Freie Universität Berlin Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft

Diplomarbeit Gewalt und Gegengewalt im „Deutschen Herbst“ 1977. Eine Untersuchung der staatlichen Reaktionen auf den Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland

Betreuer: Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr, Prof. Dr. Peter Grottian

Vorgelegt im August 2003 von Christoph Bahn Gärtnerstr. 2 10245 Berlin Matrikel-Nr. 3560578

1 Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis...... 4

1. Einleitung...... 5 1.1 Untersuchungsgegenstand...... 5 1.2 Stand der Forschung...... 6 1.3 Erkenntnisinteresse und Fragestellung...... 7 1.4 Methode und Aufbau...... 9

2. Zeitgeschehen...... 11 2.1 Der Konflikt zwischen RAF und BRD bis 1977 – eine chronologische Übersicht12 2.2 Der erklärte Kriegszustand...... 20 2.3 Antagonismus von Gewalt und Gegengewalt...... 30

3. Der Deutsche Herbst ...... 35 3.1 Die RAF-Offensive 1977 ...... 35 3.2 Staatliche Reaktionen auf die militärische Provokation im Innern...... 42 3.2.1 Die Krisenstäbe ...... 43 3.2.2 Die Nachrichtensperre...... 46 3.2.3 Die Kontaktsperre ...... 47 3.2.4 Fahndung und Strafverfolgungsmaßnahmen ...... 51 3.3 Gesellschaftliche Reaktionen...... 54 3.3.1 „Die Linke“ und die RAF...... 55 3.3.2 Reaktionen von Medien und PolitikerInnen im Deutschen Herbst...... 57 3.3.3 Die Mescalero-Affäre...... 59 3.4 Zusammenfassung...... 64

4. Gegengewalt von staatlicher Seite ...... 65 4.1 Die „Anti-Terror-Gesetze“...... 66 4.1.1 „Lex RAF“ - Das „erste große Anti-Terror-Paket“...... 68 4.1.2 „Gewaltparagraphen“ : §§ 138a, 88a StGB ...... 75 4.1.3 „Anti-Terrorismus-Maßnahmen“ : §§ 129a, 138 StGB ...... 77 4.1.4 Das „Anti-Terror-Paket Nummer Zwei“...... 83 4.2 Zur Rolle der Verteidigung in Terrorismus-Strafsachen...... 84

2 4.3 Feindbild „SympathisantIn“...... 88 4.4 Haftbedingungen...... 94 4.5 Abhör-Affären im Zuge der Terrorismusbekämpfung...... 99 4.5.1 Der „Fall Traube“...... 100 4.5.2 Nicht „Fall Traube“ sondern „Fall Verfassungsschutz“ ...... 103 4.5.3 Lauschangriff im Gefängnis...... 105 4.6 Zusammenfassung...... 107

5. Analyse ...... 109 5.1 Die staatliche Gewalt in Ausnahmesituationen...... 110 5.1.1 Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit der Anti-Terror-Gesetze...... 112 5.1.2 Grenzen und Entgrenzungen rechtsstaatlicher Lösungen ...... 119 5.2 Zusammenfassung...... 121

6. Literatur...... 124 6.1 Andere Medien...... 130

3 Abkürzungsverzeichnis

BAW Bundesanwaltschaft BGH Bundesgerichtshof BGS Bundesgrenzschutz BfV Bundesamt für Verfassungsschutz BKA Bundeskriminalamt BND Bundesnachrichtendienst BRD Bundesrepublik Deutschland BVG Bundesverfassungsgericht CDU Christlich Demokratische Union CSU Christlich Soziale Union GBA Generalbundesanwalt GSG 9 Grenzschutzsondergruppe 9 FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FDP Freiheitlich Demokratische Partei JVA Justizvollzugsanstalt LKA Landeskriminalamt MdB Mitglied des Bundestages MEK Mobiles Einsatz-Kommando OLG Oberlandesgericht RA Rechtsanwalt/ Rechtsanwältin, Rechtsanwälte/ Rechtsanwältin- nen RAF Rote Armee Fraktion RZ Revolutionäre Zellen SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands VS Verfassungsschutz

4 1. Einleitung

Der Deutsche Herbst bezeichnet die innenpolitische Situation des Jahres 1977, die von dem bewaffneten Kampf der Roten Armee Fraktion (RAF) gegen Ordnung, Sys- tem und Werte der Bundesrepublik Deutschland (BRD) beherrscht wird. Er steht für die Zuspitzung eines Konfliktes sondergleichen, dessen politische, juristische wie auch militärische Entwicklung einschneidende Veränderungen nach sich zieht und im Tode zahlreicher Menschen gipfelt.

1.1 Untersuchungsgegenstand

Der bewaffnete Kampf der RAF gegen die BRD prägt die Innenpolitik und die gesell- schaftlichen Diskussionen dieser Zeit maßgeblich. Es ist erklärtes Ziel der RAF, die BRD als „faschistischen Unrechtsstaat“ zu entlarven. Durch kriegerische Provokation im Innern soll den AmtsträgerInnen die „demokratische Maske“ entrissen werden, damit ihre „faschistische Fratze“ zum Vorschein kommt. Aus dieser Motivation her- aus betreibt die RAF eine Eskalations-Taktik mit militärischen Mitteln nach dem Vorbild der südamerikanischen Guerilla. Nicht nur die Bundesregierung lässt sich po- litisch und militärisch auf den von der RAF erklärten Kriegszustand ein, sämtliche Bereiche der Gesellschaft und ihrer staatlichen Ordnung, werden als bedroht einge- stuft und reagieren auf die Angriffe der RAF. Praktisch versucht die sich als antiim- perialistische Stadtguerilla verstehende RAF ihre Ziele mit terroristischen Anschlägen und Morden durchzusetzen mit der finalen Absicht, durch eine Revolution eine kom- munistische Gesellschaftsordnung erstreiten zu können. Bundesregierung und Parla- ment beantworten dies mit Gesetzen zur Aufrechterhaltung der Inneren Sicherheit mit polizeilicher und juristischer Verfolgung sämtlicher terrorismusverdächtigen Bestre- bungen sowie der öffentlichen Ächtung derjenigen, die sie als „SympathisantInnen“ einstufen. Um die Sicherheit und Stabilität im Lande zu wahren, werden grundlegen- de Rechte zum Teil außer Kraft gesetzt, juristisch aufgeweicht oder gänzlich abge- schafft. Neue umstrittene Gesetze werden im Eilverfahren durch die demokratischen Entscheidungsgremien verabschiedet.

5 1.2 Stand der Forschung

Die zum Thema Deutscher Herbst bzw. zum Konflikt zwischen RAF und BRD exis- tierende Literatur beleuchtet größtenteils lediglich einzelne Aspekte des Gesamtbil- des. Die Genesis der RAF und der von ihr entfachte Konflikt mit Administration und System der BRD ist überaus komplex. Ein wissenschaftlich fundierter Gesamtüber- blick dieser Entwicklung existiert nicht. Das inzwischen mehrfach überarbeitete und neu aufgelegte Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ von Stefan Aust (Aust 1998) stellt die aktuell umfassendste Abhandlung zur RAF bis 1977 dar. Allerdings gibt Aust in diesem Buch keine Quellen für seine Informationen an und kann viele Episo- den aus der RAF-Geschichte lediglich in Form von Anekdoten umschreiben. Der „Baader-Meinhof-Komplex“ dient als Übersicht und zur Basisinformation über die RAF, ist jedoch nach wissenschaftlichen Kriterien als weniger empfehlenswert zu bewerten. In einer Gesamtübersicht versucht sich auch der Autor Butz Peters (Peters 1991) mit seinem Buch „RAF: Terrorismus in Deutschland“. Doch auch dieses Werk kann nur ansatzweise als Quelle genutzt werden, da es zum größten Teil wertend ge- schrieben ist. Äußerst detailgenau schreibt der niederländische Rechtsanwalt Pieter Bakker Shut (Bakker Shut 1986) in seinem Buch „Stammheim“ über Gerichtsverfah- ren und Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. Allerdings kann auch er seinen poli- tischen Standpunkt nicht verhehlen und schwankt des Öfteren zwischen wissenschaft- lich präzise ausgearbeiteter Darstellung und politischer Wertung der Tatsachen. Sehr hilfreich ist die Dokumentation der Anti-Terror-Debatten im Parlament von 1974 bis 1978 von Hermann Vinke und Gabriele Witt (Vinke / Witt 1978). In diesem Buch sind die zentralen Debatten zu den für diese Arbeit relevanten Gesetzesänderungen nachzulesen und damit die Entwicklung der Diskussion und die innenpolitische Spannung dieses Zeitraumes anschaulich vermittelt. Schlüssige Analysen liefert das Buch „Terrorismus und Reaktion“ von Iring Fetscher (Fetscher 1977) sowie die Stu- die „Die Binnenstruktur der RAF“ von Uta Demes (Demes 1994). Oliver Tolmeins und Detlef zum Winkels (Tolmein / zum Winkel 1987) Buch „Nix gerafft“ über den Deutschen Herbst in der Retrospektive gibt einen anschaulichen Einblick in das in- nenpolitische Klima des Jahres 1977. Die Anzahl der Veröffentlichungen schwankt je nach Aktualität der Thematik. Die Mehrzahl der Publikationen erscheint in den Zeitabschnitten, in welchen das Thema RAF bzw. die von der Bundesregierung beschlossenen Anti-Terror-Maßnahmen die innenpolitische Diskussion dominieren. Die verschiedenen Offensiven unterschiedli-

6 cher Generationen der Stadtguerilla setzen das Thema Terrorismus immer wieder auf die politische Tagesordnung. Aber auch die „Anti-Terror-Gesetze“ der 1970er und 1980er Jahre veranlassen viele AutorInnen, sich kritisch mit der Einschränkung von BürgerInnenrechten auseinanderzusetzen. Hier überwiegen die Schriften, die der BRD ein schleichendes Abgleiten hin zum autoritären Staat bescheinigen. Einige der verfügbaren Quellen aus den 1970er Jahren bekennen sich klar zu revolutionären Zie- len, die meisten davon trennen jedoch ihre eigene Gesellschafts-Utopie von der Ideo- logie und vor allem der Praxis der RAF ab und distanzieren sich vom Terrorismus. Die RAF wird darin für ihre Aktionen meist scharf kritisiert und als kontraproduktiv wahrgenommen. Nichtsdestotrotz werden die strafrechtlichen Maßnahmen, denen die inhaftierten Mitglieder der Stadtguerilla ausgesetzt sind, beklagt und eine unrechtmä- ßige Behandlung angeprangert, die sich bei Strafprozesse und der Sonderhaftbedin- gungen abzeichnet. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Öffnung der Archive der DDR- Staatssicherheit werden den Behörden ehemalige RAF-Mitglieder, die in der DDR untergetaucht waren, bekannt. Die Strafverfolgungsbehörden gewinnen dadurch neue Erkenntnisse bezüglich unaufgeklärter RAF-Aktionen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsachen sind vom Anfang der 1990er Jahre vermehrt Publikationen über die RAF zu finden. Die Zahl der Autobiografien ehemaliger Mitglieder der RAF wächst seit dieser Zeit an. Einige veröffentlichen ihre Lebensgeschichte noch aus dem Gefängnis heraus. Viele der nach langjährigen Haftstrafen nun aus dem Gefängnis Entlassenen schreiben über ihre Vita, explizit über ihr Leben im Untergrund und die Haftzeit. Ein grundsätzliches Problem bleibt die mangelnde Neutralität vieler zur Verfügung stehender Literatur zum Thema RAF, Repression und Terrorismus. Bei einzelnen Quellen ist die Parteinahme für eine der beiden Konfliktparteien offensichtlich. In verschiedenen Publikationen findet man Verschwörungstheorien, inflationäre Beg- riffsverwendungen, die Ausblendung entscheidender Tatsachen sowie die Verharmlo- sung einzelner Gegebenheiten, Aktionen oder Tatbestände. Dies trifft wohlgemerkt nicht auf alle verwendeten Texte zu.

1.3 Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt in der Herausarbeitung der Einschränkun- gen von grundsätzlichen BürgerInnenrechten von Seiten der Bundesregierung im Zu- 7 ge der Terrorismusbekämpfung. Die Strafprozessordnung und das Strafgesetzbuch werden in dem beschriebenen Zeitraum im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der terroristischen Guerilla verändert. Explizit geht es dabei um die massive Be- schneidung von Rechten der Verteidigung und die Anwendung von eilig erlassenen und speziell auf diesen Konflikt maßgeschneiderten Gesetzen zur Strafverfolgung bzw. zur Regelung des Strafvollzuges. Es wird beispielsweise der Frage nachgegan- gen, welchen Ermessensspielraum der § 129a StGB für Polizei und Justiz bietet. Von großem Interesse ist auch die gesellschaftliche Stimmung in den 1970er Jahren. In ei- ner solchen Konfliktsituation wird vom Großteil der Bevölkerung geduldet, dass die Grundrechte – mit der Rechtfertigung, nur so könne man sie verteidigen – einge- schränkt werden. Die Anti-Terror-Maßnahmen begünstigen oder provozieren einen kollektiven Terrorismus-Verdacht gegenüber kritischen BürgerInnen. In der Diskus- sion um die Angemessenheit der Mittel wird von KritikerInnen die These einer un- demokratischen Motivation der Bundesregierung aufgestellt. Die RAF geht noch wei- ter und unterstellt der Administration Faschismus. Im Hinblick auf die Untersuchung der innenpolitischen Zustände muss geklärt werden, wie berechtigt, realistisch und belegbar die Anschuldigungen wirklich sind.

In einer Art Gewaltspirale wechseln Aktion und Reaktion, Gewalt und Gegengewalt, einander ab. Die Mittel sind höchst unterschiedlich und die Diskussionen um die Le- gitimität erweist sich als sehr komplex und vielschichtig. In dieser Arbeit soll weniger die Motivation oder die Verhaltensweise der Stadtguerilla, als vielmehr die Reaktion von staatlicher Seite beleuchtet werden. Was tut der demokratische Rechtsstaat BRD in den 1970er Jahren um sich vor Terrorismus zu schützen? Wie sieht diese Terroris- musbekämpfung konkret aus und welche Maßnahmen und Bereiche umfasst sie? In welcher Art und Weise werden Einschränkungen von BürgerInnenrechten und Rech- ten in der Strafverteidigung vorgenommen? Um das Erkenntnisinteresse zu fokussie- ren und mit dem wissenschaftlichen Anspruch dieser Arbeit in Bezug zu setzen, wird folgende These formuliert:

Die Aufrüstung des Rechtsstaates bedeutet eine Unverhältnismäßigkeit, die zur nor- malen Praxis wird.

8 In einer speziellen Situation werden für erforderlich erachtete Ausnahmeregeln auf- gestellt und in Gesetze gegossen. Ausnahmebestimmungen bedeuten ihrem Sinn nach nicht die Regel. Sie müssten also revidiert werden, sobald die Bedrohung nicht mehr akut ist. In den beschriebenen Fällen werden die Ausnahmeregelungen manifestiert und sickern auf diese Weise in die Normallage des politischen Gemeinwesens ein. Die dadurch veränderten Konturen formen ein neues Bild der inneren Sicherheit.

1.4 Methode und Aufbau

Ein Problem beim Bearbeiten des Themas ergibt sich schon, wenn man RAF und BRD in ein Verhältnis zueinander setzen will. Es wird in dieser Arbeit damit gelöst, dass beide Seiten als Konfliktparteien bezeichnet werden. Damit soll weder eine Aufwertung der RAF, noch eine Abwertung der BRD betrieben, vielmehr muss der Verkettung beider ein Status zugeordnet werden. In dieser Arbeit beziehen sich Beg- riffe wie Gewalt und Gegengewalt oder Aktion und Reaktion nicht auf den Zeitpunkt dieser Handlungen, sondern belegen vielmehr die Teilnahme am Konflikt. Beide Tei- le der angeführten Begriffspaare stellen jeweils Elemente eines beidseitigen Konflik- tes dar. In historisch-systematischem Zugang zum Thema soll der Antagonismus der Gewalt und die Dynamik dieses Vorgangs, die hinter den Aktionen und Reaktionen der Konfliktparteien steht, dargelegt werden. Den meisten der einzelnen Kapitel und Unterpunkte sind jeweils kurze Zitate von Au- torInnen bzw. prägnante Aussagen vorangestellt. Sie sollen die entsprechende Passa- ge als eine Art Motto einleiten und bleiben unkommentiert. Schwierigkeiten tauchen bei den unterschiedlichen Begriffsdefinitionen in verschie- denen Quellen auf. Bei den Definitionen offenbart sich manche Literatur als polari- siert. Begriffe, wie Terrorismus, Legitimität, Repression oder bewaffneter Kampf, um nur einige Beispiele zu nennen, werden mitunter höchst unterschiedlich interpretiert. Trotzdem ist man teilweise auf diese Publikationen angewiesen. Da von beiden Kon- fliktparteien offen oder verdeckt politische Agitation betrieben wird, muss mit beson- derer Sorgfalt einer Übernahme solcher Instrumentalisierungen entgegengewirkt wer- den. Die RAF bezeichnet pauschal „den Staat“ als ihren Gegner, da dieser Ordnung und System repräsentiert. Damit sind sowohl Administration und sämtliche Behörden, wie Polizei und Justiz, vor allem aber das kapitalistische Wirtschaftssystem der BRD ge- 9 meint. Es kann vorkommen, dass in der Wiedergabe von Quellentexten vom Staat als Akteur gesprochen wird. Das scheint unwissenschaftlich, denn ein Staat ist bekann- termaßen kein homogenes, statisches Gebilde. Die einzelnen Angriffsflächen würden jedoch in ihrer Aufzählung den Rahmen dieser Arbeit sehr strapazieren, da sich der Angriff der RAF gegen den Staat als Ganzes, mit all seinen Gremien, Funktionen, EntscheidungsträgerInnen, Behörden usw. und gegen das System im politischen wie wirtschaftlichen Verständnis richtet. So ist es an manchen Textstellen nicht zu ver- meiden, der in entsprechenden Quellen verwendeten Ausdrucksweise zu folgen. Eindeutige Grenzen sind der Arbeit in der untersuchten Zeitspanne gesetzt. Dabei ist der Zeitraum zwischen 1970 und 1977 - zwischen der Gründung der RAF und dem Deutschen Herbst - bewusst gewählt, handelt es sich doch um die aktivste Periode der Stadtguerilla, die mit dem gescheiterten Freipressungsversuch inhaftierter GenossIn- nen durch die Geiselnahme Hanns Martin Schleyers, die gescheiterte Flugzeugentfüh- rung nach Somalia sowie dem Tod der RAF-ProtagonistInnen im Stammheimer Ge- fängnis ein vorläufiges Ende erfährt. In diesem Zeitraum lassen sich die staatlichen Reaktionen auf terroristische Aktionen der RAF in einer Art antagonistischer Chrono- logie ablesen.

Die folgende Darstellung markiert die Hauptetappen der vorliegenden Arbeit. Um die Zusammenhänge erklären zu können, wird zu Beginn in Form einer kontextuellen Übersicht – ein Kondensat des Zeitgeschehens - über die Zusammenhänge, die vo- rangegangenen Etappen des Konfliktes berichtet. Entstehung, Legitimation und Selbstverständnis der RAF müssen zusammen mit ihren politischen und moralischen Zielen vorgestellt werden, um die komplexe Genesis der Gruppe verstehen zu kön- nen. Es folgt eine Darstellung der Praxis von RAF und Staat, deren Antagonismus von Gewalt und Gegengewalt im Verlauf bis zum Deutschen Herbst verfolgt wird. Anschließend richtet sich der Fokus der Arbeit auf das Jahr 1977, in dem die RAF sehr aktiv ist. Nach einer knappen Beschreibung der RAF-Offensive 1977 werden die Reaktionen der staatlichen Stellen und die innenpolitische Krise detailliert untersucht. Die Einschränkung der Informationsfreiheit durch eine faktische Pressezensur und die Notstandsrunde der Krisenstäbe werden auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft. Die gesellschaftlichen Reaktionen auf den Deutschen Herbst bleiben nicht unbenannt, damit der Gesamteindruck der innenpolitischen Diskussion komplettiert werden kann.

10 Die so genannte Mescalero-Affäre soll als Beispiel für das gesellschaftliche und poli- tische Klima dieser Monate dienen. Es folgt die Fokussierung auf das eigentliche Thema. Nun werden die Einschränkun- gen von BürgerInnenrechten durch Neuformulierungen in der Strafprozessordnung und im Strafgesetzbuch im Rahmen der Terrorismusbekämpfung dargelegt. Die Ge- setzesneuerungen, -erweiterungen und -veränderungen werden vorgestellt und deren Auswirkungen beispielhaft dokumentiert. Auf der Suche nach Unverhältnismäßigkei- ten fällt die Behandlung von legaler Opposition mit polizeilichen und geheimdienstli- chen Methoden auf, weshalb dem Thema SympathisantInnen-Verfolgung an dieser Stelle Platz eingeräumt wird. Besondere Haftmethoden und Abhöraffären im Zuge der Terrorismusbekämpfung ergänzen den Katalog der erhobenen Vorwürfe. Der Fo- kus der Analyse wird auf die Legitimität von Strategien, Aktionen und Reaktionen des Staates gelegt. In diesem Zusammenhang wird die eingangs vorgestellte Hypo- these überprüft. Es soll herausgefunden werden, ob die gespannte Lage ausgenutzt wird, um einen gesetzlich manifestierten Ausnahmezustand in Kontinuität zu organi- sieren. Die abschließende Beurteilung fasst die Ergebnisse nochmals kurz zusammen.

2. Zeitgeschehen

Um den Konflikt zwischen Roter Armee Fraktion und Bundesrepublik Deutschland begreifen zu können, muss der Zeitraum vor dem Deutschen Herbst 1977 innenpoli- tisch beleuchtet werden. Die RAF ist ohne den zeitlichen Kontext der Protestbewe- gungen in der BRD Ende der 1960er Jahre und die besondere weltpolitische Lage nicht denkbar. Der Kalte Krieg im allgemeinen und der Vietnam-Krieg, der stellver- tretend für die zahlreichen Befreiungsbewegungen in vielen ehemaligen Kolonialstaa- ten der so genannten Dritten Welt steht, im speziellen 1 prägt diese Zeitperiode maß- geblich. 2 Die RAF entsteht 1970 in einer Phase militanter Aktionen um eine kleine antiimperialistische Gruppe, die „mit Methoden einer Stadtguerilla vom Untergrund aus die ‚kapitalistische Ausbeuterordnung’ zu bekämpfen“ gedenkt.3 Im selben Jahr

1 Spätestens Ende der 1960er Jahre steht die US-Regierung wegen ihres Krieges in Vietnam internatio- nal massiv unter Druck. Gräueltaten der US-Armee an der Zivilbevölkerung werden bekannt, der Wi- derstand des Vietcong, Proteste in aller Welt und die US-amerikanische Antikriegsbewegung wachsen. 2 Vergl. Gössner 1991, S. 13ff 3 Vergl. Langguth 1983, S. 203

11 startet eine massive Aufrüstung zur „Wahrung der Inneren Sicherheit“ mit einem So- fortprogramm zum Ausbau von Polizei und Staatsschutz. Vorangegangen war dem schon 1968 die Neustrukturierung und Zentralisierung von Polizei, Staatsanwalt- schaft, BKA und BGS.4

2.1 Der Konflikt zwischen RAF und BRD bis 1977 – eine chronologische Ü- bersicht

Die Polizei hatte zu jener Zeit – 1970 – die ersten Demonstranten erschossen, der Kampf gegen die Notstandsgesetze war vergeblich gewesen, der Bombenterror in Vietnam war auf dem Hö- hepunkt, die politische Kritik in den Medien wurde immer stärker zensiert. 5

Als „Gründungszeitpunkt“ der RAF wird in fast allen Quellen die bewaffnete Befrei- ung von Andreas Baader aus der Haft am 14. Mai 1970 benannt.6 Dabei wird ein Un- beteiligter durch einen Schuss schwer verletzt. Nun, in der Illegalität, beschäftigt sich die Gruppe mit der Agitation linker „Szene“-Kreise durch die Forderung nach revolu- tionärer Gewalt, die im Aufbau einer „Roten Armee“ gipfelt. Zum „harten Kern“ der Gruppe zählen die Kriminalbehörden zu diesem Zeitpunkt maßgeblich Andreas Baa- der, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und . Eine Woche nach der Befrei- ungsaktion erscheint in der linksradikalen Zeitschrift agit 883 7 die erste öffentliche Erklärung der RAF unter dem Titel „Die rote Armee aufbauen“ 8. Wenig später reist die Gründungsgruppe für zwei Monate in den Nahen Osten, um sich von Einheiten der palästinensischen Befreiungsorganisation El Fatah militärisch ausbilden zu lassen. Nach ihrer Rückkehr verüben sie zahlreiche Banküberfälle, Einbrüche in Rathäuser und Diebstähle um sich eine Logistik im Untergrund aufzubauen Sie verüben auch kleinere Bombenanschläge auf US-amerikanische Fahrzeuge. 9 Keine fünf Monate nach der Baader-Befreiung wird Mahler in Berlin verhaftet. In den von April 1971 bis

4 Vergl. Hoffmann 1997, S. 20 5 Wagenbach 1976, S. 197 6 Die RAF bleibt während ihres ganzen Fortbestehens mehr oder weniger aktiv. Die Gruppe kann über die Jahre hinweg stets neue Mitglieder rekrutieren. Seit Mitte der 1990er Jahre sind keine Aktivitäten mehr festzustellen. Schließlich gibt die RAF 1998 schriftlich ihre Auflösung bekannt. 7 Die militant orientierte Zeitschrift agit 833 stellt ihre Intention wechselnd unter verschiedene Devi- sen, wie „Zeitschrift für Agitation und sozialistische Praxis“ oder „Kampfblatt der kommunistischen Rebellen“. Die politische Ausrichtung unterliegt häufigen Richtungsänderungen, sie ist jedoch zu- nächst insbesondere marxistisch-maoistisch bestimmt. Vergl. www.free.de/dada/p-start.htm 8 Vergl. RAF 1970, zit. nach Hoffmann 1997, S. 24-26 9 Vergl. Langguth 1983, S. 203f

12 April 1972 folgenden Positionspapieren 10 versucht die RAF zunächst, Lebens- und Unterdrückungssituationen in der BRD aus ihrer Perspektive darzustellen. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt aber in der Rechtfertigung des antiimperialistischen Kampfes. Die RAF sieht ihre Politik darin als Teil der globalen Bewegung des proletarischen Internationalismus. Sie verkündet, dass der bewaffnete Kampf „richtig, möglich und gerechtfertigt“ sei und eine „revolutionäre Interventionsmethode“ entwickelt werden müsse. 11 RAF ist eine politisch-militärische Organisation, die den bewaffneten antiimperialistischen Kampf in den Metropolen, den Machtzentren des internationalen Kapitals in der BRD als Sub- zentrum des US-Imperialismus führt. Die RAF muss in der Illegalität kämpfen, weil die Viet- nam-Bewegung, aus der sie sich entwickelt hat, auf die Grenze der legalen Opposition gestoßen ist. Hauptfeind des Kampfes ist der US-Imperialismus, in Westeuropa die Bundesrepublik der Sozialdemokratie. Die RAF will verhindern, daß sich in Westeuropa ein Machtblock für die Strategie des US-Kapitals organisiert. 12 Im Januar 1972 verabschiedet der Deutsche Bundestag die „Grundsätze über die Mit- gliedschaft von Beamten in extremistischen Organisationen“, den so genannten Radi- kalenerlass. BewerberInnen für BeamtInnenberufe und Angestellte im öffentlichen Dienst werden vom Verfassungsschutz auf ihre „Gesinnung“ hin überprüft. 13 Schon bald kommt es bei Konfrontationen zwischen Polizei und RAF-Mitgliedern zu Schießereien. Am 15. Juli 1971 führt das BKA zur Ergreifung der RAF eine Großak- tion durch, wobei über 3000 Polizisten sperren in ganz Norddeutschland die wichtigs- ten Straßen ab. Bei dem Versuch sich einer Polizeikontrolle zu entziehen, wird in Hamburg Petra Schelm von Polizeibeamten erschossen. Sie ist das erste Todesopfer im Konflikt zwischen RAF und BRD. 14 Nachdem die RAF ihre illegale Struktur durch Banküberfälle finanziell und durch das Anmieten konspirativer Wohnungen logistisch stabilisiert hat, startet die so genannte Mai-Offensive 15 , bei der eigenständig konstruierte Sprengkörper eingesetzt werden. Vom 11. bis zum 24. Mai 1972 werden sechs Bombenanschläge in der BRD verübt, bei einem Anschlag auf Einheiten der US-Armee in Frankfurt wird ein Mensch getö- tet und weitere 13 verletzt. Außerdem explodieren Bomben in der Polizeidirektion

10 Abgedruckt in: Hoffmann 1997, S. 27-144 11 Vergl. RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 21 12 , 07.12.1977, vor dem Gericht Utrecht (NL), zit. nach: Horchem 1988, S. 67 13 Vergl. Demes 1994, S. 209 14 Vergl. Hoffmann 1997, S. 22 15 Vergl. Demes 1994, S. 210f

13 Augsburg und im LKA München: zurück bleiben insgesamt siebzehn Verletzte. Bei einem Bombenanschlag auf einen Bundesrichter in wird dessen Frau schwer verletzt. 17 Angestellte werden bei einem Bombenanschlag auf das Verlags- haus Springer in Hamburg verletzt. Einer telefonischen Bombendrohung war keine Aufmerksamkeit geschenkt worden. Und schließlich sterben bei einem Bombenan- schlag auf das Hauptquartier der US-Landstreitkräfte in Europa in Heidelberg drei Menschen und fünf werden verletzt. Umgehend werden bei der in der Geschichte der BRD bis dahin umfangreichsten Fahndungsaktion mehr als 130.000 Polizisten und sämtliche verfügbaren Hubschrauber eingesetzt, allerdings ohne Erfolg. 16 Zwischen dem 1. und dem 15. Juni 1972 kommt es zu zahlreichen Festnahmen von RAF-Mitgliedern im gesamten Bundesgebiet und Westberlin. Darunter sind u.a. Hol- ger Meins, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, , Ulrike Meinhof, Gerhard Müller und später auch Irmgard Möller; weitere Festnah- men folgen. Die Festgenommenen werden getrennt voneinander unter strengsten Si- cherheitsvorkehrungen inhaftiert und im Gefängnis isoliert. Laut Aussagen seines Va- ters wird Holger Meins bei der Vernehmung krankenhausreif zusammengeschlagen. 17 Meinhof wird in den so genannten Toten Trakt in die JVA Köln-Ossendorf gebracht, wo sie bis zum 9. Februar 1973 - abgesehen von Gefängnispersonal, Polizei und RA – vollkommen isoliert einsitzt. 18 Nach der desaströsen Beendigung einer terroristischen Geiselnahme israelischer O- lympiasportlerInnen in München durch ein palästinensisches Kommando, bei der 15 Menschen sterben, beschließt die Bundesregierung die Aufstellung einer 176 Mann starken Sondereinheit des BGS zur Terrorismusbekämpfung. Die Grenzschutzsonder- gruppe mit der Bezeichnung GSG-9 wird parallel zu ländereigenen MEKs der Polizei gebildet. 19 Während dessen wird auf dem Gelände der JVA Stuttgart-Stammheim ein neues Ge- bäude speziell für das Verfahren gegen Baader, Ensslin, Meinhof, Meins und Raspe errichtet. Der Verteidigung der Angeklagten werden schon lange vor dem Prozessbe- ginn erhebliche Probleme bereitet.

16 Vergl. Aust 1998, S. 244ff 17 Vergl. Aust 1998, S. 255f 18 Vergl. taz -Journal 1997, S. 74f, Vergl. Kapitel 4.4 dieser Arbeit 19 Vergl. Demes 1994, S. 212f

14 Die Anwälte der RAF-Gefangenen unterliegen weiteren Schikanen ([…] z.B. Rektaluntersu- chungen […]), Gespräche mit den Mandanten werden abgehört und die meisten Medien denun- zieren die Anwälte als Drahtzieher der „Baader-Meinhof-Bande“. 20 Die RAF-Gefangenen sind von Beginn an strengen Sonderhaftbedingungen und schärfsten Sicherheitsvorkehrungen unterworfen. 21 Astrid Proll, die im Oktober 1970 als erste in den Toten Trakt verlegt worden war, wird während ihres Prozesses drei- einhalb Jahre später von gutachtenden Ärzten aufgrund der psychischen und physi- schen Auswirkungen dieser absoluten Isolation, der so genannten sozialen Deprivati- on, Haftunfähigkeit attestiert. 22 Inzwischen arbeiten in Freiheit befindliche RAF-Mitglieder am Wiederaufbau der ge- schwächten Struktur und Logistik der Organisation im Untergrund. Die Beute zahl- reicher „politisch motivierter“ Banküberfälle im ganzen Bundesgebiet beläuft sich mittlerweile auf ca. eine Million DM. 23 Bereits Anfang Februar 1974 ist es zu Fest- nahmen von neun „nachgerückten“ RAF-Mitgliedern gekommen, wobei Waffen, Sprengstoff sowie falsche Papiere sichergestellt werden können. Im selben Monat verabschiedet die Innenminister-Konferenz der Länder das „Programm zur Förderung der Inneren Sicherheit“, durch das die Kompetenzen des BKA und der Länderpolizei- en erweitert werden.24 Um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren und um eine Gleichstellung mit an- deren Gefangenen zu erreichen, treten die RAF-Gefangenen mehrfach in kollektiv organisierte Hungerstreiks. Im zweiten Hungerstreik vom 8. Mai bis zum 29. Juni 1973, an dem sich 80 Gefangene beteiligen, werden die Häftlinge erstmals gegen ih- ren Willen ernährt.25 Während des insgesamt 145 Tage dauernden dritten Hunger- streiks im Herbst 1974 stirbt Holger Meins am 50. Tag in der JVA Wittlich an den Folgen des Fastens und der Zwangsernährung. 26 In den Tagen darauf kommt es in vielen Städten zu Demonstrationen mit z.T. schweren Ausschreitungen, außerdem zu mehreren Brandanschlägen. In West-Berlin wird kurz darauf der Kammergerichtsprä- sident Günter von Drenckmann von der „Bewegung 2. Juni“, einer anderen Guerilla- organisation, erschossen. 27

20 Hoffmann 1997, S. 180 21 Vergl. Gollwitzer 1982 zit. nach: taz -Journal 1997, S. 76f 22 Vergl. taz -Journal 1997, S. 80, Vergl. Voges 1997, S. 74 23 Vergl. Demes 1994, S. 214 24 Vergl. Schneider 1987, S. 46 25 Vergl. Schiller 1999, S. 151ff, 183f 26 Vergl. Aust 1998, S. 303ff, Vergl. Hoffmann 1997, S. 181, Vergl. Schiller 1999, S. 153ff 27 Vergl. Meyer 1998, S. 313ff

15 Am 26. November 1974 werden bei einer bundesweiten Fahndungsaktion zahlreiche Wohnungen und Rechtsanwaltskanzleien durchsucht. Das Bundesinnenministerium gibt an, dass Strafverfolgungsbehörden seit 1972 ca. 200 Personen unter dem Ver- dacht, die RAF zu unterstützen, festgenommen haben.28 Der Bundestag beschließt mit großer Mehrheit das erste große „Anti-Terror-Paket“, mit dem Ziel zu verhindern, dass AnwältInnen die ihnen als VerteidigerInnen eingeräumten Privilegien missbrau- chen. Vor dem Hintergrund des „Anti-Terror-Paketes“ werden u.a. dezidierte Rege- lungen für den Ausschluss von VerteidigerInnen in die Strafprozessordnung einge- führt. 29 Als Ende Februar der Berliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz von der Bewegung 2. Juni entführt wird, geht die Bundesregierung auf den geforderten Austausch mit fünf inhaftierten Mitgliedern von Bewegung 2. Juni und RAF ein. 30 Die Gefangenen wer- den in den Südjemen ausgeflogen und Lorenz kommt frei. In einer bundesweiten Fahndungsaktion, der „Aktion Winterreise“, werden zahlreiche Wohnungen und Bü- ros von RechtsanwältInnen durchsucht und es kommt zu über 100 Festnahmen. 31 Die Behörden befürchten, dass inhaftierte TerroristInnen Straftaten aus dem Gefängnis heraus planen oder anordnen könnten. Auf Grund dieses Verdachts installiert das BfV Anfang März 1975 auf Bitten des Baden-Württemberger Landesamtes für Verfas- sungsschutz inoffiziell Abhörmikrophone in fünf Zellen der JVA Stammheim. 32 Am 24. April 1975 überfällt ein RAF-Kommando die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm und fordert im Austausch für ihre zwölf Geiseln die Freilassung von 26 „politischen Gefangenen“. Der Erfolg der Operation der „Bewegung 2. Juni“ hatte die RAF […] offensichtlich zu der Ü- berzeugung gebracht, daß die Bundesregierung bei einer ähnlichen Aktion erneut nachgeben werde. 33 Diesmal wird der Gefangenenaustausch von der Bundesregierung abgelehnt. Zwei Diplomaten werden erschossen, zahlreiche Botschaftsangehörige und TerroristInnen werden durch die Explosion der von den Besetzern gelegten Sprengladungen verletzt, zwei sterben sofort. RAF-Mitglied erliegt nach seiner Auslieferung an die BRD seinen Verletzungen (angeblich wegen der Auslieferung trotz unzurei-

28 Vergl. Demes 1994, S. 216 29 Vergl. Peters 1991, S. 168ff, Vergl. Kapitel 4.1 dieser Arbeit 30 Vergl. Viett 1999, S. 130ff, Vergl. Meyer 1998, S. 9ff 31 Vergl. Hoffmann 1997, S. 182, Vergl. Bakker Shut 1986, S. 123 32 Vergl. Aust 1998, S. 341ff 33 Horchem 1988, S. 59

16 chender Transportfähigkeit 34 ). Bei der anschließenden Stürmung des Gebäudes kommt RAF-Mitglied Ulrich Wessel ums Leben, das gesamte Kommando wird ver- haftet. 35 Der Prozess in Stuttgart-Stammheim gegen Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe be- ginnt am 21. Mai 1975. Nachdem RA Siegfried Haag wenige Tage zuvor kurzzeitig festgenommen wird und seine Verteidigungsakten beschlagnahmt werden, taucht er unter. Schon Wochen zuvor waren die drei Hauptverteidiger Croissant, Groenewold und Stroebele mit der Begründung, sie würden den organisatorischen Zusammenhalt der kriminellen Vereinigung RAF betreiben, aus dem Verfahren ausgeschlossen wor- den. Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart beschließt wenig später, dass die ausge- schlossenen Baader-Verteidiger Croissant, Groenewold und Stroebele während des gesamten Verfahrens auch keine anderen diesbezüglich Beschuldigten vertreten dür- fen. Am 25. Juni 1975 kommt es schließlich zur Verhaftung der RA Croissant und Stroebele. 36 Vom Stammheimer Gericht bestellte Gutachter kommen im Laufe des Jahres 1975 zu dem Ergebnis, dass die Gefangenen nach den Jahren der Isolationshaft nur noch sehr eingeschränkt verhandlungsfähig sind und setzen sich für eine Zusam- menlegung der Gefangenen in interaktionsfähige Gruppen ein. 37 Am 9. Mai 1976 wird Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle in Stuttgart Stammheim aufgefunden. An den Tagen danach kommt es bundesweit zu militanten Demonstrati- onen und Anschlägen von RAF-SympathisantInnen.38 Ende Juni 1976 entführt ein palästinensisches Kommando ein Air-France Verkehrs- flugzeug nach Entebbe (Uganda) und fordert die Freilassung von insgesamt 53 politi- schen Gefangenen weltweit, darunter auch Mitglieder von RAF und Bewegung 2. Ju- ni. Die international besetzte Entführergruppe, unter ihnen zwei deutsche Mitglieder der RZ, „selektiert“ die Passagiere, indem sie all jene freilässt, die nicht jüdischen Glaubens sind, die anderen aber als Geiseln an Bord behält. 39 Schließlich wird die

34 Vergl. Schneider 1987, S. 54 35 Vergl. Peters 1991, S. 195ff 36 Vergl. Aust 1998, S. 322f 37 Vergl. Aust 1998, S. 370ff 38 Vergl. Hoffmann 1997, S. 182 39 Diese Praxis entsetzt insbesondere die radikale Linke in der BRD, erinnert es doch an die „Aussor- tierung“ von Jüdinnen und Juden durch die NationalsozialistInnen im so genannten Dritten Reich, die dem Morden voraus ging. Dass gerade deutsche Bewaffnete – gleich welcher politischen Motivation folgend - wieder Menschen jüdischen Glaubens selektieren, setzt bei vielen eine schockierende Asso- ziationskette in Gang.

