„Da liegt sie, diese Bestie“ Zeitgeschichte Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Ein überlebensgroßes Datum: Geschichte und Gericht, Untergang und Befreiung, Katastrophe und Leid, Glück und Unglück. Die Sonne schien, aber die Freiheit war kaum zu spüren. Von Gerhard Spörl

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er 8. Mai 1945 ist ein Dienstag. Die Sonne scheint im Deutschen Reich, Ddie Natur hat einen friedlichen Tag spendiert. Doch im Licht des Frühlings sehen die Städte noch trostloser aus. Ham - burg und , Bremen und Dresden, Pforzheim und Würzburg sind kokelnde Trümmerlandschaften, in denen die Be - wohner herumirren wie Gespenster. Die Toten liegen in Parkanlagen, am Straßen - rand, auf den Bürgersteigen. An Laternen hängen ein paar frisch Gehängte, hinge - richtet, als das NS-Regime noch zuckte. Die Sonne scheint, aber es ist still. Dem Schriftsteller Carl Zuckmayer wird es erst später auffallen, aber als er aus dem Exil zurückkehrt nach Berlin, fühlt er sich im - mer noch wie der einzige Überlebende zwischen stummen Häuserfratzen. Er hört klappernde Holzsohlen, sie gehören zu einem kleinen Jungen, der einen Leiter - wagen über das aufgerissene Kopfstein - pflaster zieht. Danach wieder Stille. Das Einzige, was Zuckmayer wahrnimmt, ist sein eigener Atem. Soldaten aus Großbritannien, der Sowjet - union und den USA inspizieren in ihren Panzern und Jeeps das, was übrig geblie - ben ist vom „Dritten Reich“. „Als ich die vorbeihuschenden Ruinen sehe, die ein- samen Gestalten der Einwohner, denke ich, dass man sich schwerlich ein bedrü - ckenderes Bild vorstellen kann“, schreibt ein sowjetischer Kriegsberichterstatter nach einer Fahrt durch Berlin. Hitler ist tot, seit acht Tagen, Nazi- Deutschland löst sich auf. Heinrich Himm - ler tauscht auf einem Bauernhof nahe Flensburg seine SS-Uniform gegen die eines Unterscharführers der Geheimen Feldpolizei. Sein Oberlippenbärtchen hat er abrasiert, in seinen gefälschten Papieren steht, dass er nun Heinrich Hitzinger heißt. Der Organisator des Massenmords an den Juden hat sich in den äußersten Norden des Landes abgesetzt, zusammen mit vie - len seiner SS- und Polizei-Offiziere. Dabei sind auch der Auschwitz-Kommandant Ru - dolf Höß, Rüstungsminister Albert Speer, SS-Einsatzgruppenführer Otto Ohlendorf und Hitlers Germanisierungs-Philosoph Alfred Rosenberg. Sie wollen nicht abwarten, bis sie gefan - T S R

O gen genommen werden. Einige versuchen, H S L

R über die grüne Grenze nach Dänemark zu A K -

N entkommen, über die „Rattenlinie Nord“. I L R

E Nach fünf Jahren, acht Monaten und B

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U sieben Tagen endet der Zweite Weltkrieg E S U in Europa mit der deutschen Kapitulation. M

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I 60 Millionen Menschen sind gestorben, Sol - N L E daten wie Zivilisten. Sechs Millionen sind M

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: in den Konzentrations- und Vernichtungs - O T O

F lagern ermordet worden. Auf den Land -

Zerstörtes Danzig im April 1945 Nur fort, Richtung Westen

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straßen sind zehn Millionen Menschen, viel - damit ganz unterschiedliche Erfahrungen“ des Friedens weder Glück noch Freude leicht mehr, vielleicht weniger, unterwegs, zurückdenken. empfinden kann. Der Tag, an dem der Häftlinge in den gestreiften Anzügen der Ein Jahrhunderttag für die Deutschen. Schriftsteller Ernst Jünger morgens den Konzentrationslager, Stadtbewohner aus ih - Er lässt sich erzählen, weil es historisches Kuckuck in den Moorwäldern hört, sich ren zerbombten Wohnungen, Heimkehrer Material gibt. Tagebücher, Dokumente über die Triebkräfte seiner Weinstöcke und Flüchtlinge aus dem Osten, Zwangs - und Verhörprotokolle, Memoiren und Mo - freut und um seinen Sohn trauert. Der Tag, arbeiter aus Polen, der Sowjetunion, Frank - nografien. Material über die Täter, über an dem Hermann Göring in Schloss Fisch - reich oder Italien. Auf der Suche nach Ver - die führenden Nazis, die SS-Massenmör - horn davon träumt, dass er Deutschland wandten, nach Überlebenden, nach dem der, die Wehrmachtgeneräle. Material über den Frieden bringt. Zuhause. Auf der Flucht vor russischen Sol - die Opfer, über die politisch und rassistisch Und es ist auch der Tag, an dem der Ge - daten. Oder vor ihrer Vergangenheit. Verfolgten des Regimes. Material über be - neraladmiral Hans-Georg von Friedeburg In Brod, im Reichsprotektorat Böhmen rühmte Schriftsteller und Schauspieler, von im Hauptquartier der 5. sowjetischen Stoß - und Mähren, startet der Jagdflieger Major denen manche mitmachten und andere armee mit seiner Unterschrift das Ende in seiner ME 109 G zu sei - nicht. des „Dritten Reichs“ besiegelt. nem 1405. Feindflug und holt in seinem Es ist der Tag, an dem der gerade zum 352. Abschuss dieses Krieges ein sowje - Oberbürgermeister von Köln ernannte tisches Jagdflugzeug vom Himmel, der Konrad Adenauer von einer Aussöhnung letzte deutsche Luftsieg in diesem Krieg. mit Frankreich und einer deutschen De - D". M**, !". Panzergeneral Dietrich von Saucken erhält mokratie unter seiner Führung träumt. Der auf Hela, einer Halbinsel in der Danziger Tag, an dem die Schauspielerin Hildegard !."&)( '-&01(&".0 Bucht, als 27. und letzter deutscher Soldat Knef ihren Geliebten aus dem russischen die zweithöchste Tapferkeitsauszeichnung Kriegsgefangenenlager herausholen möch - Hans-Georg von Friedeburg der Wehrmacht: das Eichenlaub mit Schwer - te. Der Tag, an dem Josef Kramer, der Berlin-Karlshorst tern und Brillanten zum Ritterkreuz des Kommandant des KZ Bergen-Belsen, von Eisernen Kreuzes, so genau nahmen es die britischen Offizieren in Belgien verhört Jedes Land, das kapituliert, braucht eine Nazis. Auf der Kurischen Nehrung leistet wird. Der Tag, an dem sich der Exilant Regierung und jemanden, der die Kapitu - die Wehrmacht immer noch Widerstand, Thomas Mann in Los Angeles gleich zwei - lation unterschreibt. Und so sitzt an die - in Kurland erwehren sich Soldaten den mal die Lungen röntgen lässt und der Mei - sem 8. Mai 1945 Hans-Georg von Friede - Angriffen russischer Kräfte. Sowjetische nung ist, dass mindestens eine Million sei - burg im Auftrag von Hitlers Nachfolger Soldaten erobern Dresden. ner Deutschen wegen ihrer Taten ausge - Karl Dönitz in einer britischen Transport - In Paris jubeln Hunderttausende auf dem merzt werden müssten. Der Tag, an dem maschine auf dem Flug nach Berlin. Seit Champs-Elysées. In New York singen und der befreite KZ-Häftling Shlomo Graber sieben Tagen ist er Generaladmiral, das ist tanzen 500 000 Menschen in den Straßen. nach Görlitz läuft, halb nackt. Der Tag, an der zweithöchste Rang in der Marine, nach In London versammeln sich 200 000 vor dem in Demmin Gerhard Moldenhauer, dem Großadmiral. Friedeburg, 49 Jahre dem Buckingham Palace, die königliche ein Mitläufer wie so viele Deutsche, sich alt, kommt aus einer badischen Offiziers - Familie zeigt sich achtmal auf dem Balkon. und seine Familie schon getötet hat. Der familie, sein Vater Karl war . Winston Churchill ruft aus: „In unserer Tag, an dem Ruth Friedrich, die in Steglitz Den Sohn zog es in die Marine. Seemänner langen Geschichte haben wir niemals ei - Juden vor der Gestapo versteckt hat, trotz geben sich und ihrer Crew ein Lebens- nen großartigeren Tag erlebt.“ Und der Schriftsteller Alfred Döblin schreibt im 4 Exil in Hollywood Freunden: „Dass diese Flensburg Hela Kiel Bestie endlich daliegt, gut; aber was hat Rendsburg Rostock sie angerichtet.“ Hamburg Demmin Wilhelmshaven 70 Jahre ist das Kriegsende nun her. 2 Lüneburg Uelzen 70 Jahre brauchte es, bis ein ehemaliger Berlin SS-Mann, der 93-jährige Oskar Gröning, London Bergen-Belsen 3 der Buchhalter in Auschwitz war und dem Hannover Warschau nun in Lüneburg der späte Prozess ge - Dortmund DEUTSCHES macht wird, seine moralische Mitschuld an Köln Görlitz den Massenmorden „mit Demut und Weimar Dresden Reue“ bekennt. Und sagt: „Ich bitte um Prag Vergebung.“ REICH Brod 1 Auschwitz Der 8. Mai 1945 ist der Tag des 20. Jahr - Paris Reims hunderts, überlebensgroß und kaum be - Stuttgart greifbar. Er ist Geschichte und Gericht. Hauptquartiere: Untergang und Befreiung. Katastrophe Wien und Leid. Unglück und Glück. Das Ende 1 Amerikaner 3 Sowjets Dachau München Nyírbátor Salzburg des Bösen, das Jetzt des Ungewissen, im 2 Briten 4 Deutsche Budapest Nachhinein der Beginn der Freiheit. Es Berchtesgarden Gegen Kriegsende Zell am See sollte 40 Jahre dauern, bis Bundesprä - von deutschen Truppen sident Richard von Weizsäcker es auszu - gehaltene Gebiete sprechen wagte: Es war nicht nur ein Tag der Niederlage, sondern auch der Vormarsch der Alliierten vom 19. April Be freiung. Weizsäcker sagte damals in sei - bis 7. Mai 1945 ner Rede vor dem Bundestag auch, dass 200 km die Deutschen, die den 8. Mai bewusst Staatsgrenzen von 1937 erlebt haben, „an ganz persönliche und

