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Die Demontage – des Finanzministers Sturz eines Überfliegers kommt nicht überraschend Muriel Büsser

Wie sich die Ereignisse wiederholen. In von oben nach unten, hatte die Stim- der vergangenen Legislaturperiode dau- mung in der Wirtschaft auf niedrigstes erte es knapp fünf Monate, bis das rot- Niveau sinken lassen. Nach dem überra- grüne Bundeskabinett seinen Finanzmi- schenden Rücktritt galt es, die Lücke nister verlor. Sollte es für diese Entwick- schnell zu schließen. Des Kanzlers Wahl lung nun eine zweite Auflage geben? fiel auf Hans Eichel, den Wahlverlierer Amtsinhaber Hans Eichel steht derzeit in aus Hessen. Der Beigeschmack „aus einem ähnlich grundsätzlichen Konflikt Mangel an Alternativen“ lag auf der mit der Linie der Bundesregierung wie Zunge. Doch der ehemalige Oberbürger- sein Vorgänger vor vier meister aus schaffte es erstaunlich Jahren – wenn auch die jeweiligen Stand- schnell, das Etikett „Notnagel“ abzu- orte gänzlich andere sind. Während La- streifen. Und das, obwohl er die Fähig- fontaine seine links-ideologische Finanz- keiten für eines der wichtigsten Ämter politik nicht durchsetzen konnte, eckt der Republik nicht wirklich mitbrachte. Hans Eichel spätestens seit dem Wahlsieg „Ich habe nie behauptet, etwas von Steu- im September mit seinem Sparkurs an. ern zu verstehen, als ich noch nicht Fi- Schon im Laufe der Koalitionsverhand- nanzminister war“, bekannte Eichel lungen, als bekannt wurde, dass der Jahre später. „Danach habe ich es erst Bundeskanzler die Sparappelle seines Fi- mühsam lernen müssen.“ nanzchefs brüsk zurückwies, tauchten die Ersten auf, die fragten: Wie lange Sparen als Markenzeichen macht der Eichel das wohl mit? Einige sei- Wenn Hans Eichel dennoch erstaunlich ner Partei- und Koalitionskollegen stem- schnell das Vertrauen von Wirtschaft und pelten ihn bereits öffentlich zum Sünden- Bevölkerung gewinnen konnte, dann vor bock für die gesamte Misere der Regie- allem deshalb, weil er sich von Anfang an rung seit der Wiederwahl. Der über- mit einem klaren und für jedermann ein- stürzte Sturz eines einstigen Stars? sichtigen Ziel präsentierte: Sparen. Der neue Bundesfinanzminister war bei sei- Der gelungene Start nem Amtsantritt mit einem Schuldenberg Der Aufstieg des Hans Eichel vom abge- der öffentlichen Haushalte von 2,3 Billio- wählten Ministerpräsidenten zum zwei- nen Mark konfrontiert worden, was den ten Mann in der SPD-Regierungsriege ehemaligen Lehrer unmittelbar zu der vollzog sich rasant. Die Startbedingun- Mission „Abtragen“ berief. „Der Finanz- gen waren aber auch denkbar günstig. minister wird ja bekanntlich dafür be- Die Finanzpolitik von Oskar Lafontaine zahlt, dass er sich unbeliebt macht“, war zu Beginn der vergangenen Legislatur- einer seiner ersten Sätze vor dem Parla- periode stand in harscher Kritik, sein fis- ment. „Das Gebot der Stunde lautet Spa- kalisches Konzept, die Umverteilung ren. Dabei darf keine Ausgabenposition

