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22 Zur Wahrnehmung der Oktober­ und des Bolschewismus

Philippe Kellermann ZUR WAHRNEHMUNG DER OKTOBER­ REVOLUTION UND DES BOLSCHEWISMUS IM INTERNATIONALEN ANARCHISMUS 1917 BIS 1923

Wenn man an die Russische Revolution denkt, war und nun mehr und mehr ihre alten Hoff- dann in erster Linie an die Oktoberrevolution, nungen auf die Entwicklung in Russland begra- den Sieg der Bolschewiki, und vielleicht hat ben musste. In den Jahren 1918/19 war allen man noch im Kopf, was sich in den darauffol- voran sie es gewesen, die in den USA massiv genden Jahren entwickelte: das System des ihre Stimme zur Verteidigung der Bolschewi- Stalinismus mit seinen unzähligen Toten und ki erhoben hatte. In ihrer Broschüre «The Truth dem Gulag. about the Boylsheviki» (Die Wahrheit über die Dies vor Augen, scheint eine Antwort auf die Bolschewiki), die sie kurz vor Antritt ihrer Haft- Frage nach dem Verhältnis der anarchisti- strafe (Anfang 1918) wegen antimilitaristischer schen Bewegung zum Ereigniskomplex «Rus- Agitation geschrieben hatte, verteidigte sie sische Revolution» relativ einfach: grund- diese sogar gegen die Kritik ihres alten anar- sätzliche Gegnerschaft. Denn was sollten ein chistischen Lehrmeisters Kropotkin; und sie Denken und eine Bewegung, die sich schon hatte eine von ihr bewunderte Sozialrevolutio- jahrzehntelang «gegen die Herrschaft, die Au- närin – Jekaterina Breschko-Breschkowskaja – torität in jeder Form»1 wandte, an einer Bewe- dafür attackiert, dass sie öffentlich gegen die gung, zumal einer marxistischen, überdies Bolschewiki Stimmung mache, womit sie der noch in Gestalt einer hierarchisch strukturier- Konterrevolution diene. ten Kaderpartei, positiv finden? Hatten nicht vielmehr gerade AnarchistInnen Erste Verwirrung: stets erklärt, dass «Sozialismus ohne Freiheit» Ist der Bolschewismus zu «Sklaverei und Brutalität» führen würde, 2 ein Anarchismus? «Stalin […] die Theorie und die Methoden, Der wohl zentrale Aspekt, warum es seit 1917 welche die Russische Revolution zerschlagen überhaupt zu einer positiven Bezugnahme auf und neue Ketten für das russische Volk ge- die Bolschewiki kommen konnte, wird von schmiedet haben, nicht neu erfunden»3 habe dem deutschen Anarchisten Ernst Friedrich und der Bolschewismus eigentlich nur eine erwähnt, als dieser 1923 an die «Waffenbrü- «Variante des faschistischen Systems»4 sei? derschaft beider im Kampf für die Freiheit» Oder wie der bekannte Anarchist Pjotr Kropot- erinnerte.6 Denn man darf nicht vergessen: kin noch kurz vor seinem Tod 1921 sagte: «Ha- Im Nachgang der Februarrevolution war es ben wir nicht stets auf diese Segnungen des in Russland zu einer Art «inoffiziellen Allianz» Marxismus in Aktion hingewiesen? Warum zwischen Anarchisten und Bolschewiki ge- nun erstaunt sein?»5 kommen.7 Beide einte der Wunsch nach Radi- Entscheidend aber ist, dass Kropotkins Ge- kalisierung des revolutionären Aufbruchs, der genüber erstaunt war und dass es sich hierbei nach dem Februar stagnierte, während große um eine Anarchistin handelte, nämlich Emma Teile der Bevölkerung immer unzufriedener Goldman, die zum Jahreswechsel 1919/20 aus wurden – und sich und ihre Forderungen ra- den USA nach Russland ausgewiesen worden dikalisierten. Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 23