17 Maschine von einem israelischen Spezialkommando gestürmt, sieben EntführerInnen getötet und die restlichen Geiseln befreit. 40 Im Sommer 1976 verabschiedet der Bundestag nach dem ersten 1974 nun das zweite „große Anti-Terror-Paket“, zu dem auch der §129a gezählt wird. 41 Anfang Januar 1977 wird bekannt, dass der Vorsitzende Richter des Stammheim- Prozesses Prinzing Prozessakten an einen befreundeten Bundesrichter außerhalb des Dienstweges geschickt hatte. Dieser hat sie wiederum der Zeitung Die Welt zuge- spielt. So muss Richter Prinzing zwei Wochen später den Vorsitz wegen Befangen- heit niederlegen. 42 Ende Februar 1977 deckt der Spiegel eine Lauschaktion des Ver- fassungsschutzes gegen den Atom-Physiker Klaus Traube auf. Er ist abgehört wor- den, weil eine Freundin Kontakt zu einem mutmaßlichen RAF-Sympathisanten ge- habt hatte. 43 Vom baden-württembergischen Justizministerium wird offiziell zugege- ben, dass auch in der JVA Stammheim Gespräche zwischen den Angeklagten und ih- ren VerteidigerInnen abgehört worden sind.44 Vom 29. März bis zum 30. April 1977 findet der vierte kollektive Hungerstreik der RAF-Gefangenen für die Anerkennung des Kriegsgefangenen-Status gemäß der Gen- fer Menschenrechtskonvention statt. Zudem fordern sie eine Untersuchung der Todes- fälle Meins, Hausner und Meinhof durch eine internationale Untersuchungskommis- sion. 45 Aufgrund einer Zusage zur teilweisen Zusammenlegung wird der Hungerstreik abgebrochen, im August werden die Zusagen allerdings revidiert. Derweil bereiten nachgerückte RAF-Mitglieder verstärkt militärische Aktivitäten vor. Die RAF-Offensive des Jahres 1977 46 beginnt am 7. April 1977, dabei verübt die RAF einen Anschlag auf GBA Siegfried Buback. Er und zwei seiner Begleiter wer- den erschossen. 47 . Das OLG Stuttgart verurteilt Baader, Ensslin und Raspe am 28. April 1977 nach 192 Verhandlungstagen wegen vierfachen Mordes und 34-fachen Mordversuchs sowie der Gründung einer kriminellen Vereinigung zu lebenslanger Haft. Ein RAF-Kommando versucht am 30. Juni 1977 den Sprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, zu entführen. Dabei wird er erschossen. 48 Ein Anschlagsversuch

40 Vergl. Demes 1994, S. 220 41 Vergl. Peters 1991, S. 168ff, Vergl. Kapitel 4.1.2 dieser Arbeit 42 Vergl. Peters 1991, S. 184ff 43 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987 S. 12ff 44 Vergl. Peters 1991, S. 189f, Vergl. Aust 1998, S. 446ff, Vergl. Kapitel 4.5ff dieser Arbeit 45 Vergl. RAF 1977, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 265ff 46 Vergl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit 47 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987 S. 21ff, Vergl. Kapitel 3.1 und 3.3.3 dieser Arbeit 48 Vergl. Aust 1998, S. 460ff

18 auf das BAW-Gebäude in Karlsruhe schlägt fehl.49 Am 5. September 1977 wird der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände, Hanns-Martin Schleyer, durch ein RAF-Kommando entführt. Bei dem Überfall werden vier Begleiter Schleyers er- schossen. 50 Die RAF fordert die Freilassung von elf inhaftierten Mitgliedern. Von der Regierung wird ein Krisenstab 51 wird eingerichtet, der schon zu Beginn die Ableh- nung der Forderungen beschließt. Trotzdem kommt es in den folgenden Wochen zu langwierigen Verhandlungen mit den EntführerInnen. Über ca. 100 wegen §129a in- haftierte Gefangene wird eine allumfassende (d.h. auch den Kontakt zu den Rechts- anwältInnen einschließende), gesetzlich nicht gerechtfertigte Kontaktsperre verhängt. Der Bundestag verabschiedet am 1. Oktober das Kontaktsperregesetz, welches umge- hend in Kraft tritt und so nachträglich längst praktizierte Maßnahmen legitimiert. 52 Während des gesamten beschriebenen Zeitraums kommt es immer wieder zu gefähr- lichen Situationen, wenn RAF und Polizei aufeinander treffen. So wird am 3. Mai 1977 das RAF-Mitglied Günter Sonnenberg bei seiner Festnahme durch einen Kopf- schuss schwer verletzt. Am 22. September erschießt das RAF-Mitglied Knut Folkerts bei seiner Verhaftung im niederländischen Utrecht einen Polizisten. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei am 11. November 1977 werden die RAF-Mitglieder Wackernagel und Schneider in Amsterdam festgenommen, wobei Schneider schwer verwundet wird. 53 Am 13. Oktober 1977 wird die Lufthansa-Maschine Landshut entführt. Palästinensi- sche TerroristInnen verlangen ebenfalls die Freilassung der inhaftierten RAF- Mitglieder in der BRD und erschießen den Flugkapitän. Als die Maschine nach fünf Tagen schließlich in Mogadischu landet, stürmt eine deutsche Spezialeinheit die Landshut, erschießt drei der vier EntführerInnen und befreit alle Geiseln. 54 Am Mor- gen des darauf folgenden Tages, am 18. Oktober 1977, werden Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe sterbend und Irmgard Möller verwundet in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim aufgefunden. Amtliche Untersuchungen kommen spä- ter zu dem offiziellen Ergebnis, dass sie ihren Tod selbst herbeigeführt haben. Möller überlebt schwer verletzt und bestreitet die offizielle Suizid-Version vom Tod der

49 Vergl. Aust 1998, S. 469ff 50 Vergl. Boock 2002, S. 36ff 51 Vergl. Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit 52 Vergl. Aust 1998, S. 498ff, Vergl. Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit 53 Vergl. Demes 1994, S. 222ff 54 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 86ff, 129

19 Häftlinge. 55 Am nächsten Tag wird die Leiche Hanns-Martin Schleyers im französi- schen Mühlhausen gefunden. Er ist durch einen Kopfschuss ermordet worden. 56 Die Kontaktsperre wird aufgehoben. Am 12. November 1977 wird das RAF-Mitglied Ingrid Schubert erhängt in ihrer Zelle in der JVA München-Stadelheim aufgefunden. Das amtliche Untersuchungsergebnis geht ebenfalls von Suizid aus. 57

2.2 Der erklärte Kriegszustand

Die Bundesregierung stand nicht nur politisch „loyal zu unseren amerikanischen Freunden“, sie stellte auch Logistik und Rückzugsraum für den Krieg in Vietnam. Unsere Empörung aber ließ die sozialliberale Koalition durch die eilends aufgerüstete Polizei auf der Straße niederknüppeln. Diese Haltung sollte sie in den nächsten Jahren noch teuer zu stehen kommen. Wir fühlten uns berechtigt, ja, verpflichtet, auf diese Gewalt mit Gegengewalt zu antworten. 58

Die RAF versteht sich selbst als revolutionäre Stadtguerilla. Grundlegend dafür ist ein von dem südamerikanischen Revolutionär Carlos Marighella entwickeltes Kon- zept, wonach eine Guerilla in den Großstädten „unfaßbar für die Polizei“ Anschläge verübt. 59 Da sich die RAF im Kriegszustand mit dem Staat und der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der BRD begreift, gebraucht sie als Kriegspartei militärischen Mittel. Nach Meinung der RAF werden die Feindbilder Kapitalismus und Imperia- lismus in der Politik der USA manifestiert. Die BRD wird als „US-Kolonie, Imperia- listisches Zentrum, US-Militärbasis, Imperialistische Führungsmacht in Westeuropa“ eingestuft.60 Die RAF hat sich vom Moment ihrer Bildung an als eine […] bewußte Infragestellung der Legi- timität des staatlichen Politik- und Gewaltmonopols, ihre Aktionen als eine über die strafrechtli- che Kriminalität hinausgehende Manifestation politischer Fundamentalopposition begriffen – und wurde von der Regierung und ihren Staatsschutzinstitutionen […] auch als solche interpre- tiert. 61 Langguth erläutert, dass die RAF aufgrund der Wahl ihrer Mittel und Aktionen als terroristische Organisation zu begreifen ist, die durch „Gewalt und individuellen Ter-

55 Vergl. Aust 1998, S. 632ff 56 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 121 57 Vergl. Demes 1994, S. 225 58 Meyer 1998, S. 155f 59 Vergl. Peters 1991, S. 421 60 Vergl. RAF am 20.01.1975 im Spiegel , zit. nach: Schneider 1987, S. 52f 61 Horn 1982, S. 78

20 ror“ die politischen Ziele einer sozialistischen Revolution durchsetzen will. Die Ter- roristInnen beziehen sich dabei auf die „Propaganda der Tat“ und fordern von den RevolutionärInnen den „Primat der Praxis“ ein. 62 Das Konzept der RAF besteht darin, in der Hoffnung auf Zuspruch durch die „Massen“ die Gesellschaft durch gezielte Anschläge zu erschüttern, um so eine revolutionäre Situation herbeizuführen. 63 Die RAF beruft sich darauf, dass der wahre „Volkswille“ einen anderen Staat wünsche und spricht damit den amtierenden InhaberInnen der Staatsgewalt die demokratische Legitimation zur Gegenwehr ab. 64 In der „Eskalation der Konterrevolution“ sollte sich „der Feind“ kenntlich machen, der „durch seinen eigenen Terror die Massen ge- gen sich aufbringt, die Widersprüche verschärft, den revolutionären Kampf zwingend macht“. 65 Das heißt, nach ihrer Auffassung kann erst durch die politische Praxis, durch den gewaltsamen Widerstand gegen die „Gewalt der Herrschenden“ der politische Kampf einen Reifegrad erhal- ten. 66 Für die RAF ist das, was die bundesdeutsche Gesellschaftsordnung ausmacht, das Feindbild, vor allem die „staatlichen Ordnungskräfte, die als Inbegriff eines neuen Fa- schismus und eines Polizeistaates gewertet werden“.67 Brückner bemerkt diesbezüglich: Es ist […] denkbar, daß die Härte, mit der der Strafvollzug die RAF-Genossen trifft, für sie alles konkretisiert, was sie vom Leiden der unterdrückten Völker gewusst haben. 68 Laut Langguth sind die terroristischen Gruppen von einer „tiefen Realitätsferne hin- sichtlich ihres Ansehens in den ‚breiten Massen’ geprägt“, wodurch die „Anwendung von Gewalt eine von realer politischer Einschätzung und von taktischen Fragen losge- löste Eigendynamik entwickelt“ hat.69

62 Vergl. Langguth 1983, S. 202 63 Vergl. Peters 1991, S. 420f „Die Verlegenheit […], Freiheit durch Zwang gewährleisten zu müssen, wird gelegentlich als Kampf- mittel gegen die geltende Staatsverfassung genutzt. Der staatliche Einsatz von Zwangsmitteln wird provoziert, um eine Diskrepanz zwischen freiheitsgewährendem Anspruch des Staates und gewaltsa- mer Herrschaftsbehauptung zu schaffen. […] Das Kalkül dieses Agierens will […] den freiheitlichen Staat zwingen, als Zwangsstaat zu handeln.“ Kirchhof 1975, S. 90 64 Vergl. Kirchhof 1975, S. 105 65 Vergl. Ulrike Meinhof 1974, zit. nach: Werketin 1991, S. 12, Vergl. Horn 1982, S. 87 Fetscher stellt die These auf, dass einige TerroristInnen meinen könnten, „ein bißchen autoritärer Staat“ könne „ganz heilsam sein […], weil er die Bevölkerung mobilisieren und von der Notwendig- keit einer Revolution überzeugen würde“. Vergl. Fetscher 1977, S. 100ff 66 Langguth 1983, S. 202 67 Vergl. Langguth 1983, S. 202 68 Vergl. Brückner 1975 S. 94 69 Vergl. Langguth 1983, S. 202

21 Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es mög- lich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln. 70 Zentrale Motive bzw. Argumente der RAF für die Aufnahme des bewaffneten Kamp- fes als Stadtguerilla in der BRD und als Fraktion eines internationalen Widerstandes sind Faschismus- und Imperialismus-Vorwürfe an die Administrationen von BRD und USA. Für ihre spezifischen legitimatorischen Zwecke funktionalisiert die RAF diese Begriffe, wobei sie propagandistisch und inflationär verwendet werden. Die RAF strebt eine antiimperialistische Front an, zum einen mit anderen „Gruppen des Widerstandes“ im Inland, zum anderen mit „ausländischen Terrororganisationen“. Angegriffen werden vor allem Ziele aus den Bereichen Militär, „militärisch- industrieller Komplex“ und „Repressionsapparat“, also Justiz und Staatsschutz. 71 Dem bundesdeutschen politischen System in den Schriften der RAF Faschismus vor- geworfen, so heißt es beispielsweise im „Konzept Stadtguerilla“: Die politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind […] weder in ihrer [i.e. der BRD] refor- mistischen noch in ihrer faschistischen Variante erschöpft; seine Fähigkeiten, die von ihm selbst erzeugten Widersprüche zu integrieren oder zu unterdrücken, nicht am Ende. 72 Der Imperialismus kann sich nach den Theorien der RAF entweder reformistisch oder faschistisch verhalten. Reformismus wird hier als „opportunistische“, „manipulative“ und „integrative“ Politik definiert. Mit geringfügigen Zugeständnissen sollen die Massen „gekauft“ werden, während die Unterdrückung im Sinne der Herrschenden weiter funktioniert. Bei der faschistischen Variante tritt die offene Gewalt an die Stel- le manipulativer Unterdrückung.73 Die RAF begründet den Faschismusvorwurf mit der jüngeren deutschen Geschichte und versucht dies unter anderem mit der Kontinui- tät der Eliten nach 1945 zu belegen. Fetscher bemerkt hinter der von der RAF prakti- zierten Brandmarkung der BRD als faschistisch eine psychologische Taktik bzw. ein Produkt des Unterbewußtseins zur Rechtfertigung eines Angriffs. Dabei müssen die Opfer von so „radikalen Mitteln“, wie Tötung oder Entführung „zuvor moralisch dis- kreditiert, ihrer Menschlichkeit beraubt“ werden, damit die TäterInnen ihr „reines Gewissen“ behalten können. 74 Die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Terrors ist das gute Gewissen. […] Noch die blu- tigsten Verbrechen schrecken den Terroristen nicht, weil er „das gute Gewissen“ hat, für einen

70 RAF 1971 zit. nach: Schneider 1987, S. 10 71 Vergl. Peters 1991, S. 423 72 RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla zit. nach: Hoffmann 1997, S. 33 73 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 190f 74 Vergl. Fetscher 1977, S. 75

22 unbestreitbar sittlichen […] Zweck zu kämpfen, die Herstellung allgemeiner Freiheit und damit universeller Gerechtigkeit. 75 Die TäterInnen identifizierten sich mit dem „universallegitimierenden Endzweck der Freiheit“ und steuerten zielstrebig auf ihre Utopie zu. Alles, was dieser Identifikation nicht entspricht, „jede Lösung, die unterhalb des absoluten Endziels bleibt, ist ver- werflich. 76 Wenn die „kapitalistische Gesellschaft das Böse schlechthin“ ist, dann können Reformen der Arbeitsverhältnisse, Verbesserung der Entlohnung und des Bildungswesens immer nur der Ver- schleierung dienen, oder auch der heimtückischen Pazifizierung einer potentiell revolutionären Bevölkerung. 77 Weiterhin erwarten die TheoretikerInnen der RAF, die Repression des Staates werde – selbst wenn sie provoziert ist - eine revolutionäre Mobilisierung bewirken. Dement- sprechend sei der - sonst stets beklagte – „Faschisierungsprozess“ notwendige Bedin- gung für revolutionäre Politik. 78 Kaserniert in den Gefangenenlagern des Extrems, gilt der RAF eine Extremform der bürgerli- chen Gesellschaft, der Faschismus, als auf den Begriff gebrachte bürgerliche Gesellschaft. 79 Fetscher/ Münkler/ Ludwig erläutern die Taktik, die sie hinter dem von der RAF pro- pagierten „Faschisierungsprozess“ vermuten: „Sämtliche Reaktionen der bundesdeut- schen Öffentlichkeit, der Justiz und der Medien“ werden grundsätzlich als „faschis- tisch empfunden“. Objektiv betrachtet tut der Staatsapparat das übrige, um in der Be- handlung der TerroristInnen faschistische Tendenzen wittern zu lassen (anormale Haftbedingungen, Verfahrensunregelmäßigkeiten, Ausschluss von eingearbeiteten VerteidigerInnen, Gesetzgebung für ein laufendes Verfahren, Nichtanerkennung von Verhandlungsunfähigkeit, illegale Abhörmaßnahmen, etc). 80 Gerade in den Jahren, als der Terrorismus zu einer ernsten Belastungsprobe für die Demokratie in Deutschland wurde, zeigte sich, selbst bei einigen Politikern, ein erschreckender Mangel an Demokratie-Verständnis. Dieser evidente Mangel lieferte den Mitgliedern und Sympathisanten der RAF […] Argumente in die Hand, die nicht von vornherein als absurd zu bezeichnen wa- ren. 81 Nicht unbegründet deutet auch das politisch linke Spektrum in der BRD bereits seit 1945 stets präsente Rechtstendenzen als die Gefahr einer beginnenden „Faschisie-

75 Fetscher 1977, S. 74 76 Vergl. Fetscher 1977, S. 75 77 Fetscher 1977, S. 75 78 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 193 79 Brückner 1975, S. 97 80 Vergl. Fetscher 1977, S. 193ff, Vergl. Kapitel 4 dieser Arbeit 81 Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 198

23 rung“, da die demokratische Substanz der BRD als zu labil eingeschätzt wird. Fet- scher/ Münkler/ Ludwig betonen allerdings immer wieder, dass „bürgerliche Zwangsgewalt und Faschismus zwei völlig verschiedene gesellschaftliche Erschei- nungen sind“. 82 Ein Beispiel für eine inflationäre Handhabung des Faschismusbegriffs ist der auf die Sozialdemokratie bezogene Begriff des „Reformfaschismus“. Dabei handelt es sich um eine These der RAF, nach der sich z.B. Reformanstrengungen der Brandt- Regierung als „gefährliches Integrationsmittel in ein faschistisch-imperialistisches System“ einordnen lassen. 83 Nach Meinung der RAF betreibe der Staat parallel zur Terrorbekämpfung die konfliktvermeidende Taktik des Reformismus, wobei diese die Missstände verbal anerkennt, um Kritik zu entkräften und um vor allem die kapitalis- tische Herrschaft zu stabilisieren. 84 Fetscher / Münkler / Ludwig werfen in diesem Zusammenhang der RAF Demagogie und Zynismus vor. 85 Der Gebrauch der Vokabel „Faschismus“ als Kampf- und letztlich als Beschimpfungswort löst die geronnene historische Substanz auf und macht den Begriff nichtssagend und beliebig. 86 Doch auch auf der „gegnerischen Seite“ kommt es ab und zu vor, dass der Begriff „Faschismus“ herhalten muss, um die Politik der RAF zu beschreiben. 87 Und dennoch: der Verdacht einer „Faschisierung“ wird bestärkt durch die staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus, insbesondere durch die Art und Wei- se der Gesetzgebung, der Haftsituation und der Form der Gerichtsverfahren. Kritik daran üben auch solche BeobachterInnen, die in keiner Weise mit den Terroristen sympathisieren.88

Die RAF interpretiert den Imperialismus nach Lenin als höchste Stufe des Kapitalis- mus. Um gegen den Imperialismus vorzugehen, verübt die „erste Generation“ der RAF in der so genannten „Mai-Offensive“ 1972 als vorläufigen Höhepunkt ihrer Ak- tivität mehrere Bombenanschläge gegen US-amerikanische und bundesdeutsche Ein- richtungen. Die RAF bewertet den Krieg der USA in Indochina als imperialistische

82 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 198 83 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 202 84 Vergl. Schneider 1987, S. 12 85 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 194 86 Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 202 87 „Die totale Verachtung für Menschenleben, die sich hinter angeblich höheren Zielen versteckt, hat man in Deutschland einmal gleichgesetzt mit faschistischer Verhaltensweise. Daran sollte sich nichts ändern.“ Werner Holzer in der Frankfurter Rundschau vom 07.09.1977, zit. nach: Bot- zat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 33 88 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 229

24 Aggression und kommentiert die verübten Bombenanschläge in den Bekennungs- schreiben entsprechend. 89 Damit setzt die RAF ihr antiimperialistisches Konzept um, das sie in vorhergehenden Schriften propagiert hat 90 und das bereits seit der Studen- tInnenbewegung diskutiert wird. Es kommt darauf an, in solidarischer Aktion und in konkreter Solidarität mit den revolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, den gigantischen militärischen und staatlichen Machtapparat in den spätkapitalistischen Ländern zu zerschlagen. 91 Die RAF sieht sich in einer Kontinuität dieser Diskussion, interpretiert die genannte „Zerschlagung“ allerdings zwingend als militärisch. In einer Kommando-Erklärung wird mitgeteilt, dass es für die „US-Imperialisten […] keinen Platz mehr geben wird in der Welt, an dem sie vor den Angriffen revolutionärer Guerilla-Einheiten sicher sein können“. Schließlich wird der „Abzug aller amerikanischen Truppen aus Indo- china“ gefordert. 92 Auch die BRD wird von der RAF in ihr Imperialismus-Feindbild mit einbezogen und damit als zu bekämpfendes Ziel betrachtet. Durch Entwicklungs- und Militärhilfe an den Aggressionskriegen der USA beteiligt, profitiert die Bundesrepublik von der Ausbeutung in der Dritten Welt, ohne die Verantwortung für diesen Krieg zu haben, ohne sich deswegen mit einer Opposition im Innern streiten zu müssen. Nicht weniger aggressiv als der US-Imperialismus, ist sie doch weniger angreifbar. 93 Dass für die RAF zur Bekämpfung von als imperialistisch begriffenen Zielen militäri- sche Mittel gerechtfertigt sind, belegt folgendes, aus dem Umfeld der Organisation stammendes, Zitat: Wenn der Imperialismus ein weltweites System ist, […] dann muss der Kampf gegen ihn auch weltweit geführt werden. Er wird und muss gewaltsam und bewaffnet geführt werden oder er wird nicht geführt. 94 Die RAF belegt also den Zustand der real existierenden Differenzen zwischen Indust- rie- und Entwicklungsländern pauschal mit dem Begriff Imperialismus und nimmt dies ebenso pauschal zum Kriegsvorwand gegen Industriestaaten. Mit den angespro- chenen Imperialismustheorien legitimiert die RAF ihre Verhaltensweisen und defi- niert ihre Ziele. 95

89 Vergl. Hoffmann 1997, S. 145-148 90 Vergl. Schneider 1987, S. 7 91 Hans Jürgen Krahl auf dem Berliner Vietnam-Kongress 1968, zit. nach: Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 209 92 Vergl. Hoffmann 1997, S. 145 93 RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 7 94 Flugblatt der „Roten Hilfe Frankfurt“ zum Anschlag auf das Hauptquartier der US-Army in Frank- furt/M., zit. nach: Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 215 95 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig 1981, S. 229

25 In ihren Schriften „Das Konzept Stadtguerilla“ von April 1971 und „Dem Volke die- nen. Stadtguerilla und Klassenkampf“ von April 1972 greift die RAF Missstände in der BRD und der Welt allgemein auf. Um die Konzeption der RAF begreifen zu kön- nen, werden im folgenden kurz diese beiden zentralen Schriften vorgestellt. Darin be- gründet die Gruppe den Antiimperialismus als Kampfform. Des weiteren schreibt sie über die Notwendigkeit der revolutionären Initiative, die Bedeutung des Internationa- lismus, legt eine Klassenanalyse vor, negiert die parlamentarische Demokratie, kriti- siert die bundesdeutsche Innen- und Außenpolitik als „Politik der Konzerne“, wirbt für die Organisierung in der Illegalität und zieht aus all dem eine Konsequenz: die Notwendigkeit einer Stadtguerilla. 96 Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeit- punkt in der Bundesrepublik und in Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffne- te Kampf als „höchste Form des Marxismus-Leninismus“ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß […]. 97 Die RAF wendet sich gegen profitorientierten „Parasitismus“, der „ganze soziale Schichten benachteiligt“ und für den „Zerfall des gesellschaftlichen Lebens“ verant- wortlich sei. Ein „monströser Apparat“ kontrolliert demnach die Menschen durch „Meinungsmanipulation und offene Repression“. Die „Metropole Bundesrepublik“ wird als „ökonomischer und politischer Riese“ kritisiert. 98 Die bundesdeutsche Innen- und Außenpolitik wird ebenfalls analysiert: Brandt hat seine Außen- und Innenpolitik als das definiert, was sie ist: die Außen- und Innenpo- litik der Konzerne, die im In- und Ausland die Märkte beherrschen und die Politik bestimmen. 99 Der sozial-liberalen Koalition sei es gelungen, die „‚Unzufriedenheit’, die sich durch Studentenbewegung und außerparlamentarische Bewegung bemerkbar gemacht hatte, weitgehend zu absorbieren“. Zum Feindbild werden „Gewerkschaftsbürokraten“ er- klärt, aber auch Linke, die sich mit den Zielen der Regierung solidarisieren. Ausbeu- tung und politische Unterdrückung durch die „Kapitalistenklasse“ entspräche der „Rationalität des Systems“, da Unmenschlichkeit und Verbrechen dem System im- manent seien. Diese Zustände können „nur mit dem System abgeschafft werden oder gar nicht“. 100 Das revolutionäre Potential hat sich nach Meinung der RAF verscho-

96 Vergl. Schneider 1987, S. 5-13, S. 15-27 97 RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 6 98 RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 16 99 RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 16 100 Vergl. RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 6f, Vergl. RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 19

26 ben. Brückner beschreibt die Interpretation der RAF bezüglich der Führungsrolle des Proletariats in den Metropolen wie folgt: „Das Konzept Stadtguerilla“ löst das Problem so, daß es die Arbeiter in den Zentren als revolu- tionäres Subjekt zunächst aufgibt, den 3.Welt-Völkern in den imperialistisch bedrohten und ok- kupierten Ländern die einzige revolutionäre Initiative zuschreibt, die europäischen und ameri- kanischen Metropolen für revolutionierbar hält höchstens als Reaktion auf die Befreiungskämp- fe der Kolonisierten. Die RAF löst das „Verschränkungstheorem“ zugunsten einer „Führungs- rolle“ der 3.Welt-Völker auf. Der Imperialismus wird – als Widerspruch – verabsolutiert. 101 Dennoch ist es für die RAF notwendig, regionale Ziele für die Weltrevolution, für die sie sich als „Fraktion“ der Avantgarde verantwortlich sieht und für die sie kämpft, an- zupeilen. Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition „erschließt dem Kapital neue Märkte, besorgt den deutschen Beitrag zum Ausgleich und Bündnis zwischen US- Imperialismus und Sowjetunion, den die USA braucht, um freie Hand für ihre Ag- gressionskriege in der Dritten Welt zu haben“. 102 Die ablehnende Haltung der Bun- desregierung dem revolutionären Konzept der RAF gegenüber deutet sie für sich in bestimmter Weise. Der Terror gilt nicht der RAF, sondern der Arbeiterklasse. […] [Er] ist Vorbereitung auf bevor- stehende Klassenkämpfe. Es geht darum, die Idee des bewaffneten Kampfes mit aller Gewalt, deren das System im Moment fähig ist, von der Arbeiterklasse fern zu halten. […] Das Kapital kann nicht warten, bis sich der Faschismus entfaltet hat. 103 [Für die BRD gelte,] was für die kolonialistische und imperialistische Ausbeutung Lateinameri- kas, Afrikas und Asiens immer gegolten hat: Disziplin, Unterordnung und Brutalität für die Un- terdrückten, für die, die sich auf deren Seite stellen, Protest erheben, Widerstand leisten, den an- tiimperialistischen Kampf führen. 104 Die RAF interpretiert die Verhältnisse in der BRD gleichermaßen als „post- und prä- faschistisch“. Diese undifferenzierte Benutzung unterschiedlicher Stufen des Fa- schismus, die im Widerspruch zu vorher Verlautbartem steht, bietet einen weiteren Beleg für die inflationäre Begriffsbenutzung zu Propagandazwecken. Um die „Dikta- tur des Proletariats“ erreichen zu können, müsse die „Macht der Bourgeoisie“ von ei- ner marxistisch-leninistischen Avantgarde durch Klassenkampf mit politischem, mili- tärischem und propagandistischem Druck gebrochen werden. 105 Und die RAF begreift sich als jene „externe Avantgarde, ohne die soziale Revolution angeblich nicht sein

101 Brückner 1975, S. 77 102 Vergl. RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 6f, Vergl. RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 17ff 103 RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 21 104 RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 8 105 Vergl. RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 8f

27 kann“. 106 Das Konzept Stadtguerilla sei die „revolutionäre Investitionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften“ gegen den amerikanischen Imperialis- mus. Ihr Ziel sei die „Vorbereitung der Revolution“, des „bewaffneten Kampfes“, der „revolutionären Initiative“ und die „Konkretisierung von Adaption und Propagan- da“. 107 Die RAF versteht sich als „Guerilla, […] die als Gegengewalt“ zur staatlichen Gewalt „Widerstand leistet“. 108 Stadtguerilla ist […] die Konsequenz aus der längst vollzogenen Negation der parlamentari- schen Demokratie durch ihre Repräsentanten selbst, die unvermeidliche Antwort auf Notstands- gesetze und Handgranatengesetz, die Bereitschaft, mit allen Mitteln zu kämpfen, die das System für sich bereitgestellt hat, um seine Gegner auszuschalten. Stadtguerilla basiert auf der Aner- kennung von Tatsachen statt der Apologie von Tatsachen. […] Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat […] zu destruieren, […] außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören. 109 Stadtguerilla sei eine Möglichkeit, im „Bewusstsein der Menschen die Zusammen- hänge imperialistischer Herrschaft herzustellen“. 110 Die Bedeutung von Stadtguerilla definiert die RAF als „Waffe im Klassenkampf“, der bewaffneter Kampf als Reaktion auf die Staatsgewalt sein müsse. Die Monopolisierung staatlicher und wirtschaftlicher Macht müsse mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes gebrochen werden. 111

Brückner nennt die RAF eine „offensive Gruppe“, deren „fundamentaloppositionelle“ Militanz sich „gegen Einrichtungen und Personen der US-Armee, des Springer- Konzerns und des Justiz-Apparats“ richtet. 112 Also gegen klassische repressive Einrichtungen des Staats, der imperialistischen Gewalt und gegen privatwirtschaftliche, der gesellschaftlichen Kontrolle entzogene Garanten kapitalkon- former Massenloyalitäten. […] Militarisiert war vor allem die Auseinandersetzung mit der Exe- kutive […] des politischen Staats […]. 113

106 Vergl. Brückner 1975, S. 102 107 Vergl. RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 10 108 Vergl. Schneider 1987, S. 21 109 RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 10 110 Vergl. RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 17 111 Vergl. RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 12, Vergl. RAF 1972: Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach: Schneider 1987, S. 24f „Stadtguerilla machen, heißt, den antiimperialistischen Kampf offensiv führen. Die Rote Armee Frak- tion stellt die Verbindung her zwischen legalem und illegalem Kampf, zwischen nationalem und inter- nationalem Kampf, zwischen politischem und bewaffnetem Kampf, zwischen der strategischen und der taktischen Bestimmung der internationalen kommunistischen Bewegung.“ RAF 1971: Das Konzept Stadtguerilla, zit. nach: Schneider 1987, S. 12 112 Vergl. Brückner 1973, S. 32, 36 113 Brückner 1973, S. 32

28 Brückner beanstandet eine von der RAF propagierte reduzierte Vorstellung bzw. eine Monokausalität von Imperialismus und Kapitalismus und eine fehlende allgemeine Imperialismusanalyse - bezogen beispielsweise auch auf sowjetische oder chinesische Politik, die in den Strategiepapieren der RAF vollkommen ausgeblendet werden.114 Er beschreibt, wie die RAF das „System“ nach dem in allen ihren Schriften benutzten Charaktermasken-Theorem als „einen Block von Finsternis und Verbrechen, mal a- nonym und übermächtig, […] mal personalisiert“ zeichnet. Er gesteht der RAF in ih- ren Schriften vereinzelt korrekte Ansätze zu, kritisiert jedoch deren Folgerungen mas- siv. 115 Nach Brückner bedeuten die Aktivitäten der RAF einen „blinden Kampf, der nicht nur der Bevölkerung unverständlich bleibt, sondern auch die Linke lähmt und durch Solidarisierungszwänge terrorisiert“. 116 Das bestürzende und quälende an den RAF-Papieren ist, daß sie nicht einfach falsch sind, daß sie richtige Beobachtungen, Tatsachen, Schlussfolgerungen und Theoreme enthalten – daß sie dieses Material aber strukturieren vermittels eines förmlichen Amoklaufs von Abstraktionen, Analogien, Verkürzungen und Extrapolationen, der die wirklichen Verhältnisse […] links […] liegen lässt. Hier wird Antiimperialismus selbst imperialistisch. 117 Über die RAF-Texte während der Haftzeit stellt Horn fest, dass sie fast ausschließlich um ein enges Themenfeld kreisen: die eigene Lage, politische Positionsangaben und die Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat sowie um dessen strategische Rolle für das Kapital. In dieser Haltung spiegelt sich eine „abstrakte und in ihrer Totalität wahrhaft selbstverleumderische Opferbereitschaft“, die mit keiner realen politischen Position mehr in Einlang zu bringen ist.118 Dazu schreibt Horn: Angesichts dieser gegen jede widersprüchliche Erfahrung im bundesrepublikanischen Alltag fu- gendicht isolierten theoretischen Konstruktionen (welche das Spiegelbild der schall- und licht- dichten, jegliche soziale Kommunikation verhindernden Zellen in den Toten Trakten […], dar- stellte) wird deutlich, warum weder eine fortschreitend umfassendere politische Isolation der RAF von den zu befreienden „Massen“ […], noch das Ausbleiben einer revolutionären Massen- bewegung angesichts der offen zutage tretenden Verschärfung der staatlichen Repression und des Abbaus von Rechtsstaatlichkeit für die RAF noch eine negative Beweiskraft entfalten konn- te. 119 Bei der in Freiheit operierenden 2. Generation der RAF findet eine „zunehmende De- sensibilisierung gegenüber den Opfern der Gewalt“ und eine „Einengung der politi-

114 Vergl. Brückner 1975, S. 90 115 Vergl. Brückner 1975, S. 89 116 Vergl. Brückner 1975 S. 81 117 Brückner 1975 S. 88 118 Vergl. Horn 1982, S. 84ff 119 Horn 1982, S. 90

29 schen Praxis auf militärisches Handeln“ statt, wobei sich die politische Perspektive gleichzeitig auf „sekundäre Ziele wie Gefangenenbefreiung“ fixiert. Der bewaffnete Kampf verselbständigt sich. 120

2.3 Antagonismus von Gewalt und Gegengewalt

„Jetzt ist es soweit. Wer zuerst schießt, überlebt. Es ist wohl besser, im Zweifelsfall ein Diszip- linarverfahren an den Hals, als eine Kugel in den Bauch zu bekommen.“121

Die Gewalt, die von der RAF ausgeht und die von der Öffentlichkeit als Bedrohung wahrgenommen wird, beziehungsweise die Gewalt von staatlicher Seite, aufgrund de- rer sich die RAF ihrerseits zum Kampf berufen fühlt, ist Thema des folgenden Kapi- tels. Welche Handlungen nun Aktion oder Reaktion sind, wird von beiden Parteien unterschiedlich ausgelegt. durch den bewaffneten Kampf der RAF halten es verschie- dene PolitikerInnen für notwendig, „Maßnahmen zu befürworten und durchzuführen, die in einer Reihe von Fällen den Rand des rechtsstaatlich Erträglichen“ streifen, um den Staat vor der Bedrohung durch die RAF zu schützen.122 Und das hat wiederum zur Folge, dass die Taten der RAF antagonistisch dazu wiederum an Härte gewinnen. Diese Dynamik wird im Folgenden dargestellt.

Gegen die sich als RAF konstituierte Gruppe wird sofort nach der Baader-Befreiung ein bis dahin ungekannter Fahndungsaufwand betrieben. 123 Bei Verhaftungsversuchen kommt es immer häufiger zu Schießereien zwischen Polizei und RAF-Mitgliedern. Die Bullen werden so lange im Finsteren tappen, bis sie sich gezwungen sehen, die politische in eine militärische Situation umzuwandeln. […] Erfolgsmeldungen über uns können nur heißen: verhaftet oder tot. […] Wir sind hier, um den bewaffneten Widerstand gegen die bestehende Ei- gentumsordnung und die fortschreitende Ausbeutung des Volkes zu organisieren. 124 Am 15. Juli 1971 wird RAF-Mitglied Petra Schelm bei einer Fahndungsaktion er- schossen. Am 22. Oktober 1971 wird Polizeimeister Norbert Schmid im Einsatz von einem RAF-Mitglied erschossen. Jedes Todesopfer führt auf beiden Seiten zur Ver-

120 Vergl. Horn 1982, S. 86 121 Ein Polizeibeamter im März 1972 nach dem Tod von Polizeiobermeister Eckhardt; zit. nach: Aust 1998, S. 239 122 Vergl. Fetscher/ Münkler/ Ludwig, S. 199 123 Vergl. Peters 1991, S. 95 124 Baader am 24.01.1972 in einem Schreiben an die dpa, zit. nach: Aust 1998, S. 228

30 härtung der Fronten. 125 Anfang März 1972 wird der wegen Körperverletzung und Brandstiftung gesuchte und der RAF-Mitgliedschaft beschuldigte Student Thomas Weisbecker in Augsburg bei einem Verhaftungsversuch erschossen. Am gleichen Tag kommt es in Hamburg bei der Durchsuchung einer konspirativen Wohnung zu einem Schusswechsel. Bei der Verhaftung von RAF-Mitglied Manfred Grashof werden er und ein Polizist schwer verwundet, Hauptkommissar Eckardt erliegt später seinen Verletzungen. 126 Im Rahmen der Terroristen-Fahndung werden bei „Pannen“ von Seiten der Polizei mehrfach Unschuldige rabiat überwältigt, zeitweise verhaftet und teilweise wird sogar auf sie geschossen. So liefert sich der 17jährige Lehrling Richard Epple in Tübingen eine Verfolgungsjagd mit der Polizei weil er ohne Führerschein unterwegs ist. Um den vermeintlichen Terroristen zu stoppen, schießen die Beamten an einer Straßen- sperre auf ihn, wobei Epple tödlich getroffen wird.127 Am 25. Juni 1972 wird in Stutt- gart der Schotte Ian McLeod durch die geschlossene Schlafzimmertür seiner Woh- nung von Polizisten erschossen. Die Vormieter der Wohnung waren mit der RAF in Verbindung gebracht worden. Ein Verfahren gegen den Schützen lehnt die Staatsan- waltschaft ein Jahr später mit der Begründung ab, die Durchsuchung sei im Rahmen einer Fahndung nach terroristischen Gewalttätern erfolgt und der Beamte habe sich daher in „Putativ-Notwehr“ 128 befunden. 129 Ähnliche tödliche Situationen wiederho- len sich: Während einer Terrorismus-Fahndung wird der Taxifahrer Günter Jendrian in München aufgrund einer Verwechslung erschossen. 130 Während sich die Medien mit Berichten über die „Baader-Meinhof-Bande“ überschlagen, setzt der Staat einen „gigantischen Apparat ein, um gegen die TerroristInnen, so genannte Sympathisan- tInnen und die gesamte radikale Linke vorzugehen“. 131

125 Vergl. Aust 1998, S. 187f, 197ff „[Die] Straftaten wurden in der linken Untergrundpresse als legitime Verteidigung gegenüber einem repressiven System gerechtfertigt. Die Ermordung des Polizeibeamten Schmid galt als Konsequenz auf den Tod von Petra Schelm, der in den Augen der Terroristen ‚Mord’ war.“ Horchem 1988, S. 44 126 Vergl. Peters 1991, S. 108ff 127 Vergl. Aust 1998, S. 239f 128 Putativ-Notwehr: „Abwehrhandlung in der irrtümlichen Annahme, die Voraussetzungen der Not- wehr seien gegeben.“ Duden 1997, S. 647 129 Vergl. Demes 1994, S. 212 130 Vergl. Schneider 1987, S. 46 Die Ermittlungsverfahren gegen die Polizisten werden später erneut mit der Begründung der putativen Notwehr eingestellt. 131 Vergl. Hoffmann 1997, S. 180

31 Die RAF sieht es als legitim an, im Konflikt mit einem „faschistischen und imperia- listischen System“, als das sie die BRD begreift, Attentate und Morde zur Durchset- zung ihrer Ziele zu verüben. Dabei reagiert die Gruppe meist auf Geschehen, die ihrer politischen Überzeugung nach Unrecht bedeuten. So rechtfertigt die RAF während der so genannten Mai-Offensive 1972 den Angriff auf US-amerikanische Militär- stützpunkte mit dem Kriegsgeschehen in Vietnam: Für die Ausrottungsstrategien in Vietnam sollen Westdeutschland und Westberlin kein sicheres Hinterland mehr sein. […] Wir fordern die sofortige Einstellung der Bombenangriffe auf Nord- vietnam. 132 Die amerikanische Luftwaffe hat in den letzten 7 Wochen mehr Bomben über Vietnam abge- worfen als im 2. Weltkrieg über Deutschland und Japan zusammen. […] Das ist Genozid, Völ- kermord, […] das ist Auschwitz. 133 Die Bombenanschläge auf bayrische Polizeistellen werden als Racheakte für den Tod von Thomas Weisbecker im März ausgeführt, den die RAF im Bekennerschreiben als „Exekution“ bezeichnet. Wie bei den meisten ihrer Aktionen wird auch in diesem Fall das Bekennerschreiben mit dem Kommandonamen umgekommener GenossInnen un- terzeichnet. Die Fahndungsbehörden haben nunmehr zur Kenntnis zu nehmen, daß sie keinen von uns liqui- dieren können, ohne damit rechnen zu müssen, dass wir zurückschlagen werden. […] Kampf der SS-Praxis der Polizei! 134 Auch der Anschlag auf Bundesrichter Buddenberg ist als Rache gekennzeichnet und richtet sich gegen die unter anderem von ihm zu verantwortenden Sonderhaftbedin- gungen („Misshandlung, Schikane, Erpressung“) inhaftierter TerroristInnen. 135 Der Anschlag auf das Verlagshaus Springer wird mit „antikommunistischer Hetze“ gegen die Linke sowie gegen „Aktionen der Arbeiterklasse“ und mit der „propagandisti- schen und materiellen Unterstützung für den Zionismus“ begründet. 136 Nach Ansicht von Richter und Verfassungsschützer Horchem steckt hinter der Mai-Offensive eine bewusste Eskalationstaktik: Diese Anschläge waren kein wahlloser Terror, sondern gezielte Aktionen, deren Charakter es anderen Organisationen und Gruppen der revolutionären neuen Linken ermöglichen sollte, sich mit der RAF zu solidarisieren. Die Anschläge gegen die Polizei und gegen amerikanische Ein-

132 RAF 14.05.1972, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 145 133 RAF 25.05.1972, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 147f 134 RAF 16.05.1972, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 145f 135 RAF 20.05.1972, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 146 136 RAF 20.05.1972, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 147

32 richtungen nahmen die Tötung von Menschen nicht nur in Kauf, sondern kalkulierten sie ein und zielten zugleich auf die Solidarisierung anderer Fraktionen der revolutionären Bewegung. 137 Horchem ist der Meinung, dass sich im Rahmen der „Baader-Meinhof“-Fahndung gezeigt habe, dass das „aufwendigere Mittel verhältnisgerechter“ 138 sei, weshalb die Polizeikräfte nach und nach schwerer bewaffnet werden. Für die „politischen Gefan- genen“ herrscht höchste Sicherheitsstufe. Sämtliche des Terrorismus verdächtigten oder überführten Häftlinge werden streng voneinander und von jeglichem Geschehen innerhalb der Gefängnisse isoliert. Mit dem Mittel des kollektiven Hungerstreiks ver- suchen die Gefangenen aus der RAF bessere Haftbedingungen durchzusetzen. Gegen die totale Isolierung in den Gefängnissen scheint dies für sie die einzig verbleibende Form des Widerstands. 139 Die Abschottung von allen Mitgefangenen der dauernde Entzug von Sinnesreizen in faktisch ge- räuschisolierten, oft ständig künstlich beleuchteten Zellen […] im ansonsten leergeräumten „to- ten Trakt“ […] zog unausweichlich schwere psychosomatische Erkrankungen der Gefangenen nach sich. 140 Während einiger Hungerstreiks wird bestimmten Gefangenen teilweise von den Ge- fängnisleitungen vorsätzlich das Trinkwasser entzogen, um sie zum Abbruch des Streiks zu zwingen. Diese Maßnahme beinhaltet zusätzlich zu dem schwächenden Hungerstreik ein extremes Gesundheitsrisiko und kann lebensbedrohliche Folgen ha- ben. 141 Mit Ernährung gegen den Willen der Gefangenen - der so genannten Zwang- ernährung - soll die Versorgung der Gefangenen gewährleistet werden. Von den Be- troffenen wird die vorwiegend unter massiver Gewaltanwendung stattfindende Proze- dur, bei der sie gefesselt einen Schlauch schlucken müssen und Nahrungsbrei einge- führt bekommen, als quälende Foltermaßnahme empfunden. 142 Für die durch Sonder- haftbedingungen und Hungerstreik ohnehin psychisch und physisch angeschlagenen Gefangenen bedeutet die Durchführung der Zwangsernährung eine enorme Belas- tung. Der Tod von Holger Meins am 9. November 1974 wird von der deutschen Stadtguerilla in direkten Zusammenhang mit der Zwangsernährung gebracht und mit der Ermordung Richter von Drenkmanns durch ein Kommando der Bewegung 2. Juni beantwortet. 143

137 Horchem 1988, S. 46 138 Vergl. Horchem 1988, S. 47 139 Vergl. taz -Journal 1997, S. 76f, Vergl. Hoffmann 1997, S. 187ff 140 Voges 1997, S. 74 141 Vergl. Hoffmann 1997, S. 187, Vergl. Demes 1994, S. 213 142 Vergl. Schiller 1999, S. 151ff, 183f 143 Vergl. Meyer 1998, S. 313ff

33 Die Härte des Staates bei der Behandlung der Gefangenen sorgte über Jahre dafür, daß die Kommandos der RAF sich immer wieder auffüllen konnten. 144 Die Sonderhaftbedingungen für RAF-Mitglieder und die damit in Verbindung ste- henden Hungerstreiks gehen nicht spurlos an den Häftlingen vorbei. Der Gesund- heitszustand sämtlicher Gefangener aus der RAF verschlechtert sich zusehends. Bei- spielsweise wird RAF-Mitglied Monika Beberich Anfang des Jahres 1974 aufgrund gesundheitlicher Schwäche offiziell für verhandlungsunfähig erklärt, da sie seit Okto- ber 1970 völlig isoliert einsaß (sie wird später zu 12 Jahren Haft verurteilt). Die euro- päische Menschenrechtskommission in Straßburg fordert später von der Bundesregie- rung eine Stellungnahme zum Fall Beberich. Der Prozess gegen die RAF- Unterstützerin Katharina Hammerschmidt muss wegen eines akuten Krebsleidens ab- gebrochen werden. Während der Isolation in der 17-monatigen Untersuchungshaft war ihr unbedingt notwendige ärztliche Behandlung verweigert worden. Daraufhin stellen 131 ÄrztInnen aus Protest Strafanzeige wegen versuchten Mordes gegen die zuständigen ÄrztInnen, RichterInnen und den Staatsanwalt. Zweieinhalb Jahre später stirbt Hammerschmidt an den Folgen des Krebsleidens.145 Die strengen Maßnahmen werden damit gerechtfertigt, dass die Ermittlungsbehörden befürchten, aus den Ge- fängnissen heraus könnten Aktionen geplant und Instruktionen an die noch in Freiheit befindlichen Gruppenmitglieder gegeben werden. Mit Haftverbesserungen konnten nur die Gefangenen rechnen, die mit dem Staat kooperierten, d.h. sich entweder öffentlich von der RAF-Politik distanzierten […] oder als Kronzeuge auftra- ten. 146

1977 schließlich kommt es zu den bisher schwersten Angriffen der RAF seit der „Mai-Offensive“ 1972. Bei den als „Offensive 1977“ zusammengefassten Aktionen gegen „das System“ reagiert der Staat mit allen zur Verfügung stehenden, auch rechtsstaatlich fragwürdigen, bzw. manchmal illegitimen Mitteln, wie dem Abhören von Verteidigungsgesprächen, der Kontaktsperre oder nachträglicher gesetzlicher Le- gitimierung von Justizmaßnahmen. Nach Auffassung von Horchem wird in den Akti- onen der „zweiten Generation“ der RAF deutlich, dass der „bewaffnete Widerstand nicht länger im Vordergrund ihrer Operationen“ steht, sondern durch ein Konzept er- setzt worden ist, dass sich in drei Kategorien aufteilen lässt, „nämlich die Hinrichtung

144 Meyer 1998, S. 319 145 Vergl. Demes 1994, S. 214f, Vergl. Aust 1998, S. 205ff 146 Hoffmann 1997, S. 181f

34 von Repräsentanten des ‚Systems’, die Beschaffung von Geldmitteln“ zur Finanzie- rung der Bewegung und „die Freipressung ihrer Gefangenen durch Geiselnahmen“ 147 :

3. Der Deutsche Herbst

Das folgende Kapitel befasst sich mit den innenpolitischen und gesellschaftlichen Zu- ständen des Jahres 1977 in der BRD. Als die RAF 1977 zahlreiche spektakuläre Ak- tionen durchführt und die Bundesregierung mit großer Härte reagiert, wird der be- waffnete Kampf der nunmehr in der zweiten Generation agierenden Stadtguerilla er- neut zum Thema Nummer Eins in der Öffentlichkeit sowie in politischen und juristi- schen Zirkeln. Unter dem Stichwort Deutscher Herbst sind nicht nur Angriffe und Gewalt, sondern auch Gegenmaßnahmen und Gegengewalt zusammengefasst. Die Angriffe der RAF veranlassen die GesetzgeberInnen zu unterschiedlichen Maß- nahmen. In diesem Kapitel wird die Situation unmittelbar während der Offensive 1977 beschrieben. Eingangs steht eine Bestandsaufnahme staatlicher Reaktionen auf die militärische Provokation der RAF. Dabei wird im besonderen auf die Strafverfol- gungsmaßnahmen eingegangen. Anschließend folgt die Darstellung der öffentlichen Diskussion des Terrorismus und der Wahl der damit in Verbindung stehenden Mittel von staatlicher Seite. Insbesondere werden Positionen aus dem linken politischen La- ger und Stimmen aus der bürgerlichen Presse vorgestellt. Die Rekapitulation der Mescalero-Affäre dient als Veranschaulichung für das Klima der Debatten im Jahre 1977.

