Legi- Und in der Tat sah es zunächst ganz danach timationsideologie aus ihr gemacht hat – rie- aus: In den Jahren 1917 bis 1920 kam es zu fen zum revolutionären Krieg gegen die Deut- massiven Revolten und Revolutionsversu- schen und zum Widerstand gegen die sich chen in Deutschland, Österreich, Ungarn, um Lenin und Trotzki gruppierende Parteifüh- Italien und Skandinavien sowie zu massiven rung auf. Streikbewegungen in Frankreich, Spanien, Opponierten die Konservativen und Rechten Großbritannien, den USA und vielen anderen gegen die Annahme des Brester Diktatfrie- Ländern (nicht zuletzt aufgrund des Beispiels dens, weil sie darin ein Verbrechen gegen die Sowjetrusslands und nicht ohne Hilfe der «heilige Vaterlandsverteidigung» sahen, wa- 1919 in Moskau gegründeten Kommunisti- ren die linken Opponenten dagegen, weil sie schen Internationale). Ausdruck dieses inter- die Russische Revolution vor allem als integ- nationalen Charakters der Russischen Revo- ralen Teil der Weltrevolution verstanden und lution wurde schließlich auch der ab Sommer weil sie deswegen in der Offensive eines re- 1918 offen und mit äußerster Härte geführte volutionären Krieges gegen das noch kaiser- Bürgerkrieg, in dem zahlreiche Interventions­ liche Deutschland Möglichkeiten zur Initial- truppen sowohl der Mittelmächte als auch zündung dieser Revolution – nicht zuletzt in der alliierten Entente-Staaten die monarchis- Deutschland selbst – erkennen wollten. «Die tischen «Weißen Armeen» gegen die «Roten» Notwendigkeit der kommunistischen Um- unterstützten. wälzung», schrieben Nikolai Bucharin und Die Bolschewiki setzten nun endgültig auf Jewgeni Preobraschenski 1919 in ihrer popu- strengste Zentralisierung und maximale Ge- lären Erläuterung des bolschewistischen Par- schlossenheit, auf hierarchische Kommando- teiprogramms, «wird vor allem dadurch her- methoden und die Abkehr vom imperativen vorgerufen, dass Russland allzu sehr in das Mandat. Man rief den «roten Terror» gegen System der Weltwirtschaft hineingezwängt alle Feinde der Sowjetmacht aus, baute er- 12 Zur Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution

folgreich eine millionenstarke Rote Armee auf Polizei, Bürokraten und stehendes Heer› zu und eine bald gefürchtete Geheimpolizei, die errichten.»14 Tscheka, mit der man sich erfolgreich der aus- Mit der im März 1921 eingeführten Neuen und inländischen Konterrevolution erwehrte. Ökonomischen Politik (NÖP) liberalisierten die Unter den Bedingungen dieser Bürgerkriegs­ Bolschewiki schließlich die Ökonomie. Man ökonomie errichtete man eine proletarische kehrte zur freien Bauernwirtschaft zurück, Versorgungsdiktatur, die mit jeder Form ka- zum Kleingewerbe und zum Kleinhandel, be- pitalistischer Marktwirtschaft Schluss mach- hielt aber die Staatskontrolle über den Großteil te. Aus der Not machte man eine Tugend, der Industrie und das ausgedehnte Genossen- aus dem «Kriegskommunismus»12 eine Vor- schaftswesen. Auch in der Kulturpolitik ging man neue, liberale Wege, die in den 1920er Jahren zu Nach dem dreijährigen Bürger­krieg einer bemerkenswerten kul- fehlte der Avant­garde des Proletariats turellen Blüte führten. Doch die sie einstmals stützende Klasse. politisch etablierte sich eine autoritäre Führung, als de- wegnahme sozialistischer Emanzipation – bis ren Wächter sich eine neuartige Staats- und man 1920/21 mit dem erfolgreichen Ende des Parteibürokratie bildete. Hierbei kam es zu ei- Bürgerkrieges erkennen musste, dass Sow- nem allmählichen Ausleseprozess, bei dem jetrussland «ein Ungeheuer von Verwüstung diese neue Bürokratie ihren Führer schließlich und Armut»13 geworden war. Die europäi- in jenem Stalin fand, der dank seiner außerge- schen Aufstandsversuche waren alle, zum Teil wöhnlichen Fähigkeiten, seines despotischen überaus blutig, niedergeschlagen worden – Charakters und seiner Skrupellosigkeit für die Sowjetrussland blieb vorerst isoliert und war Ausübung des Machtmonopols am besten auf sich zurückgeworfen. geeignet war. Die russische Bauernschaft hatte die Bol- schewiki im Bürgerkrieg zwar unterstützt, da 1 Vgl. Hobsbawm, Eric: Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frank- diese sie vor der Rückkehr der alten Grund- furt a. M. 1989. 2 Lorenz, Richard: Sozialgeschichte der Sowjetuni- besitzer und des Adels erfolgreich schützten. on I: 1917–1945, Frankfurt a. M. 1976, S. 42. 3 Trotzki, Leo: Vertei- digung der Russischen Revolution (Kopenhagener Rede 1932), in: Einer sozialistischen Organisation der Land- ders.: Schriften, Bd. 1.1: Sowjetgesellschaft und Stalinistische Dik- wirtschaft dagegen standen sie überwiegend tatur 1929–1936, Hamburg 1988, S. 362–402, hier S. 374. 4 Plebe- jische Revolten zeichnen sich vor allem durch ihren hohen Anteil an indifferent bis ablehnend gegenüber. Die rus- Bauern und Handwerkern aus, sind also stark vorkapitalistisch ge- sische Arbeiterschaft dagegen war im drei- prägt. 5 Anweiler, Oskar: Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden 1958, S. 64. 6 Auch philosophisch hatte Lenin begonnen, den jährigen Bürgerkrieg weitgehend dezimiert Marxismus sozusagen neu zu lesen, indem er erstmals umfassend die Hegel’sche Dialektik studierte; vgl. hierzu Anderson, Kevin: Le- worden. Ihre klassenbewussten Teile waren, nin, Hegel, and Western , Urbana/Chicago 1995, sowie Brie, wenn nicht tot, so zum großen Teil in die po- Michael: Lenin neu entdecken, Hamburg 2017. 7 Dies der Titel der ursprünglichen Fassung von Lenins Schrift, die erst später aus ideo- litischen und ökonomischen Verwaltungsor- logischen Gründen in «Der Imperialismus als höchstes Stadium des gane gewechselt. Der Avantgarde des Pro- Kapitalismus» umbenannt wurde. 8 Vgl. Lukács, Georg: Lenin. Stu- die über den Zusammenhang seiner Gedanken, Wien 1924. 9 Med- letariats fehlte so die sie einstmals stützende wedjew, Roy: Oktober 1917, Hamburg 1979, S. 95. 10 Hildermei- Klasse. In der rücksichtslosen Grausamkeit er, Manfred: Die Russische Revolution 1905–1921, Frankfurt a. M. 1989, S. 248. 11 Bucharin, Nikolaj/Preobraschenskij, Jewgenij: Das des Bürgerkriegs waren Staat und Gesell - ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der schaft gründlich verwandelt worden: «Die Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) (1919), Zürich 1985, S. 284 f. 12 Das klassische Werk über den Kriegskommunis- Ironie der Geschichte», schreibt Isaac Deut- mus bietet Kritzman, Leo N.: Die heroische Periode der großen russi- schen Revolution (1924), Frankfurt a. M. 1971. 13 Deutscher, Isaac: scher, «nahm bitter an den Männern Rache, Die unvollendete Revolution 1917–1967 (1967), Hamburg 1981, die darangegangen waren, einen Staat ‹ohne S. 186. 14 Ebd., S. 187. Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution 13

Alexandre Froidevaux LIBERTÄRE UND SOZIALREVOLUTIONÄRIN­ NEN IN DER ­RUSSISCHEN ­REVOLUTION (1917–1921) VOM SCHEITERN DER «DRITTEN REVOLUTION»

AnarchistInnen und Linke Sozialrevolutio- lem die Frage, wie der Kommunismus zu er- närInnen übten 1917/18 großen Einfluss auf reichen sei. Die Bolschewiki setzten auf eine das russische Proletariat aus. Doch am Ende straff organisierte Kaderpartei und sahen in konnten sie sich mit ihren rätedemokratischen der «Diktatur des Proletariats» eine notwendi- Ideen nicht durchsetzen. ge Zwischenstufe. Die AnarchistInnen dage- Wie wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts gen warnten vor jeder Art von Diktatur. Eine wohl verlaufen, wenn es in der Russischen Übergangsperiode zum Kommunismus hiel- Revolution statt zu einer Verstaatlichung der ten sie nicht für notwendig. Betriebe zu einer direkten Arbeiterkontrol- Parteien und den bürgerlichen Parlamentaris- le durch Fabrikkomitees gekommen wäre? mus lehnten die AnarchistInnen ab. Als Mittel Wenn sich eine echte Rätedemokratie anstelle im Klassenkampf setzten sie auf die «direkte einer Einparteiendiktatur etabliert hätte? An- Aktion»: Streiks und Massendemonstratio- hängerInnen solcher Optionen gab es unter nen, Boykott und Sabotage, Besetzungen und den russischen ArbeiterInnen und BäuerInnen Enteignungen. viele. Basisdemokratie, wie wir heute sagen wür- den, war für die AnarchistInnen ein zentrales AnarchistInnen Prinzip herrschaftsfreier Organisierung. Hin- Der Anarchismus brachte in Russland mit zu kam die Idee eines föderalen Dezentralis- Michail Bakunin (1814–1876) und Pjotr Kro- mus: Statt großer Staatsgebilde sollten kleine potkin (1842–1921) zwei seiner herausra- autonome Einheiten – Fabriken oder (Land-) genden theoretischen Köpfe hervor. Beide Kommunen – das gesellschaftliche Leben or- mussten allerdings aufgrund der politischen ganisieren. Wie andere Richtungen der Ar- Verfolgung im zaristischen Russland die meis- beiterbewegung sahen auch die AnarchistIn- te Zeit ihres Lebens im Exil verbringen. nen in einer breiten Bildungsbewegung einen Die AnarchistInnen – oder Libertäre, wie sie wichtigen Schlüssel zur Emanzipation. Zu ei- sich auch nannten – kämpften für eine Welt, ner Zeit, als sehr viele RussInnen weder lesen in der es keine «Herren» und keine «Sklaven» noch schreiben konnten. mehr gäbe. Sie wollten die Monarchie, ja, den Im 19. Jahrhundert war der russische Anar- Staat an sich, ebenso abschaffen wie die ka- chismus vornehmlich die Sache von Intel- pitalistische Klassengesellschaft. Kirche und lektuellen gewesen. Die libertären Narodniki Religion bekämpften sie, weil sie in ihnen («Volkstümler») versuchten in den 1870er Jah- Stützen der absolutistischen Zarenherrschaft ren, die BäuerInnen zu agitieren. Zu dieser Zeit sahen. Die neue, zu erringende Gesellschafts- waren die allermeisten RussInnen BäuerIn- form nannten sie «Anarchie» (Herrschaftsfrei- nen. heit) oder «libertärer Kommunismus». Angesichts der schreienden sozialen Unge- Von MarxistInnen wie den Menschewiki und rechtigkeiten und der politischen Unterdrü- Bolschewiki trennte die AnarchistInnen vor al- ckung im Zarenreich sahen manche Narodniki 14 Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution

Attentate als ein geeignetes Mittel revolutio- Werte verbreiten. Im Zentrum stand die «ge- närer Tat an. So starb Zar Alexander II. 1881 genseitige Hilfe» zwischen den Menschen, an den Folgen eines Bombenanschlags. Die also Solidarität statt (kapitalistische) Konkur- Konsequenz war allerdings nicht das Ende der renz. Die AnarchokommunistInnen gaben mit absolutistischen Monarchie, sondern die Zer- Anarchija und Burevestnik zwei wichtige Zei- schlagung der Narodniki-Bewegung. Die aller- tungen heraus. meisten AnarchistInnen lehnten terroristische Vor allem Intellektuelle, KünstlerInnen und Methoden strikt ab. Manche RevolutionärIn- Bohemiens hingen der individualistisch-an- nen setzten dennoch immer wieder auf Atten- archistischen Strömung an, die von den Ide- tate, auch über die anarchistische Bewegung en Max Stirners und Friedrich Nietzsches hinaus. inspiriert war. Sie betonten die Freiheit des In- Nach der Wende zum 20. Jahrhundert or - dividuums und stellten sich gegen kollektive ganisierte sich der russische Anarchismus Zwänge – auch gegen solche, die von klas- zunehmend. Dabei bildete sich eine syndi- senkämpferischen Organisationen ausgin- kalistische, eine kommunistische und eine in- gen. Manche von ihnen verübten aufsehener- dividualistische Strömung heraus. regende Attentate. AnarchosyndikalistInnen Die AnarchosyndikalistInnen setzten ganz auf und AnarchokommunistInnen kritisierten den klassenkämpferische Gewerkschaftsorgani- individualistischen Flügel scharf. sationen (Syndikate). Revolutionäre Aktion Eine vierte Strömung schließlich berief sich war für sie der Kampf um die Produktionsmit- auf Leo Tolstoi (1826–1910). Tolstoi war nicht tel: Die ArbeiterInnen sollten die Fabriken in nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern Besitz nehmen und über Fabrikräte kontrollie- verfocht auch einen vom Christentum inspi- ren. Einflussreiche AnarchosyndikalistInnen rierten gewaltfreien Anarchismus. Die Ge- waren Satow und . Sie gaben gemein- waltfrage war einer der großen Streitpunkte sam mit weiteren GenossInnen die Zeitung innerhalb der anarchistischen Bewegung, die Golos Truda heraus. Ihre Bewegung war zah- allgemein ziemlich uneinig war. lenmäßig nicht besonders stark, hatte jedoch Zugleich bildeten die beschriebenen Strö- 1917/18 erheblichen Einfluss auf die revoluti- mungen keine einheitlichen Blöcke. Weder in onären ArbeiterInnen in den Metropolen Pe- organisatorischer Hinsicht noch in Bezug auf trograd und Moskau. Bei den BäuerInnen, der das Programm waren klare Grenzen auszu­ breiten Masse der Bevölkerung, fanden sie machen.2 mit ihren Ideen dagegen wenig Gehör.1 Den Begriff «Anarchokommunismus» prägte SozialrevolutionärInnen Pjotr Kropotkin. Kernidee seines Denkens war, Zahlenmäßig machten die anarchistischen dass jeder Mensch «nach seinen Fähigkeiten Strömungen nur einen kleinen Teil der revo- und nach seinen Bedürfnissen» leben können lutionären Bewegung aus. Dagegen war die solle. Eine Entlohnung nach Leistung lehnten Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) mit ei- die AnarchokommunistInnen ab. Im Zentrum ner Million Mitglieder im Jahr 1917 die größ- der libertären Gesellschaft stand bei ihnen te russische Partei.3 Sie hatte sich im Winter nicht die Fabrik, sondern die autonome Ge- 1901/02 gegründet. Die SozialrevolutionärIn- meinde (Kommune). Daher konnten Anarcho- nen waren politische Nachfolger der Narod- kommunistInnen an die bäuerliche Lebens- niki und erbten von diesen zwei Dinge: ihre welt anknüpfen. Kropotkin wollte – ganz im Hinwendung zur Klasse der BäuerInnen sowie Sinne emanzipatorischer Bildung – vor allem die Bejahung terroristischer Methoden, also anarchokommunistische Ideen und ethische von Attentaten. Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution 15

Ideologisch standen die SozialrevolutionärIn- zwangsläufig auf eine sozialistische Weltge- nen zwischen Marxismus und Anarchismus. sellschaft zulaufe. Sie propagierten dagegen – Anders als Karl Marx waren sie der Überzeu- ähnlich wie Kropotkin – eine ethische Reifung gung, dass auch die BäuerInnen – und nicht der Menschen, die den Kommunismus ermög- allein die ArbeiterInnen – das Subjekt der Re- lichen würde. Anders als die AnarchistInnen volution sein könnten. Sie stützten ihre Auf- gingen sie jedoch von der Notwendigkeit ei- fassung auf die starke ländliche Tradition ner revolutionären Übergangsperiode aus. Die dörflicher Selbstverwaltung («Mir») und die Linken SozialrevolutionärInnen waren davon gemeinschaftliche Bewirtschaftung von All- überzeugt, dass zunächst die AnhängerInnen mende-Ländereien. Nach ihren Vorstellungen der alten Ordnung besiegt werden müssten. sollte der landwirtschaftliche Boden soziali- siert werden. Der Gegensatz zwischen Stadt Februarrevolution und Land würde sich auflösen, wenn die Fa- Es war eine von Verzweiflung angetriebene briken für die Bedürfnisse der Dörfer produ- Hungerrevolte, die Anfang 1917 zum Sturz zierten. des Zaren Nikolaus II. führte. Es ist wichtig, Wie die AnarchistInnen sahen auch die Sozi- sich zu vergegenwärtigen, dass keine Partei, alrevolutionärInnen in den Räten die Organe keine revolutionäre Organisation diesen Auf- einer zukünftigen dezentralen Produktion. Als stand organisiert hatte. Vielmehr hatte eine spontane Massenbewegung die jahrhunder- telange Herrschaft der Romanow-Dynastie Die SozialrevolutionärInnen gestürzt. hatten ihre soziale Basis auf Umso mehr kam es aber in der folgenden Zeit dem Land, wo die aller­ zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb meisten RussInnen lebten. der russischen Linken: Wer würde sich mit seinen revolutionären Vorstellungen durch- Organisationsform wählten sie jedoch anders setzen? Es ging vor allem um die Rolle der als jene eine Partei. Einigkeit war jedoch keine Sowjets (Räte), um die Haltung zur Provisori- Stärke der PSR. Bereits 1906 spaltete sich von schen Regierung und um die Frage, ob eine ihr ein libertärer Flügel ab, die MaximalistIn- Übergangsperiode zum Kommunismus nötig nen. Für sie, wie für die AnarchosyndikalistIn- sei und wie diese zu gestalten sei. nen, waren die Gewerkschaften die wichtigs- Die drängenden politischen und sozioökono- te Organisationsform der Arbeiterklasse. Die mischen Probleme der Stunde waren die aku- MaximalistInnen lehnten Parteien ab und kriti- te Versorgungskrise und der Weltkrieg, der sierten deren autoritären Zentralismus. Sie sa- Landhunger der BäuerInnen und die Forde- hen in den Räten die grundlegenden Entschei- rungen der ArbeiterInnen nach Verbesserung dungsgremien einer dezentral organisierten ihrer sozialen Lage. Zum Zeitpunkt der Revo- revolutionären Gesellschaft. Die Parole «Alle lution befanden sich viele Bolschewiki und Macht den Räten» soll von den MaximalistIn- AnarchistInnen – darunter Lenin und Kropot- nen geprägt worden sein. kin – im Exil in Westeuropa oder in den USA. Nach der Oktoberrevolution spaltete sich die Sie mussten erst neue organisatorische Struk- PSR in einen rechten und einen linken Flügel. turen schaffen. Die Linken SozialrevolutionärInnen teilten die Die SozialrevolutionärInnen verfügten dage- marxistische Vorstellung nicht, wonach die gen bereits über eine Massenbasis. So waren Geschichte der Menschheit aufgrund der öko- sie im Frühjahr 1917 gemeinsam mit den so- nomischen Entwicklung mehr oder minder zialdemokratischen Menschewiki der bestim- 16 Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution

mende Teil der Arbeiterbewegung. Die beiden Bestätigt konnten sie sich dadurch sehen, Strömungen stellten die große Mehrheit der dass es Parteiführer Wiktor Tschernow als Mi- Delegierten des Petrograder Sowjets und der nister der Koalitionsregierung nicht gelang, ei- Räte anderer Städte. ne Agrarreform auf den Weg zu bringen. Und Die Menschewiki und moderaten Sozialrevo- dabei lag doch genau darin die zentrale politi- lutionärInnen teilten die Auffassung von Karl sche Forderung der Sozialrevolutionären Par- Marx, dass die Entfaltung des Kapitalismus tei! Infolgedessen ergriffen die BäuerInnen eine notwendige Bedingung für den Kom - die Initiative und enteigneten Teile des Groß- munismus sei. In Russland war die kapitalis- grundbesitzes. tische Entwicklung allerdings noch nicht sehr Außerdem führte der neue sozialrevolutionäre weit fortgeschritten. Folglich müsse zuerst die Kriegsminister Alexander Kerenski den Krieg – Bourgeoisie ihre bürgerlich-demokratische erfolglos – weiter. Dagegen agitierten die Linken Sozialrevolutionä- rInnen um Marija Spirido- «In aller Eile schickte die Regierung nowa vehement. Sie traten berittene Militärabteilungen gegen für einen sofortigen Waf- die Demonstranten. Doch die Arbeiter fenstillstand und für die ließen sich nicht beeindrucken.» (Volin) Aufnahme von Verhand- lungen über einen Frie- Revolution vollziehen. Aus diesem Grund be- densschluss ohne Annexionen ein. Im Sinne teiligten sich beide Parteien zunächst nicht an eines proletarischen Internationalismus arbei- der Provisorischen Regierung. teten sie auch mit den sozialistischen Parteien Unterdessen wuchs angesichts des verhee- anderer Länder zusammen. renden Kriegs der Unmut unter den Proleta- Zwischen Februar und Oktober verschob rierInnen und BäuerInnen. Es hatte zwar auch sich die revolutionäre politische Landschaft schon vor der Februarrevolution Kriegsdienst- in Russland deutlich nach links. Insbesonde- verweigerungen gegeben, aber im Frühjahr re die ArbeiterInnen erhofften sich immer we- und Sommer 1917 desertierten Soldaten in niger von der Provisorischen Regierung. Sie großer Zahl. Sie wollten sich nicht für die im- setzten stattdessen auf politische Selbstbe- perialistischen Kriegsziele opfern, die nach stimmung durch Sowjets und Betriebsräte. dem Sturz des Zarenreiches erst recht sinnlos Die Linken SozialrevolutionärInnen erhiel- erschienen. Zudem waren unter den BäuerIn- ten nun größeren Zulauf. Waren sie im Früh- nen die pazifistischen Ideen Tolstois weit ver- jahr 1917 noch eine zersplitterte Gruppierung, breitet.4 stellten sie beim Parteirat im August immer- Massendemonstrationen am 21. und 22. Ap- hin 40 Prozent der Delegierten. Da jedoch ril 1917 sowie der Widerstand des Petrograder ihr revolutionärer Kurs mit dem der modera- Sowjets gegen die imperialistische Kriegspoli- ten SozialrevolutionärInnen unvereinbar war, tik des Außenministers Pavel Miljukow zwan- spaltete sich die Partei kurz nach dem Okto- gen diesen zum Rücktritt. In der Folge traten berumsturz in einen linken und einen rechten die SozialrevolutionärInnen an der Seite der Flügel. Menschewiki in die Provisorische Regierung Im Zuge des politischen Linksrucks des Pro- ein. Dieser Schritt führte unter den Sozialre- letariats näherten sich Linke Sozialrevolutio- volutionärInnen zu erheblichen Spannungen, närInnen und AnarchistInnen, Bolschewiki denn die Linken unter ihnen lehnten jede Zu- und MaximalistInnen im Sommer 1917 an. sammenarbeit mit bürgerlichen Kräften ab. Ihre Losungen waren dieselben: «Alle Macht Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution 17

den Räten!», «Arbeiterkontrolle!», «Land und wort lautet, dass die AnarchistInnen in dem Freiheit!». Sie teilten die Gegnerschaft zur eher taktisch begründeten «ultralinken» Kurs Provisorischen Regierung und waren für die der Partei Lenins fälschlicherweise eine Ab- Beendigung des Weltkrieges. Nach der Nie- kehr vom Ziel der Diktatur des Proletariats er- derschlagung des Kornilow-Putsches Ende kannt hatten. Allgemein fehlte es ihnen dar- August, einer gegenrevolutionären Militär- über hinaus an organisatorischer Stärke und revolte gegen die Regierung Kerenski unter klassenkämpferischer Erfahrung. Anders als Führung des Generals Lawr Kornilow, wurden in Spanien 1936 hatten die AnarchistInnen in sogar Rufe nach einer sozialistischen Allpar- Russland keine starke Gewerkschaftsbewe- teienregierung laut. gung aufbauen können. Die AnarchistInnen hatten sich bis zum Som- mer 1917 erfolgreich reorganisiert. In Petro- Die Frage der Räte und grad soll es 30.000 bis 40.000 libertäre Akti- die Theorie von der «dritten vistInnen gegeben haben.5 Dank intensiver Revolution» Agitation verbreiteten sich insbesondere an- Die Parole «Alle Macht den Räten» war im archosyndikalistische Ideen unter den rus- Sommer und Herbst 1917 außer bei den sischen ProletarierInnen: Arbeiterkontrolle Menschewiki und SozialrevolutionärInnen im durch Betriebsräte, Organisierung jenseits Munde aller RevolutionärInnen. Im ganzen von Parteien. Auch bewaffnete Einheiten wie Land bildeten sich Sowjets: Räte von Arbei- das 1. MG-Regiment oder die Kronstädter Ma- terInnen und Soldaten und, mit Verzögerung, trosen vertraten libertäre Überzeugungen. von BäuerInnen. Die Fabrikkomitees und Bau- Auf den Linksruck der proletarischen Basis ernräte schickten sich an, die Wirtschaft des reagierte Lenin mit einem «ultralinken» Kurs: Landes in die Hand zu nehmen. Die Bolschewiki übernahmen syndikalisti- Mit dem Allrussischen oder Obersten Sow- sche Forderungen und das Agrarprogramm jet entstand zudem eine revolutionäre Dele- der SozialrevolutionärInnen. Es kam zu einer giertenversammlung auf gesamtstaatlicher Art Kampfbund zwischen den AnarchistIn- Ebene. Doch welche Rolle den Räten tatsäch- nen und den Bolschewiki. Gemeinsam woll- lich zukommen sollte, darüber gab es unter- ten sie die Provisorische Regierung stürzen schiedliche Auffassungen. und organisierten Anfang Juli eine Massen- Die Linken SozialrevolutionärInnen übernah- demonstration in Petrograd. Doch die Regie- men 1917 die Zielvorstellung der Maxima- rung konnte den Aufstand unterdrücken. Trotz listInnen, nicht nur den Boden zu vergesell- des gemeinsamen Agierens machte Lenin im schaften, sondern auch die Fabriken. Uneins Anarchismus jedoch einen gefährlichen poli- blieben sie jedoch in der Frage, wie die Arbei- tischen und ideologischen Konkurrenten aus. terkontrolle über die Maschinen zu verwirkli- Er und seine Getreuen bekämpften zwischen chen sei. Während manche unter ihnen diese Februar und Oktober die anarchistischen Ide- Aufgabe den Betriebsräten zuweisen wollten, en mit intensiver . sprachen sich andere für eine Nationalisie- Weil das russische Proletariat nach der fes- rung aus – also für die Kontrolle durch staat- ten Überzeugung der AnarchistInnen 1917 liche Organe. In beiden Fällen wäre der Sozi- mehrheitlich libertär-syndikalistisch dachte, alrevolutionären Partei eine führende Rolle stellten sie sich im Nachhinein immer wieder zugekommen. die Frage: Weshalb hatten sich die Bolsche- Dies kritisierten die MaximalistInnen scharf. wiki dennoch mit ihrem staatssozialistischen Sie warnten gemeinsam mit den AnarchistIn- Kurs durchsetzen können? Eine mögliche Ant- nen vor den Gefahren, die von zentralistisch 18 Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution

geführten Parteien ausgingen. Für die Liber- einschätzung. Als Menschewiki und Sozialre- tären waren die Sowjets und Betriebsräte die volutionärInnen in den Sowjets die Mehrheit organisatorischen Keimzellen der kommen- innehatten, maßen die Bolschewiki in ihrer den kommunistischen Ordnung. Und sie hat- Propaganda den Räten wenig Bedeutung bei. ten konkrete Vorschläge, um autoritäre Ent- Als sie im September 1917 ihre Position in vie- wicklungen zu verhindern: Die Delegierten len Sowjets stark ausgebaut hatten, riefen sie: sollten derjenigen Versammlung gegenüber, «Alle Macht den Räten!»7 die sie gewählt hatte, Rechenschaft ablegen müssen. Die ArbeiterInnen sollten also ihre Oktoberrevolution VertreterInnen im Sowjet jederzeit abberufen Was als Oktoberrevolution in die Geschichte können. Diese sollten ein imperatives Mandat einging, war keineswegs nur eine bolschewis- ausüben: Sie durften im Sowjet nur beschlie- tische Unternehmung. Auch die Linken Sozi- ßen, wozu die Versammlung sie beauftragt alrevolutionärInnen, die AnarchistInnen und hatte. viele Sowjets und Betriebsräte beteiligten sich Angesichts der Blüte der Räte im Revoluti- am Sturz der Provisorischen Regierung.8 Die onsjahr 1917 erkannten die AnarchistInnen libertären Kronstädter Matrosen «stürmten» die Chance, den libertären Kommunismus zu gemeinsam mit bolschewistischen Einheiten erringen. Im Frühjahr des Jahres verbreite- das Winterpalais, wo sich die Regierung ver- te sich in anarchistischen Kreisen die Theo- sammelt hatte. rie der «dritten Revolution». Demnach würde Die AnarchosyndikalistInnen konnten im die Revolution in drei Etappen verlaufen: In Herbst/Winter 1917/18 in den Betrieben im- der ersten Phase würde die Bourgeoisie die mer mehr AnhängerInnen gewinnen. Doch Macht ergreifen und bürgerlich-demokrati- nun trat der Gegensatz zwischen den Revo- sche Rechte durchsetzen. In einem nächsten lutionskonzepten offen zutage. Der Bildung Schritt übernähmen dann die SozialistInnen des Rates der Volkskommissare unmittelbar die Macht. Sie würden die Fabriken verstaatli- nach dem Oktoberumsturz standen die meis- chen, den landwirtschaftlich nutzbaren Boden ten AnarchistInnen kritisch bis ablehnend ge- umverteilen und eine soziale Absicherung der genüber. ArbeiterInnen schaffen. In der «dritten Revo- Im Januar 1918 folgten zwei wichtige Ent- lution», der anarchistischen, nähmen schließ- scheidungen. Erstens lösten die Bolschewi- lich die ProduzentInnen selbst ihr Schicksal in ki das Parlament auf, nachdem sie bei den die Hand: über Selbstverwaltungsorgane wie Wahlen im November keine Mehrheit errun- die Betriebs- und Produktionskomitees. gen hatten. Aufgrund ihrer «apolitischen» Diesem Modell zufolge entsprach die Febru- Haltung unternahmen die AnarchistInnen arrevolution der ersten, die Oktoberrevolution nichts gegen die Entmachtung des «bürger- der zweiten Etappe. Doch die dritte blieb aus – lichen» Parlaments – und überließen den Bol- was entscheidend mit dem Verhältnis der schewiki endgültig die Macht. Denn in den Bolschewiki zu den Räten zusammenhing. 6 Sowjets stellten die Bolschewiki seit dem Im Zentrum von Lenins Revolutionskonzept Herbst 1917 die Mehrheit der Delegierten. standen nicht die Räte, sondern stand die Zweitens kämpften die AnarchosyndikalistIn- Kommunistische Partei als Avantgarde der Ar- nen Ende Januar auf dem Allrussischen Ge- beiterklasse. In den Räten sah Lenin nur eine werkschaftskongress für die Autonomie der Übergangsform zum «proletarischen Staat». Betriebsräte – ohne Erfolg. Die bolschewis- Die Haltung der Bolschewiki gegenüber den tische Regierung verstaatlichte die Betriebe Räten änderte sich je nach taktischer Lage- im Laufe des Jahres 1918. Damit verloren die Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution 19

