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■ Axel Doßmann bei einem Anteil von 13,1 Prozent, etwa jeder Achte war demnach jünger als 50 Jahre.2 Ist die Nackt unter Wölfen, Quote ein Indikator für die Bereitschaft in der eine Neuverfilmung Bevölkerung Deutschlands, sich über die Ver­ brechen des Nationalsozialismus aufklären zu Über die Grenzen emotionaler lassen? Oder erklärt sich die Quote zu großen Erkenntnis und historischer Teilen aus der Neugier jener Ostdeutschen, die Gerechtigkeit im öffentlich- den politischen Abenteuer-Roman und DEFA- rechtlichen Fernsehen Film noch aus sozialistischen Schulzeiten ken­ nen wie auch der Autor dieser Kritik? Im anti­ Laue Filmemacher Michael Kloft ist auch faschistischen Mythos der DDR galt Auschwitz NS-Geschichte im deutschen Fernsehen kein als ein Elendsort für sinnloses Sterben, Buchen­ 77 garantierter Quotenbringer mehr. Es komme wald hingegen wurde 1963 retrospektiv als ein auf die »Idee und Machart« an, mit der diese zukunftsgewisser Kampfplatz der kommunis­ Zeitgeschichte dem Publikum angeboten wird, tischen Internationale entworfen. Im Roman­ insbesondere, wenn eine Zielgruppe unter plot endet die opferreiche Solidarität der kom­ 50 Jahren erreicht werden soll.1 Welche »Ide­ munistischen KZ-Häftlinge zur Rettung eines en« wurden für die Neuverfilmung von Bruno aus Auschwitz nach Buchenwald deportierten Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen entwickelt? Waisenkindes mit einem Triumph über die Für welche »Machart« investierte die ARD SS. Aus der suggestiven, erst 1948 geprägten knapp 5 Millionen Euro? Welchen Plot, welche Sprachformel von der »Selbstbefreiung« des La­ Dramaturgie, welche Bildästhetik halten Pro­ gers am 11. April 1945 wurde mit Frank Beyers duzent Nico Hofmann, Drehbuchautor Stefan DEFA-Inszenierung der zum Lagertor stür­ Kolditz und Regisseur Philipp Kadelbach für menden Masse eine Ikone des sozialistischen sinnvoll und nötig, damit sich 70 Jahre nach Realismus.3 Wie setzt im Jahr 2015 das gesamt­ der Befreiung des KZ Buchenwald Millionen deutsche Fernsehen Apitz’ ergreifende Fabel in Menschen freiwillig mit der Geschichte des Szene? Wird es nach den heftigen öffentlichen Nationalsozialismus konfrontieren? Debatten über »rote Kapos« und die Rettungs­ Nackt unter Wölfen sei die »wichtigs­ macht der Politischen durch »Opfertausch« bei te Arbeit« seiner Karriere, behauptete Nico der ARD neue Film-Helden geben? Wie wer­ Hofmann gegenüber dem Magazin der Süd­ den (deutsche) Kommunisten, die Hauptak­ deutschen Zeitung drei Tage vor der Fernseh­ teure des Romans, heute dem internationalen4 premiere. Zur Primetime am 1. April 2015 Fernsehpublikum vorgestellt? Brechen in der sahen dann über 5,4 Millionen (17 Prozent neudeutschen Neuverfilmung amerikanische des Marktanteils) den Film über die fantas­ Panzer durchs Lagertor — anstelle der bewaffne­ tische Rettung eines Kindes im KZ Buchen­ ten Häftlingsmassen im DEFA-Film? wald. (Abb. 1 und 2) Das »junge« Publikum Auf die Frage »Woher kommt Ihr vielbe­ der 14- bis 49-Jährigen lag laut Medienanalyse schworenes Gespür für den Massengeschmack«

Abb. 1 und 2: Im Versteck: Die KZ-Kameraden in väterlicher Sorge um »ihr« Kind.

WERKSTATT GESCHICHTE I Heft 72 (2016) - Klartext Verlag, Essen S. 77-96 zeigte Nico Hofmann für das SZ-Fotoporträt Für Drehbuchautor Stefan Kolditz war unter dem Schlagwort »Sagen Sie jetzt nichts« das Erscheinen der kritischen Neuedition von auf seinen Bauch.5 Hofmanns ßauchgefühl Apitz’ Roman 2012 der Ausgangspunkt. Der mochte noch vom Quotenerfolg von Unsere DDR-Bestseller stand jetzt nicht länger unter Mütter, unsere Väter (2013) stimuliert worden dem Verdacht, ein Auftragswerk gewesen zu sein, hei dem er ebenfalls Kolditz und Kadel- sein. Tatsächlich hatte Apitz seine Geschich­ bach für Drehbuch und Regie engagiert hatte. te auch gegen die Säuberungspolitik der SED Doch wie lässt sich erklären, dass die ARD im geschrieben. Dieser Befund verwandelte den 25. Jahr des vereinigten Deutschlands ausge­ SED-treuen, 1979 verstorbenen Arbeiter­ rechnet auf Nackt unter Wölfen (1958) setzt, schriftsteller in der öffentlichen Wahrnehmung ein Buch, das Ruth Klüger als sentimenta­ etwas voreilig in eine tragische Figur, die ei­ len und literarturästhetisch unerheblichen ner Rehabilitierung bedürfe. Nico Hofmanns »Kitschroman«6 bezeichnet hat? Historikerin Ufa-Fiction GmbH sicherte sich die Filmver­ Karin Hartewig versteht den Roman zu Recht wertungsrechte, und Kolditz, der 1956 gebore­ als »Parabel des antifaschistischen, kommu­ ne Sohn eines DEFA-Regisseurs, begann seine nistischen Widerstandskampfes« im KZ Bu­ Arbeit am Drehbuch. Erst seine letzte Fassung chenwald,7 Gedenkstättendirektor Volkhard vor den Dreharbeiten reklamiert einschrän­ Knigge hält Roman und DEFA-Film für den kend, »nach Motiven des Romans« entstanden »besten Propaganda-Coup der DDR«.a Um zu zu sein. verstehen, wie dieser bereits im DDR-Sozia- Im Nachwort zur Neuedition arbeitet lismus so erfolgreiche Stoff im Jahr 2015 ein Mitherausgeberin Susanne Hantke mit ihrem Quoten-Tagessieger werden konnte,9 skizziere Vergleich des veröffentlichten Romans mit ich zunächst die Geschichte des Romans, die früheren Versionen wichtige Veränderungen Drehbuchentstehung und die Selbstvermark­ heraus. Apitz wollte mit dem Roman auch tungsstrategien der beteiligten Filmemacher, jene kommunistischen Kameraden aus sei­ bevor ich filmanalytischen Aspekten nachgehe. nen Buchenwald-Jahren verteidigen, die von den aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten SE.D-Führungskadern nachträglich der Kolla­ Selbstzensur und Authentifizierung boration mit der SS verdächtigt und Parteisäu­ des »Buchenwald-Kindes« durch Apitz berungen ausgesetzt worden waren.11 Bis zur Die ARD-Verfilmung ist der dritte deutsche vorletzten Fassung seines Manuskripts hatte Film, der sich auf den gleichnamigen Roman Apitz Einblicke in das »Dschungelgesetz« zu von 1958 bezieht. Apitz selbst wollte aus dem geben versucht, ein ungeschriebenes Lagerge­ Stoff 1955 zunächst ein Drehbuch für die setz, »unter dem wir ja schließlich alle standen DEFA entwickeln. Doch die SED hielt nach und das uns zwang, Handlungen zu begehen, drei Filmen über KPD-Führer Ernst Ihälmann die wir unter normalen Umstände vermieden und die Rolle der Kommunisten im antifaschis­ hätten«, so Apitz in einem Brief an seinen Lek­ tischen Widerstand einen Spielfilm über die tor, dem er die Anderungswiinsche von Walter heldenhafte Rettung eines polnischen Kindes Bartel, dem einstigen Leiter des Buchenwälder für überflüssig. Um so größer war die Genugtu­ Lagerwiderstandes, erläuterte.12 ung für Apitz, dass er nach seinem Romanerfolg Doch am Ende beugte sich Apitz der Kritik und dem Drehbuch für eine erste Verfilmung der Kameraden, die in seinem Roman die »po­ im DDR-Fernsehen (1960) schließlich auch litische Linie« vermissten.15 Er übte Selbstzen­ für die DEFA das Drehbuch schreiben sollte. sur, strich die wenigen unmissverständlich kri­ Der kommunistische Arbeiter, Autodidakt und tischen Szenen, bis von der bitteren Wahrheit Überlebende des KZ Buchenwald übernahm des unbarmherzigen und egoistischen Han­ außerdem die Beratung am Set und gab sich delns in den Grauzonen des Lagers nur wenig selbst eine signifikante Nebenrolle.10 mehr übrig blieb als ein Satz, den er dem Lager- FILMKRITIK