3.1 Die RAF-Offensive 1977

Die zweite Generation der RAF rekrutiert sich größtenteils aus neu zu der Gruppe hinzugestoßenen Frauen und Männern. Die meisten kennen keine Mitglieder aus der

147 Vergl. Horchem 1988, S. 62f Mit […] Buback wurde der führende Vertreter des Teils der Justiz, der die RAF „verfolgte“, „hingerichtet“. Der Bankier Jürgen Ponto sollte als Geisel zur Geldbeschaffung dienen, als er sich wehrte, wurde er kaltblütig erschossen. Mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer sollte das „System“ an der Stelle getroffen werden, an der die Verbindung zwischen Kapital und Staat am deutlichsten und am verwundbarsten zu sein schien, um dadurch die gefangenen Genossen wieder in Freiheit zu setzen. Horchem 1988, S. 62f

35 Gründungsgruppe persönlich. 148 Oberstes Ziel der RAF in dieser Phase ist die Befrei- ung der inhaftierten RAF-Mitglieder. Mit den befreiten GenossInnen, vor allem mit den „Führungskadern“, soll der Kampf fortgeführt und in „Gestalt eines – nicht näher skizzierten - Umsturzes“ zum Erfolg gebracht werden. Die Aufgabe der unter fal- schem Namen im Untergrund lebenden „Illegalen“ besteht darin, den „antiimperialis- tischen Kampf in die Tat umzusetzen“. 149 Für ihr Vorgehen und ihr ideologisches Verständnis knüpfen sie an die Tradition des „Stadtgue- rillakampfes“ der ersten Generation an. Sie wollen durch Verunsicherung in den Großstädten durch Anschläge den revolutionären Kampf gegen Staat und „imperialistische Herrschaft“ fort- setzen. 150 Die RAF-Offensive 1977 umfasst mehrere voneinander autonome Aktivitäten und ist doch von Anfang an mehr als eine bloße Abfolge einzelner Aktionen, sondern wird als Aktionseinheit konzipiert. Nach dem Kalkül der TäterInnen potenziert sich die Wirkung durch eine nicht abreißende Kette von Angriffen. Peters vermutet, dass da- mit der „Boden für die Befreiung der Gefangenen“ bereitet werden soll. Die Befrei- ung selbst soll durch eine Geiselnahme erpresst werden. 151 Dem so genannten Deut- schen Herbst werden die Geschehnisse vom 5. September bis zum 18. Oktober 1977 zugeordnet, also die Entführung von Hanns Martin Schleyer und die mit dem Frei- pressungsversuch zusammenhängende Geiselnahme eines deutschen Urlaubsflug- zeugs durch palästinensische TerroristInnen sowie die darauf folgenden Reaktionen staatlicher Stellen.

Am 7.4.77 hat das Kommando Ulrike Meinhof Generalbundesanwalt Siegfried Buback hinge- richtet. 152 Diese Worte sind zu Beginn des Bekennungsschreibens der RAF zum Attentat auf den Chef der Obersten Anklagebehörde der Bundesrepublik zu lesen, bei dem dieser und zwei seiner Begleiter erschossen werden. Für die RAF wird Buback zur Personifizierung des verhaßten Staates: Er steht der Behörde vor, die für die Strafverfolgung der Terroristen zuständig ist. 153

148 „Gut 25 Mitglieder war die Organisation stark. Dazu kam ein Umfeld von Sympathisanten, die von Fall zu Fall herangezogen werden konnten.“ Aust 1998, S. 484, Vergl. Peters 1991, S. 214ff 149 Vergl. Peters 1991, S. 217ff 150 Peters 1991, S. 191 151 Vergl. Peters 1991, S. 220 152 RAF am 07.04.1977, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 267 153 Peters 1991, S. 220

36 Am Morgen des 7. April hält ein Motorrad an einer Ampel in Karlsruhe neben dem Dienst-Mercedes von GBA Buback. Der Beifahrer des Motorrades schießt mit einer automatischen Waffe auf Buback, wobei alle drei Insassen des PKW tödlich verletzt werden. Eine umgehend ausgelöste umfangreiche Ringfahndung bei der ca. 40.000 PolizeibeamtInnen eingesetzt werden, bleibt erfolglos. In dem wenige Tage später bei der Deutschen Presseagentur eingehenden Bekennungsschreiben wird Buback für den Tod der RAF-Mitglieder Meins, Hausner und Meinhof verantwortlich gemacht. 154 Er hat in seiner Funktion als Generalbundesanwalt – als zentrale Schalt- und Koordinierungs- stelle zwischen Justiz und den Westdeutschen Nachrichtendiensten […] – ihre Ermordung in- szeniert und geleitet. […] Wir werden verhindern, daß Bundesanwaltschaft und Staatsschutzor- gane sich an den gefangenen Fightern rächen für die Aktionen der Guerilla draußen. 155 AnwältInnen von inhaftierten RAF-Mitgliedern geben eine Erklärung ab, in der sie „mit tiefer Empörung und Abscheu den sinnlosen und brutalen Mord verurteilen“. Die „hinterhältige Ermordung“ Bubacks wird darin als „schweres Verbrechen am Rechtsstaat“ bezeichnet.156

Die Zeit nach dem Attentat auf den GBA verwendet die RAF darauf, eine Entführung vorzubereiten. Nach dem Dilemma von Stockholm hat es die RAF auf einen Mann abgesehen, dessen Einfluss und Ruf ihrer Einschätzung nach so bedeutend sind, dass es die Bundesregierung – so das Kalkül der Stadtguerilla - unmöglich ablehnen kann, die Häftlinge auszutauschen. 157 Wenige Wochen, nachdem das Urteil in Stammheim gegen Baader, Ensslin und Raspe gesprochen worden ist, am 30. Juli 1977, dringt ein Kommando der RAF in das Privathaus des Vorstandsvorsitzenden und Sprechers der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, im hessischen Oberursel ein. Allem Anschein nach hatte Ponto entführt werden sollen. Als er sich jedoch wehrt und die Entführung zu scheitern droht, wird er im Handgemenge erschossen.158 In einem knappen Beken- nungsschreiben vom 14. August bezeichnet ihn die RAF als zugehörig zu „Typen, die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten“. 159

154 Vergl. Aust 1998, S. 453f 155 RAF am 07.04.1977, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 267f 156 Vergl. Aust 1998, S. 454 157 Vergl. Peters 1991, S. 227 158 Vergl. Aust 1998, S. 460ff 159 Vergl. RAF am 14.08.1977, zit. nach: Hoffmann 1997, S. 269

37 Einige Wochen nach der gescheiterten Aktion in Oberursel versucht die RAF einen Angriff auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Die Strafverfolgungsbehörde wird von der RAF als direkter Gegner wahrgenommen, der allen voran für Anklagen und „Verleumdungen“ gegen gefangene RAF-Mitglieder verantwortlich ist. 160 Die Bundesanwaltschaft versuche, „die Gefangenen in der Isolation, den Trakts, der Gehirnwä- sche- und Psychiatriesierungskonstruktionen zu brechen“. 161 Ein RAF-Kommando installiert eine selbst konstruierte Raketenwerfer-Anlage, be- stehend aus 42 Geschossvorrichtungen in einer Privatwohnung gegenüber dem Ge- bäude der BAW. Die Folgen eines Beschusses wären katastrophal gewesen, da er höchstwahrscheinlich vielen Menschen das Leben gekostet hätte. Doch die Zündvor- richtung versagt und so misslingt die Aktion. Später behauptet die RAF, sie hätte da- mit nur den Rahmen ihrer Möglichkeiten bzw. die Verletzbarkeit staatlicher Stellen demonstrieren wollen und spricht von einer Warnung.162 In einem Selbstbezichti- gungsschreiben zum gescheiterten BAW-Attentat wird eine kommende, finale Aktion zur Befreiung der Häftlinge bereits indirekt angekündigt. Darin ist, an die Gefange- nen gerichtet, unter anderem zu lesen: die entscheidung der gefangenen, ihren hunger- und durststreik jetzt zu unterbrechen, halten wir für richtig und bitten sie, ihn solange nicht wiederaufzunehmen, bis wir wissen, ob das bigotte mörderkartell aus justizministern, richtern, staatsanwälten und bullen gegenüber den mitteln, die wir haben und einsetzen können, so arrogant bleiben kann wie gegenüber den waffen von ge- fangenen. 163

Am 5. September 1977 beginnt mit einem Aktion der RAF das, was später als Deut- scher Herbst in die Geschichte eingeht. An diesem Tag entführt ein „Kommando Siegfried Hausner“ der RAF Hanns Martin Schleyer in Köln. Nachdem im Zusam- menhang mit Nachforschungen zum Mordfall Ponto Hinweise auf eine bevorstehende Aktion gegen Schleyer gefunden worden sind, ist für Schleyer die höchste Sicher- heitsstufe („erheblich gefährdet; mit einem Anschlag ist zu rechnen“) angeordnet, weshalb er stets von einem Begleitschutzkommando der Polizei eskortiert wird. 164 Bei dem Überfall nehmen sie Schleyers Fahrzeug-Konvoi. unter starken Beschuss, wobei die vier Begleiter Schleyers, der Fahrer und drei Polizisten, im Kugelhagel

160 Vergl. Peters 1991, S. 220 161 Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe am 20.01.1975 in einem Interview mit dem Spiegel über Haft- bedingungen und politisches Selbstverständnis, zit. nach: Peters 1991, S. 220f 162 Vergl. Aust 1998, S. 469ff 163 RAF zum Anschlag auf die BAW, zit. nach: Peters 1991, S. 237f 164 Vergl. Peters 1991, S. 240

38 sterben. 165 Die EntführerInnen fliehen mit ihrem Opfer und bringen es unbemerkt in eine konspirative Wohnung. Später werden die Wohnungen im In- und Ausland mehrfach gewechselt. 166 Die RAF wendet sich schriftlich an die Bundesregierung, wobei sie die Unterlassung von Fahndungsmaßnahmen verlangt und Verhandlungen über Schleyers Freilassung ankündigt. das Kommando Siegfried Hausner fordert die Freilassung von elf inhaftierten RAF-Mitgliedern. Sie sollen im Austausch gegen Schleyer freigelassen und in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden. Dazu setzt das Kommando ein Ultimatum fest und verlangt, die Kommunikation zwischen RAF und Bundesregierung öffentlich über Presse, Funk und Fernsehen zu führen. 167 Schleyer ist Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und Vorstandsmitglied von Daimler-Benz. Das Kommando wählt ihn vor allem wegen seiner herausragenden Stellung in der bundesdeutschen Wirtschaft aus, nicht zuletzt aber auch aufgrund sei- ner Vita und der Politik, die er in seinen Funktionen betreibt. Für die RAF steht die Person Schleyer als Musterbeispiel für die Kontinuität der Eliten vom Nationalsozia- lismus bis in das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik. 168 1931 war er der Hitlerjugend beigetreten, zu Beginn seines Jurastudiums war er bereits SS- Mitglied und trug das Goldene Ehrenzeichen der „Alten Kämpfer“. 1941 wurde Schleyer Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren und war damit zu- ständig für die Mobilisierung des tschechischen Industrieproletariats für die deutsche Kriegs- wirtschaft. Nach dem Krieg wurde er wegen seiner Führungsaufgaben als SS-Offizier drei Jahre in Gefangenschaft gehalten, fing dann 1951 bei der Daimler Benz AG an und kam dort inner- halb weniger Jahre in den Vorstand. 169 Der breiten Öffentlichkeit wird Schleyer spätestens 1963 bekannt, als er in seiner Funktion als Vorsitzender des Verbandes Württembergisch-Badischer Metallindus- trieller auf einen Streik der Gewerkschaft mit der Aussperrung von 300.000 Arbeite- rInnen reagiert. Er profiliert sich im Laufe seiner Karriere als entschiedener Gegner der paritätischen Mitbestimmung in den Betrieben und wird 1977 im Spiegel als „Boss der Bosse“ tituliert. 170 Auf die Entführung reagierend, verhängt die Bundesregierung sowohl eine allgemei- ne Nachrichtensperre zum Entführungsfall Schleyer, als auch eine Kontaktsperre über

165 Vergl. Boock 2002, S. 27ff 166 Vergl. Boock 2002 167 Vergl. Hoffmann 1997, S. 270f 168 Vergl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit 169 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 36 170 Vergl. Peters 1991, S. 240

39 sämtliche Häftlinge, deren Anklagen oder Verdachtsmomente in irgendeiner Verbin- dung mit § 129a stehen.171 Die gesetzliche Legitimation für die Kontaktsperre wird fast einen Monat später, am 2. Oktober, vom Deutschen Bundestag verabschiedet. 172 Von Anfang an zieht die Bundesregierung die Verhandlungen mit den EntführerInnen in der Hoffnung auf Fahndungserfolge bewusst in die Länge, doch die Verstecke bleiben verborgen. 173 Währenddessen läuft die Fahndung der Polizei auch internatio- nal auf Hochtouren. Eher zufällig wird das RAF-Mitglied Knut Folkerts von der nie- derländischen Polizei festgenommen. Dabei kommt es zur einer Schießerei, bei der ein Polizist von Folkerts getötet wird. 174 Am 13. Oktober - die Schleyer-Entführung dauert nun schon über fünf Wochen – bringt ein vierköpfiges palästinensisches Kommando der „Popular Front for the Libe- ration of Palestine“ (PFLP) eine Urlaubsmaschine der Lufthansa auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt/Main in seine Gewalt. Die TäterInnen bezeichnen sich als „Kommando Matyr Halimeh“ und handeln im Namen einer sich „Struggle Against World Imperialism Organisation“ nennenden Gruppe. Das entführte Flugzeug trägt den Namen Landshut und hat insgesamt 91 Menschen an Bord. 175 Schnell wird eine Verbindung zwischen dieser Aktion und der Schleyer-Entführung deutlich. In der ersten [Forderung] führten sie aus, daß ihre Operation nachdrücklich die Ziele und die Forderungen der Operationen der „Siegfried Hausner Kommandoeinheit der RAF“, die am 5.9.1977 begann, verstärkt. 176 Scheinbar anders als geplant, wird die Aktion von keinem der angesteuerten Länder unterstützt. Während des Irrfluges wird der Flugkapitän der Maschine, Jürgen Schuhmann, von den TerroristInnen erschossen. Nach fünf Tagen landet die Maschi- ne schließlich in Somalia. Mit Erlaubnis der somalischen Regierung stürmt die GSG- 9 in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober auf dem Flughafen Mogadischu die Landshut. Bei dem Zugriff erschießt die Spezialeinheit drei der vier EntführerInnen und befreit alle Geiseln. 177 Am Morgen des 18. Oktober 1977 um 8.58 Uhr, meldet die Deutsche Presseagentur:

171 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 37ff 172 Vergl. Schneider 1987, S. 96f 173 Vergl. Aust 1998, S. 494ff 174 Vergl. Demes 1994, S. 224 175 Vergl. Aust 1998, S. 592ff, Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 86ff 176 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 129 177 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 86ff, 114, 129

40 „die zu lebenslanger freiheitsstrafe verurteilten terroristen andreas baader und gudrun ensslin haben sich am dienstagmorgen in der vollzugsanstalt stuttgart-stammheim das leben genommen. dies teilte das baden-wuertembergische justizministerium mit.“ 178 Auch Raspe stirbt kurze Zeit später an seinen Verletzungen. In der Nacht hatte der Deutschlandfunk über die Befreiung der Geiseln aus der entführten Maschine berich- tet. Wie der Öffentlichkeit später bekannt wird, hatten die Stammheimer RAF- Gefangenen die Möglichkeit, geheim Radio zu hören und sich über ein aus Elektrolei- tungen umfunktioniertes Kommunikationssystem verständigen können. Baader und Raspe sterben durch Schussverletzungen am Kopf, Ensslin hängt tot am Fenstergitter, Möller hat Stichverletzungen in der Herzgegend. Wie die Waffen in das „sicherste Gefängnis der Welt“ gelangen konnten, kann nie vollends ermittelt, die genauen Um- stände der Nacht in Stammheim im Nachhinein nicht vollständig aufgeklärt wer- den. 179 Der Justizminister von Baden-Württemberg Bender übernimmt die Verant- wortung dafür, dass Waffen in die Zellen von Stammheim gelangt sind und tritt zu- rück. 180 Jahre später wird jedoch bekannt, dass einige wenige RAF-Kader in Freiheit über eine geplante Suizid-Aktion der Gefangenen im Falle eines Scheiterns der Be- freiung informiert waren. 181 Am 19. Oktober geht bei der französischen Tageszeitung Liberation ein Kommuni- qué der RAF ein. Darin teilt das Kommando mit, dass es „nach 43 Tagen Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“ hätte. Nach Angaben aus dem Schreiben findet die Polizei eine Leiche im Kofferraum eines PKW im französischen Mulhouse. Schleyer ist durch einen Genickschuss ermordet worden. 182 Die Kontaktsperre für die Gefangenen wird aufgehoben, die Fahndungsmaßnahmen erneut intensiviert. Am 12. November 1977 wird das RAF-Mitglied Ingrid Schubert wie zuvor schon Meinhof und Ensslin erhängt in ihrer Zelle in der JVA München- Stadelheim aufgefunden. 183

178 dpa am 18.10.1977, zit. nach: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 116 179 Vergl. Aust 1998, S. 632ff, 647ff 180 Vergl. Frankfurter Rundschau vom 21.10.1977, S, 1-7 181 „Rosa“, vermutlich Brigitte Mohnhaupt zu einer Gruppe von RAF-Mitgliedern in Bagdad unmittel- bar nach der ersten Todesmeldung aus Stammheim in den Nachrichten der Deutschen Welle : „Könnt ihr die Stammheimer wirklich nur als Opfer sehen? Das war eine Aktion, habt ihr verstanden: eine Ak- tion! Ihr könnt aufhören zu flennen, ihr Arschlöcher!“ Boock 2002, S. 183, Vergl. Boock 2002, S. 183f 182 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 120f, Vergl. Aust 1998, S. 643ff 183 Vergl. Demes 1994, S. 225

41 3.2 Staatliche Reaktionen auf die militärische Provokation im Innern

Der Anschlag auf den Arbeitgeberchef und seine Begleiter hat die politische Landschaft grund- legend verändert. In Zukunft wird der Einwand wenig zählen, daß die Wucht der Abwehr gefäl- ligst im Einklang mit der zahlenmäßigen Größenordnung terroristischer „Kommandos“ zu ste- hen habe, daß der Staat nicht in Panik verfallen dürfe, weil der Rechtsstaat nicht von Mördern in die Knie zu zwingen sei. 184

Die erneute Offensive der RAF, einer bewaffnet agierenden Gruppe innerhalb eines funktionsfähigen demokratischen Landes, ist Anlass für vielfältige Reaktionen des Staates. Die Angriffe auf „Repräsentanten des Systems“ veranlassen die Gesetzgebe- rInnen zu strikten Maßnahmen. Die Terrorakte heizen das innenpolitische Klima auf, Rufe nach schärferen Sanktionen gegen agierende und agitierte Mitglieder der RAF werden laut. Die legislativen Reaktionen des Staates in Form von Gesetzesänderun- gen werden von PolitikerInnen als notwendig angesehen, um weitere terroristische Straftaten zu verhindern. KritikerInnen fürchten um den Bestand des Rechtsstaates und der Demokratie. 185 Daß der Gesetzgeber nach Terroranschlägen in einen solchen Zugzwang geraten kann, ist ver- ständlich. Aber die einzige Antwort auf diese Herausforderung kann nicht sein, den Gesetzes- motor ständig von neuem in Gang zu setzen, ohne Rücksicht darauf, ob neue, schärfere Bedin- gungen überhaupt notwendig sind. 186 Die Herausforderung der RAF und die sich daraus ergebenden Konsequenzen umfas- sen nicht nur die Legislative, sondern auch die Exekutive des Staates. Das deviante Verhalten der RAF-Mitglieder wird nach den Festnahmen mit restriktiven Haftbedin- gungen sanktioniert. Diese Maßnahmen haben sowohl Konsequenzen für die Gesetz- gebung - wenn sie wie im Falle der Kontaktsperre die Maßnahme der Gesetzesände- rung vorausgeht - als auch für die unmittelbar davon betroffenen Personen, zum Bei- spiel für die inhaftierten mutmaßlichen oder erwiesenen RAF-Mitglieder. 187

184 Roderich Reifenrath in der Frankfurter Rundschau vom 08.09.1977, zit. nach: Bot- zat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 35 185 Vergl. Demes 1994, S. 64 186 Vinke/Witt 1978, S. 8 187 Vergl. Demes 1994, S. 64

42 3.2.1 Die Krisenstäbe

Breloer: „Die Terroristen haben dem Staat den Krieg erklärt…“ Zimmermann: „…und wir haben ihn angenommen. Wir mussten ihn annehmen. Wir hat- ten nur die Wahl der Kapitulation oder der Annahme. […] Der Leutnant Zimmermann, der Oberstleutnant Schmidt und der Oberstleutnant Strauß wussten, was Krieg war…“ 188

Für die politischen Entscheidungen im Entführungsfall Schleyer und später auch der Landshut-Entführung werden von der Regierung in Bonn Krisenstäbe eingerichtet, um die innenpolitische Krise dieses Herbstes 1977 zu lösen. „Wir wussten, dass das wohl der gefährlichste Angriff war, den es bisher überhaupt gegeben hat. Aber wir mussten darum bemüht sein, so schnell wie möglich dafür Sorge zu tragen, dass die Entscheidungen gefällt werden, die in einer solchen Situation gefällt werden müssen.“ 189 Die in Bonn gebildeten Krisenstäbe mit Beteiligung aller politischen Führungsperso- nen verfügen weder über einen offiziellen Verfassungsauftrag, noch sind sie zu ir- gendwelchen Entscheidungen befugt.190 Der Auftrag der Krisenstäbe, die bereits kurz nach Einberufung dieser Gremien feststeht, formuliert Bundeskanzler Schmidt intern in folgenden Worten: „Die Geisel Hanns Martin Schleyer lebend zu befreien, die Entführer zu ergreifen und vor Ge- richt zu stellen, die Handlungsfähigkeit des Staates und das Vertrauen in ihn nicht zu gefährden; das bedeutet auch: die Gefangenen, deren Freilassung erpresst werden soll, nicht frei- zugeben.“ 191 Während in der Öffentlichkeit immer noch der Eindruck erweckt wird, dass es zu ei- nem Austausch kommen könnte, hat man in Bonn bereits am 6. September entschie- den, die Gefangenen nicht freizulassen. Bei dieser Entscheidung ging es nicht um das Leben Schleyers, mit dessen Schutz die Nachrich- tensperre immer wieder begründet worden war, sondern um Staatsräson und Ansehen der Bun- desregierung im In- und Ausland. 192 Die als „Großer Krisenstab“ bezeichnete Runde unter Leitung von Bundeskanzler Schmidt umfasst die Vorsitzenden der 1977 im Bundestag vertretenen Parteien,

188 Friedrich Zimmermann, 1977 als Vorsitzender der CSU-Landesgruppe Mitglied des Großen Krisenstabes im Gespräch mit Heinrich Breloer, zit. nach: TV-Dokumentation „Todesspiel“ 1997 189 Hans-Jürgen Wischnewski, 1977 als Staatsminister Mitglied des Kleinen und Großen Krisenstabes, im Gespräch mit Heinrich Breloer, zit. nach: TV-Dokumentation „Todesspiel“ 1997 190 Vergl. Aust 1998, S. 327 191 Bundeskanzler Schmidt 1977, zit. nach: Aust 1998, S. 501 Öffentlich gemacht wird diese Prämisse am 20.10.1977, vorgetragen von Bundeskanzler Schmidt bei seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag, in: Presse- und Informationsamt der Bun- desregierung 1977, S. 82ff* (Anlage 22) 192 Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 61

43 Brandt (SPD), Kohl (CDU) und Strauß (CSU) sowie die Fraktionsvorsitzenden Weh- ner (SPD) und Mischnik (FDP). Der FDP-Vorsitzende Genscher nimmt in seiner Ei- genschaft als Regierungsmitglied teil. Zimmermann ist als Vorsitzender der CSU- Landesgruppe im Bundestag Mitglied des Krisenstabes, ebenso die Regierungschefs der vier Bundesländer, in denen RAF-Häftlinge einsitzen, deren Freilassung erpresst werden soll: die Ministerpräsidenten Filbinger aus Baden-Württemberg, Goppel aus Bayern, Kühn aus Nordrhein-Westfalen und der Erste Bürgermeister von Hamburg, Klose. An einigen Sitzungen ist auch Joachim Zahn, Vorsitzender der Daimler-Benz AG, beteiligt. Im Großen Krisenstab vertreten sind die Mitglieder des „Kleinen Kri- senstabes“ oder des „Kleine Lage“ genannten engsten Beratungsstabes des Bundes- kanzlers: Innenminister Maihofer, Justizminister Vogel, Staatsminister Wischnewski, Staatssekretär im Bundeskanzleramt Schüler und Regierungssprecher Bölling. Schließlich gehören zum Kleinen wie auch zum Großen Krisenstab BKA-Präsident Herold und GBA Rebmann. 193 Die Kleine Lage tritt in der Regel ein- bis zweimal am Tag, „zu besonderen Anlässen auch häufiger“ zusammen. In „kritischen Phasen“ tagt sie fortlaufend. Der Große Krisenstab tritt in den ersten Tagen nach der Entführung Schleyers mehrfach, später regelmäßig ein- bis zweimal in der Woche zusammen.194 Bundeskanzler Schmidt verfolgt mit dem politischen Beratungskreis des Großen Kri- senstabes zwei Ziele: zum einen will er die Meinungen der Betreffenden hören, zum anderen sie mit in den Entscheidungsprozess einbinden, um sich so in den Entschei- dungen in dieser diffizilen Situation auf den Konsens einer möglichst breiten Basis berufen zu können. 195 Das Problem der mangelnden Kontrolle eines Gremiums in Ausnahmesituationen, wie sie der Krisenstab darstellt, wird von dem Staatsrechtler Kirchhof durch die Einbindung der Opposition als gelöst betrachtet. In einer akuten Gefahrenlage müsse die Machtbefugnis gebündelt werden, weil effektive Abhilfe eine Machtkonzentration voraussetze. 196 Die Beratungskreise hatten die Aufgabe, den Austausch von Informationen und Bewertungen zu gewährleisten, um die Entscheidungen der jeweils Verantwortlichen aufeinander abzustimmen

193 Vergl. Aust 1998, S. 501 194 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 19f 195 Vergl. Peters 1991, S. 249 196 Vergl. Kirchhof 1975, S. 96f, 100 „In der Ausnahmesituation läßt sich die Idee der Gewaltenteilung […] am ehesten verwirklichen, wenn ein ‚Krisenstab’ von wenigen Regierungsmitgliedern unter verantwortlicher Mitwirkung der parlamen- tarischen Oppositionsführer gebildet wird.“ Kirchhof 1975, S. 100

44 und die Urteile von Persönlichkeiten einzubeziehen, deren Rat für die Entscheidungsfindung wichtig war. 197 Ganz anders bewerten dies die Autoren Tolmein / zum Winkel: Die Gewaltenteilung wird für Wochen aufgehoben: Legislative, Exekutive und Justiz werden zu einem einzigen Herrschaftskomplex verschmolzen. 198 Unter der Rubrik „exotische Lösungen“ werden die Mitglieder des Krisenstabes er- muntert, selbst für einen demokratischen Rechtsstaat illegitim erscheinende Ideen zu äußern. Ein […] Vorschlag laut Sitzungsprotokoll: „Der Bundestag ändert unverzüglich Artikel 102 des Grundgesetzes, der lautet: ‚Die Todesstrafe ist abgeschafft.’ Statt dessen können nach Grundge- setzänderung solche Personen erschossen werden, die von Terroristen durch menschenerpresse- rische Geiselnahme befreit werden sollen. Durch höchstrichterlichen Spruch wird das Todesur- teil gefällt. Keine Rechtsmittel möglich.“ 199 Solche „exotischen Ideen“ aus den Krisenstäben sind in nicht geringer Anzahl über- liefert. Eine Grundgesetzänderung, wie im obigen Vorschlag zitiert, wird in diesen Tagen zwar häufig diskutiert 200 , jedoch nicht vorgenommen. Die Pressestelle der Bundesregierung beschreibt die Abläufe der Besprechungen der überparteilichen Runde zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung: a) Berichte zur Lage, Kräftelage bei den Sicherheitsorganen, Justizlage, Auswärtige Lage, Medienlage, Stand des Nachrichtenaustauschs mit den Entführern b) Beurteilung der Lage c) Entscheidungen 201 Die Mitglieder der Krisenstäbe sind sich einig, die inhaftierten TerroristInnen nicht frei zu geben, da befürchtet wird, sie könnten in die BRD zurückkehren, um hier er- neut Straftaten zu begehen, wie Beispiele von aus der Lorenz-Entführung freigepress- ten Gefangenen gezeigt hatten. 202 „Mit dem Eingehen auf die Forderungen der Entführer ist deshalb das Leben weiterer Unbetei- ligter in höchstem Maße gefährdet. […] Wird den Forderungen der Terroristen nachgegeben, so wird damit der abwehrbereite Staat in seinen ureigensten Funktionen auf das empfindlichste ge- lähmt.“ 203 Die Bundesregierung verfügt zu Beginn der Beratungen des Großen Krisenstabes als eine der ersten Maßnahmen, dass alle RAF-Gefangenen in den Haftanstalten unter-

197 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 20 198 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 38 199 Aus dem Sitzungsprotokoll der Kleinen Lage, zit. nach: Peters 1991, S. 257 200 Vergl. Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit 201 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 20 202 Vergl. Peters 1991, S. 262f 203 Justiz-Ministerialbeamter Bahlmann, zit. nach: Peters 1991, S. 263

45 einander und nach außen hin vollkommen isoliert werden. Parallel zu dieser Kontakt- sperre entscheidet die Regierung, eine Nachrichtensperre zu verhängen.

3.2.2 Die Nachrichtensperre

Die Nachrichtensperre setzt die Bundesregierung der Forderung der EntführerInnen entgegen, die Verhandlungen über den Gefangenenaustausch via Medien öffentlich zu führen. Dies soll mit allen Mitteln vermieden werden. 204 Das Bestreben der Entführer, sich zur eigenen Information und zur Durchsetzung ihrer Forde- rungen der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens zu bedienen, machte ständig neue infor- mationspolitische Entscheidungen erforderlich. 205 Zwar wird der formelle Beschluss den Medien erst am 8. September mitgeteilt, aber schon in den Tagen zuvor sind sie kaum über die sich abzeichnenden Entwicklungen informiert worden. Die Medien werden gebeten, „Informationen nicht ohne Abspra- che mit der Bundesregierung zu veröffentlichen“. 206 Der Große und der Kleine Krisenstab praktizieren Geheimpolitik. […] Die gewählte Regierung betont zwar immer wieder, das Volk auf ihrer Seite zu wissen, schaltet jedoch die Öffentlichkeit als Kontrollinstanz aus. 207 Die Nachrichtensperre ist für die Bundesregierung ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Politik. Und die gesamte Presse trägt diese Politik mit […].208 Am 8. Oktober reflektiert die französische Zeitung Libération , die während des Deut- schen Herbstes mehrmals als Adressat von RAF-Kommuniqués an die Bundesregie- rung gewählt worden ist, ihre Rolle als zwischengeschaltete Instanz, wobei sie Zensur von bundesdeutscher Regierungsseite kritisiert: Diese Situation, die die Information in die Abhängigkeit der politischen Macht bringt, untersagt es der Presse jenseits des Rheins, ihre Rolle zu spielen. Daher haben wir uns völlig frei zur Ver- öffentlichung dieser Dokumente bezüglich einer Sache entschlossen, in der die Geheimhaltung einem unblutigen Ausgang nur schaden kann. Im Gegenteil, die Verschwiegenheit ist hier wie anderswo die Waffe all jener, die eine Gewaltlösung wünschen. 209

204 „Da im Krisenstab wohl schnell begriffen wurde, daß die Entführer die in den letzten Tagen prakti- zierte Hinhaltetaktik nicht länger mitmachen, sondern sich jetzt direkt an die Presse wenden würden, wandte sich Regierungssprecher Klaus Bölling am 8.9. […] an die Chefredakteure von Presse, Rund- funk, Fernsehen und Agenturen.“ Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 51 205 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 20 206 Vergl. taz am 08.10.1982, zit. nach: taz -Journal 1997, S. 20 207 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 37f 208 Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 56 209 Libération am 08.10.1977, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 71f

46 3.2.3 Die Kontaktsperre

Die Kontaktsperre wird als „strafprozessuale Eilmaßnahme“ erlassen, um Kontakte jener Häftlinge, gegen die die Bundesanwaltschaft „wegen des Verdachts terroristi- scher Umtriebe Verfahren führt oder geführt hat […] untereinander und zur Außen- welt nachhaltig zu unterbinden“. 210 Für eine solche Kontaktsperre gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Rechtsgrundlage, weshalb der GBA die Maßnahme mit dem § 34 StGB, dem rechtfertigenden Notstand, begründet. Er erlaubt Gesetzesübertretungen dann, wenn dadurch „höhere Rechtsgüter“ geschützt werden. Nach einer nach der Wertorientierung des Grundgesetzes orientierten Güterabwägung darf bei gegenwärtiger Gefahr für ein höherwertiges Rechtsgut ein geringerwertiges Rechtsgut verletzt werden, wenn dies erforderlich ist, um das höherwertige Rechtsgut zu schützen. 211 Demgegenüber stimmen einige JuristInnen zu diesem Zeitpunkt in der Meinung über- ein, dass „nur der Bürger, nicht aber der Staat sich auf den rechtfertigenden Notstand berufen“ könne. 212 Das Kontaktsperre-Gesetz ist nach den Worten des Frankfurter Strafverteidigers Erich Schmidt- Leichner ein „ausgesprochenes Notstandsgesetz“. Es bedeutet einen schweren Eingriff der Exe- kutive zu Lasten der Judikative, der Dritten Gewalt. In der Wochenzeitung Die Zeit schrieb Hans Schueler am 7. Oktober 1977 von einem Gewaltakt, „der sowohl nach seinem Inhalt wie nach der Art seines Zustandekommens in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig ist“. Für den Anwalt, der sich zur Verteidigung von Menschen bereitfände, die beschuldigt würden, einer terroristischen Vereinigung anzugehören, sei das Gesetz eine Diskriminierung. „Denn es bedarf keines individuellen Verdachts mehr gegen ihn. Das Gesetz hat ihn ein für alle mal zum Ver- dächtigen per Mandat erklärt.“ 213 Die Isolation von Untersuchungs- und Strafgefangenen wird perfektioniert. Der voll- ständige Entzug des Rechtsbeistandes bedeutet die „vollkommene Inklusion des Ge- fangenen in den Bereich staatlicher Obhut“. So finden z.B. mündliche Haftprüfungs- termine ohne VerteidigerIn statt, bei der Verkündigung des Haftbefehls hat der/die RA kein Recht auf Anwesenheit, Vernehmungen und Ermittlungshandlungen werden nur durchgeführt, wenn der/die RA auf seine/ihre Anwesenheit verzichtet. 214 Bereits kurz nach dem Attentat auf GBA Buback wird die Kontaktsperre im Hochsi- cherheitstrakt der JVA Stammheim auf Anweisung der BAW für drei Tage prakti-

210 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 9*ff (Anlage 6) 211 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 9* (Anlage 6) 212 Vergl. Aust 1998, S. 553 213 Vinke/Witt 1978, S. 268 214 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 234

47 ziert. Die Anordnungen werden mit „Sicherheitsbelangen“ gerechtfertigt. 215 Im Herbst 1977 bedeutet die Kontaktsperre für über 100 Gefangene in JVAs im ganzen Bundesgebiet und Westberlin eine Verschärfung der ohnehin bestehenden strengen Sonderhaftbedingungen: keinen Umschluss mehr, die Fernseh- und Radiogeräte wer- den konfisziert, Zeitungen einbehalten, Besuche nicht mehr gestattet und die Vertei- digerInnen dürfen keinen Kontakt mehr mit ihren MandantInnen aufnehmen. 216 Die Verteidigung wird deshalb mit eingeschlossen, da sie „bewusst oder unbewusst zur Unterstützung terroristischer Gewalttäter oder zur Förderung von Terrorakten beitra- gen“ könne. 217 Dies galt auch in Ansehung des schriftlichen und mündlichen Verkehrs der Gefangenen mit ih- ren Verteidigern, da überzeugende Gründe für die Annahme sprachen, daß der Informations- fluss, der die unter dem Verdacht terroristischer Gewalttaten Inhaftierten untereinander und mit den noch in Freiheit befindlichen Angehörigen terroristischer Gruppen verbindet, auch über Verteidiger stattgefunden hat. Deshalb hatte auch das in der Strafprozessordnung gesicherte Recht jedes Beschuldigten auf freien Verkehr mit dem Verteidiger hinter den Maßnahmen der Behörden zur Rettung von Leben zurückzutreten. 218 Um die Kontaktsperre zu wahren und Sprechkontakte zwischen den RAF- Gefangenen zu unterbinden, werden in der JVA Stammheim täglich zwischen 17 Uhr und 7.30 Uhr sogenannte „Kontaktsperrepolster“, mit Schaumgummi gepolsterte Spanplatten, vor den Zellentüren befestigt. Tagsüber werden die Gänge mit Musik beschallt. 219 Tolmein / zum Winkel beschreiben eine heikle Situation um die Anwendung des Kontaktsperregesetzes. Am 7. September verfügt ein Ermittlungsrichter des BGH, dass die Kontaktsperre nicht für VerteidigerInnenbesuche gilt. Doch die Gefängnislei- tungen entscheiden ihrerseits, sich nicht an diese Anweisung gebunden zu fühlen. 220 Unterstützt werden sie darin von den jeweils zuständigen Landesjustizministern. 221

215 Vergl. Demes 1994, S. 93 216 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 37 217 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 10* (Anlage 6) 218 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 9* (Anlage 6) 219 Vergl. Aust 1998, S. 536, Vergl. Peters 1991, S. 266f 220 „Der Rechtsstaat musste der Macht der Exekutive weichen. Als ich im September 1977 meinen Mandanten Norbert Köcher in der Haftanstalt Frankenthal besuchen wollte, dem auch der Staatsanwalt nicht vorwarf, mit der RAF zu tun zu haben, um einen bevorstehenden Haftprüfungstermin vorzu- besprechen, habe ich vorher beim zuständigen Richter beim Bundesgerichtshof angerufen. Dieser bes- tätigte mir das Recht, meinen Mandanten im Gefängnis zu besuchen, wies aber auf die Kontaktsperre hin. Als ich den Richter aufforderte, mir und meinem Mandanten zu unserem Recht zu verhelfen, frag- te er hilflos und resignierend nach, wie ich mir das vorstellen würde. Ob er mir vielleicht durch ein paar Justizwachtmeister den Weg freikämpfen lassen solle. Der Besuch musste unterbleiben. Eine Vorbereitung der Verteidigung war nicht möglich.“ Ströbele 1997, S. 63 221 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 47f

48 Auch andere Gerichte erteilen Ausnahmegenehmigungen für VerteidigerInnen, trotz- dem lässt man diese nicht in die Haftanstalten. Dass sich die Exekutive über Ent- scheidungen der Gerichte hinwegsetzt, bedeutet einen klaren Rechtsbruch. 222 Kritisch bemerken Tolmein / zum Winkel dazu: Nachdem die Legislative und Exekutive vereinigt worden sind, ist damit der Schritt getan, die dritte Gewalt im Staat, die Judikative, auszuschalten. […] Ein „Kontaktsperregesetz“ soll her. 223 Der Bundestag verabschiedet am 1. Oktober 1977 mit großer Mehrheit das „Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz“ (§§ 31-38). Es tritt umgehend in Kraft und legitimiert so nachträglich längst praktizierte Maß- nahmen. 224 In der Dokumentation des Presse- und Informationsamtes der Bundesre- gierung zu den „Entführungsfällen Schleyer und Landshut“ heißt es, die Kontaktsper- re sei eine sorgfältig abgewogene Maßnahme, die „weder überhastet, noch ohne gründliche Vorbereitung getroffen worden“ sei. 225 Vorüberlegungen darüber, wie Kontakte von Gefangenen untereinander und mit der Außenwelt in extremen Situati- onen auf rechtsstaatliche Weise und konsequent unterbunden werden könnten, sind im Bundesjustizministerium schon vor der Entführung von Hanns Martin Schleyer angestellt worden. 226 Zum Kontaktsperregesetz stellt Bundesjustizminister Vogel fest: Zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben von Hanns Martin Schleyer ist es geboten, bei den […] Gefangenen jedwede Verbindung untereinander und mit der Außenwelt, einschließlich des schriftlichen und mündlichen Verkehrs mit dem Verteidiger zu unterbrechen. […] Das gleiche gilt für diejenigen, die während der Geltungsdauer der Feststellung in Haft ge- bracht werden aufgrund eines Haftbefehls, der Straftaten nach § 129a zum Gegenstand hat oder

222 Vergl. Aust 1998, S. 553 „Die Judikative war durch die Verhängung des Notstandes durch die Exekutive machtlos.“ Demes 1994, S. 95 223 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 48 224 Das Gesetz wird mit vier Gegenstimmen und 17 Enthaltungen verabschiedet. Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 49 MdB Manfred Coppik (SPD) am 01.10.1977 im Bundestag zu seiner Ablehnung des Kontaktsperrege- setzes: „Nach dem vorliegenden Gesetzesentwurf sollen bei terroristischen Anschlägen die Gefange- nen […] von jeder Verbindung untereinander und mit der Außenwelt isoliert werden. Das hört sich zu- nächst unproblematisch an. Die Probleme werden aber besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß diese Regelung auch für die nach einem solchen Anschlag neu Verhafteten gilt. Und wer da auch noch sagt: ‚Was geht mich das an? Ich habe nichts mit Terroristen zu tun!’, dem muß deutlich gesagt wer- den, daß nach dem neuen Gesetz niemand, und sei er noch so unschuldig, davor sicher sein kann, auf- grund einer Denunziation verhaftet zu werden und für Wochen und Monate ohne jeden Kontakt zu ei- nem Rechtsanwalt (Pfui-Rufe bei der CDU/CSU) oder auch nur zu seinen Familienangehörigen in ei- nem Gefängnis zu verschwinden. […] Ich halte das unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für uner- träglich.“ Vinke/Witt 1978, S. 284 225 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 10* (Anlage 6) 226 Vergl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 10* (Anlage 6)

49 solche Taten, bei denen der dringende Verdacht besteht, daß sie im Zusammenhang mit einer Tat nach § 129a begangen worden sind. 227 Die „Totalisolation“ von ca. 100 Häftlingen ist mit dem Gesetz legalisiert, lediglich Angehörige von Staatsschutz und Justizverwaltung haben in dieser Zeit Kontakt zu den Gefangenen. Die VerteidigerInnen der betroffenen Häftlinge protestieren. 228 De- mes belegt mit einem Beispiel eines offensichtlich ungerechtfertigt in die Isolations- praxis aufgenommenen Gefangenen, dass das „gesetzliche Verankern der Möglich- keit, eine Kontaktsperre zwischen den Mitgliedern der RAF bzw. auch zwischen sich ihnen gegenüber solidarisch verhaltenden Personen zu verhängen, zeigt, inwieweit die Maßnahmen mit isolierendem Charakter noch ausgedehnt bzw. verschärft werden können, wenn es der Bundesanwaltschaft als der Situation angemessen“ erscheint.229 Die Kontaktsperre wird am 20. Oktober 1977 aufgehoben. 230 Demes bescheinigt der Regierung und der Exekutive im Falle der Schleyer- Entführung Handlungsunfähigkeit. Der Fahndungsapparat ist zwar „in immense Grö- ßenordnungen ausgeweitet“ worden, „aber zur Zeit der siebenwöchigen Entführung konnten die Verantwortlichen nicht festgenommen werden“. Die Sanktionen der Exe- kutive haben sich also nur auf die inhaftierten RAF-Mitglieder reduziert. Zu diesem Zeitpunkt kommt der Begriff der „Gegengeiselnahme“ auf. 231 Demes bilanziert, dass das Kontaktsperregesetz nicht den intendierten Erfolg gezeigt hat, das Leben der Geisel Schleyer zu retten. Im Kontext der Diskussion um die Rechtfertigung der Kontaktsperre (um Befehlsketten zwischen inhaftierter und in

227 Feststellung von Minister Vogel am 02.10.1977, zit. nach: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 11* (Anlage 6) 228 „Für den Gefangenen stellt ein Abbruch jedweder Verbindungen mit der Außenwelt eine Art kol- lektive ‚Bestrafung’ dar, die völlig unabhängig ist von seinem individuellen Verhalten. Der Gefangene wird verantwortlich gemacht für das Handeln anderer draußen. Seine ohnehin zu geringen sozialen Kontakte werden restlos dezimiert (auch z.B. die Eltern dürfen weder schreiben noch besuchen, ob- wohl beides kontrolliert würde). Er ist ohne rechtlichen Beistand eines Verteidigers; er ist – was sonst nur bei der Militärgerichtsbarkeit üblich ist – dem Staat unkontrollierbar ausgeliefert. Für den Vertei- diger bedeutet das Besuchsverbot die Unterstellung, er würde bei einem Verteidigerbesuch Leib oder Leben von irgendjemand unmittelbar gefährden. Statt der Integrität fingiert das Gesetz die Komplizen- schaft, und zwar mit irgendwelchen Tätern (z.B. den Schleyer-Entführern); dabei ist die seit 5 Jahren behauptete Konspiration zwischen Verteidigern und Gefangenen in keinem Fall nachgewiesen, ge- schweige denn, eine Tatbeteiligung eines Verteidigers an einer Entführung o.ä.“ Erklärung von 14 RA, deren MandantInnen gemäß § 129a StGB angeklagt sind, abgedruckt in der Ge- fangenenzeitung „Gegenknast“ Nr.7 1977, ohne Seitenangaben, zit. nach: Demes 1994, S. 98 229 Vergl. Demes 1994, S. 97f 230 Vergl. Schneider 1987, S. 98 231 Vergl. Demes 1994, S. 98f „Das Kontaktsperregesetz ist nicht bloß ein Kontaktsperregesetz, auch nicht bloß ein Isolationsgesetz; es ist ein Gesetz zur Gegengeiselnahme. […] Das Thema [der Gegengeiselnahme] beschäftigt auch die Krisenstäbe: ‚alle nur denkbaren Möglichkeiten’ sollen dort diskutiert worden sein, um die Schleyer- Entführung zu einem Ende zu bringen, ‚ohne Rücksicht selbst auf das Grundgesetz’.“ Tolmein/zum Winkel 1987, S. 50ff