AnarchosyndikalistInnen ihren politischen die Soldaten aufgefordert, sich mit den geg- Einfluss. nerischen Soldaten zu verbrüdern und die Die SozialrevolutionärInnen gewannen bei Front bewaffnet zu verlassen. Nun betrieben den Novemberwahlen mit 40 Prozent mit gro- sie den Aufbau von Partisanenverbänden, um ßem Abstand die meisten Stimmen. Aber sie die Reichswehr zu bekämpfen. Und sie riefen waren keine Einheit mehr. Die Linken Sozialre- zum Sturz der bolschewistischen Regierung volutionärInnen hatten zuvor die Bildung des auf, die sie als «konterrevolutionär» brand- Rates der Volkskommissare unterstützt. Die markten. rechten SozialrevolutionärInnen versuchten Manche der Partisaneneinheiten, «schwarze zwar, Widerstand gegen die Auflösung des Garden» genannt, bereicherten sich in Mos- Parlamentes zu organisieren. Doch obwohl sie kau bei Enteignungen. Dies nahmen die Bol- so viele Wählerstimmen gewonnen hatten, er- schewiki zum Anlass, gegen die anarchisti- hielten sie zu wenig Unterstützung. sche Bewegung loszuschlagen. Im April 1918 Im Frühjahr 1918 verzeichneten die Sozialre- verhaftete die Tscheka Hunderte AnarchistIn- volutionärInnen und Menschewiki bei Neu- nen und tötete Dutzende von ihnen. Trotzdem wahlen zu den Sowjets Erfolge. Die Bolsche- arbeiteten manche AnarchistInnen weiter mit

Unter den AnarchistInnen gab es pazifistische AnhängerIn­ nen Tolstois. Andere setzten im Klassenkampf auf das «Volk in Waffen». Soldatenräte sollten die Befehlsgewalt ausüben, die Kommandeure gewählt werden. wiki reagierten mit Repression. Manchen den Bolschewiki zusammen. Denn im nun fol- Sowjet lösten sie kurzerhand auf. Die Geheim- genden Bürgerkrieg standen sie vor einem polizei Tscheka verhaftete politische Gegner- schweren Dilemma: Eine Zusammenarbeit Innen als vermeintliche «Saboteure». mit der Roten Armee stützte zwar unweiger- Trotzdem, und obwohl bereits eine Zensur am lich den sozialistischen Staat und die Macht Werk war, gab es in den ersten Monaten des der Bolschewiki, ein Sieg der «weißen» Kräf- Jahres 1918 im neuen sozialistischen Staat te würde jedoch jede anarchistische Entwick- noch einen gewissen Meinungspluralismus lung im Keim ersticken. unter den revolutionären Kräften. Dies änderte Die sogenannten AnarchobolschewistInnen sich mit dem Frieden von Brest-Litowsk und beruhigten sich mit der Versicherung, dass dem innerrussischen Bürgerkrieg. Um den Repression und Terror gegen die antirevolu- unpopulären Weltkrieg endlich zu beenden, tionären Feinde notwendig seien, aber eine akzeptierte Lenin im Frühjahr 1918 in Brest-Li- vorübergehende Erscheinung bleiben wür- towsk einen Friedensschluss, dessen har- den. Das erwies sich als Illusion. Die Anarcho- te Bedingungen die Führung der deutschen bolschewistInnen verkannten, dass mit der Reichswehr diktierte. Festigung der bolschewistischen Macht jede Viele AnarchistInnen lehnten dies als Kapi- Grundlage für eine «dritte», libertäre Revoluti- tulation vor dem deutschen Militarismus ab. on verschwand. Abgesehen von den TolstoianerInnen waren Auch die internationalistischen Linken Sozi- sie keineswegs PazifistInnen. In der Bewaff- alrevolutionärInnen wandten sich angesichts nung des «Volkes» sahen sie eine demokrati- des Diktatfriedens von Brest-Litowsk gegen sche Maßnahme. Die AnarchistInnen hatten die Bolschewiki. Ihrer Meinung nach stützte 20 Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution

der Friede die kapitalistischen Eliten und be- Rote Armee Samara und zerschlug diesen Wi- hinderte die Weltrevolution. Folglich warfen derstandsversuch. sie den Bolschewiki Verrat an der Revolution vor. Ab Beginn des Jahres 1918 konnten die Die Machno-Bewegung Linken SozialrevolutionärInnen ihre Populari- in der Ukraine und der Auf­ tät und ihre Mitgliederzahl deutlich steigern. stand der Kronstädter Sie wurden somit zu einem ernst zu nehmen- ­Matrosen den Gegner der Partei Lenins. Nach dem Frie- Im Juli 1918 verabschiedete der Oberste Sow- densschluss verließen sie den Rat der Volks- jet eine Sowjetverfassung für das neue Russ- kommissare. land. Doch diese Bezeichnung war irrefüh- Derweil hielt die dramatische Unterversor- rend, denn nicht die Räte trafen die politischen gung der Städte an. Ab Mai 1918 ließen die Entscheidungen, sondern die Regierung. Bolschewiki zwangsweise Lebensmittel auf Die Sowjetrepublik war keine Rätedemokra- dem Land requirieren. Die BäuerInnen wehr- tie. Auch von einer «Diktatur des Proletariats ten sich, worauf die staatlichen Organe mit und der armen Bauernschaft», wie sie die Ver- harten Repressionsmaßnahmen reagierten. sammlung proklamierte, konnte keine Rede Nun entschlossen sich die Linken Sozialre- sein. Vielmehr hatte sich Mitte 1918 die Dikta- volutionärInnen zum bewaffneten Kampf. In tur der bolschewistischen Partei etabliert. Mit einer spektakulären Aktion tötete ein Kom- der Tscheka und der Roten Armee verfügte sie mando im Juli 1918 den deutschen Botschaf- über schlagkräftige Organe, um ihre Macht ter Wilhelm Mirbach, um den außenpoliti - durchzusetzen. schen Kurs Sowjetrusslands zu torpedieren. In der Ukraine und in Kronstadt (bei Petrograd) Die Tscheka reagierte mit erbarmungsloser kam es im revolutionären Russland noch zwei- mal zu größeren gegen- läufigen Entwicklungen. «Wir sind überzeugt, dass Freiheit Gemäß dem Vertrag von ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft Brest-Litowsk hatten öster- und Ungerechtigkeit, und Sozialismus reichisch-deutsche Trup- ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität pen die Ukraine besetzt. bedeutet.» (Michail Bakunin) Doch mit der Revolution in Deutschland und dem En- Gewalt. Im Sommer 1918 schaltete sie die de des Weltkrieges im November 1918 zogen Linken SozialrevolutionärInnen und die An- sich die Besatzungstruppen zurück. archistInnen als politische Gegner endgültig In den Wirren des russischen Bürgerkrieges aus. Viele landeten im Gefängnis, darunter die kämpfte fortan eine libertäre Bauernarmee un- führende Sozialrevolutionärin Marija Spirido- ter Nestor Machno gegen die antirevolutionä- nowa. Ende August 1918 feuerte die Sozialre- ren «weißen» Verbände. Die Machnowitschi volutionärin Dora Kaplan mehrere Kugeln auf hatten Verbindungen mit ukrainischen Anar- Lenin ab, doch Lenin überlebte. chistInnen. Diese wiederum schlossen sich Die rechten SozialrevolutionärInnen versam- mit russischen AnarchistInnen, die vor dem melten sich derweil mit den übrigen Fraktio- roten Terror geflohen waren, zur Gruppe «Na- nen des aufgelösten Parlaments in Samara bat» zusammen. Die Machnowitschi grün- an der Wolga. Im Juni hatten die Bolschewi- deten libertäre Schulen, Krankenhäuser und ki sie und die Menschewiki aus den Sowjets bäuerliche Kommunen. Sie führten eine radi- gedrängt. Doch Anfang Oktober eroberte die kale Agrarreform durch und etablierten Sow- Libertäre und SozialrevolutionärIn­nen in der ­Russischen ­Revolution 21

jets. In der akuten Kriegssituation konnten sie gräbnis in Moskau. Viele von ihnen kamen da- ihr konstruktives Programm freilich nur in An- für einen Tag aus dem Gefängnis frei. Es war sätzen verwirklichen. die letzte anarchistische Demonstration in So- Machno und seine Leute sahen in den «Wei- wjetrussland. ßen» die Hauptgefahr und paktierten immer wieder mit Trotzkis Roter Armee. Als die «Wei- 1 Bedeutende anarchosyndikalistische Bewegungen gab es auch in ßen» ausgeschaltet waren, wandte sich Trotzki Frankreich, Schweden, Deutschland, Argentinien und Spanien. Zu Spanien und der libertären Revolution der Jahre 1936 bis 1939 vgl. jedoch gegen die Machno-Bewegung. Er ließ Froidevaux, Alexandre (Hrsg.): 80 Jahre danach. Der Spanische Bür- Nestor Machno und sein Führungsstab fest- gerkrieg 1936–1939. Die spanische Gesellschaft und deutsche Inter- ventionen, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Materialien 14, setzen. Viele Machnowitschi wurden verhaf- Berlin 2016. 2 Vgl. Rublew, Dmitri Iwanowitsch: Die politische Posi- tet, nach Sibirien deportiert oder umgebracht.9 tion der Anarchisten in der russischen Revolution 1917–1918, in: Kel- lermann, Philippe (Hrsg.): Anarchismus und Russische Revolution, In Russland schwelte die Unzufriedenheit un- Berlin (im Erscheinen). 3 Vgl. Häfner, Lutz: «Nur im Kampf wirst Du ter den ArbeiterInnen angesichts der politi- Dein Recht erlangen!» Sozialrevolutionäre Maximalisten und Linke So- zialrevolutionäre in der russischen Revolution 1917/18. Ideologische schen und wirtschaftlichen Entwicklung wei- Grundlagen, Organisation und Handeln, in: ebd. 4 Vgl. Tolstojaner/ ter. Im Frühjahr 1921 kam es zu einer Welle innen: Massenhafte Kriegsdienstverweigerung, in: Graswurzelrevolu- tion 120/1987, S. 21. 5 Vgl. Naef: Revolution, S. 33. 6 Nach dem Ok- von Streiks. Im Februar 1921 erhoben sich die toberumsturz sprach auch Lenin von einer «dritten Revolution», mein- te damit aber etwas ganz anderes: Die erste Revolution war demnach Kronstädter Matrosen gegen die bolschewis- die von 1905, die Februarrevolution die zweite und die im Oktober tische Herrschaft. Sie forderten eine wahre die dritte; vgl. Hildermeier, Manfred: Die Sowjetunion 1917–1991, 3. Aufl., Berlin/Boston 2016, S. 13. 7 Vgl. Mergner, Gottfried (Hrsg.): Die Rätedemokratie. Lenin ließ den Aufstand bru- russische Arbeiteropposition. Die Gewerkschaften in der Revolution, tal niederschlagen. Eine «dritte Revolution» Hamburg 1972, S. 18 f. 8 Vgl. Naef: Revolution, S. 34. 9 Die Mach- no-Bewegung ist eine eingehendere Betrachtung wert, was hier aus fand nicht statt. Platzgründen nicht möglich ist. Zum Verhältnis der Machnowitschi Im selben Monat starb Pjotr Kropotkin. Tau- zum «Nabat» sowie zu weiteren Aspekten vgl. Schubin, Alexander: Die Machno-Bewegung und der Anarchismus, in: Kellermann (Hrsg.): sende AnarchistInnen kamen zu seinem Be- Anarchismus und Russische Revolution. 22 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

Philippe Kellermann ZUR WAHRNEHMUNG DER OKTOBER­ REVOLUTION UND DES BOLSCHEWISMUS IM INTERNATIONALEN ANARCHISMUS 1917 BIS 1923

Wenn man an die Russische Revolution denkt, war und nun mehr und mehr ihre alten Hoff- dann in erster Linie an die Oktoberrevolution, nungen auf die Entwicklung in Russland begra- den Sieg der Bolschewiki, und vielleicht hat ben musste. In den Jahren 1918/19 war allen man noch im Kopf, was sich in den darauffol- voran sie es gewesen, die in den USA massiv genden Jahren entwickelte: das System des ihre Stimme zur Verteidigung der Bolschewi- Stalinismus mit seinen unzähligen Toten und ki erhoben hatte. In ihrer Broschüre «The Truth dem Gulag. about the Boylsheviki» (Die Wahrheit über die Dies vor Augen, scheint eine Antwort auf die Bolschewiki), die sie kurz vor Antritt ihrer Haft- Frage nach dem Verhältnis der anarchisti- strafe (Anfang 1918) wegen antimilitaristischer schen Bewegung zum Ereigniskomplex «Rus- Agitation geschrieben hatte, verteidigte sie sische Revolution» relativ einfach: grund- diese sogar gegen die Kritik ihres alten anar- sätzliche Gegnerschaft. Denn was sollten ein chistischen Lehrmeisters Kropotkin; und sie Denken und eine Bewegung, die sich schon hatte eine von ihr bewunderte Sozialrevolutio- jahrzehntelang «gegen die Herrschaft, die Au- närin – Jekaterina Breschko-Breschkowskaja – torität in jeder Form»1 wandte, an einer Bewe- dafür attackiert, dass sie öffentlich gegen die gung, zumal einer marxistischen, überdies Bolschewiki Stimmung mache, womit sie der noch in Gestalt einer hierarchisch strukturier- Konterrevolution diene. ten Kaderpartei, positiv finden? Hatten nicht vielmehr gerade AnarchistInnen Erste Verwirrung: stets erklärt, dass «Sozialismus ohne Freiheit» Ist der Bolschewismus zu «Sklaverei und Brutalität» führen würde, 2 ein Anarchismus? «Stalin […] die Theorie und die Methoden, Der wohl zentrale Aspekt, warum es seit 1917 welche die Russische Revolution zerschlagen überhaupt zu einer positiven Bezugnahme auf und neue Ketten für das russische Volk ge- die Bolschewiki kommen konnte, wird von schmiedet haben, nicht neu erfunden»3 habe dem deutschen Anarchisten Ernst Friedrich und der Bolschewismus eigentlich nur eine erwähnt, als dieser 1923 an die «Waffenbrü- «Variante des faschistischen Systems»4 sei? derschaft beider im Kampf für die Freiheit» Oder wie der bekannte Anarchist Pjotr Kropot- erinnerte.6 Denn man darf nicht vergessen: kin noch kurz vor seinem Tod 1921 sagte: «Ha- Im Nachgang der Februarrevolution war es ben wir nicht stets auf diese Segnungen des in Russland zu einer Art «inoffiziellen Allianz» Marxismus in Aktion hingewiesen? Warum zwischen Anarchisten und Bolschewiki ge- nun erstaunt sein?»5 kommen.7 Beide einte der Wunsch nach Radi- Entscheidend aber ist, dass Kropotkins Ge- kalisierung des revolutionären Aufbruchs, der genüber erstaunt war und dass es sich hierbei nach dem Februar stagnierte, während große um eine Anarchistin handelte, nämlich Emma Teile der Bevölkerung immer unzufriedener Goldman, die zum Jahreswechsel 1919/20 aus wurden – und sich und ihre Forderungen ra- den USA nach Russland ausgewiesen worden dikalisierten. Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 23

Mit den Lenin’schen «April-Thesen» und der als «die große Passion, die uns alle mitriss. Übernahme von Parolen wie «Alle Macht den Im Osten ging, so glaubten wir, die Sonne der Räten», «Das Land den Bauern» und «Sofor- Freiheit auf.»13 tiger Frieden ohne Annexionen» deutete eini- Der im US-amerikanischen Exil lebende ita- ges darauf hin, dass sich die Bolschewiki mehr lienische Anarchist Luigi Galleani hat die Au- und mehr in eine Richtung bewegten, die viel ßenwirkung der Bolschewiki anschaulich eher an genuin anarchistische Vorstellungen beschrieben: «Die Sprache, die die Bolsche- erinnerte als an den orthodoxen Marxismus. wiki benutzten, war neu, unerwartet war ihre Diesen Eindruck hatten selbst manche Anar- Kühnheit, ihre Siege waren triumphal. Ihr exo- chistInnen in Russland – daher erklärte Emma tischer Name – Bolschewiki – klang mysteri- Goldman die Russische Revolution zu einem ös und schien schwanger vor stürmischen Er- «Wunder», unter anderem weil die «marxisti- innerungen, er zog alle Sympathien auf sich. schen Sozialdemokraten Lenin und Trotzki» Keiner wusste genau, was er bedeutete, aber anarchistische revolutionäre Taktiken anwen- niemand wollte ihn nach dem siegreichen den würden.8 Dieser Sichtweise entsprach Aufstand, der die glühenden avantgardisti- in gewisser Weise die Kritik der Menschewi- schen Kräfte – von den Anarchisten bis zu den ki, die Lenin zum Anarchisten erklärten: «Für Sozialisten – zusammengeschmiedet zu ha- die russischen Marxisten von heute», so der ben schien, nur auf eine Gruppe anwenden. führende orthodoxe Marxist Plechanow im Alle waren Bolschewiki!»14 Mai 1917, «ist es auch an der Zeit, zu begrei- Wenn sich nun schon in Russland selbst die fen, dass sie einen anderen Weg als die mo- Dinge derart ungewöhnlich darstellten, wa- dernen Bakunisten Leninschen Typs haben. ren sie umso verwirrender und komplizierter […] Ich wiederhole: Es handelt sich nicht dar- zu überschauen für die anarchistische Bewe- um, ob bei uns der Bolschewismus oder Men- gung in den Ländern der restlichen Welt, die schewismus den Sieg davonträgt. Es handelt zumeist etwa durch Pressezensur – wir be- sich darum, welche Ideen in unserem sozialis- finden uns ja anfangs noch mitten im Ersten tischen Milieu den Sieg davontragen, die Ide- Weltkrieg – weitestgehend von der jeweiligen en von Marx oder die Ideen von Bakunin.»9 Für Außenwelt abgeschnitten war. Nicht zuletzt die einen vertrat Lenin «Fieberphantasien»,10 deshalb kam es oftmals zu im Rückblick irritie- für die anderen zeigte sich, dass die Bolsche- renden Interpretationen. wiki sich in ihre Richtung bewegt hätten und So schreibt Anfang 1919: nun am «Scheideweg» ständen: «Marxismus «Wenn es aber wahr ist, wofür manche Nach- oder Anarchismus?»11 richt und unsre nach Beseligung und Wunder Da die «russische Revolution […] Europa aus zitternd verlangende Hoffnung spricht, dass dem furchtbaren Bann einer grauenvollen russische Bolschewiki […] über sich selbst, Hypnose»12 – gemeint ist der Weltkrieg – be- ihren theoretischen Doktrinarismus und die freit habe und dann als revolutionärer Weg zu Ödigkeit ihrer Praxis emporgestiegen sind, einer herrschaftsfreien Gesellschaft erschien, dass in ihnen Föderation und Freiheit über war sie zunächst allgemein begrüßt worden Zentralismus und militärisch-proletarische Be-

«Die Sprache [der] Bolschewiki […] war neu, unerwartet war ihre Kühnheit, ihre Siege waren triumphal. Ihr exotischer Name – Bolschewiki – klang mysteriös […]. Keiner wusste genau, was er bedeutete.» (Luigi Galleani) 24 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

fehlsorganisation Herr geworden sind, dass trauen könnte in einer außergewöhnlichen La- sie schöpferisch geworden sind und der In- ge abgeschwächt werden, es wird aber ganz dustrieproletarier und Professor des Todes im Gegenteil vom politischen Handeln der in ihnen vom Geist des russischen Muschik, Russen bestärkt.»17 vom Geist Tolstois, vom ewig einen Geist be- Nichtsdestotrotz dürften die Stimmen über- siegt worden ist, dann spricht das wahrlich wogen haben, die die Russische Revolution nicht für den in ihnen überwundenen Marxis- begrüßten und glaubten, sie sei auf einem gu- mus, sondern für den himmlischen Geist der Revolution, der, unterm klammernden Griff und der schnellenden Schleuder der Notwen- «Unser Misstrauen gegen­ digkeit, in den Menschen, zumal den russi- über der Regierung von schen Menschen, das Verschüttete freilegt Lenin und Trotzki entspringt und das heilig Verborgene zum Quellen und der geistigen Haltung, die Rauschen bringt.»15 wir Anarchisten instinktiv Zahlreiche Meldungen unterstreichen das all- gegenüber institutionali­ gemeine Durcheinander in einer Zeit, in der sierter und konstituierter sich alte Kategorien zu verflüssigen schienen. Autorität einnehmen.» Beispielhaft eine Notiz aus dem Jahr 1919, in (Il Risveglio) der berichtet wird: «Amerikanischen Blättern zufolge ist in Pittsburgh eine bolschewistische ten Weg, wie die folgende Stimme in der spa- Verschwörung entdeckt worden. Die Bolsche- nischen Tierra y Libertad: «Der Wind trägt den wisten wollten sich des Arsenals bemächti- Lärm eines ungeheuren Zusammenbruchs zu gen und die Waffen gegen die Stadt richten. uns herüber: Das alte Russland fällt, und es 21 Anarchisten wurden verhaftet.»16 reißt in seinem Sturz eine Welt der Infamie, der Verbrechen, der widerwärtigen Tyrannei Erste Kritik und Zurück­ und der niedrigen Knechtsgesinnung mit sich haltung angesichts der welt­ nieder. […] Natürlich hat die Russische Revo- weiten Konterrevolution lution nicht die Anarchie als soziale Ordnung Nichtsdestotrotz kam es schon früh zu öffent- verwirklicht. Denn um in Anarchie zu leben, lichen kritischen Stellungnahmen gegen die bräuchte es ein höheres Maß an Bildung und Bolschewiki, beispielsweise im Januar 1918 moralischem Bewusstsein, als das russische in wichtigen anarchistischen Zeitungen wie Volk es heute haben kann. […] Aber die Es- Il Risveglio (Genf), die Fraye Arbeter Shtime senz der anarchistischen Vorstellungen von (USA) oder L’Avvenire anarchico (Pisa). Bei- Ökonomie und Gesellschaft ist heute in Russ- spielhaft für solche Positionen sei ein Artikel land umgesetzt […]. Unsere Aufgabe ist es aus Il Risveglio vom Februar 1918 angeführt, nicht allein, den russischen Befreiern zu zei- in dem Francesco Porcelli festhält: «Ein zentra- gen, dass die Arbeiter der ganzen Welt geistig ler Baustein der anarchistischen Lehre ist die auf ihrer Seite stehen, sondern auch, mit un- absolute Ablehnung jeglicher Form von Re- seren Taten jene nachzuahmen, die die Prin- gierung. Unser Misstrauen gegenüber der Re- zipien der Gerechtigkeit und Gleichheit des li- gierung von Lenin und Trotzki entspringt der bertären Kommunismus umgesetzt haben.»18 geistigen Haltung, die wir Anarchisten instink- Der Kenntnis der wirklichen Lage in Russland tiv gegenüber institutionalisierter und konsti- standen nun nicht allein verschiedene äußere tuierter Autorität einnehmen. Dieses, unseren Hindernisse entgegen. Darüber hinaus befand theoretischen Prämissen entspringende Miss- sich ein Großteil der anarchistischen Bewe- Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 25

gung mitten in den «internationalen revolu- des Ganzen irrelevant, was wir über die Ereig- tionären Wirren der Jahre 1916–1923»19, so- nisse in Russland sagen – außerdem könnte es dass man auch anderes zu tun hatte, als sich falsch interpretiert werden und uns als Nach- ausgiebig und in Ruhe mit Russland zu be- ahmer der Reaktion erscheinen lassen.»20 schäftigen. Die Auseinandersetzung mit der «Russlandfrage» wurde zusätzlich überlagert Kritische Solidarität und all­ von der nun beginnenden alliierten Interven- gemeine Unübersichtlichkeit tion gegen Russland (Juni 1918 bis Oktober In Deutschland erklärte im De- 1919) und der Formierung der «Weißen» Ar- zember 1919 auf dem 12. Kongress der Frei- meen unter Denikin, Koltschak und Wrangel, en Vereinigung deutscher Gewerkschaften gegen die sich die übergroße Mehrheit der grundsätzlich: «Was die Partei der Bolsche- russischen Bevölkerung insgesamt zur Wehr wiki anbelangt, so ist unsere Stellung ihr ge- setzte, bis sie Ende 1920 vollständig geschla- genüber dieselbe wie allen anderen sozia- gen worden waren. listischen Parteien gegenüber. Wir stehen Angesichts dieser Situation hielten sich vie- einmütig auf der Seite Sowjetrusslands in sei- le AnarchistInnen mit ihrer Kritik zurück. So ner heldenmütigen Verteidigung gegen die schreibt – eine der gewich- Mächte der Alliierten und der Gegenrevoluti- tigsten Stimmen jener Zeit – in einem Brief, onäre, nicht weil wir Bolschewisten sind, son- den sein Adressat Luigi Fabbri umgehend ver- dern weil wir Revolutionäre sind. Im Übrigen öffentlichte, im Juli 1919: «Die Bolschewiki aber gehen wir unsern eignen Weg unbeirrt sind einfach Marxisten, sie sind ehrlicherwei- weiter, da wir fest überzeugt sind, dass er der se und konsequenterweise Marxisten geblie- richtige ist.»21 ben. […] Wir respektieren ihre Ehrlichkeit, be- Der internationale Anarchismus handelte hier wundern ihre Energie, aber wir sind mit ihnen nicht anders als viele AnarchistInnen in Russ- auf der theoretischen Ebene nie einverstanden land selbst, die sich angesichts der Bedro- gewesen, und wir werden uns nicht mit ihnen hung durch die Konterrevolution aufmachten, solidarisieren, jetzt, da sie von der Theorie zur vor allem diese zu bekämpfen.22 Dementspre- Praxis übergegangen sind. […] Lenin, Trotzki chend finden sich in anarchistischen Zeitun- und Genossen sind sicherlich echte Revolu- gen zu jener Zeit immer wieder Aufrufe zu So- tionäre, so wie sie die Revolution verstehen, lidaritätsdemonstrationen mit Russland und und werden sie nicht verraten. Sie schaffen zum Boykott von Hilfslieferungen für die kon- aber mit ihrer Regierung den Rahmen, den die terrevolutionären Kräfte. Nachkommenden benutzen werden, um von Wenn nun Rocker im obigen Zitat davon ge- der Revolution zu profitieren und sie zu töten. sprochen hat, dass man vom eigenen Weg als Sie werden die ersten Opfer ihrer eigenen Me- dem richtigen überzeugt sei, so traf dies kei- thoden und mit ihnen, fürchte ich, wird auch neswegs für den internationalen Anarchismus die Revolution fallen. […] Über die Details ha- in seiner Gesamtheit zu. Der Bolschewismus ben wir zu widersprüchliche und zu diffuse In- und seine Durchschlagskraft führten näm- formationen, um sie beurteilen zu können. Es lich auch zu hitzigen Diskussionen unter An- kann sein, dass viele Dinge, die uns böse er- archistInnen über die Tragfähigkeit der eige- scheinen, allein Konsequenzen aus der Situ- nen Revolutionsvorstellungen. Die Zeitschrift ation sind und dass in der besonderen Lage Der freie Arbeiter gab Ende 1919 diesbezüg- Russlands nichts anderes möglich gewesen lich folgenden Überblick über die bestehen- ist, als was geschehen ist. Es ist besser, abzu- den Meinungsverschiedenheiten: «Die inter- warten. Überhaupt ist es für die Entwicklung nationalen politischen und wirtschaftlichen 26 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