ältesten in den Mund legte: »Manchmal denke lichen eine Überlebenschance zu bieten. Die ich, wir sind doch eine verdammt hartgesottene solidarische Hilfe von »Politischen« war der we- Gesellschaft geworden ,..«14 Mit dem veröffent­ sendiche Grund dafür, dass während der letzten lichten Roman gab der Überlebende nicht nur Monate des völlig überfüllten Lagers etwa 900 »den >roten< Kapos von Buchenwald ihr mora­ Kinder und Jugendliche überleben konnten. lisches Ansehen« zurück, sondern überdeckte Wahr ist aber auch, dass der vergleichsweise auch die »schmerzlichen und beunruhigenden wirkungsmächtige internationale Lagerwider­ Aspekte der Vergangenheit«.15 Apitz’ kommu­ stand des KZ Buchenwald die Ermordung von nistische Heilsgeschichte wurde zum richtigen insgesamt etwa 1.600 anderen Kindern und Ju­ Zeitpunkt fertig. Ende der 1950er Jahre war gendlichen durch die SS nicht hat verhindern die Phase der internen Angriffe der SED gegen können — nicht zuletzt, weil der organisierte kommunistische Funktionshäftlinge sowie der Widerstand andere Prioritäten hatte, die mit 79 stalinistischen Parteisäuberungen von 1949/50 dem Grundethos politischer Häftlinge, wenigs­ vorüber, die Moskauer Exil-Kommunisten tens Kinder zu retten, konkurrierten.18 hatten ihre Macht gesichert. Die parteipoliti­ Apitz wollte genau diesen Konflikt als sche Kritik am Verhalten Einzelner wollte oh­ Schriftsteller dramatisch gestalten. Er nahm nehin nicht auf historische Wahrheit oder gar den realhistorischen Terror der Weimarer Ge­ selbstkritische Aufklärung hinaus, die Anfein­ stapo gegen eine Gruppe kommunistischer dungen hatten aber die führenden Köpfe der Funktionshäftlinge, die riskiert hatten, im Au­ Lager-KPD in der DDR in die Selbstverteidi­ gust 1944 im Lager eine Gedenkfeier für den gung gedrängt. Apitz’ ehrende Betonung der ermordeten Ernst Ihälmann abzuhalten, als führenden Rolle der KPD im Lager war für die Vorlage für seine Fiktion, dass die Lager-SS einstigen Funktionshäftlinge eine Genugtuung die internationale Widerstandsorganisation und entsprach auch den vielseitigen Bedürf­ zerschlagen wollte, indem sie »das« Kind als nissen von SED-Politikern nach historischer Hrpressungsmittel einsetzte. In der historischen Sinnstiftung und Legitimation der DDR. Sie Wirklichkeit war es kein verstecktes Kleinkind, sorgten dafür, dass der Roman zum V. Parteitag das eine lebensbedrohliche Situation für diese der SED und damit noch vor der Eröffnung Widerstandskämpfer herbeiführte, sondern ihr der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte« kommunistischer Totenkult für den KPD-Füh- Buchenwald im Herbst 1958 erschien, ein Na­ rer, der von anderen KZ-Insassen an die SS ver­ tionaldenkmal, das die geschichtstelelogische raten wurde. Fortschrittsgewissheit mit seinen Mitteln auf Bei Apitz steht das Kind als Symbol einer dem Ettersberg inszenierte.16 Versöhnung von Herz und Vernunft im Mit­ Unberührt von Apitz’ Selbstzensur blieb telpunkt seiner abenteuerlichen Geschichten die Fabel vom heimlich versteckten Kind, das über Kommunisten, die mit Mutterwitz eine im Roman zwar als Waisenkind jüdischer El­ patriarchale Neugeburt »ihres« Kindes unter tern aus Polen erkennbar wird, aber sonst ein den Bedingungen eines SS-Lagers bewerkstel­ objekthaftes Symbol bleibt - »das Buchen­ ligen. Sie adoptieren gewissermaßen das Kind, wald-Kind«.17 Sehr wahrscheinlich hat Apitz das in Embryonalhaltung — »wie eben dem erlebte und kolportierte Geschichten über Mutterleib entrissen« — im Koffer liegt. In Er­ mehrere im KZ Buchenwald gerettete Kinder mangelung einer »Mutterbrust« schmuggeln in den 1950er Jahren zu seiner einen Kinder- die Männer mit einer Wärmeflasche vor dem Figur verdichtet. Der Roman verzichtet darauf, Bauch nahrhafte Milch an der SS vorbei zum die realgeschichtlich geretteten wie auch die er­ Kind im krippenähnlichen Koffer; eine aben­ mordeten Kinder in Buchenwald zu erwähnen. teuerliche Schleusung durch einen Kamin­ Zahlreichen Helfern, maßgeblich politischen schacht beschreibt Apitz als »reinste Zangenge­ Häftlingen, war es mit der Einrichtung von burt«. Das Roman-Kind erhält keine Stimme, Lehrwerkstätten seit 1939 gelungen, Jugend­ bleibt sprachlos. Erst in seiner pathetischen Schlusspassage lässt Apitz das Kind als »schrei­ Vater: Zweig kam nicht illegal und nicht erst endes Bündel« durch »die Enge des Tores« quir­ 1945 ins Lager, sondern wurde wie sein Vater, len, »auf den befreiten Wellen« des Menschen­ obwohl erst drei Jahre alt, als »politischer Jude« stroms der Häftlinge.19 Nicht zuletzt diese, von registriert und von deutschen politischen Häft­ der Botschaft getriebene Dramatisierung einer lingen, die im Lager Funktionen innehatten, Geburt des neuen Menschen im Moment der beschützt. Der »blonde Junge« war nicht nur Selbstbefreiung hat Ruth Klüger veranlasst, unter den Gefangenen, sondern auch bei eini­ von sentimentalem Kitsch und Trivialliteratur gen SS-Männer gut bekannt. Er und sein Vater zu sprechen.20 konnten durch die Hilfe von einflussreichen Kritik am Roman- und Filmstoff übten Jour­ »Politischen« mehrfach gerettet werden vor nalisten aus Polen, die der DEFA-Produktion bedrohlicher Krankheit und einer unmittelbar auf dem Moskauer Filmfestival im Sommer bevorstehenden Deportation. Bereits ein zwei­ 1963 vorwarfen, die Verhältnisse in NS-Lagern seitiger Zeugenbericht von Zacharias Zweig zu verharmlosen, zu »lackieren«. Ein Zufall ließ in einer ersten Gesamtdarstellung der Lager­ DDR-Journalisten auf die Spur eines Buchen­ geschichte, die kommunistische Überlebende wald-Überlebenden kommen, dessen Schick­ 1949 herausgaben, hätte vor Augen führen sal Ähnlichkeiten mit der Roman-Figur hatte. können, wie wenig die Romanfigur des Kindes Jetzt sollte der märchenhaft erzählte heldische mit dem Überleben von Zweig (und seinem Widerstand gewissermaßen mit einem gerette­ Vater) gemein hatten.23 Doch solche Details ten Kind bewiesen werden - wurden rhetorisch vergessen gemacht.23 in schien sich dafür zu eignen. Apitz, der sich mit seinem Buch- und Filmerfolg immer Vorfilmische Entscheidungen: Das weiter von seinen kritischen Ausgangsimpulsen Drehbuch für die Ufa entfernt hatte, war 1964 bereit, Zweig in der DDR-ÖfFentlichkcit als das reale Vorbild für sei­ Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald ne Romanfigur darzustellen — vielleicht glaub­ boten dem Filmteam 2012 Unterstützung da­ te er inzwischen selbst daran? Der mittlerweile bei an, auf der Grundlage rekonstruierter La­ 23-Jährige wurde in die DDR eingeladen und ger- und Lebensgeschichten von noch wenig von Apirz als »sein Sohn« in die Arme geschlos­ bekannten Jugendlichen ein neues Drehbuch sen.21 Eine Sonderbeilage der BZ am Abend zi­ zum Thema der »Kinder von Buchenwald« zu tierte sinnentstellend aus dem Zeugenbericht, wagen. Doch offenbar war der international be­ den der leibhaftige Vater Zacharias Zweig 1961 währte Mythos und Markenname »Nackt unter für die Gedenkstätte Yad Vashem (in Unkennt­ Wölfen« für die Filmemacher zu attraktiv, um nis des Romans) autorisieren ließ. Im Fazit der ihren Plan einer Neuverfilmung fallen zu lassen. Authentifizierungskampagne in der DDR wur­ Stefan Kolditz wollte mit seinem Drehbuch de behauptet: »Die dokumentarischen Zeugnis­ nach eigener Aussage »drei Narrative« vereinen: se, die uns über Stefan Jerzy heute zur Verfügung Das KZ Buchenwald sieht er als »Narrativ der stehen, bestätigen, dass der Roman Nackt unter SS«: »die Inszenierung des KZs als Verkörperung Wölfen der Wahrheit und Wirklichkeit in vollem ihrer absoluten Macht und rassischen Überle­ Maße gerecht wird, daß nur Einzelheiten dich­ genheit [sic]«. Apitz habe sein Narrativ von der terisch frei gestaltet wurden.«22 »moralischen Überlegenheit der Kommunisten Zu den frei erfundenen Einzelheiten gehör­ bei der Rettung eines einzelnen Kindes« dage­ te die in der BZ am Abend sogar eingestandene gen gehalten. »Mein Narrativ nach Motiven Tatsache, dass Stefan Jerzy Zweig kein Waisen­ der Neuauflage des Romans«, so Kolditz, »ist kind war, sondern im August 1944 zusammen eine Neuinterpretation, die den Kern des Ro­ mit seinem Vater ins Lager deportiert wurde. mans verteidigt und gleichzeitig, 57 Jahre nach Doch negiert wurde für den vermeintlich wahr­ seinem ersten Erscheinen, durch eine Vielzahl haftigen Roman weit mehr als ein leiblicher von Quellen und neuesten Forschungen korri- F I L M K R I T I K giert und differenziert.« Kolditz zufolge stimmt In der Tat entwarf Apitz das KZ als Kampf­ Apitz »nicht das reine Hohelied der kommu­ platz, auf dem der Sieg der Widerstandskämp­ nistischen Ideologie an, sondern unterläuft es, fer gegen die Faschisten nur errungen werden indem er etwas viel Grundsätzlicheres als einen konnte, weil die Kommunisten es — nach in­ glorifizierenden Sieg der Kommunisten erzählt: neren und internen Konflikten - verstanden, dass Menschlichkeit erst möglich wird, wenn parteipolitische Ziele in internationaler Solida­ die Ideologie überwunden ist. Denn das Kind rität mit humanistischen Ideen zu vereinbaren. wird im Roman nicht durch die kommunisti­ Aus Leid und Erniedrigung gingen sie am Ende sche Partei gerettet, sondern gegen sie.«25 als siegreiche »Kämpfer« hervor, die an die »un­ Seine Lesart erinnert an die von Marcel sterblichen« Opfer des Kampfes gegen den Reich-Ranicki aus dem Jahr 1961. Der Lite­ »Klassenfeind« erinnern. Auf solche Märtyrer raturkritiker hatte den Erfolg bei DDR-Bür­ ließ sich die Jugend verpflichten.28 81 gern so zu erklären versucht: »In einem Land, Nackt unter Wölfen gehört zu jenen Roma­ in dem das Lied gesungen wird, das mit den nen, in denen eine Kinderfigur Erwachsenen Worten beginnt: 'Die Partei, die Partei, die hat als Katalysator für ethische Entscheidungen in immer recht', ist man für einen Roman dank­ Dilemma-Situationen dient. Weil Kinder - in bar, der eine Aktion rühmt, die möglich wurde, der westlich-romantischen Vorstellung von weil ein Genosse sich widersetzt hat. [...] Dort, Kindheit - als unschuldig, besonders verletzbar wo der Terror herrscht, sucht man im Bild und darum schutzbedürftig gelten, gesellschaft­ der Vergangenheit mit besonderem Eifer und lich die Zukunft repräsentieren und mütterliche erstaunlichem Spürsinn die Parallelen zur Ge­ bzw. väterliche Instinkte wecken, kann ein Kind genwart. Romane, die zeigen, daß es nicht nur in der Mitte von Erwachsenen in einer Extrem­ nötig, sondern auch möglich ist, dem Terror situation wie hier im KZ Handlungen einfor­ Widerstand zu leisten, werden dort, bewußt dern sowie Moralprinzipien und Verantwor­ oder unbewußt, als Trost empfunden. Der tungsbewusstsein reaktivieren, die angesichts außerordentliche Publikumserfolg, der Nackt der engen Handlungsspielräume sonst außer unter Wölfen jenseits der Elbe zuteil wurde, hat Kraft gesetzt waren. Der Roman erlaubt es, über also seine guten Gründe.«26 die spezifisch kommunistischen Leitbilder hin­ Dieser eigensinnige Lektürevorschlag lässt weg das Menschliche darin zu universalisieren.25 sich für die Millionen Leserinnen in der DDR Kolditz hofft, mit einer quasi entideologi- nicht empirisch nachweisen. Für weitaus trifti­ sierten Version des Romans »die immer noch ger als Reich-Ranickis Wunschdenken halte ich getrennte Erinnerungskultur« in Ost und die bislang übersehene Kritik einer DDR-So- West »in ein gemeinsames nationales Geden­ ziologin aus den 1980er Jahren. Cordula Gün­ ken« überführen zu können. Ihm zufolge wird ther kritisierte Apitz’ Darstellung u.a., weil Menschlichkeit generell erst möglich, »wenn er die SS-Täter als Unmenschen und Bestien die Ideologie überwunden ist«. Die Neuver­ darstellte. Entsprechend klischeehaft war in filmung will sich insofern auch als Kritik an Leserbriefen und DDR-Rezensionen von der tradierten Geschichtsbildern Westdeutschlands »Bestie in Menschengestalt« oder »faschisti­ verstanden wissen, indem sie auf politischen schen Tieren« die Rede. Günther erkannte in Widerstand jenseits von Stauffenberg und Wei­ dieser Stilisierung die Einladung zu einer un­ ßer Rose aufmerksam macht.i0 angemessenen Selbstberuhigung unter den (Ost-)Deutschen. »Dadurch, daß Apitz das Im historischen Indikativ: Der Prolog Schwergewicht der Darstellung auf den Wider­ des TV-Films stand legt und die Schuldigen als Unmenschen darstellt, von denen sich der Leser distanzieren Der Fernsehfilm beginnt mit Schwarzbildern. kann und muss, übt er eine Art Entlastungs­ Von der Tonspur kommen Fahr- und Stimm­ funktion aus.«27 geräusche. Männer werden im Dunkel sichtbar, sie stehen in der Enge eines rumpelnden Fahr­ des historischen Ortes brachte Faktizitätssig­ zeugs. Ein alter Mann äußert müde »kann nicht nale ins Spiel, die den Geltungsanspruch, his­ mehr«, der junge Mann neben ihm redet ihm torische Wahrheit zu zeigen, verstärkten. Das gut zu. Noch in der ersten Filmminute folgt Filmteam der ARD ließ für die Mehrzahl der auf die Worte »Es ist alles meine Schuld« des Einstellungen eine aufwändige Kulisse in ei­ Alten eine erste Rückblende in hellen Pastell­ nem ehemaligen sozialistischen Straflager in farben: Ein Grammophon spielt die »Bayrische Tschechien errichten; digitale Techniken unter­ Hochzeit« - Familien- und Liebesidylle unter stützten die Illusion. Während der DEFA-Film blauem Himmel. Fiine hübsche Frau ist hoch­ von 1963 eher kammerspielartigen Charakter schwanger, in ihrem verliebten Partner erken­ hat und Lager und Menschen stets sauber, ge­ nen wir den jungen Mann aus den ersten F,in- pflegt und aufgeräumt wirken, inszenierte die stellungen, in seinem Vater den älteren Mann. ARD ihren Ausstattungs-Film auch auf der Das Bild privater Harmonie wird durch ein Ebene der Requisite und Maske im Bemühen scherzhaft verliebtes Streitgespräch belebt, ob um hohen Realismus.32 das erwartete Kind nun Anton oder Emil hei­ Zurück zum Prolog: Der LKW bremst ab, ßen soll. Eine Tochter schließt das Drehbuch Geschrei der SS ertönt, Scheinwerfer blenden aus, dieser Film soll von Vätern und Söhnen aus dem Dunkel der Nacht, Schäferhunde erzählen, von Vaterliebe und der Aufopferung schnappen in die Luft, SS-Leute treiben an. überwiegend deutscher Männer für einen jüdi­ Hier werden die vertrauten visuellen und akus­ schen Jungen. tischen Film-Stereotype eines KZs bemüht. Nach einer Minute ist der Film wieder bei Der Film setzt zunächst auf Wiedererkennen Vater und Sohn im Dunkel der nächtlichen statt auf neue Perspektiven und Erkenntnis­ Fahrt, die Handkamera wackelt auf Augenhöhe se. Die Bilder behaupten, was 1943 längst die mit den beiden Protagonisten. Als Zuschauer Ausnahme war: Es sind Deutsche, die hier de­ werden wir noch oft eingeladen, uns an der Sei­ portiert werden. »Alles meine Schuld«, sagt der te der Deportierten in die filmische KZ-Welt zu Vater zum Sohn. Der Grund wird wenig später begeben, hinein ins »Konzentrationslager Bu­ erklärt: Bei der Aufnahme der neuen Häftlin­ chenwald. April 1943«, wie das Insert im Pro­ ge in der Gestapo-Baracke gibt der Sohn, der log informiert. Die Zeit der Haupterzählung Zimmermann Hans Pippig (Florian Stetter) wie spielt indes in den letzten vierzehn Tagen vor wir jetzt erfahren, vorschriftsmäßig als Grund der Befreiung des Lagers am 11. April 1945. für seine Verhaftung an: »bolschewistische Pro­ Das außergewöhnliche Ende der achtjährigen paganda, Herr Untersturmführer«. Zuvor hat Lagergeschichte wird also wie im Roman zum die Regie für einen kurzen Moment von der Dreh- und Angelpunkt des Films. mitleidenden Perspektive auf die Sicht der Tä­ Allein die Eingangsszenen auf dem his­ ter gewechselt. Die Kamera steht jetzt hinter torischen »Caracho-Weg«31 wurden 2014 in dem SS-Offizier, wir sehen die Silhouette sei­ Buchenwald gedreht — aus Rücksicht auf den nes Kopfes, die Neuankömmlinge rennen im Ort als stellvertretendes Grabdenkmal hatte Laufschritt auf ihn zu. »Spürt ihr den Schmerz? die Gedenkstätte nur Aufnahmen außerhalb Gewöhnt Euch dran. Das ist ein Arbeitslager. des einstigen Lagerzauns genehmigt. Für Frank Wir werden euch jetzt hier zu richtigen Deut­ Beyers DEFA-Film waren Anfang der 60er Jah­ schen erziehen!«, knarzt der SS-Mann vor der re noch Baracken auf dem nach Politbüro-Be­ Gruppe der Erschöpften. »Ihr seid ehrlos, wehr­ schluss von 1950 weitgehend abgerissenen und los, rechtlos!« In der zweiten Rückblende wird musealisierten Lagergelände errichtet worden. der Fernsehzuschauer Zeuge, wie der Vater Gleichwohl, auch in der DDR-Verfilmung dem Sohn ein Bündel Flugblätter in die Hand wurde Fiktion als ein »so war es« inszeniert - drückt, die den Tod deutscher Soldaten an den nicht als ein »als ob«, das das Konstruktive Fronten anprangern: »Nieder mit der Hitler­ herausstellt. Das vermeintlich Authentische diktatur«. »Glaubst du wirklich, du kannst mit FILMKRITIK