50 Freiheit befindlicher RAF zu unterbinden) verweist Demes auf ein Interview, das ein italienischer Fernsehsender im Frühjahr 1978 mit Justizminister Vogel führt. Dabei antwortet dieser auf die Frage nach einem möglichen direkten Kontakt zwischen den EntführerInnen und den Inhaftierten 232 : „Nein. Das haben wir seinerzeit schon nicht angenommen, und es hat sich auch keine Bestäti- gung dafür gefunden […] eine Planung oder überhaupt eine Steuerung im Detail aus der Zelle heraus, dafür gab es keine Beweise.“ 233 Aufgrund des Widerspruchs zu vorherigen Aussagen Vogels sieht Demes ihre These belegt, dass die Kontaktsperre vor allem die Funktion gehabt habe, Kontakte der Gruppenmitglieder untereinander zu unterbinden, die Maßnahme also der Sanktion und nicht der Prävention gedient habe. Eine „potentielle Möglichkeit der Interaktion zwischen ‚drinnen’ und ‚draußen’“ tritt damit laut Demes „in den Hintergrund und wird relativiert und gegenstandslos“. 234

3.2.4 Fahndung und Strafverfolgungsmaßnahmen

Die Polizei braucht Befugnisse losgelöst von Strafverfolgungsvorschriften und justiziellen Ent- scheidungen… Heute werden polizeiliche Maßnahmen allzu gern unter rechtlichen Gesichts- punkten problematisiert. Die Frage, was sachlich notwendig und richtig ist, wird darüber ver- gessen… Die Polizei muß sich dagegen im Höchstmaß ‚unberechenbar’ machen… Wir brau- chen eine der Kampfweise der Terroristen angepaßte Technik. 235

Nach den Aktionen, Attentaten und Morden der RAF-Kommandos kommt es stets zu umfangreichen Fahndungsmaßnahmen, die bei jeder Aktion aufs Neue gesteigert werden. Dabei wird nicht nur eine allgemeine Fahndung betrieben, sondern gezielt die zu diesem Zeitpunkt unter Generalverdacht stehende (keinesfalls homogene) Lin- ke mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln „überprüft“, auch wenn sie sich den Zielen der RAF gegenüber ablehnend verhält. 236 Zur Ringfahndung nach dem Anschlag auf Buback wird der Einsatz von insgesamt ca. 40.000 Polizisten zentral vom BKA geleitet. Auch in diesem Fall gerät besonders die legale Linke ins Visier der Fahnder. Hunderte Verdächtige werden in einer Groß-

232 Vergl. Demes 1994, S. 99 233 Justizminister Vogel 1978, zit. nach: Demes 1994, S. 99 234 Vergl. Demes 1994, S. 99 235 G. Wolf in: Die Polizei 6/78, zit. nach: Horn 1982, S. 81 236 Vergl. Hoffmann 1997, S. 180

51 aktion auf ihre Alibis hin überprüft, Jugendzentren und linke Buchläden werden über- fallartig durchsucht. 237 Als in einem Wald bei Ludwigsburg ein „verdächtiges Fahr- zeug“ gemeldet wird, werden zwischen ein und vier Uhr nachts zehn Wohnungen der Ortschaft Sachsenheim durch insgesamt 250 MEK-Polizisten erstürmt – zum Schre- cken der ahnungslos schlafenden BewohnerInnen. Am nächsten Tag fahren Lautspre- cherwagen durch den Landkreis und fordern die Bevölkerung zur Mithilfe auf, eine als „Volksfahndung“ bezeichnete Aktion, bei der man die „vorbehaltlose Unterstüt- zung der Polizei durch jeden Bürger“ erwartet. Alles „Auffällige“ soll gemeldet wer- den. Die Fahndungsaktion bleibt erfolglos. 238 Auch unmittelbar nach der Entführung Schleyers und der Ermordung seiner Begleiter am 5. September 1977 beginnt eine intensive Fahndung nach den TäterInnen. Doch diese entziehen sich den unmittelbaren Fahndungsmaßnahmen und tauchen mit ihrem Opfer unbemerkt in eigens angemieteten Wohnungen unter.239 Die Bundesregierung beschließt, trotz Forderung der RAF, die öffentlichen Fahndungsmaßnahmen zu un- terlassen, die mittlerweile groß angelaufene Fahndung weiter zu betreiben. Im ganzen Bundesgebiet werden Straßensperren errichtet und zahllose Verkehrskontrollen durchgeführt. Im Kölner Uni-Center, in dem über 2000 Menschen leben, werden 951 Wohnungen durchsucht. Bei Abwesenheit der MieterInnen dringen die Beamten des angerückten Polizei-Großaufgebots mit Generalschlüsseln in die Wohnungen ein. In dem 43stöckigen Gebäude stoßen die Fahnder tatsächlich auf eine konspirative Woh- nung der RAF, die jedoch längst geräumt worden ist.240 „Es waren nicht nur Polizeidienststellen betroffen. Es war das Bundesamt für Verfassungsschutz dabei, es war der Militärische Abschirmdienst, es war die Bundeswehr, es waren Beamte der Post, die sich täglich mit dem Fall befassten. Man kann sich die Dimensionen gar nicht vorstel- len.“241 GBA Rebmann ordnet eine gründliche Überprüfung der Zellen inhaftierter RAF- Mitglieder an. Diese findet noch in der Nacht auf den 6. September statt. 242 Von die- sem Zeitpunkt an werden diese Zellen täglich (und manchmal auch Nachts) während der sechswöchigen Kontaktsperre intensiv durchsucht. Welchen grotesken Charakter diese Aktionen haben können, belegt folgendes Protokoll einer Zellendurchsuchung:

237 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 21 238 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 21f 239 Vergl. Boock 2002, S. 35ff, 42ff 240 Vergl. Peters 1991, S. 257f 241 Wolfgang Steinke, 1977 BKA-Beamter im Gespräch mit Heinrich Breloer, zit. nach: TV- Dokumentation „Todesspiel“ 1997 242 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 36

52 „Die Gegenstände in den Zellen sind derart gründlich durchsucht worden, daß ein Durchsu- chungsbeamter vorschlägt, die vorhandenen Eier aufzuschlagen, um nach verborgenen Schrift- stücken zu suchen. Dabei werden keine Entdeckungen gemacht.“ 243 In der Nacht zum 6. September wird auch erstmals die Anwaltskanzlei Croissant / Müller / Newerla in Stuttgart durchsucht, was bis zum Ende des Geiseldramas noch mehrmals geschieht. Ihnen wird vorgeworfen, die RAF unterstützt zu haben: „Das Büro war […] Bindeglied zwischen den inhaftierten und den in Freiheit befindlichen Ter- roristen, Anlaufstelle für die Unterstützer und die Sympathisanten, Mitgliederreservoir für die Illegalen und Agitationszentrale.“244 Ende September bzw. Anfang Oktober werden Croissant in Paris und Müller in Stutt- gart festgenommen, nachdem zuvor bereits Newerla verhaftet worden war. 245

Sind seit Beginn der Schleyer-Entführung schon tausende von PolizeibeamtInnen mehr oder weniger verdeckt im Einsatz, um das Leben der Geisel nicht unnötig zu ge- fährden, so wird bereits wenige Stunden nach der Entdeckung von Schleyers Leiche die „bisher größte Fahndungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik“ ausge- löst. 246 Für Tolmein / zum Winkel ist die öffentliche Fahndung „weniger eine krimi- naltechnische Aktion als eine politische Demonstration“. 247 Die Polizei in der Bundesrepublik hat auf Hunderttausenden von Flugblättern, auf Plakaten, ü- ber Rundfunkanstalten und Zeitungen sowie noch in der Nacht mit Lautsprecherdurchsagen die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Fahndung nach den 16 Terroristen aufgefordert, die auch für die Morde an Buback und Ponto in Frage kommen. Über die gesamte Nacht hinweg verlas der Rundfunk immer wieder den Fahndungsaufruf mit der genauen Personenbeschreibung der ge- suchten Terroristen. […] Mehrere Stunden lang wurde am Donnerstag überall in der Bundesre- publik von Tausenden von Polizeibeamten der Verkehr gestoppt, um Wagen und Insassen zu überprüfen. In den einzelnen Bundesländern wurden dabei […] nahezu alle zur Verfügung ste- henden Beamten eingesetzt. […] Mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte durchsuchten die Autos […]. Neben der Durchsuchung von Autos nach Waffen wurden überall scharfe Personen- kontrollen durchgeführt. 248 Seit 1970 wird der Ausbau des BKA mit aufwendigen finanziellen, sachlichen und personellen Mitteln vorangetrieben. 249 Seit 1972 wird das BfV zur Terrorismus-

243 Protokoll einer Zellendurchsuchung, zit. nach: Demes 1994, S. 97 244 Vorwurf der BAW an die Kanzlei Croissant/Müller/Newerla, zit. nach: Aust 1998, S. 440 245 Vergl. Aust 1998, S. 440, 575 246 Vergl. Frankfurter Rundschau vom 21.10.1977, S. 1 247 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 65f 248 Frankfurter Rundschau vom 21.10.1977, S. 2 249 Zur Aufstockung des Etats des BKA: „1970 16 Millionen, 1972 20 Millionen, 1977 insgesamt 920 Millionen zusätzliche Ausgaben – im letzten Jahr für Polizei und Bundesgrenzschutz insgesamt.“ Fet- scher 1977, S. 81

53 Abwehr eingesetzt. Als „Träger der verdeckten Aufklärung“ operiert der Inlandsge- heimdienst unter anderem in Sachen Staatsschutz- und Terrorismusdelikten. 250 Wäh- rend 1973 das BKA zur Informations- und Kommunikationszentrale der gesamten deutschen Kriminalpolizei ausgebaut wird, wird der BGS, der bis dahin lediglich zur Grenzsicherung eingesetzt werden durfte, als „Polizei des Bundes“ herangezogen. Aus den Reihen des BGS wird auch die GSG 9 rekrutiert. In einer speziell zur Be- kämpfung des Terrorismus eingerichteten Abteilung des BKA, der Abteilung TE, ar- beiten 200 Spezialisten. 1977 wird die Belegschaft von Polizei, BGS und BfV um 4800 Beamte erhöht. 251 Die ganz erheblichen finanziellen Mittel, die 1977 für den Ausbau des Polizeiapparates zur Ver- fügung gestellt wurden sowie die Absicht, die Zahl der Polizeibeamten bis zum Verhältnis 1:400 (pro Einwohner) zu erhöhen (zur Zeit in Großstädten 1:1200) mag übertrieben erscheinen, aber keine Regierung möchte sich nachsagen lassen, sie habe aus Sparsamkeit Menschenleben aufs Spiel gesetzt. 252 Das BKA hat „insgesamt 800.000 Mark Belohnung für die Ergreifung der 16 Perso- nen ausgesetzt, die im Zusammenhang mit den jüngsten terroristischen Gewaltverbre- chen gesucht werden“. 253 Doch trotz des immensen Aufwandes bleiben die unmittel- baren Fahndungsmaßnahmen fruchtlos.

3.3 Gesellschaftliche Reaktionen

„Die blutige Provokation in Köln richtet sich gegen uns alle. Wir alle sind aufgefordert, den staatlichen Organen beizustehen, wo immer das im einzelnen möglich ist.“ 254

Um die ganze Bandbreite der Geschehnisse im Deutschen Herbst begreifen zu kön- nen, müssen auch die gesellschaftlichen Diskussionen und Reaktionen auf die Bege-

250 Vergl. Heuer 1975, S. 64f „Es kommt darauf an, schon von der Planung und Vorbereitung von Gewaltaktionen Kenntnis zu er- halten, um diesen […] entgegentreten oder sie schon im Ansatz hindern zu können. […] Zu den Beo- bachtungsobjekten des Verfassungsschutzes gehören vor allem links- und rechtsextremistische politi- sche Organisationen, deren Zielsetzung und politische Tätigkeit auf die Beseitigung der im Grundge- setz verankerten freiheitlichen Demokratie oder der sie konstituierenden Grundlagen gerichtet sind. Auch anarchistische und terroristische Bestrebungen […] sind […] neben dem kriminellen Aspekt der unternommenen Aktionen zugleich verfassungsfeindlich wegen ihres auf revolutionären Umsturz ge- richteten […] politischen Anspruchs.“ Heuer 1975, S. 64f 251 Vergl. Fetscher 1977, S. 81f 252 Fetscher 1977, S. 82 253 Vergl. Frankfurter Rundschau vom 21.10.1977, S. 1f 254 Bundeskanzler Schmidt am 05.09.1977 in einer Fernsehansprache zur Entführung Schleyers, zit. nach: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977, S. 13

54 benheiten, den Terrorismus der RAF und die Antworten staatlicher Stellen darauf, be- leuchtet werden. Im folgenden wird zunächst die Diskussion in „der Linken“ über die 77er Offensive der RAF exemplarisch vorgestellt. Dieser Abschnitt beruft sich auf die beiden Quellen Tolmein / zum Winkel und Hoffmann, die in ihren Büchern Beispiele von Diskussionsbeiträgen gesammelt haben. Anschließend werden Pressestimmen e- tablierter „bürgerlicher“ bis „liberaler“ Zeitungen aus dem Jahre 1977 wiedergege- ben. Als Beispiel für das gesellschaftliche und innenpolitische Klima in der BRD 1977 wird schließlich die so genannte „Mescalero-Affäre“ dargestellt.

3.3.1 „Die Linke“ und die RAF

Das Verhältnis zwischen RAF und dem linken polischen Spektrum, selbst dem radi- kalen Teil, ist nach Hoffmann „nicht unkompliziert und durchaus konfliktbeladen“, denn „aus dieser politischen Ecke“ erfährt die Stadtguerilla z.T. ihre „schwerwie- gendste Kritik“. Er beschreibt, dass sich die RAF von Beginn an als bewaffnete A- vantgarde verstanden hat, die die Linke oft attackiert und häufig lediglich als Projek- tionsfläche benutzt hat, denn ihre Bezugspunkte sind „hauptsächlich die extremen an- tiimperialistischen Gruppen“. Schon deshalb hat es die RAF der Linken einfach ge- macht, sich mehr und mehr von ihr zu distanzieren. Hoffmann betont, dass sämtliche Versuche der öffentlichen politischen Diskussion über die RAF-Politik, die sich nicht eindeutig als Distanzierung verstehen, von 1970 an „staatlicherseits kriminalisiert“ werden. 255 Auch Tolmein / zum Winkel thematisieren die Auseinandersetzungen der „legalen Linken“ mit der Politik der RAF. Sie beschreiben, wie z.B. das Sozialistische Büro (SB) massiv die „Individualtaten“ der RAF kritisiert, die „nun zum Kollektivmord übergegangen“ ist.256 Nach Meinung des SB schadet die RAF mit ihren Anschlägen vor allem der Reformpolitik: „Mit wenigen Schüssen machte sie zunichte, wofür wir jahrelang gekämpft haben.“ 257

255 Vergl. Hoffmann 1997, S. 9, 180 256 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 40f 257 Sozialistisches Büro in einer Stellungnahme am 13.09.1977, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 41

55 Die linke Zeitschrift Langer Marsch 258 plädiert für „staatliche Härte“, ist gegen einen Austausch Schleyers mit den Gefangenen und zieht damit die „politische Konsequenz des Eintretens gegen Terrorismus“. 259 Die linke Sponti-Szene positioniert sich im Pflasterstrand 260 zwar gegen die „Liqui- dierungsstrategie der RAF“, lehnt jedoch „prinzipielle Gewaltverzichtserklärungen“ als zu weit gehend ab, will sich also eine Option für Gewalt als letztes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele offen halten. Man befürchtet, die allgemeine Stim- mung im Land könnte einer „polizeistaatlichen Ordnung“ zum Durchbruch verhel- fen. 261 „Angefangen von Sondergesetzen, die jetzt im Eilverfahren durchgezogen werden, über die to- tale Gleichschaltung der Presse, die Hetzreden der rechten Politiker, die lautstarken Schuldbe- kenntnisse und Distanzierungen vieler Intellektueller und […] die Veränderung des Alltags, das Gefühl, daß in diesem Land jeder, sei es die Gemüsefrau oder der Nachbar, zum Bullen (zum Spitzel) werden kann.“262 Auch der Arbeiterkampf 263 kritisiert einen „Solidarisierungszwang, dem nie eine Dis- kussion des Sinns und des Zwecks einer derartigen Aktion“ vorausgegangen ist. 264 Die Westberliner Zeitung radikal 265 fühlt sich „zermahlen zwischen immer stärkerer Repression des Staates und der Strategie dieser Anschläge“. Die Taten der RAF seien absolut kontraproduktiv, um „einen eigenen Weg sozialistischer Politik geltend zu machen, […] überhaupt zu entwickeln“. Die RAF zwingt der Linken das „Gesetz des Handelns“ auf. radikal bedauert, sich nicht vorher schon „so scharf wie notwendig politisch“ mit der RAF auseinandergesetzt zu haben. Die „teilweise infame Killerme- thodik“ der RAF pervertiert „alle Zielsetzungen und Inhalte linker Politik“. 266

258 Der Lange Marsch bezeichnet sich selbst als „Zeitung für eine neue Linke“: „Wir wollen vor allen Dingen über emanzipatorische Versuche, Bewegungen und Kämpfe informieren, ihre Inhalte und Ziele problematisieren und solidarische Kampagnen mittragen um damit die - in diesem Punkt - besonders miese Westberliner Situation überwinden zu helfen.“ www.free.de/dada/p-start.htm 259 Vergl. Langer Marsch , zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 41 260 Seinem Selbstverständnis zufolge ist der Pflasterstrand bei der Gründung eine Zeitschrift der un- dogmatischen Linken in Frankfurt. Vergl. www.free.de/dada/p-start.htm 261 Pflasterstrand Nr 16, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 42f 262 Pflasterstrand Nr. 16, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 43 263 Die „Revolutionäre Zeitschrift“ Arbeiterkampf definiert sich selbst als „Organ der revolutionären Anarchisten und Syndikalisten“. Vergl. www.free.de/dada/p-start.htm 264 Vergl. Arbeiterkampf , zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 33 265 Die Westberliner Zeitung radikal wird 1976 als ein Diskussionsforum für die verschiedenen Frakti- onen, Gruppierungen und Parteien der Linken gegründet. Untertitel: Sozialistische Zeitung für West- berlin (bis ca. 1979). radikal versteht sich von Anfang an als „Zeitung von der Bewegung - für die Bewegung“. Vergl. www.free.de/dada/p-start.htm 266 Vergl. radikal , zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 43f

56 „Vielleicht kann der Schleyer-Anschlag Ausgangspunkt dafür sein, daß wir wieder mit größerer Entschiedenheit, Klarheit und Konsequenz eigenständige sozialistische Positionen entwickeln und durchsetzen.“ 267

3.3.2 Reaktionen von Medien und PolitikerInnen im Deutschen Herbst

Tolmein / zum Winkel schreiben über die bundesdeutsche Presselandschaft während und unmittelbar nach der wegen der Schleyer-Entführung verhängten Nachrichten- sperre: Die freiwillige Selbstkontrolle, der sich die Presse in dieser Zeit unterwirft, korrespondiert mit der von Staats wegen betriebenen „Sympathisanten“-Hatz. […] Die kritische bürgerliche Öf- fentlichkeit hat sich aus Gründen der Staatsräson selbst abgeschafft. 268 Anfang des Jahres 1977 dagegen erleben sie die politische Landschaft „erheblich konturreicher“: Die Geschwindigkeit, mit der sich die scheinbar funktionierende Öffentlichkeit, eine Publizistik, die vor allem Wert darauf legt, als „unabhängig“ angesehen zu werden, über Wochen auf einen staatlichen Notstandskurs einschwören lässt, ist kaum vorhersehbar. 269 Die zunehmende Verschärfung des Konfliktes zwischen RAF und BRD geht auch an den Medien nicht spurlos vorüber. Der Anti-Terrorismus wird zur Volksideologie und legitimiert alles. 270 Als Anfang 1977 beispielsweise die Abhöraktion gegen Klaus Traube vom Spiegel aufgedeckt wird, hält die Welt die Veröffentlichung von Verfassungsschutzpapieren und die ausführliche Berichterstattung über den Fall für den eigentlichen Skandal und die Stuttgarter Zeitung pflichtet mit den Worten bei: „Das Wächteramt geht vor“. Die „Bereitschaft, die innere Sicherheit über fast alles“ zu stellen, wird von der Presse vernommen. 271 Zahlreiche Zeitungen befassen sich 1977 mit den für die Terrorbe- kämpfung zur Verfügung stehenden Maßnahmen. So drängt die Welt : Es gibt keine praktikable Maßnahme der Bekämpfung und Unterbindung, die im Kriege erlaubt wäre und die nicht schon jetzt unternommen werden könnte. 272 Die Berliner Morgenpost hingegen meldet zum Kontaktsperregesetz Bedenken an, wenn sie schreibt:

267 radikal , zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 44 268 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 11 269 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 11 270 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 11 271 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 13 272 Die Welt vom 01.04.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 92

57 „Hier wird in der Tat ein schwerer Eingriff in die Rechte von Beschuldigten legalisiert, der übli- cherweise ein Kriterium für Diktaturen darstellt.“ 273

Die Zeitungen geben in diesen Tagen häufig Stellungnahmen, Vorschläge und Forde- rungen von deutschen PolitikerInnen zum Thema Terrorismus wider. Im Folgenden werden Ausschnitte aus der das innenpolitische Klima spiegelnden Debatte vorge- stellt. Nach dem Willen der CDU-Bundestagsfraktion sollen TerroristInnen nur noch vom Bundesgerichtshof verurteilt werden, damit sie keine Möglichkeit zur Berufung ha- ben. 274 In diversen Interviews denken PolitikerInnen verschiedener demokratischer Parteien laut darüber nach, ob sich der demokratische Rechtsstaat BRD weiterhin mit dem im Grundgesetz festgeschriebenen Verbot der Todesstrafe wirksam gegen terro- ristische Angriffe erwehren kann. Die Zeitung Die Welt meldet, GBA Rebmann habe die Idee geäußert, die RAF-Gefangenen nach Standrecht zu erschießen. In der Sen- dung „Internationaler Frühschoppen“ wird die Einführung der so genannten „bluti- gen Folter“ gefordert, weil damit in Südamerika erfolgreich gegen die Guerilla vor- gegangen werde. 275 Die Süddeutsche Zeitung berichtet über Gedankenspiele der CSU- Landesgruppe im Bundestag, wie TerroristInnen „eliminiert“ werden könnten und ob man nicht, um dem Erpressungsversuch der Schleyer-Entführer standhalten zu kön- nen, „Erschießung[en] der Gefangenen Terroristen in halbstündigem Abstand“ durch- führen sollte – „so lange, bis der Entführte freigelassen“ wird.276 Dementsprechend fragt sich im Spiegel ein CSU-MdB, „ob nicht der Staat auf Geiselnahme und Geisel- erschießung mit gleichen Mitteln antworten“ müsse und fordert im Falle einer weite- ren Eskalation „kurzen Prozess“ mit den Stammheimer Häftlingen. 277 Etwas vorsich- tiger, doch mit der selben Botschaft, drückt sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsi- dent Kühn (SPD) aus: „Die Terroristen müssen wissen, daß die Tötung von Schleyer auf das Schicksal der inhaftierten Gewalttäter, die sie mit ihrer schändlichen Tat befreien wollen, schwer zurückwirken müßte.“ 278

273 Berliner Morgenpost 1977, zit. nach: Tolmein/zum Winel 1987, S. 50 274 Vergl. FAZ vom 28.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93 275 Vergl. Schneider 1987, S. 92f 276 Vergl. Süddeutsche Zeitung vom 10.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93 277 Vergl. Walter Becher (CSU) im Spiegel vom 12.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93 278 Heinz Kühn (SPD) in der Welt vom 14.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93

58 Die Terror-Bekämpfung soll grundsätzlich offensiver werden, verlangt MdB Alfred Dregger (CDU). In Gedanken entwirft er „Terroristen-Jagdkommandos“, die „keinen fragwürdigen bürokratischen Einwirkungen unterliegen“ sollen. „Wir dürfen nicht nur reagieren, wir müssen die Terroristen aufsuchen und vorbeugend zuschla- gen.“ 279 Welche Maßnahmen er konkret damit meint, kann man allerdings nur erahnen. Franz Josef Strauß spricht sich indirekt für Lynchjustiz aus, in dem er anregt, die RAF- Gefangenen „dem Volk“ zu überlassen, denn „dann brauchen die Polizei und die Jus- tiz sich nicht mehr drum zu kümmern“. 280 Am 18. Oktober fragt die FAZ : Wäre es nicht an der Zeit, über ein Notrecht für Terroristen nachzudenken? 281 Die Frage stellen, heißt, sie beantworten. Auf den Punkt bringt es schließlich ein Prof. Dr. Wilfried Lange aus Düsseldorf in der Welt vom 29. September 1977: „Niemand wird bestreiten, daß die Todesstrafe hier einen von der Vernunft bestimmten Zweck erfüllt: Ein Staat, der seine Terroristen hinrichtet, kann nicht mehr genötigt werden, sie nach Südjemen auszufliegen. Auch scheidet ein exekutierter Verbrecher künftig als Attentäter aus.“ 282

3.3.3 Die Mescalero-Affäre

Die bürgerliche Gesellschaft hat sich gegen bestimmte Zwänge – Zensur, staatliche Kontrolle von Lerninhalten – und für das Risiko entschieden, das in der Garantie der freien politischen Mei- nungsbildung wie der Wissenschaftsfreiheit liegt. 283

Das Attentat auf GBA Buback, bei dem er und seine Begleiter erschossen werden, ge- hört zwar mit zur RAF-Offensive 1977, jedoch nicht unmittelbar zum Deutschen Herbst. 284 Zwar ist der Anschlag zeitlich nicht in diese Zeitspanne einzuordnen, seine Resonanzen jedoch allemal. Es geht im folgenden um die Frage, ob und wie die Politik der RAF offen in gesellschaftlichen Diskussionen besprochen werden kann. Welche Folgen eine kritische Stellungnahme zum Tod Bubacks haben kann, die nicht dem öf- fentlich abverlangten Konsens folgt, belegt die Aufregung um einen Zeitungsartikel. Die

279 Alfred Dregger (CDU) in der Welt vom 13.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93 280 Vergl. F.J. Strauß (CSU) in der Süddeutschen Zeitung vom 07.10.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93 281 FAZ vom 18.10.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 94 282 Wilfried Lange in der Welt vom 29.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 93 283 Brückner am 06.10.1981 im Prozess um seine Suspendierung als Terrorismussympathisant, zit. nach: taz -Journal 1997, S. 31 284 Vergl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit

59 so genannte Mescalero-Affäre ist beispielhaft für das gesellschaftliche und politische Klima dieser Monate in der BRD. Dabei handelt es sich um die politischen, juristischen und journalistischen Wellen, die ein kurzer Artikel in der studentischen Zeitung Göttin- ger Nachrichten schlägt, der auf die Ermordung des GBA Buback Bezug nimmt. Die Göttinger Nachrichten , Zeitung des Allgemeine Studentenausschusses (AStA) der Universität Göttingen, veröffentlichen in ihrer Ausgabe vom 25. April 1977 den Beitrag mit dem Titel: „Buback – ein Nachruf“. 285 Ein mit dem Pseudonym „Mescalero“ unter- zeichnender Autor kann darin zwar ein Gefühl der „klammheimlichen Freude“ über den Tod Bubacks nicht verhehlen, kommt aber schließlich in der Reflexion seiner „sponta- nen Einfälle“ zu der Einsicht, dass individueller wie kollektiver Terror grundsätzlich ab- zulehnen seien.286 „Wenn Buback kein Opfer des Volkszornes wird, dann geht die Gewalt, die so ausgeübt wird, e- benso wenig vom Volk aus, wie Bubacks Gewalt vom Volk ausging. […] Die Strategie der Liqui- dierung ist eine Strategie der Herrschenden, warum müssen wir sie kopieren? […] Unser Weg zum Sozialismus kann nicht mit Leichen gepflastert sein. […] Um der Machtfrage willen dürfen Linke keine Killer sein […].“287 Der Mescalero gehört der im AStA vertretenen „Bewegung undogmatischer Frühling“, die in diesem Beitrag „ein Element der Aufklärung über Gewaltverhältnisse“ sieht. Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) versteht den Nachruf anders und er- stattet kurz darauf beim Landgericht Göttingen Anzeige wegen „öffentlicher Billigung der Ermordung dreier Personen“ gegen den/die anonyme VerfasserIn. Außerdem fordert der RCDS den Universitätsdirektor Beus auf, gegen den AStA, mitsamt der darin vertre- tenden „Bewegung undogmatischer Frühling“, einzuschreiten. Beus untersagt in der Tat die weitere Verbreitung der betreffenden Ausgabe der Göttinger Nachrichten und im besonderen des umstrittenen Artikels „Buback – ein Nachruf“. Auch gegen Herstelle- rInnen und VerteilerInnen der AStA-Zeitung wird Anzeige erstattet und im Niedersäch- sischen Landtag die Auflösung der verfassten Studentenschaft verlangt. Der kriminali- sierte Artikel verschwindet zunächst aus der Öffentlichkeit, dem AStA wird die Rücker- stattung der Druckkosten abverlangt und die Staatsanwaltschaft Göttingen ermittelt we- gen „Billigung von Straftaten“ sowie wegen „Verunglimpfung eines Verstorbenen“.

285 Auszugsweise abgedruckt in: Brückner 1978, S. 24-26 286 Vergl. Brückner 1978, S. 10 287 Mescalero in: Göttinger Nachrichten vom 25.04.1977, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 23

60 Ende April beginnen verschiedene Zeitungen den Nachruf als „mörderisch, krank, pri- mitiv, beleidigend“ zu bezeichnen 288 : Wenn sich in kranken Gehirnen die Karlsruher Bluttat als freudiges Ereignis darstellt, dann ist das eine persönliche Angelegenheit. Ein öffentliches Ereignis wird es aber, wenn ein derartiges Mus- terbeispiel für blanken Faschismus im Publikationsorgan einer Einrichtung studentischer Zwangs- mitgliedschaft verbreitet wird. 289 Nach Brückners Auffassung beschränken sich die Zeitungen „wohlweislich auf die Zi- tierung von Passagen, die, aus dem Zusammenhang gerissen, allenthalten Entsetzen aus- lösen vermochten“. Die Substanz des Artikels sowie die Absichten des Autors seien damit in ihr glattes Gegenteil verkehrt worden. 290 Die „klammheimliche Freude“ ist alles, was dem bürgerlichen Publikum mitgeteilt wird. Kein Journalist macht sich die Mühe, den Gedankengang des gesamten Artikels darzustellen. 291 Die Leser mußten den Eindruck gewinnen, „Mescalero“ (und der AStA Göttingen) habe den Mord an Buback hämisch gebilligt, sonst nichts; […] er habe sich außerdem von der Gewalttätigkeit nur […] aus taktischen Überlegungen heraus distanziert.292 Die durch den RCDS verbreitete stark verkürzte Version des Buback-Nachrufs löst so gut wie überall, insbesondere in den Redaktionen von Presse, Funk und Fernsehen, aber auch in sämtlichen politischen Foren, außerordentliche Empörung aus. Der Rheinische Merkur spricht am 13. Mai von einer „exemplarischen Verwirkung des Grundrechts der Pressefreiheit“ und schlägt vor, „die Kompetenz für eine solche Maßnahme solle vom Bundesverfassungsgericht auf die Justiz- und Innenminister der Länder übertragen wer- den“. 293 Die Resonanz kommentiert Brückner mit einem Ausdruck der Besorgnis: Breiteste Leserschaften, der Nachbar in der Etage, auch Mitglieder der herrschenden Klasse in ein- flussreichen Ämtern, werden grob des-informiert und manipuliert. 294 Nachdem von Justizminister Vogel und seinen Länderkollegen Strafantrag „pauschal gegen alle Nachdrucke unter jedem in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkt“ gestellt worden ist, werden am 27. Mai, fünf Wochen nach Erscheinen des „Nachrufs“, mit mehreren Hundertschaften unter anderem die Räume des AStA der Göttinger Uni- versität, ein Buchladen und 17 Privatwohnungen durchsucht. 295 Der Groß-Einsatz mußte den Eindruck der Fahndung nach Schwerverbrechern machen. Ein Teil der Polizisten trug Maschinenpistolen, Rechtsmittelbelehrung fand nicht statt, Durchsuchungsbe-

288 Brückner 1978, S. 10f 289 Frankfurter Rundschau vom 08.05.1977 290 Vergl. Brückner 1978, S. 11 291 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 25 292 Brückner 1978, S. 11 293 Vergl. Brückner 1978, S. 11f 294 Brückner 1978, S. 12 295 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 24

61 fehle wurden erst nach der Durchsuchung ausgehändigt, Zeugen, z.T. unter Drohungen, vertrie- ben.296 Verschiedene Allgemeine Studentenausschüsse veröffentlichen in Solidarität mit dem Göttinger AStA „den in Presse- und Regierungs-Zitat gefälschten, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen“ Nachruf und geraten so ebenfalls unter starken Druck. Von Landes- regierungen, Universitätsleitungen und Staatsanwälten hagelt es Sanktionsandrohungen, Beschlagnahmeanordnungen und Strafanzeigen und es kommt nicht selten zu Polizei- einsätzen. Mindestens 140 Verfahren gegen VerbreiterInnen des Nachruf werden einge- leitet. Eine bis dahin nicht existierende wirkungsvolle Gegenöffentlichkeit herzustellen, um die Grundlage für eine sachliche Diskussion zu schaffen, scheint dringend geboten, weshalb sich in dieser Situation 48 Hochschullehrer und Rechtsanwälte ihrerseits ent- schließen, den „Nachruf“ zusammen mit einigem dokumentarischen Material zu veröf- fentlichen. 297 Sie waren der Ansicht, daß es „jedem Gebot intellektueller Redlichkeit widersprach, das Denkpro- zess-Ergebnis des Autors durch ein aus dem Kontext herausgerissenes Einzelzitat manipulativ und irreführend in sein Gegenteil zu verkehren (…).“ Sie halten es für geboten, […] den ganzen Text zugänglich zu machen (und hofften, damit für den Göttinger AStA Schutzfunktionen zu überneh- men). 298 Daraufhin bricht ein Sturm der Entrüstung los. Wenige Tage nach der Veröffentlichung der Dokumentation sehen sich die HerausgeberInnen heftigsten politischen Angriffen, angedrohten oder eingeleiteten Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entlassung und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ausgesetzt. In der Presse werden die InitiatorIn- nen der Dokumentation mit den Vorwürfen der „immanenten Billigung von verfas- sungsfeindlichen Bestrebungen“ sowie der „Ermunterung zur gewaltsamen Veränderung von Staat und Gesellschaft“ bezichtigt. Man wirft ihnen vor, „eine Ehrenerklärung für einen Sympathisanten des Terrorismus“ abgegeben zu haben. 299 Einige konservative AutorInnen ignorieren die Prämisse der Dokumentations-HerausgeberInnen und knüp- fen nahtlos an die Vorwürfe gegen Mescalero an: Nirgendwo allerdings haben die 48 Herausgeber erkennen lassen, daß ihre Auffassung von der des anonymen „Mescalero“-Verfassers abweicht. Insofern vermittelt die „Dokumentation“ Verständnis für die Aktion der RAF durch eine bewußt unterlassene Analyse und durch eine bewußt vermiede- ne Diskussion. 300

296 Brückner 1978, S. 12 297 Vergl. Brückner 1978, S. 13 298 Brückner 1978, S. 13 299 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 26f 300 Horchem 1988, S. 194

62 Das Motiv, die Dokumentation gerade deshalb herauszugeben, um eine Diskussion über den falsch publizierten Nachruf zu ermöglichen, wird dabei von Horchem überhaupt nicht beachtet. Nach dem Mord an Ponto wird ihnen sogar die „geistige Urheberschaft für diese Tat“ zugeschrieben. Verschiedene politische Stellen und Verbände fordern „di- rekt oder indirekt die Entlassung der Herausgeber aus dem Staatsdienst, oder schlicht Lehrverbot“. Der Landesvorsitzende der niedersächsischen CDU, Hasselmann, bezeich- net die Herausgeber als „Lobredner des Terrors“, „Beschöniger terroristischer Ergüsse“ und die Dokumentation als „eindeutige Parteinahme für den verbrecherischen Terroris- mus“ und setzt sie direkt mit dem Ponto-Mord in Bezug. 301 Der „Buback-Nachruf“ traf offenbar den blanken Nerv einer bereits verunsicherten Elite in Politik, Wirtschaft und Medien. 302 Die Auseinandersetzungen dauern über den Deutschen Herbst hinaus an. Tolmein / zum Winkel sind der Meinung, dass die dieser „Auseinandersetzung innewohnende Eskalati- on“ einer „Zuspitzung der innenpolitischen Verhältnisse nach der Entführung Schley- ers“ entspricht. Sie beschreiben, dass der Nachruf „nicht nur in der publizistischen Aus- einandersetzung bemüht“ worden sei, „um die Hatz auf die Linke im weiteren Sinne zu eröffnen“, er habe auch als „Begründung für scharfe Repressionsmaßnahmen“ ge- dient. 303 Dem niedersächsischen Kultusminister Pestel bescheinigen Tolmein / zum Winkel den „Verdienst, die Auseinandersetzungen um den ‚Buback-Nachruf’ auf die den Zeitgeist am präzisesten charakterisierende Spitze“ getrieben zu haben. Pestel legt den nieder- sächsischen MitherausgeberInnen der Dokumentation eine Distanzierungserklärung vor und nötigt sie zu unterschreiben. In dieser vorformulierten Erklärung werden Argumente und Standpunkte aufgelistet, deren Nennung den HerausgeberInnen eine gegenteilige Intention unterstellen. 304

301 Vergl. Brückner 1978, S. 14ff, Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 26, Vergl. taz -Journal 1997, S. 31 302 Jürgen Gottschlich 1997, S. 28 303 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 24 304 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 26f „In Zusammenhang mit den Ermittlungen der niedersächsischen Landesregierung zur Herausgabe der Dokumentation ‚Buback – ein Nachruf’ erkläre ich: Mord oder überhaupt den Einsatz von Gewalt leh- ne ich in unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat unter jeder Bedingung ab. Deshalb verurtei- le ich terroristische Handlungen und alle Versuche, diese zu rechtfertigen. Ich bin mir bewusst, daß ich als Beamter eine besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat habe. Diese fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen aber kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfas- sung; sie fordert von Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen oder Bestrebungen dis- tanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung an- greifen, bekämpfen und diffamieren. Ich werde meiner politischen Treuepflicht nachkommen. Diese hat sich insbesondere in Krisenzeiten und in ernsthaften Konflikten zu bewähren, in denen der Staat

63 Wer das Distanzierungs- und Bekenntnisformular nicht unterschreibt, wird automatisch zum/zur SympathisantIn der RAF gestempelt. Zwölf der dreizehn Aufgeforderten unter- schreiben. Der Mitherausgeber Peter Brückner verweigert dem Bekenntnis seine Unter- schrift, wird suspendiert und darf nicht mehr unterrichten. Nachdem sich mehrere „Mes- caleros“ am 10. September 1977 noch ein letztes Mal mit einem Papier „Schleyer – kein Nachruf“ zu Wort melden, wird der AStA der Göttinger Universität von Kultusminister Pestel zwangsweise aufgelöst und ein Staatskommissar eingesetzt. 305

3.4 Zusammenfassung

Von 1970 an wurde die RAF von Verwaltungs-, Politik- und Justizstellen in der BRD als die schwerwiegendste gewalttätige Herausforderung des bestehenden politischen und ökonomi- schen Systems der Nachkriegszeit gesehen („Staatsfeind Nr. 1“). 306

Auf bewaffnete terroristische Angriffe in der Dimension, wie sie die RAF 1977 prak- tiziert, sind Staat und Gesellschaft der BRD nicht vorbereitet. Das innenpolitische Klima ändert sich rapide und verschärft sich drastisch. Die Größenordnung der An- griffe, mit denen die RAF ihre Gegner überzieht, übersteigt alle Prognosen von Fach- leuten. Mit der 77er Offensive löst die RAF in der Tat eine gewisse Panik aus, die sich in einer fast hysterischen Welle der Überreaktion von staatlicher Seite entlädt. Die Taten und die ihnen folgenden Auswirkungen steigern sich von mal zu mal und dementsprechend umfangreich fällt jeweils die Reaktion aus. Seit der Geiselnahme der „Landshut“-Passagiere ist unwiderruflich zur allgemeinen Stimmung geworden, was nach Schleyers Entführung mit aller Kraft herbeigeredet werden musste: Alle sind bedroht. Und mit einem Schlag sind auch alle befreit, erlöst und glücklich. Kein Mensch ist zu Schaden gekommen. Die drei Toten von Mogadischu sind Terroristen. „Recht geschieht ih- nen“, heißt es und die allgemeine Freude ist keineswegs klammheimlich. 307 Die RAF verliert im Laufe ihres Daseins bei der politischen Linken, für die die politi- schen Motive der RAF vielleicht anfangs noch nachvollziehbar sind, immer mehr an Glaubwürdigkeit. Die Brutalität, mit der sich die RAF dann letztendlich ihren Weg

darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei für ihn ergreift. Ich distanziere mich in aller Form von dem Verfasser und dem Inhalt des so genannten ‚Buback-Nachrufes’.“ Wortlaut der Erklärung, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 26f 305 Vergl. Gottschlich 1997, S. 28ff 306 Bakker Shut 1986, S. 93 307 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 56

64 bahnt, schreckt selbst die SympathisantInnen ab, die „lange Zeit die Gewißheit hatten, daß die Gewalt, was auch immer geschehen mag, immer vom Staat ausgeht“ 308 . Im Zuge des Deutschen Herbstes wird nicht nur die RAF intensiver denn je bekämpft und inhaftierte RAF-Mitglieder immer strikter sanktioniert, auch unabhängige, um Diskurs bemühte Menschen geraten in der mehr als angespannten Stimmung unter Verdacht oder werden denunziert. Die Mescalero-Affäre ist beispielhaft für die Ei- gendynamik, die bei der Diskussion tabuisierter Themen auftreten kann. Intention und Text des Nachruf entsprechen genauso wenig den Anschuldigungen, wie die Doku- mentation des Nachrufs. Das scheint jedoch keine Rolle zu spielen. 309

4. Gegengewalt von staatlicher Seite

„Die Rechtsordnung der BRD leidet keinen Schaden, wenn Angeklagte von ihren Rechten über gebühr Gebrauch machen. Sie erleidet Schaden, wenn die Rechte der Angeklagten beschnitten werden, weil deren Vorbringen den zügigen Ablauf eines Prozesses behindern.“310

Die Gewalt der RAF drückt sich in terroristischen Attentaten und anderen bewaffne- ten Aktionen mit. hohem Gewaltpotential aus. Der Staat als Ganzes reagiert mit sämt- lichen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und geht dabei nach Aussagen von Bun- deskanzler Schmidt „bis an die Grenzen dessen, was im demokratischen Rechtsstaat gerade noch möglich ist“.311 So werden in zahlreichen Initiativen Gesetze geändert, ergänzt oder neu geschaffen, um mit ihrer Hilfe die Bedrohung abwehren zu können. Die Strafverteidigung erfährt dabei gravierende Einschnitte in den Möglichkeiten der Betreuung, ihrer Befugnis und ihrer Kompetenz. KritikerInnen werfen dem Staat eine unrechtmäßige Ausschöpfung seiner Gewaltmittel vor. Dabei werden nicht selten gel- tende Grundsätze, wie die Unschuldsvermutung vor Gericht, missachtet. Teilweise

308 Vergl. Dombrowa 1994, S. 12 309 „Dennoch lebt die Demokratie nur, solange sie in diesem Risiko [der freien Meinungsbildung] lebt. Nicht in der Existenz militanter Gruppen liegt die eigentliche Bedrohung der bürgerlichen Demokratie, sie liegt bei jenen Politikern und Parteien des Bundestages und der Länderparlamente, die unter ande- rem auch jenes Risiko abschaffen wollen, das in Art. 5 und Art. 8 nun einmal liegt, von Art. 12 oder 33.1 GG ganz abgesehen.“ Peter Brückner am 06.10.1981 bei seiner Verteidigungsrede im Prozess um seine Suspendierung, zit. nach: taz -Journal 1997, S. 31 310 Hermann-Josef Müller, Vorsitzender Richter in der Verhandlung zum Stockholm-Attentat am OLG Düsseldorf, zit. nach: Peters 1991, S. 439f 311 Bundeskanzler Schmidt am 24.04.1975 zum RAF-Überfall auf die deutsch Botschaft in Stockholm, zit. nach: Vinke/Witt 1978, S. 9 „Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, daß sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben.“ Bundeskanzler Schmidt im Spiegel vom 15.01.1979, zit. nach Gössner 1991, S. 64

65 werden Gesetze speziell für anstehende Verfahren, die schon den vorverurteilenden Namen „Terroristenprozesse“ tragen, geschaffen. Aufkeimend in einer angespannten innenpolitischen Stimmung, aber auch teilweise begünstigt durch gezieltes Betreiben mancher PolitikerInnen, Medien oder behördlichen Stellen entsteht im Zuge der Ter- rorismusbekämpfung ein Klima, das tatsächliche und vermeintliche Sympathisanten gleichermaßen ächtet. Im Entwicklungsgang der Reaktion bieten Regierung, Justiz und Strafverfolgungsbehörden alles ihnen mögliche auf, um es dem Terrorismus ent- gegenzusetzen.