48 DER SPIEGEL @C / A?@B motto, seines lautet: „Wir wissen, wer wir sind. Wir bleiben, was wir waren“. Er ist wirklich geblieben, was er von Jugend an war, ein Mann der deutschen Seefahrt. 1914 Seekadett, 1918 , 1933 Korvettenkapitän, 1939 Stabsoffizier bei Karl Dönitz, dem Kommandeur der U-Boot-Flotte, 1945 Nachfolger von Dönitz als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine. Da ist der Krieg auf den Meeren schon ver - loren. 27 000 der 41 000 deutschen U-Boot- Fahrer sind tot. Friedeburgs Welt ist untergegangen. Nichts kann so bleiben, wie es war. Und Friedeburg ist nun der Protokollant des Untergangs. Heute soll er wieder seine Unterschrift unter eine Kapitulations- urkunde setzen. Am Flughafen Tempelhof stehen Autos der Roten Armee bereit. Der deutschen De - legation gehören neben Friedeburg Gene - Unterhändler Keitel, Friedeburg (M.) in Berlin: Erschüttert über das Ausmaß der Zerstörungen ralfeldmarschall Wilhelm Keitel (Chef des Oberkommandos der Wehrmacht) und Luft - 9. Mai ist es geschafft. Die Urkunde wird Mercedes stieg und militärisch grüßte, waffen-Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff vordatiert auf den 8. Mai. General Schu - fragte ihn Montgomery behaglich, was sein an. Sie fahren hinaus nach Karlshorst, sie kow sagt: „Die deutsche Delegation kann Begehr sei. sollen sich im Offizierskasino der Pionier - den Saal verlassen.“ Friedeburg bot an, dass drei deutsche schule einfinden. Am Reichstag weht die Friedeburg fährt zurück nach Flensburg, Armeen zwischen Berlin und Rostock rote Fahne, die Reichskanzlei ist eine Trüm - um dem Reichspräsidenten Dönitz Bericht kapitulieren. Montgomery verlangte, dass merhalde, kaum ein Mensch ist auf den zu erstatten. Dort sitzt die Regierung im alle deutschen Truppen in Nordwest - Straßen zu sehen. Keitel staunt, Keitel er - Stadtteil Mürwik in der Marineschule, deutschland, Schleswig-Holstein, Däne - kennt sein Berlin nicht mehr. Er sagt hin - einem mächtigen Backsteinhaus, dort tagt mark und Holland aufgeben müssten. Die terher: „Ich musste erschüttert feststellen, das Kabinett. Es geht um wichtige Dinge Verhandlungen fanden unter freiem wie stark zerstört diese Stadt ist.“ in dieser Regierung, zum Beispiel darum, Himmel statt, auch ein Zeichen der Ver - Friedeburg hat sie gekannt und ge - ob es jetzt noch angemessen sei, Heil Hit - achtung. schätzt, die Herren des „Dritten Reiches“, ler zu sagen. Abgeschafft. Friedeburg antwortete, er müsse sich zu - Goebbels und Hitler und Göring, anders Im Hafen und auf dem Bahnhof von erst mit Dönitz über die Bedingungen der wäre er nicht Generaladmiral geworden. Flensburg stauen sich Schiffe und Züge, Briten beraten. Daraufhin fuhr der Merce - Er hat auch schon darüber nachgedacht, mit denen Hunderte Häftlinge aus Sach - des zurück, Montgomery ließ alle Straßen welche Konsequenzen er ziehen sollte. Mit senhausen und Neuengamme angekom - Richtung Rendsburg für Luftangriffe sper - seiner Frau hat er darüber geredet, was men sind. Aus den Viehwaggons schreien ren. Am 4. Mai nachmittags kam der deut - für ihn persönlich Niederlage und Kapitu - sie nach Wasser. Einige Flensburger brin - sche Unterhändler wieder in die Heide. lation bedeuten. gen Wasserkrüge. Das Geschrei klingt so Montgomery lud die Presse für 17 Uhr ein. In der Mittagszeit kommen sie in Karls - unmenschlich, dass man es mit der Angst Um 18.30 Uhr las Montgomery das horst an. Die drei Deutschen werden in zu tun bekommt. Schriftstück über die bedingungslose Teil - ein Nebengebäude gebracht. In den nächs - Von Hitler hat Dönitz den Befehl emp - kapitulation der deutschen Wehrmacht ten Stunden fehlt es ihnen an nichts. Aber fangen, den totalen Krieg bis zur totalen über zwei Mikrofone der BBC vor. man hält sie hin. Im russischen Text fehlen Niederlage weiterzuführen. Ein sinnloser Sofort machte sich Friedeburg auf den einige Zeilen, Briten und Amerikaner Auftrag, das weiß bald auch Dönitz und Weg nach Reims zur zweiten Kapitulation. haben kleinere Änderungswünsche, die macht Friedeburg zum Handlungsreisen - Wieder begannen die Verhandlungen Übersetzungen müssen immer wieder den für die Kapitulation. schlep pend. Amerikanische Offiziere leg - einander angeglichen werden. Zur ersten ist Hans-Georg von Friede - ten Friedeburg einen Bericht über Bergen- Um Mitternacht endlich werden die burg in einem leicht lädierten Mercedes am Belsen vor, über die furchtbaren Leichen - Deutschen durch eine Seitentür in den 3. Mai frühmorgens in die Lüneburger Hei - berge, die ausgemergelten Überlebenden. Speisesaal des Offizierskasinos geführt. de aufgebrochen, vorbei an Menschenzü - Er geriet in Zorn. Er wollte nicht glauben, Die alliierten Offiziere, in der Mitte Mar - gen auf Fahrrädern oder Pferden, das we - was er zu hören bekam, und fühlte sich in schall Georgij Schukow, sitzen an einem nige Gepäck auf dem Rücken oder in Hand - seiner deutschen Offiziersehre beschmutzt. langen Tisch. Für die Deutschen sind drei wagen gestapelt. Frauen, Kinder, Greise, Friedeburg wollte erneut auf eine Teilka - Plätze an einem kleinen Extratisch vorge - kaum jüngere Männer. Bei Quickborn pas - pitulation dringen, damit möglichst viele sehen. Keitel, das Monokel im linken Auge, sierte der Mercedes die britischen Linien. Soldaten und Zivilisten aus dem Osten nach schmettert seinen Marschallstab auf den Der Hamburger Osten war ein einziges Feu - Westen fliehen können. Aber auch die Tisch. Friedeburg schaut niedergeschlagen ermal, die alliierten Bomber haben die Ar - Amerikaner ließen sich nicht auf Verhand - vor sich hin. Schukow fragt, ob sie den Ka - beiterviertel in Asche verwandelt. lungen ein. Die Deutschen unterschrieben

D pitulationsvertrag gelesen hätten. Auf dem Timeloberg bei Wendisch die Gesamtkapitulation der Wehrmacht. L I B

N Fotografen springen vor, drängen das Evern ließ der britische General Bernard Der Zeitpunkt wurde handschriftlich auf I E T S

L Gefolge um die Generäle weg und knipsen Montgomery schnell noch den Union Jack 23.01 Uhr am 8. Mai festgesetzt. L U

: wie wild, als die Deutschen und die Al - in der Nähe seines Wohnwagens hochzie - Mit der letzten Unterschrift in den ers - O T O

F liierten unterschreiben. Um 0.16 Uhr am hen. Als Friedeburg um 11.30 Uhr aus dem ten Minuten des 9. Mai hat die geschäfts -