Verhältnisse gestalten sich immer verwickel- anarchistischen Kreisen eine wesentlich an- ter und treiben unaufhaltsam dem Chaos zu. dere Auffassung über den Bolschewismus […] In England hat der Bolschewismus einen als in der englischen Zeitung ‹The Spur›. Die besonders starken Verfechter in Guy Aldred, Redaktion von ‹Les Temps Nouveaux› geht in dem Mitarbeiter unseres Bruderorgans ‹The dem Programm, das sie in der ersten Num- Spur to › (Der Ansporn zum Kom- mer veröffentlicht, von dem Gesichtspunkt munismus). Gegenüber einer Behauptung aus, dass der Bolschewismus nichts anderes Pierre Ramus’, dass die Diktatur des Proleta- sei als Staatssozialismus, und noch dazu ein riats unnötig sei, entgegnet er, dass er sie für sehr zentralisierter und herrschsüchtiger, der unvermeidlich halte, dass auch Bakunin und nur mittels Gewalt sich hält. Es passe nicht die Idee der revolutionären in ihr Programm, dem Volk von oben her das Diktatur verfechten. Pierre Ramus sei ärgerlich Glück gleichsam aufzunötigen. Sie könnte an einen ‹guten Tyrannen› nicht glauben usw. Man ersieht, «Wir stehen […] auf der Seite Sowjet­ wie verschiedenartig die Auf- russlands […] gegen die Mächte der fassungen über den Bolsche- Alliierten und der Gegenrevolutionäre, wismus sind. Bei den Kapi- nicht weil wir Bolschewisten sind, talisten der verschiedenen sondern weil wir Revolutionäre sind.» Staaten und ihren rechtsso- (12. Kongress der Freien Vereinigung zialistischen Handlangern deutscher Gewerkschaften) und Zuhältern ist allerdings die Auffassung eine einheitli- auf die Räterepublik, weil sie den Kapitalismus chere. Von der leisesten Bewegung an, die mit nicht schnell genug zerstört. Aber Rom wurde dem Sozialismus ernstmachen möchte, bis auch nicht an einem Tage gebaut. Er (Ramus) zum Anarchismus bezeichnen sie alles als bol- erkenne keinen Unterschied zwischen der Rä- schewistisch.»23 teorganisation der Gesellschaft und dem par- Es gab jedenfalls nicht wenige AnarchistIn- lamentarischen Staate. Hier unterscheide er nen, bei denen, wie Fritz Brupbacher treffend sich offen von ihm. Aldred glaubt, dass jene schrieb, «das meiste, was unter dem Titel An- Anarchisten, die sich der Diktatur des Prole- archismus gegangen, einfach revolutionärer tariats als einer vorübergehenden Maßregel Wille war, und als im Bolschewismus eine Leh- widersetzen, gefährlich nahe daran sind, die re auftauchte, die das revolutionäre Element Sache der Reaktion zu unterstützen, obwohl enthielt, das in der Sozialdemokratie nicht ent- ihre Beweggründe die edelsten sein mögen. halten war, so wurden die scheinbaren Anar- Ja, unser englischer Kamerad versteigt sich in chisten und revolutionären Syndikalisten ein- seiner Polemik gegen Ramus zu dem Satze: fach und mit Leib und Seele Bolschewisten».24 Wenn der abstrakte Anarchismus der sozialen Diese Leute – man darf nicht vergessen, dass Revolution und dem Triumph des Proletariats der Marxismus im Grunde bis zur Oktoberre- entgegensteht, dann müsse er von jedem Sol- volution über keine revolutionäre Tradition dat der roten Flagge verworfen werden. Wir verfügte – waren dann oftmals vor allem in geben die Bemerkungen des Kameraden Al- Ländern, in denen der Anarchismus in der Ar- dred wieder, ohne sie zu den unsrigen zu ma- beiterschaft stärker vertreten war, die Gründer chen. Besonders wussten wir nicht, wieso der der in diesen Jahren entstehenden Kommunis- Anarchismus der sozialen Revolution im We- tischen Parteien.25 Wobei – auch dies gehört ge stehen sollte. […] In Frankreich hat man in zu der allgemeinen Unübersichtlichkeit – die- Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 27

se Parteien nicht unbedingt bolschewistisch mochte, hatten sie sich doch immerhin durch- in dem Sinne waren wie die Partei Lenins. Als gesetzt. Und gerade dies – vielmehr die da- diesbezüglich eine gewisse Klärung eintrat – mit gegebene Niederlage des Anarchismus – Kernaspekte wären hier die theoretischen Vor- führte auch zu Fragen, die teilweise in eine gaben zur «taktischen» Beteiligung am Parla- «Krise des Anarchismus» mündeten. Mühsam mentarismus und die berühmten 21 Punkte selbst hatte zu jener Zeit noch mit explizit po- zur Aufnahme in die Kommunistische Interna- sitivem Bezug auf die Bolschewiki gemeint: tionale (1920) –, wandten sich auch viele (ehe- «Lenins theoretische und praktische Anwei- malige) AnarchistInnen wieder vom Bolsche- sungen für die Durchführung der Revolution wismus ab. In gewisser Weise beispielhaft bis zur Verwirklichung der kommunistischen hierfür ist Erich Mühsam, der während seiner Ziele des Proletariats schufen neuen Boden, Haftzeit in die KPD eingetreten war, wozu er gaben dem revolutionären Kampf um die Be- erklärte: «Ich vollziehe hiermit meinen Eintritt freiung vom Kapitalismus neue Formen. Seine in die Kommunistische Partei Deutschlands. Lehren […] schlugen die Brücke, auf der sich Die Einigung des revolutionären Proletariats ist die Anhänger des von Kautsky und Bernstein notwendig und unaufschiebbar. Die Organisa- befreiten Marx und Bakunins begegnen kön- tion, in der diese Einigung allein möglich ist, nen, der Einigung des wahrhaft revolutionären ist in der K.P.D. gegeben. Ich hoffe, dass mei- Proletariats stehen keine unüberwindlichen ne anarchistischen Genossen, soweit sie im Schranken mehr im Wege. Wir kommunisti- Kommunismus die Grundlage der gerechten schen Anarchisten mussten allerdings einen Gesellschaft erblicken, meinem Beispiel folgen wichtigen Differenzpunkt zwischen den bei- werden. Die Überwindung des Staates in jeder den hauptsächlichen sozialistischen Schulen, Gestalt ist das Ziel Lenins so gut wie das uns- Bakunins Widerstand gegen eine Diktatur des rige. Ein Opfer der Überzeugung wird also von Proletariats zugunsten Marxens, preisgeben. niemandem verlangt. Die Genossen der K.P.D. Ich persönlich habe bereits zu Beginn der Re- aber bitte ich, mich und meine Kameraden im volution eingesehen, dass die proletarische Geiste treuer Kampfsolidarität aufzunehmen. Diktatur ein unumgängliches Mittel zur Erobe- Wir werden unsern Mann stellen, und der Zu- rung der Macht darstellt, und meine propa­ strom an Kampf und Verfolgung gewöhnter gandistische Tätigkeit dementsprechend aus- Rebellen wird die Tatkraft der Partei befeuern geübt. Der weitere Konflikt, die Frage nach und sie vor Verknöcherung und Verbonzung zentralistischer oder föderalistischer Organi- dauernd bewahren. Es lebe die Weltrevolution! sation wird durch die geniale Leninsche Lö- Es lebe die 3. Internationale!»26 sung, durch den Rätegedanken, zu einem Kaum zwei Monate später aber war Müh- Streit um Worte.»27 sams Gastspiel schon wieder beendet, da die Allgemeiner – als theoretisches und prakti- KPD-Zentrale den Ausschluss der antiparla- sches Problem – blieb diese Frage aktuell und mentarischen und revolutionär-syndikalisti- über den deutlich antibolschewistischen anar- schen AktivistInnen durchsetzte. chistischen Kongress 1921 wird beispielswei- se berichtet: «Durch den Gedankenaustausch Positionsfindung und bekam man den Eindruck, dass mehrere An- Krise des Anarchismus wesende leicht über die Frage der Übergangs- Mühsam steht aber noch für etwas anderes, zeit zwischen Kapitalismus und Anarchismus mit dem sich die anarchistische Bewegung hinweggehen. Es ist bequem, theoretisch je- seit jener Zeit herumschlagen muss. Denn de Diktatur und jeden revolutionären Milita- was immer man von den Bolschewiki halten rismus abzulehnen; es ist aber grundfalsch, 28 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

zu meinen, dass dadurch allein die revolutio- Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur grund- näre Entwicklung ohne allzu viele Schwierig- sätzlichen Gegnerschaft und Opposition ge- keiten sich durch die freie und spontane Selb- genüber dem Bolschewismus beitrug, war die storganisation des Proletariats verwirklichen Entwicklung der Kommunistischen Internati- wird. Was man bei dergleichen Besprechun- onale und die Art und Weise ihrer Beziehun- gen vergisst, ist die Tatsache, dass revolutio- gen zu den revolutionär-syndikalistischen und näre Unruhen und gesellschaftliche Umwäl- anarchistischen GewerkschaftsaktivistInnen. zungen immerfort wieder ausbrechen, nicht Denn als man anfangs noch keinerlei Verbün- nur lange bevor jeder Proletarier Anarchist dete hatte, waren die Bolschewiki gerade auf geworden ist, sondern schon selbst bevor die diese Kräfte angewiesen, weshalb sie auch anarchistische Propag- zunächst einen deut- anda die proletarische lich zuvorkommen- Masse durchdrungen «Der internationale den Ton anschlugen. hat. […] Es gab auf die- anarchistische Kongress Die gewissermaßen sem Kongress einen zu Berlin 1921 konstatiert paradoxe Situation Deutschen, der fast je- mit Genugtuung, dass die erzeugte dabei schon des Mal, wenn ein all- Anarchisten aller Länder während des II. Kon- zu leicht idealisieren- Gegner jeder Diktatur gresses (1920) Un- der Anarchist das Wort sind.» (Der Syndikalist) mut und eskalierte im führte, den Zwischen- Rahmen des Grün- ruf ausstieß: ‹Aber die Übergangszeit!› Er hat- dungskongresses der «Roten Gewerkschafts- te recht. Er berührte hiermit eine der schwie- internationale» (1921), als die syndikalisti- rigsten historischen und ethischen Fragen, schen/anarchistischen Delegierten über die in welche es für den Anarchisten geben kann.»28 der Sowjetunion inhaftierten AnarchistInnen Ungeachtet dieser Frage war gerade dieser informiert wurden. Kongress, der Ende Dezember 1921 in Berlin Dann vollzog sich die schon zuvor von deut- stattfand, ein wichtiges Ereignis für die inter- schen und schwedischen Anarchosyndika- nationale anarchistische Bewegung in ihrer listen anvisierte Gründung einer genuin re- Beziehung zu den Bolschewiki. Wie seinerzeit volutionär-syndikalistischen Internationale schon festgestellt wurde: «Der internationale (Dezember 1922), die in expliziter Oppositi- anarchistische Kongress zu Berlin 1921 kons- on zu den Bolschewiki und den Kommunisti- tatiert mit Genugtuung, dass die Anarchisten schen Parteien und deren Gewerkschaftsfor- aller Länder Gegner jeder Diktatur sind. Die mationen stand.30 Ereignisse in Russland haben die Richtigkeit Mit dem Jahreswechsel 1921/22 kam es zur unserer Auffassung über die Diktatur noch be- Ausreise von , Alexander stätigt. Auf diese Erfahrung gestützt, erklären Berkman und Alexander Schapiro. Außerdem die Anarchisten, dass sie mehr als jemals Fein- wurde eine Gruppe inhaftierter Anarchisten de jeder Diktatur sind; sei es eine Diktatur von (u. a. Volin, Maximow, Gorelik) mitsamt ihren rechts oder von links, die der Bourgeoisie oder Familien aus Russland ausgewiesen. Sie infor- die des Proletariats. Der Kongress gibt ein- mierten in der Folgezeit die Öffentlichkeit über stimmig der Meinung Ausdruck, dass in der die grausamen Zustände unter den Bolsche- Frage, die den ersten Platz in den revolutionä- wiki.31 ren Ereignissen der Gegenwart einnimmt, die All dies, gepaart mit der Konsolidierung des Anarchisten aller Länder keine gegenteiligen Bolschewismus als weitgehend «normale» Ansichten haben.»29 Staatspartei in einer kapitalistischen Umwelt, Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 29

mit der sie Beziehungen einzugehen begann Sozialismus (1919), Berlin 1989, S. 5 f. 16 Der Syndikalist (Berlin), 12.4.1919. 17 Il Risveglio (Genf), 16.2.1918. 18 Tierra y Libertad (Rapallo 1922), führte dazu, dass die anarchis- (Barcelona), 21.11.1917. 19 Van der Walt, Lucien/Schmidt, Micha- tische Bewegung in den Bolschewiki schließ- el: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus, Hamburg 2013, S. 219. 20 Volontà (Ancona), lich nicht mehr viel anderes sah als den Tod- 16.8.1919. 21 Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongreß der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin [1920], feind der Russischen Revolution und einen S. 59. 22 Ein perfides und ewig auf den Bolschewiki lastendes Ver- Teil der internationalen Konterrevolution in brechen besteht darin, diese revolutionäre Solidarität ausgenutzt und 32 ab April gleichzeitig massive Repressionswellen gegen die anarchis- ihrer schlimmsten Ausprägung, weshalb tische Bewegung in Russland eingeleitet zu haben. 23 Der freie Ar- der aus Russland geflohene Mark Mratsch- beiter (Berlin) 17/1919. 24 Brupbacher, Fritz: 60 Jahre Ketzer, Zürich 1935, S. 221. 25 In Portugal beispielsweise: «Alle Mitglieder der Fö- ny 1925 wohl für viele sprach, als er meinte: deration der Maximalisten Portugals und seiner [sic!] Ausschüsse sind «Früher oder später – hoffentlich früher als im Grunde genommen Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten, obgleich sie sich ‹Bolschewisten›, ‹Kommunisten›, ‹Maximalisten› später – wird die Welle des Volksaufruhrs die oder ‹Sowjetisten› nennen. Jeder, der sich in Portugal Bolschewist Bolschewisten wie eine stickige Dunstwolke nennt, ist Anarchist oder revolutionärer Syndikalist» (zit. nach: Merten, Peter: Anarchismus und Arbeiterkampf in Portugal, Hamburg 1981, wegfegen.»33 157 f.). 26 Der freie Arbeiter (Berlin) 20/1919. 27 Ebd. 28 de Ligt, Bart: Anarchismus und Revolution, Berlin 1922, S. 29 f. 29 Der Syn- dikalist (Berlin) 1/1922. 30 Vgl. Tosstorff, Reiner: Profintern. Die Rote 1 Kropotkin, Peter: Die Ordnung (1881), in: ders.: Worte eines Re- Gewerkschaftsinternationale 1920–1937, Paderborn 2004. 31 Hier- bellen, Reinbek 1972, S. 62–66, hier S. 64. 2 Bakunin, Michael: Die zu gehörte auch die Hilfstätigkeit für die Inhaftierten in Russland. In revolutionäre Frage (1868), Münster 2000, S. 62. 3 Goldman, Em- diesem Zusammenhang entstanden Aufklärungsbroschüren über die ma: Trotsky Protests Too Much, 1938, S. 3. 4 Volin: Die Verfolgung: Die wichtigsten sind die ursprünglich auf Russisch ver- unbekannte Revolution (ca. 1939), Berlin 2013, S. 300. 5 Zit. nach: fasste, dann auf Französisch und Deutsch publizierte Schrift «Die Ver- Goldman, Emma: Die Ursachen des Niederganges der russischen folgung des Anarchismus in Sowjetrußland (1924; frz. «Répression Revolution (1922), Berlin 1968, S. 59. 6 Friedrich, Ernst: Ich schwei- de l’Anarchisme en Russie Soviétique», 1923) sowie die Dokumen- ge nicht länger …, in: Die Verfolgung des Anarchismus in Sowjetruß- tensammlung «Letters from russian prisons» (1925). 32 «Nach Be- land, Berlin 1923, S. 3 f., hier S. 3. 7 Goldberg, Harold Joel: The endigung des Weltkrieges, nach dem Ausbruch der Revolution lag die Anarchists View the Bolshevik Regime, Madison 1973, S. 47. 8 Gold- Reaktion in allen Ländern am Boden. Jedoch nur für kurze Zeit. Sie man, Emma: The Truth about the Boylsheviki, New York o.J. [1918?], erholte sich bald von ihrem Schrecken und setzte dann mit um so grö- S. 4. 9 Plechanow, Georgi W.: Marxismus oder Bakunismus (1917), ßerer Gewalt ein. Heute ist sie siegreich in fast allen Ländern. Sie feiert in: ders.: 1917 – zwischen Revolution und Demokratie, Berlin 2001, Triumph über Triumph. Ihr Zentrum ist Italien, dann folgt Rußland. Von S. 63–66, hier S. 66. 10 Plechanow, Georgi W.: Über Lenins The- keinen anderen Ländern treffen Nachrichten ein, die erschütternder sen und warum Fieberphantasien bisweilen interessant sind (1917), wirken. Das italienische und das russische Volk leiden am schwers- in: ders.: 1917, S. 23–31, hier S. 30. 11 Golos Truda (Petrograd), ten unter einem Schreckensregime, das in rücksichtsloser Weise das 29.9.1917. 12 Der freie Arbeiter (Berlin) 31/1920. 13 Souchy, Au- Zepter der Macht schwingt. […] Die bolschewistisch-fascistische Re- gustin: Vorsicht Anarchist!, Reutlingen 1982, S. 33. 14 Cronaca so- aktion macht Schule» (Nieder mit dem Fascismus!, in: Der Syndikalist vversiva (Patterson), März 1919. 15 Landauer, Gustav: Aufruf zum (Berlin) 19/1923). 33 Die Internationale (Berlin) 3/1924, S. 26. 30 Die vielen Leben der Alexandra Kollontai

Gisela Notz DIE VIELEN LEBEN DER ALEXANDRA KOLLONTAI

Am 7. November 2017 jährt sich die Russi - Presse- und die Versammlungsfreiheit, das sche Revolution zum 100. Mal. Nach dem in Streikrecht und die Einführung des Achtstun- Russland verwendeten gregorianischen Ka- dentages. lender fand sie am 25. Oktober 1917 statt und Die folgenden Monate waren geprägt vom ging daher als Oktoberrevolution in die Welt- zunehmenden Konflikt zwischen den mitein- geschichte ein. ander konkurrierenden sozialdemokratischen Menschewiki, die sich für einen gemäßig- Die Februarrevolution 1917 ten bürgerlichen Staat und die Fortsetzung Bereits am Internationalen Frauentag am des Krieges einsetzten, und den Bolschewi- 23. Februar 1917 (nach «unserem» Kalender ki, die eine radikale Revolution mit sozialisti- 8. März) waren in Petrograd (St. Petersburg) scher Zielrichtung anstrebten und für soforti- Textilarbeiterinnen aus mehreren Textilfab- gen Frieden eintraten. Nach Lenins Rückkehr riken in den Streik getreten. Mit der Losung nach Russland im April 1917 begann ein «Brot, Frieden und Freiheit» wandten sie sich Wettlauf um die Neukonstituierung des Lan- gegen den Krieg und gegen die wirtschaft- des. Die Provisorische Regierung zögerte liche Not im autoritären Zarenregime, das bei der Landreform und bei der Bereitschaft, Frauen keine Rechte gewährte. Binnen weni- den Krieg fortzusetzen. Die Bolschewiki ka- ger Tage entwickelten sich die Streiks zu ei- men mit der Parole «Land und Frieden» einer nem Massenstreik, an dem sich etwa 90.000 verfassungsgebenden Versammlung zuvor.4 Menschen beteiligten. Die Aktionen münde- Nichtmarxistische linke SozialrevolutionärIn- ten kurz darauf in die russische Februarrevo- nen und anarchistische und anarchosyndi- lution.1 Der Internationale Frauentag wurde kalistische Bewegungen kritisierten das bol- zum ersten Tag der Revolution. Keine einzi- schewistische Konzept und brachten eigene ge Organisation hatte zu diesem Streik auf- Konzepte für die neue Staatsform ein. Die bür- gerufen.2 Die soziale Lage der Bevölkerung, gerliche Regierung verlor zunehmend an Au- die durch die kriegsbedingten Verluste Russ- torität. lands an Land und Menschen verschärft wur- de, war die Ursache für den Protest, der dann Die Oktoberrevolution 1917 drei Tage später zum Ende der Zarenherr - Schließlich ergriffen die Bolschewiki in der schaft führte. Die Armee lief in großen Teilen Oktoberrevolution mit den Losungen «Alle zu den Streikenden über und entwaffnete ihre Macht den Räten» und «Land – Brot – Frieden» Offiziere. In den Fabriken wurden Arbeiterrä- die Macht. Sie versprachen, die bis dato nicht te gebildet, an der Front und in den Kasernen eingelösten Versprechen der von bürgerlichen Soldatenräte.3 Parallel dazu wurde eine pro- und nichtbolschewistischen Linken getrage- visorische bürgerliche Regierung eingesetzt, nen Februarrevolution einzulösen. Der poli- die eine neue Staatsform ausarbeiten sollte. tische Umsturz war begleitet von einem tief Im Zuge der revolutionären Ereignisse gelang greifenden gesellschaftlichen Umbruch, der es, jahrzehntealte Forderungen der Arbeiter- Ökonomie, Kultur, Familien- und Geschlech- bewegung umzusetzen, dazu gehörten die terverhältnisse umfasste. Die vielen Leben der Alexandra Kollontai 31

In den westlichen demokratischen Staaten die Menschen an Front und «Heimatfront» ge- wurde und wird auch 100 Jahre später die nug vom Töten, von Hunger und Angst. 8 An Russische Revolution unterschiedlich inter- beiden «Fronten» regte sich offener Wider- pretiert. Die Oktoberrevolution wollte eine Re- stand, Frauen protestierten nicht mehr nur in den Schlangen, in denen sie für Brot und Lebensmittel Es war das erste Mal in der Geschichte, anstanden, sondern auch dass in einem Staat der Kommunismus auf öffentlichen Plätzen, zur Grundlage der Gesellschaft MunitionsarbeiterInnen erhoben wurde. streikten, Soldaten der fran- zösischen Armee und ih- volution für den Frieden sein, die Macht- und re in Frankreich kämpfenden russischen Ver- Eigentumsverhältnisse drastisch verändern, bündeten meuterten und mussten mit Gewalt Fabriken und Boden in die Hand des Volkes und Massenexekutionen zur Räson gebracht geben. Sie wollte, dass die einfachen Men- werden. Im Januar 1918 erschütterten große schen in basisdemokratischen Räten (Sow- Streiks gegen den Krieg Berlin und Wien.9 jets) ihr Leben und die Macht in die eigene Die großen Ideen, die russische Frauen beim Hand nehmen. Obwohl sie vieles nicht um- Umsturz vor 100 Jahren entwickelt haben, setzen konnte und anderes in dirigistische, sind so gut wie vergessen. Auch die Veran- verstaatliche Bahnen gelenkt wurde, muss- staltungen und Veröffentlichungen anläss- te sich die Revolution von Anfang an gegen lich des 100. Jahrestages räumen den betei- heftigen nationalen und internationalen Wi- ligten Frauen kaum Platz ein. Dabei stellten derstand wehren. So wurden Revolution und Februar- wie Oktoberrevolution Höhepunk- politisches Handeln in Russland radikalisiert te im Kampf für die Frauenrechte dar. Ohne und brutalisiert. Oft genug griffen die Revolu- die Frauen, die meist unbekannt blieben, wä- tionärInnen zu Mitteln, die dem eigenen hu- re die Revolution nicht erfolgreich gewesen. manistischen Anspruch zuwiderliefen. Trotz- Die Oktoberrevolution brachte eine entschei- dem verkörperte der «Rote Oktober» für die dende Verbesserung ihrer Lage. Frauen soll- Welt das – wenn auch unvollkommene – Bei- ten den Männern gleichberechtigt sein. Vie- spiel einer Ordnung des Friedens, der Gerech- les von dem, was damals verwirklicht wurde, tigkeit und sozialen Gleichheit.5 Zwar wurde wirkt heute wieder wie eine ferne Utopie. die Russische Revolution später als Teil ei- Eine herausragende Rolle spielte zweifellos ner revolutionären Welle im Gefolge des Ers- ­Alexandra Kollontai.10 ten Weltkrieges gesehen. «Die Revolution erwuchs unmittelbar aus dem Krieg, und der Alexandra Kollontai Krieg wurde allen Parteien und revolutionären ­(1872–1952) Kräften zum Prüfstein», so der Bolschewik Leo Die Schriften der russischen Revolutionärin Trotzki.6 Aber eigentlich waren die Ereignisse und späteren sowjetischen Botschafterin Ale­ in Russland 1917 ein Fanal für die im Westen, xandra Kollontai sind noch heute aktuell. Zeit- dann auch im Osten einsetzenden Revolutio- lebens setzte sie sich für die Emanzipation der nen, Aufstände, Umstürze gegen den Krieg, Frauen als zentrales Element der Revolution gegen die diskreditierten herrschenden Klas- ein. Alexandra Kollontai war eine schillernde sen und gegen nationale Unterdrückung.7 Die Person, deren Biografie und politisches Han- Ereignisse fanden in der zweiten Hälfte des deln Geschichtsforschende ganz unterschied- Ersten Weltkrieges statt. Zu dieser Zeit hatten lich interpretieren. 32 Die vielen Leben der Alexandra Kollontai

Die vielen Leben senen, weil sie sah, dass die armen Bauern- «Im Grunde habe ich nicht nur ein Leben, son- kinder, die ihre Spielkameraden waren, oft dern viele Leben gelebt, so sehr unterscheiden hungern und frieren mussten, «weil eben die sich die einzelnen Abschnitte voneinander. einen», wie ein Junge sie belehrte, «in Gold Es war kein leichtes Leben», schrieb Alexan­ und Silber gekleidet sind, und die anderen nur dra Kollontai in ihren Erinnerungen.11 Kollon- in Lumpen».16 tai war eine fleißige Tagebuchschreiberin. In Aus tiefer Leidenschaft heiratete sie 1893 ge- ihrem Buch «Mein Leben in der Diplomatie», gen den Willen der Eltern den Ingenieur Wla- das ihre «Diplomatischen Tagebücher» ver- dimir Kollontai und gebar einen Sohn. Aber eint, wird ihr vielschichtiges, bewegtes Leben die traditionelle Ehe und das Dasein als Mut- während der Zeit als erste Spitzendiplomatin ter und Hausfrau konnten sie nicht zufrieden- der Welt in den Jahren 1922 bis 1945 deutlich, stellen; sie wollte sich aus dem goldenen Kä- in das sie sich – ob weggelobt oder von Lenin fig gesellschaftlicher Konventionen befreien. gezwungen – nicht wirklich freiwillig begeben Deshalb verließ sie 1898 ihren Mann, über- hat.12 ließ das Kind zunächst ihren eigenen Eltern Alexandra Kollontai wurde am 19. März 1872 und widmete sich ihrer politischen Tätigkeit. in St. Petersburg in eine Gutsbesitzerfamilie Sie wandte sich dem Marxismus zu, studierte hineingeboren. Sie war das, was man «eine an der Universität Zürich Nationalökonomie, Tochter aus gutem Hause» nennt. Nach ih- trat in die illegale Sozialdemokratische Partei ren Aussagen hatte sie eine glückliche Kind- Russlands ein, organisierte sich in der Zweiten heit: Sie war «die Jüngste, die Überverwöhnte Internationale und begann, ihr Leben der Ar- und Überliebkoste».13 Ihre Eltern versuchten, beiterklasse und dem Kampf für die Befreiung sie vor der «revolutionären» Beeinflussung der Frauen zu widmen. Nachdem ihr Vater durch die Schule zu schützen, und stellten ei- 1901 gestorben war, lebte sie mit ihrem Sohn ne Kinderfrau ein, die sie zu Hause erziehen Mischa und Soja, ihrer Kindheitsfreundin, zu- und unterrichten sollte. Ihre Wahl fiel auf Ma- sammen, bis die gescheiterte Revolution von rie Strachowa. Wahrscheinlich wussten die El- 1905 sie in die Flucht trieb. So musste sie sich tern nicht, dass sie Mitglied der Ende des 19. zunächst von ihrem Vorhaben, innerhalb der Jahrhunderts noch im Untergrund agierenden Kommunistischen Partei autonome Frauenab- Arbeiterbewegung in St. Petersburg war und teilungen zu gründen, verabschieden. Alexandra mit sozialistischer Lektüre versorg- te. Alexandra hat ihr nicht nur ihre gute Aus- Feministin, Internationalistin bildung zu verdanken, sondern auch ihr politi- und ­Friedensaktivistin sches Bewusstsein, das dazu führte, dass sie Bereits bei der Auswertung der Klassenkämp- sich als junge Frau ebenfalls revolutionären fe von 1905 erkannte sie, dass die Arbeiter- Kreisen anschloss.14 bewegung ohne die aktive Beteiligung der Alexandra Kollontai war kaum 16 Jahre alt, Frauen und die Aufnahme der «Frauenfrage» als sie das Abitur machte. Sehr früh entstand in ihre Programme nicht erfolgreich sein kön- in ihr «ein Protest gegen alles, was mich um- ne.17 Dafür setzte sie sich zeitlebens ein. Mit gab. Man tat zu viel, um mich glücklich zu anderen Genossinnen gründete sie 1907 den machen. […] Dabei wollte ich frei sein, woll- ersten Arbeiterinnenclub. Es sollte nicht ein- te selbst wünschen, selbst mein kleines Leben fach ein Frauenclub sein, sondern sie woll - gestalten.»15 Verzichten musste sie damals te eine sozialistische Frauenbewegung, die auf nichts. Dennoch kritisierte sie schon als eng mit der Partei verbunden war, ins Leben kleines Kind die Ungerechtigkeit der Erwach- rufen. Wie Clara Zetkin (1857–1933), mit der Die vielen Leben der Alexandra Kollontai 33

sie viele Positionen teilte und eng zusammen- tung des Friedens betreffend», verabschiedet, arbeitete, grenzte sie sich scharf von der bür- ein Thema, das die Internationalistin und An- gerlichen feministischen Bewegung ab. Sie tikriegsaktivistin Kollontai besonders beschäf- vertrat die These, allein in einer sozialistischen tigte. Vor Beginn des Krieges nahm sie als Gesellschaft könne eine Gleichberechtigung russische Delegierte am außerordentlichen von Frau und Mann verwirklicht werden. Au- Sozialistenkongress in Basel teil, den das In- ßerdem sei Zentralisierung und Koordinierung ternationale Sozialistische Büro im Novem- auf internationaler Ebene sowie einheitliches ber 1912 einberufen hatte. Die organisierten Handeln notwendig. Bei ihren männlichen Ge- Näherinnen und Textilarbeiterinnen hatten ihr nossen stieß sie eher auf Skepsis und Indiffe- das Mandat übertragen. Da Rosa Luxemburg renz. (1871–1919) nicht dabei sein konnte, sprach Im August 1907 reiste sie nach Stuttgart, Alexandra Kollontai neben Clara Zetkin und um dort die Sozialistische Fraueninternati- der englisch-australischen Sozialistin Dora onale mitzugründen und die Forderung der Montefiore (1851–1933) und sorgte mit ihrer deutschen Genossinnen nach dem allgemei- glühenden Rede dafür, dass der Kongress ein nen Wahlrecht zu unterstützen.18 Beim ers- Manifest gegen den Krieg verabschiedete. ten Allrussischen Frauenkongress 1908, der Nach der Auslösung des Ersten Weltkrieges nur unter Auflagen der zaristischen Behörden gehörte Kollontai zu den Gegnerinnen des durchgeführt werden konnte, konnte sie ihr Völkermordens. Wegen der Zustimmung der vorgesehenes Referat nicht selbst halten, weil SPD zu den Kriegskrediten verließ sie die Par- sie vor einer drohenden Verhaftung durch die tei. Sie übersiedelte nach Skandinavien und Polizei fliehen musste.19 Wiederholt war sie in fungierte als wichtiges Verbindungsglied zwi- ihren Schriften auf Konfrontation mit der za- schen dem im Schweizer Exil in Zürich an- ristischen Regierung gegangen und deshalb sässigen Lenin und den RevolutionärInnen in angeklagt und verhaftet worden. Ihre Flucht Russland. Vermutlich war es vor allem ihrem führte sie zunächst nach Paris, dann in die Einfluss zu verdanken, dass Lenin ein «halb- USA, von da aus nach Deutschland, Schwe- wegs offenes Ohr» für die Situation der Frauen den und Norwegen. In Deutschland kam sie gehabt haben soll. mit den führenden Köpfen der internationalen Arbeiterbewegung in Berührung. In Berlin trat Revolutionärin, Bolschewikin sie der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- und Mitglied des Petrograder Arbeiter- lands bei, die damals die größte und einflus- und Soldatenrates sreichste Partei der Zweiten Internationale Nach der Februarrevolution 1917 kehrte Ale­ war. Außerdem gab es in Deutschland längst xandra Kollontai nach Russland zurück, trat eine gut organisierte proletarische Frauenbe- der Partei der Bolschewiki bei, wurde Dele- wegung. 1910 war Kollontai bei der II. Inter- gierte des Petrograder Arbeiter- und Solda- nationalen Konferenz Sozialistischer Frauen tenrates und wurde ins Zentralkomitee der in Kopenhagen dabei, als beschlossen wur- Bolschewiki gewählt.21 Im November 1917 de, künftig einen Internationalen Frauentag beteiligte sie sich am bewaffneten Aufstand. zu begehen, der der Agitation für das Frauen- Unter Lenins Revolutionsregierung wurde sie stimmrecht dienen und im Zusammenhang die weltweit erste Ministerin: Volkskommissa- mit der «ganzen Frauenfrage» in Produktion rin für soziale Fürsorge im ersten sowjetischen und Reproduktion stehen sollte.20 Aufgrund Kabinett. Wie ungewöhnlich das war, geht des bereits drohenden Ersten Weltkrieges aus einem Brief des US-amerikanischen Bot- wurde dort auch eine «Resolution, die Erhal- schafters in Russland, David Rowland Francis 34 Die vielen Leben der Alexandra Kollontai

(1850–1927), vom 8. November 1917 hervor. towsk» bezeichnet.25 Anastassija Bizenko Er kabelte nach Washington: «Es wird be- (1875–1938), die als einzige Frau in die den richtet, dass der Petrograder Rat der Arbeiter Friedensvertrag aushandelnde Delegation be- und Soldaten ein Kabinett ernannt hat mit Le- rufen worden war, vertrat die Partei der Linken nin als Premier, Trotzki als Außenminister und Sozialrevolutionäre, die den Friedensvertrag Madame oder Mademoiselle Kollontai als Er- ebenfalls ablehnte. Bizenko trat anschließend ziehungsminister. Widerlich!»22 der Kommunistischen Partei bei.26 Während Schon bei den Auseinandersetzungen um sie 1938 im Zuge der Stalin’schen Säuberun- den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der gen erschossen wurde, kam Alexandra Kol- am 3. März 1918 zwischen Sowjetrussland lontai mit dem Leben davon.