4.1 Die „Anti-Terror-Gesetze“

Die Strafprozessordnung der Bundesrepublik hat 1974 die einschneidensten Veränderungen seit Kriegsende erfahren. Nach einer längeren Phase der Liberalisierung, die […] die Rechte von Anwalt und Mandant erheblich verbesserte, wurde erstmals ein Teil dieser Rechte beschränkt bzw. zurückgenommen. 312

Unter dem Eindruck terroristischer Gewalttaten stimmen die Abgeordneten des Bun- destages in den 1970er Jahren einer nicht unerheblichen „Reihe von straf- und straf- verfahrensverschärfenden Gesetzen“ zu und weiten die Befugnisse der Sicherheitsor- gane aus. Wenn der Bundestag gesetzliche Vorschriften gegen politisch motivierte Gewalttaten berät, werden PolitikerInnen nicht müde zu betonen, die BRD sei der „freieste Staat auf deutschem Boden“. Die „rechtsstaatlich völlig unbedenklichen“ Einschränkungen werden mit stereotypen Beschwichtigungen eingeleitet. 313 Die Be- ratungen im Parlament über die im Folgenden besprochenen Gesetze gehen sämtlich ungewöhnlich schnell vonstatten. Bei den meisten Gesetzesnovellen herrscht fast ein- stimmig die Meinung, die jeweiligen Maßnahmen seien notwendig, um dem Terro- rismus wirksam entgegentreten zu können. Wenige Abgeordnete äußern in diesen Tagen ihre Bedenken an den umfassenden Maßnahmen. Sie finden jedoch kaum Ge- hör. Es besteht offensichtlich eine zeitliche Verquickung terroristischer Aktivitäten

312 Vinke/Witt 1978, S. 19 313 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 7ff „Allgemein vorherrschend ist der Eindruck eines zügigen, schnellen oder gar überhasteten Gesetzge- bungsverfahrens, dessen Bewertung allerdings von der Diskreditierung des Inhaltes der Gesetzgebung als notwendig zu weitgehend bis zur These eines eindrucksvollen Beleges für die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie und ihrer Bewährung als Gesetzgebungsstaat variiert.“ Berlit/ Drei- er 1984, S. 255

66 mit der Präsentation, Beratung und Durchsetzung von Gesetzesvorschlägen. Der Ruf nach härteren Strafandrohungen und der Schaffung neuer Strafbestimmungen tritt häufig im Zusammenhang mit spektakulären terroristischen Aktionen auf. Neben der Signalisierung der Handlungsbereitschaft gegenüber einer „symbolischen Herr- schaftsnegation“ durch die RAF produziert diese Art der gesetzlichen Terrorismusbe- kämpfung wiederum einen entsprechenden Erwartungsdruck seitens der Bevölkerung bei neuen terroristischen Aktivitäten. 314 Die im folgenden beschriebenen Paragraphen 88a, 130a 138 und 129a StGB bedeuten eine Tendenzwende der Strafprozessgesetzgebung, schaffen sie doch nicht nur quali- fizierte Tatbestände, sondern dienen auch der Vorverlagerung der Strafbarkeitszonen und bedeuten damit eine Art „Vorfeldkriminalisierung“. 315 Wenn von Tendenzwende, Rückkehr zum Obrigkeitsstaat oder einem gewandelten Rechtsstaatsverhältnis ge- sprochen wird, meinen die KritikerInnen meist die peu à peu vollzogenen Eingriffe in das Strafverfahrensrecht. Rechte von Beschuldigten oder deren Verteidigung werden abgeschafft, geschwächt, oder durch neue Maßnahmen ersetzt. Umgekehrt wachsen Rechte und „juristische wie faktische Machtbefugnisse von Polizei, Strafjustiz und vor allem der Staatsanwaltschaft binnen weniger Jahre enorm an“. 316 Mit den Geset- zesänderungen wird zunehmend eine „Aufgabe richterlicher Befugnisse und Initiati- ven zugunsten der Staatsanwaltschaft“ vollzogen. Eine ursprünglich als Ideal erachte- te „Waffengleichheit“ zwischen Anklage und Verteidigung ist damit abgeschafft. 317 Der Gesetzgeber geizt nicht mit Vollmachten. Jede der Staatsgewalten, auch die Justiz, reagierte im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten auf die neue Herausforderung des Terrorismus. […] Die gesetzgebende Gewalt ordnete sich der Verwaltung, jedenfalls deren strafverfolgenden Teil und der Rechtsprechung eher unter, goß viele der Wünsche in Gesetze […]. 318 Die Entscheidungen des gesetzgebenden Parlaments in diesem „sehr diffizilen Be- reich“ der schon „seiner Aufgabe nach in einem unlösbaren Spannungsverhältnis“ zwischen dem Interesse jedes einzelnen an „Rechtsschutz vor der Strafverfolgung“

314 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 256f 315 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 247 Vorfeldkriminalisierung: Verlagerung strafrechtlich relevanter Handlungen in Vorbereitungs- bzw. Vorstadium der Realisierung. Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 232f 316 Vergl. Kerscher, S. 77 317 Vergl. Horn 1982, S. 73, 82, „Formell soll die Staatsanwaltschaft dem Anwalt des Beschuldigten gleichstehen und die streitbare Sa- che dem Gericht zur Entscheidung unterbreiten. Diese Waffengleichheit ist nun schon praktisch in so- weit nie gegeben, als der Staatsanwaltschaft der notwendig überlegene staatliche Ermittlungsapparat zur Verfügung steht. […] Die Stärkeverhältnisse [haben] sich jedoch eindeutig zugunsten der Staats- anwaltschaft verschoben.“ Fetscher 1977, S. 83 318 Kerscher 1986, S. 77

67 und dem Interesse an wirksamer Strafverfolgung steht, sind außerordentlich umstrit- ten. In diesem Zusammenhang wird den GesetzgeberInnen vielfach eine „Aufgabe grundlegender Positionen“ vorgeworfen. 319

Auch das Kontaktsperregesetz vom 30. September 1977 kann unter der Rubrik „Anti- Terror-Gesetze“ zugeordnet werden. Da dieses spezielle Maßnahmenbündel aller- dings bereits in Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit dargelegt und besprochen worden ist, wird es an dieser Stelle nicht weiter erörtert. 320 Bereits am 22. Juni 1972 erweitert der Bundestag die Befugnisse des BfV und legiti- miert den Einsatz von „nachrichtendienstlichen Mitteln“, um politisch motivierte Be- strebungen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind, überwachen zu können. Am selben Tag wird ein Gesetz verabschiedet, dass der BGS „bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit auch zur Unterstützung der Polizei“ ein- gesetzt werden kann. 321

4.1.1 „Lex RAF“ - Das „erste große Anti-Terror-Paket“

Im Dezember 1974 beschließt der Deutsche Bundestag mit deutlicher Mehrheit das „erste große Anti-Terror-Paket“: das „Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts“ und kurz darauf das Gesetz zur Ergänzung dieses „Reformgesetzes“. Das Gesetzes- Paket tritt am 1. Januar 1975 in Kraft. Das Gesetz kann auf Initiative der Bundesre- gierung fast problemlos im Eiltempo verabschiedet werden. 322 Im Vorfeld sind bereits weitergehende Gesetzesvorlagen erarbeitet worden, die als Verhandlungsbasis mit den Fraktionen im Bundestag sowie den Interessensverbänden dienen. Durch eine vorbereitete Gesetzesänderung, soll die gesamte gerichtliche Voruntersuchung abge- schafft und der Staatsanwaltschaft übertragen werden. ZeugInnen sollen verpflichtet werden, zur Aussage vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, ohne das Recht auf Anwesenheit eines Rechtsbeistands zu haben. Dadurch wird eine drohende Verschie- bung des Gleichgewichts zwischen den drei unterschiedlichen Organen der Rechts-

319 Vergl. Peter Rieß zit. nach: Kerscher 1986, S. 83 320 Fetscher nennt das Gesetz „Lex Schleyer“, da es ganz auf diesen Entführungsfall zugeschnitten sei. Verl. Fetscher 1977, S. 86 321 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 13 322 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 19f

68 pflege besonders deutlich. 323 Um solche noch tiefer greifenden Änderungen abzu- wenden, also um in ihren Augen Schlimmeres zu verhindern, stimmen selbst skepti- sche Abgeordnete für das Gesetzespaket in seiner letztlich beschlossenen Form. Nach den neu verabschiedeten „Anti-Terror-Gesetzen“ kann einE RA vom Verfahren ausgeschlossen werden, wenn er/sie verdächtigt wird, kriminelle Handlungen von MandantInnen zu unterstützen (§ 138a StPO). 324 Nach diesem Paragraphen ist der/die zuständige RichterIn verpflichtet, eineN RA auszuschließen, wenn gegen ihn/sie schwerwiegende Verdachtsmomente für die folgende Beschuldigungen vorliegen: (Mit-) TäterInnenschaft, Beteiligung oder Anstiftung zu einer Tat, deren seinE Man- dantIn angeklagt ist, oder wenn ihm/ihr vorgeworfen wird, „wegen seines Mandanten Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei begangen zu haben“. 325 Mit der neuen Gesetzgebung wollen die GesetzgeberInnen „rechtliche Barrieren im Vorfeld des an- stehenden Prozesses gegen den so genannten harten Kern der Baader-Meinhof- Gruppe beseitigen“ und die Verfahrensdauer begrenzen. 326 Man befürchtete, daß die Verteidiger und Angeklagten den Prozeß torpedieren könnten, indem sie die Möglichkeiten der Strafprozessordnung geschickt ausnutzen. 327 Um dieses Szenario zu verhindern, sind die Abgeordneten auch bereit, die Einschrän- kung der Rechte und Privilegien von VerteidigerInnen in Kauf zu nehmen. Die Ge- setzesänderungen in der StPO haben die Funktion, in den Augen der GesetzgeberIn- nen bestehende rechtliche Defizite auszubessern. 328 Sämtliche Stimmen, die den § 138a verteidigen bzw. rechtfertigen, berufen sich auf „Informationen über das Auftre- ten von Verteidigern und die zu erwartende ‚Prozeßsabotage’ im bevorstehenden Stammheimer Verfahren, die vom BKA und vom GBA stammen“. 329 Die […] Anwendung dieser Bestimmungen [hatte] einen rigorosen Eingriff in die Zusammen- setzung und das Konzept der Verteidigung zur Folge […], so daß das Recht auf Verteidigung für die Angeklagten „Baader u.a.“ in erheblichem Maße ausgehöhlt wurde. Mit Hilfe eigens da- zu erlassener Sondergesetze in bestimmte laufende oder bevorstehende Strafprozesse einzugrei- fen, steht in absolutem Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie sie im bundesdeut- schen Grundgesetz Artikel 19 Absatz 1 festgelegt sind: „Soweit nach diesem Grundgesetz ein

323 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 130 324 Vergl. Peters 1991, S. 169 325 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 135 326 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 19 327 Peters 1991, S. 168 328 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 129ff 329 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 138f

69 Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht für den Einzelfall gelten.“ 330 Angesichts der von BKA-Chef Herold im Zuge des § 138a als „Verpolizeilichung des Krieges“ angekündigten Abwehr politischer Fundamentalopposition mit Hilfe des In- struments des übergesetzlichen Notstandes einhergehend, befürchten KritikerInnen eine „Verpolizeilichung des Rechts“ im Sinne einer den jeweiligen sicherheitspoliti- schen Bedürfnissen angepassten Suspendierung bürgerlicher Grundfreiheiten. 331 Bakker Shut ist der Ansicht, der § 138a verstößt gegen bundesdeutsche Grundrechte, wobei er sich auf Justizminister Vogel beruft, der in einer Bundestagsdebatte einge- räumt hat, die Durchsetzung des § 138a beinhalte ein „partielles Berufsverbot“. 332 Für besonders schwerwiegend hält Bakker Shut die Formulierung, dass die Ausschlie- ßung aufgrund eines „schwerwiegenden Verdachts der Begehung einer Straftat“ voll- zogen wird. Dabei werde der Verdacht gegen den/die RA an die Verdächtigungen ge- genüber deren MandantInnen „gekoppelt“, was mit dem Rechtsgrundsatz der Un- schuldsvermutung, einem „wesentlichen Stützpfeiler der Staatsrechtspflege“, unver- einbar ist.333 Außerdem geht es nicht nur um die Handhabung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung hin- sichtlich des beschuldigten Verteidigers, mindestens ebenso wichtig ist die Verletzung des Rechts des Mandanten auf freie Wahl des Verteidigers. Dieses Recht ist untrennbar mit der praesumptio innoceniae verbunden; der Grundsatz der freien Verteidigerwahl soll ja gerade die Verwirklichung des Anspruchs des Angeklagten auf einen fairen Prozeß […] garantieren. 334 Bakker Shut beleuchtet den § 138a StPO zusätzlich in seiner Anwendung in Verbin- dung zum § 129 StGB. Als TäterInnen im Sinne des Organisationsdelikts § 129 wer- den auch diejenigen angesehen, die für eine kriminelle Vereinigung werben oder sie unterstützen. 335 Die in der Abschlussregelung (§ 138a Abs. 1 StPO) aufgenommene Strafvereitelung stellt an sich bereits eine Blankovollmacht für jede erwünschte Ausschließung dar, weil die Tätigkeit ei- nes Verteidigers ihrem Charakter nach immer auch Elemente der Straftat Strafvereitelung ent- hält. 336

330 Bakker Shut 1986, S. 132 331 Vergl. Horn 1982, S. 81 332 Justizminister Vogel am 18.12.1974, zit. nach: Bakker Shut 1986, S. 135 „Ein solcher Eingriff betrifft denn auch bundesdeutsche Grundrechte: Das Recht auf freie Wahl eines Rechtsanwaltes, damit zusammenhängend das Recht auf einen „fair trail“ und schließlich noch das Recht auf freie Ausübung des Berufes.“ Bakker Shut 1986, S. 135 333 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 136 334 Bakker Shut 1986, S. 136 335 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 138f 336 Bakker Shut 1986, S. 139

70 So ist davon auszugehen, dass eine „politisch offensive“ Verteidigung von Mandan- tInnen aus einer „sich als revolutionär begreifenden Organisation, die als kriminelle Vereinigung verfolgt wird“, riskiert, des „äußerst schwierig zu objektivierenden De- likts“ der Unterstützung, vor allem der Werbung für eine kriminelle Vereinigung, verdächtigt zu werden. Dieses Risiko erhöht sich noch, je häufiger der/die RA, der/die sich „mit Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze konfrontiert“ sieht, auf- grund einer „eventuellen politischen Solidarität“ mit seinen/ihren MandantInnen ei- nerseits und infolge seiner „Orientierung an rechtsstaatlichen Grundsätzen“ anderer- seits beginnt, sich „gegen die Verletzungen innerhalb und außerhalb des Prozesses zu wehren“. Bakker Shut kommt zu dem Ergebnis, dass der § 138a inakzeptabel sei. Die Regelung scheint ihm zu überzogen und „keineswegs die Verhältnismäßigkeit zu den auf dem Spiel stehenden Grundrechten und strafrechtlichen Prinzipien zu wahren“. 337 Kaum sind die neuen Gesetze in Kraft, werden nacheinander drei Verteidiger des an- stehenden Verfahrens in Stammheim ausgeschlossen - RA Ströbele nur zwei Tage vor dem Prozess, so dass Baader ohne eingearbeitete Verteidigung in die Gerichts- verhandlung gehen muss. 338 Aufgrund einer Klage des ausgeschlossenen RA Crois- sant beurteilt das BVG die Bestimmungen des § 138 als verfassungsgemäß. 339

Über die Ausschlussmöglichkeit von RA hinaus wird die Mehrfachverteidigung un- tersagt (§ 146 StPO). EinE RA darf in jedem Strafverfahren nur eineN AngeklagteN verteidigen, nicht aber mehrere. 340 Dieses Verbot erschwert die Verteidigung der wachsenden Zahl „politischer Gefangener“ schon deshalb, weil nur wenige RA in der Bundesrepublik das Vertrauen der Angeklagten genießen. Gleichzeitig sind nur eine Handvoll RA in der Lage und bereit, die schwierige Aufgabe einer RAF-Verteidigung und die damit zusammenhängenden Strapazen auf sich zu nehmen. 341 Die Änderung des § 146 beruht auf der Annahme, dass einE gemeinschaftlich beauf- tragte VerteidigerIn mehrerer Beschuldigter in einer Strafsache das Vertrauen ihrer MandantInnen zu Unrecht genießt, da er/sie nicht in der Lage sei, die möglicherweise gegebenen „Interessenkollisionen“ zu erkennen. Ursprünglich hat der Paragraph die

337 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 139ff 338 Vergl. Ströbele 1997, S. 63 339 Bakker Shut 1986, S. 135 340 Vergl. Peters 1991, S. 169 341 1974 gibt es „20 bis 30 Rechtsanwälte, die für etwa 40 bis 80 Gefangene aus dem SPK, der RAF und anderen revolutionären Gruppen als Verteidiger“ auftreten. Vergl. Bakker Shut 1986, S. 125

71 Funktion, Angeklagte mit unterschiedlichen Interessen davor zu schützen, bei Vertre- tung durch nur einen RA nicht ausreichend verteidigt werden zu können. 342 Der Charakter des alten 146 StPO beruhte auf der […] Annahme, daß ein Rechtsanwalt als un- abhängiges Organ der Rechtspflege beurteilen kann oder muß, ob und in welchem Ausmaß kol- lidierende Interessen vorliegen, die einer gemeinschaftlichen Verteidigung im Wege stehen könnten, wenn das nicht schon seine Mandanten selber feststellen können. 343 Der Paragraph gilt auch für bereits bestehende Verteidigungsverhältnisse. Eine bei Inkrafttreten der Gesetzesreform bereits ausgeübte Mehrfachverteidigung darf nicht bestehen bleiben. In diesem Fall sieht die Gesetzgebung vor, dass sich der/die RA binnen zwei Wochen für die Verteidigung eineR Beschuldigten entscheiden, oder a- ber sämtliche Mandate im jeweiligen Verfahren niederlegen muss. 344 Der Paragraph be- bzw. verhindert die „auf wechselseitige Entlastung abzielende, arbeitsteilige Ver- teidigungsstrategie“ der RAF-VerteidigerInnen sowie die „Möglichkeit eines kollegi- alen Zusammenwirkens“ unter den verschiedenen RA. 345 Dem steht weiterhin ungebrochen die arbeitsteilige und hoch spezialisierte Vorgehensweise der staatlichen Strafverfolgungsbehörden gegenüber, denen bei der Ausnutzung ihrer personellen wie institutionellen Ressourcen und Kompetenzen keine vergleichbaren Schranken gesetzt sind. 346 Auch in diesem Fall weist Bakker Shut darauf hin, dass mit § 146 StPO Grundrechte verletzt werden, nämlich das Recht auf freie Wahl eines/einer VerteidigerIn und das Recht auf freie Ausübung des (RA-) Berufes. Der § 146 existiert schon vor der Re- form durch das Gesetzespaket in fast identischer Form, jedoch mit anderem Ausle- gungsschwerpunkt. 347 Bakker Shut vermutet in dieser Regelung die Intention, die we- sentliche noch vorhandene Lücke in der Isolierung der Gefangenen, nämlich ihre kol- lektive Verteidigung, zu schließen“. In der „Übergangsregelung“ erkennt Bakker Shut einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. 348 Die Reform sieht auch vor, dass „bei fehlender richterlicher Zuständigkeit allein die Staatsanwaltschaft“ das Recht hat, ohne Zwischenschaltung eines/einer RichterIn einE WahlverteidigerIn beim Ver-

342 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 144 343 Bakker Shut 1986, S. 144 344 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 144ff 345 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 236 346 Berlit/ Dreier 1984, S. 236f 347 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 144 348 „Dieses Rechtsprinzip kann als Ausdruck des in einem Rechtsstaat hoch bewerteten Grundsatzes der Rechtssicherheit betrachtet werden: Der Bürger muß im Voraus wissen können, was er vom Staat zu erwarten hat.“ Bakker Shut 1986, S. 148

72 dacht auf Verstoß gegen § 146 von der Verteidigung zurückzuweisen. 349 Für Bakker Shut läuft die Gesetzesänderung unter der Prämisse: „Je weniger Rechte der Verteidiger, je weniger Justizhemmung, desto mehr ordnungsgemäßer, gesicherter Verfahrensablauf und damit funktionstüchtige Strafrechtspflege.“350 Nach seiner Meinung verfehlt die „Taktik von GBA und BKA“ nicht ihr Ziel und hat „verheerende Auswirkungen auf die Vorbereitung der Verteidigung in den verschie- denen RAF-Prozessen“. Zudem ist die Koordination kollektiver Hungerstreiks der RAF-Gefangenen gegen ihre Haftbedingungen damit erschwert. Auch kann eine kol- lektive Verteidigung unterbunden werden können, weil es für die noch zur Verfügung stehenden VerteidigerInnen wegen der teilweise weiten Reisen zeitlich erheblich er- schwert worden sei, die Verteidigung mit den Gefangenen abzustimmen“. 351

Die Zahl der WahlverteidigerInnen wird auf drei beschränkt (§ 137 StPO). Befürwor- terInnen des Gesetzes bringen vor seiner Verabschiedung die Befürchtung zum Aus- druck, dass zum Stammheimer Prozess gegen Baader, Ensslin, Meinhof, Meins und Raspe „über 50 Verteidiger“ erscheinen könnten. 352 Der § 137 bedeutet bei den Motiven und oft komplizierten Sachverhalten der Strafta- ten ebenfalls eine Erschwerung der Verteidigung. Komplizierte Verfahren benötigen nicht selten mehr als drei VerteidigerInnen, „weil der Umfang und die Aufgliederung des Prozeßstoffes eine mehrfache Arbeitsteilung gebieten“. Doch weder BAW, noch VerfechterInnen der Gesetzesänderung können diese Prophezeiung von der „An- waltsarmee“ mit konkreten Erfahrungen aus inzwischen abgeschlossenen Prozessen gegen RAF-Mitglieder begründen. Aufgrund dessen spricht Bakker Shut von einer „Scheinbegründung“, da die BAW „wissentlich und willentlich“ außer acht lässt, dass nur wenige RA für die Prozesse in Frage kommen. 353

349 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 153 350 Hans Dahs1975, zit. nach Bakker Shut 1986, S. 150 351 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 150ff 352 Vergl. Peters 1991, S. 169f „Anlaß war der Verdacht, daß das Recht, sich von einer unbegrenzten Anzahl von Anwälten verteidi- gen zu lassen, zu ‚Prozeßverschleppung’ oder sogar ‚Prozeßvereitelung’ führen könne. Die indirekte Initiative ging auch hier wiederum von der BAW aus, die schon längere Zeit behauptet hatte, der be- vorstehende Prozeß in Stammheim könne dadurch sabotiert werden, daß die für jeden Angeklagten einzeln auftretenden 10 bis 14 Rechtsanwälte auch tatsächlich von allen ihnen zur Verfügung stehen- den rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen würden.“ Bakker Shut 1986, S. 142 353 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 143

73 Mit dem Gesetzespaket reagiert der Bundestag auch auf die Befürchtung, die Ange- klagten könnten sich „durch Hungerstreik ‚verhandlungsunfähig’ fasten, bevor sie zur Sache vernommen“ werden können. Dadurch könnte die Hauptverhandlung zu Fall gebracht werden. Deshalb bestimmt die neue StPO in § 231a, dass eine Verhandlung auch in Abwesenheit des/der Angeklagten stattfinden kann, „wenn er sich vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand ver- setzt hat“. 354 Der Paragraph geht zurück auf den Beschluss einer Justizministerkonfe- renz. Verhandlungsunfähigkeit wird mit beschränkter Verhandlungsfähigkeit gleich- gesetzt, sofern diese das Mindestmaß von 9 bzw. 12 Stunden wöchentlicher Verhand- lungsdauer unterschreitet. 355 Wie das folgende Zitat belegt, erlegt § 231a auf, dass ohne den/die Angeklagte verhandelt werden muss: Schließlich trifft § 231a auch keine Regelung für den Fall, daß als Folge der vorsätzlichen Her- beiführung der Verhandlungsunfähigkeit ein irreparabler Zustand eintritt, der Angeklagte den Willen zur Verhinderung der ordnungsgemäßen Durchführung der Verhandlung aber nicht län- ger aufrecht erhält. Das ist problematisch insbesondere deshalb, weil der im Verhältnis zur op- timalen Sicherung des rechtlichen Gehörs eintretende Verlust nur wegen der freiwilligen Auf- gabe der Anwesenheit zu rechtfertigen ist. 356 Die Tatsache, dass der „Hungerstreikparagraph“ unmittelbar nach dem Tod von Hol- ger Meins und noch während des dritten kollektiven Hungerstreiks entworfen und eingeführt wird, veranlasst Bakker Shut zu der Behauptung, es handele sich hierbei um ein Gesetz mit „ad hoc-Charakter“. Auch verurteilt er, dass den Gefangenen mit § 231a eine der wenigen verbliebenen Protestformen gegen die Sonderhaftbedingungen genommen wird.357 In einem vom OLG Stuttgart in Auftrag gegebenen fachärztlichen Gutachten über den Gesundheitszustand der Angeklagten werden sowohl die Haftbe- dingungen, als auch die Hungerstreiks für mitursächlich für eine partielle Verhand- lungsunfähigkeit benannt. Der vorsätzliche Hungerstreik verschärfe also den durch die Haftbedingungen schon beeinträchtigten Gesundheitszustand der Angeklagten weiter, was die Anwendung von § 231a rechtfertige. Damit erkennt ein Gericht erst-

354 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 241ff 355 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 276f 356 Berlit/ Dreier 1984, S. 242 357 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 154f „Ist man der Überzeugung, daß die auf Gefangene aus der RAF angewandte lange Isolationshaft als menschenunwürdig und zur Verhandlungsunfähigkeit führende Behandlung und der Hungerstreik ei- nes Gefangenen als legitimes Mittel des Widerstands dagegen anzusehen sind, dann kann § 231a StPO nur als schwerwiegende negative Sanktionierung des rechtmäßigen Widerstands gegen unrechtmäßiges Auftreten staatlicher Behörden gesehen werden. Negativ sanktioniert wird dann die Absicht, am Pro- zeß als verhandlungsfähiger Angeklagter teilzunehmen: eine Verletzung des verfassungsmäßig garan- tierten ‚Anspruchs auf rechtliches Gehör’ (Artikel 102 GG).“ Bakker Shut 1986, S. 155

74 mals indirekt an, dass gesundheitsgefährdende Haftbedingungen bestehen, „deren Be- zeichnung vordem als Inbegriff der Verleumdung des Staates und seiner Sicherheits- organe“ gilt. 358

Eine weitere Neuerung bedeutet die Kronzeugenreglung. Der/die KronzeugIn, des- sen/deren Aussagen zur Überführung oder Ergreifung von MittäterInnen führen, soll sämtlicher von ihm/ihr begangener Straftaten zum Trotz straffrei ausgehen. Eine Ausnahme bildet der Tatvorwurf des „vollendeten Mordes“, bei dem der/die Kron- zeugIn eine Strafmilderung von lebenslänglich auf drei Jahre Haft erwarten kann. KritikerInnen merken zu dieser Regelung an, dass die Gefahr besteht, KronzeugInnen könnten andere zu Unrecht belasten, „um die erwünschte Straffreiheitsprämie zu ver- dienen“. Außerdem habe sich in der Praxis gezeigt, dass diejenigen, die sich bisher von der terroristischen Gruppe gelöst haben, nicht zur Preisgabe von Informationen, die zur Ergreifung weiterer Gruppenmitglieder geführt hätten, bereit gewesen sind. 359 Narr kritisiert, dass die Kronzeugenregelung seit Einführung in den 1970ern ein Un- gleichgewicht zuungunsten der Verteidigung bedeutet. Damit ist die ohnehin schwie- rige Balance zwischen Verteidigung auf der einen und Anklage und Gericht auf der anderen Seite nicht mehr gewährleistet. 360

4.1.2 „Gewaltparagraphen“ : §§ 138a, 88a StGB

Die „Gewaltparagraphen“ werden Mitte Januar 1976 vom Parlament verabschiedet und treten am 1. Mai 1976 in Kraft. In den neu geschaffenen Paragraphen wird die Absicht erkennbar, eine Art Generalklausel gegen Gewaltbefürwortung zu schaffen. Der § 130a StGB stellt generell jedeN unter Strafe, der/die in Schriften oder in Ver- sammlungen zu bestimmten Gewalttaten anleitet oder befürwortet.361 Die Verbreitung oder auch nur den Besitz von Schriften, die Gewalt propagieren oder sich gegen Be- stand oder Sicherheit der BRD richten, wird unter Strafe von bis zu drei Jahren Haft gestellt.362 Sie gehören zu den „umstrittensten Entscheidungen des Bundestages auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung“. Um den KritikerInnen Rechnung zu tra-

358 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 277 359 Vergl. Fetscher 1977, S. 87 360 Vergl. Narr 1996, S. 11f 361 Vergl. Berlit/Dreier 1984, S. 286 362 Vergl. Demes 1994, S. 219

75 gen, die argumentieren, dass dann selbst die Bibel verboten werden könne, wird der Straftatbestand der Befürwortung enger gefasst. Ausdrücklich ausgenommen von den Strafbestimmungen sind die Bereiche Kunst, Wissenschaft, Berichterstattung und Zeitgeschichte. Trotz der „Entschärfung“ bleiben die Gewaltparagraphen umstritten. Befürchtet wird vor allem, dass sich die neuen Paragraphen zu einem „gefährlichen Mittel gegen die Meinungsfreiheit“ entwickeln können. Kritisiert wird außerdem, dass sämtliche Gewaltdelikte und damit verbundene Straftaten bereits an anderer Stel- le unter Strafe stehen und die Neuerung praktisch unnötig sei. 363 Dieter Lattmann (SPD), Parlamentarier und Schriftsteller […] wies auf die Gefahr hin, daß durch gesetzestechnischen Perfektionismus ein Klima von Einschüchterung, Opportunismus und Selbstzensur geschaffen werde. Lattmann: „Eine Bewegung ist in Kraft, die Freiräume einengt und in einigen Fällen Weimarer Ausmaße von Demokratiefeindlichkeit annimmt.“ 364 Im August 1976 kommt es aufgrund der §§ 88a und 130a bundesweit zu Durchsu- chungsaktionen von Buchläden, Druckereien und Wohngemeinschaften. 365 Vor den Augen der Öffentlichkeit rollte eine massive Einschüchterungsoperation ab, die nichts mit Terrorbekämpfung zu tun hatte. Die beteiligten Beamten, die bei der Durchsuchung […] und beim Beschlagnahmen von Büchern nicht zimperlich vorgingen, lieferten einen Vorge- schmack dafür, was sich mit dem Gewaltparagraphen alles machen lässt. 366 Die §§ 88a und 130a werden als „unverhältnismäßig, ungeeignet und für die geistige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus schädlich“ kritisiert und schließlich 1981 wieder abgeschafft. 367 Ihre Aufhebung wird u.a. damit begründet, dass „den Vor- schriften nur eine verschwindend geringe kriminalpolitische Bedeutung“368 zuge- kommen ist, wohingegen der „verunsichernde, Solidarisierungseffekte bewirkende Einfluß auf das geistige Klima“ unverhältnismäßig hoch eingeschätzt werden kann.369

363 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 79f „Es entsteht bei den Adressaten der Eindruck, als seien weit mehr Äußerungen strafbar, als es auch bei extensiver Anwendung des Tatbestandes zu erwarten war.“ Berlit/ Dreier 1984, S. 287 364 Vinke/Witt 1978, S. 80 365 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 8f 366 Vinke/Witt 1978, S. 9 367 Vergl. Kerscher 1986, S. 82 368 „Von den häufig mit Durchsuchungen und Beschlagnahmen verbundenen Ermittlungsverfahren wurden ca. 75 % […] eingestellt, ohne daß die kontrollierenden und stigmatisierenden Folgen der Er- mittlungseingriffe damit hätten beseitigt werden können.“ Berlit/ Dreier 1984, S. 287 369 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 286

76 4.1.3 „Anti-Terrorismus-Maßnahmen“ : §§ 129a, 138 StGB

Am 18. August 1976, eineinhalb Jahre nach der Verabschiedung des ersten „Anti- Terror-Pakets“, wird vom Bundestag ein weiteres Bündel mit gesetzlichen Bestim- mungen bezüglich neuer „Anti-Terrorismus-Maßnahmen“ verabschiedet. Mit § 129a wird der Straftatbestand der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ als zentraler Pfeiler des neuen Gesetzespaketes eingeführt. Bislang sind RAF-Mitglieder der „Bil- dung einer kriminellen Vereinigung“ (§ 129 StGB) angeklagt worden. Dem organi- sierten Zusammenwirken von Gruppen wie der RAF, glauben die GesetzgeberInnen damit nicht mehr genügen zu können. Die weitreichenden Wirkungen des § 129a be- ruhen auf der „Verknüpfung strafprozessualer Sonderregelungen mit einer deutlich erweiterten Zuständigkeit“ von BAW als der zentralen Ermittlungsbehörde. 370 Der neue Paragraph stellt nicht nur die Gründung und Unterstützung, sondern auch die Werbung für eine terroristische Vereinigung unter Strafe. Unterstützung gilt als Bei- hilfe: Die Beihilfe ist bereits im Vorbereitungsstadium strafbar, ohne daß es mindestens zum Versuch der Haupttat gekommen sein muß. An die Qualität der Beihilfehandlung werden geringere An- forderungen gestellt, als die zumindest nach der Rechtssprechung sonst üblich ist […]. 371 Die Unterstützung bedeutet eine erfolgreiche, materielle Beihilfe zur Gründung oder Fortführung einer Vereinigung, während die Werbung als erfolglos gebliebener Ver- such der Unterstützung gewertet wird. 372 Der Begriff der Werbung wird folgender- maßen definiert: Man kann darunter die Anwerbung von Mitgliedern für die kriminelle Vereinigung, die Wer- bung um Unterstützung der kriminellen Vereinigung aber auch ganz abstrakte Sympathiewer- bung für die Ziele und Methoden der kriminellen Vereinigung verstehen. […] Der Strafwürdig- keit nach entspricht dieses Verhalten der Anstiftung zur Beihilfe. 373 Unter Werbung wird bereits verstanden, wenn jemand den Schriftzug „RAF“ an eine Wand pinselt. 374 Damit werden Bagatelldelikte, wie Sachbeschädigung, die zuvor le- diglich als Vergehen behandelt worden sind, über § 129a zu Verbrechen aufgewer- tet. 375

370 Vergl. Kerscher 1986, S. 80ff 371 Langer-Stein 1987, S. 224 372 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 282 373 Langer-Stein 1987, S. 227ff 374 Vergl. Peters 1991, S. 170 375 Vergl. Gössner 1991, S. 59

77 Personen, die von „Isolationshaft“ der Gefangenen aus der RAF schrieben oder Transparente aufhängten mit der Aufschrift „Solidarität mit dem Hungerstreik“ wurden nach der neuen Vor- schrift in Untersuchungshaft genommen und Sonderhaftbedingungen unterworfen.376 Der BGH gestaltet das Werben als „selbständige Täterhandlung“ aus, womit die „Be- gehungsformen des Werbens und Unterstützens“ in vollem Umfang als „Teilnahme- handlung“ an Straftaten anzusehen sind. Der Straftatbestand der „Unterstützungswer- bung“ lässt keine signifikante Trennung zwischen straffreien Vorbereitungs- und strafbaren Tathandlungen zu. Wegen Werbens kann sich jemand strafbar machen, der/die eineN andereN zu einer versuchten Unterstützung veranlasst. 377 Es findet eine Zentralisierung per Sonderzuständigkeit statt, die zu einer enormen staatlichen Machtkonzentration und zur Vereinheitlichung der Ermittlungs- und An- klagepraxis führt. Zuständig für 129a-Verfahren ist das OLG, was den Verlust einer Instanz bedeutet, da nur noch eine Revision vor dem BGH und keine Berufung mehr möglich ist. 378 Zudem ist § 129a von „erheblicher praktischer Bedeutung“, denn er ermöglicht eine relativ hohe Freiheitsstrafe, „ohne daß dafür das sehr komplizierte Zusammenwirken der Mitglieder“ der terroristischen Vereinigung „bis ins letzte De- tail aufgeklärt sein muß“. 379 §129a StGB verlagert den Bereich strafrechtlich relevanter Handlungen weit in den Vorberei- tungs-, weiter noch: in ein bloßes Vorstadium ohne konkreten Bezug zur Realisierung einer in- dividuellen Rechtsgutsbeeinträchtigung hinein, wobei die offene Struktur der Normen, die po- tentielle Weite des Anwendungsfeldes und der Mangel an objektiven, konkreten Tatbestands- merkmalen Zweifel daran aufkommen lassen, ob hier noch norminterne Schutzwälle gegen die Transformation in ein Gesinnungsstrafrecht identifizierbar sind. 380 Das Problem der Zurechnung von Straftaten stiftet allgemein Verwirrung 381 , da die Abgrenzung eines Deliktes zu legalem Handeln verschwimmt. Der Paragraph, nach dem eine Verurteilung von Mitgliedern einer entsprechenden Vereinigung allein

376 Ströbele 1997, S. 63 377 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 282f „Nach § 30 StGB ist der Versuch der Beteiligung nur bei Verbrechen strafbar […], also nur im Falle des § 129a Abs. 2 (das hieße Werbung mit dem Ziel der Gewinnung eines Rädelsführers oder Hinter- mannes […] – ein konstruierbarer, aber kaum praktisch werdender Sachverhalt).“ Berlit/ Dreier 1984, S. 282 378 Vergl. Gössner 1991, S. 56f 379 Vergl. Langer-Stein 1987, S. 3 380 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 233 381 Vergl. Werkentin 1991, S. 13 „Was liegt aber weit im Vorfeld der Vorbereitung konkreter strafbarer Handlungen? Es ist der Bereich des prinzipiell erlaubten Verhaltens, des an sich legalen Handelns und Redens. Dies qualifiziert diese Tatbestände als Elemente politischen Strafrechts. Sie dienen dazu, nicht allgemeine Rechtsgüter zu schützen sondern in justizförmigen Verfahren politische GegnerInnen auszuschalten, bevor sie gege- benenfalls politisch zu gefährlich werden könnten. Dafür hat sich der Begriff ‚politische Justiz’ einge- bürgert.“ Werkentin 1991, S. 13

78 durch die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe möglich ist, wird zum In- strument, mit welchen die BAW Mitglieder verurteilen kann, ohne ihnen direkte Tat- beteiligung nachweisen zu müssen. Strafverfahren können so aus Sicht der Strafver- folgungsbehörden „effektiviert“ werden. 382 Hier zeigt sich in besonderer Art und Weise das Problem bei der Kriminalisierung von Vorbe- reitungshandlungen: Unendlich viele Handlungen können zum Anknüpfungspunkt gewählt werden, wenn man das Tatschuldrecht verlässt und den bloßen Entschluß des Täters als maß- gebliches Kriterium benutzt. 383 Der § 129a hat primär die Funktion, für den Terrorismus und dessen politisches Um- feld Sonderregelungen im Strafverfahren, im Strafrecht und im Strafvollzug zu schaf- fen. 384 Werkentin spricht davon, dass damit ein Wechsel „von einem Tat- zu einem TäterInnenstrafrecht“ markiert sei, da nicht erst konkrete Handlungen im Sinne von manifesten Rechtsverletzungen die Strafbarkeit begründen sollen, sondern der be- stimmten Handlungen und Äußerungen unterstellte politische Sinn. 385 Anders als bei §129 bezieht sich § 129a auf politisch motivierte Straftaten, wobei der Staatsschutz im Vordergrund steht. Er soll „solche Rechtsgüter schützen, die für die öffentliche Si- cherheit wesentlich sind“. 386 Der § 129a dient zudem als „Ermittlungsparagraph“, der der Polizei aufgrund von „verquickten strafprozessualen Sonderermittlungsbefugnis- se[n], ein schier unbegrenztes Arsenal an Ausforschungsmöglichkeiten an die Hand gibt“. 387 Eine Reihe von Eingriffsrechten für Polizei und Staatsanwaltschaft werden durch § 129a begründet, die jene bei „Normdelikten des gemeinen Strafrechts“ weit übersteigen. 388 [§ 129a dient] als Instrument der Repression im Vorfeld der gerichtlichen Verurteilung. Haus- durchsuchungen und Festnahmen, Kontrollen […], extensive U-Haft unter erleichterten Voraus- setzungen (Vorwurf einer Straftat nach § 129a als absoluter Haftgrund) wie insgesamt eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren, […] qualifizieren den § 129a als vielfältig genutztes Instru- ment politischer Bestrafung durch Polizei und StaatsanwältInnenschaft ohne Schuldnachweis. 389 Nach Werkentin reiht sich § 129a ein in das System des Staatsschutzes, bei dem die „Parallelität zwischen der Stärke des Verdachts und der Schwere des Tatvorwurfs“

382 Vergl. Demes 1994, S. 58f 383 Langer-Stein 1987, S. 226 384 Vergl. Giehring 1991, S. 29 385 Vergl. Wekentin 1991, S. 13 386 Vergl. Langer-Stein 1987, S. 25ff 387 Vergl. Werkentin 1991, S. 21 388 „Zusatzermächtigungen“: Telefonüberwachung, Durchsuchung unverdächtiger Dritter, Anordnung einer Kontrollstelle, Datenspeicherung in der so genannten Schleppnetzfahndung etc. Vergl. Gräßle- Münscher 1991, S. 44 389 Vergl. Werkentin 1991, S. 21

79 aufgehoben werde, womit das „Verhältnismäßigkeitsprinzip systematisch ausgehe- belt“ sei. 390 Als Beispiel soll an dieser Stelle kurz auf die „Begehungsform des Unter- stützens und Werbens“ eingegangen werden. Diese Formulierungen von Tatbestän- den können laut Giehring in Konflikt mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit ste- hen. Mit dem im Gesetzestext festgeschriebenen „Verzicht auf einen durch die Unter- stützung bewirkten messbaren Nutzen“ wird praktisch jede Handlung, die geeignet ist, die Vereinigung zu fördern, als Unterstützung erfassbar. 391 Dadurch, daß die psychische Bestärkung der Mitglieder der Vereinigung ausreicht, ist nach der Rechtssprechung auch die Mitwirkung von VerteidigerInnen beim Aufbau und Betrieb eines In- formationssystems inhaftierter Mitglieder oder bei der Durchführung eines Hungerstreiks, der dem Zusammenhalt einer in der Haft bestehenden terroristischen Vereinigung dient, als Unter- stützung strafbar. 392 Sollten Kommunikationsinhalte eine „positiv bestärkende Wirkung“ haben, Wohl- wollen, Solidarität, Zustimmung oder Sympathie ausdrücken, wird jede Kommunika- tion mit Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung nach § 129a mit einer Mindest- strafe von sechs Monaten Freiheitsentzug geahndet, auch wenn die „propagandisti- sche Tätigkeit“ keinen nachweisbaren Erfolg hat. 393 Wenn das Organisieren einer Diskussions-Veranstaltung über die Haftbedingungen politischer Gefangener bereits einen Straftatbestand darstellen kann, wird damit nicht nur Öffentlichkeit für die Haftbedingungen verhindert, es wird versucht, eine Art der zivilen politischen Ausei- nandersetzung zu verändern. 394 Die Postkontrolle wird auf den Schriftverkehr zwischen MandantIn und RA ausge- weitet, soweit es sich um Strafsachen im Zusammenhang mit § 129a handelt, da der Verdacht besteht, sie könnten „konspirativ zusammenwirken“. Außerdem führt das Gesetzespaket ein zeitlich begrenztes Berufsverbot von ein bis fünf Jahren als ehren- gerichtliche Maßnahme gegen VerteidigerInnen ein. 395 Dieser Eingriff […] bedeutet „eine pauschale Deklassierung aller Wahlverteidiger und Pflicht- verteidiger, die in Verfahren tätig sind, die u.a. einen Vorwurf nach § 129a StGB zum Gegens- tand haben“. 396

390 Vergl. Werkentin 1991, S. 22 391 Vergl. Giehring 1991, S. 30f 392 Vergl. Giehring 1991, S. 31 393 Vergl. Giehring 1991, S. 32f 394 Vergl. Tolmein 1991, S. 220 395 Vergl. taz-Journal 1997, S. 62, Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 311 396 Hans Dahs 1976, zit. nach: Berlit/ Dreier 1984, S. 239

80 Die Korrespondenz muss nun einem/einer „LeserichterIn“ vorgelegt werden, der/die an dem Strafverfahren nicht beteiligt ist und den Briefverkehr überprüft. Die gesamte Anwaltschaft kritisiert diese neue Vorschrift, denn die Erstreitung des freien mündli- chen und schriftlichen Verkehrs zwischen RA und MandantIn aus dem Jahr 1965 gilt als großer Fortschritt. 397 RA Hans Dahs vertritt die Position, die Überwachung in Ter- rorismus-Verfahren breche in das Vertrauensverhältnis zwischen MandantIn und RA in einem Maße ein, das eine „rechtsstaatlich gebotene ordnungsgemäße Verteidigung unmöglich“ mache 398 : „Sie beeinträchtigt das Grundrecht des Beschuldigten auf Verteidigung in so fundamentaler Weise, daß er letztlich als unverteidigt angesehen werden muß. Das rechtsstaatlich garantierte Recht auf Verteidigung ist für ein faires Verfahren von so elementarer Bedeutung, daß es auch eine auf den Schriftverkehr beschränkte Überwachung nicht verträgt.“ 399