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führende Reichsregierung in Flensburg ihre und sagte „Meine Herren“ und dass sie köpfige Fratze eines lebenden Toten. Er Aufgabe erfüllt. Sie wird noch bis zum frei seien und ihre Nummern abreißen war so schwach, dass er keine Eisenplatten 23. Mai amtieren, dann übernimmt eine dürften. mehr schleppen konnte. Er war unnütz. britische Einheit die Marineschule Mürwik. Sie tanzten und umarmten sich. Aus der Wer weniger als 30 Kilogramm wog, sollte Dönitz und Friedeburg sind nunmehr Unterkunft der Wachmannschaft holten ermordet werden. Kriegsgefangene. Sie dürfen ein paar per - sie sich Schuhe, aus der Küche schleppten Ein Oberfeldwebel hatte Mitleid. Gra - sönliche Sachen packen, bevor sie ins La - sie Öfen auf den Vorplatz, aus dem Vor - ber durfte in der Küche arbeiten. Der ger gebracht werden. Keine Eile. Friede - ratsraum trugen sie Konserven, Flaschen Koch hieß Salzer und stammte aus Košice burg bittet darum, den Waschraum auf- und Fleisch heraus, und dann fingen sie in der Slowakei. Er sprach Ungarisch mit suchen zu dürfen. an, ein richtiges Essen zu kochen. Shlomo und sagte ihm, wenn jemand ihn Die Zeit vergeht, die Soldaten rauchen Aber was geht draußen vor sich? Sie frage, solle er antworten, er sei Ungar und vor der Marineschule und werden unruhig. hocken in der Ziegelfabrik, es kön nen ja Koch. Sie finden den sterbenden Hans-Georg wieder Bomben fallen. Einer von ihnen Shlomo Graber kommt aus Nyírbátor, von Friedeburg in einer Toilettenkabine, klettert im Schornstein hoch und schreit einer Stadt im Nordosten Ungarns nahe die Augen weit aufgerissen. Er hat auf eine herunter: „Die Russen sind vor den Toren.“ der rumänischen Grenze. Seine Eltern ha - Zyankali-Kapsel gebissen. Jetzt sind sie wirklich frei. Sie ziehen ben ihn orthodox erzogen, sie sind „Fröm - ihre Sträflingskleidung aus, werfen sie ins mige“, mit ihren Kindern sprechen sie Jid - Feuer und tanzen halb nackt darum herum. disch. Die Grabers haben fast überall Ver - Dann brechen sie nach Görlitz auf, eine wandte in diesem großen osteuropäischen D&" F."&%"&0 &/0 Prozession von 800 ausgemergelten, halb Raum. nackten Menschen, ein Freudenmarsch. Es Am 25. Mai 1944 wurden die Grabers in "&* K.*"3( ist der 8. Mai. einen Viehwaggon gesteckt. Tag für Tag Die Brücken über die Neiße haben die fuhren Züge mit je 3000 bis 3500 Menschen Shlomo Graber Deutschen gesprengt. Die meisten Häuser aus der Region ab. In jedem Waggon stan - Görlitz sind leer. Die Halbnackten besorgen sich den zwei Eimer, einer mit Wasser, einer Jacken und Hemden und Hosen und Stri - für die Notdurft. Alle Züge fuhren nach In der Ferne hören sie Stoßfeuer, wahr - cke, um die Hosen festzuzurren. Ein paar Auschwitz. scheinlich Deutsche. Ein sowjetisches Flug - Frauen und Männer tragen Hüte, die über In Auschwitz sah Shlomo, dass der SS- zeug taucht über dem Lager auf und klinkt die Ohren fallen. Sie sehen aus wie kostü - Arzt an der Rampe, das Monokel im rech - eine Bombe aus. Von der Druckwelle wird miert. Die Freiheit ist ein Karneval. ten Auge, wie ein Dirigent mit einem klei - Shlomo Graber zu Boden geschleudert, Shlomo und sein Vater ziehen in ein leer nen Stöckchen die Menschen aus dem Zug rappelt sich hoch und rennt in die Ziegel - stehendes Haus ein. Die Besetzer halten entweder nach rechts oder links winkte. fabrik. Die Rote Armee hält das Arbeits - es für wunderschön und groß. Die nächs - Für seinen Vater und ihn zeigte das Stöck - lager Görlitz für einen militärischen Stütz - ten Tage streifen sie durch das menschen - chen nach links. Seine Mutter, seine Groß - punkt der Deutschen. leere Görlitz. Shlomo findet es seltsam, mutter, seine jüngeren Geschwister Levy, Eigentlich sind Shlomo Graber, sein Va - dass sein Vater in Wohnungen eindringt Itzhak, Bernard und Leah mussten nach ter Mozes und die anderen Häftlinge schon und Schmuck und Fahrräder und Bettzeug rechts. Die Männer hinter ihm stießen ihn seit ein paar Tagen nicht mehr Arbeitsskla - herausschleppt. Der Vater sagt, er stehle vorwärts. ven, sondern freie Menschen. Aber sie wis - nicht, er konfisziere nur. Shlomo bekam seine Häftlingsnummer sen nicht, was dort draußen los ist, wer Shlomo Graber ist 18 Jahre alt. Er hat auf Stoffstreifen, ein Streifen links über auf wen schießt, wer Görlitz beherrscht. Auschwitz überstanden und die KZ-Au - der Brust, der andere rechts über dem Sie sind jetzt die Herren hier, der Lager - ßenlager Fünfteichen und Görlitz. Er hat Knie, dazu das Dreieck auf gelbem Grund führer und die Wachleute sind auf und da - Glück gehabt, er war eigentlich tot. als Zeichen, dass er ein Jude war. Die von, aber sie bleiben, wo sie sind, das ist Es ist noch nicht lange her, da sah Shlo - SS-Männer trugen Pistolen und Peitschen, sicherer. mo in einer Pfütze sein Gesicht, die kahl - die Kapos Schlagstöcke. Manchmal muss - Es war Shlomo, der als Erster hörte, dass ten sie sich auf dem Appellplatz im sie frei sind. Wie immer brachte er dem Schlamm rollen oder Kniebeugen machen SS-Oberscharführer Winfried Zunker das oder tanzen, bis sie umfielen. Graber und Frühstück, da platzte ein Soldat herein, sein Vater durften Postkarten schreiben hielt die Zeitung mit der fetten Schlagzeile an den Rest der Familie, vielleicht lebten hoch, dass der Führer Adolf Hitler im hel - sie noch, irgendwo in einem anderen denhaften Kampf gefallen sei, und stam - Lager. Ende 1944 kamen Shlomo Gra - melte: „Ich überbringe die Weisung, dass ber und sein Vater aus Fünfteichen nach alle Häftlinge freizulassen sind.“ Görlitz. Graber ließ das Frühstückstablett fallen Shlomo beschäftigen die immer gleichen und rannte auf den Vorplatz: „Wir sind Fragen: Warum gibt es keinen Gott? Wä - frei, wir sind frei!“ Ein paar Frauen hörten ren wir sonst hier? ihn zuerst und zeigten ihm den Vogel. Er In Görlitz hält der gesetzlose Freiheits - hastete weiter ins Männerlager, sein Vater taumel fast drei Wochen lang an. Dann und die anderen starrten ihn an, den Irren tauchen jüdische Offiziere der Roten Ar - mit der japsenden Stimme. mee auf. Sie berichten über die Gaskam - Dann kam über Lautsprecher der Befehl, mern und Massengräber in Auschwitz. Sie alle Häftlinge sollten sich auf dem Vorplatz erzählen, dass dort zuerst Alte, Frauen versammeln. Oberscharführer Zunker, ein und Kinder vergast worden seien. Daraus gelernter Gärtner und seit August 1944 schließen Vater und Sohn Graber, dass ihre Lagerführer in Görlitz, der Außenstelle KZ-Überlebender Graber 1948 Familie tot ist, Mutter, Großmutter, Levy, des KZ Groß-Rosen, war plötzlich jovial „Warum gibt es keinen Gott?“ Itzhak, Bernard und Leah.

50 DER SPIEGEL @C / A?@B Shlomo Graber und sein Vater Mozes machen sich schließlich auf den Weg zu - rück nach Hause, nach Ny írb átor in Un - garn, mit dem Zug quer durch Osteuropa. Von 89 Familienmitgliedern haben nur er und sein Vater überlebt. Shlomo Graber emigriert 1948 nach Israel. Er lebt heute in Basel. Seine Erinnerungen erscheinen nächste Woche als Buch*.

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Josef Kramer Diest (Belgien)

Josef Kramer sitzt an diesem 8. Mai in einem Gefängnis in der belgischen Klein - Häftling Kramer, britischer Bewacher 1945: Was ist so jemand – ein Unmensch, ein Schwein? stadt Diest. Er wird von britischen Offizie - ren verhört. Er schämt sich nicht. Das ist Junge, weil er noch immer bei den Eltern nur zum Mittelbau und keineswegs zur das Unfassbare. Er ist immer noch dankbar wohnte. Elite, aber Kramer war zufrieden. dafür, dass ihm das Nazi-Regime ein Leben Jetzt ist Kramer 38 Jahre alt. Geboren In einem Brief aus der Haft schreibt er: und einen Beruf geschenkt hat und eine in München, streng katholisch erzogen. Im Dass er kein schlechter Mensch sei, könne Karriere dazu, die ihn schließlich zum Dezember 1931 trat er in die NSDAP ein, man unschwer an seiner Frau erkennen, Kommandanten des KZ Bergen-Belsen ge - ein halbes Jahr später in die SS. Im Okto - denn „sonst hätte mich unsere liebe Rosi macht hat. ber 1933 bekam er eine Arbeit beim Steuer - nie geheiratet“. Er versteht nicht, warum Als die britischen Soldaten drei Wochen amt in Augsburg, später im Standesamt. es ein Verbrechen sein soll, Befehle zu vorher, am 15. April, das Lager übernah - Seine Karriere im System der Konzentra - befolgen. men, wurde er verhaftet und ins Fleisch - tionslager begann 1934, beim SS-Hilfswerk Seiner Frau allerdings fiel auf, dass er kühlhaus gesperrt. Statt sich abzusetzen, in Dachau, wo auf dem Gelände einer mit den Jahren stiller wurde, in sich ge - hatte er mit 80 Wachmännern darauf ge - alten Munitionsfabrik ein Lager eingerich - kehrt. Als er im Mai 1944 Kommandant wartet, dass die Briten unter der Führung tet worden war, weil die Gefängnisse voll von Auschwitz-Birkenau wurde, gefiel von Hauptmann Derrick Sington kamen. waren mit verhafteten Kommunisten und ihm die Arbeit dort nicht. Er wollte weg. Man könnte sagen, wenn das nicht so ba - Sozialdemokraten. Die Lager sind das, was Er bewarb sich für Bergen-Belsen. Als der nal klingen würde, dass alles im Leben die Nazis unter Ordnung verstehen: von Krieg verloren war im Frühjahr 1945, von Josef Kramer seine Ordnung haben der restlichen Welt abgetrennte Stätten dachte er nicht daran, mit seiner Frau und musste. zum Quälen und Foltern und Morden. Die den drei Kindern zu fliehen. Er blieb, er Die britischen Soldaten waren fassungs - wurden nun seine Welt, sein Leben. Er hatte im Chaos dieser Tage die Ordnung los. Die Leichenberge im Lager hatten sie zog zu Hause aus, heiratete und wurde verloren. aus der Entfernung für Holzstapel gehal - bald Vater. Nach den Verhören wird Kramer in ten. Kramer und seine Leute mussten die Die britischen Soldaten haben ihn in Lüneburg der Prozess gemacht, es ist der Leichen begraben. Es gibt Fotos, die sie Bergen-Belsen nach seiner Verhaftung fo - erste Kriegsverbrecherprozess nach dem zeigen, in einer Grube, in einem Meer von tografiert. Die Bilder zeigen einen gefass - Zweiten Weltkrieg. Am 13. Dezember 1945 Leichen. ten Mann mit Fußfesseln und in Socken. wird er in Hameln hingerichtet. Kramer beantwortet in den Verhören be - Begriffe für Menschen wie Kramer fehlen reitwillig alle Fragen. Er schämt sich wirk - auch 70 Jahre später. Ein Unmensch, ein lich nicht. Er habe Befehle erhalten und Schwein, ein Kommunistenhasser, ein Ju - ausgeführt. Er gibt umstandslos zu, dass er denhasser. Bald nach seiner Anstellung in A(("/ &/0, im KZ Natzweiler dafür sorgte, dass 86 Ju - Dachau begann eine Reise durch die Kon - den vergast wurden, nicht aus Niedertracht zentrationslager des „Dritten Reichs“: 1935 4&" "/ 4. oder Mordlust, sondern weil die Reichs - kam er nach Esterwegen, wo er in der Ver - universität Straßburg die Skelette für For - waltung arbeitete. Ab 1937 war er in der Thomas Mann schungszwecke brauchte. Josef Kramer sagt Poststelle des KZ Sachsenhausen. 1938 Los Angeles auch: „Ich habe nichts gefühlt.“ wurde er im Lager Mauthausen stellver - Lange erzählt Kramer von sich, von sei - tretender Kommandant. Der 8. Mai ist für Thomas Mann ein au - nem sinnlosen Leben vor Hitler, von den Kramer arbeitete sich langsam hoch. In ßergewöhnlicher und ermüdender Tag. versäumten Jahren nach der Elektriker - Auschwitz wurde er Adjutant von Rudolf Zweimal muss er ins Krankenhaus. Die lehre, als er arbeitslos war, acht Jahre lang, Höß, in Dachau bald zum Schutzhaft- Ärzte lassen ihn etwas Wismut trinken, und sich als Hausierer durchschlug. Als lagerführer geschult. Und er war stolz, als ein Kontrastmittel, er muss das weiße Hitler Reichskanzler wurde, war er 26 Jah - er im KZ Natzweiler in den Vogesen sein Hemd mit Rückenverschluss anziehen, sei - re alt und kam sich vor wie ein kleiner erstes Lager übernehmen durfte. Er war ne Lunge wird durchleuchtet. Die Lunge

G nun SS-Hauptsturmführer. Das war kein ist seine Schwachstelle, das Nikotin. Katia, K A