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tabuisiert werden.“ Zur allgemeinen In der SPD galt zu dieser Zeit das un- Überraschung folgten den Worten auch geschriebene Gesetz, Eichel, dem Star des Taten. Eichels Kabinettskollegen sahen Kabinetts, dem Aushängeschild der Re- sich mit der Anordnung konfrontiert, ih- gierung, den Rücken freizuhalten. Die Ex- ren Etat für das Jahr 2000 pauschal um 7,4 perten lobten ihn, die Zeitungen titelten Prozent zu kürzen. Widerstand war „Hans im Glück“, der spröde Finanzmi- zwecklos, denn der neue finanzpolitische nister avancierte zum Medienliebling. Lo- Kurs fand Unterstützung von ganz oben. cker und souverän erklärte er in jedes he- Gerhard Schröder stand fest hinter sei- rumstehende Mikrofon die Gründe hi- nem neuen Minister. Dessen Sparpolitik nein, warum Deutschland weniger Schul- wurde zu einem Markenzeichen der Re- den machen und das Sparziel fest vor Au- gierung, die zu diesem Zeitpunkt nur gen behalten müsse. Und die Öffentlich- allzu froh war, überhaupt ein Markenzei- keit glaubte ihm. Eichels PR-Strategen chen gefunden zu haben. leisteten beste Arbeit darin, den Bundes- Aus Eichels gelungenem Start wurde finanzminister auch privat als überzeug- schnell eine Erfolgsstory. Im Jahr 2000 ten Sparer zu präsentieren: Er kauft An- präsentierte er seine „Jahrhundert“-Steu- züge von der Stange, nimmt sein Mittag- erreform und setzte sie nach langem Hin essen an der Pommesbude ein, in seiner und Her, etlichen Korrekturen und zwei- Berliner Wohnung stehen Möbel von felhaften Deals mit einzelnen Bundes- Ikea, und den Bandscheibenvorfall zog er ländern auch im Bundesrat durch. Der sich natürlich beim Putzen zu. In Inter- Bundeskanzler erhielt durch seinen Fi- views drückt er schon mal seinen Unmut nanzminister so viel Aufwind, dass er ihn darüber aus, wenn er es während des nach dem gelungenen Länderkammer- Sommerschlussverkaufs nicht zum Coup vor lauter Glück in den Arm nahm. Schnäppchenjagen geschafft hat. Bei so Ein seltenes Bild. einem Knauser wähnt der Bürger seine Steuermilliarden gut aufgehoben. Wenn Hundert Milliarden Mark so jemand Sparmaßnahmen für nötig Nur wenige Wochen später gab es die hält, wird es damit schon seine Richtig- nächste gute Nachricht für den Schatz- keit haben. meister: Die Versteigerung der UMTS- Mobilfunklizenzen spülte fast hundert Der Stimmungswandel Milliarden Mark in die Staatskasse. Kaum In diesem Sommer 2000 war Hans Eichels ein Verband in Deutschland, der in dieser Karriere auf ihrem kurzen Höhepunkt Zeit nicht einen Wunschzettel ins Finanz- angelangt. Von da an ging es – wenn auch ministerium schickte, kaum ein Politiker, zunächst kaum merklich – bergab. Das der sich nicht öffentlich dazu äußerte, wie Sinken des Sterns Hans Eichel vollzog das viele Geld wohl am sinnvollsten aus- sich parallel zum Abflauen des Konjunk- gegeben werden könnte. Doch Eichel turhochs und gleichermaßen unaufhalt- setzte sich gegen alle Begehrlichkeiten sam. War sein Sparkurs während des innerhalb und außerhalb der eigenen Rei- Wirtschaftsbooms innerhalb der Regie- hen durch. Die Milliarden flossen in die rung unumstritten, so traten mit Stottern Schuldentilgung. Nur auf die eingespar- des Konjunkturmotors die Kritiker aus ih- ten Zinsen musste der Bundesschatz- ren Rückzugsgebieten. Weit folgenrei- meister zugunsten eines Investitionspro- cher für Hans Eichel war jedoch, dass gramms verzichten, was ihm jedoch ge- auch der den Stimmungsumschwung genüber der Phalanx der Sparkritiker vo- witternde Kanzler die Lust am kompro- rübergehend Luft verschaffte. misslosen Sparen verlor. Der Richtungs-

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Hans Eichel – Sturz eines Überfliegers