«Der Petrograder Rat der Arbeiter und Soldaten hat ein Kabinett ernannt mit Lenin als Premier, Trotzki als Außen­ minister und Madame oder Mademoiselle Kollontai als Erziehungsminister. Widerlich!» (US-Botschafter Francis) und den Mittelmächten23 unter Deutschlands Es gab noch einen weiteren Grund, warum Führung geschlossen wurde, mit dem Sow- Kollontai 1918 ihr Amt niederlegte. Als sie jetrussland als Kriegsteilnehmer ausschied, 1917 während des Juliaufstands auf einem stand Kollontai auf der Seite von Lenins Geg- Kreuzer der Roten Flotte in Kronstadt lebte, nerInnen. Sowjetrussland sollte mit diesem lernte sie den Marineoffizier und Vorsitzenden Vertrag nach Osten gedrängt werden. Es ver- des Zentralkomitees der Ostseeflotte Pawel zichtete auf seine Hoheitsrechte in Polen, Li- Dybenko (1889–1938) kennen, mit dem sie tauen, Kurland, Estland und Livland. Fast das Kronstadt verließ, um ihn auf der Krim zu hei- gesamte Gebiet Weißrusslands blieb von raten. Ihr Rücktritt war auch ein Protest gegen deutschen Truppen besetzt, die Ukraine und das Todesurteil gegen ihren Geliebten. Dieses Finnland wurden als selbstständige Staaten wurde nach erfolgreichem Protest aufgeho- anerkannt. Sowjetrussland verlor mit dem ben; er konnte als Kommandeur der Roten Ar- Vertrag 26 Prozent seines damaligen europä- mee in den Bürgerkrieg zurückkehren. Doch ischen Territoriums, 27 Prozent des anbaufä- Alexandra Kollontai blieb bei ihrem Rücktritt higen Landes, 26 Prozent des Eisenbahnnet- und schloss sich der Arbeiter­opposition an, zes, 33 Prozent der Textil- und 73 Prozent der die gegen den Parteizentralismus kämpfte Eisenindustrie sowie 73 Prozent der Kohle­ und sich für die Beteiligung der Arbeiterklasse gruben.24 an wirtschaftlichen Entscheidungen einsetz- Die Regierung der Bolschewiki hatte den Ver- te. Ihr Kampf galt dem Zentralismus und der trag angesichts der deutschen militärischen inzwischen etablierten Parteidiktatur.27 Nun Drohung unter Protest unterzeichnet, weil reiste sie durch das Land, um die Frauen, die sie fürchtete, ansonsten den Erfolg der Ok- zwar nach dem Gesetz gleichberechtigt, aber toberrevolution zu gefährden. Das missfiel in der Realität noch lange nicht befreit waren, Alexandra Kollontai. Im März 1918 legte sie, für den Arbeiterkampf zu gewinnen. Sie rief enttäuscht von den Ergebnissen der Oktober- die Frauen auf, ihr Leben selbst in die Hand revolution und aus Protest gegen den Vertrag zu nehmen, und verwies darauf, dass «nicht ihr Amt nieder. Später wurde der Vertrag in der zuletzt die Männer der Aufklärung bedürfen, Sowjetunion als «Raubfrieden von Brest-Li- wenn Frauen aktiviert werden sollen».28 Die vielen Leben der Alexandra Kollontai 35

Schriftstellerin und erste weibliche Trotzkist erschossen. Diesmal leistete sie of- Spitzendiplomatin der Welt fenbar keinen Widerstand. Sie setzte sich für Im Frühjahr 1919 wurde sie an die Bürger - die Beendigung des Winterkrieges 1939/40 kriegsfront in der Ukraine geschickt und zwischen der Sowjetunion und Finnland schließlich zur Leiterin des Internationa - ein. Sie erlebte, wie Stalin massenweise ihre len Frauensekretariats ernannt. Es folgte ei- FreundInnen töten ließ – und schwieg. 1945 ne arbeitsintensive Zeit (1918 bis 1920) mit musste sie aus gesundheitlichen Gründen viel Agitation und Propaganda, zahlreichen nach Moskau zurückkehren. Als einzige Alt- Vorträgen29 und einigen Buchveröffentli- kommunistin der Gruppe «Arbeiteroppositi- chungen, zum Beispiel «Die neue Moral der on» wie auch des ersten Kabinetts unter Lenin Arbeiterklasse», «Die Familie und der kom- entging sie allen «Säuberungen» unter Stalin. munistische Staat» und «Die Arbeiterin im Bis zu ihrem Tod am 9. März 1952 in Moskau ersten Jahr der Revolution». 1921 spitzte sich war sie als Beraterin des sowjetischen Außen- die Versorgungslage in den Städten und die ministeriums tätig. Ausbeutung der Bauern durch Beschlagnah- mungen zu. Kronstädter Matrosen zogen Kollontais Konzept nach Petrograd und agitierten für freie Sow- der «wirklich befreiten Frau» jets. Da Lenin den Kronstädter Aufstand ver- Kollontai stritt nicht nur für die sozialistische urteilte, distanzierten sich auch die FührerIn- Weltrevolution, sondern auch für die Eman- nen der Arbeiter­opposition, die den Aufstand zipation der Frauen. Deshalb trat sie für freie zunächst unterstützt hatten, unter ihnen Ale­ Liebe ein und entlarvte die bürgerliche Ehe xandra Kollontai. Der Aufstand wurde blutig als Degradierung der Frau zum Eigentum des niedergeschlagen. Mannes. Ehe und Familie sollten zugunsten 1922 lobte Lenin die einstige Emigrations- neuer Formen des Zusammenlebens der Ge- genossin in die norwegische Gesandtschaft schlechter auf einer gleichberechtigten Ba- Russlands weg. Manche ChronistInnen mei- sis abgeschafft werden. In ihrem Buch «Die nen, sie hätte Lenin um diesen Posten ge - neue Moral und die Arbeiterklasse» beschrieb beten, andere vermuten, sie wurde abge - sie die «sexuelle Krisis» des Jahrhunderts: «In schoben. Jedenfalls wurde sie 1923 die erste der modernen städtischen Einsamkeit reichen weibliche Spitzendiplomatin der Welt. Ob- sich Frauen und Männer gegenseitig die Hand wohl sie in der heraufziehenden Ära Stalins und klammern sich aneinander; aber am En- vorsichtiger agierte, galt sie als kommunisti- de zahlt stets die Frau den Preis.»30 Sie verur- sche Revolutionärin, die überdies der freien teilte das bürgerliche Besitzdenken, das den Liebe emanzipierter Frauen das Wort gere- Anderen als «Alleinbesitz» betrachtet. Nach det hatte. 1926 formulierte sie in einem au- ihrer Utopie sollte die isolierte Kleinfamilie tobiografischen Essay ihre Vorstellung von durch das Leben in Kommunen und Gemein- sexueller Emanzipation und berichtete offen- schaften mit gemeinsamer Arbeit, Haushalts- herzig über manche Abweichungen von der führung und Kindererziehung ersetzt werden. Linie der Bolschewiki. Sie war Botschafterin Zugleich machte sie klar, dass nicht allein die der Stalin’schen Sowjetunion und leitete bis sexuellen Beziehungen die moralische Hal- 1940 die Auslandsvertretungen in Norwegen, tung der Frau bestimmen, sondern ebenso ihr Mexiko und Schweden. Während Kollontai Wert innerhalb der gesellschaftlich nützlichen Stalin-Anhängerin wurde oder sich ihm zu- Arbeit. Zentrales Element bei der Befreiung mindest nicht widersetzte, wurde Pawel Dy- der Frau sollte die wirtschaftliche Unabhän- benko, obwohl mittlerweile Admiral, 1938 als gigkeit sein, denn «die wirklich befreite Frau 36 Die vielen Leben der Alexandra Kollontai

muss materiell vom Mann unabhängig sein lor und nur über Beziehungen zwischen den und von den mit der Mutterschaft verbunde- Geschlechtern sprach. Aber es ist die Frage, nen Pflichten entlastet werden».31 ob ihre «eigene Fassung menschlicher Bezie- Kollontai machte den Körper, die Liebe und hungen [wirklich] heterosexuell war».34 Weder die Sexualität zum politischen Thema. Damit schließen Kollontais Ansichten von postpat- nahm sie die Forderung der neuen Frauenbe- riarchalischen, gleichberechtigten Beziehun- wegungen in Westdeutschland vorweg: «Das gen intime Beziehungen zwischen gleichge- Private ist politisch». Die «romantische Liebe» schlechtlichen Partnern aus, noch müssen kritisierte sie als Ausdruck des Besitzdenkens für sie Zusammenschlüsse unter freien Men- der Menschen. Sie forderte eine andere Mo- schen, ohne Besitzansprüche und frei von ral: «Die neuen Frauen wollen nicht Alleinbe- ökonomischen Zwängen, auf Zweierbezie- sitz, wo sie lieben. Da sie Achtung fordern vor hungen beschränkt sein.35 der Freiheit des eigenen Gefühls.»32 Die Prin- zipien, die sie für die «neue Frau» entwickelt Wichtige Forderungen Alexandra hat, waren: Selbstdisziplin statt Gefühlsüber- Kollontais wurden umgesetzt schwang, die Fähigkeit, die eigene Freiheit Während ihrer kurzen Amtszeit als Volkskom- und Unabhängigkeit zu schätzen, statt der missarin für soziale Fürsorge wurden mehr persönlichen Abhängigkeit, die Behauptung Veränderungen in die Wege geleitet als von der eigenen Individualität statt der naiven Be- jeder traditionellen Regierung jemals zuvor. mühung, das fremde Bild des «Geliebten» in Sie unterschrieb Verordnungen über die Ab- sich aufzunehmen. schaffung der Gottesdienste und teilte die Sie sah in der Geschlechter- und der Klassen- Ländereien der Klöster an die Bauern auf. frage zwei unterschiedliche, doch miteinander Hindernisse, die der Integration von Frauen verbundene Unterdrückungsformen. So, wie in die Wirtschaft im Wege standen, wurden sie davon überzeugt war, dass eine Revoluti- beseitigt. Ein neues Ehe- und Scheidungsge- on unerlässlich sei, um die Arbeiterklasse an setz wurde beschlossen, mit dem Frauen den die Macht zu bringen, wurde Kollontai zur Pro- Männern rechtlich gleichgestellt waren. Ehe pagandistin einer Revolution der Frau, die sie und Scheidung wurden zum formalen Akt. nur als Resultat des Sieges einer neuen Gesell- Der Staat trat nur noch als Vertreter der Inte- schaftsordnung für möglich hielt. Eine klas- ressen der Kinder auf, die Kirche verlor ihren senlose Gesellschaft allein, so geht aus ihren Einfluss gänzlich. Eheliche und uneheliche Werken hervor, bedeutet nicht notwendiger- Kinder wurden gleichgestellt, der Mutter- weise, dass die Geschlechterfrage gelöst ist. schutz wurde ausgebaut und durch finanzi- Es bedeutet aber auch nicht, dass die Lösung elle und materielle Unterstützung ergänzt. Im der Geschlechterfrage in der kapitalistischen November 1920 wurde auf Druck von Kollon- Gesellschaft zu einer egalitären Gesellschaft tai der Schwangerschaftsabbruch legalisiert. führt. In der Frage einer neuen Sexualmoral Die Entwicklung neuer Wohnmodelle mit Ge- und der «neuen Erotik» gehörte sie zum radi- meinschaftsküchen, Kinderkrippen, öffentli- kalsten Flügel der Partei. Oft erntete sie Spott chen Wäschereien und Kantinen wurde durch und Kritik innerhalb der eigenen Partei. Anstö- Dekret unterstützt. In keinem europäischen ßig fand man vor allem, dass sie die Vorstel- Land gab es zu dieser Zeit derart fortschrittli- lungen einer veränderten Sexualmoral auch che Gesetze. Über ihre Einhaltung wachte ei- selbst praktizierte.33 ne eigens zu diesem Zweck gegründete «Ab- Mitunter wird heute kritisiert, dass Kollon- teilung für die Arbeit unter den Frauen», deren tai über Homosexualität kaum ein Wort ver- Leiterin Inessa Armand hieß. Die vielen Leben der Alexandra Kollontai 37

Nach Amands frühem Tod 1920 übernahm (1879–1953), seit 1922 Generalsekretär der Kollontai die Leitung der Frauenabteilung, die Kommunistischen Partei, gegen Leo Trotz- die Frauen auch zum Eintritt in die Partei be- ki (1879–1940), den «Vater» der Roten Ar - wegen und zu kommunistischem Bewusst- mee, durchsetzen konnte. Stalin festigte sei- sein erziehen sollte. In diese Zeit fielen auch ne Macht durch gezielten Terror gegen seine ihre Vorlesungen «Die Situation der Frau in der Widersacher. 1936 wurde die Möglichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung», die sie 1921 Ehescheidung erschwert, Schwangerschafts- an der Leningrader Sverdlov-Universität vor abbruch und Homosexualität wurden gesetz- Arbeiterinnen und Bäuerinnen hielt.36 lich verboten. Im Jahr 1921 wurde die Wende zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) vollzogen: Lo- Kollontai war auch unserer Zeit kale Märkte konnten eröffnet werden und die weit voraus Beschlagnahmung von Getreide wurde auf- Kollontais Träume und ihre politische Praxis gehoben. Mit der Gründung der Union der wurden in den neuen Frauenbewegungen, Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) die in Westdeutschland den 68erInnen folg- am 30. Dezember 1922 durch die Bolsche- ten, wieder aufgenommen. Sie übten Kritik an wiki wurde die Wirtschaft zentralisiert. Alter- den Strukturen der kleinfamilialen Lebensfor- native anarchistische Ideen zum Sozialismus men mit den traditionellen Geschlechterrol- wurden nicht nur in der UdSSR an den Rand len und Besitzansprüchen, an der repressiven gedrängt. Kindererziehung, traten für das Selbstbestim- Kollontais Utopie, die Familie aufzuheben, war mungsrecht bei Kinderwunsch und Schwan- nicht umgesetzt, auch nicht die der sexuel- gerschaft ein und kämpften gegen Gewalt len Befreiung. Die Strukturen der Kleinfamilie und Unterdrückung.38 Die neuen Frauenbe- als kleinste ökonomische Einheit waren auch wegungen gründeten den Aktionsrat zur Be- in der Arbeiterklasse resistenter, als Kollontai freiung der Frauen, Wohngemeinschaften, vermutet hatte. Trotz der maßlosen Überfor- Kinderläden, Kommunen und Frauenprojek- derung, die ein Familienleben kaum möglich te mit kollektiven Strukturen. Auch das «Pri- machten, sehnten sich die meisten SozialistIn- vate» sollte politisch sein. Viele konnten sich nen nach der Aufrechterhaltung «der kleinen einen Sozialismus ohne Feminismus (und in sich geschlossenen Dreieinigkeit – Mann, umgekehrt) nicht vorstellen. Impulse der Be- Weib und Kinder», so die deutsche Sozialistin wegungen wurden beispielsweise durch Lily Braun (1865–1916), die ebenfalls Gemein- Frauenseminare und Ringvorlesungen an den schaftskonzepte formuliert hatte.37 Das «Pri- Universitäten, durch Buchverlage und die öf- vate» sollte privat bleiben. Zudem entwickel- fentliche Kindererziehung aufgenommen. ten sich die revolutionären Projekte in einem Kleine Erfolge konnten auch die neuen Frau- Umfeld voller wirtschaftlicher und politischer enbewegungen erzielen. Doch die Utopie ei- Schwierigkeiten, sodass der Überlebens- ner gewaltfreien, friedlichen Gesellschaft von kampf der Revolution die utopischen Energien Frauen und Männern, die sich als Ebenbürti- auffraß. ge begegnen und anerkennen, wurde auch Daher konnten die feministischen Errungen- von den 68erInnen nicht erreicht. Familismus schaften unter Stalins Herrschaft leicht zu- und patriarchale Herrschaft haben sich erneut rückgedreht und die patriarchale Kleinfami- als resistenter erwiesen, als die AktivistIinnen lie wieder propagiert werden. Lenins Tod am vermutet hatten. 21. Januar 1924 führte zu einem erbitterten Die Wirkmächtigkeit der kapitalistischen Nachfolgekampf, in dem sich Josef Stalin Ordnung, die viele Krisen, Revolutionen und 38 Die vielen Leben der Alexandra Kollontai

Umbrüche überstanden hat, und das Erstar- Notz, Gisela: Widerstand sozialistischer Frauen gegen den Krieg, in: Hüttner, Bernd (Hrsg.): Verzögerter Widerstand. Die Arbeiterbewe- ken rechtskonservativer, nationalistischer, fa- gung und der Erste Weltkrieg, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stif- schistischer Kräfte sollten auch heute Anlass tung, Manuskripte Neue Folge 14, Berlin 2015, S. 20–31. 9 Bollin- ger: 100 Jahre Russische Revolutionen. 10 Zu nennen sind außer sein, wieder über Alternativen nachzudenken ihr Marija Spiridonowa, Vera Figner, Vera Sassulitsch, Angelica Bala- banoff, Larissa Reissner, Nadeschda Krupskaja, Inessa Armand und und darüber, wie der Weg dorthin aussehen viele andere. Einige sind in die Kalender «Wegbereiterinnen» (Kalender könnte. 2003 bis 2018, hrsg. von Gisela Notz) mit Kurzbiografien aufgenom- men worden. Der Kalender wird fortgesetzt. 11 Kollontai, Alexand- Obwohl die Lebensformen vielfältiger ge- ra: Ich habe viele Leben gelebt. Autobiographische Aufzeichnungen, worden sind, lässt sich aktuell ein Rückzug Berlin 1980, S. 502. 12 Kollontai, Alexandra: Mein Leben in der Di- plomatie, Berlin 2003; vgl. auch Hertzfeldt, Hella: Alexandra Kollon- in die traditionelle heterosexuelle bürgerliche tais vergessener Artikel über Clara Zetkin und ein Kommentar dazu Kleinfamilie beobachten. Alternative Lebens- aus ihren «Diplomatischen Tagebüchern», in: Hundt, Irina/Kischlat, Ilse (Hrsg.): Topographie und Mobilität in der Deutschen Frauenbe- formen und gelebte Utopien verschwinden wegung, Berlin 2003, S. 163–167. 13 Kollontai, Alexandra: Auto- offenbar hinter dem Wunsch, der Norm zu biographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin, Berlin 1977, S. 13. 14 Janssen, Gert: Alexandra Kollontai – Revolutionärin und entsprechen. Möglicherweise ist der Rück- Diplomatin, in: Pilz, Elke (Hrsg.): Das Ideal der Mitmenschlichkeit. Frauen und die sozialistische Idee, Würzburg 2005, S. 125–143, hier zug auch eine Antwort auf die prekären Le- S. 126. 15 Kollontai: Autobiographie, S. 13. 16 Kollontai: Ich habe bensverhältnisse, die dazu führen, dass sich viele Leben gelebt, S. 19. 17 Hertzfeldt, Hella: Alexandra Kollontai (1872–1952), in: Notz, Gisela (Hrsg.): Kalender 2004. Wegbereiterin- Erwachsene nach unkündbaren Beziehungen nen II, Bonn 2003, Kalenderblatt Mai. 18 Kollontai, Alexandra: Zwei sehnen und junge Menschen in der roman- Richtungen (aus Anlaß der Ersten Internationalen Konferenz Sozia- listischer Frauen in Stuttgart), in: dies.: Der weite Weg. Erzählungen, tischen Partnerschaft und der bürgerlichen Aufsätze, Kommentare, Frankfurt a. M. 1979, S. 22–39; vgl. auch Notz, Kleinfamilie Sicherheit und Geborgenheit su- Gisela: «Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!». Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn chen.39 Konservative Gruppierungen, die ei- des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frauenwahlrecht, Bonn 2008, S. 29 f. 19 Kollontai: Autobiographie, S. 22 f. 20 Notz, Gise- ne Verschärfung der Abtreibungsgesetze la: Der Internationale Frauentag und die Gewerkschaften: Geschich- fordern, die geschlechtliche Arbeitsteilung te(n) – Tradition und Aktualität, Berlin 2011, S. 16 f. 21 Gutiérrez Al- varez/Kleiser: Sozialistinnen, S. 153. 22 Zit. nach: Die Pussyhats der zementieren wollen und vor einer «Überfrem- Sowjetunion. Die russische Revolution war unbeschreiblich weiblich, dung» des Nationalstaates warnen, finden An- in: work. Die Zeitschrift der Gewerkschaft UNIA 8/2017. 23 Die Mit- telmächte waren ein Militärbündnis im Ersten Weltkrieg, das seinen hängerInnen, weil sie «einfache Lösungen» Namen wegen der zentraleuropäischen Lage der beiden Protagonis- anbieten. ten Deutsches Reich und Österreich-Ungarn erhielt. 24 Bihl, Wolfdie- ter: Österreich-Ungarn und die Friedensschlüsse von Brest-Litovsk, Das Bedürfnis nach Utopien einer befreiten Wien u. a. 1970, S. 118. 25 Herbst, Wolfgang: Die Novemberrevo- Gesellschaft von freien Zusammenschlüssen lution in Deutschland – Dokumente und Materialien, Berlin 1958, S. 15. 26 MacDermid, Jane/Hillyar, Anna: Midwives of the Revoluti- unter freien Menschen ohne Besitzansprüche, on: Female Bolsheviks and Women Workers in 1917, 1999, S. 55 ff. 27 Abosch, Heinz: Alexandra Kollontai. Für Arbeiterdemokra- Unterdrückung und Gewalt muss weiterhin tie – gegen Parteidiktatur, in: Schneider, Dieter (Hrsg.): Sie waren die diskutiert werden und in feministische Hand- ersten. Frauen in der Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1988, S. 155– 164, hier S. 156. 28 Ebd., S. 158. 29 Janssen: Alexandra Kollontai, lungsstrategien münden, bis die «wirklich be- S. 133. 30 Kollontai, Alexandra: Die neue Moral und die Arbeiterklas- freie Gesellschaft» erreicht ist. se, Berlin 1920, S. 23. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 26 f. 33 Vgl. hierzu auch Notz, Gisela: Eine revolutionäre Feministin mit vielen Leben, in: HAU (Hrsg.): Utopische Realitäten. 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra 1 Vgl. Notz, Gisela: Aufbruch ohne Beispiel. Vor 100 Jahren traten in Kollontai, Berlin 2017, S. 11–13. 34 Ebert, Teresa: Alexandra Kollon- Petrograd zehntausende Textilarbeiterinnen in den Streik. Oktoberre- tai und die Rote Liebe, in: Sozialistische Zeitung, April 2002, S. 24–26, volution brachte volle rechtliche Gleichstellung der Frauen, in: junge hier S. 25. 35 Vgl. hierzu auch Notz, Gisela: Kritik des Familismus. Welt, 8.3.2017, S. 7. 2 Gutiérrez Alvarez, José/Kleiser, Paul B.: Sozia- Stuttgart 2016, S. 223 ff. 36 Die Vorlesungen können als Dokument listinnen, Frankfurt a. M. 1989, S. 147. 3 Lauterbach, Reinhard: Plötz- über die ersten Jahre der Sowjetrepublik nach der Oktoberrevolution lich und erwartet. Erst Hungerrevolten und Streiks, dann Revolution. gelesen werden, und zwar nicht nur in Bezug auf die durchgesetzten Vor 100 Jahren wurde Russlands letzter Zar gestürzt, in: junge Welt, Forderungen, sondern auch in Bezug auf die Schwierigkeiten, die mit 8.3.2017, S. 12 f. 4 Ebd., S. 13. 5 Vgl. Bollinger, Stefan: 100 Jahre der Umsetzung verbunden waren und im Hinblick auf die verschie- Russische Revolutionen – Last und Chance für die Linke, 13.2.1917, denen Strömungen in der Frauenbewegung, die die Umsetzung er- unter: www.die-linke.de/partei/parteistruktur/kommissionen/histo- schwerten. Vgl. Kollontai, Alexandra: Die Situation der Frau in der rische-kommission/diskussionsbeitraege/detail///100-jahre-russi- gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterin- sche-revolutionen-last-und-chancen-fuer-linke/. 6 Trotzky, Leon: nen und Bäuerinnen an der Sverdiov-Universität 1921, Frankfurt a. M. Von Oktober bis nach Brest-Litovsk. Die Geschichte der bolschevis- 1975. 37 Vgl. Braun, Lily: Die Frauenfrage, Berlin 1902. 38 Vgl. Notz, tischen November-Revolution, übers. von J. W. Hartmann, Chicago Gisela: Warum flog die Tomate?, Neu-Ulm 2006. 39 Vgl. hierzu auch 1919, S. 7 f. 7 Bollinger: 100 Jahre Russische Revolutionen. 8 Vgl. Notz: Kritik des Familismus. Hauptsache Nebenwiderspruch 39

Bini Adamczak HAUPTSACHE NEBENWIDERSPRUCH GESCHLECHTLICHE EMANZIPATION UND RUSSISCHE REVOLUTION

Nebensächlichkeiten1 als am 24. Dezember die Arbeiter und Ma­ 1968 veröffentlichte der Stuttgarter Sozialisti- trosen nach siegreicher Straßenschlacht vor sche Deutsche Studentenbund (SDS) ein Pla- dem Schloss sich zerstreuten und nach Hau- kat mit dem Slogan «Alle reden vom Wetter. se gingen, um Weihnachten zu feiern.»4 Dem- Wir nicht». Drei mehr oder weniger bebarte- gegenüber fand die Russische Revolution, die te Köpfe unterstrichen, zwischen die beiden im Februar 1917 begann, bessere klimatische Sätze montiert, den politischen Anspruch Bedingungen vor. Wie der Historiker Orlando des Verbandes, keinen Small Talk zu betrei- Figes vermutet,5 brach sie vermutlich auch ben. Dass das Motiv von der Deutschen Bahn deswegen aus, weil sich aufgrund des guten geklaut war, die lediglich anstelle der Elektri- Wetters so viele Menschen auf den Straßen zitätsbewunderer Marx, Engels und Lenin ei- befanden. Schließlich waren es an diesem ne elektrische Lokomotive abgebildet hat- Tag in Petrograd frühlingshafte fünf Grad un- te, hätte damals schon misstrauisch machen ter null. können. Schließlich hört die Deutsche Bahn bis in die Gegenwart hinein nicht auf, über Missverständlichkeiten das Wetter zu sprechen, das sich deutschen Der sonnige Tag, an dem die Russische Revo- Pünktlichkeitsnormen gegenüber taub zu stel- lution ihren Anfang nahm, war der 23. Februar len scheint. Als die Linke Liste der Universität 1917, nach westlichem Kalender der 8. März – Frankfurt am Main etwa im Jahr 2002 das The- der Internationale Frauentag. Während der ma wieder aufgriff, kam sie deshalb der Wahr- Frauentag zuvor an unterschiedlichen Tagen heit vermutlich näher. Ihr abgewandelter Slog- begangen worden war, wurde er vier Jahre an hieß «Alle reden vom Wetter. Wir tun was später endgültig auf das Datum des 8. März dagegen» und wurde illustriert von der Bau- festgelegt, und zwar – auch wenn diese Tra- anleitung für eine utopische Wettermaschi- dition immer wieder unsichtbar gemacht wer- ne. Auch Fragen zu Temperatur, Bewölkung den sollte – genau aufgrund des Ereignisses oder Niederschlag, so hätte ein Kommentar der Russischen Revolution. Schließlich war es zu diesem Plakat lauten können, spielen ei- eine größere Anzahl jener Menschen, deren ne gewisse Rolle in der Politik und ihrer Ge- Geschlecht dieser Tag gewidmet ist, die zu- schichte, in der es eben nicht nur schlechte nächst für Gleichberechtigung demonstrier- Kleidung gibt, sondern auch schlechtes Wet- ten, dann für Brot streikten, schließlich zum ter.2 Das gilt auch für die Revolution. Über die Stadtzentrum marschierten und «Weg mit deutsche von 1918 schrieb der konservative dem Zaren» skandierten. Sie trugen Hosen,6 Antifaschist Sebastian Haffner: «Schon dass kurze Haare und immer öfter Gewehre. Eini- der Kriegsausbruch bei prächtigem Sonnen- ge Tage und Kämpfe später dankte der Zar ab. wetter und die Revolution bei nasskaltem No- Wiederum einige Wochen oder Monate dar- vembernebel vor sich ging, war ein schweres auf traf die Nachricht davon in den Dörfern Handicap für die Revolution»3 – die dann be- ein,7 in denen die Mehrheit der russischen Be- kanntlich ja auch misslang. Haffner bemerk- völkerung lebte. In ihren Reaktionen spiegelt te es bereits einen Monat später: «Das Schick- sich die schillernde Vieldeutigkeit jenes revo- sal der Revolution war im Grunde besiegelt, lutionären Ereignisses, von dem sich seit sei- 40 Hauptsache Nebenwiderspruch