Mit den Lenin’schen «April-Thesen» und der als «die große Passion, die uns alle mitriss. Übernahme von Parolen wie «Alle Macht den Im Osten ging, so glaubten wir, die Sonne der Räten», «Das Land den Bauern» und «Sofor- Freiheit auf.»13 tiger Frieden ohne Annexionen» deutete eini- Der im US-amerikanischen Exil lebende ita- ges darauf hin, dass sich die Bolschewiki mehr lienische Anarchist Luigi Galleani hat die Au- und mehr in eine Richtung bewegten, die viel ßenwirkung der Bolschewiki anschaulich eher an genuin anarchistische Vorstellungen beschrieben: «Die Sprache, die die Bolsche- erinnerte als an den orthodoxen Marxismus. wiki benutzten, war neu, unerwartet war ihre Diesen Eindruck hatten selbst manche Anar- Kühnheit, ihre Siege waren triumphal. Ihr exo- chistInnen in Russland – daher erklärte Emma tischer Name – Bolschewiki – klang mysteri- Goldman die Russische Revolution zu einem ös und schien schwanger vor stürmischen Er- «Wunder», unter anderem weil die «marxisti- innerungen, er zog alle Sympathien auf sich. schen Sozialdemokraten Lenin und Trotzki» Keiner wusste genau, was er bedeutete, aber anarchistische revolutionäre Taktiken anwen- niemand wollte ihn nach dem siegreichen den würden.8 Dieser Sichtweise entsprach Aufstand, der die glühenden avantgardisti- in gewisser Weise die Kritik der Menschewi- schen Kräfte – von den Anarchisten bis zu den ki, die Lenin zum Anarchisten erklärten: «Für Sozialisten – zusammengeschmiedet zu ha- die russischen Marxisten von heute», so der ben schien, nur auf eine Gruppe anwenden. führende orthodoxe Marxist Plechanow im Alle waren Bolschewiki!»14 Mai 1917, «ist es auch an der Zeit, zu begrei- Wenn sich nun schon in Russland selbst die fen, dass sie einen anderen Weg als die mo- Dinge derart ungewöhnlich darstellten, wa- dernen Bakunisten Leninschen Typs haben. ren sie umso verwirrender und komplizierter […] Ich wiederhole: Es handelt sich nicht dar- zu überschauen für die anarchistische Bewe- um, ob bei uns der Bolschewismus oder Men- gung in den Ländern der restlichen Welt, die schewismus den Sieg davonträgt. Es handelt zumeist etwa durch Pressezensur – wir be- sich darum, welche Ideen in unserem sozialis- finden uns ja anfangs noch mitten im Ersten tischen Milieu den Sieg davontragen, die Ide- Weltkrieg – weitestgehend von der jeweiligen en von Marx oder die Ideen von Bakunin.»9 Für Außenwelt abgeschnitten war. Nicht zuletzt die einen vertrat Lenin «Fieberphantasien»,10 deshalb kam es oftmals zu im Rückblick irritie- für die anderen zeigte sich, dass die Bolsche- renden Interpretationen. wiki sich in ihre Richtung bewegt hätten und So schreibt Anfang 1919: nun am «Scheideweg» ständen: «Marxismus «Wenn es aber wahr ist, wofür manche Nach- oder Anarchismus?»11 richt und unsre nach Beseligung und Wunder Da die «russische Revolution […] Europa aus zitternd verlangende Hoffnung spricht, dass dem furchtbaren Bann einer grauenvollen russische Bolschewiki […] über sich selbst, Hypnose»12 – gemeint ist der Weltkrieg – be- ihren theoretischen Doktrinarismus und die freit habe und dann als revolutionärer Weg zu Ödigkeit ihrer Praxis emporgestiegen sind, einer herrschaftsfreien Gesellschaft erschien, dass in ihnen Föderation und Freiheit über war sie zunächst allgemein begrüßt worden Zentralismus und militärisch-proletarische Be-

«Die Sprache [der] Bolschewiki […] war neu, unerwartet war ihre Kühnheit, ihre Siege waren triumphal. Ihr exotischer Name – Bolschewiki – klang mysteriös […]. Keiner wusste genau, was er bedeutete.» (Luigi Galleani) 24 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

fehlsorganisation Herr geworden sind, dass trauen könnte in einer außergewöhnlichen La- sie schöpferisch geworden sind und der In- ge abgeschwächt werden, es wird aber ganz dustrieproletarier und Professor des Todes im Gegenteil vom politischen Handeln der in ihnen vom Geist des russischen Muschik, Russen bestärkt.»17 vom Geist Tolstois, vom ewig einen Geist be- Nichtsdestotrotz dürften die Stimmen über- siegt worden ist, dann spricht das wahrlich wogen haben, die die Russische Revolution nicht für den in ihnen überwundenen Marxis- begrüßten und glaubten, sie sei auf einem gu- mus, sondern für den