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Einfalt oder Vielfalt? Die ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik Lengauer, Günther

Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Lengauer, G. (2006). Einfalt oder Vielfalt? Die ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 35(4), 361-378. https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-101986

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Günther Lengauer () Einfalt oder Vielfalt? Die ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik

Die Nachrichten des öffentlich-rechtlichen ORF müssen sich im Spannungsfeld zwischen Profit, Professi- onalität, Publikum und Politik positionieren und profilieren. Die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Status wird dabei vermehrt mit dem Hinweis in Frage gestellt, dass der ORF seinem gesetzlichen Programm- auftrag nicht nachkomme und politisch unausgewogen berichte. Diese empirische Studie stellt die ORF- Nachrichten österreichischen Qualitätszeitungen und ATV-aktuell komparativ gegenüber und geht der Frage nach, wie die professionellen Standards der ORF-Nachrichten im Sinne der publizistischen und politischen Pluralität im nationalen und internationalen Kontext zu beurteilen sind. Dabei zeigt sich zum einen, dass sich die ORF-Berichterstattung weitgehend im Rahmen transnationaler journalistischer Trends einordnet. Zum anderen werden allerdings punktuell signifikante Differenzierungen zwischen öffentlich- rechtlichem und privatem Nachrichten-Angebot sichtbar – vor allem was die demokratiepolitische Di- mension der Information betrifft.

Keywords: Medien und Demokratie, politische Kommunikation, Journalismus, öffentlich-rechtlicher Programmauftrag, duales Mediensystem, transnationale Nachrichtenlogik, Inhaltsanalyse Media and democrazy, political communication, journalism, public service mandate, dual media system, transnational media logic, content analysis

1. Einleitung nicht ausreichend nachkomme, Quote statt Qua- lität als Maxime verfolge und gleichzeitig die politische Äquidistanz vernachlässige. Der gesetzliche und gesellschaftliche Auf- Eine breite und seither andauernde öffentli- trag, politische Erwartungshaltungen, ökonomi- che (medien)politische Diskussion um den ORF sche Imperative sowie transnationale Trends löste Armin Wolf, Zeit im Bild 2-Anchorman, journalistischer Professionalisierung und tech- im Mai 2006 in seiner Dankesrede für den an nologischer Globalisierung wirken auf die ihn verliehenen Robert-Hochner-Preis aus. Nachrichtenproduktion des ORF im 21. Jahr- Dabei sprach er von „nahezu hemmungsloser hundert ein. Das Nachrichtenangebot des öffent- Einflussnahme politischer Parteien auf den lich-rechtlichen ORF muss sich in einem multi- ORF“, wobei nach der politischen Wende im dimensionalen Spannungsfeld zwischen Quote Jahr 2000 vom „Gleichgewicht des Schreckens und Qualität, zwischen ökonomischer und (Große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP; demokratiepolitischer Verantwortung sowie Anm. d. Verf.) nur mehr der Schrecken (ÖVP; zwischen politischer Einflussnahme und Anm. d. Verf.) geblieben“ sei (zitiert in: Kurier, Äquidistanz positionieren, profilieren und legi- 18.5.2006, 31). Sowohl aus ORF-internen als timieren. Gerade diese Legitimation des öffent- auch ORF-externen Kreisen (Plattform „SOS lich-rechtlichen Status wird in letzter Zeit und ORF“, Initiative „derFreiRaum“, Stiftungsräte, aktuell vermehrt mit dem Hinweis in Frage ge- Ex- und OppositionspolitikerInnen, Journa- stellt, dass der ORF seinem Programmauftrag listInnen, MedienexpertInnen, etc.) folgte öf-

Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), 35 Jg. (2006) H. 4, 361–378 362 Günther Lengauer fentliche Kritik an parteipolitischer Einflussnah- Rahmenbedingungen für öffentlich-rechtliche me, der daraus resultierenden politischen Ein- Programm- und Informationsangebote. Der seitigkeit sowie an mangelnder Qualität der österreichische Medienmarkt wurde als letzter ORF-Berichterstattung. Gefordert werden seit- europäischer – nicht zuletzt auf Drängen der her wiederholt redaktionelle, inhaltliche sowie Europäischen Kommission – für private TV- politische Pluralität und Demokratie in der ORF- Anbieter geöffnet. Eine Minderzahl öffentlich- Information. rechtlicher und eine Vielzahl privat-kommerzi- Die medienpolitischen Analysen im Rahmen eller Rundfunk-Anbieter konkurrieren um Pu- der andauernden öffentlichen ORF-Debatte ha- blikum und Werbeeinnahmen. Stetig erhöht sich ben dabei allerdings zumeist rein interpretativen, die Anzahl empfangbarer Kanäle und somit subjektiv-analytischen und äußerst diffusen Cha- auch die mediale Konkurrenz um „das knappe rakter. Konkrete empirische Bestandsaufnahmen Gut öffentliche Aufmerksamkeit“ (Plasser/ sowie internationale Vergleiche fehlen weitge- Ulram 2004, 37). Nicht weniger als 89 Prozent hend, insbesondere in Bezug auf das Produkt, der österreichischen TV-Haushalte verfügen im das die ORF-Information der Öffentlichkeit an- Jahr 2005 über einen Kabel- oder Satelliten- bietet – ihre Nachrichtensendungen. Anschluss mit durchschnittlich 53 Sendern Ziel dieser Studie ist es daher zu beleuch- (ORF-Medienforschung, 2006). ten, in welchem Ausmaß die formelle medien- Im Zuge dieser Dynamisierung und Aus- politische Regulierung wie auch die informel- differenzierung der Medienmärkte sowie der len politischen Erwartungshaltungen im jour- Fragmentierung des Medien-Publikums verlie- nalistischen Produkt – konkret in den ORF- ren etablierte und traditionelle TV-Nachrichten- Nachrichten – schlussendlich reflektiert und sendungen Reichweiten und Marktanteile. So sichtbar werden. Wie sind die Pluralität und pro- hat sich die Reichweite der Zeit im Bild 1 zwi- fessionelle Standards der Nachrichten des ORF schen 1985 und 2004 auf 20 Prozent etwa hal- im nationalen und internationalen Kontext zu biert (Plasser/Ulram 2004, 59). Gleichzeitig beurteilen? Inwieweit werden die öster- wird die Werbeeinnahmen-Abhängigkeit des reichische Medienpolitik – in diesem Fall der öffentlich-rechtlichen ORF stetig größer. Im Jahr öffentlich-rechtliche Programmauftrag des ORF 2005 liegt dieser Anteil bei etwa einem Drittel – wie auch die politischen Vereinnahmungs- der Einnahmen. versuche von den Gesetzen der globalen De- Diese strukturellen und kommerziellen Ver- Regulierung, Ökonomisierung und eines auf- änderungen und Neuorientierungen in den strebenden pragmatischen Rollenbildes des Mediensystemen haben sowohl direkte als auch market-driven journalism (McManus 1994) indirekte Auswirkungen auf die Programm- überlagert und somit der Staat als Medien- inhalte. Diese Entwicklung wird von Kriti- manager von der Rationalität des Marktes und kerInnen als „Selbstkommerzialisierung“ des Wettbewerbs ausgehebelt? Das sind die zentra- öffentlich-rechtlichen Rundfunks bezeichnet (z. len Fragen, denen diese empirische Analyse B. Brandstaller 2006, 74). Allerdings bleiben anhand einer Fallstudie, in deren Mittelpunkt diese Kritik als auch die Anforderungen an öf- die ORF-Nachrichten stehen, nachgeht. fentlich-rechtliche Anbieter in der Diskussion meist diffus und konkrete Qualitätsstandards und -anforderungen an das public service-Pos- 2. Internationale Trends und dynamische tulat werden kaum formuliert oder gar empirisch Kontext-Faktoren geprüft.

Ökonomische und technologische Globali- sierungstendenzen sowie verstärkte Wettbe- 3. Das public service-Gebot werbs-Dynamisierung bei gleichzeitiger politi- scher De-Regulierung der nationalen Rundfunk- Meijer (2005, 27) beschreibt drei wesentli- Systeme schaffen dramatisch veränderte che Forderungen, die öffentlich-rechtliche ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 363