wechsel geschah bereits im Herbst des ten von Rekordgewinnen und abnehmen- Jahres 2000. Auf die heftige Stimmungs- der Arbeitslosigkeit – viel stärker sparen mache der Autofahrer- und Lkw-Lobby können und müssen. Zudem hat sie da- wegen der zwischenzeitlich stark gestie- mals die Chance verpasst, den Bundes- genen Ölpreise hin verkündete Gerhard haushalt mit Strukturreformen flexibler Schröder, die Kilometerpauschale zu er- zu machen. Mehr als drei Viertel der höhen, zu einer Entfernungspauschale zu Bundesausgaben sind weiterhin durch erweitern und bedürftigen Haushalten Zinsausgaben und gesetzliche Verpflich- Heizkostenzuschüsse zu gewähren. Der tungen wie Sozialausgaben und Renten- Finanzminister musste zähneknirschend zuschüsse gebunden. Die Riestersche die Kassen öffnen. Rentenreform und das Herumgestochere in der Gesundheitspolitik waren alles an- „Konjunkturschock“ dere als geeignet, das zu ändern – schon als Sündenbock gar nicht kurzfristig. Damit war der Konsolidierungsbann ge- brochen. Die Begehrlichkeiten wurden Die Arbeitslosigkeit größer, des Sparhans’ „Nein“ war nicht Zusätzlich führte der verkrustete Ar- mehr unüberwindlich. Eichel musste für beitsmarkt dazu, dass die Konjunktur- die Familienförderung Mittel zurückle- dämpfung voll auf die Beschäftigungs- gen, mehr Geld zuge- lage niederschlug. Mehrfach plante Hans stehen, die Kosten für die Auslandsein- Eichel ein, im kommenden Etat den Milli- sätze kamen ebenso hinzu wie die un- ardenzuschuss an die Bundesanstalt für vorhergesehenen Ausgaben im Zuge des Arbeit zu streichen. Immer wieder mach- BSE-Skandals und der von den Grünen ten ihm die Arbeitsmarktdaten einen erstrittenen „Agrarwende“. Gleichzeitig Strich durch die Rechnung. Der Hand- begannen sich die Folgen des Konjunk- lungsbedarf auf dem Arbeitsmarkt muss turabschwungs bemerkbar zu machen. Eichel mehr als jedem anderen Kabinetts- Das Wort „Steuermindereinnahmen“ mitglied deutlich gewesen sein. Dass er feierte im Jahr 2001 traurige Renaissance. hier nicht vehementer Reformen einfor- Der Rückgang der Steuereinnahmen derte, dass er sich fast nie öffentlich zur durch die Wirkungen der Steuerreform – Arbeitsmarktpolitik äußerte, mag an sei- nicht nur die eingeplanten, sondern vor ner freundschaftlichen Beziehung zu allem die überraschenden Wirkungen – gelegen haben, den er und schließlich auch durch die Folgen nicht durch Kritik unter Druck setzen des 11. September wurden spätestens wollte. zum Jahresende in ihrer Dramatik sicht- Bemerkbar machte sich mit der abflau- bar. enden Konjunktur auch, dass Hans Eichel Der „weltweite Konjunkturschock“ seit seinem Amtsantritt immer wieder auf wurde fortan zum allgegenwärtigen Sün- Kosten der Bundesländer und Gemein- denbock, wenn ein Regierungsmitglied den gespart hatte. Das Kassieren der die plötzlichen Unwägbarkeiten auf dem UMTS-Milliarden, die die gebeutelten so fest gesteckten Konsolidierungskurs Konzerne anschließend zu Lasten ihrer zu erklären hatte. Der Zusammenhang ist Bundesländer von der Steuer absetzten, nicht abzustreiten, wenn auch sein star- ist da nur das markanteste Beispiel. Zu- ker Einfluss auf die deutsche Wirtschaft sätzlich litten die föderalen Partner unter andere Ursachen hatte. So hätte die den Folgen hoher Arbeitslosigkeit und Bundesregierung aus heutiger Sicht in sinkenden Steuereinnahmen. Als Konse- den Boomjahren 1999 und 2000 – zu Zei- quenz fuhren sie ihre Investitionen stark