himmlischen Geist der Revolution, der, unterm klammernden Griff und der schnellenden Schleuder der Notwen- «Unser Misstrauen gegen­ digkeit, in den Menschen, zumal den russi- über der Regierung von schen Menschen, das Verschüttete freilegt Lenin und Trotzki entspringt und das heilig Verborgene zum Quellen und der geistigen Haltung, die Rauschen bringt.»15 wir Anarchisten instinktiv Zahlreiche Meldungen unterstreichen das all- gegenüber institutionali­ gemeine Durcheinander in einer Zeit, in der sierter und konstituierter sich alte Kategorien zu verflüssigen schienen. Autorität einnehmen.» Beispielhaft eine Notiz aus dem Jahr 1919, in (Il Risveglio) der berichtet wird: «Amerikanischen Blättern zufolge ist in Pittsburgh eine bolschewistische ten Weg, wie die folgende Stimme in der spa- Verschwörung entdeckt worden. Die Bolsche- nischen Tierra y Libertad: «Der Wind trägt den wisten wollten sich des Arsenals bemächti- Lärm eines ungeheuren Zusammenbruchs zu gen und die Waffen gegen die Stadt richten. uns herüber: Das alte Russland fällt, und es 21 Anarchisten wurden verhaftet.»16 reißt in seinem Sturz eine Welt der Infamie, der Verbrechen, der widerwärtigen Tyrannei Erste Kritik und Zurück­ und der niedrigen Knechtsgesinnung mit sich haltung angesichts der welt­ nieder. […] Natürlich hat die Russische Revo- weiten Konterrevolution lution nicht die Anarchie als soziale Ordnung Nichtsdestotrotz kam es schon früh zu öffent- verwirklicht. Denn um in Anarchie zu leben, lichen kritischen Stellungnahmen gegen die bräuchte es ein höheres Maß an Bildung und Bolschewiki, beispielsweise im Januar 1918 moralischem Bewusstsein, als das russische in wichtigen anarchistischen Zeitungen wie Volk es heute haben kann. […] Aber die Es- Il Risveglio (Genf), die Fraye Arbeter Shtime senz der anarchistischen Vorstellungen von (USA) oder L’Avvenire anarchico (Pisa). Bei- Ökonomie und Gesellschaft ist heute in Russ- spielhaft für solche Positionen sei ein Artikel land umgesetzt […]. Unsere Aufgabe ist es aus Il Risveglio vom Februar 1918 angeführt, nicht allein, den russischen Befreiern zu zei- in dem Francesco Porcelli festhält: «Ein zentra- gen, dass die Arbeiter der ganzen Welt geistig ler Baustein der anarchistischen Lehre ist die auf ihrer Seite stehen, sondern auch, mit un- absolute Ablehnung jeglicher Form von Re- seren Taten jene nachzuahmen, die die Prin- gierung. Unser Misstrauen gegenüber der Re- zipien der Gerechtigkeit und Gleichheit des li- gierung von Lenin und Trotzki entspringt der bertären Kommunismus umgesetzt haben.»18 geistigen Haltung, die wir Anarchisten instink- Der Kenntnis der wirklichen Lage in Russland tiv gegenüber institutionalisierter und konsti- standen nun nicht allein verschiedene äußere tuierter Autorität einnehmen. Dieses, unseren Hindernisse entgegen. Darüber hinaus befand theoretischen Prämissen entspringende Miss- sich ein Großteil der anarchistischen Bewe- Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 25

gung mitten in den «internationalen revolu- des Ganzen irrelevant, was wir über die Ereig- tionären Wirren der Jahre 1916–1923»19, so- nisse in Russland sagen – außerdem könnte es dass man auch anderes zu tun hatte, als sich falsch interpretiert werden und uns als Nach- ausgiebig und in Ruhe mit Russland zu be- ahmer der Reaktion erscheinen lassen.»20 schäftigen. Die Auseinandersetzung mit der «Russlandfrage» wurde zusätzlich überlagert Kritische Solidarität und all­ von der nun beginnenden alliierten Interven- gemeine Unübersichtlichkeit tion gegen Russland (Juni 1918 bis Oktober In Deutschland erklärte im De- 1919) und der Formierung der «Weißen» Ar- zember 1919 auf dem 12. Kongress der Frei- meen unter Denikin, Koltschak und Wrangel, en Vereinigung deutscher Gewerkschaften