Das Kind Im Koffer
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Szene aus MDR-Produktion „Nackt unter Wölfen“ Buchenwald-Überlebende Apitz, Stefan Jerzy Zweig 1964, Szene aus DDR-Film „Nackt unter Wölfen“ 1962: Tapfere Antifaschisten besiegen Nazi-Schergen Das Kind im Koffer Fernsehen Mit einer Neuverfilmung des DDR-Bestsellers „Nackt unter Wölfen“ erinnert die ARD an die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald vor 70 Jahren. Die Geschichte wird ideologisch entrümpelt, aber die ganze Wahrheit wird noch immer nicht erzählt. Von Martin Doerry m 11. April 1945 überfliegen ame - Unter den Gefangenen aus den Reihen Mann, der sich ihnen in den Weg stellt. rikanische Artillerie-Aufklärer das des kommunistischen Untergrunds gibt es Schließlich kommen aus der Lautsprecher - AKonzentrationslager Buchenwald, nun kein Halten mehr. Hunderte stürmen anlage des KZs die erlösenden Worte eines in der Ferne sind Panzermotoren zu hö - aus ihren Baracken auf das Tor und die Häftlings: „Wir sind frei!“ Jubel bricht aus, ren. Unter den SS-Leuten bricht Panik Wachtürme des KZs zu. Mit Gewehren glücklich fallen sich die ausgemergelten aus. Einige flüchten, andere wollen noch und Handgranaten, die sie für diesen Tag Gestalten in die Arme. schnell sämtliche Häftlinge des Lagers versteckt haben, überwältigen die Kämp - Mit diesen triumphierenden Bildern erschießen. fer ihre Bewacher, sie töten jeden SS- endet einer der bekanntesten DDR-Filme, 136 DER SPIEGEL 79 / 867: Kultur „Nackt unter Wölfen“, 1962 von Frank hener Wissenschaftler wie Julius H. Schoeps die die moralische Integrität seiner Mithäft - Beyer gedreht, nach der Vorlage des gleich - oder David A. Hackett geholt. linge beweisen sollte: Ein Transport aus namigen Buchs von Bruno Apitz, des mit In Buchenwald waren zwischen 1937 Auschwitz bringt im Frühjahr 1945 einen etwa zwei Millionen verkauften Exempla - und 1945 etwa 250 000 Menschen inhaftiert, dreijährigen jüdischen Jungen nach Bu - ren populärsten Romans der DDR. „Nackt die meisten mussten in den umliegenden chenwald. Das Kind ist in einem Koffer unter Wölfen“ schuf so etwas wie den Fabriken und Steinbrüchen arbeiten; etwa versteckt und wird sogleich, ohne dass es Gründungsmythos des einzigen sozialis - 56 000 wurden umgebracht, darunter fast die Nazis mitbekommen, von den kommu - tischen Staates auf deutschem Boden: Tap - 12 000 Juden und Tausende russische nistischen Kapos in ihre Obhut übernom - fere Antifaschisten besiegen die Nazi- Kriegsgefangene. Am Tag der Befreiung men. Die Männer versorgen den Jungen, Schergen und machen den Weg frei für lebten noch 21 000 Häftlinge im Lager, un - sie spielen mit ihm, aber, so entscheidet eine gerechte Gesellschaft. ter ihnen auch Bruno Apitz, der Autor von der Führer des militärischen Widerstands, Jetzt, 53 Jahre danach, wird das Lager „Nackt unter Wölfen“. sie dürfen ihn nicht behalten. Der Junge auf dem Ettersberg bei Weimar ein weite - Apitz (1900 bis 1979) hatte allerdings soll mit dem nächsten Transport in ein an - res Mal im Film befreit. Regisseur Philipp die letzten Tage in einem Versteck in der deres Lager abgeschoben werden, um den Kadelbach und Drehbuchautor Stefan Kol - Kanalisation verbracht und die Flucht der geplanten Aufstand gegen die Nazis nicht ditz haben „Nackt unter Wölfen“ mit ei - Nazis gar nicht mitbekommen. Als er zu gefährden – das Todesurteil für das Kind. nem Fünf-Millionen-Etat für den MDR Nun kommt es zur großen