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zurück und konnten damit die erschlaf- konjunkturelle Flaute, und die liege nun fende Wirtschaft nur in ihrem Trend be- einmal am 11. September und dem welt- stärken. weiten Abschwung. Eichel verließ sich öf- fentlich auf das Prinzip Hoffnung: Wenn Das Wahljahr das Wachstum erst wieder anziehe, so die Was für den Bundesfinanzminister zu- Argumentation, werde sich die Haus- nächst kein Problem darstellte, da die Fi- haltslage auch schon wieder entspannen. nanzmisere der Länder und Gemeinden Gebrauchte der Finanzminister dabei zu- nicht auf den Bund zurückfiel, flog Hans meist den Konjunktiv, so legte der Eichel spätestens Anfang des Jahres 2002 Bundeskanzler mit Festlegungen nach. um die Ohren. Die zunehmend prekäre Schröder redete bei jeder Messeeröffnung deutsche Haushaltslage – inklusive Län- und Wahlveranstaltung den nahenden der- und Gemeindehaushalten – machte Aufschwung herbei und brachte seinen sich in Brüssel bemerkbar. Die EU-Kom- Finanzminister, wo es ging, in Zug- mission prognostizierte für das angefan- zwang. Eichel hatte sich zu beeilen, des gene Jahr ein deutsches Defizit nahe der Kanzlers Worte mit Fakten zu belegen. Drei-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wider besseres Wissen erklärte er also, Wachstumspaktes und beschloss, an das der „Blaue Brief“ sei vom Tisch, die Steu- größte Mitgliedsland eine Frühwarnung ereinnahmen würden sich im zweiten zu schicken. Hans Eichel war bereit, den Halbjahr wohl wieder stabilisieren, und „Blauen Brief“ zu akzeptieren. Doch der das Wachstum dürfte im letzten Quartal Kanzler sah es anders. Um sich im Wahl- wieder anziehen. jahr keine Blöße zu geben, machte er aus dem Verwaltungsakt eine Staatsaffäre, Der Staatssekretär als Sündenbock zieh die EU-Kommission der Deutsch- Spätestens bei der Vorlage des Haushalts landfeindlichkeit und wies seinen Fi- 2003 – wacklige Wachstumsannahmen, nanzminister an, die Verwarnung zu ver- klein gedruckte Rentensteigerungen – hindern – koste es, was es wolle. Der folg- muss es dem Kanzler gedämmert haben: same Hans zog sich also mit verwegenen Mit dem Pfund Eichel lässt sich im Zugeständnissen aus der Affäre. Statt Wahlkampf nicht mehr wuchern. In der 2006 werde er bereits 2004 einen ausgegli- gesamten Regierungskoalition wurde chenen Gesamthaushalt vorlegen, ver- der Unmut lauter: Der Finanzminister sprach er den Nachbarn – ein „Wahn- verbat sich kostspielige Wahlverspre- sinn“, urteilten damals die Experten. In- chen, doch seinen Haushalt hatte er of- zwischen ohnehin Makulatur. fensichtlich nicht im Griff. Da sich nur Schröders Kalkül vergiftete das Klima wenige trauten, Eichel direkt anzugrei- mit der EU-Kommission und ging an- fen, kanalisierte sich der Unmut in Aus- sonsten nicht auf. Der abgewendete fällen gegen seinen Staatssekretär Man- „Blaue Brief“ lieferte Öffentlichkeit und fred Overhaus, der als Überbleibsel der Opposition in der Folgezeit nicht weniger Unionsregierung ohnehin stets mit Miss- Angriffsfläche, als ein abgeschickter es trauen beäugt wurde. Spätestens mit getan hätte. Hans Eichel musste nun eine dem Führungsdebakel bei der Deut- Haltung einnehmen, die ihm in diesem schen Telekom im Juli brach es aus vie- Ausmaß bislang unbekannt war: die ver- len Koalitionären heraus. Auch der teidigende. Seine Argumentation verlief Kanzler schob Eichel die Schuld an der dabei stets gleich: Schuld an den Haus- verpatzten Sommer-Ablösung in die haltslöchern seien die Steuerausfälle, die Schuhe. Die Koordination der Nachfol- Steuerausfälle seien bedingt durch die gerfindung liege beim Finanzministe-