gegen die sich die übergroße Mehrheit der grundsätzlich: «Was die Partei der Bolsche- russischen Bevölkerung insgesamt zur Wehr wiki anbelangt, so ist unsere Stellung ihr ge- setzte, bis sie Ende 1920 vollständig geschla- genüber dieselbe wie allen anderen sozia- gen worden waren. listischen Parteien gegenüber. Wir stehen Angesichts dieser Situation hielten sich vie- einmütig auf der Seite Sowjetrusslands in sei- le AnarchistInnen mit ihrer Kritik zurück. So ner heldenmütigen Verteidigung gegen die schreibt – eine der gewich- Mächte der Alliierten und der Gegenrevoluti- tigsten Stimmen jener Zeit – in einem Brief, onäre, nicht weil wir Bolschewisten sind, son- den sein Adressat Luigi Fabbri umgehend ver- dern weil wir Revolutionäre sind. Im Übrigen öffentlichte, im Juli 1919: «Die Bolschewiki aber gehen wir unsern eignen Weg unbeirrt sind einfach Marxisten, sie sind ehrlicherwei- weiter, da wir fest überzeugt sind, dass er der se und konsequenterweise Marxisten geblie- richtige ist.»21 ben. […] Wir respektieren ihre Ehrlichkeit, be- Der internationale Anarchismus handelte hier wundern ihre Energie, aber wir sind mit ihnen nicht anders als viele AnarchistInnen in Russ- auf der theoretischen Ebene nie einverstanden land selbst, die sich angesichts der Bedro- gewesen, und wir werden uns nicht mit ihnen hung durch die Konterrevolution aufmachten, solidarisieren, jetzt, da sie von der Theorie zur vor allem diese zu bekämpfen.22 Dementspre- Praxis übergegangen sind. […] Lenin, Trotzki chend finden sich in anarchistischen Zeitun- und Genossen sind sicherlich echte Revolu- gen zu jener Zeit immer wieder Aufrufe zu So- tionäre, so wie sie die Revolution verstehen, lidaritätsdemonstrationen mit Russland und und werden sie nicht verraten. Sie schaffen zum Boykott von Hilfslieferungen für die kon- aber mit ihrer Regierung den Rahmen, den die terrevolutionären Kräfte. Nachkommenden benutzen werden, um von Wenn nun Rocker im obigen Zitat davon ge- der Revolution zu profitieren und sie zu töten. sprochen hat, dass man vom eigenen Weg als Sie werden die ersten Opfer ihrer eigenen Me- dem richtigen überzeugt sei, so traf dies kei- thoden und mit ihnen, fürchte ich, wird auch neswegs für den internationalen Anarchismus die Revolution fallen. […] Über die Details ha- in seiner Gesamtheit zu. Der Bolschewismus ben wir zu widersprüchliche und zu diffuse In- und seine Durchschlagskraft führten näm- formationen, um sie beurteilen zu können. Es lich auch zu hitzigen Diskussionen unter An- kann sein, dass viele Dinge, die uns böse er- archistInnen über die Tragfähigkeit der eige- scheinen, allein Konsequenzen aus der Situ- nen Revolutionsvorstellungen. Die Zeitschrift ation sind und dass in der besonderen Lage Der freie Arbeiter gab Ende 1919 diesbezüg- Russlands nichts anderes möglich gewesen lich folgenden Überblick über die bestehen- ist, als was geschehen ist. Es ist besser, abzu- den Meinungsverschiedenheiten: «Die inter- warten. Überhaupt ist es für die Entwicklung nationalen politischen und wirtschaftlichen 26 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

Verhältnisse gestalten sich immer verwickel- anarchistischen Kreisen eine wesentlich an- ter und treiben unaufhaltsam dem Chaos zu. dere Auffassung über den Bolschewismus […] In England hat der Bolschewismus einen als in der englischen Zeitung ‹The Spur›. Die besonders starken Verfechter in Guy Aldred, Redaktion von ‹Les Temps Nouveaux› geht in dem Mitarbeiter unseres Bruderorgans ‹The dem Programm, das sie in der ersten Num- Spur to › (Der Ansporn zum Kom- mer veröffentlicht, von dem Gesichtspunkt munismus). Gegenüber einer Behauptung aus, dass der Bolschewismus nichts anderes Pierre Ramus’, dass die Diktatur des Proleta- sei als Staatssozialismus, und noch