Flugblättern den Krieg verhindern?«, fragt der Mit quietschendem Geräusch wird hinter der Sohn genervt. »Wenn wir es nicht tun, wer Gruppe das schmiedeeiserne Tor des Lagers dann?«, erwidert der Vater. Der Sohn stopft die zugeschlagen. Hans Pippig dreht sich um, mit Flugblätter wortlos in den Rucksack. ihm lesen wir (vor malerischem Morgennebel) Dieser Dialog, der wie ein Lehrbuchbeispiel die Torinschrift von innen: »Jedem das Seine«. für Ethik wirkt, fuhrt erstmals in das Dilem­ In der nächsten Einstellung sehen wir die Re­ ma von Entscheidungssituationen, von denen aktion auf seinem Gesicht. Eine solche, den der Film episodisch und mit sich aufbauender Zynismus der SS überdeutlich nachvollziehen­ Spannung immer wieder erzählt. Ist das mit den de Bildregie zur Gefangenen-Passage durch das Flugblättern verbundene Risiko gerechtfertigt? »Tor zur Hölle« exponiert vor allem die päda­ Das private Glück der Familie mit baldigem gogische Absicht der Filmemacher.33 Nachwuchs steht gegen das verantwortungs­ In einer Szene über das Scheren der Neuan­ «3 ethische Gebot: Orientiere dich an den (abseh­ kömmlinge werden zwei historische Fotomotive baren) Folgen für das große Ganze, protestiere nachinszeniert. (Abb. 3 und 4) Die Aufnahmen gegen den Krieg, bewahre Menschen vor sinn­ stammen allerdings aus dem Herbst 1939 und losem gewaltsamen Sterben. Die Szene sugge­ dokumentieren aus SS-Perspektive die Auf­ riert, dass das etwas mürrische Einverständnis nahmeprozedur für Juden und Polen ins soge­ des Sohnes weniger durch politische Überzeu­ nannte Sonderlager auf der Ostseite des Appell­ gung motiviert ist als aus Rücksicht auf den Va­ platzes: Nackt, auf Hockern sitzend, werden sie ter. Doch wenig später entkräftet der Sohn das geschoren, ein Mann muss in ein Desinfektions­ Schuldgefühl des Vaters. »Du hattest Recht«, bad steigen, zwei SS-Männer überwachen die sagt er und beweist sich damit als aufrechter Aufnahmeprozedur. Die zwei Bilder stammen Antifaschist. Wie politische Haltungen entste­ aus dem Fotoalbum des Lagerkommandanten hen, bleibt hier wie bei fast allen Filmfiguren Karl Koch, von einer Seite mit insgesamt acht ein Rätsel — auch auf Seiten der SS. Der Film Fotos zum Thema »Polen«.34 Es gibt keine an­ gibt sich zwar Mühe, viele verschiedene Cha­ deren historischen Fotos, die das Scheren und raktere zu schildern. Doch wie und warum sie Desinfizieren im KZ Buchenwald dokumen­ so wurden, wie sie dargestellt sind, bleibt — wie tieren — aber es gibt auch keine zwingende schon im Roman - weitgehend ohne Erklärung. Notwendigkeit für einen deutschen Spielfilm, Nachdem die Gruppe der »Neuzugänge« SS-Perspeküven mimetisch zu imitieren und durchs Lagertor getrieben wurde, beginnt der dabei die wider Willen fotografisch erfassten jü­ Film seinen eigenen Mitteln zu misstrauen, disch-polnischen Gefangenen von 1939 durch setzt seine Zeichen oft doppelt und dreifach. deutsche »Politische« im Jahr 1943 zu ersetzen.