nem Erscheinen so viele und gegensätzliche ren versuchte, wollte die vielleicht entschei- Bilder haben anfertigen lassen. Zunächst füll- dende Frage der Revolution, die Frage der ten sich die Kirchen mit weinenden Bauern, Landverteilung nämlich, einer Konstituieren- die nicht wussten, was nun aus ihnen werden den Versammlung überlassen, für die sie die sollte, ersten allgemeinen Wahlen vorbereitete. Bis Nicht nur in den Dörfern, im gesamten Land dahin, so vertrat es die Regierung gegenüber waren die Reaktionen auf die Revolution sehr den ungeduldigen Bäuerinnen, wären Inbe- unterschiedlich. Manche Russinnen hiel- sitznahmen von feudalem Grundbesitz unge- ten sie für eine «nationale Erhebung» gegen setzlich. Die Bäuerinnen, bildungshungrig in einen zaristischen Hof, von dem es seit eini- Sachen Demokratie, verstanden und erließen ger Zeit hieß, er sei in Wirklichkeit von Deut- kurzerhand auf den Bauernversammlungen schen dominiert worden, andere begrüßten eigene Gesetze, welche die Enteignungen le- einander mit dem abgewandelten Ostergruß gitimierten.10 Ähnliche Missverständnisse ent- «Russland ist auferstanden!» oder zeigten sich spannen sich um den Volksbegriff. Während fest davon überzeugt, dass Lügen, Spielen, die bürgerlichen Offiziere die Nation meinten, Stehlen, Fluchen und vor al- lem Trunkenheit nun auf einen Schlag verschwinden würden. In der Revolution überlagerten sich Die Missverständnisse lassen verschiedene Affekte: Hass auf alle sich weder ausräumen, noch Autoritäten, Sehnsucht nach Freiheit zeitlich oder fraktionell zuord- wie nach Rache und viele mehr. nen. Denn es wollen nicht nur Gleiche Verschiedenes zu verschiedener Zeit wenn sie vom Volk redeten, zählten für die oder Verschiedene Verschiedenes zu gleicher bäuerlichen Soldaten die Offiziere selbst nicht Zeit, sondern auch Gleiche zur gleichen Zeit zum Volk. Deswegen dürften sie es nicht als Verschiedenes. Das erfuhr ein menschewis- Widerspruch zur Volksdemokratie begriffen tischer Agitator, der zu den bäuerlichen Sol- haben, den Herren Offizieren damit zu drohen, daten eines Regimentstreffens so überzeu- sie umzubringen, wenn sie den Vormarsch be- gend von der Notwendigkeit der Demokratie fehlen sollten.11 Ebenso hielt die mit Generä- sprach, dass diese begeistert vorschlugen, len und Politikerinnen geteilte antideutsche ihn, den Sozialisten, zum Zaren der neuen de- Haltung die russischen Soldatinnen nicht da- mokratischen Republik zu wählen.8 Die Re- von ab, sich mit deutschen Soldatinnen zu volution ist – neben anderem – ein Ensemble verschwistern und eigenständig Waffenstill- vielfältiger Missverständnisse, die aber über- standsabkommen zu schließen – denn im All- lagert werden von dem einen Missverständ- gemeinen diente ihnen der Begriff «deutsch» nis, dass alle einander verstehen. Im Augen- als generelles Symbol für alles, was sie poli- blick der Erkenntnis ihrer Freiheit zogen die tisch hassten.12 Menschen auf dem Land ihre besten Kleider «Sie wollten nur das eine: Frieden, damit sie an, küssten einander und feierten drei Tage nach Hause gehen, die Gutsbesitzer ausrau- lang durch.9 ben und frei leben konnten, ohne Steuern […] Die Revolution ist – neben anderem – das Er- zu zahlen oder irgendeine Autorität anzuer- leben des Einverständnisses und zugleich mil- kennen. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung lionenfaches Missverständnis. Die Proviso- von den Parteien noch von irgendeinem Kom- rische Regierung in Petrograd, die Russland munismus oder der Unterteilung in Arbeiter zwischen Februar und Oktober 1917 zu regie- und Bauern, aber sie träumten davon, zu Hau- Hauptsache Nebenwiderspruch 41

se ohne Gesetz oder Gutsbesitzer zu leben. schwersten Fesseln, denen sich die Massen Diese anarchistische Freiheit nannten sie Bol- unter der Knute unterworfen hatten, zerschla- schewismus.»13 gen. Das war gestern. Heute aber fordert die- Viele Soldatinnen schienen der Meinung zu selbe Revolution, und zwar im Interesse des sein, dass es sich bei «Annexionen», von de- Sozialismus, die widerspruchslose Unterord- nen in der Parole «Frieden ohne Annexionen» nung der Massen unter den einheitlichen Wil- die Rede war, um Länder auf dem Balkan len der Leiter des Arbeitsprozesses.»17 handelte, oder hielten die «Internationale», Von solchen Äußerungen – sie bilden keine welche die bolschewistischen Arbeiterin- Ausnahme im aggressiven Vokabular der Bol- nen besangen, für eine Gottheit. In den frü- schewiki – wird sich nicht nur Lenins alter Leh- hen 1920er Jahren kam auch der antisemiti- rer, der Sozialdemokrat Karl Kautsky, missver- sche Antikommunist Henry Ford aufgrund der standen gefühlt haben, der den Schluss zog, durchgesetzten sozialistischen Rationalisie- im Sozialismus solle die Stellung der Arbeite- rung und Taylorisierung zu ähnlichem Ruhm: rinnen noch unter das Niveau des Kapitalis- Viele Menschen vermuteten, dass es sich bei mus gedrückt werden,18 sondern auch der Re- ihm um eine Art Gott handele, der hinter Lenin volutionär Victor Serge, der bei seiner Ankunft und Trotzki stehe.14 in Russland 1918 in ähnlichen Verlautbarun- Doch entgegen dem Hochmut des bürgerli- gen Grigori Sinowjews, des Vorsitzenden der chen Historikers und seinen hochwohlgebore- Petrograder Sowjets, eine «Theorie der Ersti- nen Zeitzeuginnen hatten sie auch recht. Ein ckung aller Freiheit entdeckte».19 nationaler Volksbegriff war immer schon we- In der Revolution überlagerten sich verschie- nig revolutionär, geschweige denn emanzipa- dene Affekte: Hass auf alle Autoritäten, Sehn- torisch.15 sucht nach Freiheit wie nach Rache und vie- Genauso wird aber das bolschewistische Poli- le mehr. Sie motivierten im Laufe des Jahres tikmodell lesbar als Versuch, die Vielstimmig- 1917 die Konstruktion utopischer Potenziali- keit der Revolution wieder zum Verstummen täten und neuer mikropolitischer Realitäten. zu bringen: in einer Bewegung, die kaum dass Bäuerinnen verhafteten ihre Priester, Haus- sie die Macht der Räte gefordert hat, erst die angestellte zogen in die großen Wohnzimmer bürgerlichen Parteien verbietet, dann die so- und verbannten ihre vorherigen Herrinnen in zialdemokratischen, sozialrevolutionären, an- die kleinen Kammern, sogenannte Frauen ra- archistischen Organisationen und Zeitungen sierten sich die Haare und forderten gleichen zerschlägt, um bald darauf die innerparteiliche Lohn, Kellner demonstrierten gegen Trink- Opposition zu unterbinden, die Strömungen gelder, Prostituierte streikten und Soldatin- und Plattformen zu unterdrücken und schließ- nen forderten in Solidarität mit den streiken- lich sogar abweichende Gedanken unter Stra- den Arbeiterinnen den Achtstundentag für fe zu stellen.16 Kriegseinsätze.20 Zugleich wurden Adlige «Jede maschinelle Großindustrie – das heißt vergewaltigt, Diebe gelyncht und fremd oder gerade die materielle Produktionsquelle und reich Aussehende verprügelt.21 Hierin, und das Fundament des Sozialismus – erfordert nicht in der Einsetzung einer provisorischen die bedingungslose und strengste Einheit des demokratischen Regierung – das ist in Kürze Willens. […] Aber wie kann die strengste Ein- der Februar – oder in der Absetzung dieser Re- heit des Willens gesichert werden? Durch die gierung – das ist der Oktober – besteht das Er- Unterordnung des Willens von Tausenden un- eignis der Revolution. Aber so sehr sich das ter den Willen eines Einzigen. Die Revoluti- Theater der großen Bilder – Abdankung des on hat soeben die ältesten, die stärksten und Zaren, Erstürmung des Winterpalais – in der 42 Hauptsache Nebenwiderspruch

Propaganda der revolutionären Regierung wie stand seiner Partei25 auf die Mittagszeit des in der hegemonialen Geschichtsschreibung 25. Oktober, da an diesem Tag der Allgemei- vor den kleinteiligen sozialen Prozess schiebt, ne Rätekongress tagte, der mit hoher Wahr- bleibt dieser doch in einem Wechselverhält- scheinlichkeit die seit Langem erhobene For- nis auf das großformatige Ereignis angewie- derung «Alle Macht den Räten» realisiert und sen. Die Enteignungen von Großgrundbesitz, die Entmachtung der Provisorischen Regie- die bereits seit Monaten «wild» stattgefunden rung beschlossen hätte. Aber die Erstürmung hatten, nahmen in großem Umfang zu, nach- des Winterpalais durch die bolschewistische dem ein Sozialrevolutionär Agrarminister ge- Militärorganisation, die den Räten vorgrei- worden war,22 noch mehr, nachdem die bol- fen und den Bolschewiki einen strategischen schewistische Regierung sie «legalisierte». Vorteil bringen sollte, musste mehrfach ver- Nach den Erfahrungen der brutalen Rache, schoben werden – zunächst auf 15, dann auf die das zaristische Regime nach dem nieder- 18 Uhr, dann wurde auf die Angabe einer fes- geworfenen Revolutionsversuch von 1905 ten Zeit ganz verzichtet. Die Kanonen, mit de- an den Bäuerinnen genommen hatte, wuss- nen der Sturm auf das Winterpalais eröffnet ten diese um die Schwierigkeit, lokale Mik- werden sollte, stellten sich als verrostete Mu- rorevolutionen gegen eine organisierte Kon- seumsstücke heraus, für die eigens organi- terrevolution zu verteidigen. Eine Revolution, sierten Ersatzkanonen waren keine Patronen die – was wünschenswert wäre – das Macht- auffindbar. Im entscheidenden Moment stell- zentrum unbesetzt lassen will, muss zugleich te sich heraus, dass es keine rote Lampe gab, Vorsorge treffen, dass es nicht von anderer die das vereinbarte Startsignal hätte geben sol- Seite besetzt wird. Ein Vakuum, das gilt auch len. Der Kommissar, der die rote Lampe holen für jenes der Macht, hat die Eigenschaft, al- sollte, verlief sich in der Dunkelheit, fiel in ei- lerlei Dreck anzuziehen. Zu viele Niederlagen ne Schlammgrube und kehrte mit einer Lampe in Revolutionen – von Frankreich 184823 über zurück, die sich weder am Fahnenmast befes- Spanien 193624 bis nach Ägypten 2011 – war- tigen ließ noch überhaupt rot war.26 Schließlich nen davor, die Bedeutung des fortgesetzten behauptete Lenin, um die historische Chance Kampfes um und gegen die Staatsmacht zu auf die Diktatur seiner Partei nicht verstreichen unterschätzen. zu lassen, die Regierung sei gestürzt, obwohl Aber auch das so häufig auf seinen histo - noch nichts dergleichen geschehen war. Als risch-logischen Begriff gebrachte große Er- die Menschewiki und rechten Sozialrevolutio- eignis – Ergreifung der Staatsmacht – wird von näre am späten Abend aus Protest gegen die den Bedingungen der Uneindeutigkeit heim- gewaltsame Entmachtung der provisorischen gesucht, von denen es sich in seiner präzisen Regierung den Rätekongress verließen und militärischen Organisierung und kanonisier- damit das Feld der Macht räumten, war der ten Heldenerzählung abzuheben sucht. Diese Angriff auf das Winterpalais noch in vollem Oktoberrevolution, die zu ihrem zehnjährigen Gange. Aber kaum waren die Minister verhaf- Jubiläum von der Sowjetregierung fürs Kino tet, entdeckten die bolschewistischen Arbeiter Eisensteins unter wesentlich höherer Beteili- den riesigen Weinkeller des Winterpalais und gung als beim ersten Mal gedächtniswirksam begannen ein mehr als zehn Tage anhaltendes als Erhebung der Massen re-inszeniert wurde, Saufgelage, das durch keine Disziplin gestoppt erscheint mit etwas Sympathie fürs Detail als werden konnte. Die zur Bewachung des Schat- konspirativer Putsch in Form einer Kette von zes abgestellten Kommissare waren nach kür- Missgeschicken und Missverständnissen. zester Zeit betrunken und der auf die Straße Angesetzt hatte ihn Lenin gegen den Wider- gepumpte Wein wurde aus den Rinnsteinen Hauptsache Nebenwiderspruch 43

genossen. Rückblickend mag die glorreiche Befreiung zurückgeführt.31 Schon vorher hat- Stürmung des Winterpalais somit als Missver- te der einflussreiche Pädagoge und Sublima- ständnis erscheinen, als die Eroberung eines tionstheoretiker Aron Zalkind in seinen «Zwölf von wenigen Ministern schlecht bewachten sexuellen Geboten» Kollontai kritisch erwähnt. Weinkellers. Sie habe vergessen, darüber zu informieren, dass die Komsomolzin ihrer berühmten No- Bedürftigkeiten velle «Liebe der drei Generationen», welche Vielleicht war die am meisten missverstan- für sich die gleichen sexuellen Rechte in An- dene Theoretikerin der Revolution – kurz vor spruch nahm, die traditionell für sogenannte oder kurz nach Marx27 – Alexandra Kollontai. Jungen galten, unter Satyriasis (dem männ- Zumindest wurden ihre Polemiken gegen re- lichen Gegenstück zur Nymphomanie) lei- pressive Sexualmoral recht unterschiedlich de. Freizügige, häufige Sexualität galt diesen verstanden. Die Forderung nach freier Liebe – Sowjetideologinnen als ungesunde Energie- frei von klerikal-staatlichen Eingriffen, ökono- verschwendung, vor allem aber als unkom- mischen Zwängen, patriarchaler Gewalt28 – munistische Ablenkung von der Arbeit. Zu interpretierte das Fürsorgeamt in Saratow im diesem sich verbreitenden «Anti-Kollontai» Sinne eines «Dekrets zur Verstaatlichung von dürfte auch Lenin beigetragen haben, der im Frauen», mit dem es die Ehe abschaffte und Interview mit der deutschen Sozialdemokra- sogenannten Männern das Recht auf geneh- tin Clara Zetkin einen bemerkenswerten Kom- migte Bordelle zusprach. In Wladimir erstell- mentar zu der Alexandra Kollontai zugeschrie- te das «Büro der freien Liebe» einen Aufruf an benen «Glas-Wasser-Theorie» abgab, von der alle unverheirateten Frauen zwischen 18 und er meinte, sie habe «unsere Jugend toll ge- 50, sich zu registrieren, damit Sexualpartner macht, ganz toll».32 Die Glas-Wasser-Theorie für sie ausgewählt werden könnten. Im Inter- der sowjetischen 1920er Jahre funktionier- esse des Staates, den Kollontai gerade weitge- te dabei anders als der in den 1980er Jahren hend aus den sexuellen Beziehungen heraus- auf westdeutschen Spielplätzen kursierende halten wollte, sollten sogenannte Männer das Witz, der ein Glas Wasser als Verhütungsme- Recht erhalten, sich unter den Registrierten, thode anbot – anstelle von reproduktiver Se- auch ohne deren Zustimmung, eine Partne- xualität. Sie benannte die Ansicht, dass Se- rin zur Fortpflanzung auszusuchen.29 Gleich- xualität ein ebenso einfaches Bedürfnis wie zeitig durfte sich die Marxistin Kollontai, weil Hunger oder Durst sei und dementsprechend sie den Klassenkampf durch einen Geschlech- ohne weitere romantische Komplikationen terkampf ersetzt habe, von einer Genossin befriedigt werden könne.33 Lenin antwortete: aus der kommunistischen Frauenorganisa- «Nun gewiss! Durst will befriedigt sein. Aber tion Zenotel als «Kommunistin mit einer soli- wird sich der normale Mensch unter norma- den Dosis feministischen Mülls» beschimpfen len Bedingungen in den Straßenkot legen und lassen30 und wurde wiederholt als Propagan- aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus ei- distin eines kalten Hedonismus angeklagt, nem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lip- von dem sie sich in ihren politischen Schriften pen ist? […] Zur Liebe gehören zwei, und ein gerade zu distanzieren versucht hatte. drittes, ein neues Leben entsteht. In diesem Als 1926 Mitglieder der kommunistischen Ju- Tatbestand liegt ein Gesellschaftsinteresse, ei- gendorganisation Komsomol an einer Grup- ne Pflicht gegen die Gemeinschaft.»34 penvergewaltigung teilnahmen, wurde dies In der Reduktion von Sexualität auf die Repro- in einer großen medialen Kampagne auf eine duktion der Gattung und ihrer Bestimmung von Kollontai inspirierte Theorie der sexuellen als Pflicht gegenüber der Gemeinschaft – 44 Hauptsache Nebenwiderspruch

einschließlich der biopolitischen und euge- keit» ihrer – gewaltsamen – Unterdrückung nischen Implikationen – stimmte Lenin mit durchkreuzt. Zum anderen wird die Möglich- seinen Kontrahentinnen überein.35 Durch die keit dieser Unterdrückung schon in der ge- Verbildlichung nichtmonogamer oder unge- genwärtigen Gesellschaft ausgemacht, die zügelter Sexualität als Glas, dessen Rand fet- damit bereits Momente der zukünftigen ent- tig von vielen Lippen ist, sprach er allerdings hält. Aber das wenig unschuldige Beispiel der nicht nur den in der frühen Sowjetunion sehr «zu beschützenden Frau» gibt Auskunft über prominenten Hygienediskurs an, sondern vor die Voraussetzungen dieses Arguments einer allem einen klassischen heterosexistischen scheinbar voraussetzungslosen Gewalt «Ein- Code, der freie weibliche Sexualität mit dem zelner». Die Annahme, dass eine nicht allzu Verlust einer gewissen «Ehre» oder «Reinheit» beliebige Gruppe Menschen in aller Zukunft und damit auch respektabler Attraktivität ver- weiterhin auf Schutz angewiesen bleiben knüpfte. müsse – das heißt erstens, dass sie nicht in «Allein der Kommunismus macht den Staat der Lage sein werde, sich selbst zu schützen, völlig überflüssig, denn es ist niemand nie- und zweitens, dass sie sich der Gewalt immer derzuhalten, ‹niemand› im Sinne einer Klas- wieder als geeignetes Objekt anbieten wer- se, im Sinne des systematischen Kampfes ge- de –, gilt Lenin jedoch als ahistorisch und de- gen einen bestimmten Teil der Bevölkerung. ren Gegenthese somit als utopisch. Verdeckt Wir sind keine Utopisten und leugnen durch- wird damit der «systematische Kampf ge- aus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlich- gen einen bestimmten Teil der Bevölkerung», keit von Ausschreitungen einzelner Personen durch welchen dieser geschlechtliche Klas- und ebenso wenig die Notwendigkeit, solche se nicht unähnlich der proletarischen Klasse Ausschreitungen zu unterdrücken. Aber da- »niedergehalten«, hervorgebracht und bestä- zu bedarf es […] keines besonderen Unter- tigt wird. Die Politik der Russischen Revoluti- drückungsapparats; das wird das bewaffnete on, auch als bolschewistische, ging hier über Volk selbst mit der gleichen Selbstverständ- Lenins beschränktes Vorstellungsvermögen lichkeit und Leichtigkeit bewerkstelligen, mit hinaus. Wenn auch nicht über seine Staats- der eine beliebige Gruppe zivilisierter Men- theorie, deren Anwendbarkeit Lenin in diesem schen sogar in der heutigen Gesellschaft Rau- Fall nicht gegeben sah. Denn in der Bekämp- fende auseinanderbringt oder eine Frau vor fung der – im marxistischen Diskurs der So- Gewalt schützt.»36 wjetunion nicht sogenannten – Geschlechter- Der Kommunismus, sagte Lenin damit wider klassen und der männlichen Herrschaft war es Willen, würde ebenso frei von Staat sein, wie eben der Staat, dem die zentrale Rolle zuge- der Kapitalismus frei von sexistischer Gewalt. dacht war. Anders als mit optimistischeren Voraussagen lag er mit dieser Prognose sehr nah an der tat- Denkbarkeiten sächlich wenig utopischen Wahrheit des re- Der Prozess sexueller und geschlechtlicher alen Sozialismus. Die Abgrenzung von der Emanzipation wurde in der sozialistischen Utopie – im leninistischen Diskurs des «wis- Theorie – von Engels über Bebel bis zu Zetkin senschaftlichen Marxismus» ohnehin nur in und Kollontai – im Rahmen einer Kritik der Fa- pejorativer Absicht verwendet – erfolgte hier milie artikuliert, die als in Auflösung begriffen in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird ein pa- gedacht wurde. Die vorbürgerliche wie die radiesisches Imago des Kommunismus durch kleinbürgerliche Familie gilt dieser Theorie als die Behauptung der «Unvermeidlichkeit» ei- Produktionseinheit, die auf der Grundlage ei- ner gewissen Gewalt und der «Notwendig- ner auch geschlechtlichen Arbeitsteilung die Hauptsache Nebenwiderspruch 45

für die Reproduktion ihrer Mitglieder notwen- mühen, proklamiert der sozialistische prakti- digen Lebensmittel bereitstellt: Nahrungsher- scherweise direkt deren Abschaffung: «Un- stellung und -zubereitung, Kleidung, Sorge, sere Aufgabe besteht nicht im Streben nach Aufzucht, Pflege usw. In dem Moment, in dem Gerechtigkeit in der geschlechtlichen Arbeits- die (kapitalistische) Industrie Textilien, Nah- teilung. Unsere Aufgabe ist, Männer wie Frau- rung, Werkzeuge billiger zur Verfü- gung stellen kann, In teleologischer Manier besteht die Aufgabe in dem Wäsche­ des Sozialismus darin, die im Kapitalismus reien schneller ar- begonnene Tendenz des Absterbens der beiten als Heim- Familie und des in ihr institutionalisierten arbeiterinnen und Sexismus zu Ende zu bringen. staatliche Schu- len die Ausbildung übernehmen, verliert die en von der Arbeit im Kleinfamilienhaushalt Familie ihre zentrale «produktive» Funktion [petty household labor] zu befreien.»37 und gerät in eine Krise, die mit der weiblichen Das Problem dieser Konzeption wird spätes- Lohnarbeit zugleich eine Krise der patriarchal tens dann deutlich, wenn die als Verstaatli- hierarchischen Arbeitsteilung ist. In klassisch chung konzipierte Vergesellschaftung der teleologischer Manier besteht die Aufgabe Hausarbeit aufgrund ökonomischer Umstän- des Sozialismus darin, die im Kapitalismus de nicht gelingt, weil sich öffentliche Spei- begonnene Tendenz des Absterbens der Fa- sung, Reformheime, Kindertagesstätten usw. milie und des in ihr institutionalisierten Sexis- als Sozialausgaben darstellen, an denen der mus zu Ende zu bringen, und zwar durch die sozialistische Staat wie jeder kapitalistische Sozialisierung, das heißt Vergesellschaftung zuerst kürzt.38 Die Teleologie dieses Histori- oder leider eher Verstaatlichung ihrer verblie- schen Materialismus legt nahe, dass Freiheit benen Funktionen. Wenn Kinder von großen zur Wahl nur auf einem bestimmten Stand der demokratischen und antiautoritären Institutio- Produktivkraftentwicklung gewährt werden nen aufgezogen werden, Essen nicht mehr in könne und dürfe. Erst wenn auf der Grundlage Kleinküchen, sondern in öffentlichen Kantinen einer Einsicht in die Notwendigkeit die äuße- zubereitet wird, Alte und Kranke nicht länger re Welt so bearbeitet wurde, dass der Mangel von sogenannten Angehörigen gepflegt wer- abgeschafft wurde, kann auch die Freiheit zur den und die Reinigung der Wohnungen nicht Wahl zwischen der Fülle von Möglichkeiten mehr privat organisiert wird, dann ist die Fami- realisiert werden. Nur unter der Bedingung lie gänzlich überflüssig und stirbt ab. Und mit des vollkommenen Überflusses kann Freiheit ihr die geschlechtliche Arbeitsteilung, also die existieren. Dieses Dispositiv strukturiert eine Grundlage der Geschlechterdifferenz samt der Vielzahl von Diskursen: Erst wenn Arbeit pro- auf Aneignung unbezahlter Reproduktions- duktiver ist, darf sie anfangen Spaß zu ma- arbeit basierenden sexistischen Ausbeutung. chen, erst wenn der Zug im Bahnhof steht, Was für eine klare, materialistische und we- dürfen alle mal ans Steuer, erst wenn der Staat nig utopische Utopie, die ohne jeden Bezug fähig ist, sämtliche reproduktive Arbeiten zu auf emotionale Differenz, Körperkonstruktio- übernehmen, kann die geschlechtliche Aus- nen, symbolische Ordnungen oder diskursive beutung abgeschafft werden. Hauptsache Vergeschlechtlichung auskommt. Statt sich Nebenwiderspruch: Erst kommt der Reich- lange – wie der westliche Feminismus – um tum, dann die Demokratie.39 Insofern durch Veränderungen innerhalb der Familie zu be- diesen Aufschub die geschlechtliche Arbeits- 46 Hauptsache Nebenwiderspruch

teilung nicht ausreichend als geschlechtliche mit ein», wurde zwar von den Bolschewiki fokussiert wurde, liegt die Familie als kos- ebenso geteilt wie die Forderung, «Männer» tengünstige Alternative – zumindest über- sollten «Frauen» im Haushalt «helfen», sie gangsweise – wieder nahe. Und selbst nach nimmt aber in der sozialistischen Emanzipati- gestiegener Produktivkraftentwicklung blieb onstheorie keinen systematischen Stellenwert bis in die späten 1980er im Wirkungsbereich ein. Emanzipation wurde hauptsächlich in Be- der Sowjetunion der nicht vergesellschafte zug auf Staat und Lohnarbeit konzipiert, sie Rest, der an notwendiger Arbeit bis zur tota- enthielt damit gleichzeitig eine unhinterfrag- len Robotisierung immer noch anfällt, in der te Norm, die bestimmte, in welche Richtung Hauptsache sogenannten Frauen überlas- die Entwicklung zu gehen hatte: «Nur ein ge- sen40. Eine androzentrische Matrix vorausge- trenntes Einkommen wäre in der Lage, Frauen setzt, liegt der Grund dafür in der Abwertung ökonomische Unabhängigkeit und Zugang zu jener notwendigen Arbeiten, die als reproduk- einer breiteren öffentlichen Welt zu verschaf- tiv gefasst werden. Diese gelten als rückstän- fen. Wenn Frauen ökonomisch und psycholo- dig, stumpf, unwissenschaftlich-irrational, gisch befreit werden sollten, hätten sie mehr unproduktiv-repetitiv und – größtmögliches wie Männer zu werden, oder genauer, mehr Schimpfwort – kleinbürgerlich.41 Auch Lenin wie männliche Arbeiter.» polterte in dem Interview, das er Clara Zetkin gab, gegen die «kleinliche, eintönige, kraft- Geschlechtlichkeiten und zeitzersplitternde und verzehrende Arbeit Im Frühjahr 1929 rief der Volkskommissar für im Einzelhaushalt», an welcher die Frauen ver- Gesundheit, Nikolai Semaschko, ein Gremium kümmerten, so «dass ihr Geist dabei eng und von «Experten», forensischen Gynäkologen, matt, ihr Herzschlag träge, ihr Wille schwach klinischen Psychiatern, Biologen zusammen, wird».42 So wenig sich diese Kritik der «Skla- die dem Justizkommissariat dabei helfen soll- verei des Spülbeckens» (Maria dalla Costa) ten, über den Antrag der Bürgerin Kamenev abweisen lässt, so erstaunlich ist doch umge- auf operativen und juristischen Geschlechts- kehrt, dass im Kontrast dazu die Fabrikarbeit, wechsel zu entscheiden.44 Der Antrag war bei zumal die diszipliniert-militarisierte, in solch Weitem nicht der erste seiner Art, bereits 1923 glänzendem Licht als abwechslungsreich und hatte ein Transmann sich mit einem ähnlichen befreiend erscheint. Und erstaunlich bleibt in- Anliegen an die Behörden gewandt, und die nerhalb eines egalitären Rahmens, dass eine Realisierbarkeit der Transformation der mate- stumpfe, rückständige Arbeit entweder vom riellen Geschlechtssignifikanten des Körpers Staat überflüssig gemacht wird oder von einer stand in dem utopisch-wissenschaftlichen Kli- traditionell hierfür bereitgestellten Gruppe – ma der Revolution außer Frage. Angesichts Frauen genannt – gemacht werden muss.43 der Selbstversuche von Intellektuellen, mit- Diesbezüglich erwies sich Lenin als der un- hilfe von Bluttransfusion Alte jung und Junge dogmatische, antiökonomistische Denker, der weise zu machen, angesichts der Forderung, er als praktischer Revolutionär auch immer die Toten wieder zu erwecken, um auch ih- war. Seine Hauptattacke galt den männlichen nen ein Leben im Sozialismus zu ermöglichen, Genossen, die es als «gegen ‹das Recht und und der Planung, den Mars zu besiedeln, was die Würde des Mannes›» betrachteten, in An- aufgrund der mit der Wiedererweckung ver- führungszeichen gesetzte «Weiberarbeit» zu bundenen Übervölkerung der Erde nötig wür- verrichten. Lenins Schlussfolgerung, die so- de, angesichts der Prognose, die Menschen zialistische Frauenarbeit schlösse «ein gutes würden erst einen Körper aus Maschinen Stück Erziehungsarbeit unter den Männern und dann aus Licht annehmen, um sich bes- Hauptsache Nebenwiderspruch 47

ser zwischen ihren beiden Planeten bewegen mischen und kulturellen Rückständigkeit. 50 zu können usw.,45 musste die medizinische In direktem Gegensatz zu der Verhältnisbe- Überarbeitung eines Körpergeschlechts, das stimmung von Islam und (Homo-)Sexualität für die Zukunft ohnehin nicht mehr vorgese- im 21. Jahrhundert, aber in direkter Entspre- hen war, wie Pedanterie erscheinen. Die An- chung zum europäischen Orientalismus-Dis- rufung wissenschaftlicher Expertinnen in ge- kurs51 des 19. und beginnenden 20. Jahrhun- schlechtlichen oder sexuellen Fragen selbst derts, wurden die sexuellen und darin eben war ein Effekt der Revolution, denn während auch «gleichgeschlechtlichen»52 Praktiken der zaristischen Herrschaft hatte der medizi- dieser islamischen Regionen einer unzivilisier- nisch-psychiatrische Diskurs nur einen sehr ten Kultur zugeschrieben, die mit der europäi- geringen gesellschaftlichen Einfluss gegen schen Moderne kontrastiert wurde. Dies ging die orthodoxe Kirche geltend machen kön- so weit, dass in diesen Regionen nicht nur die nen.46 Es gehört zu den Paradoxien der sozia- zaristischen Sodomiegesetze intakt blieben, listischen Revolution, dass sie zunächst eben sondern in Usbekistan das 1923 geschaffe- jenem Diskurs der Biologie zum Durchbruch ne sowjetische Gesetz gegen sexuelle Beläs- verhalf, der in den bürgerlichen Gesellschaf- tigung von Frauen auch auf erwachsene Män- ten Westeuropas bereits seit mehreren De- ner ausgedehnt wurde.53 Damit sollten vor kaden hegemonialgeschlechtliche und se- allem Jungen vor erzwungener Prostitution xuelle Abweichungen und darüber vermittelt geschützt werden, es ließe sich aber vermu- Normalität definierte.47 Während der an se- ten, dass sich auch die männlichen russischen xuellen Praxen orientierte christliche Diskurs Kommissare vor den Avancen der regionalen jede Form nichtreproduktiver Lust als Sün- Männer schützen wollten.54 de verworfen hatte, brachte erst das bürger- In der Diskussion des vom Gesundheitskom- lich-wissenschaftliche Paradigma Identitäten missar Nikolai Semaschko einberufenen wie etwa «die Homosexuelle» hervor.48 Der li- Gremiums erwies sich jedoch neben dieser berale psychiatrische Diskurs wies das christ- eurozentrischen noch eine andere, andro- lich-staatliche Modell Sünde/Kriminalität also zentrische Norm als relevant. Und diese führ- zurück, indem er das normativ-psychiatrische te zu einer deutlichen Asymmetrie in der Be- Modell Krankheit/biologische Abweichung an wertung transgeschlechtlicher Bewegungen. dessen Stelle setzte. Während Transweiblichkeit nämlich, schwu- In der Debatte um den Antrag der Bürgerin Ka- le Effeminierung etwa, als bürgerlich-deka- menev, in der die anwesenden Expertinnen – dent, als Bedrohung vor allem des Militärs ausschließlich sogenannte Männer by the aufgefasst wurde, da sie sich angeblich durch way – eine Vielzahl von Beispielen geschlecht- mentale Infektion verbreiten konnte, wurden licher und sexueller Anomalitäten anführten, Transmännlichkeiten zwar als übertriebene zeigte sich allerdings eine bemerkenswerte Form von Geschlechtergleichheit kritisiert, Begrenzung des sexualreformerischen Bio- aber zugleich als revolutionäre Bolschewi- logie-Diskurses in der frühen Sowjetunion.49 ki, als nützliche Mitglieder der Roten Armee Das zweifelhafte Recht, eine biologische Ab- wie der sozialistischen Gesellschaft im Allge- weichung zu sein, wurde nur den Perversen meinen respektiert. Dies wurde besonders des europäischen und städtischen Russlands deutlich an der Diskussion um den berühm- zugestanden. Für die islamisch geprägten Re- ten Transmann/die berühmte Butch Evgenja gionen der zentralasiatischen Sowjetunion Fedorovna/Evgenij Fedorovitsch, auf dessen/ hingegen galten geschlechtliche und sexu- deren «Fall» im «Expertengremium» mehrfach elle «Anomalien» als Ausdruck einer ökono- Bezug genommen wurde. 1922 hatte er eine 48 Hauptsache Nebenwiderspruch