dazu ein riats unnötig sei, entgegnet er, dass er sie für sehr zentralisierter und herrschsüchtiger, der unvermeidlich halte, dass auch Bakunin und nur mittels Gewalt sich hält. Es passe nicht die Idee der revolutionären in ihr Programm, dem Volk von oben her das Diktatur verfechten. Pierre Ramus sei ärgerlich Glück gleichsam aufzunötigen. Sie könnte an einen ‹guten Tyrannen› nicht glauben usw. Man ersieht, «Wir stehen […] auf der Seite Sowjet­ wie verschiedenartig die Auf- russlands […] gegen die Mächte der fassungen über den Bolsche- Alliierten und der Gegenrevolutionäre, wismus sind. Bei den Kapi- nicht weil wir Bolschewisten sind, talisten der verschiedenen sondern weil wir Revolutionäre sind.» Staaten und ihren rechtsso- (12. Kongress der Freien Vereinigung zialistischen Handlangern deutscher Gewerkschaften) und Zuhältern ist allerdings die Auffassung eine einheitli- auf die Räterepublik, weil sie den Kapitalismus chere. Von der leisesten Bewegung an, die mit nicht schnell genug zerstört. Aber Rom wurde dem Sozialismus ernstmachen möchte, bis auch nicht an einem Tage gebaut. Er (Ramus) zum Anarchismus bezeichnen sie alles als bol- erkenne keinen Unterschied zwischen der Rä- schewistisch.»23 teorganisation der Gesellschaft und dem par- Es gab jedenfalls nicht wenige AnarchistIn- lamentarischen Staate. Hier unterscheide er nen, bei denen, wie Fritz Brupbacher treffend sich offen von ihm. Aldred glaubt, dass jene schrieb, «das meiste, was unter dem Titel An- Anarchisten, die sich der Diktatur des Prole- archismus gegangen, einfach revolutionärer tariats als einer vorübergehenden Maßregel Wille war, und als im Bolschewismus eine Leh- widersetzen, gefährlich nahe daran sind, die re auftauchte, die das revolutionäre Element Sache der Reaktion zu unterstützen, obwohl enthielt, das in der Sozialdemokratie nicht ent- ihre Beweggründe die edelsten sein mögen. halten war, so wurden die scheinbaren Anar- Ja, unser englischer Kamerad versteigt sich in chisten und revolutionären Syndikalisten ein- seiner Polemik gegen Ramus zu dem Satze: fach und mit Leib und Seele Bolschewisten».24 Wenn der abstrakte Anarchismus der sozialen Diese Leute – man darf nicht vergessen, dass Revolution und dem Triumph des Proletariats der Marxismus im Grunde bis zur Oktoberre- entgegensteht, dann müsse er von jedem Sol- volution über keine revolutionäre Tradition dat der roten Flagge verworfen werden. Wir verfügte – waren dann oftmals vor allem in geben die Bemerkungen des Kameraden Al- Ländern, in denen der Anarchismus in der Ar- dred wieder, ohne sie zu den unsrigen zu ma- beiterschaft stärker vertreten war, die Gründer chen. Besonders wussten wir nicht, wieso der der in diesen Jahren entstehenden Kommunis- Anarchismus der sozialen Revolution im We- tischen Parteien.25 Wobei – auch dies gehört ge stehen sollte. […] In Frankreich hat man in zu der allgemeinen Unübersichtlichkeit – die- Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 27

se Parteien nicht unbedingt bolschewistisch mochte, hatten sie sich doch immerhin durch- in dem Sinne waren wie die Partei Lenins. Als gesetzt. Und gerade dies – vielmehr die da- diesbezüglich eine gewisse Klärung eintrat – mit gegebene Niederlage des Anarchismus – Kernaspekte wären hier die theoretischen Vor- führte auch zu Fragen, die teilweise in eine gaben zur «taktischen» Beteiligung am Parla- «Krise des Anarchismus» mündeten. Mühsam mentarismus und die berühmten 21 Punkte selbst hatte zu jener Zeit noch mit explizit po- zur Aufnahme in die Kommunistische Interna- sitivem Bezug auf die Bolschewiki gemeint: tionale (1920) –, wandten sich auch viele (ehe- «Lenins theoretische und praktische Anwei- malige) AnarchistInnen wieder vom Bolsche- sungen für die Durchführung der Revolution wismus