Der § 138 StGB wird auf die Nichtanzeige geplanter Straftaten ausgeweitet: JedeR, der/die von einer „‚beabsichtigten Terroristen-Tat’ glaubhaft erfährt“ muss umgehend Meldung bei der Polizei machen oder kann mit Freiheitsentzug bestraft werden. Er- fährt man also beispielsweise, dass Flugblätter mit einer Solidaritätserklärung für die RAF verteilt werden sollen, ist man unter Strafandrohung zur Anzeige verpflichtet. 400 Lassen sich bei Personen im Umfeld terroristischer Vereinigungen weder Gründung, Mitglied- schaft, Unterstützung noch Werbung nachweisen, so bleibt möglicherweise der Vorwurf, die Beschuldigten hätten aber von bevorstehenden strafbaren Handlungen nach § 129a StGB ge- wusst und keine Anzeige erstattet. 401 Die Ausdehnung der Anzeigepflicht nimmt auch ÄrztInnen und VerteidigerInnen nicht aus und setzt somit die Verschwiegenheitsverpflichtung außer Kraft. 402 „Diese Regelung zeigt, daß der Gesetzgeber allzu schnell bereit ist, im Interesse von erhofften größeren Ermittlungserfolgen der Strafverfolgungsbehörde Einbrüche in so erprobte und unver- zichtbare Rechtsgrundsätze wie die Verschwiegenheitspflicht des Arztes und Rechtsanwaltes durchzuführen.“ 403

Ebenfalls Element des Anti-Terror-Paketes ist die Ausdehnung der Voraussetzungen für die Untersuchungshaft. Wer der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereini-

397 Vergl. Peters 1991, S. 169ff 398 Vergl. Hans Dahs 1976, zit. nach: Peters 1991, S. 70f 399 Hans Dahs 1976, zit. nach: Peters 1991, S. 171 400 Vergl. Giehring 1991, S. 33 401 Giehring 1991, S. 33 402 Vergl. Peters 1991, S. 171 403 Hans Dahs, zit. nach: Peters 1991, S. 171

81 gung verdächtigt wird, kann künftig auch ohne die vorher unbedingt notwendige Flucht- oder Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft genommen werden. Eine Untersuchungshaft kann also ohne unmittelbaren Haftgrund verhängt werden. 404

Der Jurist und Publizist Rolf Gössner erkennt im § 129a des Strafgesetzbuches ein ganzes Ausforschungssystem. Die „hervorstechendste Eigenschaft des § 129a“ be- stünde „neben der systematischen Entrechtung“ darin, bereits in der Ermittlungsphase „staatliche Sonderrechte zu aktivieren“. 405 Sobald von den Ermittlungsbehörden ein „Anfangsverdacht“ nach § 129a angenommen wird, eröffnet sich ihnen schlagartig ein einmaliges staatliches Repressions- und Präventionsarsenal, mit dessen Hilfe politisch oppositionelle Szenen, Gruppen und politisch verdächtige Einzelindi- viduen in großem Stil ausgeforscht und kriminalisiert werden können. 406 Mit § 129a wird z.T. intensiv in die Grundrechte der Betroffenen eingegriffen. So können § 129a-Verdächtige von der BAW als eine Art „Köder“ dazu benutzt werden, um völlig legal ihr gesamtes soziales Umfeld auszuforschen, sämtliche persönliche, berufliche und politische Kontakte fallen darunter. Allein die Tatsache, dass jemand Kontakt- oder Bezugsperson einer verdächtigen Person oder auch nur Kontaktperson einer Kontaktperson ist, reicht aus, um in die Ermittlungen des Staatsschutzes zu ge- raten. Nicht konkrete Taten, sondern politisch verdächtige Zusammenhänge bieten Anlass für Ermittlungen. Gössner beschreibt, wie mithilfe einer kaum überprüfbaren „Terrorismus-Konstruktion“ überaus vielschichtige heterogene Gruppen und Protest- bewegungen zur „mutmaßlichen terroristischen Vereinigung“ gemacht werden kön- nen. 407 Laut Gössner greifen die Ermittlungsbehörden bei Verhören nicht selten zu einem „Trick“, um das Recht auf Auskunftsverweigerung auszuhebeln, indem sie die ZeugInnen im unklaren lassen, dass gegen sie längst auch Ermittlungen im selben Verfahrenskomplex laufen, „sie also auch Beschuldigte sind, was sie nach der Strafprozeßordnung (§ 55) eigentlich berechtigt, die Auskunft zu verweigern“. Die erstellten „Soziogramme des Widerstands“ können nach Gössner „nicht nur repressiv, sondern auch präventiv und operativ genutzt werden“. Von den eingeleiteten Ermitt-

404 Vergl. Peters 1991, S. 171 405 Vergl. Gössner 1991, S. 42 406 Gössner 1991, S. 42 407 Vergl. Gössner 1991, S. 42ff Scheinbar geht die Rechnung der Staatsschutzbehörden auf: „Viele der Zeugen […] machen tatsäch- lich mehr oder weniger umfangreiche Aussagen „zur Sache“ – aus unterschiedlichen Motiven: so aus purer Angst, unter dem ungeheuren Druck eines […] „Terrorismus“-Verdachts, wegen der als uner- träglich empfundenen Verhörsituation oder in der Annahme, die Beschuldigten mit einer eigenen Aus- sage entlasten zu können.“ Gössner 1991, S. 46f

82 lungsverfahren führt nur ein Bruchteil zur gerichtlichen Aburteilung. Die meisten Ermittlungsverfahren nach § 129a werden mangels strafrechtlicher Substanz einge- stellt. 408 Der unverhältnismäßige Ermittlungsaufwand in 129a-Fällen steht […] in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in keinem Verhältnis zum Endergebnis. Diese „erfolglosen“ Ermittlungsver- fahren stellten sich letztlich als unberechtigt heraus. 409 Damit untermauert Gössner seine These, bei § 129a handele es sich hauptsächlich um einen „fungiblen Ermittlungs- und Ausforschungsparagraphen“ mit „existenzbedro- henden Auswirkungen“. Solche „staatlichen Angriffe auf die Integrität“ von Beschul- digten sei vielschichtig, bedeuten sie doch Hausdurchsuchungen, Ermittlungen am Arbeitsplatz, monatelange Lausch- und Spähangriffe gegen den gesamten Bekann- tenkreis und nicht zuletzt „Untersuchungshaft, die in solchen Fällen stets unter Isola- tionshaftbedingungen vollzogen wird“. 410

4.1.4 Das „Anti-Terror-Paket Nummer Zwei“

Das „Anti-Terror-Paket Nummer Zwei“ wird im April 1978 vom Parlament verab- schiedet. Darin werden eine ganze Reihe ergänzender Maßnahmen zur Terrorismus- bekämpfung verankert, wobei alle neuen Eingreifsmöglichkeiten „ganz oder fast aus- schließlich“ an § 129a StGB gekoppelt sind. Der Ausschluss von VerteidigerInnen wird nochmals erleichtert, das „Erfordernis eines dringenden Tatverdachts“ fällt weg. 411 Die Polizei erhält zusätzliche Möglichkeiten, die Identität auch unverdächti- ger Personen festzustellen, die ohne Ausweis angetroffen werden, wobei diese zur I- dentitätsfeststellung auch bis zu 12 Stunden in Gewahrsam genommen werden dür- fen. 412 Gebäudekomplexe, in denen § 129a-Verdächtige vermutet werden, also nicht nur einzelne Wohnungen, sondern ganze Wohnblocks, dürfen ohne weiteres durch- sucht werden. Bei Großfahndungen können Straßenkontrollstellen eingerichtet wer-

408 Vergl. Gössner 1991, S. 48ff 409 Gössner 1991, S. 51 410 Vergl. Gössner 1991, S. 51 411 Vergl. Kerscher 1986, S. 86f Zur Verschärfung des Verteidigungsausschlusses: „Zum einen durch Herabsetzung der Eingriffs- schwelle infolge Verringerung des Tatverdachts und Ausweitung des Kreises von Straftatbeständen, zum anderen durch Verstärkung und Ausweitung der Ausschlußwirkungen. In beiden Fällen waren die Novellierungen besonders auf Konstellationen in Verfahren nach § 129a StGB zugeschnitten.“ Berlit/ Dreier 1984, S. 237 412 Solcherlei Maßnahmen brechen mit bisherigen Grundprinzipien des Rechts, wonach „staatliche Zwangsbefugnisse“ an einen konkreten Tatverdacht geknüpft sind. Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 231

83 den, womit die Polizei vom Zwang befreit ist, solche Sperren als Verkehrskontrollen zu tarnen. Und schließlich dürfen RA von „§ 129a-Beschuldigten“ nur noch durch ei- ne Trennscheibe mit ihren MandantInnen sprechen. 413 Obwohl als Sondergesetze beschlossen, wenn auch bewußt nicht als solche gekennzeichnet, ver- loren einige zentrale Neuregelungen bald ihren Ausnahmecharakter. Der zunächst punktuelle Verzicht auf das Erfordernis eines konkreten Verdachts (beim Verteidigerausschluß) oder über- haupt eines Verdachts (bei den Kontrollstellen) als Voraussetzung für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wurde allmählich zu einem vertrauten Instrument. 414

4.2 Zur Rolle der Verteidigung in Terrorismus-Strafsachen

Der für die Formel von der „streitbaren Demokratie“ konstitutive Grundsatz „Keine unbedingte Freiheit für die Feinde der Freiheit“ verwandelte sich […] unversehens in das Prinzip „Keine unbedingten Rechte für die Feinde des Rechts“.415

Die in den 1970er Jahren bezüglich der Terrorismus-Verfolgung verabschiedeten Ge- setze, Gesetzesänderungen und –ergänzungen sind in einigen Fällen speziell auf an- stehende Strafprozesse zugeschnitten. Die Prozesse des Terrorismus angeklagter Per- sonen bedeutet alleine von der Dimension her eine überaus angespannte Situation für alle Beteiligten. 416 Die betreffenden Gesetze sind oben bereits besprochen 417 , an die- ser Stelle geht es um die konkreten Auswirkungen und die Praxis dieser Gesetze. „Meine Damen und Herren, wir haben im Jahre 1968 einen neuen Typ von Angeklagten fest- stellen können. Wir mußten 1974 einen neuen Typ von Verteidigern, von sogenannten Rechts- anwälten, feststellen, und wir haben uns in der Gesetzgebung darauf einzustellen.“ 418 Bei der Verfolgung der RAF geraten linke RA früh ins Fadenkreuz der Fahnder. Sie werden verdächtigt, Kontakte mit untergetauchten RAF-Mitgliedern zu haben und die

413 Vinke/Witt 1978, S. 311 414 Vergl. Kerscher 1986, S. 84f 415 Horn 1982, S. 84 416 Bakker Shut zum Prozess in Stammheim: „Vom strafprozeßrechtlichen Standpunkt aus gesehen muß die Verhandlung eines Strafprozesses auf dem Areal eines Gefängnisses, in einem für ihn ge- bauten und eingerichteten Gerichtsgebäude, das paramilitärisch abgesichert ist, die Frage aufwerfen, ob ein solcher Prozeß noch den Anforderungen an ein „fair public hearing“, an eine faire und öffentli- che Verhandlung, genügen kann. Weiter läßt sich fragen, ob Richter, die sich dort für längere Zeit qua- si selber mit einsperren, nicht selbst den äußeren Schein einer unabhängigen Haltung gegenüber der Exekutive aufgegeben haben, einmal abgesehen von dem Einfluß, den eine solche Umgebung auf die dort Anwesenden ausüben muß. Und schließlich scheint mir eine solche Prozeßumgebung im Wider- spruch zur grundgesetzlich garantierten Unschuldsvermutung zu stehen.“ Bakker Shut 1986, S. 174 417 Vergl. Kapitel 4.1ff dieser Arbeit 418 MdB Dürr (SPD) am 24.10.1974, zit. nach: Demes 1994, S. 86f

84 Kommunikation zwischen Gefängnis und Illegalität zu unterstützen. 419 In einer Ent- scheidung vom Februar des Jahres 1972 hat das Bundesverfassungsgericht festge- stellt, dass keine Rechtsgrundlage dafür vorhanden sei, in einem Strafverfahren einem Rechtsanwalt die Verteidigungsbefugnis zu entziehen, weil er im Verdacht der Teil- nahme an der den Beschuldigten zur Last gelegten Straftat stehe. 420 „Wir sind der Meinung, daß die Lücke, die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsge- richt […] aufgedeckt worden ist, im Interesse unserer Rechtspflege schleunigst geschlossen werden muß.“421 Als bei der Festnahme Ulrike Meinhofs im Juni 1972 ein Kassiber von der bereits in- haftierten Gudrun Ensslin gefunden wird, ist die BAW davon überzeugt, RA Otto Schily habe den Schrieb von seiner Mandantin aus dem Gefängnis geschmuggelt und an sich noch in Freiheit befindliche Gruppenmitglieder weitergegeben. 422 Die BAW stellt den Antrag, Schily zwangsweise von der Verteidigung Ensslins auszuschließen. Dem Antrag wird zunächst vom OLG entsprochen, obwohl RA Schily ein solcher Transport nie nachgewiesen werden kann. Im August 1972 bestätigt der BGH zwar diese Entscheidung, das BVG hebt sie jedoch im Februar 1973 wieder auf, da ein Verteidigerausschluss „weder durch Gesetz noch durch Gewohnheitsrecht gedeckt ist“. 423 Dies ändert sich mit der Verabschiedung der „Lex RAF“. 424 Die Verteidigung ist stark betroffen von den Anti-Terror-Gesetzen, steht sie doch im Zentrum der vielfältigen Rechtsänderungen. Ihre Position – und damit verbunden die der Angeklagten - wird durch die Eingriffe am schwerwiegendsten geschwächt, in- dem zentrale, vorher unangefochtene Rechte, eingeschränkt oder eliminiert werden. An den verringerten Handlungskompetenzen der VerteidigerInnen lässt sich eine Ge- samtveränderung in den Strafprozessen am deutlichsten ablesen. 425 „Dem von staatlicher Bevormundung freien, mit neuen Rechten zugunsten des unter der Un- schuldsvermutung stehenden Beschuldigten ausgestatteten Verteidiger des Strafprozeßände- rungsgesetzes 1964 steht im Jahre 1976 ein Verteidiger gegenüber, dessen Stellung durch Tele- fonüberwachung, Ausschluß von Beweiserhebungen der Staatsanwaltschaft in Ermittlungsver-

419 Vergl. Kapitel 4.1.1 und 4.2 dieser Arbeit 420 Vergl. Peters 1991, S. 141f, 168f 421 MdB Carl Otto Lenz (CDU/CSU) am 11.10.1974 in der Debatte um die Änderung der Strafprozess- ordnung, zit. nach: Vinke/Witt 1978, S. 21 422 „Anwälte missbrauchten die ihnen als Verteidiger eingeräumten Privilegien, in dem sie […] RAF- Post transportierten und verteilten.“ Peters 1991, S. 168f 423 Vergl. Peters 1991, S. 141f 424 Vergl. Kapitel 4.1.1 dieser Arbeit 425 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 246

85 fahren, erweiterte Pflicht zur Anzeige von Straftaten, Ausschließung aus dem Verfahren und Überwachung seiner Korrespondenz mit dem inhaftierten Klienten charakterisiert wird.“ 426 Die zentrale Stellung von VerteidigerInnen beruht auf ihrer institutionellen Mittler- funktion zwischen dem/der MandantIn einerseits und den staatlichen Instanzen und der Öffentlichkeit andererseits. Mit der Anti-Terror-Gesetzgebung werden Vorverur- teilungen und Verdacht zu Grundlagen legislativer Maßnahmen. Seit Beginn des Konfliktes zwischen RAF und der Bundesrepublik und den Versuchen der rechtlichen Bewältigung des Terrorismus gibt es eine Tendenz, die VerteidigerInnen von außen mit den Zielen und Methoden der Angeklagten zu identifizieren. Eine Entwicklung, die sich im Verlauf der Auseinandersetzungen verstärkt. Genährt wird dieser Trend nicht zuletzt durch den wenig beweiskräftigen Umstand, dass einige der Verteidige- rInnen ähnliche politische Biographien aufweisen und dem gleichen politischen Spektrum zugeordnet werden. Kleinigkeiten, wie die Tatsache, dass sich MandantIn und VerteidigerIn duzen oder sich mitunter als Genossen bezeichnen, nähren Ver- dachtsmomente, dass die VerteidigerInnen Teile des kollektiven Ordnungsgefüges der RAF sind.427 Die Vorwürfe reichen von Unterstützung oder Konspiration über Komplizenschaft bis hin zu totaler Identifikation mit der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung. Die Öffentlichkeitsarbeit gegen die Haftbedingungen und die teilweise Übernahme der Terminologie werden als Indizien für die unzulässige Identifikation und Konspiration ausgelegt. Das seit 1973 aufgebaute, durch Zellendurchsuchungen den Behörden be- kannte Info-System, mittels dessen die voneinander isolierten Gefangenen schriftlich miteinander kommunizieren, liefert denn auch den Beweis dafür, dass anscheinend mit Hilfe einiger RA Post unzensiert unter den Gefangenen zirkulieren kann. 428 Bei der Denunziation des/der RA als KomplizIn ist es unerheblich, ob er/sie einer bloßen Mandatspflicht getreu handelt oder sich aufgrund der eigenen politischen Ü-

426 Hans Dahs 1976, zit. nach: Berlit/ Dreier 1984, S. 246 427 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 249ff Der schwerwiegende Verdacht, Ströbele sei Mitglied der kriminellen Vereinigung seiner Mandanten, wird u.a. mit den Tatsachen begründet, Ströbele nenne seine Mandanten öffentlich Genossen und be- zeichne sich selbst als ‚sozialistischen Anwalt’ und ‚politischen Verteidiger’, denn dies ‚spricht deut- lich für eine Solidarisierung nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln und dafür, daß der Anwalt sich in voller Kenntnis der Tätigkeit und der wahren Ziele in die kriminelle Vereinigung als Mitglied eingefügt hat’.“ Beschluss des BGH vom 20.01.1975 zur Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme Ströbe- les Verteidigerkorrespondenz, zit. nach: Bakker Shut 1986, S. 158 428 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 249ff „Die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht, das Vertrauensverhältnis zu den Mandanten und deren An- sprüche auf eine optimale Verteidigung erschweren zusätzlich die Selbstverteidigung der Anwälte ge- gen ihre pauschale Verdächtigung.“ Berlit/ Dreier 1984, S. 254

86 berzeugung mit den von den Angeklagten vertretenden politischen Motivationen i- dentifiziert. Die stigmatisierende Formel „Terrorismusanwälte“ haftet allen RA in Prozessen gegen RAF-Mitglieder an und spricht den politischen VerteidigerInnen die standesrechtliche und damit die moralische Integrität ab. 429 Die VerteidigerInnen werden mit der „Anti-Terror-Gesetzgebung“ zu Verdächtigen per Mandat erklärt und mit den ihnen auferlegten Einschränkungen automatisch in Misskredit gebracht. 430 Bei Gerichtsverhandlungen wird eine selektive Durchsuchung der Anwesenden ange- ordnet, die für Hannover einen „demonstrativen Misstrauensbeweis“ bedeuten. Für RA, Angeklagte und ZuschauerInnen ist eine genaue Durchsuchung selbstverständ- lich. Nicht durchsucht werden jedoch Staatsanwaltschaft, PolizeibeamtInnen in Zivil, ProtokollführerInnen etc., die sich damit von dem „potentiellen terroristischen Um- feld“ unterscheiden. 431 Immer wieder kommt es vor, dass Behörden Informationen über und Verdächtigun- gen von RA an die Presse geben. Die Behörden lassen der Presse Informationen zukommen, gegen deren Verbreitung die Anwäl- te wehrlos sind, da die verleumderischen Informationen wegen ihres vertraulichen Charakters nicht überprüft werden können. […] Die beschriebene Zusammenarbeit zwischen BKA, Innen- minister, GBA und der Presse hatte zur Folge, daß die Öffentlichkeit […] die meisten Rechts- anwälte, zu deren Mandanten auch Gefangene aus der RAF zählten, als „Terroristen in Robe“ galten. 432 Diese Tatsache eines kurzfristig angesetzten Hungerstreiks der Gefangenen im Früh- ling 1977 benutzt die BAW dazu, eine Strafanzeige gegen die Verteidiger der eben- falls hungerstreikenden Sabine Schmitz und wegen „versuchten Mor- des an ihren Mandantinnen“ und wegen „Misshandlung“ zu stellen. 433 Armin Newerla und Arndt Müller würden, so begründet die Bundesanwaltschaft die ungewöhn- liche Anzeige, Sabine Schmitz und Verena Becker „in dem Vorhaben, die staatlichen Organe zu erpressen oder sich zu Tode zu hungern, unterstützen und damit den Tod ihrer Mandantinnen billigend in Kauf nehmen“. 434

429 Vergl. Horn 1982, S. 82ff „Die Helfershelfer und Gesinnungsfreunde der Baader-Meinhof-Bande sind vor allem links eingestell- te Rechtsanwälte.“ Innenminister Genscher am 26.05.1972 in Bild , zit. nach: Bakker Shut 1986, S. 62 430 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 8ff 431 Vergl. Hannover 1999, S. 64 432 Bakker Shut 1986, S. 64 433 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 29f 434 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 30

87 Um sie zu schützen, entziehen daraufhin Schmitz und Becker ihren Anwälten das Mandat. Nur dadurch können sie der BAW die Möglichkeit der strafrechtlichen Ver- folgung der beiden RA nehmen. 435

Die MandantInnen aus der RAF akzeptieren laut Bakker Shut die ihnen in einem normalen Strafverfahren zugedachten Rollen nicht, die die faktische Anerkennung der Legitimität des Justizwesens voraussetzt. Für die VerteidigerInnen sei die einzige echte Entscheidungsmöglichkeit „verteidigen oder nicht verteidigen“ gewesen. Des- halb konzentrieren sie sich auf die „generalisierenden und politisierenden Möglich- keiten, die in einem Strafprozess zumindest prinzipiell auch enthalten sind“. Die Staatsschutzbehörden versuchen unterdessen, die der RAF vorgeworfenen Straftaten zu „entpolitisieren“. 436 Die Anwälte beschränkten sich nicht nur auf den Einsatz „defensiver“ Rechtsmittel, sondern sie versuchten noch vor Beginn der öffentlichen Verhandlung die […] staatliche Strategie offensiv und öffentlich in politische Begrifflichkeiten zu „übersetzen“. 437 Bakker Shut unterstützt die These, dass die „Öffentlichkeitskampagnen“ gegen die RA, die in „an sich schon schwierigen Strafverfahren“ auftreten, zu „radikalen Brü- chen mit dem herrschenden Gesellschaftssystem“ führen könnten. Damit hätten sich die „Vorwürfe in einer Art sich selbst erfüllenden Prophezeiung bestätigt“. 438 Von den 20 bis 30 RA von RAF-Mitgliedern ist jedoch nur ein einziger, Siegfried Haag, in den Untergrund gegangen, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen.

4.3 Feindbild „SympathisantIn“

Die fortschreitende Polarisierung findet […] dort statt, wo Partei für die Beschuldigte[n] ergrif- fen wird. Dann wird die Person reingewaschen von allem Makel renitenten Verhaltens. Sie darf nicht Kritik an der Gesellschaft geübt haben, sie darf nicht an unerlaubten Demonstrationen teilgenommen haben, sie darf kein Puddingei und nie einen Stein geworfen haben, sonst verlöre sie jeden Schutz. Wäre sie nicht so, würde die Verteidigung schwieriger, würde politische Aus- sage, wäre eigene Auseinandersetzung mit der Problematik der Gewaltanwendung und damit

435 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 30 436 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 77f, 92 437 Bakker Shut 1986, S. 78 438 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 71 „Es ist durchaus vorstellbar, daß ein Radikalisierungsprozeß beschleunigt wird, wenn ein Anwalt er- fahren muß, daß er mit rechtlichen Mitteln nicht erfolgreich arbeiten kann.“ Bakker Shut 1986, S. 72

88 der erste Schritt auf der trügerischen Oberfläche des Sumpfes des Sympathisantentums: nämlich der des Verständnisses. Nur Unschuldsengel werden unter die Fittiche der Bürger genommen. 439

EinE SympathisantIn ist jemand, der/die einer Anschauung wohlwollend gegenüber- steht. Der Verdacht einer politischen Unterstützung oder Anhängerschaft der RAF wird gerade 1977 oftmals leichtfertig benutzt. Trotz des inflationären Gebrauchs des Vorwurfs ist er doch um so schwerwiegender und folgenreicher für die Betroffenen. Tolmein / zum Winkel bezeichnen das „Feindbild Sympathisant“ als „Sündenbock“- Kampagne der „bürgerlichen Öffentlichkeit“, die im Deutschen Herbst „so total […] wie nie zuvor und bisher nie wieder“ durchgeführt wird. Die nachhaltig wirkende, breit angelegte Sympathisanten-Hetze wird von Teilen der Medien, PolitikerInnen und auch von den Strafverfolgungsbehörden, wie den Staatsanwaltschaften betrieben. Unter den Verdacht des Sympathisantentums geraten so „übliche Verdächtige“, wie BetreiberInnen von linken Buchläden, VerteidigerInnen von RAF-Mitgliedern sowie sämtliche K- und Spontigruppen. Aber auch Linksliberale, die den Terrorismus und den Umgang damit öffentlich problematisieren, wie die SchriftstellerInnen Böll, Grass und Rinser, die Theologen Albertz und Gollwitzer, RedakteurInnen der linken Presse und bei Bedarf sogar Willy Brandt geraten in den Verdacht, SympathisantIn- nen terroristischer Gruppen zu sein. 440 Besonders die christlichen Politiker meinen [mit dem Kampfbegriff SympathisantInnen] alles, was mit der Protestbewegung von 1965ff. zusammenhängt, einschließlich der sozialdemokrati- schen Integrationsmanöver von 69, Amnestie und Reformpläne. 441 In Fortsetzung der Abwertung der StudentInnen-Proteste um das Jahr 1968 werden die Hochschulen erneut als ideologische Brutstätten des Terrorismus beschimpft. Nach diesem Motto fordert CDU-Generalsekretär Heiner Geißler mit Blick auf die Diskussion um die Person Peter Brückner 442 : „Als Sympathisanten müssen auch diejenigen angesprochen werden, die in letzter Zeit zur geis- tigen Verwirrung beigetragen haben.“ 443 Der rheinland-pfälzische Kultusminister Bernhard Vogel fordert im Zusammenhang mit der Mescalero-Affäre sogar, „jeden als Sympathisanten des Terrors zu brandmar- ken, der im Zusammenhang mit Baader/Meinhof von Gruppe statt von Bande“

439 Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 154 440 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 44f 441 Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 101 442 Vergl. Kapitel 3.3.3 dieser Arbeit 443 Heiner Geißler, CDU-Generalsekretär, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 45

89 spricht. 444 Gewerkschaften müssen sich vorwerfen lassen, in ihren Zeitungen Hass gegen BDA- und BDI-Präsident Schleyer geschürt zu haben (wenn sie seine Person oder Position nach dem 5. September 1977 kritisieren).445 Botzat / Kiderlen / Wolff vertreten den Standpunkt, dass im Fall Schleyer mit dem Schlagwort Sympathisanten- tum Antipathien auf Arbeitnehmerseite „neutralisiert oder mittels Schuldgefühlen so- gar umgedreht werden“ sollen. 446 Angegriffen wurden alle, die – im ursprünglichen Sinn des Begriffs – Mit-Leid empfanden, die sich vom Schicksal der gefangenen RAF-Leute irgendwie anrühren ließen, wo Haß und Gleich- gültigkeit gefordert waren. 447 Der SympathisantInnen-Begriff stammt aus dem Sprachgebrauch der Geheimdienste und wird in den 1970er Jahren zum Kampfbegriff. Die meisten der Statistiken jener Tage über staatsgefährdende Gruppen weist zusätzlich eine grob geschätzte Summe von SympathisantInnen aus. Diese gelten als weniger gefährliche Verführte, denen jedoch ein besonderer Argwohn zuteil werden muss, da sie im Prinzip jederzeit Teil einer gefährlichen Gruppe werden können. Der/die SympathisantIn kann also schnell zum/zur VerfassungsfeindIn mutieren. SympathisantIn ist ein Kampfbegriff, der für die ihn Benutzenden klare Linien zieht bzw. die Funktion der Abgrenzung und der Abschreckung gleichermaßen erfüllt. Der Begriff ist scheinbar universell einsetzbar, jedeR kann verdächtig werden. Parlamentarische und öffentliche Zustimmung zu Themen wie Sonderhaftbedingungen, nachträglich legitimierte Strafvollzugspraxis, übergesetzlicher Notstand etc. wird wie selbstverständlich angenommen. Kritik an solcherlei Praxis wird fast automatisch als Bruch mit dem demokratischen Konsenses und damit als Sympathisantentum denunziert. Laut Botzat / Kiderlen / Wolff bedeutet die Verwendung des „diffamatorischen Kampfbegriffs“ Sympathisant ein „raffinier- tes Manöver“, denn es lenke „Antipathie und Aggression […] auf ein anderes Feind- bild ab, auf die Sympathisanten des Terrors“. 448 Und denen ist leichter beizukommen, als den verborgenen TerroristInnen. Im Prozess der „Diffamierung von Mitgefühl“ wird weniger auf diejenigen abgezielt, die die RAF aktiv unterstützen - für solches kriminelles Handeln gibt es Gesetze.449

444 Vergl. Gottschlich 1997, S. 29, Vergl. Horchem 1988, S. 185 445 So geschehen im Rheinischen Merkur 1977, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 45 446 Vergl. Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 103 447 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 47 448 Vergl. Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 100ff 449 Vergl. Schumacher 1978, S. 106

90 Auf der scheinbaren Suche nach den Ursachen des Terrorismus […] erwiesen sich die Sympa- thisanten von heute als die Sympathisanten von 67: Sympathisanten der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt – also Verteidiger des Kommunismus, totalitärer Regime, des roten Terrors. Den Zusammenhang herzustellen ist leicht: Die Mitglieder der RAF, damals noch Sympathisan- ten, sind heute Terroristen. 450 Bei der Diffamierung als „SympathisantIn“ geht es „nicht um das bloße Engagement, sondern um das engagierte Denken“. 451 Nach Schuhmacher kann sich der Staat in der Bewältigung von Krisen „durch die technische und administrative Ausschaltung von politischen Störfaktoren“, i.e. SystemgegnerInnen, profilieren und dabei gleichzeitig sein „nur noch pragmatisches Politikverständnis vor der Öffentlichkeit“ legitimieren. Jede weitergehende Forderung, die den Staat grundsätzlich in Frage stellt, gilt als „Ausdruck der Sympathie mit dem Terrorismus, die mit Sanktionen bedroht wird“. 452

Der Position, dass mutmaßliche oder tatsächliche SympathisantInnen unverhältnis- mäßig verfolgt würden, setzt Horchem die Instrumentalisierung von „liberalen und linken Intellektuellen“ (bzw. dem Staat gegenüber kritisch bis ablehnend eingestellten BürgerInnen) entgegen. Diese verkennen laut Horchem, dass „die RAF in Theorie und Strategie den Schritt von der Demonstration zu Gewaltaktionen bereits vollzogen hatte“. 453 Ihre Unterstützung wurde erleichtert durch ein in vielen Fällen ideologisch fixiertes Engagement für politische Probleme und die subjektive Empfindung, in einem Staat zu leben, der nicht frei von Repression sei. […] Die Sympathisanten […] gaben unbedenklich Unterstützung für krimi- nelle Handlungen, deren Qualität sie durch ihr eigenes ideologisch geprägtes Bewußtsein nicht begreifen konnten. 454 Horchem ist der Meinung, dass sich die SympathisantInnen spätestens ab dem Zeit- punkt der Mai-Offensive 1972 mit der gewalttätigen Praxis der RAF nicht mehr iden- tifizieren können. Daher verlagern sie ihre „Agitation von einer Verteidigung der Zie- le der RAF auf eine Kritik an den Fahndungsmethoden der Sicherheitsbehörden und an der Handhabung der Strafverteidigung sowie den Methoden des Strafvollzugs“. „Zwangsernährung“, „Isolationsfolter“ und dergleichen bezeichnet Horchem als ge- zielte Propaganda der RAF zur Realisierung ihrer Pläne. 455 Der Staat werde „in sei-

450 Schumacher 1978, S. 107 451 Vergl. Schumacher 1978, S. 106 452 Vergl. Schumacher 1978, S. 110f 453 Vergl. Horchem 1988, S. 184f 454 Horchem 1988, S. 185 455 Vergl. Horchem 1988, S. 187ff

91 nen Gegenmaßnahmen diffamiert“. Der „Hauptvorwurf der entsprechenden Propa- gandaaktionen“ sei, dass „konservative Kräfte die Bekämpfung des Terrorismus dazu benutzen würden, in der Bundesrepublik einen Überwachungsstaat zu errichten“. 456 Horchem gibt die Schuld für derartige „propagandistische Hilfen für die Terroristen“ deren VerteidigerInnen, die einen regelrechten „Agitationsapparat“ aufgebaut haben. Zur Unterstreichung seiner These, dass der RAF von vielen Seiten ungerechtfertigte Unterstützung widerfährt, führt Horchem eine Erklärung der Deutschen Bischofskon- ferenz an, der er sich anschließt 457 : In Massenmedien und selbst im Unterricht gab und gibt es Versuche, unseren Staat, seine Ver- fassung, seine Gesetze und seine Vertreter herabzusetzen und lächerlich zu machen. […] Nicht selten wurde der Begriff von Recht, Ordnung und Institutionen zum Inbegriff des Reaktionären und Vorgestrigen abgestempelt. 458

Anders als Horchem beurteilt Fetscher die SympathisantInnen-Diskussion und das damit verbundene innenpolitische Klima in der BRD: Die reaktionäre Losung, „wir sind im Kriegszustand“, soll offenbar die Erneuerung der Volks- gemeinschaftsideologie ermöglichen, durch sie könnte der gesamten Bevölkerung die Pflicht zum Verzicht auf Interessenkämpfe abgefordert werden; ein Verzicht, von dem freilich nur die eine Seite profitieren, während die andere darunter leiden würde. Die Aussonderung von Sün- denböcken und die Hexenjagd auf Sympathisanten ist ein weiteres probates Mittel, um diesen Zweck zu erreichen. 459 Beispielhaft für diese Linie sind die Anfeindungen gegen Heinrich Böll. 460 Spätestens seit seinem Artikel mit dem Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Anfang Ja- nuar 1972 im Spiegel gilt Böll in bestimmten Kreisen als Sympathisant der RAF. Er ist sozusagen gebrandmarkt. Böll versucht, in der sich allgemein ausbreitenden Hys- terie einen Sinn für Proportionen zu wahren. Der Aufsatz spiegelt jedoch eher die Ratlosigkeit vieler Linker „dem Privatkrieg der RAF gegenüber“. 461 Darin fordert er Ulrike Meinhof auf, dem Krieg der „sechs gegen 60 Millionen“ den Rücken zu keh-

Durch die Kampagne gelang es tatsächlich, eine Woge des Mitleids und des Verständnisses für die Situation der Inhaftierten in Gang zu setzen. Horchem 1988, S. 190 456 Vergl. Horchem 1988, S. 192 457 Vergl. Horchem 1988, S. 195ff 458 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 17.09.1977, zit. nach: Schneider 1987, S. 95f 459 Fetscher 1977, S. 101 460 „Früher, wenn ich mich mal wieder ‚einmischte’, bekam ich Drohbriefe anonym, Zustimmung namentlich gekennzeichnet, inzwischen ist das umgekehrt: Zustimmung kommt anonym, Grobheiten werden mit Namen gekennzeichnet.“ Heinrich Böll in der Baseler Zeitung , zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 68 461 Vergl. Aust 1998, S. 225

92 ren. Gleichzeitig macht er darauf aufmerksam, dass eine Rückkehr in die Legalität für die Gesuchten RAF-Mitglieder mehr als schwierig sei: „Soll sie sich wirklich stellen, mit der Aussicht, als die klassische rote Hexe in den Siedetopf der Demagogie zu geraten? […] Das ist Tatsächlich eine äußerst bedrohliche Situation für die Bundesrepublik Deutschland. Es ist Zeit, den nationalen Notstand auszurufen. Den Notstand des öffentlichen Bewusstseins, der durch Publikationen wie ‚Bild’ permanent gesteigert wird…“ 462 Böll fordert einen Dialogprozess, der der „lebenden Ulrike Meinhof […] in Gegen- wart der Weltöffentlichkeit“ zuteil werden soll. Ansonsten fürchtet er eine Eskalation der Gewalt. Der Appell sorgt für einen Sturm der Empörung, die Welt z.B. schreibt von „bewaffneter Meinungsfreiheit“. Böll wird die Verharmlosung der RAF vorge- worfen. Er hingegen beabsichtigt mit dem Artikel „eine Art der Entspannung herbei- zuführen und die Gruppe […] zur Aufgabe aufzufordern. 463 Böll wird als angeblicher Sympathisant in den „Kreis der verabscheuten Terroristen einbezogen“. 464

Für das im Zuge der Großfahndung nach dem Ponto-Attentat entstehende innenpoliti- sche Klima und für die Art der Fahndung charakteristisch ist die Verhaftung von Ele- onore Poensgen am 3. August 1977. Sie befindet sich zur Tatzeit auf dem Weg zu ei- ner Geburtstagsfeier. Die 22 Gäste, die bestätigen können, wann Poensgen dort ein- trifft, genügen der Staatsanwaltschaft jedoch nicht als Entlastungszeugen. Bild titelt: „1. Terrormädchen gefasst“ 465 , die Welt schreibt vorverurteilend: „Das Fräulein Poensgen hat für ein Alibi vorgesorgt und vertraut darauf, ohne Indizien nicht verurteilt werden zu können. […] Der anarchistischen Sympathisantenszene kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Parallelen […] zu italienischen Mafia-Methoden sind unübersehbar. Ist das die neue Taktik der Terroristen und ihre bisher infamste Herausforderung an den Rechts- staat?“ 466 Poensgen wird der Ehefrau von Ponto mit anderen Frauen, die ihr nicht ähnlich se- hen, gegenübergestellt. Daraufhin wird Eleonore Poensgen als Täterin identifiziert. Ihr RA und der AStA der Universität Frankfurt bemühen sich intensiv um ‚neutrale’ ZeugInnen, denn sämtliche benannte ZeugInnen, die ‚der Linken’ zuzurechnen sind, sind bereits von den Haftrichtern abgelehnt worden. Ihnen wird jede Glaubwürdigkeit abgesprochen. Erst als sich ein Straßenbahnschaffner meldet, der Poensgen zur Tat- zeit gesehen hat, kommt sie nach sechs Tagen in Haft frei. Wäre die Kontaktsperre zu

462 Böll Anfang Januar 1972 im Spiegel , zit. nach: Aust 1998, S. 226 463 Vergl. Aust 1998, S. 226f 464 Vergl. Fetscher 1977, S. 80 465 Vergl. Botzat/Kiderlen/Wolf 1978, S. 151 466 Die Welt , zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 30f

93 diesem Zeitpunkt schon in Kraft gewesen, hätte es wesentlich ernster für die Ver- dächtigte ausgehen können. 467

4.4 Haftbedingungen

„Die Bevölkerung will, dass man diese Leute hart anfasst, so wie sie es nach ihren brutalen Ta- ten verdienen.“ 468

Im Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung ist es in manchen Fällen nicht leicht, notwendige und legitime Abwehrmaßnahmen, Sicherheitsbestimmungen oder Prä- ventionstaktiken von Willkür, Schikane oder Repression zu unterscheiden. Im Fol- genden sollen anhand einiger Beispiele Unregelmäßigkeiten im Strafvollzug belegt werden, von denen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung Verdäch- tigte betroffen sind. Das für das Wesen des Rechtsstaates entscheidende Element liegt darin, dass in ihm staatliche Machtausübung nicht allein durch Zweckmäßigkeitser- wägungen und politischen Willen bestimmt, sondern an Gesetz und Recht gebunden ist. 469 Zentraler Punkt der Kritik an sanktionierenden Maßnahmen des Staates ist die Behandlung und Unterbringung von mutmaßlichen oder überführten RAF- Mitgliedern in der Untersuchungshaft bzw. dem Strafvollug. Die Geschichte der RAF ist auch eine Geschichte der verschiednen Haftbedingungen, die immer wieder neue ‚Generationen’ von neuen RAF-Anhängern produzierte, weil die Bedingungen in den Gefängnissen denen die Mitglieder der RAF ausgesetzt waren, als zu rigide und unmensch- lich angesehen wurden. 470 Um rechtskräftig verurteilt zu werden, müssen die Angeklagten nicht unbedingt einer konkreten Straftat verdächtigt werden, allein die Mitgliedschaft in einer Vereinigung wie der RAF ist dafür ausreichend. 471 Die Haftbedingungen der mutmaßlichen RAF-

467 Vergl. Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 151ff „Sich folgendes vorzustellen wird die Einbildungskraft nicht überstrapazieren: Nora [Poensgen] sitzt in Untersuchungshaft wegen Mordverdacht und Mittäterschaft in einer terroristischen Vereinigung. Ein Fall für das Kontaktsperregesetz – sie wird ihren Rechtsanwalt nicht sprechen. Sechs Wochen Kon- taktsperre (das war die Dauer der ersten Anwendung des Verfahrens). Nach so langer Zeit soll der für die Richterschaft glaubwürdige Zeuge, der Straßenbahnschaffner, der, wenn er ein freundlicher Mann ist, am Tag mindestens zehn Leuten extra die Tür öffnet, sich noch erinnern? Und was wäre, wenn er sich nicht erinnert?“ Botzat/Kiderlen/Wolff 1978, S. 156f 468 GBA Rebmann am 14.08.1977 im Interview mit Die Welt über die Behandlung von im Hunger- streik befindlichen RAF-Gefangenen, zit. nach: Tolmein/zum Winkel 1987, S. 32 469 Vergl. Heuer 1975, S. 38f 470 Demes 1994, S. 69 471 Vergl. Kapitel 4.1.3 dieser Arbeit

94 Mitglieder unterscheiden sich wesentlich von denen „normaler“ Strafgefangener. Ih- nen wird also ein Sonderstatus zuteil. 472 Die verhängten „bundeseinheitlichen Son- derhaftbedingungen“ führen zum Teil zu „schweren Gesundheitsschäden“ bei den Gefangenen. 473 Die Gestaltung der Haftbedingungen für Untersuchungshäftlinge wird von § 119 StPO geregelt. Dieser Paragraph bietet die Möglichkeit, den/die AngeklagteN von den Haftbedingungen anderer Gefangener abzutrennen. Der Paragraph ist so flexibel, dass die darin geforderte „Angemessenheit“ je nach Auslegung auch die permanente Fesselung von Untersuchungsgefangenen bedeuten kann, um die „Ordnung in der Vollzugsanstalt“ zu gewährleisten. 474 Aufgrund dessen werden in den JVAs bereits in den frühen 1970er Jahren von RichterInnen besondere Maßnahmen zur Unterbrin- gung von verdächtigten RAF-Mitgliedern in der Untersuchungshaft angeordnet, wie z.B. am 22. Oktober 1971 für die mutmaßliche RAF-Angehörige Margrit Schiller: 1. Strenge Einzelhaft, 2. Fesselung der Hände auf dem Rücken, wenn sich Margrit Schiller außerhalb der Zelle auf- hält, 3. Fesselung auch während der Bewegungsstunde, 4. Dauerbeleuchtung in der Zelle bei Tag und Nacht, 5. Entzug aller Einrichtungsgegenstände, 6. Anstaltskleidung statt privater Kleidung, 7. am Abend Entzug auch der Anstaltskleidung. 475 Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Flucht- und Verdunkelungsgefahr, wel- che durch die Untersuchungshaft ausgeschlossen werden soll, Kriterium der ange- wandten Maßnahmen bleibt, das heißt Maß für die Verhältnismäßigkeit sein sollte.476 Der Maßnahmenkatalog wird ergänzt durch das Verbot der Teilnahme an sämtlichen Gemeinschaftsveranstaltungen, einer ausdrücklich angeordneten Beobachtung durch den Türspion in halbstündigem Abstand rund um die Uhr, Nichtbelegung der Zellen unter, über und neben der Gefangenen sowie Post- und Besuchsverboten (außer von Familienangehörigen). 477 Hofgang heißt bei RAF-Häftlingen Einzelfreistunde, da sie den Hof nur alleine, begleitet von zwei Anstaltsbediensteten, betreten dürfen und da- mit auch in diesem Falle keine Möglichkeit besteht, Kontakt zu Mithäftlingen aufzu-

472 Vergl. Demes 1994, S. 69, 75 473 Vergl. Ströbele 1997, S. 63 474 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 52 475 Bakker Shut 1986, S. 54, Vergl. Demes 1994, S. 70f, Vergl. Schiller 1999, S. 75ff 476 Vergl. Demes 1994, S. 70f 477 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 53