Katharsis. Zu - und das Hauptabendprogramm der ARD Die Häftlinge zahlen einen erst wehrt sich ein Häftling, dann sind es in Szene gesetzt*. Wieder brechen wenige zwei, dann drei: Keiner will den Jungen Wochen vor Kriegsende Chaos und Hektik hohen Preis für ihre herausrücken. Wenn wir das Kind opfern, unter den Bewachern von Buchenwald aus, Menschlichkeit, sie werden so sagt schließlich einer der Männer, op - wieder holen die Häftlinge ihre Waffen fern wir alles. Mit anderen Worten: Eine aus den Verstecken in den Baracken, wie - wochenlang gefoltert. Revolution darf ihre eigenen Maßstäbe der wollen sie auf die Wachposten losstür - nicht verraten. men. Doch ihre Anführer sind klug genug, schließlich nach oben kletterte, so berich - Manche Kritiker haben in der Darstel - um den Aufstand im letzten Moment ab - tet die Historikerin Susanne Hantke, sei lung dieses Widerstands gegen den Aus - zublasen: Es fehlt an Gewehren und Mu - der Spuk schon vorbei gewesen. lieferungsbefehl später einen stillen Protest nition, um es mit mehr als tausend SS-Leu - Apitz zählte zum Umfeld, aber nicht zur gegen den Kadavergehorsam des Stalinis - ten aufzunehmen. Führung des gut organisierten kommunis - mus gesehen. Doch Apitz war ein Idealist Stattdessen kommt wenig später aus den tischen Widerstands in Buchenwald. Die und glaubte noch an die Versöhnung von Lautsprechern die Stimme eines SS-Offi - SS hatte die Organisation des Lageralltags Parteidisziplin und Humanität. ziers: „Das Lager wird aufgegeben, wir in die Hände einer Selbstverwaltung der Er lässt die Häftlinge allerdings einen treten den Rückzug an.“ Die Bewacher Häftlinge gelegt, die seit 1943 von den Ka - hohen Preis für ihre Menschlichkeit zahlen, machen sich also aus dem Staub, aus Angst dern eines geheimen „Internationalen La - denn die Nazis erfahren natürlich, dass vor den anrückenden Amerikanern stür - gerkomitees“ unterwandert war. Die mehr ein kleiner Junge versteckt worden ist. zen sie in ihre Autos oder verschwinden als 200 Kapos verfügten über erhebliche Die Männer werden wochenlang gefoltert, zu Fuß in den Wäldern. Die plötzlich von Privilegien, waren ordentlich gekleidet doch niemand verrät das Kind und die Na - ihren Peinigern verlassenen Gefangenen und ausreichend ernährt. Und sie wurden men der Mitglieder des kommunistischen stolpern verwirrt und erschöpft über den zuweilen zu Herren über Leben und Tod, Widerstands. Wer so standhaft ist, der siegt Appellplatz des Lagers. Kein Jubel, kein etwa wenn sie die Namen von Genossen militärisch und moralisch zugleich. Siegesrausch. aus den Listen jener Häftlinge streichen Mit einer solchen Botschaft konnte das Eine nicht ganz so heldenhafte, aber da - durften, die nach Auschwitz oder Bergen- Ulbricht-Regime in Ostberlin gut leben, für eine wahre Geschichte. Der ideologisch Belsen deportiert werden sollten. zumal die Konkurrenten aus Buchenwald imprägnierte Schluss dieses Romans, der Der ehemalige Buchenwald-Häftling Jor - bei Erscheinen des Buchs 1958 längst aus - Generationen von DDR-Bürgern als Schul - ge Semprún hat die Kollaboration stets gebootet waren. Apitz’ Buch wurde in der ) . R lektüre verordnet wurde, war weitgehend verteidigt. Nur so habe man die Schlüssel - DDR sofort zum Bestseller und der Autor . U ( erfunden. Historisch Interessierte wissen stellungen in der Lagerhierarchie einneh - bald mit Ehrungen überhäuft. Auch die T R U F das schon lange, nun aber wird die für men und damit