Abb. 3 und 4: Fragwürdige Nachinszenierung; links das Foto des Erkennungsdienstes von 1939. Quelle; US Holocaust Memorial Museum / Schmuhl Collection / Fotoalbum des KZ-Kommandanten Karl Koch Inzwischen sind die Männer im Film nur also Kollaboration mit der SS, ein merkwür­ noch Nummern und sollten den SS-Leuten diger Verdacht für einen, der das Lager noch besser nicht in die Augen sehen. Der Vater nicht kennt. »Nein, bleib ruhig«, reagiert der Übertritt die ihm unbekannte Regel, wird ge­ Kapo begütigend. »Willst Du wissen, wie ich schlagen, muss ins Krankenrevier. Das Lager so lange überlebt hab?«, flüstert er Pippig ins wird hier exemplarisch in seiner ganzen Un­ Ohr: »Glück. Und die richtigen Freunde.« Er berechenbarkeit gezeigt, der Terror der SS zielt gibt Pippig den roten Winkel der politischen auf die Brechung des Lebensmutes, fügt schwe­ Gefangenen: »Näh Dir das an, ich bin ab jetzt re körperliche Schmerzen zu, steigert Gefühle Dein Kapo und sorg dafür, dass Du genug zu der Ohnmacht: Diese Szenen sind dicht und essen bekommst.« Pippig hat in Höfel (Peter intensiv gespielt. Schneider) einen väterlichen Kameraden und In dieser trostlosen Welt erfahrt der jüngere Beschützer gefunden. Erst in einer späteren Pippig überraschend einen ersten Moment der Szene werden wir erfahren, dass Höfel auch Zuwendung. Als ihn der Kapo der Effekten- der militärische Ausbilder für den illegalen kammer bei der Ausgabe der Häftlingskleidung Lagerwiderstand ist: eine gut getarnte Schlüs­ fragt, warum er im Lager ist, antwortet er: selfigur der überwiegend kommunistischen »Mein Sinn für Humor. Der Führer hätte wohl Widerstandskämpfer aus ganz Europa, die un­ nicht gelacht.« Dem durch Armbinde und ro­ ter Führung der deutschen Kommunisten mit ten Winkel markierten »roten Kapo« gefällt langjähriger Lagererfahrung den bewaffneten dieser »Witzbold«. Kr nutzt seine Handlungs­ Aufstand gegen die SS vorbereiten. spielräume als Funktionshäftling und tauscht die schon bereit gestellten Holzschuhe rasch Beliebige Authentifizierung und gegen bessere Lederschuhe und legt für diesen mimetischer Realismus »Neuzugang« einen Kanten Brot in die Mütze. Erste Zeichen der Solidarität - jedenfalls unter Nach gut elf Minuten ist der Prolog beendet, denen, die sich politisch auf einer Linie sehen.35 mit einem jener einfallslosen bombastischen In der nächsten Szene schweift Pippigs Blick Soundeffekte wird die Szene vom verzweifel­ zu Zivilisten, darunter Mütter mit Kindern, ten Pippig in ein Schwarzbild verwischt. Ein die sich direkt hinter dem elektrisch gelade­ Insert führt in die Zeit der Haupthandlung: nen Lagerzaun vergnügen: ein Verweis auf den »Zwei Jahre später. Frühjahr 1945«, dazu tatsächlich für die SS und ihre Angehörigen schwarz-weißes Dokumentarfilmmaterial, das 1938 eingerichteten Bärenzwinger direkt am zeigt, wie Amerikaner Wehrmachtssoldaten ge­ Lagerzaun. Ein Kinderwagen und ein Lied fangen nehmen. von Zarall Leander markieren die optisch und Große Episoden des Films beginnen stets mit akustisch durchlässigen Grenzen des Lagers. historischen Filmfragmenten, die kurze Inserts Dunkle Rauchschwaden über einem Baracken­ zur Kriegslage illustrieren. Regisseur Kadelbach giebel lassen in der nächsten Einstellung nichts hat dazu Filmmaterial des amerikanischen Sig­ Gutes erahnen; wer einige Holocaust-Filme nal Corps aus den letzten Kriegswochen ver­ kennt, assoziiert den Rauch der Krematorien. wandt und nachträglich Gefechtslärm auf die »War ein guter Genosse«, setzt der freundliche stummen Bilder gelegt. Außerdem nutzt er Kapo der Effektenkammer an, um dem Sohn ikonisch gewordene Aufnahmen aus anderen verlegen vom Tod des Vaters zu berichten: »Sie befreiten Lagern, das Innen-Tor in Auschwitz ham ihn umgebracht.« etwa mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei« Für Pippig und den Fernsehzuschauer be­ oder Nahaufnahmen von übereinander liegen­ ginnt ein Crashkurs über die Chancen, ein den Leichen. Solche Einschübe historischer KZ zu überleben. Pippig hält kurz inne und Dokumentaraufnahmen fungieren keineswegs braust dann auf: »Ihr arbeitet mit ihnen zu­ nur als zurückhaltende Hinweise darauf, dass sammen!« Er unterstellt den »roten Kapos« dieser Spielfilm »nach Motiven des Romans F I L M K R I T I K

Nackt unter Wölfen« einen historischen Hin­ zentrationslager« die Aufnahmen von Himm­ tergrund hat. Gerade weil ja der Roman seit ler beim Besuch von Kriegsgefangenenlagern 1958 immer schon wegen seiner angeblich do­ für Soldaten der Roten Armee aus dem Jahr kumentarischen Qualitäten gepriesen und für 1941/42 zeigt. Diese deutschen Propaganda­ »wahr« genommen wurde, unterstützen sol­ aufnahmen sind seit Jahrzehnten der Bild-Jo­ che wiederholten Einschübe die Illusion einer ker, wenn Himmler vor Stacheldraht und mit »authentisch« und »wahrhaftig« nacherzählten Bezug auf KZs gezeigt werden soll. Die histo­ Geschichte. Die Dokumente in Schwarz-Weiß rischen Berater, die sich auch hier wieder fan­ authentifizieren gewissermaßen die Fiktion als den,36 haben dem fertigen Werk trotzdem das stimmig. Sie engen zugleich ein, was gerade Gütesiegel »authentisch« für die multimediale Leistung der Fiktion hätte sein können: mit Bewerbung verliehen, das geschichtskulturell der Ungebundenheit des Erzählens eine freie derzeit wohl wichtigste Kriterium, das Fragen 8? Interpretation zu wagen, etwas zu erklären und nach historischer Triftigkeit, historischer Ge­ zu deuten, das den Quellen kein Vetorecht rechtigkeit und historischer Wahrheit längst einräumen muss, eben weil es ein Roman bzw. hinter sich gelassen hat. Spielfilm ist! Die ARD-Neuverfilmung Nackt unter Die Stärken des Beiläufigen und die Wölfen tut dagegen mitunter so, als könnte Gefahren der Gegenbilder sie historische Wirklichkeit beweisen und Au­ thentizitätsversprechen massenkompatibel ein­ Historisch angemessene Differenzierungen lösen. Einer reflektierten Rekonstruktion im unternimmt der Fernsehfilm am ehesten auf Spielfilm ist jedoch nur sehr bedingt dadurch der Ebene der dargestellten sozialen Welt der gedient, dass Dreharbeiten am Originalschau­ Gefangenen - hier ist er meist auch filmästhe­ platz stattfinden, das Casting viele abgemager­ tisch überzeugend. Anders als die homogene te Laienschauspieler vor die Kamera bringt, Leidensgemeinschaft bei Apitz wird die Ord­ die Maske drastische Spuren von Folter auf nung des Buchenwälder Hauptlagers im Film Schauspielergesichtern zu imitieren bemüht in ihren oft mitleidlosen Machthierarchien ist und das Filmteam sich für etliche Detailfra­ und sozialen Konkurrenzen erkennbar, die sich gen bei Experten rückversichert. Alle diese um manchmal auch quer zur rassistischen Kenn­ mimetischen Realismus bemühten Elemente zeichnungs-Hierarchie der SS stellen konnte. unterstützen die Vorstellung, dieser Spielfilm Auch das Leben im »Kleinen Lager« mit sei­ komme dem historischen Geschehen nahe, wir nen Pferdestallbaracken und Zelten hat Ka- dürften ihm glauben, lernten etwas über Ge­ delbach mit großem szenografischen Aufwand schichte. Aber was lässt sich in Folterkellern inszeniert, unterstützt von vielen tschechischen historisch begreifen? Statisten. Für wenige Sekunden gibt der Film Zwar hatten die Filmemacher im Vorfeld im Hintergrund der Haupthandlung eine der TV-Ausstrahlung immer wieder beteuert, verstörende Situation der Selbstjustiz unter dass die neue Verfilmung schließlich nur eine Gefangenen zu sehen: Ein Mann wird wegen Annäherung an die historische Realität sein Diebstahls in einer Latrine ertränkt - routi­ könne. Hofmann zeigte sich bei dem Preview niert geduldet von den Männern, die den ge­ demonstrativ genervt über die »ikonenhaften heimen Widerstand organisieren. Erzählt wird Schwarz-Weiß-Bilder von der Vernichtung der zudem vom Schachern der Gefangenen mit Juden«, die als »Bildschleifen [...] stundenlang Allem, was auch in dieser extremen Welt Be­ bei n-tv und N24 laufen. Diese Bildmotive wer­ dürfnis und Angebot sein konnte: »Was willst den überhaupt nicht mehr hinterfragt«, beklag­ du? Zigaretten, Wodka, süße Junge?«, spricht te er. Doch sein Team macht es nicht anders, ein Häftling mit russischem Akzent einen der wenn der Film zur Erwähnung von Himmlers Politischen an, der sich zu einem Geheimtref­ Befehl »zur Räumung aller frontnahen Kon­ fen auf der Latrine verabredet hat. Ein ande- rer Häftling bietet einen kurzen Blick in eine dächtnis - anders als etliche der drastisch in­ Spiegelscherbe im Tausch gegen Lebensmittel szenierten Folterszenen. Geradezu absurd wird an, ein Tauschhandel, wie ihn etwa Robert es, wenn der SS-Folterer des Bunkers versucht, Antelme in Das Menschengeschlecht (1947) lite­ kurz vor seiner Flucht den ihm noch entkom­ rarisch fixiert hat.37 menen Höfel und den Bunker-Kalfaktor zu In einer schnell geschnittenen Episode ermorden. Um in ihr Versteck vorzudringen, wird die willkürliche Rettung einzelner Aus­ schlägt er mit einer Axt eine Holztür ein, die erwählter durch die »roten Kapos« in ihrer Kamera erfasst sein hasserfülltes Gesicht von ganzen Ambivalenz kenntlich gemacht. Der der Seite: eine recht ähnliche Einstellung hat väterliche Begleiter, der den Waisenjungen Jack Nicholson in Stanley Kubricks Shining aus Warschau heimlich im Koffer ins KZ Bu­ berühmt gemacht. Will die Regie damit an­ chenwald gebracht hatte, soll samt dem Kind deuten, dass SS-Mörder Psychopathen waren? wieder aus dem Lager geschleust werden, denn Historisch war das wohl eher selten der Fall; als das Verstecken des Dreijährigen könnte die populäre Deutung erlaubt die Unterstellung, Aufmerksamkeit der SS auf Höfel lenken, der sich Täter als Fremde und ganz Andere vom den militärischen Lagerwiderstand ausbildet. Leib zu halten. Funktionshäftlinge haben für die Aktion nur Mir scheint, Kadelbach und sein Team ha­ die Namen auf einer Deportationsliste geän­ ben oft Gegenbilder zum DEFA-Film schaffen dert, so dass der formale Sollstärke-Befehl der wollen. Wo die Stunde der Be­ SS weiterhin erfüllt bleibt. Die Marschkolonne freiung noch mit über tausend Komparsen als in den wahrscheinlichen Tod in Bergen-ßelsen einen Jubel-Sturm auf das Lagertor und somit ist bereits angetreten. Als Filmbetrachter sehen als Selbstbcfreiung inszenierte und dafür das wir, wie der ausgewählte Häftling selbst kaum Kind in den Armen der Kommunisten durch begreift, was ihm widerfährt, als der Fingerzeig den engen »Geburtskanal der Lagerwelt« in die eines Kapos auf ihn deutet. Aus der Perspek­ Freiheit einer besseren Welt beförderte, insze­ tive des neben ihm Stehenden sehen wir, wie niert Kadelbach 2015 das genaue Gegenteil: der Auserwählte die Marschkolonne verlässt. träge Lethargie von wankenden Gestalten und Der polnische Jude wird grob in die entstande­ ein Nichtbegreifen der Befreiung, so wie es vor ne Lücke geschoben und gerät in Panik, denn allem für die vielen zu fode Erschöpften aus die Kapos hatten ihm doch seinen Koffer mit dem Kleinen Lager überliefert ist. dem Kind versprochen. Der rasche Wechsel Die TV-Filmbilder von den fotografisch zwischen den teils subjektiven Kameraeinstel­ nicht dokumentierten Stunden der Befreiung lungen, Blickachsen und Erlebnisperspektiven scheinen bis in die Farbgestaltung hinein von erschweren dem Betrachter jedes vorschnel­ Farbdia-Aufnahmen inspiriert zu sein, die al­ le moralische Urteil, erlauben keine einfache liierte Auftragsfotografen erst eine Woche Identifikation. Schließlich wird dem Mann nach der Befreiung angefertigt haben: Befreite von Pippig der Koffer übergeben. Dass sich laufen hier ungeordnet auf dem Lagergelände das Kind gar nicht in dem Koffer befindet, weil umher.38 Erneut benutzt die Regie Dokumen­ sich Pippig dem Befehl der kommunistischen te ohne Rücksicht auf historische Kontexte als Kapos eigenmächtig widersetzt hat und es wei­ vermeintlich authentifizierende Vorlage für ter versteckt hält, erzählt der Film kurz darauf. Spielfilmbilder. Die am 11. April wieder er­ Als der polnische Jude den Betrug bemerkt, langte Freiheit führte demnach zu fast gar kei­ bleibt er fassungslos in der marschierenden Ko­ nem Ausbruch von Freude, auch das Hissen ei­ lonne stehen, sein Überlebensmotiv ist ihm ge­ ner weißen Fahne durch einige Häftlinge wird nommen worden, ein SS-Mann erschießt ihn. von den Umherstehenden wie eine surreale Auch weil es sich hier zum Teil nur um klei­ Szene lautlos bestaunt. Das historisch vielfach ne, scheinbar beiläufig ins Bild gesetzte Szenen beglaubigte Bild von der Apathie im Kleinen handelt, entfalten sie Kraft und bleiben im Ge­ Lager wird offenbar auf das Hauptlager hoch- F I LM KRI gerechnet und verallgemeinert. Als Deutung strichen, übrig bleiben unergründliche Vater­ interessanter ist die gespielte bittere Freudlo­ instinkte und eine Universalisierung des Guten sigkeit insbesondere des Lagerältesten: Sie soll im Menschen, die wie das dargestellte Böse kei­ wohl das schlechte Gewissen von schuldhaft ne nachvollziehbaren Vorgeschichten erhalten. Verstrickten signalisieren, denn die Lager-SS Etliche Figuren sind im TV-Film gegenüber hatte deren Rettungsmacht nicht bedingungs­ der Romanfassung markant verändert. Den los gewährt. älteren Häftling Rose zum Beispiel schildert Das Vorrücken der US Army wird zwar Apitz schon früh als wankelmütig, er ist poli­ in den dokumentarischen Einsprengseln an­ tisch »nicht gefestigt« und will dann in den letz­ gedeutet und erhöht die Spannung, aber auf ten Tagen nicht noch den Märtyrertod sterben, eine Begrüßung der ersten Amerikaner als Be­ weshalb er unter Folter Verrat begeht und das freier hat das Drehbuch verzichtet. Es betont Versteck des Kindes preisgibt. Kolditz dreht am stattdessen und historisch richtig, dass die SS »Härtegrad«, wie es die ARD-Offiziellen beim das Lager bereits verlassen hatte, als die Ame­ Preview nicht ohne Stolz formulierten. Rose rikaner eintrafen, dass bewaffnete KZ-Insassen verrät nun nichts mehr, sondern erdrosselt auf einige der flüchtenden SS-Leute selbst in Haft Geheiß der SS seinen polnischen Kameraden nehmen konnten und Lynchjustiz weitgehend Kropinski, um den Folterern damit zu bewei­ verhindert wurde. Die Gis lässt der Film als sen, dass er vom Versteck des Kindes tatsächlich naiv-fahrlässige Befreier erscheinen. In einem keine Kenntnis hat. Man mag angesichts bluti­ Jeep begegnen sie auf einem Waldweg einem ger Gewalt und kaltblütiger Erniedrigung be­ als Häftling verkleideten SS-Untersturmfiihrer. rührt oder empört sein, aber man lernt so oder Er verstellt sich geschickt, die Gis raten ihm, so wenig Überraschendes: Die SS war brutal dass er sich vor den vielen SS-Männern in Acht und zynisch und benutzte perfide Methoden. nehmen solle, der Krieg sei noch nicht aus. Der Dass der geschundene Mensch, der überleben SS-Mann, der im Film als perfider Gegenspie­ will, zum Verrat und sogar zum Mord an Ka­ ler der »Lagerväter« etabliert wurde, entkommt meraden fähig wird, hatte die DEFA mit weit­ straflos. aus weniger Theaterblut zu vermitteln gewusst Andere Bildfolgen dagegen wirken wieder­ und damit bis heute starke Bilder geschaffen. um wie eine übersetzende Geste des Respekts Der erkennbar große Aufwand für die Maske gegenüber dem DEFA-Film: Während Beyer fördert eher die Aufmerksamkeit für die hand­ den Schrei Höfels unter Folter verknüpfte mit werkliche Herstellung der Schockeffekte denn dem vergnügten Schrei des versteckten Kindes, die Chancen für ein historisches Verstehen des verbindet Kadelbach den unter Folterschmer­ SS-Terrors. zen in Ohnmacht fallenden Höfel mit einem Dem Fernsehfilm gelingen aber immer wie­ Bild vom schlafenden Kind. der auch überzeugende Bilder und Montagen. Der Vergleich noch weiterer Details in den Der dargestellte Mordexzess eines SS-Man­ beiden Filmen könnte also durchaus erhellend nes thematisiert nicht allein die Willkür, mit sein. Doch für die Gesamtaussage der Neuver­ der Menschen noch in den Schlusstagen des filmung sind die Transformationen in den Mo­ Krieges umgebracht wurden. Die Szene lässt tiven der Hauptakteure am wichtigsten. Aus auch die Verzweiflung und Angst des jungen den überzeugten Kommunisten bei der DEFA deutschen Täters vor dem absehbaren Zusam­ werden bei der ARD nur noch allgemein »Poli­ menbruch seiner Wertewelt erkennen. Mit ei­ tische«. Die Motive für die Rettung des Kindes nem Hammer zerschlägt der SS-Mann einem werden ins Unpolitische verschoben: Sehn­ KZ-Zwangsarbeiter vor den entsetzten Blicken sucht nach (der eigenen) Familie, Vaterliebc von dessen Kameraden die Augenpartie, als sowie Schutzgefühle für Kinder und Neuan­ Antwort auf sein »Glotzen«: Er hatte kurz zu kömmlinge im Lager. So wird das vermeintlich einer jungen deutschen Frau aufgesehen, die nur Ideologische aus der Roman-Vorlage ge­ auf einem Pferd teilnahmslos am Arbeitskom- Abb. 5 und 6: Authentifizierung per Einstellung: Mordszenen, von »Zeugen« beobachtet.