: rasend schneller Aufstieg, und KZ-Kom - seine Frau, umsorgt ihn, Erika, die Tochter, O * Shlomo Graber: „Denn Liebe ist stärker als Hass“. T O

F Riverfield Verlag, Basel; 400 Seiten; 29,90 Euro. mandanten gehören innerhalb der SS auch fährt das Automobil. Als er die Untersu -

DER SPIEGEL @C / A?@B 51 chungen hinter sich hat, nimmt er ker ist, allmählich auch in einen im Wagen „etwas Wermut und Ci - Aufklärer über die Vorgänge in garette“ zu sich. Deutschland verwandelt. In Los An - Zu Hause gibt es Suppe, Koteletts geles ist aus dem deutschen und Kaffee. Später setzen sich die Romantiker, der im Ersten Welt - Manns in ihrer Villa in Pacific Pali - krieg alles, was mit westlicher Kul - sades vor den Radioapparat, um den tur verbunden war, zutiefst verach - Reden von Truman und Churchill tet hatte, so etwas wie ein demo - zu lauschen. Dazu gibt es Cham- kratischer Patriot geworden. pagner, obwohl ihm keineswegs Thomas Mann fühlt sich jetzt wie nach Überschwang zumute ist, allen - ein Amerikaner. I am an American. falls nach Genugtuung. Er schätzt Das ist seine Rolle. Hitler habe bei Churchill, weil der sich nie zu Illu - ihm, so schrieb er später, die Gefüh - sionen über Hitler hinreißen ließ. le vereinfacht: das klare Nein, den Harry Truman hat heute Geburts - klaren, tödlichen Hass. Die Jahre tag, seltsamer Zufall, er zieht an des Kampfes gegen ihn empfindet diesem 8. Mai ins Weiße Haus ein, er als moralisch gute Zeit. er ist der neue Präsident. In den letzten Kriegswochen hat Ins Tagebuch schreibt Thomas er beste Quellen in Deutschland. Mann: „Die Russen suchen weiter Sein Sohn Klaus ist Sonderkorres - vergebens nach Hitlers Leichnam.“ Schriftsteller Mann 1951 pondent der Armeezeitung „The Thomas Mann hat Deutschland „Untaten, begangen in kranker Lust“ Stars and Stripes“ und auch dabei, im Fe bruar 1933 verlassen und als der Gefangene Hermann Göring lebt jetzt in Kalifornien auf einem sende einer sogenannten deutschen Elite, in Augsburg der Weltpresse vorgeführt großzügigen, weinumrankten Anwesen im die unter dem Einfluss verrückter Lehren wird. Golo ist seit Kurzem Sergeant, er ar - Westen von Los Angeles, 1500 San Remo in kranker Lust diese Untaten begangen beitet für den Geheimdienst und kommt Drive. 485 Qua dratmeter, Garten, fünf haben“. als Presseoffizier früh nach Deutschland. Schlafzimmer. Golo und Klaus, die Söhne, Wie viele Deutsche hören ihm wohl zu, Erika wird Sonderkorrespondentin beim sind häufig da. Sie helfen dem „Zaube - der Stimme aus dem Frieden in Los An - ersten Nürnberger Prozess. Was seine Kin - rer“, so nennen sie den Vater, Reden zu geles? Und wie hören sie ihm zu – geben der ihm erzählen und schreiben, bestätigt entwerfen und Briefe zu schreiben. Im sie ihm recht? ihn: „Alles ist, wie es war.“ Wechsel mit der Mutter und Erika lesen Thomas Mann mangelt es in Amerika Einladungen trudeln ein, zuerst von der sie seine Manuskripte, kürzen sie und ma - an nichts. Er ist seit zwölf Jahren im Exil, russischen Militärkommandantur. Die chen sie druckfertig. aber Deutschland hat er mitgenommen „Hannoversche Zeitung“ schreibt Mitte Auch in Amerika ist Thomas Mann eine nach Los Angeles, es bleibt bei ihm, es Juli: „In der Tiefe unserer Not hoffen wir Berühmtheit. Er reist viel, hält Vorträge, zerrt an ihm. Er hasst die Nazis, und er ein wenig auch auf ihn.“ Wenig später er schreibt am „Doktor Faustus“. Deutsch - verachtet die Deutschen, weil sie so gut schreibt der Schriftsteller Walter von Molo land lässt ihn nicht los, aber Amerika ist wie keine Reue oder Umkehr erkennen einen offenen Brief: „Bitte, kommen Sie gut zu ihm. Er war sogar im Weißen Haus, lassen. Drei Tage vor Kriegsende hat er bald, sehen Sie in die von Gram durch - Franklin Delano Roosevelt hatte ihn und überlegt, dass jetzt wohl eine Million Deut - furchten Gesichter, sehen Sie das unsag - Katia am 13. Januar 1941 eingeladen, für sche „ausgemerzt werden müssten“. Er bare Leid. Kommen Sie bald wie ein guter zwei Tage. Er bedauerte, dass er erkältet verwarf den Gedanken jedoch wieder, weil Arzt.“ war, als der Präsident ihn zum Cocktail das nicht gehe, „ohne die Methoden der Thomas Mann schreibt Absage auf im Arbeitszimmer empfing. Für Mann ist Nazis nachzuahmen“. Absage. Er ist noch nicht so weit. Seine Roosevelt ein moderner Dompteur der Ausmerzen, das meint er wirklich so. Fremdheit nennt er das „Herzasthma des Massen, der das Gute will. Thomas Mann ist zum Wutmenschen ge - Exils“. Döblin und Zuckmayer, unter den In Deutschland kann man seine Stimme worden, ins Politische nur durch die Um - Nazis weniger verhasst, sind nach Deutsch - einmal im Monat hören. Heute Abend ist stände getrieben worden, gegen seine Na - land zurückgekehrt, als Mahner, aber rei - es wieder so weit, vor drei Tagen hat er tur und seinen Willen. Diese Verwandlung sen bald wieder ab. Am 20. September wie immer den Text bei NBC auf Schall - beschäftigt ihn. Er ist nicht so, so will er 1945 schreibt Erika aus München nach platte aufgenommen. Die wird nach New nicht sein. Hause: „Erwägt auch nicht eine Minute York geschickt und telefonisch nach Lon - Er ist tief verwundet, weil er in der Ver - lang, in dieses verlorene Land zurückzu - don übertragen. Das Thema am 8. Mai bannung leben muss. Das nimmt er Hitler kehren. Es ist einfach nicht menschen- 1945: „Die Lager“. persönlich übel. Er nennt ihn „das Vieh erkennbar.“ Wie immer beginnt er mit der Anrede: mit seinen Hysterikerpfoten“. Der Faschis - Erst im Sommer 1949 kommt Thomas „Deutsche Hörer!“ Er sagt, es tue ihm mus ist für ihn die entfesselte Lüge, das Mann nach Deutschland. Goethe hat den wohl zu wissen, „dass die überlebenden Brutale, Dumme und Niedrige. „Die 200. Geburtstag, Mann erhält den Goethe - Insassen der deutschen Konzentrations - Menschheit schaudert sich vor Deutsch - preis der Stadt Frankfurt und redet in der lager, diese erbarmungswürdigen Reste land!“, sagt er in seiner Radiobotschaft am Paulskirche über Goethe und die Demo - von Massen unschuldiger Menschen, der 8. Mai. kratie. Die Rede wird über Lautsprecher

Gewalt ihrer Quäler entrissen, den Geset - Jede Nachricht aus Deutschland hat nach draußen übertragen. K P B

/ zen der Menschlichkeit zurückgegeben Thomas Mann aufgesaugt. Früh wusste er Die Reise, die ihn auch nach Stuttgart, N N sind“. Er nennt die Quäler „vertierte Zög - Bescheid über die Konzentrationslager München und Weimar führt, steht unter A M B U linge des Nationalsozialismus“. Offen liege und verbreitete sein Wissen in seinen Polizeischutz, weil Drohbriefe einge- H

S N

„unsere Schmach vor den Augen der Radiobotschaften, die seit 1940 ausge - gangen sind. Dann kehrt er nach Pacific N A H

Welt“, denn „es war nicht eine kleine Zahl strahlt werden. So hat sich der Schrift - Palisades zurück. Aber Amerika ver- : O T O von Verbrechern, es waren Hunderttau - steller, der ein skeptischer Seelenanalyti - ändert sich, es ist nicht mehr das Roose - F