ab. In gewisser Weise beispielhaft bis zur Verwirklichung der kommunistischen hierfür ist Erich Mühsam, der während seiner Ziele des Proletariats schufen neuen Boden, Haftzeit in die KPD eingetreten war, wozu er gaben dem revolutionären Kampf um die Be- erklärte: «Ich vollziehe hiermit meinen Eintritt freiung vom Kapitalismus neue Formen. Seine in die Kommunistische Partei Deutschlands. Lehren […] schlugen die Brücke, auf der sich Die Einigung des revolutionären Proletariats ist die Anhänger des von Kautsky und Bernstein notwendig und unaufschiebbar. Die Organisa- befreiten Marx und Bakunins begegnen kön- tion, in der diese Einigung allein möglich ist, nen, der Einigung des wahrhaft revolutionären ist in der K.P.D. gegeben. Ich hoffe, dass mei- Proletariats stehen keine unüberwindlichen ne anarchistischen Genossen, soweit sie im Schranken mehr im Wege. Wir kommunisti- Kommunismus die Grundlage der gerechten schen Anarchisten mussten allerdings einen Gesellschaft erblicken, meinem Beispiel folgen wichtigen Differenzpunkt zwischen den bei- werden. Die Überwindung des Staates in jeder den hauptsächlichen sozialistischen Schulen, Gestalt ist das Ziel Lenins so gut wie das uns- Bakunins Widerstand gegen eine Diktatur des rige. Ein Opfer der Überzeugung wird also von Proletariats zugunsten Marxens, preisgeben. niemandem verlangt. Die Genossen der K.P.D. Ich persönlich habe bereits zu Beginn der Re- aber bitte ich, mich und meine Kameraden im volution eingesehen, dass die proletarische Geiste treuer Kampfsolidarität aufzunehmen. Diktatur ein unumgängliches Mittel zur Erobe- Wir werden unsern Mann stellen, und der Zu- rung der Macht darstellt, und meine propa­ strom an Kampf und Verfolgung gewöhnter gandistische Tätigkeit dementsprechend aus- Rebellen wird die Tatkraft der Partei befeuern geübt. Der weitere Konflikt, die Frage nach und sie vor Verknöcherung und Verbonzung zentralistischer oder föderalistischer Organi- dauernd bewahren. Es lebe die Weltrevolution! sation wird durch die geniale Leninsche Lö- Es lebe die 3. Internationale!»26 sung, durch den Rätegedanken, zu einem Kaum zwei Monate später aber war Müh- Streit um Worte.»27 sams Gastspiel schon wieder beendet, da die Allgemeiner – als theoretisches und prakti- KPD-Zentrale den Ausschluss der antiparla- sches Problem – blieb diese Frage aktuell und mentarischen und revolutionär-syndikalisti- über den deutlich antibolschewistischen anar- schen AktivistInnen durchsetzte. chistischen Kongress 1921 wird beispielswei- se berichtet: «Durch den Gedankenaustausch Positionsfindung und bekam man den Eindruck, dass mehrere An- Krise des Anarchismus wesende leicht über die Frage der Übergangs- Mühsam steht aber noch für etwas anderes, zeit zwischen Kapitalismus und Anarchismus mit dem sich die anarchistische Bewegung hinweggehen. Es ist bequem, theoretisch je- seit jener Zeit herumschlagen muss. Denn de Diktatur und jeden revolutionären Milita- was immer man von den Bolschewiki halten rismus abzulehnen; es ist aber grundfalsch, 28 Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus

zu meinen, dass dadurch allein die revolutio- Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur grund- näre Entwicklung ohne allzu viele Schwierig- sätzlichen Gegnerschaft und Opposition ge- keiten sich durch die freie und spontane Selb- genüber dem Bolschewismus beitrug, war die storganisation des Proletariats verwirklichen Entwicklung der Kommunistischen Internati- wird. Was man bei dergleichen Besprechun- onale und die Art und Weise ihrer Beziehun- gen vergisst, ist die Tatsache, dass revolutio- gen zu den revolutionär-syndikalistischen und näre Unruhen und gesellschaftliche Umwäl- anarchistischen GewerkschaftsaktivistInnen. zungen immerfort wieder ausbrechen, nicht