95 nehmen. Die Kommunikationsmöglichkeit bleibt auf JVA-Bedienstete beschränkt. 478 Im Fall Schiller erstatten ihre RA Anzeige gegen den zuständigen Haftrichter, da sol- che Maßnahmen gegen eine bis auf weiteres als unschuldig zu betrachtende Untersu- chungsgefangene außerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens liegen und im eklatanten Widerspruch zu geltendem Recht, dem Grundgesetz und international anerkannten Menschenrechten stehen.479 Dem halten staatliche Instanzen, wie der BGH entgegen, dass „die Haftbedingungen in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer den Behörden erst durch das Verhalten der Ange- klagten aufgezwungen worden“ sei. Teilweise sind Anordnungen auf die Handlungen inhaftierter RAF-Mitglieder zurückzuführen, wie das Verbot eines UKW-Teils im Radio, weil damit ein Kommunikationssystem aufgebaut werden kann. In der Tat sind auch einige Ausbruchs- bzw. Befreiungsversuche unternommen worden. 480 Zent- ral für die Gestaltung der Haftbedingungen dürfte jedoch die Furcht vor der Leitung der RAF aus dem Gefängnis heraus sein: „Wer den gesteuerten Anarchismus zerschlagen will, muß die Zellen dichtmachen.“ 481 Später werden die Haftbedingungen noch dahingehend verschärft, dass Besuche nur noch durch eine Trennscheibe, also ohne direkten physischen Kontakt, empfangen werden dürfen. Des weiteren werden bestimmte Themen festgelegt, über die bei dem Besuch nicht gesprochen werden darf. Bei Nichtbeachtung wird der Besuch umge- hend abgebrochen. 482 Die isolierenden Maßnahmen der Sonderhaftbedingungen für RAF-Mitglieder wer- den ausdrücklich nur für „Personen, die gemäß § 129a StGB verurteilt oder verdäch- tigt sind“ angeordnet. Zum einen wird der Kontakt der Gruppenmitglieder unterein- ander unterbunden, zum anderen ihre Kommunikation zu anderen Häftlingen unmög- lich gemacht, sogar kriminalisiert. 483 Zur Rechtfertigung dient die „Annahme, von diesen Inhaftierten gehe eine Gefahr aus, welche sie von den übrigen Häftlingen un- terscheidet“. 484 Bakker Shut schlägt für die oben beschriebene Haftsituation den Beg-

478 Vergl. Demes 1994, S. 72f 479 Bakker Shut 1986, S. 54ff 480 Vergl. Demes 1994, S. 73ff 481 Horst Herold, BKA-Präsident während der Diskussionsveranstaltung „Hessenforum“, zit. nach: Demes 1994, S. 84 482 Vergl. Demes 1994, S. 81f 483 Vergl. Demes 1994, S. 77 Die außergewöhnlichen ‚Sicherungsmaßnahmen’, welche für die Mitglieder der RAF angeordnet wur- den, hatten eindeutig isolierenden Charakter. Die Anwälte der Gefangenen sprachen daher schon zu Beginn der 70er Jahre von ‚Isolationsfolter’. Demes 1994, S. 73 484 Vergl. Demes 1994, S. 77f

96 riff „interne Isolation“ vor. 485 Diese unterscheidet er von der „externen Isolation“ 486 , die den gemäß § 129a Angeklagten bezüglich des Kontaktes zum Leben außerhalb der JVAs auferlegt sind. Jahrelang galt für fast alle Gefangenen aus der RAF, daß sie, im Gegensatz zu anderen Gefan- genen, Besuch und Post nur von Familienangehörigen oder von Verteidigern empfangen durf- ten. Familienbesuche bei ihnen werden immer von mindestens zwei Beamten […] überwacht, die die Gespräche mitverfolgen. 487 Begründet mit der Gefährdung der Anstaltsordnung wird die aus- und eingehende Post der Häftlinge kontrolliert und z.T. zensiert. Post wird beispielsweise beschlag- nahmt, wenn sich darin „übertriebene Kritik an den bestehenden politischen und wirt- schaftlichen Verhältnissen“ in der BRD oder Themen, die Beschuldigte in ihrer „ne- gativen Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft“ bestärken könnten. 488 „Hingegen schwindet eine feindliche, ablehnende Haltung nicht selten, wenn sie sich nicht im- mer ausdrücken kann und wenn sie keine Unterstützung von dritter Seite erhält.“ 489 Die Interpretation der Zensurkriterien kann sehr weiträumig ausgelegt werden. Die Gefangenen selbst sind der Auffassung, die „stereotypen Argumente“ seien direkt ge- gen ihre „politische Identität“ gerichtet. In der Tat verlieren einige zentrale Persön- lichkeitsrechte, vor allem das Recht auf Informationsfreiheit, durch die Haftpraxis für die Gefangenen jede Bedeutung. 490 Zensurmaßnahmen der aus- und eingehenden Post betreffen nicht nur Zeitungen, Zeitschriften und private Kommunikation, im Zuge der Gesetzesverschärfungen ist selbst die VerteidigerInnenpost betroffen. Zudem werden auch einige RA selbst Gegenstand von Kontrolle und Überwachung. Die Kontakt-

485 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 55ff „Der Antragsteller ist ein Terrorist. Er lehnt die bestehende Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ab und versucht, sie hasserfüllt zu bekämpfen. Er ist deshalb in der Hochsicherheitsstation der JVA Celle I untergebracht worden. Sein Antrag, sich von der terroristischen Strafgefangenen S.H., z.Zt. in- haftiert in der JVA Bielefeld, selbstgestrickte Strümpfe zusenden und aushändigen zu lassen, war […] abzulehnen. Eine Zusendung selbstgestrickter Strümpfe durch eine ebenfalls inhaftierte terroristische Strafgefangene würde das Zusammengehörigkeitsgefühl terroristischer Straftäter bestärken.“ Verfü- gung des Richters der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg Weber, zit. nach: Demes 1994, S. 89 486 Vergl. Bakker Shut 1986, S. 59ff 487 Bakker Shut 1986, S. 60 488 Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD (ohne Jahresangabe), S. 70f 489 Der Präsident der JVA Celle zur Briefzensur, zit. nach: Demes 1994, S. 88 490 Stark eingeschränkt sind: „Art. 2: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Art. 5: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung und die Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleis- tet. Eine Zensur findet nicht statt.“, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1985, S. 174f

97 sperren im Jahre 1977 bedeuten für die Häftlinge, die zu diesem Zeitpunkt ohnehin außergewöhnlichen Bedingungen ausgesetzt sind, eine noch umfassendere Verschär- fung der Trennung von der Außenwelt, der Kommunikation untereinander und der Verteidigungskontakte. 491

Ab 1972 wird erstmalig eine spezielle Form von Haftbedingungen in drei Gefängnis- sen eingerichtet, die die Isolation der dort verwahrten Gefangenen weiter perfektio- niert. Die vollkommen abgeschiedenen Zellen, die von den Gefangenen als ‚toter Trakt’ bezeichnet werden, steigern den isolierenden Charakter des ‚normalen Ge- fängnisalltags’ erheblich. 492 Der ‚tote Trakt’ beinhaltet die „absolute Abtrennung vom akustisch-visuellen und sozialen Leben innerhalb des Gefängnisses“. Der besondere Zellentrakt liegt von dem übrigen Anstaltskomplex getrennt und bietet somit den In- sassen keine Möglichkeit, am Lebensalltag innerhalb der JVA teilzunehmen. Die Ein- richtung der Zellen dieses Blocks unterscheidet sich von denen gewöhnlicher Zellen. Das Mobiliar und die Wände sind einheitlich in weißer Ölfarbe gestrichen. Es ist nicht möglich, das Fenster zu öffnen. Durch ein feinmaschiges Fliegengitter vor dem Fenster liegt die Zelle in künstlicher Dunkelheit, weshalb Neonlicht in den Hafträu- men angeordnet worden ist, das Tag und Nacht eingeschaltet bleibt. 493 Ein derartiger Entzug jeglicher Sinneswahrnehmungen wird in der Psychiatrie ‚sensorische Depriva- tion’ genannt. Darunter versteht man eine intensive Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmung, so dass dem Menschen keinerlei Orientierungsmöglichkeit in seiner künstlichen Umwelt mehr geboten wird. Die „Seh-, Hör-, Riech-, Geschmacks-, und Tastorgane werden systematisch ‚ausgehungert’“ und es kann infolge dessen bei der isolierten Person zu „Desintegration und extremer Desorientierung“ kommen.494 Die strenge Einzelhaft in einer Zelle des ‚toten Traktes’ und die damit verbundenen Haft- bedingungen zieht bei einer darin untergebrachten Person „einen intensiven Verfall ihrer Identität und Persönlichkeit nach sich“. 495

491 Vergl. Kapitel 4.2 und 4.4 dieser Arbeit 492 Vergl. Demes 1994, S. 99 Der Psychiater der JVA Köln-Ossendorf verwendet den Begriff ‚stille Abteilung’. Vergl. Demes 1994, S. 100 493 Vergl. Ulrich Preuß, RA von Astrid Proll und Ulrike Meinhof, am 10.08.1973 in einem Antrag an das Justizvollzugsamt Nordrhein-Westfalen, zit. nach: Komitee gegen Folter an politischen Gefange- nen in der BRD (ohne Jahresangabe), S. 168ff 494 Vergl. Sjef Teuns, zit. nach: Schneider 1986, S. 44ff 495 Vergl. Demes 1994, S. 100f

98 Immer wieder zeigt sich […] daß unter dem intensiven oder lang andauernden Druck der senso- rischen Deprivation neben Angst und panischen Reaktionen meistens folgende konstante Be- gleiterscheinungen zum Vorschein kommen: Störungen der Wahrnehmung und der Erkenntnis (Halluzinationen, Autoskopie, illusionäre Verfälschungen) und vegetative körperliche Störun- gen wie etwa deformiertes (verstärktes) Hungergefühl, Schlaf-Rhythmus-Störungen, funktionel- le Herzleiden, motorische Desequilibrierung (intensives Zittern, Zuckungen […] usw.). 496 Die Vollzugsmaßnahmen werden auch in diesem Fall mit dem Sicherheitsargument begründet. 497 Den Vollzugsbehörden und den zuständigen Ministerien sind die Unter- suchungsergebnisse verschiedener unabhängiger GutachterInnen bekannt Unabhängig von aller Positionierung steht doch eines fest: Die Unterbringung im ‚toten Trakt’ be- deutet in jedem Fall eine „Gesundheitsgefahr, die den Anspruch auf körperliche Un- versehrtheit nicht genügend ernst nimmt“. 498 Eine Art „Zermürbungstaktik“ kann auch in weniger hermetischen Trakten, wo nicht nur einzeln isolierte Gefangene inhaftiert sind, Anwendung finden. Auch in der JVA Stammheim, wo mehrere RAF-Mitglieder einzeln in Zellen im Hochsicherheitstrakt einsitzen, herrschen mit „Sicherheitsbedenken“ gerechtfertigte Zustände, die als nicht akzeptabel zu bezeichnen sind. Als ein Beispiel von vielen sind an dieser Stelle die häufigen nächtlichen Zellenkontrollen zu nennen, welche in mancher Nacht nicht sel- ten bis zu fünfmal, manches mal noch häufiger, durchgeführt werden. Erst als der Ge- fängnisarzt Dr. Henck Anfang Oktober 1977 bei Raspe Selbstmordgefahr diagnosti- ziert, werden die „Nachtdienstkontrollen aus Rücksicht auf die Gefangenen nicht wieder aufgenommen“. 499

4.5 Abhör-Affären im Zuge der Terrorismusbekämpfung

Der Sicherheitsbegriff hat ein Eigenleben erhalten und ist in seiner sensiblen Verletzlichkeit na- hezu unübertreffbar. Geht es darum, die im einzelnen nicht mehr bezeichnete Sicherheit auf- recht zu erhalten (die „Ordnung“), dann kommt es im deutschen Rechtsstaatsverständnis […]

496 Sjef Teuns, zit. nach: Schneider 1986, S. 46 497 Vergl. Demes 1994, S. 105 498 Vergl. Demes 1994, S. 113 499 Vergl. Aust 1998, S. 581f Beispiel einer „Zermürbungstaktik“: „In der Nacht vom 21. auf den 22. August 1977 wurden die Ge- fangenen noch häufiger kontrolliert: 19.10 Uhr Verena Becker, 19.13 Uhr Gudrun Ensslin, 21.26 Uhr Becker, 21.28 Uhr Ensslin, 23.05 Uhr Becker, 23.08 Uhr Raspe, 23.10 Uhr Baader, 23.15 Uhr Ensslin, 23.17 Uhr Irmgard Möller, 0.45 Uhr Becker, 0.58 Uhr Ensslin, 2.10 Uhr Becker, 2.12 Uhr Raspe, 2.13 Uhr Baader, 2.15 Uhr Ensslin, 2.17 Uhr Möller, 4.04 Uhr Becker, 4.06 Uhr Ensslin, 5.25 Uhr Becker, 5.27 Uhr Raspe, 5.29 Uhr Baader, 5.31 Uhr Ensslin, 5.32 Möller […].“ Aust 1998, S. 581

99 nicht so sehr darauf an, ob einige Grundrechte zeitweise oder permanent außer Kraft gesetzt werden müssen. Entscheidend ist nur, daß die Prozeduren und Instrumente mit deren Hilfe Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, gesetzesförmigen Charakter besitzen. 500

In die Anzahl von zum Teil gesetzlich nicht legitimierten Maßnahmen in der Terro- rismusbekämpfung reihen sich bekannt gewordene Abhöraktionen durch staatliche Stellen ein. Zur Wahrung der „inneren Sicherheit“ werden Menschen vom Geheim- dienst belauscht. Beispielhaft werden an dieser Stelle die Lauschangriffe auf Klaus Traube und auf die gesetzlich geschützten Vertrauensgespräche zwischen Mandan- tInnen und Verteidigung im Stammheimer Verfahren beschrieben.

4.5.1 Der „Fall Traube“

Am 28. Februar 1977 deckt der Spiegel eine Lauschaktion des Verfassungsschutzes gegen Dr. Klaus Traube auf. Die Aufdeckung der Aktion sorgt für einen politischen Skandal. Der Spiegel stellt die Frage: „Atomstaat oder Rechtsstaat?“. 501 Im Fall Trau- be „überschneiden sich […] die politisch brisanten Entwicklungslinien der BRD“. Als Traube ins Visier des VS gerät, ist er Geschäftsführer der Firma Interatom, einer Tochterfirma der Siemens AG, deren Aufgabe es ist, den vor allem für die militäri- sche Nutzung interessanten Brutreaktor SNR 300 zu entwickeln und dessen Bau in Kalkar voran zu treiben. 502 In keinem der ihm zugänglichen Kraftwerkstypen ist ra- dioaktiver Brennstoff eingesetzt, was wiederum bedeutet, dass eine „Sabotage mit nuklearen Folgen“ auszuschließen ist. 503 Als verdächtig gilt Traube, seitdem bei nie näher bestimmten „nachrichtendienstlichen Operati- onen“ festgestellt worden ist, „daß der in Betreff genannte Dr. Traube Verbindungen zu mehre- ren Leuten unterhält, die dem Kreis politisch motivierter Gewalttäter zuzurechnen sind bzw. ih- nen nahe stehen.“ 504 Traube, der sich selbst als Sozialdemokrat beschreibt und sich „mit unserem Staat, so wie er durch die Verfassung definiert ist“ identifiziert, hat sporadischen Kontakt zur linken Frankfurter Rechtsanwältin Ingrid Hornischer, die wiederum zeitweilig mit dem später zu den RZ gehörenden Hans-Joachim Klein liiert gewesen ist. RA Horni-

500 Narr (Hrsg.) 1977, S. 14 501 Vergl. Aust 1998, S. 441ff 502 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 12 503 Vergl. Traube 1977, S. 62 504 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 12

100 scher hat zu diesem Zeitpunkt unter anderem „einige wenige des Terrorismus Ver- dächtige verteidigt“. 505 Klein ist den Behörden schon als Chauffeur Jean Paul Sartres bei dessen Besuch 1974 in der JVA Stammheim aufgefallen. Er und Hornischer ste- hen beim VS „im Verdacht mit Terroristen zu sympathisieren“ und werden über- wacht. 506 Traube hat Klein jedoch zu einem Zeitpunkt getroffen, als dieser für die Si- cherheitsbehörden noch ein „kleiner Fisch“ ist, „einer von Tausenden, die sich in der Sympathisantenszene bewegten“. 507 Daher vermutet Traube hinter der Verdächtigung seiner Person eindeutiges Fehlverhalten des BfV: Einmal infolge falscher Motivation und mangelnder Kontrolle und der damit ursächlich verbun- denen Schlampigkeit des Verfassungsschutzes, zum Zweiten infolge der Übernahme und Ver- stärkung in unserem Land gängiger Vorurteile. 508 Aufgrund des „Umgangs mit verdächtigen Personen aus der Anarcho-Szene“, des abweichenden Lebensstils, früherer KP-Mitgliedschaft 509 und aufgrund seines Beru- fes wird Traube 1976 über Monate hinweg zunächst beobachtet und beschattet, sein Telefon wird abgehört und seine Post geöffnet. Neben der erfolglosen Observation wird der durch den rechtfertigenden Notstand legitimierte Lauschangriff befohlen und er wird in den folgenden zwei Monaten abgehört. 510 Die Motivation ist so, daß ein einmal „erkannter“ Feind sich als solcher erweisen muß. Die gro- teske Schlampigkeit der Recherchen und der Kombinationen, sofern sie nicht von reiner Unfä- higkeit zeugt, ist wohl nur so zu erklären, daß es hier nichts zu erklären, sondern nur zu überfüh- ren gilt. 511 In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1976 brechen Beamte von VS und BND in das Privathaus Traubes ein, fotografieren die Wohnung und alle frei zugänglichen Ge- genstände, wie z.B. private Notizbücher, und legen eine Wanze. 512 Im Abschlussbe- richt der Operation mit dem Codenamen „Müll“ des VS wird später festgehalten, dass „keine neuen Verdachtsmomente hinzugekommen sind, die zur Begründung eines Antrags auf Wiederaufnahme der Post- und Telefonüberwachung herangezogen wer- den könnten“. 513 Während der gesamten Observierung Traubes ist dessen Arbeitgeber

505 Vergl. Traube 1977, S. 61f 506 Vergl. Traube 1977, S. 63 507 Vergl Aust 1998, S. 441f 508 Traube 1977, S. 62 509 Mit 17 Jahren ist Traube für „kurze Zeit Kommunist“ im Rahmen eines „großen Antifaschismus- bundes“. Eine Tatsache, die „hierzulande […] ein Stigma auf Lebenszeit“ bedeute. Vergl. Traube 1977, S. 63 510 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1986, S. 12ff 511 Traube 1977, S. 64 512 Vergl Aust 1998, S. 441f 513 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 12f

101 informiert. Nach Beendigung der Überwachung wird Traube zwar offiziell rehabili- tiert, trotzdem verliert er aufgrund der Ermittlungen des VS seinen Arbeitsplatz. 514 Anfang Januar 1976 […] beschlossen […] leitende Beamte des Innenministeriums und BfV, meine „Entlassung zu befürworten“. […] Also man zerstörte bewußt eine Existenz, ohne ir- gendeine Möglichkeit der Aufklärung zu nutzen, selbst ohne die Ergebnisse des Lauschangriffs abzuwarten. […] Am 2. Februar 1976 […] eröffnete mir die Kraftwerk Union meine Entlas- sung, gab als Grund meine Bekanntschaft mit Klein an. 515 Unmittelbar nach der Entlassung fordert Traube über seinen RA von der BAW Auf- klärung und eine Vernehmung, um Vorwürfe, die er gegen sich vermutet, ausräumen zu können. Noch nach Aufdeckung der Lausch-Affäre belastet Bundesinnenminister Maihofer Traube weiterhin schwer. Auch auf einer Bundespressekonferenz am 1. März 1977, schildert Maihofer wider besseres Wissen Traubes „enge Beziehungen zu Terroristen und deren Sympathisanten“. 516 Auch ein gegen Ingrid Hornischer einge- leitetes Verfahren wegen des Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereini- gung wird im November 1976 offiziell eingestellt. 517 Es bedurfte der Empörung eines Teils der Presse, und in der Folge eines Teils der Öffentlich- keit, daß die Abhöraffäre zu dem wurde, was sie werden mußte: Zur Frage nach unserem Ver- fassungsverständnis. 518 Zur Begründung des Lauschangriffs wird im nachhinein § 34 StGB, der rechtferti- gende Notstand, bemüht, da die VS-Aktionen sonst illegal gewesen wären.519 Dem Fall Traube wird vor allem deshalb in den Medien so viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil sich herausstellt, dass Bundesinnenminister Maihofer über die genauen Umstän- de des Lauschangriffs überhaupt nicht informiert worden ist. 520 Einen Minister, der rechtswidrige Aktionen durchführen läßt, wäre man eventuell noch bereit gewesen, zu akzeptieren – einen, der seine Behörde nicht fest im Griff hat, nicht. 521

514 Vergl. Traube 1977, S. 64f 515 Traube 1977, S. 65f 516 Vergl. Traube 1977, S. 66, 73 517 Vergl. Traube 1977, S. 70f 518 Traube 1977, S. 77 519 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 14 § 34 StGB: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder von einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Das gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemesse- nes Mittel ist, die Gefahr abzuwehren.“, zit. nach: Peters 1991, S. 189 520 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 14 521 Tolmein/zum Winkel 1987, S. 14

102 4.5.2 Nicht „Fall Traube“ sondern „Fall Verfassungsschutz“522

„Abhören ohne eine darauf zugeschnittene Rechtsnorm, ohne vorherige richterliche Entscheidung, ohne politische Kontrolle danach – das paßt schlecht zum Gesetzesstaat.“523

Der Jurist Gerhard Heuer schreibt über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes, dass das BfV rechtlich dazu befugt ist, in Ausnahmesituationen Informationen über verfassungs- feindliche Bestrebungen mit verdeckten Methoden und technischen Mitteln auch unter Täuschung der unter Bewachung genommenen Personen zu betreiben. 524 Bereits im Juni 1972 erweitert der Bundestag die Befugnisse des BfV und legitimiert in Sonderfällen den Einsatz von „nachrichtendienstlichen Mitteln“, um politisch motivierte Bestrebun- gen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind, überwachen zu können. 525 Zwar nehme die Privatsphäre als eine der freien Entfaltung der Persön- lichkeit zugehörige Rechtsposition ein, die ansonsten besonderen Schutz genieße. 526 Dennoch stünde nicht der gesamte Teil des privaten Lebens unter dem absoluten Schutz des Grundgesetzes: Als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger muß […] jedermann staatli- che Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots erfolgen, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen. 527

Inwieweit die Verhältnismäßigkeit im Falle des Lauschangriffs auf Klaus Traube ge- wahrt bleibt, beschreibt er selber. Wie im Falle des abgehörten Traube festzustellen ist, wird es von den Staatsschutz-Behörden versäumt, Unschuldsbeweise zu sammeln. Zur Aufklärung werden unter Inkaufnahme eines Verfassungsbruchs „nur einseitig verwendbare Maßnahmen ergriffen“. 528 Es gibt keine Motivation, einen Verdächtigen zu entlasten, sondern vielmehr die Motivation, ei- nen Verdacht fortschwelen zu lassen. Dabei wird billigend Schädigung des Betreffenden in

522 Vergl. Hugo Brandt, zit. nach: Narr (Hrsg.) 1977, S. 14 523 Vergl. FAZ vom 19.03.1977, zit. nach Narr (Hrsg.) 1977, S. 7 524 Vergl. Heuer 1975, S. 66 525 Vergl. Vinke/Witt 1978, S. 13 526 Vergl. Heuer 1975, S. 66f 527 Heuer 1975, S. 67 528 Vergl. Traube 1977, S. 67 „Die Affäre Traube zeigte, wie weit die Bundesrepublik schon auf dem Weg in den Überwachungs- staat war.“ Aust 1998, S. 442

103 Kauf genommen. Es besteht ein hoher Grad an Motivation, einmal gehabten Verdacht zu schü- ren und möglichst den Verdächtigen zu überführen. 529 Mit der Taktik, Verdächtige im Unklaren zu lassen, wird das Ziel der Verängstigung verfolgt. Laut Traube schweigen Betroffene gegenüber der Öffentlichkeit aus Furcht vor Bloßstellung und vor Verlust des Arbeitsplatzes. Rehabilitation ist fast unmög- lich, wenn man nicht den „im Normalfall unpraktikablen“, mindestens aber „langwie- rigen, risikoreichen und kostspieligen Rechtsweg einschlägt“. 530 Außerdem ist der Rechtsweg in dem von den Geheimdiensten besetzten „sogenannten Vorfeld des Ver- dachts nicht praktikabel“. Traube schätzt, dass „Zehntausende unschuldig Verdächtig- ter, deren Persönlichkeitsrechte schwer beeinträchtigt sind“, unter ungerechtfertigten Untersuchungen zu leiden haben. 531 Eines der Hauptprobleme staatsschützender Or- ganisationen ist die mangelnde Kontrolle. 532 Wenn der verdächtigte Bürger keine Chance bekommt, vor einer kontrollierten Instanz seine Gegendarstellung zu geben, so ist Kontrolle schon im Ansatz verhindert. 533 Traube verlangt, dass der Bundestag eine wirksamere Kontrollfunktion „gegenüber Verfassungsschutz und zugeordneter Ministerialbüros“ ausübt.534 Narr beharrt, dass es „mit einigen gesetzlichen Zusätzen und einigen Prisen parlamentarischer Kontrol- le“ nicht getan ist. Damit wird im Gegenteil eine Verharmlosung der Gefahren, die von einem abgehobenen Sicherheitsbegriff und von den Sicherheitsapparaten selbst ausgehen betrieben. Narr bestreitet die „Verfassungskonformität des Verfassungs- schutzes insgesamt“. 535 Verdächtigte BürgerInnen verbleiben möglicherweise lebens- lang in Angst um Ruf und Existenz. Einmal vom Staatsschutz einem extremen Lager zugeordnet, ist es für Verdächtigte fast unmöglich, diesen Schatten loszuwerden. Traube ist der Meinung, die „Apologeten des Lauschangriffs“ haben eine Athmosphäre schaffen können, „in der sich praktisch niemand mehr öffentlich traut“, dem Problem Terrorismus den ihm angemessenen Stellenwert zuzuweisen. Der Ter- rorismus ist „eines von vielen ernsthaften Problemen unseres Staates, das aber kei- neswegs in der engeren Spitzengruppe rangiert“. 536 Es ist die Enge der vorherrschenden Ansichten, die von den Diensten übernommenen und ver- stärkten Vorurteile, die den nicht restlos Angepaßten hierzulande viel eher verdächtig macht. Es

529 Traube 1977, S. 67 530 Vergl. Traube 1977, S. 67 531 Vergl. Traube 1977, S. 74f 532 Vergl. Traube 1977, S. 67 533 Traube 1977, S. 68 534 Vergl. Traube 1977, S. 74 535 Narr (Hrsg.) 1977, S. 14f 536 Vergl. Traube 1977, S. 70ff

104 ist auch der viel tiefer verwurzelte Hang zum Obrigkeitsstaat, der jedes Aufbegehren eines Bür- gers in die Nähe staatsfeindlicher Handlungen rückt. 537

4.5.3 Lauschangriff im Gefängnis

Weitere rechtswidrige Abhörmaßnahmen werden mit der Zeit bekannt, erfahren je- doch verhältnismäßig wenig Beachtung in den Medien. In der Anspannung des Jahres 1977 lediglich zur Kenntnis genommen wird die Bestätigung von Kanzleramtsminis- ter Manfred Schüler (SPD), mit seiner Billigung seien in Stammheim zwischen 1975 und 1976 die Gespräche zwischen RAF-Gefangenen und deren RA überwacht wor- den. Die Anweisungen dazu geben die baden-württembergischen Minister Karl Schiess und Traugott Bender (beide CDU). Auch in diesem Fall dient § 34 StGB zur Begründung des Lauschangriffs.538 Nach der teilweisen Aufdeckung der Abhörmaß- nahmen gegen RA und deren MandantInnen in Stammheim erklärt der baden- württembergische Innenminister am 24. März 1977 vor dem Landtag, die Lauschakti- on seien wegen der Lorenz-Entführung und des Anschlags auf die Deutsche Botschaft in Stockholm notwendig gewesen. 539 „Die Gefahrenlage war extrem und einmalig. Die Entscheidungen, die mein Kollege [Bender] und ich getroffen haben, waren daher geboten. Ich stehe zu ihnen und würde in vergleichbarer Situation wieder in gleicher Weise handeln müssen.“540 Diese Aussage, die übrigens fehlerhaft von einer Einmaligkeit spricht, lässt darauf schließen, dass mindestens in der „vergleichbaren Situation“ der Schleyer-Entführung in Stammheim ebenfalls abgehört worden sein müsste. Schiess und Bender geben später an, sie hätten die Vorgänge nur deshalb offenbart, weil sie von einem anste- henden Artikel im Boulevardblatt Bild Kenntnis gehabt haben. Laut Aussagen vor dem Innenausschuss des Bundestages am 23. März 1977 werden am 1., 2., und 3. März und am 1. Mai 1975 insgesamt sieben Räume, „Besucherzellen“ und „Wohnzel- len“, von Technikern des BfV und des BND im Auftrag des baden- württembergischen LKA und der Landesinnenbehörde unter Billigung des Bundesin- nenministeriums und des Bundeskanzleramtes verwanzt. Die Aussagen, es seien nur

537 Traube 1977, S. 75 538 Vergl. Tolmein/zum Winkel 1987, S. 14 539 Vergl. Peters 1991, S. 189f 540 Innenminister Karl Schiess am 24.03.1977 vor dem Landtag von Baden-Württemberg, zit. nach: Aust 1998, S. 540

105 „nicht belegte Zellen“ betroffen sowie auch die Angaben über die sehr eingeschränk- ten Zeiträume der Abhöraktion müssen allerdings angezweifelt werden. 541 „‚In Nicht-Wohnzellen’ kann doch im Grunde nur bedeuten, daß Besucherverkehr im weiteren Sinne Gegenstand der Abhörmaßnahmen sein mußte, und da es, außer bei Anwälten, andere rechtlich zugelassenen Möglichkeiten der Kontrolle des Besucherverkehrs gibt, ist für mich fast zwingend, […] daß hier nur das Abhören von Gesprächen mit Anwälten in Frage kommen konnte.“ 542 Im Hochsicherheitstrakt in Stammheim gibt es zu diesem Zeitpunkt nur vier Besu- cherzellen. Es werden jedoch sieben Räume verwanzt. Dies legt den Schluss nahe, dass es sich bei den übrigen abgehörten Zellen um die von den Behörden als die Füh- rung der RAF eingeschätzten Häftlinge Baader, Ensslin und Raspe handelt. 543 Wenn illegal geheime Abhörmikrophone eingebaut werden, um einsitzende RAF-Mitglieder bei vermuteten Lagebesprechungen zu belauschen, so liegt es doch nahe, in den Zel- len der Verdächtigten und nicht in leeren Räumen zu horchen. Von einer Deinstallati- on der - während der gesamten Dauer bis zu den Todesfällen im Oktober 1977 einsatzbereiten - Mikrophone ist keine Rede. 544 Im baden-württembergischen Justizministerium zuständig für den Komplex Stamm- heim in der Zeit der zugegebenen Abhörmaßnahmen ist Ministerialdirektor Kurt Rebmann, der nach der Ermordung von Buback dessen Posten als GBA übernimmt. Der - später als Notstand gerechtfertigte - Einbau der ersten Wanzen erfolgt Anfang März. Die Botschaftsbesetzung, die die Aktion legitimieren soll, findet allerdings erst am 24. April 1975, mehr als sieben Wochen nach dem Einbau der ersten Mikrophone, statt. Damit ist diese Begründung haltlos, es sei denn, man gesteht die Berechtigung eines „prophylaktischen Notstandes“ zu. Die zweite zugegebene Lauschaktion erfolgt

541 Vergl. Aust 1998, S. 542f 542 MdB Vogel (CDU) am 24.03.1977 im Innenausschuss des Bundestages, zit. nach: Aust 1998, S. 545 543 „Anlaß für die Abhöraktionen sei der „dringende Verdacht“ gewesen, daß bestimmte Geiselnah- men, Brandanschläge und auch Tötungsdelikte vom „harten Kern“ der in Stammheim inhaftierten Gruppenmitglieder geplant und über den Besuchsverkehr in die Tat umgesetzt worden seien.“ Aust 1998, S. 444 544 Vergl. Aust 1998, S. 542ff „Sodann wirkt es wenig glaubwürdig, daß eine im Frühjahr 1975 installierte ‚Wanze’ bis jetzt aus- schließlich zweimal in Betrieb gewesen sein sollte, und die ausgerechnet an Tagen nach einer unmit- telbaren terroristischen Gefährdung. Wenn es denn wirklich eine Rechtfertigung gegeben haben sollte, unter der man mit ‚Wanzen’ einer Gefangenenbefreiung hätte vorbeugen dürfen, dann hätte es schon die Natur der Sache verlangt, die Anlage ständig in Betrieb zu halten. Und dies sollten die zuständigen Behörden nicht gewußt haben? Vorderhand sieht es so aus, als seien die beiden gravierenden Daten genannt worden, um den Rechtfertigungsgrund des Notstandes als plausibel erscheinen zu lassen.“ Süddeutsche Zeitung nach der Pressekonferenz von Bender und Schiess am 17.03.1977, zit. nach: Aust 1998, S. 445

106 laut Angaben zwischen dem 6. Dezember 1976 und dem 21. Januar 1977 und wird mit der Festnahme der RA Haag und Meyer vom 30. November 1976 begründet. 545 Zwei Tage bevor Schiess und Bender der Öffentlichkeit den Lauschangriff auf die ge- setzlich geschützten Gespräche zwischen Gefangenen und Verteidigung bekannt ge- ben, stellt im laufenden Stammheimer Verfahren in dem dem Gefängnis angeglieder- ten Gerichtssaal RA Schily den Antrag, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, um von Innenminister Maihofer zu erfahren, ob es im Zusammenhang mit dem Verfahren unzulässige Abhörmaßnahmen gegeben habe. Er bezieht sich dabei auf den kurz zu- vor aufgedeckten Abhör-Skandal um Traube. Der Antrag wird als haltlos zurückge- wiesen. 546 Nachdem Schiess und Bender vor die Presse getreten sind, stellt RA Schily erneut einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens. Als dieser vom vorsitzenden Richter abgelehnt wird, verlässt Schily unter Protest den Gerichtssaal. RA Künzel setzt sich ebenso für die Unterbrechung des Verfahrens ein: „Es könnte sich ja herausstellen, daß eine rechtsstaatliche Verteidigung von dem Zeitpunkt an, wo die erste Wanze eingebaut wurde, eigentlich nicht mehr möglich ist.“ 547 Am Ende des Prozesses erscheinen wegen der Ungereimtheiten, v.a. den Abhöraktio- nen weder die Vertrauensanwälte, noch die Angeklagten selbst. Ein Teil der anwe- senden Pflichtverteidiger plädiert in ihren Schlussvorträgen dafür, den Prozess wegen Verfahrensmängeln einzustellen. Dem wird nicht entsprochen. 548

4.6 Zusammenfassung

So kann es geschehen, daß Grundrechte immer mehr, je nach Gefahrenlage und Situation […] beschnitten werden, aber – versteht sich – auf gesetzliche Weise. Wir leben in einem rechts- staatlichen Netz mit Nummern – was kümmern da schon diese Bürgerrechte. 549

Die beschlossenen Änderungen in der Strafprozessordnung und im Strafgesetzbuch sind ab 1974 in schneller Folge kontinuierlich verschärfend fortgesetzt worden. Es muss als problematisch angesehen werden, wenn nach noch frischen Eindrücken von terroristischen Aktivitäten oder vor anstehenden Gerichtsverhandlungen Gesetzesän-

545 Vergl. Aust 1998, S. 343ff, 474f 546 Vergl. Aust 1998, S. 442ff 547 Aust 1998, S. 446f 548 Vergl. Aust 1991, S. 455f 549 Narr (Hrsg.) 1977, S. 14

107 derungen im Eiltempo die legislativen Hürden nehmen. Damit wird die rechtssi- chernde Funktion der Gesetze aufgeweicht. Der § 129a StGB gilt als Kristallisationskern für diverse Sonderermächtigungen, die noch spezifischer werden und Sanktionsbefugnisse ausweiten. Der Paragraph begrün- det eine Straftat bereits weit im Vorfeld der Vorbereitung konkreter strafbarer Hand- lungen, wie das BGH feststellt. Dass Straftatbestände in den Bereich des prinzipiell erlaubten Verhaltens - des an sich legalen Handelns und Redens - eindringen, ist Teil der Neuerungen. Dies qualifiziert diese Tatbestände als Elemente eines politischen Strafrechts, das nicht dazu dient, allgemeine Rechtsgüter zu schützen. Diesbezüglich verwenden einige AutorInnen den Begriff „politische Justiz“. Die StPO verliert aufgrund beschlossener Verschärfungen in jenen Bereichen an Ge- wicht, in denen sie für eine „Waffengleichheit“ zwischen den Prozessparteien sorgen soll. Richterliche Befugnisse werden mit der Intention der Verfahrensbeschleunigung an die Staatsanwaltschaft übergeben. Durch die Stärkung der Rechte der Staatsan- waltschaft und die Erleichterung der Möglichkeit des Ausschlusses von RA haben sich die Kräfteverhältnisse eindeutig zu Gunsten der Staatsanwaltschaft verschoben. Diese Kompetenzverlagerung lässt zweifeln, ob die idealerweise richterliche Unab- hängigkeit damit einen legitimen Ersatz erfährt. Die in den 1970er Jahren bezüglich der Terrorismus-Verfolgung verabschiedeten Ge- setze, Gesetzesänderungen und –ergänzungen sind in einigen Fällen speziell auf an- stehende Strafprozesse zugeschnitten. Nicht selten scheinen diese Maßnahmen auf ei- ner Intention zu fußen, die der Verteidigung von RAF-Mitgliedern direkt oder indi- rekt eine Komplizenschaft unterstellt und eine angemessene Verteidigung mindestens erschwert. Die vermutete Konspiration zwischen Verteidigung und StraftäterInnen wird von Politik und Öffentlichkeit als Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung wahrgenommen. Somit wird die Möglichkeit, in das Verhältnis zwischen RA und MandatIn einzugreifen, als Behebung eines Defizits bewertet. Die Ausschließung ei- nes/einer RA kann allerdings nicht nur eine angemessene Verteidigung gefährden, sie stellt zudem einen Eingriff in das Grundrecht der freien Berufsausübung des/der RA dar. Die Möglichkeit der Eröffnung einer Hauptverhandlung in Abwesenheit von Ange- klagten bedeutet die Durchbrechung eines 100 Jahre alten Rechtsprinzips, das zuvor nur während des Nationalsozialismus außer Kraft gesetzt war.

108 Mit der Einschränkung freiheitlicher Grundrechte geht die Erweiterung staatlicher Eingreifbefugnisse einher. Die Überwachung des Verkehrs zwischen Verteidigung und Angeklagten nimmt eine solche Dimension an, dass sich als Kampfbegriffe ein- geführte Prognosen zu erfüllen scheinen. Die aufgelisteten Gesetzesverschärfungen, Einschränkungen und Neuerungen bedeuten in vielerlei Hinsicht die Einschränkung von Bürgerrechten. Den Stimmen derer, die sich für eine massive Ausweitung solcher Aktionen und der Erweiterung geheimdienstlicher Maßnahmen in der „wehrhaften Demokratie“ aussprechen, werden lauter und widerfährt mehr und mehr Aufmerk- samkeit. KritikerInnen sprechen allerdings davon, dass der demokratische Rechtsstaat mit den oben beschriebenen Fällen an Glaubwürdigkeit verliert. Die Zweifel an der Angemessenheit seiner Maßnahmen häufen sich.

5. Analyse

Die 1970er Jahre sind geprägt von der Strafverfolgung und den Strafverfahren gegen Angehörige der RAF und anderer militanter Gruppen. Deren revolutionäres Ziel ist die Zerschlagung der herrschenden Ordnung in der Bundesrepublik. Sie definieren sich selbst als Feinde der Strafjustiz. 550 Es ist legitim, dass sich ein Rechtsstaat gegen Gesetzesbruch, gegen Missbrauch seiner Rechtsordnung zum Zwecke der Rechtsver- letzung oder gegen Bewegungen, die auf seine Auflösung zielen, zur Wehr setzt. Deshalb werden einige der Gesetzesnovellen und Verordnungen auch von liberalen RA ohne weiteres akzeptiert. 551 Jedoch geht es in erster Linie nicht um das Was, sondern um das Wie: Die Gefahr ist unverkennbar, daß auf der Suche nach staatlichen Effizienzsteigerungen wesentliche Bestandteile der Verfassung aufgegeben werden. 552 Die Tatsache, dass sich auch VerbrecherInnen zu ihrem Schutz auf das Grundgesetz berufen können, macht die Verfassung aus. Der/die GesetzesbrecherIn verliert durch seine/ihre Tat nicht den Schutz der Verfassung und der Gesetze. Genau das ist das Wesensmerkmal, das den Rechtsstaat von der Willkürherrschaft unterscheidet. 553

550 Vergl. Ströbele 1997, S. 63 551 Vergl. Fetscher 1977, S. 69 552 Vergl. Fetscher 1977, S. 69f 553 Vergl. Fetscher 1977, S. 70

109 Sämtliche Instanzen der Bundesrepublik müssen sich am Verfassungsversprechen ei- nes gewaltengeteilten Verfassungsstaates messen lassen. 554

5.1 Die staatliche Gewalt in Ausnahmesituationen

Um die Problematik der Angemessenheit der Maßnahmen fachlich fundiert bearbei- ten zu können, muss die Materie auch unter dem Aspekt staatsrechtlicher Theorie be- leuchtet werden. Aus diesem Grund werden an dieser Stelle die Beiträge von den Staatsrechtlern Heuer und Kirchhof vorgestellt. Der Jurist Gerhard Heuer 555 verteidigt die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Ge- walt in Ausnahmesituationen. In der demokratisch begründeten und freiheitlich ver- fassten Bundesrepublik befolgt die große Mehrheit der StaatsbürgerInnen die gelten- den Gesetze und erkennt die staatliche Ordnung an. Der freiwillige Gehorsam gilt als Voraussetzung für das Funktionieren des Rechtsstaates. Kein Staat kann sich darauf verlassen, dass seine Gesetze und Anordnungen von jedem und ausnahmslos beachtet werden. Deshalb besitzt jeder Staat – auch der demokratische Rechtsstaat – die Fä- higkeit, die Befolgung seiner Gesetze und die Durchsetzungen seiner Anordnungen durch Machtmittel zu erzwingen. 556 Das für das Wesen des Rechtsstaates entschei- dende Element liegt darin, dass in ihm staatliche Machtausübung nicht allein durch Zweckmäßigkeitserwägungen und politischen Willen bestimmt, sondern er an Gesetz und Recht gebunden ist. Eingriffe der Exekutive in die Rechts- und Freiheitssphäre des/der BürgerIn sind nur zulässig auf der Grundlage von Gesetzen, die Vorausset- zung, Art und Umfang des Eingriffes festlegen, um sie für die Betroffenen voraus- sehbar zu machen. Diese Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit gelten nicht nur für die Normallage, sondern auch für die Ausnahmesituation. Die Verbindlichkeit des Rechts bleibt bestehen: Grundrechte von BürgerInnen müssen von den TrägerInnen staatli- cher Gewalt auch bei der Bewältigung von Ausnahmesituationen beachtet werden.