88 mando vorbeigeritten war. Der Mord wird von gertorwache; er steht einem großen, lauernden einer Anwohnerin schweigend am Fenster be­ Wachhund gegenüber. Erschrocken, erschöpft obachtet; sie sieht auch, wie der SS-Mann an­ und entschlossen zugleich schleppt sich Pip­ schließend den zweiten Mann erschießt. Mit pig auf den leeren Appellplatz: »Hier. Ich bin der Kameraeinstellung über die Schulter der hier!«, ruft er in die nächtliche Finsternis den schemenhaften »Nachbarin« wird jenes Zeu­ Wachen zu. »Ihr habt uns alles weggenommen. genwissen ins Bild gesetzt, das nach dem Mai Aber nicht das, was wir sind. Wir existieren 1945 oft genug geleugnet wurde: Zwangsarbeit noch!« Die Scheinwerfer schwenken auf Pip­ und Morde an KZ-Häftlingen fanden »mitten pig, das Kind bleibt im Dunkeln zurück. Pip­ im deutschen Volke« statt. (Abb. 5 und 6) pig, geblendet von grellem Licht, schreit mit Wut der SS entgegen: »Irgendwann wird hier Gras wachsen und die Ruinen überwuchern. Showdown: Ein Vater opfert sich Irgendwann wird man das hier vergessen ha­ Am Ende von Roman und TV-Film werden ben.« Aus seinem ausgestreckten Arm, der das Pippig und »sein« Kind von Kameraden in ei­ blendende Licht abwehrt, wird ein anklagend nem Kanalschacht versteckt. Als das Essen aus­ ausgestreckter Arm, der Finger zeigt drohend bleibt, muss Pippig das Versteck verlassen und in Richtung der Wachen: »Aber euch, euch bekommt bald seinen letzten großen Auftritt: wird man nie vergessen!« Der Wachmann lädt ein ungleicher Showdown zwischen einem seine Waffe durch. »Die Schande der Mensch­ SS-Wachmann und dem Häftling, der zum heit!« (Abb. 7 und 8) Märtyrer wird. Nach diesem »Nie vergessen«, das hier Pippig hat in väterlicher Fürsorge für das deutsche (anonyme) Täter meint und einmal hungrige Kind etwas zu essen besorgt, doch als nicht auf die Opfer gemünzt ist, fragt sich das er wieder kommt, ist Stefan, wie er das Kind Fernsehpublikum vielleicht schon, wann wohl nennt, nicht mehr am sichtgeschützten Platz. der Schuss fallt, um der Anklage noch mehr Er entdeckt den Jungen im Lichtkegel der La­ Gewicht und Tragik zu verleihen. Doch zu-

Abb. 7 und 8: Pippigs ungleicher Showdown mit der SS: »Euch wird man nie vergessen!' FILMKRITIK

nächst folgt ein Schnitt. Die neue Einstellung einfach nur für »wir Deutsche« stehen soll, gibt von hinten zu sehen, wie ein Häftling die wird der Satz nicht stimmiger. Das »das« ver­ Szene durch ein Barackenfenster beobachtet. meidet wie so oft beim Erinnerungsgerede eine Dieser Augenzeuge wird also später von die­ konkrete Benennung der deutschen Verbre­ ser Szene erzählen können. (Abb. 9 und 10) chen; das passive »zugelassen« verkleinert den »Wenn nur einer von uns überlebt — dass er Willen der Täter und ihrer Komplizen zur Tat. erzählen kann«, hatte der Lagerälteste sechs Im gleichen werbewirksamen Interview be­ Filmminuten vorher angesichts der drohenden hauptet Hofmann, dass dieser Film »sich in ei­ Zwangsräumung des Lagers in die Runde sei­ nen ganz neuen Bereich der Erinnerungskultur ner Kameraden gesagt. Einmal mehr inszeniert vor[wagt], die Wahrnehmung von Nackt unter dieser Fernsehfilm Fiktion als bezeugtes histo­ Wölfen mag schmerzhaft sein, auch kontrovers risches Geschehen. und irritierend, aber der Film setzt eine gro­ Noch einmal schöpft Pippig Kraft: »Und ße innere Trauer frei. Diese Chance, sich mit wenn wir alle sterben, der Junge wird ...« — ins dem Unfassbaren, was damals geschehen ist, letzte Wort peitscht der Schuss und trifft die auseinanderzusetzen, hat für mich persönlich Brust des jungen Mannes. Das spritzende Blut eine enorme Wichtigkeit, und ich wünsche mir leuchtet kurz rot auf und lässt darum kontra­ diese Fähigkeit zu trauern für mich und unse­ produktiv auch an Kennedys Ermordung re Zuschauer.« Ein Filmproduzent lebt davon, in dem berühmten Zapruder-Film denken. dass er etwas anschaulich, vorstellbar und für Pippig liegt bewegungslos am Boden. Die SS Zuschauer besser »fassbar« macht. Hofmann löscht nach getaner Arbeit den Scheinwerfer, aber greift dennoch zur so oft bemühten Flos­ Dunkelheit fallt wieder über den weiten Ap- kel des »Unfassbaren«. Zudem hat ihm keiner