Denn als man anfangs noch keinerlei Verbün- nur lange bevor jeder Proletarier Anarchist dete hatte, waren die Bolschewiki gerade auf geworden ist, sondern schon selbst bevor die diese Kräfte angewiesen, weshalb sie auch anarchistische Propag- zunächst einen deut- anda die proletarische lich zuvorkommen- Masse durchdrungen «Der internationale den Ton anschlugen. hat. […] Es gab auf die- anarchistische Kongress Die gewissermaßen sem Kongress einen zu Berlin 1921 konstatiert paradoxe Situation Deutschen, der fast je- mit Genugtuung, dass die erzeugte dabei schon des Mal, wenn ein all- Anarchisten aller Länder während des II. Kon- zu leicht idealisieren- Gegner jeder Diktatur gresses (1920) Un- der Anarchist das Wort sind.» (Der Syndikalist) mut und eskalierte im führte, den Zwischen- Rahmen des Grün- ruf ausstieß: ‹Aber die Übergangszeit!› Er hat- dungskongresses der «Roten Gewerkschafts- te recht. Er berührte hiermit eine der schwie- internationale» (1921), als die syndikalisti- rigsten historischen und ethischen Fragen, schen/anarchistischen Delegierten über die in welche es für den Anarchisten geben kann.»28 der Sowjetunion inhaftierten AnarchistInnen Ungeachtet dieser Frage war gerade dieser informiert wurden. Kongress, der Ende Dezember 1921 in Berlin Dann vollzog sich die schon zuvor von deut- stattfand, ein wichtiges Ereignis für die inter- schen und schwedischen Anarchosyndika- nationale anarchistische Bewegung in ihrer listen anvisierte Gründung einer genuin re- Beziehung zu den Bolschewiki. Wie seinerzeit volutionär-syndikalistischen Internationale schon festgestellt wurde: «Der internationale (Dezember 1922), die in expliziter Oppositi- anarchistische Kongress zu Berlin 1921 kons- on zu den Bolschewiki und den Kommunisti- tatiert mit Genugtuung, dass die Anarchisten schen Parteien und deren Gewerkschaftsfor- aller Länder Gegner jeder Diktatur sind. Die mationen stand.30 Ereignisse in Russland haben die Richtigkeit Mit dem Jahreswechsel 1921/22 kam es zur unserer Auffassung über die Diktatur noch be- Ausreise von , Alexander stätigt. Auf diese Erfahrung gestützt, erklären Berkman und Alexander Schapiro. Außerdem die Anarchisten, dass sie mehr als jemals Fein- wurde eine Gruppe inhaftierter Anarchisten de jeder Diktatur sind; sei es eine Diktatur von (u. a. , Maximow, Gorelik) mitsamt ihren rechts oder von links, die der Bourgeoisie oder Familien aus Russland ausgewiesen. Sie infor- die des Proletariats. Der Kongress gibt ein- mierten in der Folgezeit die Öffentlichkeit über stimmig der Meinung Ausdruck, dass in der die grausamen Zustände unter den Bolsche- Frage, die den ersten Platz in den revolutionä- wiki.31 ren Ereignissen der Gegenwart einnimmt, die All dies, gepaart mit der Konsolidierung des Anarchisten aller Länder keine gegenteiligen Bolschewismus als weitgehend «normale» Ansichten haben.»29 Staatspartei in einer kapitalistischen Umwelt, Zur Wahrnehmung der Oktober­revolution und des Bolschewismus 29

mit der sie Beziehungen einzugehen begann Sozialismus (1919), Berlin 1989, S. 5 f. 16 Der Syndikalist (Berlin), 12.4.1919. 17 Il Risveglio (Genf), 16.2.1918. 18 Tierra y Libertad (Rapallo 1922), führte dazu, dass die anarchis- (Barcelona), 21.11.1917. 19 Van der Walt, Lucien/Schmidt, Micha- tische Bewegung in den Bolschewiki schließ- el: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus, Hamburg 2013, S. 219. 20 Volontà (Ancona), lich nicht mehr viel anderes sah als den Tod- 16.8.1919. 21 Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongreß der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin [1920], feind der Russischen Revolution und einen S. 59. 