554 Vergl. Werkentin 1991, S. 22 555 Dr Gerhard Heuer ist 1975 Ministerialdirigent im Bundesministerium des Innern. 556 Vergl. Heuer 1975, S. 37f „Der Rechtsstaat kann kein gewaltfreier Staat, sondern muß im Gegenteil im Interesse der Allgemein- heit und des Einzelnen zugleich Machtstaat sein, wenn er nicht zu einem ohnmächtigen Staat herabsin- ken will.“ Heuer 1975, S. 38

110 Hoheitliche Eingriffe der Strafverfolgungsbehörden, die die Rechtssphäre des/der Einzelnen berühren, müssen dabei der Prämisse der Verhältnismäßigkeit stehen. 557 Der Spruch „Not kennt kein Gebot“ darf im Rechtsstaat nicht zur Maxime staatlichen Handelns werden. Zwar muß sich, um gesteigerten Gefahren wirksam begegnen zu können, der Rahmen für die Anwendung staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen erweitern, dies aber nur auf der Grundlage und in den Grenzen vorhandener gesetzlicher Ermächtigungen. 558 Heuer definiert den Begriff Ausnahmesituation als Störung der öffentlichen Sicher- heit und Ordnung im Innern des Staatswesens, die in ihrem Ausmaß oder ihrer Inten- sität „besonders große Gefahren für Mensch und Vermögenswerte oder tiefgreifende Einwirkungen auf das Zusammenleben in der Gemeinschaft herbeiführen“. 559 Der Jurist Paul Kirchhof 560 bemerkt zum Thema Gegenwehr, dass nicht jede Aus- nahmesituation durch staatliche Ausnahmegewalt beantwortet werden kann. Der Ausnahmezustand muss baldmöglichst wieder durch eine „regelrechte Realität“ abge- löst werden. 561 Eine Ausnahmesituation gebietet nicht immer eine Gegenwehr von gleicher Intensität, liegt sie doch im Geltungsbereich der zu verteidigenden Rechts- ordnung. Das Recht hat sich unter den erschwerten Bedingungen einer Ausnahmesi- tuation zu bewähren. In der Rechtsgüterkollision muss situationsgebunden entschie- den werden, welchem Recht der Vorzug gegeben wird. Dieser Vorzug eines Rechts auf Kosten eines anderen kann mit übergesetzlichem Notstand gerechtfertigt wer- den. 562 Form und Ausmaß staatlicher Zwangsanwendung folgt aus der Art und Inten- sität des Angriffs. Sobald die Grundbedingungen der freiheitlichen Demokratie, wo- bei Kirchhof besonders die Informationsfreiheit anspricht, gefährdet sind, so ist eine Ausnahmesituation erreicht, die staatliche Ausnahmegewalt erforderlich macht. Wie es sich verhält, wenn die Informationsfreiheit von staatlicher Seite eingeschränkt wird, schreibt Kirchhof nicht. Die Grenze zwischen Regel- und Ausnahmesituation soll klar markiert werden und die Reichweite der Ausnahmebefugnisse nach den Er- fordernissen der Krise eingegrenzt werden. 563 Form- und Verfahrensgarantien sollen staatliches Handeln gerade in einer Krisensituation lenken, um einen Fehlgebrauch

557 Vergl. Heuer 1975, S. 38f „Die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Notwendigkeit, Rechtsordnung auch gegenüber äußers- tem verbrecherischem Druck aufrechterhalten, ist neben dem Individualgrundrecht bei der Güterabwä- gung zu beachten.“ Heuer 1975, S. 56 558 Heuer, 1975, S. 38f 559 Vergl. Heuer 1975, S. 47ff 560 Dr. Paul Kirchhof ist Professor an der Universität Münster 561 Vergl. Kirchhof 1975, S. 84f 562 Vergl. Kirchhof 1975, S. 86ff 563 Vergl. Kirchhof 1975, S. 92f

111 der Staatsmacht zu verhindern. Ausnahmelagen begünstigen autoritäre oder totalitäre Herrschaftsweisen, weil die Freistellung der Staatsgewalt von formalen Bindungen und Kontrollen gesteigert sind. Verlässlich kontrolliert und gemäßigt werden soll die Staatsgewalt durch die Gewaltenteilung. 564 Ein Ausnahmerecht belegt den freiheitlichen Inhalt der Normalverfassung. 565 Das Ausnahmerecht ist stets das Problem eines freiheitlichen Rechtsstaates. Für Kirchhof ist entscheidend, dass die Sonderbefugnisse nur als vorübergehend ver- wendbares Hilfsinstrument zur Rückgewinnung der verfassungsgewollten Lebensbe- dingungen genutzt werden. 566

5.1.1 Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit der Anti-Terror-Gesetze

Die Zeiten der Unschuld und der Unschuldsvermutung sind vorbei. 567

Zunächst muss klargestellt werden, dass von der Prämisse auszugehen ist, dass Straf- recht grundsätzlich ein legitimes Reaktions-Mittel des Staates auf ungesetzliches Verhalten ist. Strafrecht ist aber auch politisches Machtinstrument, dessen konkrete Inhalte bestimmten Interessen dienen können. Die Rechtsgüter, die durch die Anti- Terrorismus-Gesetze geschützt werden sollen, sind z.B. das Leben und die Gesund- heit von Personen, die Opfer von Gewalttaten werden könnten, oder die Funktions- tüchtigkeit von Versorgungseinrichtungen. Dass solche Interessen grundsätzlich schutzwürdig sind, steht unstreitig fest. 568 Die Monopolisierung des Rechts zur Ausübung physischer Gewalt durch den Staat leistet einen wichtigen Beitrag dazu, daß Konflikte zwischen den BürgerInnen grundsätzlich gewaltfrei aus- getragen werden. Das ist eine historische Errungenschaft, die innerstaatlichen Frieden ermög- licht und auch für politische Konflikte gelten muß.569

564 Vergl. Kirchhof 1975, S. 97 565 Kirchhof 1975, S. 115 566 Vergl. Kirchhof 1975, S. 115 567 Gössner 1991, S. 44 568 „Kontrovers kann allenfalls sein, ob die Beeinträchtigung solcher Interessen unter bestimmten Vor- aussetzungen erlaubt sein sollte, etwa aufgrund eines Widerstandsrechts gegen gravierendes staatliches und gesellschaftliches Unrecht. Diese Frage betrifft mögliche Grenzen des staatlichen Gewaltmono- pols.“ Giehring, 1991, S. 36 569 Giehring 1991, S. 36

112 Die legislative Verarbeitung des Terrorismus steht vor dem grundsätzlichen Problem, mit dem spezifischen Charakter der betreffenden Gruppen, speziell deren politischer Dimension, umzugehen. Den TerroristInnen soll offiziell kein besonderer Status zu- gebilligt werden, damit sie wie ganz gewöhnliche VerbrecherInnen 570 behandelt wer- den können. Nicht die politische Motivation, sondern die Legitimität der Taten wird bestritten. Die Klassifizierung als Verbrechen führt dazu, dass die politische Dimen- sion ausgeblendet wird. Die für die Bekämpfung des Terrorismus für notwendig er- achteten gesetzlichen Maßnahmen sollen zudem offiziell keine Sondergesetzgebung darstellen. Denn Sondergesetze werden als rechtsstaatswidrig und als politische Kapi- tulation vor der Herausforderung des Terrorismus, als formelle Bestätigung der Bür- gerkriegsthese der RAF und damit als politische Aufwertung betrachtet. 571 Soweit zu der ursprünglichen Intention der GesetzgeberInnen. Obwohl gerade in den Strafprozessen gegen RAF-Mitglieder immer aufs Neue betont wird, dass es sich nur um gewöhnliche Kriminelle handelt, wird ihnen durch die Ak- tionen der Sicherheitsbehörden selbst eine politische Dimension zugestanden. 572 Der § 129a StGB und die daran anknüpfenden verfahrensrechtlichen Sonderregelungen sind als gesetzgeberisch reaktive Maßnahme auf die Gewalttaten der RAF zuzuord- nen. Dass materiell sehr wohl Sonderrecht geschaffen worden ist, ist weitgehend un- bestritten. Die Einführung des § 129a als Mittel der Abtrennung des Sonderbereiches „Terrorismusverfahren“ ist an den zahlreichen prozessualen Eingriffsbefugnissen und weiteren Sonderregelungen zu erkennen.573 Die Begründbarkeit von Normen muss al- lerdings abgelöst vom Anlass ihrer Entstehung und den Motiven der daran beteiligten politischen Instanzen beurteilt werden. 574 In der Frage, ob eine Kriminalisierung poli- tisch motivierter Handlungen durch § 129a angemessen ist, gehen die Positionen aus- einander. Für BefürworterInnen des § 129a stellt dieser Paragraph eine effektive und unverzichtbare Strafvorschrift im Vorfeld des Terrorismus dar, um politisch motivier-

570 „Im Gegensatz zur gewöhnlichen Kriminalität, gewöhnlich für Kriminologen deshalb, weil sie im Rahmen der vorgegebenen Ordnung die selben gesellschaftlichen Werte nur mit anderen Mitteln errei- chen wollen (z.B. reich werden durch Bankraub), wird der Terrorismus von vornherein nicht als indi- viduelle Handlung, als Bruch einzelner Rechtsnormen interpretiert.“ Funk/Werkentin 1977, S. 196 571 Vergl. Berlit/Dreier 1984, S. 267 „Totz der Entschlossenheit zur Aussöpfung aller rechtsstaatlichen Mittel gegenüber der fundamentalen Bedrohung sollte die Reaktion so normal und rechtsstaatlich wie möglich erscheinen: ‚Der Rechtsstaat dürfe nichts tun, was darauf hinauslaufen könnte, der Herausforderung mit einem Ausnahmerecht zu begegnen.’“, in: Berlit/ Dreier 1984, S. 267 572 Vergl. Funk/ Werkentin 1977, S. 196 573 Berlit/ Dreier 1984, S. 267 574 Vergl. Giehring 1991, S. 35

113 te Gewalt einzudämmen. Die Gegenposition bestreitet das und behauptet, eine Straf- verfolgung nach § 129a habe eine gegenteilige und dysfunktionale Wirkung. Die Vorverlagerung der Strafbarkeit, insbesondere die Kriminalisierung bestimmter Mei- nungsäußerungen werde von Teilen der Bevölkerung als überzogene, ungerechtfertig- te Repression empfunden und trage daher zu deren Radikalisierung und Solidarisie- rung mit terroristischen Vereinigungen bei. Das Gefährdungspotential steigere sich also durch den § 129a, anstatt reduziert zu werden. Es scheint allerdings nicht zuzu- treffen, dass eine solche potentielle Solidarisierung die präventionswirksamen Effek- te, insbesondere die Einschüchterung, kompensieren kann. 575 Die GesetzgeberInnen vermögen es mit den „Gewaltparagraphen“ nicht, ihr Ziel einer Abwehr gefährdender Äußerungen zu verwirklichen, ohne die Meinungsfreiheit in Gefahr zu bringen. Da bei Meinungsäußerungsdelikten die Grenze der Strafbarkeit zugleich die Grenze der Grundrechtsausübung markiert, lassen sich negative Auswirkungen auf die Mei- nungsfreiheit nicht verhindern. Die §§ 88a und 130a werden zum Synonym für Zensurbestrebungen und illegitime Restriktion gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse. In die Vorfeldkriminalisie- rung, zu welcher auch §§ 88a und 130a zu zählen sind, fallen Äußerungsdelikte, die die Teilnahme am Kommunikationsprozess der Gesellschaft unter Strafe stellt, sobald sie gewissen inhaltlichen Kriterien entsprechen. Die bloße Existenz der Gesetze gilt KritikerInnen als „Beleg für die Realität und Allgegenwart politisch motivierter Zen- sur“. Die wohl ursprünglich beabsichtigte geistige und moralische Isolierung von Ter- roristInnen und das Austrocknen der SympathisantInnenszene kann nicht überzeu- gend durchgeführt bzw. vermittelt werden. Statt dessen wird von Teilen der Öffent- lichkeit die Bedrohung der Meinungsfreiheit und die Unterdrückung systemoppositi- oneller Kritik, die Schaffung eines Klimas der Einschüchterung, des Opportunismus und der Selbstzensur sowie Gefahren des Missbrauchs durch die Exekutive beklagt. Die §§ 88a und 130a StGB werden deshalb 1981 vom Bundestag wieder aufgeho- ben. 576

575 Vergl. Giehring 1991, S. 37, Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 285f „Als politische Kosten der Terrorismusbekämpfung ergeben sich […] bei relevanten Teilen der intel- lektuellen Jugend delegitimierende Wahrnehmungen wie das Gefühl der Einengung der politischen Meinungsäußerungsfreiheit – trotz grundsätzlich systemkonformer Einstellung wird eine Tendenz zur Ausschließung abweichender Meinungen und oppositioneller Gruppen aus dem als legitim definierten politischen Spektrum empfunden.“ Berlit/ Dreier 1984, S. 288 576 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 288ff

114 Albrecht Funk und Falco Werkentin ordnen dem Terrorismus eine Alibi-Funktion zur Verbesserung der Kontrolle zu: in der von den Sicherheitsbehörden permanent vorge- tragenen Bedrohungsanalyse für System und BürgerInnen der Bundesrepublik wäh- nen sie den Terrorismus als funktionalistischen „Mosaikstein im inneren Feindbild“, durch den der Zusammenhang zwischen Kriminalität und Verfassungsfeindlichkeit hergestellt wird. Ziel ist danach die Verstärkung des innerstaatlichen Gewaltapparates und die Erweiterung exekutiver Befugnisse, wie sie in der Strafprozessordnung, im Strafgesetzbuch und im Polizeirecht durchgesetzt worden sind. Aus seiner besonderen Qualität, i.e. seiner politischen Motivation, wird die besondere Bedrohung des Terro- rismus abgeleitet, die nur mit außergewöhnlichen Mitteln abwendbar ist. Demzufolge werden TerroristInnen stets als Kriminelle mit spezifischer Qualität definiert. Es han- dele sich um „militante Kriminalität“. 577

Es muss geprüft werden, ob die „sozialen Kosten“ und mögliche unerwünschte Ne- benfolgen in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen, der durch eine Kriminalisierung in präventiver Hinsicht erreicht werden kann. 578 Angemessen kann die Kriminalisierung eines bestimmten Verhaltens überhaupt nur dann sein, wenn dieses die geschützten Rechtsgüter in hinreichendem Maße beeinträchtigt oder gefährdet. Dies ist möglicherweise für die verschiedenen Handlungen, die in § 129a StGB unter Strafe ge- stellt sind, unterschiedlich zu beurteilen. 579 Soweit es beispielsweise beim Straftatbestand der Werbung und Unterstützung um Kommunikation geht, ist nicht hinreichend belegbar, dass dadurch die „Gefahr der Begehung von Katalogtaten in relevanter Weise erhöht wird“. Die von den Gesetzge- berInnen vorgebrachte Argumentation, nach der das Bekennen von Sympathie für Guerilla-Bewegungen regelmäßige Vorstufe für die Unterstützung und später für die Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung sei, bedeutet nicht, dass das Sprühen einer RAF-Parole die Gefahr terroristischer Taten erhöht. Es kann allenfalls sein, dass ein Teil der Leute, die so etwas tun, gefährlich werden könnten, weil sie sich in einer Phase der Entwicklung hin zu einer Unterstützung einer terroristischen Vereinigung befinden können.580

577 Vergl. Funk/ Werkentin 1977, S. 196 578 Vergl. Giehring 1991, S. 37 579 Giehring 1991, S. 37 580 Vergl. Giehring 1991, S. 38

115 Solche Gefährlichkeitsurteile über Personen können […] keine Kriminalisierung in einem Straf- recht rechtfertigen, das seinen Anspruch nach Tat und nicht TäterInnen- oder Gesinnungsstraf- recht ist. 581 Von solchen Kriminalisierungen sind negative Nebenfolgen für die Freiheit der politi- schen Diskussion zu erwarten, die bei der Beurteilung der Angemessenheit ebenfalls zu berücksichtigen sind. Narr kritisiert an § 129 a, er widerspreche rechtsstaatlichen wie grundgesetzlichen Prinzipien und sei symptomatisch für die Terrorbekämpfung seit den 1970er Jahren. 582 Heinz Giehring spricht sich für einen Organisationstatbestand bei Mit- gliedschaft und auch bei Gründung und Unterstützung durch planmäßige logistische, or- ganisatorische oder finanzielle Hilfe aus. Allerdings ist er der Auffassung, dass § 129a sowohl „in materiell-rechtlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Sonderregelungen eindeutig überzogen ist“. Er bezeichnet § 129a als „Produkt einer Krisengesetzgebung“ und plädiert deshalb für seine Streichung. 583

Die Terrorismus-Gesetzgebung lässt eine deutliche Verschiebung von Handlungs- chancen, Kompetenzen, Eingriffs- und Abwehrbefugnissen zugunsten der staatlichen Organe und zu Lasten des/der Beschuldigten bzw. seiner/ihrer Verteidigung erken- nen. Auffälligstes Kennzeichen der Gesetzesnovellen in diesem Bereich ist die Schaf- fung neuer Straftatbestände. 584 Die Tatbestandsvoraussetzungen entfernen sich vom konkreten Handlungs- und Erfolgsstraf- recht, indem sie schon Unterstützungs- und Werbehandlungen pönalisieren, also auf die abstrak- te, bereits in der Organisierung einer kriminellen Vereinigung und ihrer – durch noch so mini- male Handlungsanteile ermöglichten – Aufrechterhaltung liegenden Gefährlichkeit abzielen. 585 Der § 129a ist ein plastisches Beispiel für die verfahrensrechtliche Bedeutung mate- rieller Rechtsänderungen. Die in der Vorfeldkriminalisierung festgeschriebene Verla- gerung in das Vorstadium einer Vorbereitung bedeutet eine „individuelle Rechtsguts- beeinträchtigung“, die als „Transformation in ein Gesinnungsstrafrecht“ bewertet werden kann. 586

581 Giehring 1991, S. 38 582 Vergl. Narr 1996, S. 7f „In den Verfahren wider Personen, die der Beteiligung an terroristischen Akten geziehen werden, wird immer erneut der Deutsche Herbst gegenwärtig. Ohne Augenmaß; getrieben von einer bürokratisch gewordenen Leidenschaft der Überführung, der Generalprävention mit Hilfe mehrmals lebenslängli- cher Delikte. Eine Absurdität – gälte (humane) Logik.“ Narr 1996, S. 9 583 Vergl. Giehring 1991, S. 38f 584 Vergl. Funk/ Werkentin 1977, S. 205f, Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 243 585 Berlit/ Dreier 1984, S. 243 586 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 232f

116 Wo letzten Endes nur noch über kaum wägbare subjektive Nuancen zu befinden ist, schwindet die Möglichkeit der Fixierung strafprozessual relevanter Grenzen, wie sie etwa mit der Figur des konkreten Tatverdachts gegeben ist. 587 Aus Gründen der besonderen Gefährlichkeit der terroristischen Kriminalität werden möglichst viele Handlungsanteile, die die bloße Existenz eines organisierten Zusam- menhangs fördern könnten, unter Strafe gestellt. In Folge dessen mangelt es proporti- onal immer mehr an exakten, objektiven strafrechtlichen Zurechnungen. Die be- stimmte Tat wird durch ein unbestimmtes Verhalten ersetzt, das unter Strafe gestellt wird. Die Reduktion deskriptiver zugunsten normativer Elemente ist eine Tendenz zur „Intentionalisierung strafrechtlicher Normen“, die sich ihrer Struktur und ihrer Funktion nach vom Ideal eines rechtsstaatlich gebundenen Strafrechts entfernen. 588 Die zur TäterInnenschaft verselbständigten Beteiligungsformen der Werbung und der Unterstützung im § 129a sowie das partielle Artikulationsverbot des § 88a bedeuten Beispiele für die Verschiebung hin zu einem vageren und amorphen Strafrecht, das die klassischen Eingriffsvoraussetzungen mehr und mehr zugunsten einer offeneren Tatbestandsstruktur ablöst. Deshalb können sich die anzuzeigenden Handlungen, ins- besondere bei dem an § 129a anknüpfenden § 138, ins Uferlose ausweiten. Die Ände- rungen des materiellen Rechts markieren einen deutlichen Trend vom „Verletzungs- strafrecht, als dem Kern strafbaren Verhaltens“, hin zu einer Art „Bestrebungsbestra- fung“, der Sanktionierung einer abstrakten Gefährdung eines Rechtsgutes. Das bedeu- tet die systematisch letzte Stufe der Ausdehnung des strafrechtlich relevanten Perso- nenkreises: völlig abgekoppelt von einem eigenen Tatbeitrag wird das soziale Umfeld der HaupttäterInnen strafrechtlich eingebunden. Nicht die Identifikation mit der terro- ristischen Tat, sondern bereits die „Nicht-Demonstration von Loyalität entfaltet so strafrechtliche Relevanz“. 589 Bereits im „ersten großen Anti-Terror-Paket“ sind grundlegende Rechte und Privile- gien der Verteidigung eingeschränkt worden, so dass sich mancheR die Frage stellt, ob eine angemessene Verteidigung der angeklagten RAF-Mitglieder überhaupt noch möglich ist. Abgesehen von einer Dezimierung von VerteidigerInnen durch Aus-

587 Berlit/ Dreier 1984, S. 233 588 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 243f 589 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 244ff

117 schlüsse sind die RA der Meinung, dass faire Prozesse bei der Terrorismus- Bekämpfung fast unmöglich seien.. 590 Es scheint angebracht, RA beim Verdacht der Beteiligung an einer Straftat vom Pro- zess auszuschließen, da der Gedanke, dass RA ihre Privilegien für Verbrechen miss- brauchen nicht gefallen kann. Doch um das zu ahnden existieren bereits Verfahrens- regeln. Wenn sich AnwältInnen eines Deliktes schuldig gemacht haben, werden sie wie jedeR andere angeklagt und vor Gericht gestellt. Die GesetzgeberInnen sind im Hinblick auf die Stammheimer Prozesse offensichtlich zu der Überzeugung gelangt, dass die bisherigen rechtlichen Möglichkeiten dafür nicht ausreichen. 591 „Die Ausschließung eines Verteidigers ist ein Eingriff in das Grundrecht der freien Berufsaus- übung des Rechtsanwalts; ein solcher Eingriff ist nur dann verfassungsmäßig, wenn er zur Ab- wendung einen Gefahr für die Rechtspflege erforderlich ist und wenn die Verhältnismäßigkeit zwischen Gefahr und Eingriff gewahrt wird.“ 592 Im Haftrecht, bei der VerteidigerInnenüberwachung, bei der Abwehr von Störungs- möglichkeiten im Strafprozess oder bei der Anwendung des Kontaktsperregesetzes werden Rechtsnormen der freiheitlichen Demokratie mit bedrohlicher Regelmäßig- keit verletzt. Dabei wird die lediglich nachvollziehende Legalisierung einer bereits bestehenden Exekutivpraxis in vollem Bewusstsein einer fragwürdigen oder gänzlich fehlenden Rechtsgrundlage vorgenommen. Nachträglich verabschiedete Gesetze ver- letzen den Grundsatz allgemeiner und international anerkannter Rechtsprechung nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz. 593 Ein Staat, der sich durch die Legalität der Tätigkeit seiner Organe legitimiert, setzt sich damit dem Vorwurf des illegalen Handelns aus. 594

590 Beispielsweise der Prozess in Stammheim weise eine Vorgeschichte auf, die das Gerichtsverfahren zu einem „Propagandainstrument“ werden lasse, das allein der Verwirklichung von vornherein festste- henden politischen Zielsetzungen diene. Zu diesem Eindruck hätten die Behandlung der Gefangenen und ihrer RA, die Sondergesetze und die öffentliche Vorverurteilung maßgeblich beigetragen. Vergl. Bakker Shut 1986, S. 211 591 Vergl. Fetscher 1977, S. 85 592 Gerald Grünwald 1975, zit. nach: Fetscher 1977, S. 85 593 Vergl. Ahlbrecht 1999, S. 76f 594 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 263 „Es ist Voraussetzung jeder Rechtsordnung, daß die Garanten des Rechts eine Rechtsüberschreitung und insbesondere den offenen Rechtsbruch unterlassen.“ Kirchhof 1975, S. 92

118 5.1.2 Grenzen und Entgrenzungen rechtsstaatlicher Lösungen

Vor der endlosen Verlängerung der Krise in der geronnenen Form des Rechts kann letztlich nur eine auf legislative Bereinigung der krisenhaft zugespitzten Situation der endsiebziger Jahre bewahren. 595

Zentraler Punkt der Kritik an der Gesetzgebungspraxis ist die Infragestellung der Vereinbarkeit der Anti-Terror-Gesetze mit dem Rechtsstaatsprinzip. Das aus der Ver- fassung hergeleitete Rechtsstaatsverständnis wandelt sich in seiner Prämissensetzung von einer prinzipiellen Vermeidung von Einschränkungen der individuellen Rechte zu einer verstärkten Berücksichtigung des staatlichen Sicherheitskalküls, der Funkti- onsfähigkeit und der Effektivität rechtlicher Verfahren. 596 Aus der Tatsache der beschriebenen Gesetzesverschärfungen, oder aus dem Faktum kontinuierlich die politische Justiz begleitender eklatanter Rechtsbrüche die Schluss- folgerung zu ziehen, zwischen dem politischen System der BRD und dem deutschen Faschismus, zwischen den Staatsschutzverfahren im deutschen Faschismus und in der BRD, gäbe es nur einen tendenziellen Unterschied, ist eine unzutreffende und poli- tisch kontraproduktive Kritik. Obwohl die Gewaltenteilung dramatische Einschrän- kungen erfährt, bedeutet die politische Entwicklung noch keinen Trend zu einer Fa- schisierung, wie dies von RAF propagiert und von Teilen der kritischen Öffentlich- keit befürchtet wird. Trotz des zum Teil offen autoritären Verhaltens kann die BRD nicht als der faschistische Staat, wie ihn die RAF vorführen will, entlarvt werden. Denn trotz aller Einschränkungen basiert das politische System der Bundesrepublik auf einer liberalen demokratischen Verfassung, die Opposition, abweichendes Verhal- ten und Pluralität in Maßen zulässt. Das gewaltenteilige System besitzt zahlreiche E- lemente, die eine völlige Gleichschaltung verhindern. Die eingangs aufgestellte These formuliert den Verdacht, die Bundesregierung nutze die gespannte innenpolitische Lage, um eine Art Ausnahmezustand in Kontinuität zu organisieren. An dieser Stelle soll versucht werden, das mit Hilfe des Beitrags „Die legislativen Auseinandersetzungen mit dem Terrorismus“ von Uwe Berlit und Horst

595 Berlit/ Dreier 1984, S. 299 596 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 269ff „Der bewusste Rechtsbruch […] sollte möglichst durch regelrechtes staatliches Verhalten beantwortet werden, weil nur rechtskonformes Handeln von der Richtigkeit der normalen Rechtsregeln überzeugen kann. Eine Kluft zwischen Staatsrealität und rechtlich gemeinter Normallage ist deswegen grundsätz- lich durch Gesetz zu überbrücken.“ Kirchhof 1975, S. 99

119 Dreier zu beantworten. Die Autoren stellen zugleich Grenzen und Entgrenzung recht- licher Lösungen dar. Von Regierungsseite wird bereits als Erfolg gewertet, dass die Terrorismus- Bekämpfung sich in streng rechtlicher Form und nicht mit Mitteln und Maßnahmen der Sondergesetzgebung eines staatlichen Ausnahmezustands vollzogen habe. Das mag verwirrend klingen, doch diese Bewertung wird in Bezug gesetzt zu konkurrie- renden Vorschlägen einer Sondergesetzgebung für den Terrorismusbereich. Allge- meine, generelle und abstrakte Gesetze hätten sich gegenüber situativ-fallbezogenen Maßnahmen durchsetzen können. 597 Allerdings wird sich in einigen Fällen krisenhaf- ter Zuspitzung auf den vorher noch abgestrittenen Ausnahmezustand zurückbeson- nen. Mit übergeordneten Interessen des Staates gerechtfertigte und „exekutiven Hand- lungszwängen“ unterworfene Maßnahmen führen mitunter zu Überschreitungen der Legalität. Deren Apologie im Fall des Lauschangriffs auf Klaus Traube, der heimli- chen Überwachung von Gesprächen zwischen VerteidigerInnen und MandantInnen in der JVA Stammheim und der, entgegen haftrichterlicher Anordnung und zunächst ohne gesetzliche Grundlage vollzogenen, Kontaktsperre erfolgt unter Berufung auf die Generalklausel § 34 StGB, den rechtfertigenden Notstand. Berlit / Dreier bewer- ten Teilbereiche der legislativen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung als staatli- che Sonderprogramme, die in die herrschende innenpolitische Mischung aus Aus- nahmesituation und Normallage der 1970er Jahre einzuordnen sind. Die Autoren wer- fen den GesetzgeberInnen vor, mit dem Verzicht auf einen zeitlich befristeten Maß- nahmenkatalog die „Veralltäglichung des Ausnahmezustands“ zu betreiben. Der Ausnahmezustand, bzw. die generalisierte Ausnahme- und Abwehrregelungen, wan- dere in die „Normallage“ ein und verändere sie dauerhaft. 598 An die Stelle der ursprünglich beabsichtigten Normalisierung der Ausnahmelage durch Festhal- ten an rechtsstaatlich-legislativen Reaktionsmustern tritt die schleichende Durchsetzung der Normalsituation mit Elementen des Notstands: Wer meint, Ausnahmelagen nur dadurch begeg- nen zu können, daß er sie gesetzlich normiert, schafft schließlich ein Recht der Normallage, das vom Ausnahmerecht her bestimmt ist. 599

597 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 295f „Ginge es nach dem Willen der Opposition, gäbe es in der Bundesrepublik [...] auch die Sicherheits- verwahrung bereits nach einmaliger Verurteilung. Ihre Vorstellungen kommen einer Schutzhaft, wie sie im Dritten Reich praktiziert wurde, schon bedenklich nahe. Auch die Wiedereinführung der Todes- strafe ist für Unionspolitiker [...] durchaus ein Thema im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämp- fung.“ Vinke/Witt 1978, S. 10 598 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 296ff 599 Berlit/ Dreier 1984, S. 298

120 Die Terrorismusgesetzgebung kann in jene politisch-soziale Entwicklung eingereiht werden, die unter den Begriff „Aufrüstung der Normalität“ gefasst wird. Indem die Aufrüstung verrechtlicht wird, erscheint sie als normal. Die Gefahr liegt in der „Ein- ebnung der Unterscheidung von Normalität und Ausnahmezustand“, wobei der Aus- nahmezustand nicht mehr als solcher ersichtlich ist und damit „jener schleichende Prozeß der Transformation des liberalen Verfassungsstaates in den autoritären Maß- nahmestaat in Gang kommt, in dem in letzter Konsequenz die Inanspruchnahme lega- ler Freiheiten durch die Bevölkerung als dramatisierter Ausnahmezustand er- scheint“. 600 Ausnahmezustand und Normallage bedeuten unterschiedliche „Aggregat- zustände des politischen Gemeinwesens für die Wahrung freiheitlicher Zustände“. Die Entgrenzung von Krise und Normalität führt zur Auflösung der Differenz zwi- schen beiden und der rechtlich institutionalisierte Ausnahmezustand kann zur chroni- schen Bedrohung der Freiheit werden. 601

5.2 Zusammenfassung

In der Bundesrepublik Deutschland herrsch während des Deutschen Herbstes ein fak- tischer Ausnahmezustand, ohne dass dieser förmlich erklärt worden wäre. Es zeigt sich, dass differenzierte Mittel zur Krisenbewältigung zur Verfügung stehen, die knapp unterhalb der erklärten Notstandsschwelle anzusiedeln sind: ein nicht legiti- mierter Krisenstab bestimmt das Handeln, Grundrechte werden mit Hinweis auf einen rechtfertigenden Notstand außer Kraft gesetzt, Lauschangriffe werden durchgeführt, eine gesetzlich zunächst nicht legitimierte Kontaktsperre wird über Häftlinge und Un- tersuchungsgefangene sowie eine weitreichende Nachrichtensperre über die Medien verhängt und die Gewaltenteilung wird partiell aufgehoben. Staatsschutz und Strafrecht werden ausgedehnt auf einen politischen Verdacht und das Vorfeld strafbarer Handlungen. Unter dem Schlagwort Prävention findet eine Ausweitung staatlicher Aufgaben und Eingriffsbefugnisse statt. Präventionspraktiken wie die Kontaktsperre werden zunächst im rechtsfreien Raum des Ausnahmezustands erprobt und dann nachträglich per Gesetz legitimiert. Mit der Absicht, die innere Si- cherheit zu gewährleisten, gibt die Parlamentsmehrheit den Strafverfolgungsbehörden

600 Vergl. Ullrich Preuß 1979, zit. nach: Berlit/ Dreier 1984, S. 298 601 Vergl. Berlit/ Dreier 1984, S. 298f

121 mit den beschriebenen Gesetzesreformen immer weitreichendere Befugnisse. Mit ge- setzgeberischen Mitteln sollen also terroristische Straftaten verhindert werden. Das ist auch Inhalt der Erwartungen seitens der Bevölkerung, die auf dem Parlament lastet, so dass viele Bundestagsabgeordnete unter eine Art Erfolgszwang stehen. Die Terro- rismusbekämpfung hat - wie die Politik der RAF - eine Eigendynamik entwickelt. Der staatliche Anti-Terror-Kampf bringt weitreichende Folgen für die politische Kul- tur und die Substanz der rechtsstaatlichen Freiheitsrechte mit sich. Bei der Strafver- folgung in Sachen Terrorismus wird das sonst hochgehaltene, verfassungsgerichtlich unterstrichene Prinzip der Verhältnismäßigkeit außer acht gelassen. Die Aufweichung von Rechtsgrundsätzen wirkt der Rechtssicherheit entgegen. Durch die Serie der An- ti-Terrorismus-Gesetze wird schrittweise eine geradezu systematische Beschneidung der Rechte der Verteidigung etabliert. Als Beispiel dafür sei an dieser Stelle nur auf die Kontaktsperre oder auf den § 129a verwiesen. Das Kontaktsperregesetz ist massiv zu kritisieren, weil es jede Verteidi- gung von Terrorismus-Verdächtigen fast automatisch verdächtigt. Es ist hinreichend beschrieben worden, dass jedeR RA, der/die unter die Kontaktsperre gefallen ist, ge- rät in den Anfangsverdacht der Komplizenschaft. Zudem bezieht sich die Kontakt- sperre nicht auf im Einzelfall konkret umrissene Tatbestände, was eine Beschwerde Betroffener zusätzlich erschwert. Der Ermessensspielraum, den § 129a den Strafver- folgungsbehörden bietet, ist unverhältnismäßig groß. Mit ihm wird eine Verlagerung der Terrorismusbekämpfung in die Bereiche Gesinnung und Meinungsäußerung be- trieben und die Krisengesetzgebung der 1970er Jahre manifestiert. Die Anti-Terrorismus-Gesetze wirken weit über ihre jeweiligen Anlässe hinaus. Teile des Anti-Terror-Instrumentariums dienen der Kriminalisierung und Ausforschung von politisch verdächtigten Szenen, Gruppen oder Bewegungen, die nichts mit der militanten Praxis der RAF zu tun haben. Mit dem Schlagwort der terroristischen Ge- fahr wird konsequent eine Politik der inneren Aufrüstung betrieben. Selbstverständlich sind nicht all jene, die durch die Anti-Terrorismus-Gesetze straf- rechtlich verfolgt werden, als bloße Opfer staatlicher Willkür zu verstehen. Die poli- tisch motivierte Gewalt der RAF oder anderer militanter Gruppen gegen Menschen darf nicht verharmlost werden. Doch rechtsstaatliche Prinzipien gelten für alle. Auch für Personen, denen schwere Verbrechen vorgeworfen werden. Die Gewalttaten der TerroristInnen werden jedoch zum Anlass genommen, die Möglichkeiten, offene ge- sellschaftliche Auseinandersetzungen zu führen oder Kritik am Staat zu äußern, ein-

122 zuschränken. In einer Situation in der sich große Teile der Bevölkerung bedroht füh- len und staatliche Maßnahmen weniger in Frage stellen, werden die Möglichkeiten staatlicher Kontrolle ausgebaut. Die erlassenen Regelungen belasten die rechtsstaatli- che Substanz. Wenn jeder Bombenanschlag mit einem Gesetz beantwortet würde, hätte die RAF ihr Ziel erreicht: die BRD als einen autoritären Staat zu entlarven, der er bis dahin nicht ist. Allerdings sind PolitikerInnen aus allen Parteien zunehmend be- reit, angesichts neuer Terroranschläge rechtsstaatliche Positionen aufzugeben. Die von PolitikerInnen aller Fraktionen häufig bemühte wehrhafte Demokratie, deren Einschränkung ihren Erhalt gewährleisten und sichern soll, stellt ein Paradoxon dar. Die wehrhafte Demokratie, so wie sie 1977 diskutiert wird, beinhaltet vor allem den Ausbau von Überwachungsmaßnahmen. Eine streitbare Demokratie muss jedoch eine Demokratie bedeuten, deren BürgerInnen sie tragen und verteidigen. Resümierend ist festzustellen, dass die besprochenen Gesetzesreformen den Bestand an liberalen Freiheitsgarantien abbauen, die zuvor mühsam erkämpft worden sind. Je- des einzelne der vorliegenden Anti-Terror-Gesetze bedeutet gewiss noch nicht den Untergang des Rechtsstaates. Aber in der Summe markieren die Bestimmungen einen für den Rechtsstaat bedenklichen Trend.

123 6. Literatur

Heiko Ahlbrecht 1999: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden, Nomers Verlag

Stefan Aust 1998: Der Baader-Meinhof-Komplex. München, Goldmann Verlag

Pieter H. Bakker-Shut 1989: Stammheim. Der Prozess gegen die Rote Armee Frakti- on. Kiel, Neuer Malik Verlag

Uwe Berlit, Horst Dreier 1984: Die legislative Auseinandersetzung mit dem Terro- rismus. In: Fritz Sack, Heinz Steinert u.a. 1984: Protest und Reaktion. Analysen zum Terrorismus, Band 4/2. Herausgegeben vom Bundesminister des Innern. Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 228-319

Peter-Jürgen Boock 2002: Die Entführung und Ermordung des Hanns-Martin Schley- er. Eine dokumentarische Fiktion von Peter-Jürgen Boock. Frankfurt am Main, Eich- born Verlag

Tatjana Botzat, Elisabeth Kiderlen, Frank Wolff 1978: Ein deutscher Herbst. Zustän- de, Dokumente, Berichte, Kommentare. Frankfurt/M., Verlag Neue Kritik

Peter Brückner 1973: Politisch-psychologische Anmerkungen zur Roten-Armee- Fraktion. In: Peter Brückner 1979: Über die Gewalt. Sechs Aufsätze zu Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach, S. 28-53

Peter Brückner 1975: Die Verknastung der sozialen Welt. Versuche über die RAF. In: Peter Brückner 1979: Über die Gewalt. Sechs Aufsätze zu Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach, S. 67-109

124 Peter Brückner 1978: Die Mescalero-Affäre. Ein Lehrstück für Aufklärung und poli- tische Kultur. 3. erweiterte Auflage. Hannover, Internationalismus Buchladen und Verlagsgesellschaft mbH

Peter Brückner 1979: Über die Gewalt. Sechs Aufsätze zu Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach

Peter Brückner 2001: Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach (Hrsg.)

Uta Demes 1994: Die Binnenstruktur der RAF. Divergenz zwischen postulierter und tatsächlicher Gruppenrealität. Münster/New York, Waxmann Verlag

Bianca Dombrowa, Markus Knebel, Andreas Oppermann, Lydia Schieth 1994: Ge- RAFtes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deut- schen Literatur. Fußnoten, Band 27. Bamberg, Universität Bamberg

Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission 1976: Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen. Vorträge auf der Europäi- schen Juristen-Konferenz vom 26. bis 28. September 1975 in Amsterdam und Den Haag. Rechtsstaat in der Bewährung, Band 2. Karlsruhe / Heidelberg, C.F. Müller Ju- ristischer Verlag

Iring Fetscher 1977: Terrorismus und Reaktion. Köln/Frankfurt am Main, Europäi- sche Verlagsanstalt

Iring Fetscher, Günter Rohrmoser 1981: Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Band 1. Herausgegeben vom Bundesminister des Innern. Opladen, Westdeutscher Verlag

Iring Fetscher, Herfried Münkler, Hannelore Ludwig 1981: Ideologien der Terroris- ten in der Bundesrepublik Deutschland. In: Iring Fetscher, Günter Rohrmoser 1981: Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Band 1. Herausgegeben vom Bundesminister des Innern. Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 16-270

125 Albrecht Funk, Falco Werkentin 1977: Die siebziger Jahre: Das Jahrzehnt innerer Si- cherheit? In: Wolf-Dieter Narr (Hrsg.) 1977: Wir Bürger als Sicherheitsrisiko: Be- rufsverbot und Lauschangriff – Beiträge zur Verfassung unserer Republik. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, S. 189-209

Heinz Giehring: Der Straftatbestand des § 129a StGB. In: Gruppe Wüster Haufen 1991: Aufruhr. Widerstand gegen Repression und § 129a. Materialien und Texte zur Diskussion. Amsterdam, ID-Archiv, S. 27-40

Rolf Gössner 1991: Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicher- heitsstaat. Terroristen und Richter, Band 2. Hamburg, VSA-Verlag

Jürgen Gottschlich 1997: Mescalero – ein Nachruf. In: taz-Journal 1997: 20 Jahre Deutscher Herbst. Die RAF, der Staat und die Linke. Analysen, Recherchen, Inter- views, Debatten, Dokumente von 1977 bis 1997. Berlin, taz Verlags- und Vertriebs GmbH, S. 28-30

Josef Gräßle-Münscher 1991: Anklage und Prozeß. In: Gruppe Wüster Haufen 1991: Aufruhr. Widerstand gegen Repression und § 129a. Materialien und Texte zur Dis- kussion. Amsterdam, ID-Archiv, S. 41-60

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und Verfassung des Landes Hes- sen. Ausgabe von 1985. Bad Homburg, Verlag Dr. Max Gehlen,

Gruppe Wüster Haufen 1991: Aufruhr. Widerstand gegen Repression und § 129a. Materialien und Texte zur Diskussion. Amsterdam, ID-Archiv

Heinrich Hannover 1999: Die Republik vor Gericht. 1975-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Berlin, Aufbau-Verlag

Gerhard Heuer 1975: Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahme- situationen. In: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission 1976: Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen. Vorträge auf der Europäischen Juristen-Konferenz vom 26. bis 28. September 1975 in Amsterdam

126 und Den Haag. Rechtsstaat in der Bewährung, Band 2. Karlsruhe / Heidelberg, C.F. Müller Juristischer Verlag, S. 33-82

Hoffmann, Martin (Bearb.) 1997: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin, Independent Verlagsgesellschaft

Hans Josef Horchem 1988: Die verlorene Revolution. Terrorismus in Deutschland. Herford, Verlag Busse und Seewald

Michael Horn 1982: Sozialpsychologie des Terrorismus. Frankfurt/New York, Cam- pus Verlag

Helmut Kerscher 1986: Der Rechtsstaat setzt sich zur Wehr. In: Dieter Schröder (Hrsg.) 1986: Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv. Redaktion Süddeutsche Zeitung. München, List Verlag, S. 77-87

Paul Kirchhof 1975: Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahme- situationen. In: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission 1976: Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen. Vorträge auf der Europäischen Juristen-Konferenz vom 26. bis 28. September 1975 in Amsterdam und Den Haag. Rechtsstaat in der Bewährung, Band 2. Karlsruhe / Heidelberg, C.F. Müller Juristischer Verlag, S. 83-118

Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.) 1996: Der Prozeß gegen Monika Haas. Dokumentation einer Veranstaltung des Komitees für Grundrechte und Demo- kratie, des Forums für Monika Haas, der Bunten Hilfe Frankfurt/M. und des Frank- furter Frauenbündnisses 8. März am 21.3.1996 in Frankfurt/M. Köln (ohne Verlags- angabe)

Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD (ohne Jahresangabe): Der Kampf gegen die Vernichtungshaft. (ohne Ortsangabe) Eigenverlag

Rose Langer-Stein 1987: Legitimation und Interpretation der strafrechtlichen Verbote krimineller und terroristischer Vereinigungen (§§ 129, 129a

127 StGB)Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung, Band 127. München, Verlag V. Florentz

Gerd Langguth 1983: Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968. Köln, Verlag Wissenschaft und Politik

Till Meyer 1998: Staatsfeind. Erinnerungen. München, Wilhelm Goldmann Verlag

Wolf-Dieter Narr (Hrsg.) 1977: Wir Bürger als Sicherheitsrisiko: Berufsverbot und Lauschangriff – Beiträge zur Verfassung unserer Republik. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag

Wolf-Dieter Narr 1996: Fünf Schwierigkeiten, das Verfahren gegen Monika Haas zu begreifen – Statt eines Vorwortes. In: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.) 1996: Der Prozeß gegen Monika Haas. Dokumentation einer Veranstaltung des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Forums für Monika Haas, der Bunten Hilfe Frankfurt/M. und des Frankfurter Frauenbündnisses 8. März am 21.3.1996 in Frankfurt/M. Köln (ohne Verlagsangabe)

Butz Peters 1991: RAF: Terrorismus in Deutschland. Stuttgart, Deutsche Verlags- Anstalt

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1977: Dokumentation zu den Er- eignissen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Entführung von Hanns- Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine „Landshut“. Bonn, Presse- und Infor- mationsamt der Bundesregierung

Fritz Sack, Heinz Steinert u.a. 1984: Protest und Reaktion. Analysen zum Terroris- mus, Band 4/2. Herausgegeben vom Bundesminister des Innern. Opladen, Westdeut- scher Verlag

Margrit Schiller 1999: „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“. Ein Lebens- bericht aus der RAF. Hamburg, Konkret Literatur Verlag

128 Christiane Schneider 1987: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte. Bundesre- publik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF). GNN Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung. Köln, Verlagsgesellschaft Politi- sche Berichte m.b.H.

Dieter Schröder (Hrsg.) 1986: Terrorismus. Gewalt mit politischem Motiv. Redaktion Süddeutsche Zeitung. München, List Verlag

Renate Schumacher 1978: Der Sympathisant als Feindbild. In: Tatjana Botzat, Elisa- beth Kiderlen, Frank Wolff 1978: Ein deutscher Herbst. Zustände, Dokumente, Be- richte, Kommentare. Frankfurt/M., Verlag Neue Kritik, S. 106-113

Hans-Christian Ströbele 1997: Der Rechtsstaat blieb auf der Strecke. In: taz-Journal 1997: 20 Jahre Deutscher Herbst. Die RAF, der Staat und die Linke. Analysen, Re- cherchen, Interviews, Debatten, Dokumente von 1977 bis 1997. Berlin, taz Verlags- und Vertriebs GmbH, S. 62-63 taz-Journal 1997: 20 Jahre Deutscher Herbst. Die RAF, der Staat und die Linke. Ana- lysen, Recherchen, Interviews, Debatten, Dokumente von 1977 bis 1997. Berlin, taz Verlags- und Vertriebs GmbH

Oliver Tolmein, Detlef zum Winkel 1987: nix gerafft. 10 Jahre Deutscher Herbst und der Konservatismus der Linken. Hamburg, Konkret Literatur Verlag

Oliver Tolmein 1991: § 129a und die Öffentlichkeit. In: Gruppe Wüster Haufen 1991: Aufruhr. Widerstand gegen Repression und § 129a. Materialien und Texte zur Diskussion. Amsterdam, ID-Archiv, S. 215-224

Klaus Traube 1977: Lehrstück Abhöraffäre. In: Wolf-Dieter Narr (Hrsg.) 1977: Wir Bürger als Sicherheitsrisiko: Berufsverbot und Lauschangriff – Beiträge zur Verfas- sung unserer Republik. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, S. 61-77

Inge Viett 1999: Nie war ich furchtloser. Autobiographie. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag

129 Hermann Vinke, Gabriele Witt 1978: Die Anti-Terror-Debatten im Parlament, Proto- kolle 1974-1978. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag

Jürgen Voges 1997: Mausoleen für die Negativhelden. In: taz-Journal 1997: 20 Jahre Deutscher Herbst. Die RAF, der Staat und die Linke. Analysen, Recherchen, Inter- views, Debatten, Dokumente von 1977 bis 1997. Berlin, taz Verlags- und Vertriebs GmbH, S. 74-75

Klaus Wagenbach 1976: Grabrede für Ulrike Meinhof. In: Peter Brückner 2001: Ul- rike Meinhof und die deutschen Verhältnisse. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach

Falco Werkentin 1991: Zur Archäologie des politischen Strafrechts. In: Gruppe Wüs- ter Haufen 1991: Aufruhr. Widerstand gegen Repression und § 129a. Materialien und Texte zur Diskussion. Amsterdam, ID-Archiv, S. 11-25

6.1 Andere Medien

Todesspiel. TV-Dokumentation. Regie: Heinrich von Breloer, Westdeutscher Rund- funk 1997 www.free.de/dada/p-start.htm (Stand: 01.08.2003)

130