Abb. 9 und 10: Der Mann am Fenster: Was garantiert Augenzeugenschaft? pellplatz - und über das Kind, das gerade ein gesagt, dass Mitscherlichs Diagnose einer »Un­ weiteres Mal gerettet und ebenfalls Zeuge von fähigkeit zu trauern« auf diejenigen gemünzt seines Lagervaters stellvertretender Anklage war, die Hider als ihren »Führer« verehrt und wurde. geliebt oder ihm gar bereitwillig entgegenar­ beitet hatten, sich aber ihre Liebe nach 1945 mehrheitlich nicht mehr eingestanden und Absichten des Produzenten daher zum Trauern nicht fähig waren. Diese »Wegen dieser Szene habe ich den Film ge­ Trauer aber dürfte heute kaum mehr die He­ macht«, sagt Produzent Nico Hofmann in ei­ rausforderung sein. Vielmehr ist Trauer und nem (autorisierten) Interview. »Es geht mir um Empathie heute erst recht an historisches Wis­ emotionale Erkenntnis, dass wir das alles zuge­ sen zu knüpfen. Das ist am besten zu gewin­ lassen haben.«39 Wer immer »wir« hier ist, von nen, wenn man sich kritisch an historischen Hofmanns Generation (Jg. 1959) wird man Überlieferungen abarbeitet, sich als Spiel­ für ihre Mütter und ihre Väter heute keine Re­ film-Produzent dann aber auch konsequent für chenschaft verlangen können. Wenn das »wir« die Fiktion entscheidet. Genau das aber vermeidet dieser Film, weil ben gerettet, ein jüdisches Kind, ein polnisches er es irgendwie allen recht machen will: das Kind. Versöhnlicher könnte nach Unsere Müt­ Prime-Time-Publikum soll emotional befrie­ ter, unsere Väter ein trauriges Filmende kaum digt werden, die internationalen Fernsehkanäle sein. Ein deutscher Märtyrer und ein geretteter werden quoten- und marktstrategisch mit uni­ Jude Hand in Hand: eine deutsch-jüdische Be­ versalen Botschaften bedient, historischen Be­ ziehungsgeschichte wie im Märchen. ratern wird Mitspracherecht eingeräumt (was Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma auch öffentliche Legitimation verschafft), und hat nach der Ausstrahlung des Films protes­ die reale Geschichte von Stefan Jerzy Zweigs tiert. Er verlangt von der ARD historische Auf­ Rettung bleibt zugunsten der Fiktion von Apitz klärung: dass bei erneuter Ausstrahlung darauf ausgespart. Insgesamt wird dann aber doch hingewiesen wird, dass anstelle von Stefan Jerzy auch viel historische Ungerechtigkeit repro­ Zweig der Sinto Willy Blum auf die Deporta­ duziert, denn in den Hauptfiguren erzählt die tionsliste kam.42 Wenn ein Spielfilm wie Nackt Neuverfilmung von deutschen Märtyrern und unter Wölfen den Stoff eines historischen Ro­ überlebenden Juden - darin ähnelt sie dem mans überwiegend im Indikativ vergegenwär­ ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter.40 tigt, sind Fragen nach historischer Angemes­ senheit von Plot und Darstellung legitim. In der Tat verschweigt die Verfilmung erneut die Deutsche Märtyrer, gerettete Juden - historische Rettungsgeschichte, die auch vom und ein Protest der Roma und Sinti Massenmord air jugendlichen Roma und Sinti Für das Finale kommt der angeschossene Pippig berichten müsste. noch einmal zu sich, das gerettete Kind berührt Was wissen wir heute über die historische die Hand des Sterbenden in der ersten Stunde Situation?43 Stefan Jerzy Zweig, der Überle­ nach der Befreiung, er kann die Gefangennahme bende, der von Apitz und der SED-Propagan- von SS-Leuten noch wahrnehmen, pünktlich da ab 1964 als Vorbild für das gerettete Kind durchbricht die Sonne den Filmwolkenhimmel, im Roman etabliert wurde, gehörte Ende Au­ dazu eine getragene Melodie von Klavier und gust 1944 zu jenen zwölf Jugendlichen und Streichern. Freude und Leid, Tod und Zukunft Kindern, die von einer Deportationsliste mit verschränken sich. Der von Folter schwer zu­ insgesamt 199 Roma und Sinti und ihm (als gerichtete Kapo Höfel kann seinen Schützling einzigem Juden) für einen Zug nach Auschwitz Pippig nicht mehr retten, Pippig schickt Höfel gestrichen wurden. Unbekannte Helfer um mit dem Kind weg - es soll nicht den letzten den Kommunisten , den späteren Atemzug seines »Lagervaters« mitansehen müs­ sozialdemokratischen Gewerkschafter der IG sen.41 (Abb. 11-14) Pippig hat sich aufgeopfert Metall, hatten Zweig und elf weitere mit einer für den kleinen Stefan aus Warschau, er stirbt konzertierten Aktion zu retten versucht. Der verzweifelt - sein Filmtod wird mit Sinn aufge­ 3-jährige Stefan Jerzy Zweig und andere wur­ laden. Der deutsche Zimmermann hat ein Le­ den mit Hilfe eines SS-Arztes krank gemeldet

Abb. 11 und 12: Der gefolterte Höfel erlebt die Befreiung: Bilder von Bitterkeit und Lethargie. FILMKRITIK

Sein verzweifelter Sohn erlebt, wie die ein­ flussreichen Funktionshäftlinge das jüdische Kleinkind Stefan zu retten versuchen, seinem todkranken Vater aber keine Hilfe gewähren. Um für den geliebten Vater Medikamente zu bekommen, verrät der Sohn das Versteck des fremden Kindes an die SS. Als die es dennoch nicht finden kann, wird der Junge erschossen.

Abb. 13: Letzte Berührung mit subjektiver Ka­ Vater und Sohn tragen im Film beide einen mera: Pippig wird vom »Buchenwald-Kind« ge­ schwarzen Winkel, im KZ die Kennzeichnung weckt. für »Asoziale«, aber auch »Zigeuner«. Historisch legt das in dieser Vater-Sohn-Konstellation eine 91 und als »transportunfähig« von der Deportati­ Roma-Familie nahe. Oder haben sich die bei onsliste gestrichen. den Kostümen um höchste Akribie bemühten Das alles wussten auch die Filmemacher, Filmemacher in diesem Fall bei der Farbgebung begriffen diese Erkenntnisse jedoch nicht nichts gedacht und wollten nur die Vielfalt der als Chance für historische Aufklärung. Es sei Charaktere unter den Politischen und deren be­ dramaturgisch undenkbar gewesen, diesem grenzte Rettungsmacht visualisieren? Film »nach Motiven des Romans« ein anderes Doch noch einmal zurück zur Forderung Ende zu geben.**4 Umso bemerkenswerter ist, des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der dass Kolditz ein neues Figurenpaar erfunden darauf beharrt, dass Zweig gegen Blum ausge­ hat, eine weitere Vater-Sohn-Geschichte, die tauscht worden sei. Auch diese Vorstellung ei­ protorypisch von den Gefangenen erzählt, die nes direkten Austauschs zwischen Angehörigen nicht zu den Privilegierten des Lagers gehören. zweier verschiedener Opfergruppen kann in Nicht ein SS-Mann, sondern ein »roter Kapo« Frage gestellt werden. Willy Blum war einer von zwingt diesen erschöpften Vater ohne erkenn­ zwölfen, die anstelle von zwölf anderen Jungen baren Grund, einen schweren Stein zu schlep­ nach Auschwitz deportiert wurden. Wer genau pen. Der Mann verletzt sich dabei schwer und für wen ersetzt wurde, lässt sich streng genom­ liegt bald darauf mit Wundbrand im Delirium. men gar nicht mehr feststellen. Nach Einsicht in inzwischen zugängliche Unterlagen im Interna­ ganisierten Rettungsversuchs der »Politischen« tionalen Suchdienst Bad Arolsen hat allein die widerfuhr und die auch danach noch mehrfach Logik der Zahlen vor den Namen auf einer der Todesgefahren im Lager überstanden. alphabetischen Listen Blum und Zweig mit ein­ ander in Beziehung gebracht. Wählt man eine Ein Preview in andere überlieferte Liste, müsste man von einer anderen Ersatzvariante erzählen. Von einem Beim Preview im Berliner »Delphi« — großes eindeutigen Tausch einer Person gegen eine Uraufführungs-Kino für einen Fernsehfilm — andere zu sprechen, schiene mir in diesem Fall wurde im März 2015 das pädagogische und nur dann legitim, wenn man sich dem Zufall geschichtspolitische Programm für diesen Film einer Listenzahl unterwirft und daraus subjek­ durchkonjugiert. Schon als sich die vielen, die tive Tauschwahl ableitet - also eine Geschichte auf Einladung gekommen waren, ins Kino bevorzugt, die dem verbreiteten Bedürfnis ent- drängten, war der niedliche Kind-Darsteller gegenkommt, verstörendes historisches Gesche­ zu entdecken. Er wurde fürs journalistische hen im Modus tragischer individueller Schick­ Fotoshooting auf die Arme genommen. Das sale verstehen zu wollen. Ein Dokument des Motiv »Lagervater mit Kind auf dem Arm« hat Lagerarztes macht es wahrscheinlich, dass Willy bereits in den 1960er Jahren in der DDR als Blum und Walter Bamberger, ein weiterer Sin- Botschaft recht gut funktioniert: ein Symbol to, erst auf die letztgültige Transportliste vom für den Sieg der Menschlichkeit und Solidari­ 25. September 1944 gesetzt wurden, nachdem tät über die faschistische Bedrohung. Das neue sie sich selbst dafür gemeldet hatten: um hei ih­ »Buchenwaldkind« der ARD strahlte noch et­ ren Brüdern zu bleiben. was unsicher in die Kameras, und Pippig-Dar- Solche Geschichten sind auch deshalb so steller Florian Stetter, der am Filmende den schrecklich, weil sie die absolute Tötungsmacht Märtyrertod gestorben war, wusste offenbar der SS und die strukturell begrenzte Rettungs­ auch nicht so recht, ob er weiterhin ernst- und macht der Funktionshäftlinge in ihrer ganzen sorgenvoll blicken müsse, wie es seine Rolle als Trostlosigkeit vor Augen führen. Die SS war »Lagervater« von ihm verlangt hatte. (Abb. 15) bei ihrer rassistischen Verfolgung an Individu­ »Läuterung durch Erschütterung« sei das en nicht interessiert. Sie machte aus Menschen große Ziel dieses Films, verkündete ARD-Mo- Dinge, ihr Massenmord zielte auf Rasse, ein derator Thomas Roth vor dem Screening. Er Menschenbild, das Individualität programma­ bereitete das Publikum auf den »hohen Härte­ tisch ignoriert. Allein diejenigen Menschen, die grad« des Films vor. Auf der Leinwand hinter zu retten versuchten, klammerten sich bei ihrer ihm das ikonische Filmstill: die Hand eines Entscheidung, wen sie retteten - zur Wihl ge­ Kindes berührt eine Männerhand (Abb. 13). zwungen - an individuelle Eigenschaften. Wenn »Als ich vor zwei Wochen im KZ Buchen­ nicht politische Überzeugung und Klassenerhalt wald war«, hob der Medienprofi mit weihevol­ die Auswahlkriterien sein sollten oder konnten, ler Stimme an und meinte die Gedenkstätte versuchten sie denjenigen zu helfen, die ihnen Buchenwald. Heute falle es ohne historisches irgendwie imponierten oder deren Schicksal sie Wissen nicht leicht, sich an diesem O rt das besonders berührte, sei es, dass sie ungewöhn­ »Damals« vorzustellen. In dieser Diskrepanz lich jung waren, markant aussahen, auffällig liege die pädagogische Herausforderung; der klug, groß oder klein waren, mutig oder witzig neue Film sei eine starke, erschütternde Ant­ oder man sich Anekdoten über sie erzählte. Der wort. Zwar sei Buchenwald »kein Vernich­ blonde Stefan Jerzy Zweig war bis zum Winter tungslager«, sondern ein Ort »der kleinen Zah­ 1944 als 3-Jähriger der mit Abstand jüngste Ge­ len des Terrors« gewesen. Doch gebe es heute fangene Buchenwalds gewesen. Und auch eini­ keine deutsche Identität ohne Buchenwald. ge der jungen Roma und Sinti gehörten zu den Bundespräsidialer hätte der Filmabend nicht Gefangenen, denen das seltene Glück eines or­ beginnen können. Dass dann nach einer An- F I L M K RI T I K