cisweibliche55 Postangestellte geheiratet, eine sich in einen Mann verwandelt – auch wenn Ehe, deren Legitimität kurz darauf angezwei- ‹sie› im Moment noch einen Rock oder ge- felt wurde. Aber die Anklage, die auf «Ver- nauer einen Hosenrock trug».59 Obwohl der brechen wider die Natur» lautete, scheiterte Gesundheitskommissar diesen Trend als ei- im liberalen Klima der frühen Sowjetunion. ne vulgäre Form von Geschlechtergleichheit Ein sowjetisches Gericht erklärte die Ehe zwi- denunzierte, stellte er doch den politischen schen Cisfrau und Transmann/Butch für rech- Wert dieser transgeschlechtlichen Bolschewi- tens – unabhängig davon, ob es sich dabei um ki keineswegs infrage. Seine Kritik blieb soli- eine gleich- oder eine transgeschlechtliche darisch, die wahren Gegnerinnen bestanden Heirat handelte – mit dem simplen Hinweis in den gepuderten, gerougten, Nägel feilen- darauf, dass sie einvernehmlich geschlossen den «Damen» der klassenfremden Milieus,60 worden war. Aber Evgenij Fedorovitsch hat- den «Bestrumpften», wie sie bei dem avant- te nicht nur geheiratet, er war auch Mitglied gardistischen Dramatiker Sergei Tretjakow der Tscheka gewesen. Jener sowjetischen bündig heißen. Bolschewistische «Frauen», Geheimpolizei also, von der ihr Gründer, Fe- die Härte, emotionale Kontrolle, Effizienz, kal- lix Dserschinski, gesagt hatte, sie kämpfe an te Rationalität, Rücksichtslosigkeit als zentra- «der gefährlichsten und grausamsten Front al- le Eigenschaften ihrer politischen Subjektivität ler Fronten», der inneren nämlich, und erfor- ausbildeten, waren nicht nur ein Massenphä- dere «zuverlässige Genossen […], die mit al- nomen,61 sie repräsentierten auch das sowje- ler Entschiedenheit und Härte kämpfen»,56 die tische Subjektideal, wie es in einer Unzahl li- sich mit anderen Worten nicht vor allem durch terarischer Texte von Kollontai bis Tretjakow ›weibliche‹ Tugenden auszeichneten. Und da- immer wieder ausgestaltet wurde.62 mit war Evgenja Fedorovna/Evgenij Fedoro- Obwohl sich ähnliche geschlechtliche Trans- vitsch keineswegs eine gänzliche Ausnahme. formationen in den 1920er und 1930er Jah- Menschen wie sie/er57 fanden sich in stattli- ren auch außerhalb der jungen Sowjetunion chen Mengen in der Roten Armee, in den Fab- finden lassen, bestand die besondere Verbin- riken, in den Parteiorganisationen. Volkskom- dung zur kommunistischen Politik doch darin, missar Nikolai Semaschko selbst hatte bereits dass die historische Tendenz der Maskulinisie- 1922, sieben Jahre vor dem Expertentreffen, rung nicht nur von einer Theorie allgemeiner festgestellt, dass die «maskulinisierte» Frau Emanzipation legitimierend begleitet, sondern ein «häufig anzutreffender Typus war, der zer- auch praktisch als Ausdruck revolutionärer zauste, oft schmutzige Haare trug, der (wie Überzeugung und Arbeit honoriert wurde. ein Mann) eine billige Zigarette zwischen die Die revolutionäre Literatur lässt keinen Zweifel Zähne geklemmt hatte», (wie ein Mann) ab- daran, dass die Gleichheit, die der traditions- sichtlich schlechte Manieren an den Tag legte kommunistische Emanzipationsdiskurs mein- und (wie ein Mann) mit einer absichtlich rauen te, die Gleichheit mit einem männlichen Uni- Stimme sprach».58 versellen ist. Ossip Mandelstam schrieb 1922: Und, fuhr er fort, diese ehemalige Frau hätte «Das Ideal einer vollkommenen Männlichkeit «alle weiblichen Eigenschaften verloren und wird von der Form und den Anforderungen

In der frühen Sowjetunion wurden Geschlechter als aufeinanderfolgende Stadien menschlicher Entwicklung konzipiert, von denen die eine – Weiblichkeit – durch die andere – Männlichkeit – zu überwinden ist. Hauptsache Nebenwiderspruch 49

unserer Epoche vorbereitet. Alles ist schwerer ses Ideals. Die geschlechtliche Opposition und größer geworden, und deswegen muss wird von einer räumlichen der Sphären (pri- auch der Mensch härter werden, denn der vat-öffentlich bzw. reproduktiv-produktiv) in Mensch muss härter als alles andere auf der eine zeitliche (konservativ-progressiv bzw. Erde sein und sich zur Erde verhalten wie ein bürgerlich-sozialistisch) transponiert und Diamant zum Glas.»63 damit denaturalisiert. Die Gegenüberstel- Und Andrei Platonov brachte es 1920 noch lung lautet dann nicht mehr Innen–Außen deutlicher auf den Punkt: «Die kommunisti- (Heim–Welt) oder Arbeit–Familie, sondern sche Gesellschaft ist ihrem Wesen nach eine Zukunft–Vergangenheit bzw. Fortschritt– Gesellschaft der Männer.»64 Rückschritt. Nicht von Natur aus beteiligen sich diese Frauen nur am nachbarschaftli- Beschränktheiten chen Geschwätz übers Wetter und nicht am Doch diese kommunistische Gesellschaft war wissenschaftlichen Diskurs der Öffentlich- wesentlich keine Gesellschaft der Männer, keit, sondern aufgrund ihrer sozialen Rück- sondern eine männliche Gesellschaft, eine Ge- ständigkeit. Eine Reproduktion der Hierarchie sellschaft der Männlichkeit. In der frühen So- zwischen verschieden vergeschlechtlichten wjetunion wurden Geschlechter als im Sinne Subjekten stellt sich auf der Basis von deren des Fortschritts aufeinanderfolgende Stadien unterschiedlicher Ausgangsdistanz zum Ide- menschlicher Entwicklung konzipiert, von de- al menschlicher Emanzipation (also von pro- nen die eine durch die andere zu überwinden letarischer Männlichkeit) mit einer gewissen ist. Weiblichkeit wurde also als Rückständig- Zwangsläufigkeit ein.65 Sie ist aber gemes- keit entziffert, der gegenüber Männlichkeit sen an der dominanten Intention der Gleich- einen Fortschritt bedeutet, an dem die ganze heit ein paradoxer Effekt sozialistischer Pra- Menschheit partizipieren können sollte. Ein- xis, der zudem von der marxistischen Theorie mal mehr hieß es, alle Menschen würden Brü- als Übergangserscheinung konzipiert werden der – allerdings in den seltensten Fällen war- kann (und wird). Denn die geschlechtliche me. Das sozialistische Emanzipationsmodell Bewegung der Revolution von 1917 ist uni- übernahm somit das liberale, aus dessen Vo- versell, es ist die Bewegung einer universel- kabular die Brüderlichkeitsfigur ja stammt, be- len Maskulinisierung. Die bolschewistische freite es aber von dessen partikularistischer Bewegung, die den Reichtum zur Bedingung Beschränkung, welche brüderliche Gleichheit der Freiheit erklärt, beschneidet gleichzeitig in als Gleichheit von Brüdern, von als Männern ihrer begrenzenden Normierung den Reich- konstruierten Subjekten fasst. Die in der Revo- tum gesellschaftlicher Möglichkeiten. Inso- lution etablierte bzw. reproduzierte Hierarchie fern sie die in der Sphäre der Reproduktion geschlechtlicher Attribute dient dann nicht ausgebildeten affektiven und sozialen Fertig- wie in Gesellschaften mit heterosexistischer keiten (= Subjektivitäten) wie die jene hervor- Produktionsweise der Konstruktion und Distri- bringenden Modi des Sozialen (= Beziehungs- bution spezifischer Subjektivitäten entlang der weisen) als rückständige verwirft, stehen ihr Linien und Anforderungen einer vorgeschrie- historisch gewachsene Weiblichkeiten nicht benen gesellschaftlichen Arbeitsteilung. mehr als Ressourcen der Revolution zur Ver- Sie kontrastiert vielmehr ein Ideal mensch- fügung. Auf einer solch künstlich verknapp- licher Emanzipation, das für sämtliche Mit- ten Basis fällt es schwer, die kommunistische glieder der Gesellschaft zugänglich sein soll, Frage zu stellen, wie die Gesamtheit jener mit dessen Gegenteil, einem passiven Schei- Arbeiten organisiert werden soll, die wir als tern an diesem oder aktiven Bekämpfen die- notwendig anerkennen zur Befriedigung der 50 Hauptsache Nebenwiderspruch

Bedürfnisse, die uns befriedigenswert er- verständlichkeit, alle meinbaren Geschlechter zu meinen, und beharrt darüber hinaus darauf, dass ebenso unnötig ist, beim Wort «Leserin» scheinen. Die historischen Geschlechter samt das Geschlecht der bezeichneten Person ablesen zu können wie ihr der sie hervorbringenden Beziehungsweisen Einkommen oder ihre Haltung zum Empiriokritizismus. Geschlecht sollte nur dort benannt werden, wo es benannt werden soll – und dies und der von ihnen hervorgebrachten Exis- eigentlich auch nur zum Zwecke der Belustigung oder der Kri - tik. 2 Umgekehrt lässt sich von Fernsehzuschauerinnen scheinbar tenzweisen müssten dafür als gewordener beobachten, dass sich die Wetterberichte mit den Schwankungen der Speicher affektiver, habi­tueller, intellektueller, Ökonomie ändern: «Je komplexer die Weltlage, desto sinnlicher die Wetternachrichten» (Leder, Dieter: Die Bedeutung des Wetterberichts praktischer Ressourcen verstanden werden, in der Finanzkrise, in: Der Freitag, 5.11.2011). 3 Haffner, Sebastian: aus denen eine kommunistische Gesellschaft Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, München 2002, S. 28. 4 Ebd., S. 37. 5 Figes, Orlando: Tragödie eines Volkes. im Prozess ihrer Befreiung wählen kann. Dies Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, allerdings ist genau der Moment der Freiheit, S. 334. 6 Ebd., S. 345. 7 Ebd., S. 372. Manchmal dauerte es sogar noch länger. In die Dörfer an der finnischen Grenze, berichtet Franz den die Russische Revolution verfehlt, um et- Jung, war noch 1922, also fünf Jahre «nach» der Revolution, kaum wa die Hälfte. mehr als «die Kunde gelangt, dass in Moskau ein neuer Zar sich ein- gesetzt hatte» (Jung, Franz: Der Weg nach unten, Hamburg 2000, Der begrenzte, weil zwar nicht nur sogenann- S. 217). Wie schlecht für die Wirklichkeit, dass diese Kunde weitere fünf oder zehn Jahre später gar nicht mehr so weit von der Wahrheit te Männer betreffende, aber nur Männlichkeit entfernt war. 8 Figes: Tragödie, S. 376. 9 Ebd., S. 373–378. 10 Ebd., verallgemeinernde Universalismus der re- S. 391. 11 Sie beließen es nicht bei Drohungen. Viele Offiziere entzo- gen sich aber auch durch Suizid; vgl. ebd., S. 403 f. 12 Außer Kaiserin, volutionären Emanzipationsbewegung lässt zaristischer Regierung und Krieg wurden, so Figes, in Russland auch sich bis in die «postrevolutionäre» Namensge- «alle Ausländer» so genannt (ebd., S. 439 u. 442). Der Begriff «deutsch», wurde häufig synonym mit «Burschui» (Bürger), «Speku- bung hinein verfolgen. Wie die folgende Lis- lant», «Jude» verwendet (ebd., S. 554). «Deutsche Kleidung» bedeu- te einiger der schönsten neuen Namen zeigt, tete in Russland auch lange Zeit nichts anderes als gute Kleidung, Kleidung der Reichen also (ebd., S. 225). 13 General Brussilow, zit. waren die Militanz konnotierenden Namen nach: ebd., S. 404. 14 Ebd., S. 404, 441 u. 786. 15 Er ist historisch von den meist bürgerlichen nationalen Eliten in einem aufwendigen keineswegs so zu nennenden Jungen vor- Konstruktionsprozess durchgesetzt worden. Für Russland, bekannt- behalten – das «weibliche A» am Ende weist lich etwas «hinter» der Moderne der westeuropäischen Bourgeoisie, lässt sich das noch für den Ersten Weltkrieg zeigen. Ein englischer meistens darauf hin: Marx, Engelina, Rosa, Diplomat schrieb 1918: «Wenn man einen durchschnittlichen Bauern Wladlen, ­Iljina, Marlen (für Marx und Lenin), in der Ukraine nach seiner Nationalität fragt, wird er antworten, er sei griechisch-orthodox; wenn man ihn drängt zu sagen, ob er ein Groß- Melor (für Marx, Engels, Lenin und die Okto- russe, ein Pole oder ein Ukrainer sei, wird er wohl antworten, er sei berrevolution), Prawda, Barrikada, ­Fewral (Fe- Bauer; und wenn man darauf besteht zu erfahren, welche Sprache er spricht, wird er sagen, dass er ‹die Sprache von hier› spricht. […] bruar), Oktjabrina, Rewoljuzija, Parischkomu- Wenn man also herausfinden will, welchem Staat er gerne angehören na, Molot (Hammer), Serpina (Sichel), Dasmir möchte – ob er von einer allrussischen oder einer besonderen ukrai- nischen Regierung regiert werden möchte –, wird man erfahren, dass (es lebe die Weltrevolution), Diktatura und seiner Meinung nach alle Regierungen eine Landplage seien und dass 66 es das beste wäre, wenn das ‹christliche Bauernvolk› sich selbst über- ­Terrora. lassen bliebe» (ebd., S. 92) Das drückt sich auch in der Stimmung der Auch hier allerdings artikulierte sich die Revo- bäuerlichen Soldaten während des Krieges aus: «‹Welcher Teufel hat diesen Krieg über uns gebracht? Wir mischen uns nur in anderer Leu- lution in der für sie grundlegenden Form des te Angelegenheiten ein.›‚ ‹Wir haben es untereinander besprochen. Missverständnisses. Namen, die Kindern ge- Wenn die Deutschen Geld wollen, wäre es besser, ihnen zehn Rubel pro Kopf zu zahlen als Menschen zu töten.›, ‹Ist es nicht vollkommen geben wurden, weil sie aufgrund ihres Klan- egal, unter welchem Zaren wir leben? Unter dem deutschen kann es ges für revolutionär gehalten wurden, lauteten nicht schlimmer sein›» (ebd., S. 280). 16 Zum Furor der Repräsenta- tion in der Identitätspolitik der kommunistischen Parteilinie vgl. Adam- auch Embryo, Vinaigrette und – als ginge es czak, Bini: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer darum, mit der zukünftigen Generation auch Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, Münster 2007, S. 60, 75 u. ö. 17 Lenin (Die nächsten Aufgaben der Sowjetrepublik, 1918), das Wetter zu ändern – Markisa. zit. nach: Kautsky, Karl: Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution (1918), in: ders.; Demokratie oder Diktatur, Bd. 1, Berlin 1990, S. 311 f. (Hervorheb. im Original). 18 Ebd., 1 In einem Text über Nebenwidersprüche und Nebensächlichkeiten S. 312. 19 Serge, Victor: Erinnerungen eines Revolutionärs, Hamburg lässt sich die erste Fußnote auch dem Schreibstil des universell gene- 1991, S. 82. 20 Reed, John: 10 Tage, die die Welt veränderten, Berlin rischen Femininum widmen – auch wenn das Stolper-i die Leserin ei- 1977, S. 50 u. 317; Figes: Tragödie, S. 392, 403 u. 560. 21 Dieses Res- gentlich nicht aufklären, sondern zum Stolpern bringen will. Das Bin- sentiment machte auch vor pensionierten narodnikischen (sozialre- nen-I, das in dieser Broschüre sonst verwendet wird, symbolisiert in volutionären) Professoren nicht halt, sofern sie Golduhren trugen; seiner Größe die überholte Phantasie einer Zweigeschlechtlichkeit, ebd., S. 347. 22 Ebd., S. 389. 23 Marx, Karl: Der 18. Brumaire des der neuere Unterstrich oder das Sternchen symbolisieren dagegen Louis Bonaparte, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW), Bd. eine unabgeschlossene Vielgeschlechtlichkeit. Das kleine i hingegen 8, Berlin 1982, S. 111–207. 24 Enzensberger, Hans Magnus: Der kur- will gar nicht repräsentieren. Es behauptet mit traditioneller Selbst- ze Sommer der Anarchie, Frankfurt a. M. 1977. 25 Vgl. Rabinowitch, Hauptsache Nebenwiderspruch 51

Alexander: Die Sowjetmacht. Das erste Jahr, Essen 2010. 26 Figes: S. 167 ff. 45 Vgl. Groys, Boris/Hagemeister, Michael: Am Nullpunkt, Tragödie, S. 513. 27 Während im zaristischen Russland, Bücher von Frankfurt a. M. 2005. 46 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Voltaire, Spinoza und Hobbes verboten waren, erlaubte die Zensur die Frankfurt a. M. 1983; vgl. auch Klauda, Georg: Die Vertreibung aus Veröffentlichung von Marx’ «Das Kapital», da es aufgrund seiner Un- dem Serail, Hamburg 2008. 47 Es handelt sich um eine Paradoxie, verständlichkeit keine Gefahr darstelle und außerdem von England die nur aus heutiger Perspektive erkennbar ist. Dieses Erkennen resul- handele. Die Briefe hingegen, die Marx zum spezifischen möglichen tiert aus einem Blick, der von den identitätskritischen Bewegungen Übergang Russlands zum Kommunismus (ohne kapitalistischen Um- infolge von 1968 über jene Genealogien informiert ist, die Zweige- weg) an die russische Sozialdemokratie schrieb, wurden von dieser schlechtlichkeit und Zwangsheterosexualität als mit dem Projekt der kaum beachtet. Dabei hätte sein Vorschlag, die Dorfgemeinde zum bürgerlichen Klassenherrschaft und der kapitalistischen Identitätslo- Ausgangspunkt einer kommunistischen­ Entwicklung zu nehmen, statt gik verbundene historische Konstruktionen ausweisen; vgl. z. B. sie mit Kriegskommunismus und Entkulakisierung zu bekriegen, zu Foucault: Sexualität und Wahrheit; Laqueur, Thomas: Auf den Leib sehr viel mehr Freundlichkeit in der Revolution führen können; vgl. geschrieben, München 1996; Duden, Barbara: Geschichte unter der Karl Marx (Brief an Vera Sassulitsch), zit. nach: Figes: Tragödie, Haut, Stuttgart 1991; als Überblick Maihofer, Andrea: Geschlecht als S. 152. 28 Vgl. Kollontai, Alexandra: Die neue Moral und die Arbei- Existenzweise, Frankfurt a. M. 1995. 48 Wie Foucault für die vorbür- terklasse, Münster 1977; dies.: Thesis on Communist Morality in the gerliche Gesellschaft Westeuropas und Klauda für die arabischen Ge- Sphere of Marital Relations, unter: www.marxists.org/archive/kollon- sellschaften gezeigt haben, ist die homosexuelle Identität allgemein ta/1921/theses-morality.htm. 29 Vgl. Figes: Tragödie, S. 783. 30 Ar- eine Erfindung der westlichen Moderne. 49 Das Gremium erarbeite- beitsgruppe Marxismus (Hrsg.): Kommunismus und Frauenbefreiung. te keine klare Richtlinie für den Umgang mit Anträgen auf Anerken- Marxismus Nr. 28, Wien 2006, S. 256. 31 Carleton, Greg: Wri- nung von Transgeschlechtlichkeit, sondern beschied sich mit der Fest- ting-Reading the Sexual Revolution in the Early , in: Jour- stellung, Expertinnen sollten von Fall zu Fall prüfen und entscheiden. nal of the History of Sexuality 2/1997, S. 248. 32 Zit. nach: Zetkin, Damit beantworteten die Wissenschaftler vor allem die Frage, bei Clara: Erinnerungen an Lenin, Berlin 1975, unter: www.marxists.org/ wem ihrer Meinung nach Kompetenz und Autorität für diese Entschei- deutsch/archiv/zetkin/1925/erinnerungen/lenin.html. 33 Das Zitat dungen liegen solle: bei ihnen selbst. 50 Healey: Desire, S. 167 u. Kollontais, das dem am nächsten kommt, lautet: «The sexual act must 170. 51 Vgl. Klauda: Vertreibung. 52 Von «gleichgeschlechtlichem be seen not as something shameful and sinful but as something which Begehren» lässt sich streng genommen nur dann sinnvoll sprechen, is as natural as the other needs of healthy organism, such as hunger wenn zugleich die Kriterien zur Abgrenzung geschlechtlicher Katego- and thirst. Such phenomena cannot be judged as moral or immoral» rien mitgenannt werden. Abhängig davon, wie viele solcher Katego- (Kollontai: Thesis, S. 5). 34 Zit. nach: Zetkin: Erinnerungen, S. 7 (Her- rien gebildet werden, vergrößert oder verkleinert sich der Raum der vorh. B.A.) 35 Auch Kollontai war der Meinung, dass Mutterschaft Gleichgeschlechtlichkeit. In einem Fall wäre eine Butch/Butch-Bezie- eine soziale Pflicht von Menschen darstelle, die über eine funktionie- hung (also zwischen zwei «Männlichkeit verkörpernden» Lesben) rende Gebärmutter verfügten (bei Kollontai «Frauen» genannt), und gleichgeschlechtlich, eine Butch/Femme-Beziehung (zwischen einer dass Menschen, die (vererbliche) Krankheiten hatten, das Heiraten «Männlichkeit verkörpernden» und einer «Weiblichkeit verkörpern- verboten werden solle – im Interesse der Gesundheit dessen, was in den» Lesbe) aber nicht, in einem anderen Fall wäre jede menschliche der deutschen Übersetzung «Rasse» genannt wird. 36 Lenin, W.I.: Beziehung gleichgeschlechtlich, weil im Rahmen der Kategorie des Staat und Revolution, Berlin 1970, S. 93. 37 Preobraschenski, zit. Menschheitsgeschlechts angesiedelt. Im konkreten Fall lautet die Fra- nach: Goldman, Wendy Z.: Women, the State and Revolution. Soviet ge, ob Jungen das gleiche Geschlecht haben wie Männer und Bac- Family Policy & Social Life, 1917–1936, Cambridge 1993, chi – jugendliche Prostituierte etwa in der Region Usbekistan – das S. 191. 38 Ebd. 39 Wunderbar persifliert ist diese Logik am Beispiel gleiche Geschlecht wie Jungen. 53 Healey: Desire, S. 160. 54 Die dreckiger Füße bei Tretjakow: «Diszipliner: […] Wie kann ich in eine Begegnungen stelle ich mir ähnlich vor wie die zwischen US-ameri- Badeanstalt gehen? Da waschen sich doch allerhand Spießer und kanischen GIs und Bewohnerinnen afghanischer Dörfer. Diese fanden weiß der Teufel, wer noch. Eine einzige Seuche und eine völlig unkul- Erstere nämlich «schlimmer als die Al-Qaida»: «Es war die Hölle. In tivierte Art des Waschens, die der niedrigen Entwicklungsstufe der jedem Dorf, in das wir gingen, kam eine Gruppe von Männern auf uns Produktivkräfte in einem Bauernland entspricht. […] – Milda: Also, zu, die Make-up trugen, unsere Haare und Wangen streichelten und solange es keinen Sozialismus gibt, wäschst du dir nicht die Füße» Kussgeräusche machten» (Corporal Paul Richard und Marine James (Tretjakow, Sergej Michajlovič: Ich will ein Kind haben, in: ders.: Ich Fletcher, zit. nach: Klauda: Vertreibung, S. 24). 55 Cisgeschlechtlich- will ein Kind haben. Brülle, China! Zwei Stücke, Berlin 1976, keit – das Gegenteil von Transgeschlechtlichkeit, statt (lat.) Jenseitig- S. 119). 40 So findet sich beispielsweise in einer ungarischen «Frau- keit also Diesseitigkeit (vom Standpunkt der Norm aus betrachtet, enzeitschrift» aus den 1980er Jahren, die in der DDR ins Deutsche versteht sich. Vom Standpunkt der Kritik ist es natürlich das Ideal der übersetzt und publiziert wurde, ein Artikel, der sich mit den Mitteln Zweigeschlechtlichkeit selbst, das im Bereich des religiös Jenseitigen einer Illustrierten der Frage widmet, wie die geschlechtliche Arbeits- liegt). Bezeichnet somit jene Gruppe von Menschen, die das vor/bei teilung bezüglich der häuslichen Reproduktionsarbeit organisiert wer- Geburt autoritär zugewiesene Geschlecht oft bis zum Tod performativ den solle. Der bloße Umstand, dass es die «junge Generation» sein reproduzieren. Anders gesagt, die auch als Erwachsene noch die Klei- soll, welche die Forderung nach Gleichheit akzeptiert, während der dung tragen, welche ihnen die Eltern früher rausgelegt hatten. 56 Fe- «alten Generation» für ihre traditionelleren Auffassungen Verständnis lix Dserschinski, in seiner Antrittsrede, zit. nach: Werth, Nicolas: Ein entgegengebracht wird, offenbart in der Form eines transhistorischen Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sow- Generationenmodells (alt = konservativ, jung = progressiv) eine Ge- jetunion, in: Courtois, Stéphane u. a. (Hrsg.): Das Schwarzbuch des schichtsvergessenheit, die zum Schreien ist. Der Schrei gälte der Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München Gründlichkeit der stalinistischen Konterrevolution, die das geschlecht- 2004, S. 51–295, hier S. 71. 57 Die wissenschaftliche Bezeichnung lich und sexuell emanzipatorische Erbe der Revolution ebenso unter folgt an dieser Stelle, wie es sich gehört, der Selbstbezeichnung als einer Schuttdecke des Vergessens begrub, wie sie Gesichter und Na- «sie/er» durch Evgenja Fedorovna/Evgenij Fedorovitsch. 58 Se- men aus Gegenwart und Vergangenheit löschte. Die Schuttdecke des maschko, zit. nach: Healey: Desire, S. 61. 59 Ebd. 60 Ebd., Vergessens konnte nur 1956 und 1968 partiell gelüftet werden. 41 Vgl. S. 287. 61 Clements, Barbara E.: Bolshevik Women, Cambridge 1997, Reuschling, Felicitas: Familie im Kommunismus, in: Phase 2, 36/2010, S. 19 u. 59–65. 62 Etwa in Kollontai, Alexandra: Wassilissa Malygina, S. 18–23. 42 Zit. nach: Zetkin: Erinnerungen, S. 12. 43 Bei August Frankfurt a. M. 1975, oder in: Tretjakov: Ich will ein Kind. 63 Zit. nach: Bebel, «Die Frau und der Sozialismus», wird die als Lohnarbeit reor- Borenstein, Eliot: Men without Women. Masculinity & Revolution in ganisierte Reproduktionsarbeit weiter von weiblich vergeschlechtlich- Russian Fiction, 1917–1929, Durham/London 2000, S. 1. 64 Ebd., ten Arbeiterinnen übernommen (weiblichen Krankenpflegerinnen, n. pag. [vor S. 1] 65 Vgl. Goldman: Women; Gorsuch, Anne E.: A Wo- Pädagoginnen, Wäscherinnen usw.). Das ist bei Kollontai explizit nicht man Is Not a Man. The Culture of Gender and Generation in Soviet der Fall. 44 Healey, Dan: Homosexual Desire in Soviet Russia. The Russia, 1921–1928, in: Slavic Review 3/1996, S. 636–660, unter: www. Regulation of Sexual and Gender Dissent, Chicago/London 2001, jstor.org/stable/2502004. 66 Figes: Tragödie, S. 789. 52 In den Abgrund