52 DER SPIEGEL @C / A?@B Titel

velt-Land. Jeder Schriftsteller, jeder Schau - ein Mensch, der sich viel einredet und dete, dass er das Oberkommando der Wehr - spieler, jeder Emigrant gerät in Verdacht, auch jetzt noch davon überzeugt ist, dass macht in Nord und Süd teilen werde, falls er gehöre zur fünften Kolonne der Sowjet- es für ihn gut ausgehen wird. Sind seine die Alliierten das Reich in der Mitte beset - union. Nerven zerrüttet, was in letzter Zeit häufig zen sollten. Im Norden würde Karl Dönitz Im Juni 1952 kehren die Manns zurück vorkommt, dann wirft er Tabletten ein, den Oberbefehl übernehmen, im Süden Ge - nach Europa, Thomas Mann ist jetzt 77 bis die Illusionen wieder strahlen. „Fragen neral . Als Hitler den Füh - Jahre alt. Sie landen in Zürich, nicht in Sie General Stack, ob ich meine Pistole rerbefehl unterschrieb, zitterte seine rechte München. oder meinen Ehrendolch tragen soll, wenn Hand so stark, dass er sie mit der linken ich mit Eisenhower zusammentreffe“, festhalten musste. Dann bat Göring darum, sagt er zu dem Dolmetscher. „Das ist Berlin verlassen zu dürfen: „Mein Führer, mir wurscht“, antwortet der General auf Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Z4,(# J%." (*$ Deutsch. jetzt nach Berchtesgaden abreise?“ Reichsmarschall und General trafen sich Das hat er schon mal geschafft, er muss */0*!&$ $"(" 0 am Tag zuvor bei Radstadt, 80 Kilometer nicht mit Hitler und Goebbels Selbstmord südlich von Salzburg. Göring kam im ge - begehen oder den Untergang in Berlin ab - Hermann Göring panzerten Zwölf-Zylinder-Maybach wie warten. Stattdessen schlägt er sich durch Schloss Fischhorn bei einem Familienausflug mit Frau Emmy bis nach Österreich, nach Mauterndorf, ei - und Tochter Edda. Er trug seine silber - ner Burg, die ihm gehört, sie ist das Erbe Die Nacht zum 8. Mai hat er auf Schloss graue Uniform, darüber einen zeltartigen seines Patenonkels Hermann von Epen - Fischhorn in der Nähe von Zell am See Übermantel. Stack stieg aus seinem Sedan stein. Der hat ihm den Vornamen gegeben, verbracht. Hermann Göring, ehemaliger und begrüßte ihn mit Handschlag, wofür aber auch ein Problem beschert: Der Haus - Präsident des Preußischen Staatsrats, ehe - er sich später rechtfertigen muss. Göring arzt und Gönner der Familie Göring ist maliger Präsident des Reichstags, ehema - entschuldigte sich bei dem weißhaarigen jüdischer Abstammung. liger Reichsforstmeister und Reichsjäger - Texaner für seinen schmucklosen Aufzug, Aus Mauterndorf hat Göring seinen Ad - meister, ehemaliger designierter Nachfol - seine Prachtuniformen und Orden seien jutanten Bernd von Brauchitsch losge - ger des Führers, ehemaliger Vorsitzender auf dem Obersalzberg in den Flammen schickt, der mit weißen Fahnen so lange des Ministerrats für Reichsverteidigung, aufgegangen. Stack staunte und fragte: durch die Gegend fahren sollte, bis er auf ehemaliger Präsident des Reichsforschungs- „Sprechen Sie Englisch?“ Göring zwängte amerikanische Einheiten stoßen würde, rats, ehemaliger Reichsluftfahrtminister, sich in den Sedan und murmelte: „Wenigs - um ihnen den Brief an Eisenhower zu ehemaliger Oberbefehlshaber der Luftwaf - tens zwölf Jahre anständig gelebt.“ übergeben. Darin ersucht der Reichsmar - fe und ehemaliger Vorsitzender des Zen - Viel Pracht und Pomp ist nicht mehr um schall um ein Gespräch von gleich zu tralen Planungsamts – dieser gerade noch den Mann, der auf Carinhall Löwen hielt gleich: „Ich bitte Sie, mir zu dieser Aus - so mächtige Mann ist in der Obhut des und Elche ansiedelte, der Raubkunst in die sprache freies Geleit zu gewähren und mei - amerikanischen Brigadegenerals Robert riesige Eingangshalle hängte und mit ne engste Umgebung und Familie unter Stack, der ihn höflich behandelt. Seine abnehmendem Kriegsglück lieber in Ost - amerikanische Bewachung zu stellen. Aus Frau Emmy und seine Tochter Edda sind preußen auf die Jagd ging, als die Front technischen Gründen schlage ich hierfür bei ihm. zu besichtigen. Berchtesgaden vor. Wenn auch mein dor - Göring ist an diesem Tag noch ein Mann, Carinhall verließ er an Hitlers Geburts - tiges Haus völlig zerstört ist, so befinden der daran glaubt, dass er Frieden schließen tag, am 20. April, noch einmal hatte er im sich in meiner Adjutantur doch noch die kann. Er hat einen Brief an Dwight Eisen - Mausoleum, das er für seine erste Frau notwendigsten Räume hierfür.“ hower geschrieben, den Oberbefehlshaber Carin gebaut hatte, auf den Knien gelegen Unter Bewachung steht er, auf Antwort der alliierten Streitkräfte in Nordwest- und gebetet. Mittags dann Berlin, kleiner wartet er. Es passt jetzt ganz gut, dass Hit - europa, und erwartet die Antwort. Er ist Lageraum im Führerbunker. Hitler verkün - ler mit ihm in seinen letzten Tagen gebro - chen hat, nicht weil Göring die Flucht aus Berlin antrat, sondern weil er einen letzten Versuch unternommen hat, das zu werden, was er immer werden wollte: Hitlers Nach - folger. Es passt jetzt auch ganz gut, dass Hitler ihn deshalb der vielen Ämter ent - hoben und aus der Partei ausgestoßen hat. General Stack behandelt ihn vornehm, das muss ein gutes Zeichen sein. N O

I In Görings Fantasiewelt wäre es auch T U T I nur angemessen, wenn sich zwei Kriegs - T S N I

herren wie er und Eisenhower zusammen - N A I

N setzten und vernünftig darüber redeten, O S

H was nun werden soll. Ob der Brief aber je T I M S

den Adressaten erreicht hat, lässt sich nicht /

M

U aufklären. E S

U Noch eine Nacht bleiben die Görings M

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C auf Schloss Fischhorn, noch eine Nacht A P S lang kann er darauf hoffen, dass doch noch D N A

R alles gut ausgeht. Dann bringt ihn General I A

L

A Stack nach Kitzbühel ins Grandhotel. Dort N O I

T ist das Quartier der 36. Infanteriedivision, A N

: die zur 7. US-Armee gehört. Göring ist O T O

F Alliierte Pressekonferenz mit Göring am 11. Mai 1945: Tabletten, damit die Illusionen strahlen jetzt nicht mehr in amerikanischer Obhut,

DER SPIEGEL @C / A?@B 53 sondern ein Kriegsgefangener. Er verab - schiedet sich von Emmy und Edda. Am Nachmittag des 9. Mai wird der Kriegsgefangene Hermann Göring in Kitz - bühel amerikanischen Soldaten vorgezeigt, die Erinnerungsfotos von ihm schießen. Der Presse wird er am 11. Mai in einer Villa in Augsburg vorgeführt, im Haupt - quartier der 7. US-Armee. Klaus Mann ist dabei, er schreibt, Göring wirke nicht ein - mal besonders unsympathisch, angenehme Stimme, keine monströsen Züge, aller - dings liege ein „recht böses Glitzern“ in seinem Blick, er strahle Brutalität aus. 1946 wird Göring im Nürnberger Pro - zess zum Tod durch den Strang verurteilt. Am Abend des 15. Oktober 1946 begeht er Selbstmord. Wie Generaladmiral Frie - deburg beißt er auf eine Zyankali-Kapsel. Chansonnette Knef vor deutschen Soldaten 1944: „ Hübsches Lachen, klarer, offener Blick“

Naturtalent, sie kann Wilde und Ergebene 1945 drehte sie gleich vier Filme, „Unter spielen, unschuldig und verführerisch sein, den Brücken“ in der Regie von Helmut E&* F&() intrigant und unnahbar. Käutner beispielsweise und „Fahrt ins Sie war 17, als das Haus ihrer Familie Glück“ unter Erich Engel, zeitlosen +%*" T&0"( von einer Bombe getroffen wurde. Ihre Kitsch, harmlose Dramen. Goebbels ließ Mutter und der herzkranke Halbbruder die Filme wie am Fließband drehen, seit Hildegard Knef zogen nach Uelzen, aber sie blieb. Sie der Endsieg nicht mal mehr eine Illusion Berlin schnorrte sich durch, ihre Freundinnen war. warfen ihr vor, es gehe ihr immer nur um Ihr Freund Mischa heißt bürgerlich In diesen Tagen läuft Hildegard Knef auf sich, sie sei egoistisch und unausstehlich. Ewald von Demandowsky und ist Produk - der Landstraße von Biesenthal nach Ber - Aber sie war auch voller Angst, vor dem tionschef bei der Ufa. Er ist doppelt so alt lin, zwei Tage lang, rund 50 Kilometer. Alleinsein, vor der Dunkelheit, vor dem und verheiratet, zwei Kinder. Sie weiß Sie hat sich das Kopftuch tief ins Gesicht Leben. auch, dass er ein Nazi ist und in der Gunst gezogen und auf ihren Wangen Mohn - Sie bewarb sich bei der Ufa. Eigentlich von Propagandaminister Goebbels steht. kerne ausgequetscht, um älter auszusehen wollte sie lernen, wie man Filmreklame Für die Tobis hat Demandowsky Propa - und nicht so schön. Sie tut so, als hinkte und Trickfilme zeichnet. Im Dezember gandafilme produziert wie „Ich klage an“, sie. Sie ist 19 Jahre alt und alles andere 1942 aber kam Frank Maraun, zuständig eine Beweihräucherung der Euthanasie. als hässlich. Sie hat Angst vor siegestrun - für den künstlerischen Nachwuchs bei der Hildegard Knef ist jung und romantisch, kenen Russen. Ufa, auf sie zu: Sie habe ein Film gesicht. sie geht zu Wahrsagerinnen und glaubt an Nachts versteckt sie sich im Wald, in Für die Unterlagen der Ufa schrieb er auf, das Schicksal. Demandowsky ist ihre erste einer Scheune, irgendwo. Verlaust und was ihm an Hildegard Knef gefiel: Sie ent - große Liebe. verdreckt klingelt sie schließlich an der spreche „in Reinkultur dem Typus des Als der Krieg sich dem Ende neigt, lässt Tür einer Villa in Berlin-Ruhleben, Wa - deutschen Mädchens. Sie gefällt durch na - Goebbels seinen Protegé fallen, Deman - cholderweg 7b. Viktor de Kowa, der türliche Anmut, hübsches Lachen und dowsky wird zum Volkssturm eingezogen. Regisseur und Schauspieler, wohnt hier. durch klaren, offenen Blick“. Flüchtlinge erzählen von russischen Sol - Er hat in Ufa-Filmen mitgespielt, in Pro - Joseph Goebbels war damals auch daten, die deutsche Frauen vergewaltigen. pagandafilmen Regie geführt und ist in der Herr über die Reichskulturkammer. Hildes Mutter lebt im fernen Uelzen, De - der Partei. Hildegard Knef und de Kowa Die Genehmigung neuer Ausbildungs - mandowskys Familie ist nach Österreich kennen sich, sie vertraut ihm. In der Villa verträge behielt er sich selbst vor. Bei jun - evakuiert worden. Und so geht Hildegard nimmt sie ein Bad und schläft seit Lan- gen Frauen nahm er es besonders genau. Knef im April mit Demandowsky in den gem wieder einmal in einem Bett. Aber Hildegard Knef fiel ihm auf. Er riet ihr, Volkssturm. sie will zurück in das Gefangenenlager die Nase zu korrigieren. Und lud sie ein Aus dem Fundus der Tobis besorgt sie der sowjetischen Armee, zurück zu ih - in sein Landhaus am Bogensee. Sie ging sich Jacke, Mütze und Koppel. Sie schie - rem Geliebten, der dort inhaftiert ist. nicht hin. ben gemeinsam Wache in den Tagen der De Kowa hält sie davon ab, stattdessen Hildegard Knef lernte tanzen, fechten, Berliner Straßenkämpfe. Sie verfassen kur - schreibt sie einen Brief an ihren Mischa: sprechen und gehen. Alle drei Monate ze Testamente und schreiben Briefe an ihre „Was fang ich mit Deinem Leid an? fanden Studioaufführungen statt, meistens Mütter, sie schwören sich ewige Liebe und Vielleicht treffen wir uns wieder, bald, von Klassikern. Ab und zu fuhren die Treue. Würde einer von ihnen verletzt, gleich – nie?“ jungen Frauen mit dem Militärbus ins wollen sie sich gegenseitig erschießen. De -