Ist das die Trauer der Jugend, auf die Nico Hofmann hofft? Weltschmerz über Vergange­ nes und die Verwechslung von Ufa-Fiktion mit historischer Realität fuhrt jedenfalls nicht zum Begreifen von Verbrechensgeschichte. Wenn indes nur Erschütterung das Ziel war, hat Hofmanns Bauchgefühl wieder einmal Recht behalten. Der öffentlich-rechtliche Bildungs­ auftrag wurde mit dieser Produktion allerdings weitgehend verfehlt. Mythen wie Nackt unter Wölfen lassen sich nicht durch »Differenzie­ rung« verbessern, Aufklärung braucht neue, Abb. 15: Vaterliebe als Motiv: Die Darsteller beim 93 empirisch triftige Gegenerzählungen. Berliner Preview im März 2015. Foto: Axel Doßmann spräche des ARD-Programmchefs Volker Her- Anmerkungen res noch der 74-jährige Stefan Jerzy Zweig als »eines der Buchenwald-Kinder« auf die Bühne * Wir danken der UFA FICTION GmbH und dem des Kinos geholt wurde, macht die Beteuerun­ United States Holocaust Memorial Museum für gen zur fiktional-künstlerischen Absicht dieser Druck-Genehmigungen und Unterstützung. Degeto-Produktion nicht glaubwürdiger. Der Film, der folgte, lief dann ja auf Selbst­ 1 Michael Kloft, Fernsehstar Hitler. Wie viel Wissenschaft verträgt Zeitgeschichte im Fern­ beruhigung hinaus, machte es überwiegend sehen?, in: Thomas Fischer/Rainer Wirtz (Hg.), leicht, sich wie im Abenteuerfilm imaginativ Alles authentisch? Popularisierung der Ge­ auf die Seite der Guten zu schlagen. Vor allem schichte im Fernsehen, Konstanz 2008, S. 87- Vatergefühle dominieren das Politisch-Utopi­ 98, hier S. 94. Kloffs eigener Coup war es, mit sche aus der Romanvorlage und der Geschichte Färb- und Amateurfilmmaterial neue Perspek­ des Lagers. Das Böse wird als »bestialisch« vom tiven auf die NS-Zeit anzubieten. Mittlerweile menschlich Verstehbaren abgespalten, während färben nun auch viele andere TV-Produzenten wir uns am Guten des Menschen, Tragik einge­ schwarz-weiß überlieferte Dokumente ein und schlossen, erbauen dürfen. Wie deutsche Män­ erhalten dafür Beifall für besondere Realitäts- haltigkeit und Authentizität. ner zu SS-Verbrechern wurden und vor allem, 2 Nach: http://meedia.de/2015/04/02/grosses- warum die Mehrheit der restlichen Deutschen interesse-fuer-nackt-unter-woelfen-kleineres- nicht zur Selbstbefreiung vom Nationalsozialis­ füer-das-grosse-schluepfen/ (30.11.2015) Die mus bereit und in der Lage war, wird mit die­ von der Nürnberger Gesellschaft für Kon­ sem Film nicht nachvollziehbar. Das hat gewiss sumforschung vorgenommene repräsentative auch die Wahl des Stoffes verhindert. Ein Film Erhebung erfasst übrigens noch keine Live- über die letzten vierzehn Tage eines Konzent­ Stream-Nutzung und berücksichtigt auch keine rationslagers schränkt sich ähnlich ein wie ein späteren Mediathek- und Podcast-Sichtungen. Film über die letzten Tage im Führerbunker. 3 Vorbild für Frank Beyers Inszenierung war eine Ein Filmbetrachter notierte auf YouTube-. »Der Szene aus Konrad Wolfs filmischer KZ-Fiktion Leute mit Flügeln (DEFA 1960), in der Schau­ Film hat mich sehr tief berührt... Er spiegelt spieler Manfred Krug als amerikanischer Kriegs­ die Wahrheit sowas von realitätsnah wieder gefangener Dave mit einem deutschen Maschi­ [sic]... Am Ende des Filmes saß ich noch ca. 5 nengewehr (auch »Hider-Sense« genannt) die Minuten regungslos da und ließ mir noch mal Faschisten vom Wachturm schießt. Filmset des alles aus dem Film durch den Kopf gehen. Da­ fiktiven KZs war unverkennbar die 1958 eröff- bei ... kamen mir die Tränen... «45 nete »Mahn- und Gedenkstätte« Buchenwald. 4 Der Film ist noch vor der ARD-Premiere an 16 Zur Roman-Rezeption und ihren Kontexten französische und skandinavische Sender verkauft siehe auch Susanne zur Nieden, »... stärker als worden, bis Herbst 2015 folgten Polen, Litau­ der Tod«. ’ Roman Nackt unter Wöl­ en, weitere Sender in Westeuropa, Südkorea, der fen und die Holocaustrezeption in der DDR, Türkei sowie Netflix. Nach: https:// www.global- in: Manuel Koeppen/Klaus Scherpe (Hg.), Bil­ screen.de/news/index?id=472 (16.8.2016) der des Holocaust. Literatur - Film - Bildende 5 Süddeutsche Zeitung Magazin vom 27.3.2015 Kunst, Köln//Wien 1997, S. 97-108 (Nr. 13/2015), S. 4f. sowie Volkhard Knigge, Buchenwald, in: Mar­ 6 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Mün­ tin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, chen 1997, S. 75. München 2009, S. 118-127. 7 Karin Hartewig, Wolf unter Wölfen? Die prekäre 17 Apitz, Nackt unter Wölfen, S. 92. Macht der kommunistischen Kapos im Konzen­ 18 1944 deportierte die SS viele Jugendliche aus trationslager Buchenwald, in: Ulrich Herbert/ den Vernichtungszentren und Zwangsarbeitsla­ 94 Karin Orth (Hg.), Konzentrationslager, Bd. II, gern im Osten nach Buchenwald, etwa 80 Pro­ Göttingen 1998, S. 939-958, hier S. 942. zent waren 20 Jahre und jünger, stammten aus 8 Unter den Teppich kehren? Gespräch mit der Sowjetunion und Polen, jede/r Dritte war Nico Hofmann und Volkhard Knigge im jüdischer Herkunft, viele bereits Waisen. Be­ C7?m?«0«-Magazin vom Mai 2015: https:// sonders hoch war der Anteil Jugendlicher und chrismon.evangelisch.de/artikel/2015/unter- Kinder in den neuen Außenlagern für Frauen. den-teppich-kehren-31075 (1.8.2016) Etwa 1.600 Jugendliche und Kinder überlebten 9 Der TV-Premiere dieses Produkts der Degeto Buchenwald nicht: Sie starben an Entkräftung Film GmbH, eines 100-prozentigen Tochter­ und Krankheiten oder wurden erschlagen oder unternehmens der ARD, ging eine - bei solch erschossen. Die als »nicht arbeitsfähig« Einge­ aufwändigen (Zeit-)Geschichtsfilmen heute stuften befahl die SS überwiegend zur Tötung übliche - groß angelegte, multimediale Werbe­ nach Auschwitz. Etwa 900 Jugendliche und kampagne voraus. Kinder erlebten die Befreiung von Buchenwald 10 Zum DEFA-Film siehe: Thomas Heimann, Bil­ am 11. April 1945. Siehe dazu Harry Stein, der von Buchenwald. Die Visualisierung des An­ »Nackt unter Wölfen« - literarische Fiktion und tifaschismus in der DDR (1945-1990), Köln/ Realität einer KZ-Gesellschaft, unter: https:// Weimar/Wien 2005, bes. S. 71—104; Martina www.buchenwald.de/1143/ sowie ders., Kinder Thiele, Nackt unter Wölfen (DDR 1963), in: und Jugendliche im KZ Buchenwald, unter: Dies., Publizistische Kontroversen über den https://www.buchenwald.de/400/ (18.8.2016). Holocaust im Film, Münster u.a. 2001, S. 235— 19 Apitz, Nackt unter Wölfen, S. 28, 110, 131, 266; Anne Barnert, Die Antifaschismus-Thema­ 143, 62, 481. tik der DEFA. Eine Kultur- und filmhistorische 20 Klüger verweist auch auf eine Alternative: eine Analyse, Marburg 2008, bes. S. 87-109. zum Nachdenken anstiftende Wahrheitssuche 11 Dazu Lutz Niethammer/Karin Hartewig (Hg.), durch Interpretation der überlieferten Doku­ Der >gesäuberte< Antifaschismus. Die SED und mente mittels Einfühlung und historischer Ima­ die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994. gination. Ruth Klüger, Kitsch, Kunst und Grau­ 12 Zitiert nach Susanne Hantke, »Das Dschungel­ en. Die Hintertüren des Erinnerns. Darf man gesetz, unter dem wir alle standen«. Der Erfolg den Holocaust deuten?, in: Beilage der Frank­ von Nackt unter Wölfen und die unerzählten furter Allgemeinen Zeitung vom 2.12.1995, Geschichten der Buchenwälder Kommunisten, S. 4. in: Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen, erweiter­ 21 Es bleibt zweifelhaft, ob Apitz in der Zeit des te Neuauflage, hg. von Susanne Hantke und Lagers mit Zweig überhaupt bekannt und ver­ Angela Drescher, Berlin 2012, S. 515-574, hier traut war. Zum öffentlichen Umgang mit dem S. 549. erwachsenen Stefan Jerzy Zweig, der die letzten 13 Hantke, Dschungelgesetz, S. 549f. Wochen des KZ Buchenwald vor allem dank 14 Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen, erweiterte des Vaters im Kleinen Lager überleben konn­ Neuauflage, hg. von Susanne Hantke und An­ te, siehe die umfassende Studie von Bill Niven, gela Drescher, Berlin 2012, S. 62. Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und 15 Hantke, Dschungelgesetz, S. 549, S. 565. Propaganda, Bonn 2009, hier bes. S. 169ff.; ders., Der Umgang mit dem Jüdischen in der FILM K RIT IK