Marcel Bois IN DEN ABGRUND EINE KURZE GESCHICHTE DES STALINISMUS IN DER ­SOWJETUNION1

Moskau, August 1939: Frida van Oorten wörtlich vom Glauben abfallen. Fassungslos ist seit Jahren eine linientreue Kommunis- mussten antifaschistische Widerstandskämp- tin, kämpfte im Untergrund gegen die Nazis. ferInnen mitansehen, wie sich der Mann ihres Lange Zeit arbeitete sie für den sowjetischen Vertrauens mit ihrem größten Feind verbün- Geheimdienst. Doch nun gerät sie selbst in dete. Hitler hatte sie verfolgt, Tausende ihrer dessen Visier. Als sie in den Kellern des Innen- GenossInnen inhaftieren und ermorden las- ministeriums verhört wird, bricht es schließ- sen. Mit ihm, dem wahrscheinlich gefährlichs- lich aus ihr heraus. «Er!», ruft sie und deutet ten Antikommunisten des Kontinents, schloss auf das Stalin-Gemälde. «Er ist der Verräter!» der sowjetische Generalsekretär nun also ei- Es ist nur eine kleine Sequenz in Leander nen Staatsvertrag. Haußmanns Spielfilm «Hotel Lux».2 Doch in Etliche KommunistInnen brachen daraufhin ihr kommt die Tragik einer ganzen Generati- mit ihrer Bewegung. Stellvertretend für sie on mitteleuropäischer KommunistInnen zum steht der langjährige Komintern-Funktionär Ausdruck. Inspiriert von der Oktoberrevoluti- Willi Münzenberg. Im September 1939 ver- on in Russland wurden sie KämpferInnen für fasste er einen anklagenden Artikel, für den er eine bessere Welt. Sie engagierten sich für ähnliche Worte wählte wie die fiktive Figur van die Überwindung des Kapitalismus, gingen zu Tausenden in den antifa- schistischen Widerstand und flüch- «Heute stehen in allen Ländern teten schließlich in ihr «gelobtes Millionen auf, sie recken den Arm, Land», die Sowjetunion. Allerdings rufen, nach dem Osten deutend: hatte sich dort der Sozialismus, für ‹Der Verräter, Stalin, bist du.›» den sie jahrelang gekämpft hatten, (Willi Münzenberg) mittlerweile in sein Gegenteil ver- kehrt: ArbeiterInnen wurden ausgebeutet, An- Oorten: «Heute stehen in allen Ländern Millio- dersdenkende in Arbeitslager gesteckt und nen auf, sie recken den Arm, rufen, nach dem dissidente KommunistInnen politisch verfolgt. Osten deutend: ‹Der Verräter, Stalin, bist du.›»3 All das ließ sich noch irgendwie rechtfertigen: Nicht für alle zeitgenössischen BeobachterIn- Es sei notwendig für den Aufbau einer neuen nen kam dieser Verrat überraschend. Infolge Gesellschaft und im Kampf gegen innere und der Oktoberrevolution von 1917 hatten die äußere Feinde des jungen Sowjetstaats. russischen KommunistInnen zwar den Ver- Doch ein Ereignis konnte sich kaum mehr such unternommen, eine sozialistische Ge- ein Kommunist schönreden, erst recht nicht, sellschaft zu errichten, eine Gesellschaft oh- wenn er aus Nazi-Deutschland geflüchtet ne Armut, Hunger und Unterdrückung. Doch war: den «Hitler-Stalin-Pakt», ein deutsch-so- ein Jahrzehnt später klaffte eine deutliche Lü- wjetischer Nichtangriffspakt, der am 23. Au- cke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der gust 1939 unterzeichnet wurde. Dieser Bünd- Staat, der aus der Revolution hervorgegangen nisschluss, an dessen Vorabend «Hotel Lux» war, nannte sich zwar Union der Sozialisti- spielt, ließ Tausende KommunistInnen sprich- schen Sowjetrepubliken (UdSSR) – doch die- In den Abgrund 53

ser Name hatte nicht mehr viel mit der Realität den Industriestaaten auf anderen Kontinen- zu tun. Die einzelnen Teilstaaten waren Ende ten. Zudem erreichten die antikolonialen Be- der 1920er Jahre ebenso wenig sozialistisch, wegungen einen ersten Höhepunkt: Afgha- wie sie Räterepubliken waren. Auch von einer nistan sagte sich 1919 vom Britischen Empire Union, also einem freiwilligen und gleichbe- los. Im selben Jahr kam es in Ägypten zu ei- rechtigten Zusammenschluss, konnte keine nem Volksaufstand, der drei Jahre später in Rede mehr sein. Stattdessen entwickelte sich die Unabhängigkeit mündete. Auch in Indien im Land zunehmend eine Ein-Parteien-Herr- wehrte sich die Bevölkerung gegen die Koloni- schaft mit der Stalin-Clique an der Spitze. almacht. Voller Euphorie schrieb der russische Wie konnte es so weit kommen? Warum wur- Kommunist Grigori Sinowjew im Mai 1919: de Russland, das sich 1917 «praktisch über «Die Bewegung geht so schwindelerregend Nacht in ‹das freieste Land der Welt› verwan- vorwärts, dass man mit Gewissheit sagen delt»4 hatte, zu einem despotischen Staat? kann: Nach Jahresfrist werden wir bereits zu Weshalb konnte der Stalinismus siegen? Die- vergessen beginnen, dass es in Europa einen se Fragen sollen im Folgenden skizzenartig Kampf um den Kommunismus gegeben hat, beantwortet werden. denn nach einem Jahr wird ganz Europa kom- munistisch sein.»6 Niedergang der Revolution Doch die Hoffnungen der Bolschewiki erfüll- In der Zeit nach der Oktoberrevolution hatte ten sich nicht. In keinem anderen Land kam es die neue Regierung, der Rat der Volkskom- zu einer erfolgreichen sozialistischen Revoluti- missare, mit der rückständigen Wirtschaft des on. Vielmehr mussten sie um die Jahreswen- Landes zu kämpfen. Russland fehlten die ma- de 1920/21 ein «Abebben der revolutionären teriellen Ressourcen, um aus sich selbst he- Welle» feststellen.7 Langsam wurde deutlich, raus ein Gemeinwesen aufzubauen, das die dass Russland isoliert bleiben würde und nicht Bedürfnisse all seiner Mitglieder ausreichend auf wirtschaftliche Hilfe aus einem industri- befriedigen konnte. Lenin erklärte im Jahr ell entwickelten Land hoffen konnte.8 Im Ge- 1918, dass die Bezeichnung «Sozialistische genteil: Die westlichen Staaten bemühten Sowjetrepublik» zwar die Entschlossenheit sich nach Kräften, die junge Sowjetrepublik zu der Sowjetmacht illustriere, «den Übergang destabilisieren. Im Frühjahr 1918 hatten ehe- zum Sozialismus zu verwirklichen, keines- malige zaristische Generäle einen Bürgerkrieg wegs aber, dass die jetzigen ökonomischen gegen die neuen Machthaber begonnen. Un- Zustände als sozialistisch bezeichnet werden» terstützt wurden sie dabei von Truppen aus könnten.5 insgesamt 14 Ländern. Unter den Bolschewiki, der regierenden Par- War die Oktoberrevolution nahezu gewalt- tei, war unumstritten, dass der russische Ar- los vonstattengegangen, so begann nun das beiterstaat nur im Rahmen einer sozialis- große Blutvergießen. Die Rote Armee konnte tischen Weltwirtschaft überleben könnte. zwar diesen Bürgerkrieg gewinnen, aber der Aus diesem Grund hatten sie von Anfang an Preis war hoch: Im Jahr 1921 betrug die In- betont, dass sich ihre Revolution auf andere dustrieproduktion nur noch 12 bis 16 Prozent Länder ausbreiten müsse. Diese Hoffnung des Vorkriegsstandes. Die Versorgungslage war durchaus begründet. Tatsächlich gingen verschlechterte sich von Tag zu Tag, die Infla- zu dieser Zeit rund um den Globus Millionen tion nahm zu und die Kluft zwischen Stadt und gegen Krieg und Kapitalismus auf die Stra- Land wurde immer tiefer. Petrograd hatte al- ße. Nicht nur in Europa kam es zu Aufstän- lein im Jahr 1918 nahezu die Hälfte seiner Ein- den, Streiks und Protesten, sondern auch in wohnerInnen verloren. Moskau büßte in den 54 In den Abgrund

Bürgerkriegsjahren 40 Prozent seiner Bevölke- licher Produktionsweisen, ließ unweigerlich rung ein. Um zu überleben, stahlen Menschen den politischen Einfluss der ArbeiterInnen – Lebensmittel, der Tauschhandel blühte. Nach der vermeintlich «herrschenden Klasse» – Schätzungen lieferte der Schwarzmarkt zu schwinden. Immer mehr ging die Macht von dieser Zeit 65 bis 70 Prozent der Nahrungsmit- den demokratisch gewählten Arbeiterorganen tel. Zwischen 1918 und 1920 starben – neben auf kommunistische Parteifunktionäre über. den 800.000 gefallenen Soldaten des Bürger- Russlands Anspruch, in irgendeiner Form ein krieges – weitere sieben Millionen Menschen sozialistisches Land zu sein, war nicht länger an den Folgen von Krieg und «Kriegskommu- zu rechtfertigen. Die Arbeiterklasse übte we- nismus». In einer großen Hungersnot 1921/22 der die politische Macht aus noch kontrollierte sollten weitere fünf Millionen ihr Leben lassen. sie die Wirtschaft. Tod, Stadtflucht und Verelendung führten da- Nicht nur zahlenmäßig reduzierte sich wäh- zu, dass sich die Arbeiterklasse – die Klasse, rend des Bürgerkrieges die gesellschaftli- die offiziell die Macht ausübte – radikal dezi- che Basis der Revolution. Unpopuläre Maß- mierte. So war im Jahr 1921 die Zahl der be- nahmen wie Getreidebeschlagnahmungen, schäftigten ArbeiterInnen auf die Hälfte des Arbeitszwang und «roter Terror» ließen den Vorkriegsstandes zurückgegangen. Lenin Rückhalt der Bolschewiki in der Bevölkerung merkte damals an, dass das Proletariat «bei drastisch zurückgehen. Dies wiederum nötig- uns durch den Krieg und die furchtbare Ver- te die Machthaber, auf weitere Zwangsmaß- wüstung und Zerrüttung deklassiert, d.h. aus nahmen zurückzugreifen. Auf diese Weise er- seinem Klassengleise geworfen ist». Es hät- höhte sich das gesellschaftliche Gewicht der te aufgehört, als Klasse zu existieren. Soweit Staatsbürokratie, der Armee und der Geheim- «die Fabriken und Werke stillgelegt sind, ist polizei Tscheka. Alle drei Gruppen hatten ei- das Proletariat verschwunden. Es wurde wohl nen wichtigen Anteil daran, dass der Bürger- manchmal der Form nach als Proletariat ge- krieg gewonnen worden war. Aber nun trugen rechnet, aber es hatte keine ökonomischen sie dazu bei, dass sich das revolutionäre Russ- Wurzeln.»9 land mehr und mehr in einen autoritären Staat Die Regierung versuchte, dieser Entwick- verwandelte. lung im Jahr 1921 durch die Einführung der Um die Funktionsfähigkeit des Regierungs- Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) entge- apparates auch nach dem Krieg aufrechtzu- genzuwirken. Mit dem Ziel, die völlig zusam- erhalten, holten die Bolschewiki Angehöri- mengebrochene Wirtschaft anzukurbeln, ließ ge der alten zaristischen Bürokratie zurück in sie in beschränkter Form die Marktwirtschaft den Staatsdienst: «Zehntausende ehemalige wieder zu. Diese Maßnahme war zwar nur als zaristische Beamte, einstige Mitglieder an- Übergangslösung angelegt, aber sie stellte tibolschewistischer Parteien, demobilisierte zwangsläufig Errungenschaften der Oktober- Offiziere, mittlere Parteikader, die im Verlauf revolution infrage. Beispielsweise schränkte des Bürgerkriegs in Führungspositionen auf- die Regierung die demokratische und geplan- gerückt waren, bildeten nun das Skelett des te Kontrolle der Wirtschaft durch die Arbeite- wuchernden Apparats», schreibt der Histori- rInnen ein, indem sie die Kompetenzen der ker Jean-Jacques Marie.10 Fabrikleitungen erweiterte. Die Entlohnung Ähnliche Vorgänge wie im Staatsapparat lie- der ArbeiterInnen erfolgte wieder leistungsbe­ ßen sich auch in der Partei beobachten. Gut zogen. die Hälfte der «alten» Bolschewiki, die bereits Die Dezimierung der Arbeiterklasse, gepaart vor der Oktoberrevolution aktiv gewesen wa- mit der Wiedereinführung marktwirtschaft- ren, starb im Bürgerkrieg. Zwei Drittel der In den Abgrund 55

Neumitglieder aus den Jahren 1917 bis 1920 neralsekretärs der Kommunistischen Partei waren bäuerlicher Herkunft. Bei vielen drück- Russlands, der KPR(B). Zusammen mit Gri- te der Beitritt zur Partei die Zustimmung zur gori Sinowjew und Lew Kamenew bildete er Politik der KommunistInnen aus. Etliche traten die sogenannte Troika, die de facto die Partei- der Partei aber auch wegen der Vorteile bei, führung stellte. Sinowjew war der bekanntes- die ihnen die Mitgliedschaft einbrachte. Sie te von den Dreien. Er leitete den Petersburger erhöhte nicht nur die Chance auf eine Anstel- Parteiapparat und war zugleich Präsident der lung in Partei oder Staatsapparat, sondern war Kommunistischen Internationale. Kamenew zudem ein sicherer Weg, in der Sowjetbüro- stand an der Spitze des Exekutivkomitees des kratie aufsteigen zu können. Die wichtigsten Moskauer Sowjets und hatte den Posten des Posten in der Verwaltung wurden ausschließ- stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der lich an Bolschewiki vergeben, häufig unge- Volkskommissare inne. Doch über den größ- achtet von Ausbildung oder Fachkenntnissen. ten Einfluss innerhalb der Partei verfügte Sta- Dies belegt auch ein Blick auf die Zahlen: Zum lin. In seiner Funktion als Generalsekretär Ende des Bürgerkrieges arbeiteten nur noch stand er in ständigem Kontakt mit vielen tau- zehn Prozent der Parteimitglieder in einer Fab- send Parteifunktionären im ganzen Land und rik, 60 Prozent dagegen im Staatsdienst oder war für deren Ernennung, Beförderung und für die Partei. Zwischen 1920 und 1922 stieg Entlassung verantwortlich. «Bereits zwei Jah- die Zahl der Parteiangestellten von 150 auf re nach dem Ende des Bürgerkriegs stand die 15.000 an. Binnen kurzer Zeit verschmolz der russische Gesellschaft weitgehend unter Sta- Parteiapparat weitgehend mit dem Staatsap- lins Herrschaft», schreibt Isaac Deutscher, parat. Die neue Parteibürokratie begann, eine «ohne dass sie auch nur den Namen ihres «spezifische Schicht oberhalb der Masse und Herrschers kannte».14 der arbeitenden Bevölkerung» zu bilden.11 Tatsächlich nutzte Stalin seine Position, um Diese Problematik wurde von einigen führen- sich die Unterstützung der Parteibürokratie zu den Kommunisten durchaus erkannt. Lenin sichern. So erhöhte er im Juli 1922 den Lohn beschrieb Ende 1922 den Staatsapparat et- von etwa 15.000 Parteikadern auf das Fünf- wa als ein «bürgerlich-zaristisches Gemisch», bis Sechsfache eines durchschnittlichen Ar- das «uns in Wirklichkeit […] durch und durch beiterlohns. Hinzu kam eine Entlohnung in fremd ist».12 Auch Leo Trotzki prangerte heftig Naturalien wie Fleisch, Zucker, Butter, Ziga- an, was er «den verdammten Sowjetbürokra- retten und Streichhölzer – sämtlich Mangel- ten» nannte. Dieser sei «auf seinen neuen Pos- waren zu dieser Zeit. Die Tatsache, dass Sta- ten scharf» und hänge «an ihm wegen seiner lin die Parteisekretäre jederzeit eigenmächtig Vorrechte, die er verleiht». Er warnte: «Das ist entlassen konnte, machte ihm diese gefügig. die wahrhafte Bedrohung für die kommunisti- So förderte er «das Entstehen einer Kaste, de- sche Revolution.»13 ren Vorkämpfer er war und die ihn auch als solchen ansah», urteilt Marie.15 Der Generalsekretär Im Januar 1923 schrieb Lenin einen Brief an Nach einem schweren Schlaganfall musste das Zentralkomitee, der als sein politisches sich Lenin im März 1923 aus dem politischen Testament gilt. «Nachdem Stalin Generalse- Leben zurückziehen. Zuvor hatte er mit Miss- kretär geworden ist, hat er eine ungeheure trauen den Machtzuwachs des bislang vor- Machtfülle in seiner Hand vereinigt. Ich bin nehmlich im Hintergrund agierenden Josef nicht ganz sicher, dass er es stets versteht, Stalin verfolgt. Der Georgier bekleidete seit diese Macht mit genügender Vorsicht anzu- April 1922 das neu geschaffene Amt des Ge- wenden», warnte er. «Stalin ist zu schroff, und 56 In den Abgrund

der Konferenzen und Partei- «Ich schlage daher vor, dass die tage aus.»17 Die Unterzeich- Genossen einen Weg finden, Stalin ner verlangten, das Verbot aus der Stellung des Generalsekretärs der Gruppenbildung inner- zu entfernen.» (W. I. Lenin) halb der Partei, das seit dem X. Parteitag vom März 1921 dieser Fehler, der durchaus erträglich in den bestand, abzumildern oder aufzuheben. Es Beziehungen von uns Kommunisten unterei- gelte, zu den Prinzipien der Arbeiterdemokra- nander ist, wird unerträglich bei dem Inhaber tie der Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückzukeh- des Amtes eines Generalsekretärs. Ich schla- ren. ge daher vor, dass die Genossen einen Weg Doch die Mehrheitsverhältnisse waren mitt- finden, Stalin aus dieser Stellung zu entfer- lerweile klar: Im Januar 1924 verurteilte eine nen.»16 Parteikonferenz die Opposition als «eindeutig kleinbürgerliche Abweichung» und warf ihr Beginnende Fraktions­ vor, die «Zertrümmerung des Parteiapparats» kämpfe zu verfolgen. Ihr Ziel seien die «Schwächung Derweil spitzte sich die ökonomische Lage im der Diktatur des Proletariats und eine Erweite- Sommer 1923 weiter zu. Um die Preise zu sen- rung der politischen Rechte der neuen Bour- ken und so die Absatzkrise zu beheben, be- geoisie».18 Drei Tage nach der Konferenz starb schloss die Parteiführung eine Erhöhung der Lenin. industriellen Produktivität. Doch die entspre- chenden Maßnahmen wurden auf Kosten der «Sozialismus in einem ArbeiterInnen durchgeführt. Die Fabrikleitun- Land» gen senkten vielfach die Löhne, zahlten sie Als Reaktion auf das Abebben der revolutio- nur unregelmäßig oder überhaupt nicht aus. nären Welle in Europa und das Scheitern der Viele Angestellte wurden entlassen, sodass deutschen Revolution entwickelte Stalin im sich die Zahl der Arbeitslosen binnen Mona- Herbst 1924 die Theorie vom «Aufbau des So- ten mehr als verdoppelte. Derweil stieg die zialismus in einem Land». Er argumentierte, Unzufriedenheit unter den ArbeiterInnen, die dass Russland für sich genommen in der La- im August und September 1923 in einige wil- ge sei, eine sozialistische Wirtschaft und Ge- de Streiks mündete. Auch in der Partei keimte sellschaft aufzubauen. Hierbei wies er auf die erster Widerstand. großen Möglichkeiten des Landes hin, auf den Am 15. Oktober übergaben führende Alt-Bol- unbeschränkten Raum und auf die Boden- schewiki dem Politbüro ein gemeinsames schätze. Wenn eine proletarische Regierung Schreiben, das als «Erklärung der Sechsund- die Industrie und das Bankwesen kontrollie- vierzig» bekannt geworden ist. Sie wandten re und die natürlichen Reserven des Landes sich gegen die Wirtschaftspolitik der Partei- entwickle, dann sei es auch möglich, den So- führung und bemängelten, dass «die freie zialismus im nationalen Rahmen zu verwirkli- Diskussion innerhalb der Partei […] faktisch chen. verschwunden» sei: «Heute werden die Gou- Damit verabschiedete sich Stalin von einem vernementskomitees und das Zentralkomi- Grundsatz der Bolschewiki. Bis dahin hatte Ei- tee der RKP nicht von der Partei, nicht von den nigkeit in der Partei darüber geherrscht, dass breiten Massen aufgestellt und gewählt. Im eine revolutionäre sozialistische Bewegung Gegenteil, in immer stärkerem Maße wählt die nur auf gesamteuropäischer Ebene erfolg- Sekretärshierarchie der Partei die Delegierten reich sein könne. Eine Gesellschaft, welche In den Abgrund 57

die Bedürfnisse aller BürgerInnen erfüllen sol- de Rolle in der Partei gespielt hatten, waren in le, könne nicht isoliert in einem wirtschaftlich der Opposition vereinigt. Ihr Einflussbereich rückständigen Land aufgebaut werden. Eine erstreckte sich von der Parteiorganisation in Revolution könne zwar in einem solchen Land Leningrad, wie Petrograd seit 1924 hieß, und beginnen, hatte Trotzki in seiner Anfang des einigen Betrieben Moskaus über Parteigliede- Jahrhunderts entwickelten «Theorie der per- rungen in der Ukraine und dem Südkaukasus manenten Revolution» formuliert, aber ihr Ab- bis zum Ural. Auch in manchen Hochschulen, schluss sei «im nationalen Rahmen undenk- in der Armee und der Marine hatte die Opposi- bar».19 Lenin teilte diese Einschätzung, als er tion AnhängerInnen. im Jahr 1918 betonte: «Der endgültige Sieg Im Juli 1926 veröffentlichte die neue Strö- des Sozialismus in einem Lande ist unmög- mung ein erstes programmatisches Papier.23 lich.»20 Selbst Stalin erklärte noch im Frühjahr Darin prangerte sie die Bürokratisierung inner- 1924: «Für den Endsieg des Sozialismus, für halb der Partei an und forderte, die Industrie die Organisation einer sozialistischen Pro- des Landes gegenüber der Agrarwirtschaft duktion genügen die Anstrengungen eines zu stärken. Dafür seien eine Planung der Wirt- bestimmten Landes nicht, jedenfalls nicht schaft und eine höhere Besteuerung der rei- die Anstrengungen eines chen Bauern notwendig. vorwiegend agrarischen Um den bürokratischen Landes, wie es Russland «Der endgültige Sieg Tendenzen in Partei und ist.»21 des Sozialismus Staat ein Ende zu bereiten, Stalins theoretische Neu- in einem Lande ist müsse die Entwicklung ausrichtung führte zu Un- unmöglich.» der Industrie mit mehr Ar- stimmigkeiten unter den (W. I. Lenin) beiterdemokratie einher- Mitgliedern der Troika. gehen. Mit dieser Politik Sinowjew und Kamenew warfen ihm vor, er könne man Russland zumindest als Festung unterschätze die nationale Begrenztheit der der Revolution halten, auch wenn die materi- Russischen Revolution. Sinowjew betonte, ellen und kulturellen Voraussetzungen für die dass es «unter den Umständen von Isolation, Verwirklichung des Sozialismus nicht vorhan- Elend, nicht möglich ist, den westlichen Ka- den seien. Dazu sei es weiterhin notwendig, pitalismus zu übertreffen, und auch nicht, die die Revolution in anderen Ländern voranzu- Klassengegensätze aufzuheben, demzufolge treiben. auch nicht den Staat».22 Auch die Politik der Die Stalin-Fraktion reagierte auf diesen ver- Zugeständnisse an die reichen Bauern bean- meintlichen Versuch der Parteispaltung mit standeten beide. administrativen Maßnahmen. Sinowjew, Ka- menew und Trotzki mussten nach und nach Vereinigte Opposition ihre Posten in der Partei räumen. Sinowjew Im Frühjahr 1926 kam es schließlich zum wurde zudem als Vorsitzender der Kommu- Bruch. Sinowjew und Kamenew schlossen nistischen Internationale abgelöst. Nachdem sich nun mit ihrem alten Kontrahenten Trotz- die Oppositionellen im Herbst 1927 zu Feier- ki zur «Vereinigten Opposition» zusammen. lichkeiten anlässlich des zehnten Jahrestages Dieser neuen Strömung gehörten fünf Mitglie- der Oktoberrevolution in Moskau und Lenin- der des ZK und sechs Mitglieder der Zentralen grad mit eigenen Plakaten und Transparenten Kontrollkommission an, des höchsten Diszip- erschienen waren, wurden sie zu Tausenden linarorgans der Partei. Beinahe alle Bolsche- aus der Partei ausgeschlossen. Das galt auch wiki, die zur Zeit der Revolution eine führen- für Trotzki und Sinowjew, denen vorgeworfen 58 In den Abgrund

wurde, eine «konterrevolutionäre Demonstra- te sich im ersten Fünf-Jahres-Plan von 1928. tion organisiert» zu haben.24 Das Projekt, Par- Stalin erläuterte im Jahr 1931 das Ziel seiner tei und Regime politisch zu reformieren, war Wirtschaftspolitik: «Wir sind hinter den fort- spätestens jetzt gescheitert. geschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre Die Niederlage ließ einen Großteil der Opposi- zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz tionellen resignieren, die Vereinigte Oppositi- in zehn Jahren durchlaufen.» 25 Tatsächlich on zerbrach. Sinowjew und Kamenew kapitu- unternahm die Parteibürokratie alles, um den lierten bald vor der Parteiführung und nahmen Prozess, den die industrialisierten Länder Mit- das «Angebot» an, wieder in die Partei aufge- teleuropas im 19. Jahrhundert über einen Zeit- nommen zu werden, nachdem sie ihren Ideen raum von Jahrzehnten durchlaufen hatten, so abgeschworen hatten. Später machten auch schnell wie möglich nachzuholen – mit ähnli- andere Oppositionelle wie Radek und Preob- chen Folgen für die sowjetische Bevölkerung, raschenski ihren Frieden mit Stalin. Diejeni- wie sie im Jahrhundert zuvor die Menschen in gen, die nicht aufgaben, landeten in Arbeitsla- Mitteleuropa hatten erleiden müssen. Victor gern oder wurden wie Trotzki verbannt. Serge meinte wenige Jahre später, die Aus- wirkungen des ersten Fünf-Jahres-Planes er- Industrialisierung innerten ihn stark an die «Seiten des ‹Kapital› Bei der Auseinandersetzung zwischen der […], auf denen Marx den unerbittlichen Me- Vereinigten Opposition und der Stalin-Frak- chanismus der ursprünglichen kapitalisti- tion hatte es sich keineswegs nur um den schen Akkumulation beschreibt».26 Konkurrenzkampf zweier alternativer kom- Ende 1929 führte das Regime die Zwangs- munistischer Richtungen oder den Macht- kollektivierung der Landwirtschaft durch. kampf einzelner Persönlichkeiten gehandelt. Dieser Prozess setzte Millionen Bäuerinnen Vielmehr standen sich hier zwei politische und Bauern frei, die nun als billige Arbeits- Fraktionen gegenüber, die unterschiedliche kräfte in den Städten zum Aufbau der Indus- gesellschaftliche Interessen vertraten. Die Op- trie zur Verfügung standen. Diese enorme position repräsentierte die Interessen der Ar- Landflucht hatte zur Folge, dass die städti- beiterklasse, während die Fraktion Stalins die sche Bevölkerung zwischen 1926 und 1939 organisierte Interessenvertretung der Staats- um 30 Millionen Personen wuchs. Zugleich und Parteibürokratie darstellte. In dem Maße, brachte die staatlich erzwungene Kollekti- in dem sich erstens die Arbeiterklasse im Zu- vierung die landwirtschaftliche Produktion ge des Bürgerkrieges dezimierte, zweitens die zum Erliegen. Eine Hungersnot 1932/33 mit Macht von den ursprünglich demokratischen sechs bis acht Millionen Opfern war die Fol- Organen der Arbeiterklasse, den Sowjets, ge. Die Industrialisierung diente vor allem auf die Partei überging und drittens die Hoff- dem Zweck, im wirtschaftlichen und militä- nungen auf eine Ausbreitung der Revolution rischen Konkurrenzkampf mit dem Westen schwanden, verschob sich innerhalb der Par- zu bestehen. Während man von einem sozi- tei das Gewicht von einer Fraktion zur ande- alistischen Staat erwarten könnte, dass die ren. Die Bürokratie war spätestens jetzt zur – Produktion nach den Bedürfnissen der dort im Marx’schen Sinne – neuen herrschenden lebenden Menschen ausgerichtet ist, war Klasse in der Sowjetunion aufgestiegen. Sie in der Sowjetunion das Gegenteil der Fall. kontrollierte sowohl die Wirtschaft als auch Die Konsumgüterindustrie wurde stetig zu- den Staatsapparat. rückgefahren und stattdessen der größte Auf den Sieg Stalins folgte die forcierte In- Teil der Investitionen in die Schwerindustrie dustrialisierung des Landes. Sie manifestier- gelenkt. In den Abgrund 59

Konterrevolution 1944 sogar eine Mutterschaftsmedaille ein. Um die Industrialisierung zu beschleunigen, Außerdem stellte sie Homosexualität erneut nahm Stalin die letzten Errungenschaften der unter Strafe. Die sozialen Unterschiede im Revolution zurück. Lagen nach 1917 die Be- Land nahmen wieder zu. Im Jahr 1940 führ- triebe in der Hand einer kollektiven Führung te das Regime beispielsweise Studiengebüh- unter Einbeziehung der ArbeiterInnen, so ren ein und hob die Gehälter der Offiziere im wurden sie nun von einzelnen Personen ge- Verhältnis zu denen der Soldaten deutlich an. leitet. Im September 1929 beschloss das ZK, Nationalismus und Antisemitismus – von den dass Arbeiterräte «sich nicht direkt in den Ab- Bolschewiki zu Lenins Zeiten vehement be- lauf des Betriebes einmischen oder versuchen kämpft – wurden unter Stalin wieder salonfä- sollen, in irgendeiner Weise die Betriebsver- hig. Selbst der kulturelle Aufbruch fand in den waltung zu ersetzen».27 Zudem verschlech- 1930er Jahren ein jähes Ende. So wurden die terten sich die Arbeitsbedingungen gravie- vielen unterschiedlichen Künstlergruppen, die rend. Das Regime verlängerte die Arbeitszeit, im nachrevolutionären Russland entstanden weitete die Akkordarbeit aus und schaffte im waren, 1932 per Dekret «gleichgeschaltet». Jahr 1930 die Arbeitslosenunterstützung ab. Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Or- phismus und Dadais- mus mussten nun dem «Der alltägliche Terror [wurde] hinter Sozialistischen Realis- klassizistischen Architektur­fassaden und mus weichen. «Der all- Bildern von Würde und zeitloser Schönheit tägliche Terror» wurde, verborgen». (Eckhardt Gillen) so der Kunsthistoriker Eckhardt Gillen, «hin- Die Freizügigkeit der ArbeiterInnen schränk- ter klassizistischen Architekturfassaden und te es ebenfalls radikal ein: Diese verloren das Bildern von Würde und zeitloser Schönheit Recht, den Arbeitsplatz nach eigenem Ermes- […] verborgen».28 sen zu wechseln, ebenso wie die Freiheit, un- Jeder, der gegen diesen Prozess aufbegehr- gehindert von einem Teil des Landes in einen te, bekam die Repressionen des Staatsappa- anderen umzuziehen. Ab 1931 war es Arbei- rates zu spüren. Die Geheimpolizei errichtete terInnen nicht mehr erlaubt, Leningrad ohne im ganzen Land jene Straflager, über die Ale­ spezielle Genehmigung zu verlassen. Im fol- xander Solschenizyn in seinem Roman «Der genden Jahr wurde dieses System in allen Archipel Gulag» auf erschütternde Weise be- Teilen des Landes durchgesetzt und ein in- richtet. Die genauen Zahlen sind bis heute ternes Passsystem eingeführt. Zudem verbot umstritten. Doch sicher ist: Millionen Men- die Führung des «Arbeiterstaats» Streiks unter schen waren inhaftiert. Viele von ihnen dien- Androhung der Todesstrafe. ten der herrschenden Bürokratie als billige Ar- Auch viele gesellschaftspolitische Errungen- beitskräfte zum Bau von Eisenbahnstrecken schaften aus der Revolutionszeit nahm Stalin und Kanälen. Hunderttausende, wahrschein- zurück und bereitete der Demokratisierung lich sogar Millionen starben in den Lagern. verschiedener Teile der Gesellschaft – wie Um seine Macht zu festigen, musste Sta- Schulen, Universitäten und Armee – ein En- lin die ursprüngliche marxistische Tradition de. Seine Regierung erschwerte Scheidun- weitgehend aus der Partei verbannen. Dazu gen, verschlechterte den rechtlichen Status entwickelte er nicht nur den «Marxismus-Le- außerehelicher Kinder, schaffte das Recht auf ninismus», eine dogmatische Auslegung der Abtreibung ab und führte stattdessen im Jahr Klassiker, die einzig dazu diente, seine Politik 60 In den Abgrund