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Hans Eichel – Sturz eines Überfliegers

rium, ließ das Kanzleramt damals de- lung an den neu aufgestiegenen Kabinett- monstrativ verlauten. Ein Hinweis, der star . Doch das nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Schlimmste: Eichel verlor auch seinen Schröder ging es in jenen Wochen of- Ruf, nachdem sich die Koalitionspartner fensichtlich auf die Nerven, dass die Me- auf mehr Neuverschuldung als geplant dien Hans Eichel nahezu täglich für neue und höhere Steuern einigten. „Ex-Spar- Spitzenpositionen nach einer möglichen minister“ titelte die Bild-Zeitung. Nicht Wahlniederlage der SPD ins Gespräch nur Eichels Reputation war im Eimer, er brachten: Vizekanzler einer großen Koali- galt auch als Lügner. Wie oft hatte er vor tion, Außenminister, Parteichef, Frak- der Wahl den Journalisten Sätze wie „Ich tionsführer. Die Dementis aus dem Fi- brauche keine höheren Steuern“ oder nanzministerium waren dem Kanzler da- „Eine Sanierung der Staatsfinanzen über bei wohl zu verhalten. höhere Steuern ist nicht nachhaltig“ in die Blöcke diktiert. Dämpfer aus dem Kanzleramt Und so verpasste Schröder seinem Etat- Das Defizitkriterium chef bei der Debatte um die Flutfinanzie- Nach dem Motto „Ist der Ruf erst rui- rung einen weiteren Dämpfer. Zahlreiche niert…“ nahm es die Öffentlichkeit da- Vorschläge präsentierte ihm der Minister raufhin geradezu gelassen, als Hans Ei- damals, doch Schröder entschied sich chel verkündete, das europäische Defizit- ausgerechnet für eine Verschiebung der kriterium 2002 definitiv nicht einhalten zweiten Stufe der Steuerreform – Eichels zu können. Finanzpolitische Hiobsbot- liebsten Kindes. Gerade die geplanten schaften hagelte es von nun an täglich: Einkommensteuersenkungen, die der Fi- höhere Neuverschuldung, ein Verfahren nanzminister argumentativ so dringend in Brüssel, Milliardenloch bei den Steuer- brauchte, um seine Steuerpolitik nicht einnahmen, Nachtragshaushalt für 2002, mittelstandsfeindlich erscheinen zu las- Etatentwurf für 2003 mit globaler Min- sen, schob der Kanzler nun auf die lange derausgabe und vielen Unbekannten, Bank. Dass sich die Opposition als Reak- nochmals mehr Schulden. Parallel dazu tion darauf wie wild für die einst heftig schnürten seine Kabinettskollegen dem kritisierte Eichelsche Reform einsetzte, Bundesfinanzminister sein Sparpaket wird dem Finanzminister kaum ein Trost wieder auf: doch keine Abschaffung des gewesen sein. Spendenabzugs, statt fristloser Spekula- tions- eine geringere Pauschalbesteue- Die Demontage rung und was die Senkung der Eigen- Die Bundestagswahl gewann die SPD be- heimzulage betrifft – mal sehen. Dazu zo- kanntermaßen nicht wegen, sondern eher gen die Gewerkschaften dem Hartz-Kon- trotz Hans Eichels Finanzpolitik. Die zept so viele Zähne, dass die für 2003 – Quittung erhielt der gefallene Sparengel wieder einmal – eingeplante Abschaffung postwendend. Eichel wurde bei der ers- des Zuschusses an die Bundesanstalt für ten Präsidiumssitzung ebenso abgekan- Arbeit wieder einmal ein frommer zelt wie bei den Koalitionsverhandlun- Wunsch bleiben dürfte. Die ehemalige gen. Schröders Reaktion auf Eichels routi- Mauer Hans Eichel, die lange Zeit den nemäßige Sparappelle – „Hans, jetzt hör Bundeshaushalt vor Eingriffen schützte, doch mal auf!“ – ging durch alle Gazetten. ist zu einer löchrigen Hecke geworden, Der Finanzminister verlor ohne größere die keiner mehr ernst nimmt. Diskussion die Europaabteilung an Seither darf jeder sich fragen, worüber und die Grundsatzabtei- er sich mehr ärgern soll: über das Finanz-