Rundfunkanbieter erfüllen sollen: qualitatives Bisher gibt es nur wenige empirische Annä- Programm liefern, umfassende Information bie- herungen an das Konzept der Qualitätsprüfung ten und die Bevölkerung in den demokratisch- von Medienangeboten. Zu den Pionierprojekten politischen Diskurs involvieren (siehe dazu auch auf diesem Gebiet zählt die im Auftrag der ARD/ Lucht 2006). Cuilenburg und McQuail (2003, ZDF-Medienkommission durchgeführte Studie 194) formulieren ähnliche und ergänzende zur inhaltsanalytischen Erfassung der Medien- Grundfesten des public service-Gebots: Unab- Qualität durch Schatz und Schulz (1992) in hängigkeit (gegenüber politischen wie auch Deutschland. In Österreich gilt das seit 1997 ökonomischen Abhängigkeiten), Verantwort- durchgeführte ORF-Qualitätsmonitoring von lichkeit (gegenüber Publikum und Gesellschaft) Fessel-GfK als Beispiel, eine Art Programm- und Vielfalt (politisch und sozial). Controlling zu konzipieren, das neben der De- Habermas (2006, 2ff.) bezeichnet die Plu- moskopie auch inhaltsanalytische und somit ralität der medien-vermittelten Öffentlichkeit als output-orientierte Messinstrumente anwendet. Voraussetzung für eine funktionierende Gesell- schaft und deren demokratischen Diskurs. Demgegenüber beurteilt er die fehlende Unab- 4. Die Analyse-Parameter hängigkeit und Äquidistanz des Mediensystems zu politischen wie auch wirtschaftlichen Eliten Diese Studie kann keine umfassende Quali- als „Pathologie der politischen Kommunikati- tätskontrolle der ORF-Information leisten. Da- on“ in medienzentrierten Demokratien (Haber- her werden selektiv Kriterien des public service- mas 2006, 21). Im Brennpunkt der folgenden Gebotes und zwar im Besonderen das der Plu- Untersuchung steht vor allem der Programm- ralität, der Ausgewogenheit und der Unabhän- auftrag des ORF-Gesetzes aus dem Jahr 2001, gigkeit herausgegriffen, um sie punktuell zu das in Bezug auf diese Gesichtspunkte unter operationalisieren und empirisch anhand einer anderem folgende Postulate formuliert:1 kumulierten Analyse der wichtigsten tages- – die umfassende Information und Förderung aktuellen und überregionalen ORF-Nach- wichtiger politischer, sozialer, wirtschaftli- richtensendungen2 und der Zeit im Bild 1 im cher, kultureller, wissenschaftlicher oder Speziellen zu prüfen. Diese Ergebnisse werden auch sportlicher Fragen, komparativ der privaten Hauptnachrichten- – die Förderung des demokratischen Zusam- sendung ATV-aktuell und den Tageszeitungen menlebens, die Information über die Funk- Die Presse und Der Standard gegenüberge- tion und Aufgaben des Bundesstaates und stellt.3 der europäischen Integration, Im Zentrum der empirischen Prüfung ste- – die angemessene Berücksichtigung der An- hen dabei vor allem (a) die Herstellung und liegen von Minderheiten, gesellschaftlicher Diskurstiefe von pluralistischer Öffentlichkeit Gruppen, der Altersgruppen oder der Ge- für substanzielle politische Information als Vo- schlechter, raussetzung für profunde staatsbürgerliche Par- – die Vielfalt der Meinungen, anspruchsvolle tizipation (Vielfalt der AkteurInnen, Themen, Qualität, Ausgewogenheit, objektive Aus- Ereignisräume, Diskurs-Tiefe) und (b) journa- wahl und Gestaltung sowie Unabhängigkeit listische Professionalitäts-Standards im Sinne und Unverwechselbarkeit. der Seriosität (Neutralität, Äquidistanz). Diese Zu den zentralen Elementen des ORF-Ge- Parameter sind ebenso wie der Qualitätsbegriff setzes zählen somit zum einen die pluralistische grundsätzlich als reflektierende, relationale und Maxime im Sinne der Herstellung von Öffent- relative Größen zu beurteilen, d. h. sie sind nur lichkeit auf der Ebene der AkteurInnen, der unter Beachtung des Kontextes, der Nach- Themen oder Meinungen und zum anderen jour- richtenlage, der Konkurrenz auf dem Medien- nalistisch handwerkliche Professionalitäts-Stan- markt und der Berücksichtigung der journalis- dards der Ausgewogenheit, Objektivität oder tischen und politischen Kultur schlüssig einzu- Unabhängigkeit. ordnen. Deshalb bedarf es im österreichischen 364 Günther Lengauer