22 Ein perfides und ewig auf den Bolschewiki lastendes Ver- Teil der internationalen Konterrevolution in brechen besteht darin, diese revolutionäre Solidarität ausgenutzt und 32 ab April gleichzeitig massive Repressionswellen gegen die anarchis- ihrer schlimmsten Ausprägung, weshalb tische Bewegung in Russland eingeleitet zu haben. 23 Der freie Ar- der aus Russland geflohene Mark Mratsch- beiter (Berlin) 17/1919. 24 Brupbacher, Fritz: 60 Jahre Ketzer, Zürich 1935, S. 221. 25 In Portugal beispielsweise: «Alle Mitglieder der Fö- ny 1925 wohl für viele sprach, als er meinte: deration der Maximalisten Portugals und seiner [sic!] Ausschüsse sind «Früher oder später – hoffentlich früher als im Grunde genommen Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten, obgleich sie sich ‹Bolschewisten›, ‹Kommunisten›, ‹Maximalisten› später – wird die Welle des Volksaufruhrs die oder ‹Sowjetisten› nennen. Jeder, der sich in Portugal Bolschewist Bolschewisten wie eine stickige Dunstwolke nennt, ist Anarchist oder revolutionärer Syndikalist» (zit. nach: Merten, Peter: Anarchismus und Arbeiterkampf in Portugal, Hamburg 1981, wegfegen.»33 157 f.). 26 Der freie Arbeiter (Berlin) 20/1919. 27 Ebd. 28 de Ligt, Bart: Anarchismus und Revolution, Berlin 1922, S. 29 f. 29 Der Syn- dikalist (Berlin) 1/1922. 30 Vgl. Tosstorff, Reiner: Profintern. Die Rote 1 Kropotkin, Peter: Die Ordnung (1881), in: ders.: Worte eines Re- Gewerkschaftsinternationale 1920–1937, Paderborn 2004. 31 Hier- bellen, Reinbek 1972, S. 62–66, hier S. 64. 2 Bakunin, Michael: Die zu gehörte auch die Hilfstätigkeit für die Inhaftierten in Russland. In revolutionäre Frage (1868), Münster 2000, S. 62. 3 Goldman, Em- diesem Zusammenhang entstanden Aufklärungsbroschüren über die ma: Trotsky Protests Too Much, 1938, S. 3. 4 Volin: Die Verfolgung: Die wichtigsten sind die ursprünglich auf Russisch ver- unbekannte Revolution (ca. 1939), Berlin 2013, S. 300. 5 Zit. nach: fasste, dann auf Französisch und Deutsch publizierte Schrift «Die Ver- Goldman, Emma: Die Ursachen des Niederganges der russischen folgung des Anarchismus in Sowjetrußland (1924; frz. «Répression Revolution (1922), Berlin 1968, S. 59. 6 Friedrich, Ernst: Ich schwei- de l’Anarchisme en Russie Soviétique», 1923) sowie die Dokumen- ge nicht länger …, in: Die Verfolgung des Anarchismus in Sowjetruß- tensammlung «Letters from russian prisons» (1925). 32 «Nach Be- land, Berlin 1923, S. 3 f., hier S. 3. 7 Goldberg, Harold Joel: The endigung des Weltkrieges, nach dem Ausbruch der Revolution lag die Anarchists View the Bolshevik Regime, Madison 1973, S. 47. 8 Gold- Reaktion in allen Ländern am Boden. Jedoch nur für kurze Zeit. Sie man, Emma: The Truth about the Boylsheviki, New York o.J. [1918?], erholte sich bald von ihrem Schrecken und setzte dann mit um so grö- S. 4. 9 Plechanow, Georgi W.: Marxismus oder Bakunismus (1917), ßerer Gewalt ein. Heute ist sie siegreich in fast allen Ländern. Sie feiert in: ders.: 1917 – zwischen Revolution und Demokratie, Berlin 2001, Triumph über Triumph. Ihr Zentrum ist Italien, dann folgt Rußland. Von S. 63–66, hier S. 66. 10 Plechanow, Georgi W.: Über Lenins The- keinen anderen Ländern treffen Nachrichten ein, die erschütternder sen und warum Fieberphantasien bisweilen interessant sind (1917), wirken. Das italienische und das russische Volk leiden am schwers- in: ders.: 1917, S. 23–31, hier S. 30. 11 Golos Truda (Petrograd), ten unter einem Schreckensregime, das in rücksichtsloser Weise das 29.9.1917. 12 Der freie Arbeiter (Berlin) 31/1920. 13 Souchy, Au- Zepter der Macht schwingt. […] Die bolschewistisch-fascistische Re- gustin: Vorsicht Anarchist!, Reutlingen 1982, S. 33. 14 Cronaca so- aktion macht Schule» (Nieder mit dem Fascismus!, in: Der Syndikalist vversiva (Patterson), März 1919. 15 Landauer, Gustav: Aufruf zum (Berlin) 19/1923). 33 Die Internationale (Berlin) 3/1924, S. 26.