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desaster als solches oder über das Ver- rung der Staatsfinanzen damit letztlich schweigen desselben bis kurz nach der weniger dient als mit schuldenfinan- Wahl, die lange Zeit des Nichtstuns, in zierten Investitionen. Doch Einigkeit der die Regierung das Land sehenden herrscht in allen fiskaltheoretischen La- Auges in den Abgrund manövrierte. Seit gern darüber, dass ein Schlingerkurs Monaten war klar, dass das Defizitziel zwischen beiden Politiklinien, ein „Sich- nicht mehr einzuhalten war. Doch war- nicht-festlegen-Wollen“ in jedem Fall nende Stimmen – auch aus Koalitions- schadet. Unberechenbarkeit hemmt jede kreisen – wurden bekanntlich abgebü- wirtschaftliche Aktivität. Und die Fi- gelt. Es hätte eines wirklich überraschen- nanzpolitik der Regierung ist spätestens den Aufschwungs bedurft, um die Lage seit der Wahl insofern unberechenbar ge- noch zu retten. Wenn Hans Eichel den worden, als Hans Eichel mit seinem ehe- gesamten Sommer lang behauptete: mals so eindimensionalen wie klaren „Lasst uns den September abwarten, Kursziel nicht mehr die Navigations- dann weiß ich mehr!“, und wenn er An- hoheit besitzt. fang September die gebotene Zahlenlie- Der , der nach eigener Aussage ferung nach Brüssel aus angeblichem noch nie seine Steuererklärung selbst ge- Mangel an neuen Daten aufschob, war macht hat, wurde im Rekordtempo zum das Argument zwar nicht aus der Luft Superstar der Schröder-Regierung. Sein gegriffen. Der September ist ein wichti- heftiger Absturz seit der Wahl mag viele ger Steuereinnahmemonat. Aber dass die überrascht haben, er hat sich jedoch schon Septembereinnahmen das Minus der lange abgezeichnet. Ob der Minister die Vormonate wettmachen würden, konnte Demütigungen noch lange über sich erge- realistischerweise niemand annehmen – hen lässt? Doch Hans Eichel ist an Loya- auch Hans Eichel nicht. Dass er sich den- lität gegenüber seiner Partei und dem noch immer wieder auf diesen Strohhalm Bundeskanzler kaum zu übertreffen. Ein berief, war – um es mit einer seiner Lieb- „Im-Stich-Lassen“ der Regierung à la La- lingsvokabeln zu bezeichnen – unred- fontaine liegt ihm nicht. Eher schon lässt lich. er sich langsam und schmerzhaft ohne Widerworte demontieren. Hans Eichel ist Schädlicher Schlingerkurs bei weitem nicht der erste Bundesfinanz- Die Experten mögen darüber streiten, ob minister in der deutschen Geschichte, der es für die Wirtschaftslage in Deutschland zu Boomzeiten glänzte und beim Stecken- derzeit besser ist, sich weiterhin um bleiben der Konjunktur plötzlich ohne Sparsamkeit zu bemühen, um den Schul- Konzept dasteht. Er wäre auch nicht der denberg abzutragen und kommenden erste Etatchef, der dafür seinen Hut neh- Generationen die Handlungsfähigkeit zu men muss. Eichel verkündet zurzeit noch, erhalten, oder ob die restriktive Finanz- er sei kein Sonnenscheinminister für gute politik jedes Aufschwungpflänzchen Zeiten. Gut möglich, dass er bald gar kein vertrocknen lässt und der Konsolidie- Minister mehr ist.

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