DDR-Rezeption der Rettung Stefan Jerzy Mahnmal von Buchenwald ausformuliert. Zweigs, in: Micha Brumlik/Karol Sauerland Dazu Volkhard Knigge, »Opfer, Tat, Aufstieg«. (Hg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die Vom Konzentrationslager Buchenwald zur Na­ späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa, tionalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 225-236. in: ders./Jürgen Maria Pietsch/Thomas Seidel 22 Sonderdruck (3. Auflage) der BZ am Abend von (Hg.), Versteinertes Gedenken — Das Buchen­ Februar 1964 mit dem »großen Bericht über wälder Mahnmal von 1958, 2 Bde, das Buchenwaldkind«, bes. S. 18—31, das hier (Spröda) 1997, Band 1. zitierte Fazit der Zeitung S. 32. 29 Siehe Beate Müller, Agency, Ethics and Respon­ 23 Walter Barthel/Stefan Heimann (Hg.), Kon­ sibility in Holocaust Fiction. Child Figures as zentrationslager Buchenwald, Bd I: Bericht des Catalysts in Bruno Apitz’s Nackt unter Wölfen Internationalen Lagerkomitees, Weimar 1949, (1958) and Edgar Hilsenrath’s Nacht (1964), S. 53-55. Erst 1987 veröffendichte ein kleiner in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte bundesdeutscher Verlag den von Stefan Zweigs der deutschen Literatur (IASL), Bd. 36, Heft 95 Vater Zacharias autorisierten Bericht über die 1 (2011), S. 85-114, bes. 94-102. Verfolgungserfahrungen der Familie und die 30 Hanno Müller, Die Gefühle von Trauer und Wut Rettung des Kindes, der entlang seiner Erin­ müssen immer wieder neu erzählt werden (In­ nerungen in Yad Vashem verfasst worden war: terview mit Stefan Kolditz und Philipp Kadel- »Mein Vater, was machst du hier...?« Zwischen bach), in: Thüringer Allgemeine vom 21.3.2015. Buchenwald und Auschwitz - der Bericht des http://www.thueringer-allgemeine.de/web/ Zacharias Zweig, Frankfurt a. M. 1987. Der His­ zgt/kultur/detail/-/specific/Die-Gefüehle-von- toriker Harry Stein hat die verfälschende Wie­ Trauer-und-Wut-muessen-immer-wieder-neu- dergabe in der DDR-Presse akribisch verglichen erzaehlt-werden-1363805376 (1.8.2016) und interpretiert: Nackt unter Wölfen - literari­ 31 Auf dem »Caracho-Weg« vom 1943 eingerich­ sche Fiktion und Realität einer KZ-Gesellschaft, teten Bahnhof zum Häfdingslager hetzten die in: wie Endnote 18. SS-Wachen neu ankommende Gefangene mit 24 In einem Zeitungsartikel, der von der Wieder­ Tempo (caracho) bis zum Lagertor. begegnung mit dem angeblichen historischen 32 Zum Problem solcher Imitationen und Ge­ Vorbild Stefan Jerzy Zweig (= Juschu) 1964 in nauigkeit in historischen Details siehe Michael Weimar berichtet, verschob Apitz die Fiktion Wildt, Der Untergang. Ein Film inszeniert sich seines Romans weiter zugunsten des Doku­ als Quelle, in: Zeithistorische Forschungen/ mentarischen: »Heute wissen wir, Juschu, daß Studies in Contemporary History, Online-Aus- es in diesem Kampf um mehr ging als um dein gabe, 2 (2005), H. 1, URL: http://www.zeit- kleines Kinderleben. [...] Hier ein Kind - dort historische-forschungen.de/l-2005/id=4760, die halbe Menschheit. Eins gleich Millionen. Druckausgabe: S. 131-142. Millionen gleich eins. Siehst du, Juschu, das 33 Das visuelle Stereotyp findet sich bereits im war der große Sinn unseres Ringens um Dein hölzern argumentierenden Einführungsfilm für kleines Kinderleben.« Bruno Apitz, Meine Gedenkstättenbesucher, den die DEFA 1961 Hände. Erinnerungen an das Buchenwaldkind, produziert hat. Dazu: Eva Hohenberger, Ge­ in: Berliner Zeitung vom 27.2.1964, S. 6. denken als Gebrauch. Uber die Auftragsfilme 25 Statement des Drehbuchautors Stefan Kolditz: der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, in: mon- http://www.daserste.de/unterhaltung/film/ tage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte themenabend-nackt-unter-woelfen/interview- audiovisueller Kommunikation, jg. 15, Heft 1 kolditz-hofmann-100.html (1.8.2016) (2006), S. 153-181, hier S. 172. 26 Marcel Reich-Ranicki, Mehr als die Autoren 34 Vgl. das Album und die Einzelbilder aus der sagen wollten ..., in: Die Zeit vom 27.10.1961. Schmuhl Collection des United States Holo­ 27 Cordula Günther, Einige kritische Bemerkun­ caust Memorial Museum, die die Fotosamm­ gen zu Bruno Apitz’ Erfolgsroman Nackt unter lung der Gedenkstätte Buchenwald online Wölfen, in: Hallesche Studien zur Wirkung von zugänglich macht: http://www.fotoarchiv. Sprache und Literatur, Nr. 7 (1983), S. 57-73, buchenwald.de. hier S. 68f. 35 Drehbuch und Spielfilm suggerieren also, dass 28 Die ideologische Leitlinie »durch Sterben der Vater (ein »guter Genosse«) und sein Sohn und Kämpfen zum Sieg« hatte 1958 auch das wegen Verteilung von Flugblättern gegen Krieg und »Hitlcrdiktatur« in »Schutzhaft« gekom­ rich Herbert, Nazis sind immer die anderen. men seien, ein widerständiges Handeln, das der Der ZDF-Dreiteiler Unsere Väter, unsere Mütter NS-Staat im März 1943 im Fall der »Weißen zeigt oft Verschwiegenes - doch das Entschei­ Rose« mit Hinrichtung bestraft hat, nicht mit dende fehlt: Die Begeisterung der Jugend für Deportation ins KZ. Hitler, in: tageszeitung vom 21.3.2013, http:// 36 Es waren Dr. Robert Jan van der Pelt, Prof. Dr. www.taz.de/15070893/ (1.8.2016). Julius H. Schoeps und Susanne Hantke, deren 41 Im DEFA-Film weint das Kind am lächeln­ Statement die ARD aber nicht auf ihrer Home­ den Leichnam seines letzten Retters, des »alten page präsentiert hat. http://www.daserste.de/ Mannes«, der in der Stunde der Befreiung vor Unterhaltung/ film/themenabend-nackt-unter- Freude tanzte - und starb. Drehbuch-Autor woelfen/film/gutachter-experten-100. html Bruno Apitz hatte diese Figur für den Film er­ 37 Eines dieser Spiegelbilder der sich staunend funden und selbst gespielt. selbst betrachtenden Männer gleicht auffällig der 42 http://zentralrat.sintiundroma.de/nackt-unter- Physiognomie von James Woods, dem Darsteller woelfen-zentralrat-deutscher-sinti-und-roma- von Karl Weiss in der legendären TV-Mini-Serie erhebt-schwere-vorwuerfe-gegen-die-ard-2/ Holocaust (1978). Die Filmfigur Weiss ist zeit­ ( 1.8 .2016) weilig in Buchenwald interniert. Die Besetzung 43 Ich danke Harry Stein (Kustos der Gedenkstät­ dieses Komparsen ist vermutlich nicht Zufall, te Buchenwald) für Gespräche und Einsicht in sondern Zitat-Gruß von Regisseur Kadelbach an die relevanten Archivunterlagen. die amerikanische Holocaust-Filmwelt. 44 So Stefan Kolditz bei einer Podiumsdiskussion 38 Die Farbaufnahmen vom 18.4.1945 hat sehr in Weimar mit Romani Rose, Hermann G. Ab­ wahrscheinlich der Militärfotograf Ardean R. Mil­ mayr und dem Autor am 20.10.2015. Undenk­ ler gemacht, vgl. das online-Fotoarchiv der Ge­ bar war es wohl auch, weil die ARD dann den denkstätte Buchenwald: http://www.fotoarchiv. (Marken-)Titel »Nackt unter Wölfen« nicht buchenwald.de. mehr hätte rechtfertigen können. Ein »inspi­ 39 Unter den Teppich kehren? Gespräch mit red by true events« wäre vermutlich die klüge­ Nico Hofmann und Volkhard Knigge im re Grundlage für ein wirklich frei gestaltbares, Chrismon-Magazin vom Mai 2015: https:// souveränes, selbstreflektiertes Kinoerzählen mit chrismon.evangelisch.de/artikel/2015/unter- historischem Bezug. Die unmittelbar nach der den-teppich-kehren-31075 (1.8.2016) ARD-Premiere am 1. April 2015 ausgestrahl­ 40 Dieser Film über fünf Freunde im Zweiten te Dokumentation Buchenwald - Heldenmy­ Weltkrieg führt handwerklich durchaus ein­ thos und Lagerwirklichkeit des M DR unterließ drucksvoll einen tragisch inszenierten deutschen es ebenfalls, über die Details der Rettung der Opfergang vor Augen. Polnische Partisanen zwölf Kinder und den Tod der vielen ande­ sind so antisemitisch dargestellt wie Natio­ ren präzis aufzuklären — die Doku wollte das nalsozialisten, und eine deutsche Nicht-Jüdin System Buchenwald korrekt betrachten, nicht liebt einen deutschen Juden, wird vom bösen Einzelschicksale, hieß es in einer Erklärung des Nazi vergewaltigt und stirbt den Märtyrertod, MDR. Nach Petra Sorge, Die ARD und der während ihr Freund, der Jude, überlebt. Die­ vergessene Sinto-Junge aus Buchenwald, in: ses TV-Event offenbarte die noch stets enorme Cicero vom 2.4.215, online unter: http://www. gesellschaftliche und familiale Abwehrenergie, cicero.de/salon/willy-blum-der-vergessene-sinto- die es vielen Deutschen nicht erlaubt, sich die junge-aus-buchenwald/59076 (18.8.2016) (Ur-)Großväter und -mütter anders als tragisch 45 Mit Dank an Daniel Schuch für den Hinweis: vorzustellen: als eine »fröhliche, lebenshungri­ https://www. youtube. com/watch?v=FqwAv- ge, unpolitische Generation [...], die durch den AQHAO (1.12.2015, das Video ist inzwischen Krieg verroht und letztlich sein Opfer wurde«. entfernt worden). (Herbert) Zur Kritik siehe u.a. Jan Süselbeck, Fünf Freunde. Nico Hofmann hat es wieder ge­ tan: Die ZDF-Serie Unsere Mütter, unserer Väter setzt neue Maßstäbe in der massenmedialen Verharmlosung deutscher Schuld im Zweiten Weltkrieg, in: http://www.literaturkritik.de/ public/rezension.php?rez_id= 17761 und Ul­ Copyright of Werkstatt Geschichte is the property of Klartext Verlagsgesellschaft mbH and its content may not be copied or emailed to multiple sites or posted to a listserv without the copyright holder's express written permission. However, users may print, download, or email articles for individual use.