Das, was 1917 aus Sicht vieler ArbeiterInnen und Intellek­ tueller so hoffnungsvoll begonnen hatte, entwickelte sich zu einer der verheerendsten Diktaturen der Menschheits­ geschichte. zu legitimieren. Sondern er löschte auch na- pressalien richteten sich auch gegen auslän- hezu die gesamte alte Garde der Bolschewi- dische GenossInnen. «Als Erste verhaftete ki physisch aus. «Es durfte keiner, der Einfluss man die in der UdSSR lebenden Begründer hatte und möglicherweise die Autorität des ausländischer kommunistischer Parteien so- sowjetischen Systems destabilisieren konn- wie Teilnehmer der ersten Komintern-Kon- te, am Leben bleiben», schreibt Gabor Skzé­ gresse», berichtet Wadim Rogowin.31 Am här- kely.29 Von den Mitgliedern des Politbüros testen traf es die Mitglieder der KPD, die seit des Jahres 1923 starben nur drei eines natür- der Machtübernahme der Nationalsozialisten lichen Todes: Lenin, Stalin und dessen enger im Jahr 1933 in die Illegalität gedrängt waren. Vertrauter Molotow. Kommunisten der ers- Tausende von ihnen sind während der Säu- ten Stunde wurden als «Konterrevolutionäre», berungen ab 1936 verhaftet und etliche hun- «Faschisten», «Trotzkisten» und «Terroristen» dert ermordet worden. Ihre Tragödie bestand beschimpft und in den großen Schauprozes- darin, «dass sie nicht wie die [Opfer] des Hit- sen der Jahre 1936 bis 1938 des Verrats oder ler-Terrors wegen ihres Widerstands von ihren der Abtrünnigkeit angeklagt. Unter ihnen be- schlimmsten Feinden inhaftiert, gefoltert und fanden sich Sinowjew, Kamenew, Radek und ermordet wurden, sondern von Gleichgesinn- Bucharin. Sie alle wurden – nachdem sie un- ten».32 ter Folter absurde Geständnisse abgelegt hat- Das, was 1917 aus Sicht vieler ArbeiterInnen ten – zum Tode oder zu Lagerhaft unter un- und Intellektueller so hoffnungsvoll begon- menschlichen Bedingungen verurteilt. Andere nen hatte, entwickelte sich zu einer der ver- begingen Selbstmord, um ihrer Verhaftung zu heerendsten Diktaturen der Menschheits- entgehen. Bezeichnenderweise mussten die geschichte. Schätzungsweise 30 Millionen ehemaligen Parteiführer in den Tribunalen er- Menschen sind dem Stalinismus zum Opfer niedrigende Beschimpfungen durch einen gefallen. Aber: Diese Entwicklung war nicht Generalstaatsanwalt über sich ergehen las- zwangsläufig. Es gab innerhalb der Kom- sen, der 1917 zu den Gegnern der Revolution munistischen Partei der Sowjetunion in den gehört hatte: Andrei Wyschinski hatte seiner- 1920er Jahren Akteure, die für einen anderen zeit noch einen Haftbefehl gegen Lenin unter- Weg kämpften. Die Isolation des Landes, die schrieben. Folgen des Bürgerkrieges, die Dezimierung Trotzki, der sich nicht mehr in der Sowjetuni- der Arbeiterklasse und die Bürokratisierung on aufhielt, überlebte von allen prominenten von Staat und Partei machten es ihnen jedoch Oppositionellen mit am längsten. Er wurde im nicht leicht. Sie selbst begingen zudem takti- August 1940 von einem sowjetischen Agen- sche Fehler und hielten sich zurück, als der in- ten in Mexiko ermordet. Insgesamt starben nerparteiliche Kampf möglicherweise noch zu während der «großen Säuberungen» mindes- gewinnen war. Letztendlich mussten sie fas- tens eine halbe Million sowjetischer Kommu- sungslos mit ansehen, wie der Stalinismus ihr nistInnen. Nicht umsonst schreibt Hermann Land in den Abgrund stürzte – und die kom- Weber, sie seien «zur größten Kommunisten- munistischen Parteien auf der ganzen Welt verfolgung aller Zeiten geworden».30 Die Re- gleich mit. In den Abgrund 61

1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um gekürzte und über- von Lenin, in: Trotzki, Leo: Wer leitet heute die Kommunistische Inter- arbeitete Auszüge aus Bois, Marcel: Kommunisten gegen Hitler und nationale?, Berlin 1930, S. 48–51, hier S. 51. 17 An das Politbüro des Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Zentralkomitees der RKP (Erklärung der Sechsundvierzig), in: Kool, Gesamtdarstellung, Essen 2014, S. 13 f. u. 51–73. Dort finden sich Fritz/Oberländer, Erwin (Hrsg.): Arbeiterdemokratie oder Parteidikta- auch umfangreiche Anmerkungen, Literatur- und Quellenverweise, tur, Bd. 1, München 1972, S. 273–280, hier S. 275. 18 Zit. nach: Broué: weshalb der Anmerkungsapparat hier recht knapp gehalten werden Trotzki, Bd. 1, S. 423 f. Broué gibt seine Quelle nur unvollständig an: kann. 2 Hotel Lux, Regie: Leander Haußmann, Deutschland 2011, 110 WKP (B): Resoljuzijach, S. 540–545. 19 Trotzki, Leo: Die Permanen- Minuten. 3 Münzenberg, Willi: Der russische Dolchstoß, in: Die Zu- te Revolution, Frankfurt a. M. 1969, S. 151. 20 Lenin, W.I.: Bericht kunft, Nr. 3, 22.9.1939, zit. nach: Bayerlein, Bernhard H.: «Der Verräter, über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare (11.1.1918), in: ders.: Stalin, bist Du!». Vom Ende der linken Solidarität, Komintern und kom- Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 455–472, hier S. 471 (Hervorh. im Ori- munistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939–1942, Berlin 2008, ginal). 21 Zit. nach: Deutscher: Stalin, S. 369. Leider gibt Deutscher S. 148 f. 4 Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der hier keine Quelle an. 22 Zit. nach: Lesnik, August: Der Ausschluss Russischen Revolution 1891 bis 1924, München 2001, S. 382. 5 Le- Leo Trotzkis aus dem Zentralkomitee der KPdSU, in: Bergmann, Theo- nin, W.I.: Über «linke» Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, in: ders.: dor/Schäfer, Gert (Hrsg.): Leo Trotzki – Kritiker und Verteidiger der Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 315–347, hier S. 327 f. 6 Die Kommu- Sowjetgesellschaft, Mainz 1993, S. 208–212, hier S. 208. 23 Erklä- nistische Internationale, Nr. 1, Mai 1919, zit. nach: Weber, Hermann: rung der Dreizehn (Juli 1926), in: Trotzki, Leo: Schriften, Bd. 3.1: Lin- Zum Verhältnis von Komintern, Sowjetstaat und KPD. Eine historische ke Opposition und IV. Internationale (1923–1926), hrsg. von Helmut Einführung, in: Bayerlein, Bernhard H. u. a. (Hrsg.): Deutschland, Russ- Dahmer u. a., Hamburg 1997, S. 500–528. 24 Broué: Trotzki, Bd. 1, land, Komintern – Überblicke, Analysen, Diskussionen. Neue Perspekti- S. 590. 25 Stalin, J.W.: Über die Aufgaben der Wirtschaftler. Rede auf ven auf die Geschichte der KPD und die deutsch-russischen Beziehun- der ersten Unionskonferenz der Funktionäre der sozialistischen Indus- gen (1918–1943), Berlin/Boston 2014, S. 9–139, hier S. 27. 7 Firsov, trie, 4.2.1931, in: ders.: Werke, Bd. 13, Dortmund 1976, S. 27–38, hier Friedrich I.: Ein Oktober, der nicht stattfand. Die revolutionären Pläne S. 36. 26 Zit. nach: Birchall, Ian: Victor Serge. Bolschewismus und der RKP(b) und der Komintern, in: Bayerlein, Bernhard H. u. a. (Hrsg.): Antistalinismus, in: Bergmann, Theodor/Keßler, Mario (Hrsg.): Ketzer Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, im Kommunismus. 23 biographische Essays, Hamburg 2000, S. 242– Berlin 2003, S. 35–58, hier S. 37. 8 Vgl. Weber, Hermann: Lenin und 260, hier S. 253 f. 27 Zit. nach: Cliff, Tony: Staatskapitalismus in Russ- die Folgen, in: Neue Politische Literatur, 12. Jg., 1967, S. 27–47, hier land. Eine marxistische Analyse, Frankfurt a. M. 1975, S. 18. 28 Gil- S. 29. 9 Lenin, W.I.: Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben len, Eckhart: «Wir werden die wilde, krumme Linie geradebiegen.» der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung. Referat auf dem Sowjetische Kunst 1917–1934: Vom konstruktivistischen Entwurf zur II. Gesamtrussischen Kongreß der Ausschüsse für politisch-kulturelle gemalten ideologischen Konstruktivität, in: Mit voller Kraft. Russische Aufklärung, 17. Oktober 1921, in: ders.: Werke, Bd. 33, Berlin 1962, Avantgarde 1910–1934, Ausstellungskatalog, hrsg. von Wilhelm Horn- S. 40–60, hier S. 46. 10 Marie, Jean-Jacques: Stalin und der Stali- borstel u. a., Heidelberg 2001, S. 217–228, hier S. 224 f. 29 Skzékely, nismus. Rückkehr zu den Ursprüngen, in: Jahrbuch für Historische Gabor: Béla Kun, György Lukács, Imre Nagy und die Säuberungen in Kommunismusforschung 2004, Berlin, S. 11–31, hier S. 19. 11 Ebd., Moskau, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, S. 21. 12 Lenin, W.I.: Zur Frage der Nationalitäten oder der «Auto - Berlin, S. 329–338, hier S. 332 f. 30 Weber, Hermann: «Weiße Fle- nomisierung», in: ders.: Werke, Bd. 36, Berlin 1962, S. 590–596, hier cken» in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen S. 591. 13 Zit. nach: Broué, Pierre: Trotzki. Eine politische Biographie, und ihre Rehabilitierung, Frankfurt a. M. 1989, S. 13. 31 Rogowin, Wa- Bd. 1, Köln 2003, S. 351. 14 Deutscher, Isaac: Stalin. Eine politische dim S.: Die Partei der Hingerichteten, Essen 1999, S. 326. 32 Weber: Biographie, Berlin 1990, S. 300. 15 Marie: Stalin, S. 23. 16 Testament «Weiße Flecken», S. 19. 62 ��������������������������������������������������������

Christoph Jünke DIE «GROSSE SÄUBERUNG» ALS ­SCHÄDELSTÄTTE DES SOZIALISMUS

Die Nachricht aus Moskau kam überra - Konturen des Terrors schend und löste weltweit Schockwellen der Die sowjetische Presse berichtete tage- und Verwirrung aus. Knappe 20 Jahre nach der wochenlang ausgiebig von diesem Prozess. die Welt bewegenden sowjetrussischen Re- Plakate, Broschüren und stenografische Be- volution von 1917 kündigten die Staatsme- richte wurden in großen Auflagen vertrieben, dien Mitte August 1936 einen öffentlichen Massendemonstrationen wurden organisiert, Schauprozess gegen eine ganze Reihe der auf denen das Volk seine Abscheu über diese wichtigsten alten Bolschewiki an, deren Na- «oppositionellen Verbrecher» kundtun konn- men untrennbar mit der Oktoberrevolution te bzw. musste. Briefe, Telegramme und Re- und dem daran anschließenden Bürgerkrieg solutionen aus allen Ecken des Landes riefen verbunden waren. zur revolutionären Wachsamkeit gegen Fein- Grigori Sinowjew, Lew Kamenew, Iwan de und Saboteure des sozialistischen Aufbaus Smirnow und 13 weitere Oktoberrevoluti- auf und forderten die Hinrichtung der Ange- onäre wurden angeklagt, ein «sinowjewis- klagten – ein Klima der landesweiten Lynch- tisch-trotzkistisches Zentrum» gegründet justiz, das die Massen politisch mobilisierte zu haben, um terroristische Attentate ge - und den Prozess legitimatorisch abrundete. gen führende Partei- und Regierungsver- Das gleiche Schauspiel wiederholte sich noch treter wie den Leningrader Parteisekretär zwei weitere Male. Im Januar 1937 wurden Sergei Kirow und den KPdSU-Generalse - 17 namhafte Partei- und Staatsführer wie Ju- kretär Josef Stalin durchzuführen. Juristi- ri Pjatakow, Karl Radek und andere, im März sche Beweise oder entlarvende Dokumen- 1938 schließlich auch Nikolai Bucharin, Alexei te jedoch konnte das bereits wenig später, Rykow, Christian Rakowski und 18 weitere am 19. August zusammentretende und nur (unter ihnen auch Genrich Jagoda, der der ganze fünf Tage tagende Gericht nicht vor- gleichen Verbrechen «überführte» Organisa- weisen. Die gesamte Anklage wie auch die tor des ersten Schauprozesses) entsprechend dann folgenden Todesurteile beruhten auf angeklagt, verurteilt und danach zumeist hin- den angeblich freiwilligen Geständnissen gerichtet. Auch hier wieder beruhten Ankla- jener Angeklagten, die der Generalstaatsan- ge und Verurteilung ausschließlich auf den walt Andrei Wyschinski öffentlich als «Lüg- angeblich freiwilligen Geständnissen und ner, Clowns, elende Pygmäen» beschimpf- Selbstbezichtigungen der Opfer. Ein weiterer te, als «Kettenhunde des Kapitalismus», als Prozess gegen fast die gesamte Generalität «eine Bande von Mördern und kriminellen der Roten Armee wurde im Mai 1937 geheim Verbrechern». Und um die Verwirrung die- geführt und endete auch hier mit der weitge- ser gespenstischen Szenerie vollständig zu henden «Enthauptung» derselben. machen, gestanden die Angeklagten die ih- Allen Beobachtern war schon damals klar, nen vorgeworfenen schweren Verbrechen dass die drei Schauprozesse nur die Spitze ei- anscheinend bereitwillig und nahmen die- nes gewaltigen Eisberges von Prozessen und se ungeheuerliche Erniedrigung und das To- Verfolgungsmaßnahmen überall im Lande desurteil weitgehend regungslos hin. waren – wenn man auch nicht deren genau- �������������������������������������������������������� 63

en Ausmaße kannte. Agierte die Partei- und mehr zu bestreiten, trug der engste Füh - Staatsführung im Jahr 1936 überwiegend rungszirkel der regierenden Kommunisti- offen, verfuhr man in den Jahren 1937 und schen Partei, das sogenannte Politbüro mit 1938, als die Suche nach den inneren Feinden Stalin an der Spitze. Hier wurden die Opfer- in umfassende Massenrepressalien überging, quoten und Opferlisten für Verhaftungen, De- vor allem nichtöffentlich. Doch mit der in den portationen und Hinrichtungen beschlossen, 1980er und 1990er Jahren erfolgten Öffnung die von den lokalen Partei- und Geheimdien- der sowjetischen Archive kommt nun zuneh- storganen abzuarbeiten und von einzelnen mend Licht ins Dunkel der bisherigen Unge- Politbüromitgliedern wie Stalin, Kagano- wissheit. Im Großen Terror der 1930er Jahre witsch, Shdanow und anderen abzuzeichnen kam nicht nur die sogenannte alte bolschewis- waren – die meisten Listen hat Stalin persön- tische Garde fast vollständig um. «Gesäubert» lich unterzeichnet. Stalin wusste nicht nur wurden auch die Kommunistische Partei, die über (fast) alles Bescheid, er war auch nach- Rote Armee und alle anderen Staats- und Par- weislich der Initiator und die treibende Kraft teiorganisationen – also die politische und sowohl des Großen Terrors wie auch der ge- ökonomische Verwaltungselite als Ganze. Die samten Repressionspolitik der 1930er Jah- Sowjetunion war deshalb am Ende der 1930er re – und er beendete das Morden im Jahr Jahre schon rein physisch eine gänzlich ande- 1938 ebenso bürokratisch, wie er es begon- re als noch Ende der 1920er Jahre. nen und durchgeführt hatte. Und dieser stalinistische Terror betraf, mehr noch, alle Schichten und Gruppen der Ge- Die Logik des Terrors sellschaft. Wissenschaftler, Intellektuelle Haben wir es beim Großen Terror, wie immer und Künstler jeder Art, Arbeiter und Bauern, wieder behauptet wird, mit einem explosiven Geistliche, in Sowjetrussland lebende Auslän- Ausbruch historischer Irrationalität zu tun, der – Männer wie Frauen – und ganze natio- mit einem Exzess der unbeschränkten Macht nale Minderheiten wurden grausam verfolgt. Stalins? Waren Stalin und seine oligarchi- Der scheinbar willkürliche Terror machte vor schen Genossen nur die willigen Vollstrecker niemandem halt. Allein von August 1937 bis einer im marxistischen Sozialismus angeleg- Oktober 1938 wurden etwa 1,5 Millionen ten utopischen Idee der Gesellschaftsumwäl- Menschen verhaftet – knapp die Hälfte davon zung? Eher weniger. Man muss die irrationa- wurde hingerichtet, die anderen wurden in die listischen Momente dieser Geschichte nicht Gefängnisse und Arbeitslager gesteckt. Mit leugnen, um zu erkennen, dass dem Ganzen den Opfern der Repression aus früherer und eine spezifische Logik innewohnte. Schon späterer Zeit summieren sich diese Zahlen auf kritische Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, mehrere Millionen Menschen, die als Einzelne die die Verhältnisse in Sowjetrussland aus ei- nach juristischen Kriterien fast durchgängig gener Anschauung gut kannten, vor allem al- unschuldig gewesen sind, denn das Politbüro so die von den Repressalien betroffenen anti­ hatte in der Regel bereits vor ihrer Verhaftung stalinistischen Oppositionellen, haben damals offensichtlich willkürlich festgelegte Opfer- vielfach darauf hingewiesen, dass und wie quoten bestimmt, die am Ende der Repressa- dieser Terror als Mittel einer historisch neuar- lien herauskommen mussten. Dies alles und tigen Herrschaftsformierung fungierte, als die noch viel mehr ist heute gut belegt.1 schleichende Machtergreifung und gewaltsa- Die volle Verantwortung und die Regie für me Machtsicherung einer in den 1920er Jah- diese Verhaftungs-, Deportations- und Hin- ren aufkommenden neuartigen, bürokrati- richtungswelle, auch dies ist heute nicht schen Herrschaftskaste.2 64 ��������������������������������������������������������

Es war die sogenannte Zweite Revolution, und auch ein Ventil des Unmutes für all die die die UdSSR Ende der 1920er Jahre durch- Leiden und Entbehrungen dieser überstürzten machte, das heißt, es waren die 1928 begon- und historisch einmaligen Gesellschaftsum- nene Zwangskollektivierung der russischen wälzung anboten – und jene disziplinierten, Bauernschaft und die sie begleitende Politik die dem Regime sowie den Erfahrungen und einer forcierten Industrialisierung, die nicht Folgen dieser schockartigen Industrialisierung nur Stalin zum unumschränkten Alleinherr- mit Widerwillen oder gar Widerstand begeg- scher werden ließen, sondern auch eine Perio- neten. de der kumulativen Radikalisierung auslösten, Aufs Ganze betrachtet erweist sich die «Gro- an dessen Ende nichts mehr so sein sollte wie ße Säuberung» als ein Akt realer und präventi- zuvor. ver Repression gegen jede Form von Nonkon- Die mit Gewalt und Terror in die Kolchosen formismus, Renitenz und Opposition, sei sie und Sowchosen getriebene russische Bau- auch noch so marginal oder unpolitisch – als ernschaft, die sich schon im Übergang zu den Mittel zur Herstellung eines neuen, umfassen- 1930er Jahren mit massiver Gegengewalt ge- den («totalitären») Konformismus im Prozess gen das ihnen aufgezwungene Schicksal zur der Herausbildung und Festigung einer neu- Wehr setzte; die mit massiven Repressions- en «sozialistisch»-bürokratischen Herrschafts- methoden damals aus dem Boden gestampf- form. Der Terror war deswegen dem histori- te und mit rigiden Arbeitsmethoden klein ge- schen Stalinismus grundlegend immanent, haltene neue sowjetische Arbeiterklasse; die systemischer Natur und Endpunkt eines kon- Vertreibung und Ermordung der alten Intellek- terrevolutionären Prozesses, bei dem aus dem tuellenschicht und ihre Ersetzung durch ehe- Formierungsbedarf der neuen Macht der Re- malige Arbeiter und Bauern; die Ersetzung pressionsbedarf gegen reale und potenziel- der alten Machtelite durch eine von Stalin und le Widerstände resultierte, so wie umgekehrt dem Parteiapparat abhängige neue Verwal- aus dem Repressionsbedarf der Formierungs- tungselite – all dies sind die sozialgeschicht- bedarf folgte. lichen Folgen einer als Schockstrategie erfah- renen Industrialisierung und Kollektivierung. 1 Ausführlich zum Thema vgl. Jünke, Christoph: Schädelstätte des Vor diesem Hintergrund waren es die Schau- Sozialismus. Stalinistischer Terror Revisited, in: Gruppe INEX (Hrsg.): Nie wieder Kommunismus? Zur linken Kritik an Stalinismus und Re- prozesse, die einer gewaltsam atomisierten, alsozialismus, Münster 2012, S. 84–106; dort auch umfangreiche entmündigten und physisch bedrohten Be- Hinweise zu weiterführender Literatur. 2 Vgl. dazu Jünke, Christoph (Hrsg.): Marxistische Stalinismus-Kritik im 20. Jahrhundert. Eine An- völkerung einen Sündenbock, eine Erklärung thologie, Köln 2017. Ausgewählte Literatur 65

AUSGEWÄHLTE LITERATUR

Einführungen Neuere Veröffentlichungen Appignanesi, Richard/Zarate, Oscar: Lenin Behrends, Jan Claas/Katzer, Nikolaus/Lin- für Anfänger, Reinbek 1979. denberger, Thomas (Hrsg.): 100 Jahre Roter Deutscher, Isaac: Der Verlauf der Revolution Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen 1917, in: ders.: Die unvollendete Revolution Revolution, Berlin 2017. 1917–1967, Hamburg 1981, S. 139–188. Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes, Fitzpatrick, Sheila: The Russian Revolution, Die Epoche der russischen Revolution 1891 Oxford 2008. bis 1924, Berlin 2008. Haumann, Heiko (Hrsg.): Die Russische Re- Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Die russische volution 1917, Köln u. a. 2007. Linke zwischen März und November 1917, Hildermeier, Manfred: Russische Revolution, Berlin 2017. Frankfurt a. M. 2004. Hedeler, Wladislaw/Kinner, Klaus (Hrsg.): Moritz, Verena/Leidinger, Hannes: Die Rus- «Die Wache ist müde». Neue Sichten auf die sische Revolution, Wien 2011. russische Revolution von 1917 und ihre Wir- Smith, Steve A.: Die Russische Revolution, kungen, Berlin 2008. Stuttgart 2011. Kasakow, Ewgeniy: Bewegung versus Wunderer, Hartmann: Die Russische Revolu- Avantgarde? Mythologie der linken Debatten tion, Stuttgart 2014. über die Russische Revolution 1917, in: Prokla 187/2017, unter: www.prokla.de/wp/wp-con- Klassische Werke tent/uploads/2017/kasakow.pdf. Altrichter, Helmut (Hrsg.): Die Sowjetunion. Kellermann, Philippe (Hrsg.): Anarchismus Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, und Russische Revolution, Berlin 2017. 2 Bände, München 1986/87. Materialien für einen neuen Antiimperialis- Carr, Edward Hallet: Die Russische Revoluti- mus, Ausgabe 10 (Materialien zur Russischen on. Lenin und Stalin 1917–1929, Stuttgart u. a. Revolution 1912–1918) [nur online: http://ma- Lorenz, Richard: Sozialgeschichte der Sowjet­ terialien1917.org]. union 1917–1945, Frankfurt a. M. 1976. Meschkat, Klaus: Das Vorbild kennen, um es Medwedjew, Roy: Oktober 1917, Hamburg nicht zu wiederholen. Die Russische Revoluti- 1979. on von 1917 und die lateinamerikanische Lin- Reed, John: Zehn Tage, die die Welt erschüt- ke, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. terten (1919) (diverse Ausgaben). Juli 2017, unter: www.rosalux.de/publikation/ Trotzki, Leo: Geschichte der Russischen Re- id/37575. volution (1931/32) (diverse Ausgaben). Rabinowitch, Alexander: Die Sowjetmacht. Das erste Jahr, Essen 2010. Rabinowitch, Alexander: Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki, Essen 2012. Schütrumpf, Jörn (Hrsg.): Diktatur statt So- zialismus. Die russische Revolution und die deutsche Linke 1917/18, Berlin 2017. 66 Ausgewählte Literatur

Von Lenin zu Stalin Literaturliste Bergmann, Theodor/Keßler, Mario (Hrsg.): Diskurs Nr. 24, 100 Jahre Russische Revo- Ketzer im Kommunismus. Alternativen zum lution, erstellt vom denknetz e. V./Schweiz, Stalinismus, Mainz 1993. unter: www.denknetz.ch/sites/default/files/ Jünke, Christoph (Hrsg.): Marxistische Stali- diskurs_24_russische_revolution.pdf [um- nismus-Kritik im 20. Jahrhundert. Eine Antho- fangreiche, gegliederte und kommentierte Li- logie, Köln 2017. teraturliste mit Stand September 2016] Labica, Georges: Der Marxismus-Leninis- mus. Elemente einer Kritik, Berlin 1986. Website Medwedjew, Roy: Das Urteil der Geschichte, www.marx200.org [umfangreiches On- 3 Bände, Berlin 1992. line-Angebot der Rosa-Luxemburg-Stiftung] Niemann, Heinz: Vorlesungen zur Geschich- te des Stalinismus, Berlin 1991. Reiman, Michal: Die Geburt des Stalinismus. Die UdSSR am Vorabend der «zweiten Revolu- tion», Frankfurt a. M. 1979. Rogowin, Wadim: Gab es eine Alternative?, 6 Bände, Essen 2010. Die AutorInnen 67

DIE AUTORINNEN

Bini Adamczak ist Autorin (demnächst er- Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler und scheinen «Der schönste Tag im Leben des Referent für Zeitgeschichte und Geschichts- . Vom womöglichen Ge- politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ko- lingen der Russischen Revolution», Münster ordiniert den Gesprächskreis Geschichte der 2017, sowie «Beziehungsweise Revolution. Stiftung. Seine Interessengebiete sind Ge- 1917, 1968 und kommende», Frankfurt a. M. schichte und Geschichtsschreibung der neu- 2017), Performerin (mit ­Andcompany&Co – en sozialen Bewegungen und der undog- «Little red (play): herstory», Amsterdam 2006, matischen Linken, freie Archive der sozialen «Timerepublic», Graz 2007), bildende Künstle- Bewegungen, künstlerische Avantgarden und rin («Perverser Universalismus», Wien 2006, Netzwerke 1890–1933. Er veröffentlichte u. a. «13 Ways Not to Be Meant», Wien 2011) und «‹Maschine zur Brutalisierung der Welt›? Der träumt, wie wohl so viele Mädchen dieser Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen Branche, öfter davon, mal was «Richtiges» zu 1914 bis heute» (Münster 2017 als Mithrsg.). machen, Revolution zum Beispiel oder «was Kontakt: [email protected] mit den Händen». Christoph Jünke lebt und arbeitet als frei- Marcel Bois lebt und arbeitet als Historiker schaffender Historiker in Bochum. Er ist Autor in Hamburg. Er ist Lehrbeauftragter an der und Herausgeber zahlreicher Bücher, u. a. von Ruhr-Universität Bochum. Im Jahr 2014 wur- «Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert» de er mit der Arbeit «Kommunisten gegen Hit- (Hamburg 2014). Im Mai 2017 erschien die ler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in von ihm herausgegebene Anthologie «Mar- der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstel- xistische Stalinismus-Kritik im 20. Jahrhun- lung» (Essen 2014) an der Technischen Uni- dert. Eine Anthologie» (Köln). versität Berlin promoviert. Derzeit schreibt er Kontakt: Christoph.Juenke@ruhr-uni- als Stipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung ei- bochum.de ne Biografie der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. Philippe Kellermann lebt und arbeitet in Ber- Kontakt: [email protected] lin. Er ist Herausgeber von Ne znam – Zeit- schrift für Anarchismusforschung. Zuletzt gab Alexandre Froidevaux ist promovierter His- er die Sammelbände «Anarchismus und Ge- toriker und arbeitet freiberuflich in Berlin. Er schlechterverhältnisse» (Lich 2016) und «An- ist Autor des Buches «Gegengeschichten oder archismus und Russische Revolution» (Berlin Versöhnung? Erinnerungskulturen und Ge- 2017) heraus. schichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur Transición (1936– 1982)» (Heidelberg 2015.) Kontakt: [email protected] 68 Die AutorInnen

Gisela Notz lebt und arbeitet als freie Auto- Bini Adamczak, Marcel Bois, Alexandre rin in Berlin zu den Themen Arbeitsmarkt-, So- Froidevaux, Christoph Jünke und Gisela zial- und Frauenpolitik, alternative Ökonomie Notz sind Mitglieder des Gesprächskreises und historische Frauenforschung. Zuletzt ver- Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, öffentlichte sie «Kritik des Familismus. Theo- der seit seiner Gründung 2006 von Bernd rie und soziale Realität eines ideologischen Hüttner koordiniert wird. Gemäldes» (Stuttgart 2015). Sie ist Redak- teurin von Lunapark21. Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie und Herausgeberin des Wandkalenders 2018 «Wegbereiterin- nen XVI», mit 12 Biografien aus der emanzipa- torischen Frauenbewegung.

In den älteren Zitaten wurde die Schreibweise den Regeln der aktuell gültigen Rechtschreibung behutsam angepasst.

Impressum

MATERIALIEN Nr. 22 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Henning Heine Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2199-7713 · Redaktionsschluss: Juli 2017 Titelbild: «Der Bolschewik», Ölgemälde von Boris Kustodijew (1920) Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Gedruckt auf: Circleoffset Premium White, 100 % Recycling «Das, was 1917 aus Sicht vieler ArbeiterInnen und Intellektueller so hoffnungs­ voll begonnen hatte, entwickelte sich zu einer der verheerendsten Diktaturen der Menschheitsgeschichte.»

MARCEL BOIS

WWW.ROSALUX.DE