Am 8. Mai ist Hildegard Knef eine junge Havelland und sangen Chansons für die mandowsky zeigt ihr die Stelle an der K P B

/ Frau mit einem Gesicht, von dem Regis - deutschen Soldaten. Knef sang „Unter Schläfe, auf die sie zielen soll. N N seure wie Wolfgang Liebeneiner und Hel - einem Regenschirm am Abend“ und be - Als eine Granate das Haus trifft, in dem A M B U mut Käutner glauben, dass es im Nach - kam Ovationen. sie sich verschanzt haben, entscheiden sie H

S N

kriegsfilm groß herauskommen wird. Sie Mit Carl-Heinz Schroth spielte sie an sich zur Flucht, Richtung Westen. Sie N A H selbst hält sich für dürr und lange nicht so den Kammerspielen des Deutschen Thea - kommen bis Friesack im Land kreis Ha - : O T O schön wie ihre Mutter. Aber sie ist ein ters. In den ersten Monaten des Jahres velland, ein Städtchen zwischen Rathe - F

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now und Neuruppin. Polnische Partisanen läuft, dann dringt er langsam ins Erdreich nehmen sie fest und finden rasch heraus, D". R1# !"/ ein.“ dass in einem der beiden Volkssturm- G"/-"*/0".3+$"(/ Dem Sohn hat er seinen Namen ge - männer eine Frau steckt. Nach drei Tagen geben, er war sein Ebenbild. Der Vater hat übergeben die Polen das Liebespaar und sogar dafür gesorgt, dass Ernstel einem 2000 andere Flüchtlinge der Roten Armee. Ernst Jünger Spähtrupp in Mittelitalien zugeordnet Sie müssen eine Woche lang marschieren, Kirchhorst worden war, weil ihm in der Heimat das schlafen in Gräben, Kirchen, Scheunen, Kriegsgericht drohte. Ein Mitschüler hatte bis sie Biesenthal nordöstlich von Berlin In der Morgendämmerung hört Ernst Jün - Ernstel und seinen Freund Wolf Jobst Sied - erreichen, eine brandenburgische Klein - ger zum ersten Mal in diesem Frühling den ler im Februar 1944 verpfiffen. Gemeinsam stadt mit angegliedertem Konzentrations - Kuckuck in den Moorwäldern rufen. Der gingen sie auf die Internatsschule auf Spie - lager, das den Russen jetzt als Kriegsge - Kuckuck ist kein sympathischer Vogel, sei - keroog und waren auch Marinehelfer. fangenenlager dient. ne Rufe haben etwas Höhnisches, Jünger Ernstel hatte gesagt, wenn Hitler in Berlin Hildegard Knef hat Angst, dass ihr nun mag den Kuckuck nicht, für ihn ist er ein aufgehängt werde, werde er barfuß bis widerfahren wird, wovon so viele Flücht - Gespenstervogel, der mit seinem Ruf die nach Potsdam laufen und an der Strippe linge erzählen. Doch der russische Lager - Toten wecken will. ziehen. Dafür wollte ihn die Marine vors kommandant sagt, sie solle schleunigst ver - Ernst Jünger lebt in Kirchhorst, 15 Kilo - Kriegsgericht zerren. schwinden. So macht sie sich auf den Weg meter nordöstlich von Hannover. Er liebt Jünger zog seine Hauptmannsuniform zu de Kowa. Der Tag des Friedens selbst die Natur, sie hat etwas Magisches für ihn. an, legte den „Pour le Mérite“ um den spielt in ihren Erinnerungen kaum eine Heute, am 8. Mai, grünt der Wein am Hals, fuhr nach Wilhelmshaven und sagte Rolle. Haus, „bricht strotzend aus den Trieben“, zum Dienstvorgesetzten des Jungen: „Ich Schon am 16. Juni 1945 steht sie erstmals schreibt er ins Tagebuch. bin nicht hierhergekommen, um um Gna - wieder auf einer Bühne. De Kowa durfte Das große Haus der Jüngers ist mit de zu bitten, sondern um Rechenschaft ein neues Theater aufmachen, die „Tri - Flüchtlingen überfüllt, sie sind müde und dafür zu fordern, dass ich meinen Sohn, büne“. Ein Kabarettabend, das Programm ausgelaugt und suchen für ein paar Stun - den ich als glühenden Nationalisten in die heißt „Heute Abend um Sechs“. Hildegard den oder einen Tag Unterschlupf. Seine Hand der Marine gab, nach drei Monaten Knef gibt die Programmansagerin. Frau Gretha verköstigt und betreut sie. als Verbrecher bestraft erleben muss.“ Bald kann sie sich wieder die Rollen Auf der Straße rollen stundenlang ameri - Die Charade hat den Tod des Sohnes aussuchen. 1947 bekommt sie 20 000 kanische Panzer vorbei. Zum Tagebuch - nur verzögert. Der Mann, der 1939 sein Reichsmark für eine Rolle in „Film ohne schreiben geht er in die Scheune oder ins Buch „Auf den Marmorklippen“ schrieb, Titel“. Sie ist bald schon das Gesicht des Dachzimmer, eine Flasche Burgunder da - verliert seinen Ernstel fünf Jahre später in deutschen Nachkriegsfilms. Der „Stern“ bei, die ihm der Kampfkommandant von italienischen Marmorklippen. Der absurde schreibt über sie: „Der Stern unserer Zeit Hannover geschenkt hat. Zufall lässt den Vater nicht mehr los. ist kein extravaganter Star.“ Alles geht ra - In diesen Monaten ist ihm die erhabene An diesem 8. Mai geht Ernst Jünger send schnell in diesen ersten Jahren nach Pose, die klirrende Kälte gegenüber dem auch der Doktor durch den Kopf. Der dem Krieg. Die Zukunft ist strahlend, die Leben und den Menschen vergangen. Sein Doktor, das ist Joseph Goebbels, auch so Vergangenheit vergessen. Ernstel ist tot, „gefallen, mein gutes ein Todesvogel, in dem Ernst Jünger eine Am 21. Januar 1948 aber verlässt sie Kind“. Ein Kopfschuss hat den Sohn im „Mischung von Menschenverachtung, Deutschland. Sie hat Kurt Hirsch ge- Marmorgebirge von Carrara im November Atheismus und großer technischer Intelli - heiratet, dessen Familie rechtzeitig von 1944 aus dem Leben gerissen, mit 18. „Der genz“ erkennt. Prag in die USA ausgewandert war und Schmerz“, schreibt der Vater, „ist wie Jünger und Goebbels kennen sich seit der als amerikanischer Soldat in Berlin ein Regen, der erst in seiner Masse ab - den Zwanzigerjahren. Damals verkehrten diente. beide in der Berliner Boheme. Dort trafen Studioboss David O. Selznick in Holly - sich wie selbstverständlich Rechte mit Lin - wood nimmt sie unter Vertrag, sie lernt ken, redeten über Politik und Philosophie, Englisch und pendelt von jetzt an zwischen tranken miteinander und nahmen Rausch - Berlin und Los Angeles. In Deutschland gift. Ernst Toller und Erich Mühsam waren gerät sie bald in Verruf, weil man sie nackt dabei, auch Carl Schmitt und Bert Brecht, sieht in dem Film „Die Sünderin“. Drau - Ernst Niekisch traf auf Ernst Rowohlt. Oft ßen in der Welt schadet es ihr nicht. Sie lud Friedrich Georg Jünger, der kleine Bru - dreht in England und Frankreich, der der, zu diesen bunten Runden ohne Tabus Volkssturmmann ist nun ein Weltstar, sie ein. Auch Joseph Goebbels kam regelmä - ist die Knef. ßig vorbei. In ihrer Autobiografie „Der geschenkte An einem Abend, so erinnert sich Jün - Gaul“ wird sie 1970 von ihrer Jugend, ihrer ger am 8. Mai, saß er mit Goebbels allein Liebe und ihrer Nachkriegskarriere erzäh - zusammen, im Nebenraum Musik, Jünger len, ein eher expressionistisches Werk, sie hatte getrunken, war bester Stimmung. übertreibt, sie denkt sich Dinge aus, aber „Ich muss da allerhand gesagt haben. Je - das Buch wird in 17 Sprachen übersetzt denfalls merkte ich, wie das Gesicht sich und verkauft sich millionenfach. verhärtete.“ Und er fragt sich nun: „War G

K Ob sie Mischa noch einmal gesehen es von diesem Abend an, dass er mich als A

/

N hat, lässt sie im Unklaren. Ihrer Karriere gefährlichen Menschen bezeichnete?“ N A

M tut er nicht gut, er war ja ein Nazi. Ewald Lange umschmeichelten ihn die Nazis, Z T I L

von Demandowsky wurde von einem weil er der Apologet des heroischen Sol - A L U

S sowjetischen Militärtribunal zum Tode datentums war. Zuerst boten sie ihm einen R U

: verurteilt und am 7. Oktober 1946 hin - Schriftsteller Jünger 1947 Sitz im Reichstag an, aber er lehnte ab. O T O

F gerichtet. Zu stolz, zu hochmütig für Erklärungen Vor allem Goebbels hätte aus ihm gern