zum Beispiel die „Verlang - Verfilmung durch Frank Beyer 1962, mit K N A R DDR-Nostalgiker bittere Kunde bis in die samung und, punktuell, die Sabotage der Stars wie Armin Mueller-Stahl oder Erwin F , T U letzten Wohnzimmer zwischen Chemnitz Rüstungsproduktion“ organisieren können. Geschonneck, mehrte den Ruhm von T I T S und Rostock ausgestrahlt. Dennoch wurde die Verstrickung der „Nackt unter Wölfen“. N I M L I Ufa-Produzent Nico Hofmann, der mit „roten Kapos“ in das Terrorsystem der SS Beyer hatte ganz bewusst in Schwarz- F . T D dem Team Kadelbach/Kolditz bereits die schon kurz nach Kriegsende zum Politi - Weiß und mit eher leisen Tönen gedreht, / A F erfolgreiche Trilogie „Unsere Mütter, un - kum. Die Moskauer Exilkommunisten um der psychologisch so spannende Konflikt E D ; ) . sere Väter“ gedreht hat, spricht von einer Walter Ulbricht sahen in den durch die um das Schicksal des kleinen Jungen L . U ( notwendigen Korrektur. Um die „in Jahr - Lagerhaft gestählten Genossen vor allem nimmt große Teile der Filmhandlung ein, D L I B zehnten gepflegte Legendenbildung“ zu Rivalen um die Macht in Ostberlin und der brutale Alltag des Lagers findet nur in N I E T konterkarieren, weiche sein Film im ent - desavouierten sie nach Kräften. Mit einer Andeutungen statt, richtig Krawall gibt es S L L U scheidenden Moment von der literarischen Reihe von Parteitribunalen wurden die in der Defa-Produktion erst am Schluss, ; ) . O ( Vorlage und der ersten Verfilmung ab. Hof - Exhäftlinge aus dem Weg geräumt, zwei bei der Befreiung. D P E mann hat sich dafür den Beistand angese- landeten sogar im Gulag. Das Team um TV-Regisseur Philipp Ka - / N O Als sich Bruno Apitz Mitte der Fünfzi - delbach wählt für seinen neuen Film dage - I T C I F gerjahre an die Niederschrift von „Nackt gen von Anfang an die laute Variante. * Sendetermin: 1. April, 20.15 Uhr, Das Erste. Im An - A F U schluss um 22 Uhr die Dokumentation „Buchenwald. unter Wölfen“ machte, ging es ihm auch Schon in der ersten Szene, bei der Ankunft / R Heldenmythos und Lagerwirklichkeit“. 2012 erschien im D um eine Ehrenrettung der Leidensgefähr - der Protagonisten in Buchenwald, wird fast M Aufbau Verlag eine erweiterte Neuausgabe des Romans : S ten aus Buchenwald. Und zu diesem Zweck ununterbrochen geschrien. „Ihr seid ehrlos, O „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz mit einem Nach - T O F wort von Susanne Hantke. entwickelte er eine anrührende Geschichte, wehrlos, rechtlos“, brüllt ein SS-Mann die DER SPIEGEL 79 / 867: 137 Nicht im Frühjahr 1945, sondern schon im August 1944 traf der dreijährige Stefan Jerzy Zweig zusammen mit 2000 weiteren jüdischen Häftlingen in Buchenwald ein – so hat es der britische Historiker Bill Niven vor einigen Jahren herausgefunden. Das Erscheinen des Jungen, barfuß und an der Hand seines Vaters, des Anwalts Zacharias Zweig, löste demnach unter den SS-Leuten zunächst große Aufregung aus; es gab Kin - der und Jugendliche im Lager, aber Stefan war mit Abstand der Jüngste. Der kleine Junge bekam die Häftlings - nummer 67509 und wurde für die kommu - nistischen Kapos zu einer Art Maskottchen. Die SS freilich wollte den Jungen so schnell wie möglich wieder loswerden und nach Auschwitz bringen. Hier nun traten offenbar die Kapos auf den Plan, sie stri - chen Stefan von der Liste – und setzten ei - nen anderen Namen an seine Stelle, den des 16-jährigen Sinto-Jungen Willy Blum, der tatsächlich in den Tod geschickt wurde.