DER SPIEGEL @C / A?@B 55 eine rechte Galionsfigur gemacht. Jünger zeigte kein Interesse. Dann weigerte er sich auch noch, in die Preußische Akade - mie der Künste einzutreten, aus der zuvor die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Max Liebermann und Ernst Barlach ent - fernt worden waren. Die Nazis verübelten Jünger den Hochmut und behielten ihn im Auge. Sie lasen auch sorgfältig, was er schrieb. Sein Buch „Auf den Marmorklippen“ beendete Jünger am 28. Juli 1939, fünf Wochen vor Kriegsausbruch. Ein schmaler Band, 150 Seiten, in dem Zeit und Raum verrätselt sind. Nur ein paar Namen und Orte deuten auf die Nazi-Gegenwart hin, und deshalb verstanden viele Leser die Novelle als einen erstaunlichen Akt der Sterberegister mit Moldenhauer-Eintrag: „Zu ehrgeizig und zu jung, um beiseite zu stehen“ Auflehnung, auch Leser wie Heinrich Böll oder Helmut Heißenbüttel. Ernst Jünger in Kirchhorst ab, den Bogen Vier weitere Moldenhauers sind auch Im Buch kommt ein Oberförster vor, auszufüllen. Das bringt ihm vier Jahre noch auf dieser Seite des Sterberegisters dem eine „Wolke von Furcht“ vorausgeht Veröffentlichungsverbot ein. Er erklärt eingetragen. Es ist seine Frau, deren Vor - und der mit „fürchterlicher Jovialität“ sich nicht, er ist zu stolz, um zu berichten, namen heute niemand mehr kennt, es sind auftritt: Hermann Göring. Dazu taucht dass Goebbels und die Gestapo hinter die Kinder Gerberga, die 17 wurde, Bertha, ein Schindanger mit dem Namen Köp - ihm her waren. Carl Zuckmayer setzt die 16 wurde, und Konrad, der 13 wurde. pelsbleek auf, ein Schindanger ist der sich für ihn ein. Er sagt, Jünger habe „eine Alle vier hat er erschossen. Wären es keine Platz in einem Dorf, auf dem die toten isolierte und sehr unbequeme Position“ Kriegszeiten, würde man sagen, einer wie Tiere die Haut abgezogen bekommen und eingenommen: „Vielleicht bedeutsamer Gerhard Moldenhauer war kein Mitläufer, verscharrt werden. Am Tor des Dorfes ist und mindestens interessanter als ver- sondern ein Amokläufer. ein Schädel festgenagelt: eine überdeut- waschene Durchschnittsvorstellungen von Soviel man weiß, hat er niemanden de - liche Anspielung auf die Konzentrations - Demokratie.“ nunziert und somit auch keine Schuld auf lager. Und: Steckt in diesem seltsamen Köp - Auch nach dem Krieg bleibt Jünger in sich geladen. Er war kein Täter. Er war pelsbleek nicht der Name Goebbels drin? seinem eigenen Kosmos: weltabgeneigt das, was viele Deutsche waren, einer, der Goebbels jedenfalls bezog Köppelsbleek und hochumstritten bei allem, was er in sich arrangiert, weil es bequem ist und auf sich und wollte Jünger auf der Stelle ins den nächsten Jahren veröffentlicht. Die besser für die Karriere. Die Nazi-Jahre Konzentrationslager schicken. Die Gestapo Nähe zu den Nazis in der Weimarer Re - bleibt er, was er ist und sein will, ein Leh - aber holte ihn nicht ab, und Jünger glaubte, publik wird er nie wieder los. Auch dafür rer am Gymnasium Demmin mit den Fä - Hitler habe es verhindert. Papier für seine hat Thomas Mann das Stichwort geliefert: chern Deutsch, Englisch, Geschichte und Bücher bekam er fortan nicht mehr. Jünger sei ein „eiskalter Genüssling des Schwedisch. Er war 44 Jahre alt, als ihn die Wehr - Barbarismus“ gewesen. Dieser unauffällige Bürger von Dem - macht einzog. Drei Jahre lang verbrachte Im Jahr 1950 ziehen die Jüngers um, min löscht seine Familie aus, an dem Tag, er im Stab des Militärbefehlshabers von nach Wilflingen in Oberschwaben. 1998 an dem auch der Führer im Bunker in Frankreich. Wie eh und je trat er dort als stirbt er, im Alter von 102 Jahren. den Selbstmord flüchtet. Aus Angst wird der heroische Ästhet auf, der mit dem er zum Monster. Die Zehntausenden Champagnerglas in der Hand beobachtete, Flüchtlinge, die mit ihren voll gepackten wie Bomben auf Paris fielen. Aus der Pose Handkarren, Fahrrädern, Pferden oder zu aber wurde Depression, als er Zeuge wur - D". A)+'(1# Fuß durch Demmin kommen, kurz rasten de, wie Kriegsgefangene per Genickschuss oder eine Nacht im Massenquartier ver - getötet wurden. Er hatte sogar Verbindun - Gerhard Moldenhauer bringen, erzählen fürchterliche Geschich - gen zum militärischen Widerstand um Ge - Demmin ten, die sie unterwegs erlebt oder gehört neral Carl-Heinrich von Stülpnagel, der haben. zu den Verschwörern des 20. Juli zählte. Gerhard Moldenhauer lebt nicht mehr an Moldenhauer ist kein Nazi, als Hinden - In der Nazi-Zeit ging Ernst Jünger der diesem 8. Mai. Er hat sich acht Tage zuvor burg 1933 Hitler zum Reichskanzler Glaube an die Utopie verloren, dass er umgebracht. Er ist einer von vielen, die macht. Er mag diese Typen von der noch jeden Lebensschrecken in ehernen einfach nur mitgemacht haben. Die ihren NSDAP nicht, er wählt sie nicht, er ver - Sätzen bannen kann. Am 8. Mai 1945 Frieden mit Hitler geschlossen oder mit achtet sie. Aber er ist jung, gerade 34 Jah - schreibt er im Tagebuch vom anderen wachsender Begeisterung die Blitzsiege re alt, die Kinder so klein, und er ent - Ufer, das dunkel und unheilvoll gewesen bejubelt haben. Es sind die Mitläufer, es scheidet sich für die NSDAP, weil er Leh - L E

sei. Dort, im Gedankenkreis der Nazis, hat gab Millionen von ihnen, die meisten ha - rer bleiben will und das Gehalt seine G E I P

er sich lange aufgehalten, als Verherrlicher ben keine Spuren hinterlassen. Familie ernährt. Ein Kollege sagt über S

R E D

des Ersten Weltkriegs, als Künder der kon - Von dem Mitläufer Gerhard Moldenhau - Moldenhauer: „Er war zu intelligent, um /

O

servativen Revolution, als Stichwortgeber er gibt es Spuren. Keine Fotos, keine Zeug - auf den Schwindel des ‚Dritten Reichs‘ he - N I K S der Nazis. nisse, aber einen Eintrag im Sterberegister reinzufallen, andererseits war er zu ehr - E D E T Als der Krieg zu Ende war und die der Hansestadt Demmin im Jahr 1945: geizig und zu jung, um beiseite stehen zu S U K

Alliierten den Deutschen die Fragebögen Moldenhauer, Demmin, 30.4.45, beerdigt können oder zu wollen.“ R A M vorlegten, um herauszufinden, wer Nazi 5.5.45, erschossen. „Selbstmord?“ steht Vielleicht schämt er sich für sein Mit - : O T O gewesen war und wer nicht, da lehnt es daneben. machen. Vielleicht ist es die Angst vor den F

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Russen und die Angst um seine Frau und Ruth Friedrich ist eine Heldin. Sie ist 43 Anfang 1939 kommen die ersten Freun - seine Mädchen. Vielleicht ist es die Panik Jahre alt, lebt in Steglitz, als Journalistin de aus Buchenwald oder Sachsenhausen des Verlierers vor einer neuen Zeit. nennt sie sich klangvoller Ruth Andreas- zurück. Kahl geschorene Schädel. Leid- Noch ganz am Schluss hätte er mit Friedrich. Sie arbeitet für die Zeitschrift satte Augen. Hände und Füße kaputt. Oh - seiner Familie Richtung Westen fliehen „Die junge Dame“ aus dem Verlag John ren erfroren. 1942 beschließt die Clique, können, mit Koffern und Taschen auf dem Jahr, ist zuständig für Kosmetik, Gesund - dass sie mehr Leute brauchen, damit sie Leiterwagen. In Schleswig-Holstein oder heit, Diätfragen. Sie berät auch junge Paa - mehr tun können. Niedersachsen finden Zehntausende Mol - re: „Es kann nett sein im Bett“. Friedrichs Freunde sind Einzelgänger denhauers bald ein neues Zuhause und Sie ist zudem die Seele einer Gruppe wie sie. Keiner von ihnen ist politisch or - eine neue Stelle. Er hätte wieder Lehrer von Freunden, die nach der Reichspogrom - ganisiert oder gehört zum Widerstand. sein können bis zur Pensionierung, er war nacht im November 1938 beginnt, Juden Aber der eine oder andere von ihnen erst 45 Jahre alt. Er tat es nicht. zu helfen, die von der SA gejagt werden kennt jemanden, der wirklich im Wider - Die wenigsten Landräte, Bürgermeister, oder von der Gestapo deportiert werden stand ist. Richter, Ärzte oder Lehrer werden später sollen. Sie lässt Freunde und Fremde bei Friedrich begegnet Helmuth Graf von zur Rechenschaft gezogen. Sie schönen sich wohnen oder organisiert ihnen ein Moltke und lernt seine Frau Freya aus dem ihre Lebensläufe, verschweigen das eine, Quartier für die Nacht. Kreisauer Kreis kennen. Sie arbeitet auch betonen das andere. Sie schreiben sich Zur Gruppe gehören ihr Geliebter, der mit Harald Poelchau zusammen, dem eine neue Biografie für die neue Zeit. Nun berühmte Dirigent Leo Borchard, außer - Gefängnispfarrer, der in Tegel die Gefan - braucht man sie wieder*. dem zwei Ärzte, ein weiterer Journalist genen betreut, auch die, die nach dem und bald auch Friedrichs Tochter Karin, 2o. Juli auf ihre Hinrichtung warten. Im eine angehende Schauspielerin. Der innere Januar 1944 wird Moltke verhaftet, ein Zirkel besteht aus sechs Leuten, der äußere Jahr später zum Tode verurteilt. S&" ! %0", ((" aus elf. Sie denken nicht groß von sich, sie Im April 1945 steht die Rote Armee in verstehen sich nicht als Zelle des Wider - den Außenbezirken, Werwölfe durchkäm - 4."* 4&" /&" stands. Sie nennen sich selbst nur Clique men die Stadt, Standgerichte lassen deser - oder Ringverein oder manchmal auch On - tierte Soldaten und denunzierte Zivilisten Ruth Friedrich kel Emil, nach dem Spitznamen des einen hinrichten. Friedrich und ihre Freunde be - Berlin Arztes aus ihrer Clique. schaffen Kreide und Ölfarbe. Nachts zie - Es ist auch nicht so, dass sie andauernd hen sie durch die Straßen und malen auf Ruth Friedrich ist bekümmert an diesem mit dem Menschenhelfen beschäftigt sind. Briefkästen, Schaufenster, Lattenzäune, 8. Mai. Irgendetwas fehlt, was immer es Wenn sie zusammensitzen und trinken, Anschlagtafeln, Häuser nur ein Wort: auch ist. Etwas, das ihr sagt, was sie tun, plaudern sie über neue Filme und Bücher. NEIN. wohin sie gehen soll. Jetzt gähnt diese Lee - Sie tanzen, sie haben Spaß, sie wollen Am Ende des Krieges sind Friedrich, re sie an. leben, sie wissen ja nicht, wie lange es Borchard und die anderen zermürbt. Sie Die Nazis sind tot oder weggelaufen, gut geht. kommen kaum noch aus den Luftschutz - Berlin liegt in Trümmern, die Rote Armee Nach der Pogromnacht beginnt es mit kellern heraus. Am 27. April stoßen Ruth hat die Stadt befreit. Ruth Friedrich muss den Einquartierungen, so nennen sie es, Friedrich und Borchard auf Soldaten der jetzt keine Juden mehr vor den Ledermän - wenn plötzlich jemand nicht mehr in seine Roten Armee. Zwei stehen oben im Trep - teln verstecken. Kein Widerständler wird eigene Wohnung kann. Als Friedrich am penflur und richten ihre Taschenlampen in Plötzensee mehr gehängt. Sie müsste 10. November 1938 nach Hause kommt, auf die beiden deutschen Gestalten im sich freuen an diesem 8. Mai, berauschen sitzen zwei ihrer jüdischen Freunde auf Keller. Borchard, der in Moskau geboren an der Freiheit. Sie ist eine der wenigen der Couch und spielen Karten, in Bor - ist, spricht Russisch, das ist ihr Glück: deutschen Sieger an diesem Tag. chards Zimmer haben sich zwei andere Aber die Angst ist noch da. Sie hört Freunde eingenistet, und am Telefon ist von Raub, Plünderung und Gewalt. Sie auch noch einer, der einen Platz zum besucht eine Freundin und sieht leere Schlafen braucht. Augen. Eine 18-Jährige erzählte, dass sie In diesen Tagen wird Friedrich klar, was Nacht für Nacht vergewaltigt worden ist, ihr Denkfehler war. „Wir dachten immer, vor den Augen des Vaters. Ein anderer alles verstünde sich von selbst. Alle wären Vater gab seiner missbrauchten Tochter wie wir. Dass wir nicht sahen, wie anders den Strick in die Hand: „Ehre verloren, andere Menschen sind, das ist unsere alles verloren.“ Schuld. Dass wir von uns auf andere Mit roten Kopftüchern und weißen schlossen. Von uns auf die Nazis! So haben Armbinden räumen Männer und Frauen wir sie großgemacht.“ Die Einsicht macht auf den Straßen vor ihren Häusern die ihr Angst: „Die Juden sind nur die Ersten“, Trümmer weg. Sie beeilen sich, weil die sagt sie zu einer Freundin. „Doch warte Soldaten sonst das Haus anzünden wür - mal ab, wir kommen auch noch dran.“ den. Kann man das glauben? Viele ihrer jüdischen Freunde und Be - Kein leichter Tag, der 8. Mai. Die Nazis kannten emigrieren nach England, Ame - sind weg, und die Deutschen haben neue rika, Schweden. Etliche von ihnen haben Herren. Ruth Friedrich weiß, was hinter Besitz, den sie nicht verkaufen wollen und ihr liegt, aber sie hat keine Ahnung, was schon gar nicht mitnehmen dürfen, und so vor ihr liegt. wird Friedrich zur Scheinkapitalistin, wie P

M sie das nennt. Ein Bekannter, der kleine A K R

H Herr Schwarz, überträgt ihr notariell ein

U * Florian Huber: „Kind, versprich mir, dass du dich er - S

: 2100-Quadratmeter-Grundstück in Saarow Nazi-Gegnerin Friedrich 1938 O schießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945“. Berlin T O

F Verlag, Berlin; 304 Seiten; 22,99 Euro. am Scharmützelsee. Zu treuen Händen. Das Nein nicht sagen, das Nein denken

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„Wir freuen uns, dass ihr da seid.“ – Adenauer ist ein nüchterner Mensch. „Wirklich?“, fragt ein Soldat. Der andere Was aus seiner geliebten Stadt geworden Hochgewachsene mit Säbel in der Hand ist, haben die Kölner Hitler zu verdanken fragt: „Warum habt ihr nichts gegen Hitler und den Kölnern, die ihm zugejubelt und getan?“ an den Endsieg geglaubt haben. Aber Köln Am 8. Mai geht für die Clique etwas ist jetzt wieder seine Stadt, eine neue Zeit verloren, was sie jahrelang verbunden hat. zieht herauf. Er ist ein stolzer Mann und Das Ende der Nazis ist auch das Ende der legt sich ganz schnell mit der Besatzungs - Freundesgruppe. Jeder muss weiterleben, macht an. jeder ist jetzt wieder nur Arzt oder Buch - Amerikanische Soldaten plündern und drucker oder Kontoristin. Jeder ist auf sei - vergewaltigen. Truppenkommandeure ge - ne Weise enttäuscht über den Lauf der ben NSDAP-Funktionären Aufgaben, ob - Dinge. wohl es die anspruchsvolle Direktive JCS Sieben Jahre lang, seit dem 27. Septem - 1067 gibt, wonach keinesfalls Parteigenos - ber 1938, hat sich Ruth Friedrich Notizen sen zur Verwaltung herangezogen werden gemacht. Die bearbeitet sie nun, streicht dürfen. Außerdem dringt Adenauer da - allzu Persönliches heraus und macht da - rauf, dass auf dem Rhein wieder Schiffe raus ein Typoskript. Ende September 1945 fahren dürfen, damit die Stadt versorgt ist es fertig. Der Titel: „NEIN“. werden kann. Dafür sollen die Eisenträger Sie schickt es einer Freundin nach New und die riesigen Gesteinsbrocken der York. Carl Zuckmayer liest es, ihm gefällt Rheinbrücken aus dem Fluss geborgen die gefühlsstarke, aber selbstmitleidlose werden. Und die Industrie: Sie braucht Erzählung aus der Innenwelt des „Dritten Brennstoffe. Reichs“. Anfang 1947 erscheint „Berlin Adenauer ist ungeduldig. Er will so viel Underground“ auf dem amerikanischen wie möglich von seinem alten Köln so Markt, kurz darauf die deutsche Fassung schnell wie möglich wiederhaben. Bald ist bei Suhrkamp, die nun „Der Schatten - Oberbürgermeister Adenauer (r.) bei Köln 1945 er von den Amerikanern enttäuscht. So mann“ heißt. „Number One of the White List for Germany“ viel Zeit geht verloren, die Besatzer sind Friedrich zieht bald nach München. unfähig und unorganisiert. Aber auch die Dort lebt Walter Seitz, der Onkel Emil aus One of the White List for Germany.“ Er Amerikaner sind von Adenauer ent - der Clique, sie heiraten 1955. Sie schreibt ist Nummer eins. Gut so. täuscht, weil er ständig Ansprüche stellt. mehrere Bücher: ein Benimmbuch für Solche Listen hat der amerikanische Sie halten ihn inzwischen für unfähig und junge Frauen, ein „ABC für Verliebte“ und Geheimdienst erstellt, damit die Offiziere hochmütig. dann auch noch „Woher kommen die nach der Kapitulation ausschwärmen kön - Er hat ziemlich genaue Vorstellungen, kleinen Kinder?“. Bücher wie die Artikel nen und die richtigen Deutschen für den was aus dem Nach-Hitler-Land werden damals für „Die junge Dame“. Nichts Wiederaufbau finden. Bei Adenauer soll. Er breitet seine Ideen vor Captain davon reicht an ihr Tagebuch heran. schwanken sie, sie haben ihn vier Tage Albert Schweizer und einem Marineleut - An ihrem letzten Abend verabredet sie vorher zum Oberbürgermeister von Köln nant, zu denen er Vertrauen gefasst hat, sich mit ihrer Tochter Karin zum Austern - gemacht, aber er ist auch ein Mann für geruhsam aus. Sie schreiben mit, was er essen. Der Gedanke an eine Hüftopera- höhere Aufgaben. Er wirkt auf sie auf - ihnen in langen Stunden erzählt. tion quält sie, über den Tod redet sie jetzt recht, energisch, überlegen – einer, der Er warnt sie davor, Deutschland zu zer - öfter, sie ist 75 Jahre alt. Am Morgen des sich für die Nachkriegszeit aufbewahrt stückeln. Er erzählt, durchaus mit Genuss, 17. September 1977 ist sie tot, sie hat sich hat. dass er sich berufen fühlt, „das deutsche vergiftet. Konrad Adenauer ist 69 Jahre alt. Er hat Volk von Grund auf zum Frieden zu erzie - „Plötzlich“, so endet ihr Tagebuchein - die zwölf Hitler-Jahre überstanden, was hen“. Er sagt, es sei wahrscheinlich, „dass trag am 8. Mai 1945, „überkommt uns der nicht ganz leicht war, aber auch nicht so Deutschland für lange Zeit keinerlei poli - ganze Jubel des Befreitseins. Frei von schwer, wie er es später darstellt. Er hat tisches Leben“ haben könne, seine Lands - Bomben! Frei von Verdunklung! Frei von 1936 ein Haus im Zennigsweg 8a in Rhön - leute seien von den Nazis vergiftet. Zur Gestapo und frei von den Nazis! Wie auf dorf am Rhein gebaut, in das die Ameri - Entgiftung empfiehlt er, dass die Besat - Flügeln eilen wir nach Hause. Am Abend kaner nun pilgern. Es schmeichelt ihm, zungsmacht all die Gräuel und Kriegsver - feiern wir. Feiern mit allem, was wir be - wie ihn Oberstleutnant Patterson umwirbt. brechen öffentlich machen soll, damit den sitzen.“ Er ziert sich lange, er hält sich für beson - Deutschen ihre Schuld vor Augen steht. ders geeignet, eine herausragende Rolle Kölns Oberbürgermeister bleibt er nur im Nachkriegsdeutschland zu spielen. kurz. Am 6. Oktober 1945 wird er wegen Aber das kann dauern, und er weiß nicht, Unfähigkeit entlassen. D/ G� )1// .1/, wie lange. Adenauer weiß, wie es mit den vergif - Vorerst ist er nun wieder Oberbürger - teten Deutschen weitergehen soll. Wer  ". 4&"Y meister, wie 1917, doch wenn es nach ihm schwere Schuld auf sich geladen hat, soll geht, diesmal nicht für 16 Jahre. Adenauer exemplarisch bestraft werden. Auf das Konrad Adenauer liebt Köln. Aber sein Köln ist tot. Gestor - Heer der Mitläufer brauche man keine A

Köln ben in 1950 Stunden, so lange dauerten Mühe zu verschwenden. Von Kollektiv - P D

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die 262 Angriffe alliierter Bomber. Im schuld hält er nichts. E C N A

Konrad Adenauer bekommt es schriftlich linksrheinischen Stadtgebiet leben nur I L L A an diesem Tag. In einem Schreiben des noch 10 000 Menschen in Häuserhöhlen. „12 Städte, 12 Schicksale“ E R U

amerikanischen Oberstleutnants John Pat - Ohne Krankenhaus, Feuerwehr, Polizei. Vox sendet zu diesem Thema am 25. April T C I P

terson für die vorgesetzte Dienststelle wird Der Dom aber, ein nachtschwarzes Skelett, eine zwölfstündige Fernsehdokumentation : O T O

er lobend erwähnt: „His name is Number steht noch. von SPIEGEL TV. F

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