Kontext eines empirischen Vergleichs mit pri- samten Nachrichten-Berichterstattung basieren, vaten Anbietern (TV und Printmedien), die sich fokussieren die qualitativ-inhaltlichen Elemen- in derselben Biosphäre der „österreichischen te im Speziellen auf die politische Berichterstat- medialen Öffentlichkeit“ bewegen und auf Ba- tung. sis derselben Nachrichten- und Ereignislagen operieren. An dieser Stelle konzentrieren wir uns auf 5. AkteurInnen-Pluralität die Analyse der Programmsparte Nachrichten im Allgemeinen und der politischen Informati- 5.1. Eliten-Zentrierung on im Speziellen. Die im Folgenden präsentier- ten empirischen Daten stammen aus den konti- Als Indikator der AkteurInnen-Pluralität in nuierlichen inhaltsanalytischen Langzeitunter- der Nachrichten-Berichterstattung kann heran- suchungen des MediaWatch Instituts für gezogen werden, wie viele und welche Medienanalysen zur Nachrichtenberichterstat- PolitikerInnen zu Wort kommen. Die Verteilung tung von österreichischen Printmedien und au- der Redezeiten nationaler politischer AkteurIn- diovisuellen Medien. Dabei wird die sozial- nen5 in der Zeit im Bild 1 im 2. Halbjahr 2005 wissenschaftliche Methode der quantifizieren- verdeutlicht die enorme Eliten-Zentrierung. So den Inhaltsanalyse angewandt. Die quantitati- entfällt etwa ein Viertel aller politischen Wort- ven Parameter der Inhaltsanalyse (O-Ton-Ana- meldungen auf die drei präsentesten Ak- lyse, AkteurInnen-Pluralitäts-Indikatoren) ba- teurInnen und mehr als die Hälfte der Redezeit sieren auf einer Vollerhebung der gesamten Sen- geht auf die zehn präsentesten PolitikerInnen dezeit der Zeit im Bild 1 und ATV-aktuell im zurück. zweiten Halbjahr 2005. Die qualitativ-inhaltli- Für die deutschen TV-Abendnachrichten chen Analyse-Elemente (geographische und ergibt sich im 2. Halbjahr 2005 exakt dieselbe thematische Pluralität, Diskurs-Substanz, Wer- Verteilung – hier wurde die Präsenz allerdings tungsdichte und -bilanz) fußen auf repräsenta- in Nennungen gemessen. Auf die präsentesten tiven, systematischen Zufallsstichproben, die AkteurInnen Merkel, Schröder und Stoiber ent- zum einen die Berichterstattung im 2. Halbjahr fällt ebenfalls ein Viertel der gesamten Politi- 2003 sowie jene im 2. Halbjahr 2005 kompara- kerInnen-Präsenz. Die Top-Ten-AkteurInnen tiv abbilden und gegenüberstellen.4 Während belegen in vergleichbarer Weise knapp die Hälf- die quantitativen Analyse-Elemente auf der ge- te der TV-Präsenz von politischen AkteurInnen

Tabelle 1: O-Ton-Präsenz nationaler politischer AkteurInnen in der Zeit im Bild 1, 2. Halbjahr 2005 (in Prozent der direkten Reden)

1. Heinz Fischer (Bundespräsident) 10,6 2. Wolfgang Schüssel (Bundeskanzler, ÖVP) 9,9 3. Alfred Gusenbauer (SPÖ) 5,5 4. Hubert Gorbach (Vizekanzler, BZÖ) 4,4 5. (Grüne) 4,1 6. Jörg Haider (BZÖ) 3,7 7. Elisabeth Gehrer (ÖVP) 3,5 8. Ursula Plassnik (ÖVP) 3,5 9. Maria Rauch-Kallat (ÖVP) 2,9 10. Josef Pröll (ÖVP) 2,4 Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut. ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 365

(Krüger 2006, 72). Das Phänomen der Eliten- Zusammenfassend kann somit in Bezug auf Zentrierung bestätigt sich in abgeschwächter die Eliten-Zentrierung festgestellt werden, dass Form auch für die österreichische und deutsche die AkteurInnen-Pluralität auf dieser Ebene in Printberichterstattung (vgl. dazu Lengauer 2006, beiden Sendungen relativ stark eingeschränkt 158ff.). ist, wobei sich die Eliten-Zentrierung in der ZiB Im Vergleich zur ZiB 1 kommen in ATV-ak- 1 stärker an der formalen Hierarchie der politi- tuell im gleichen Untersuchungszeitraum alles schen Repräsentanz orientiert, was zum Teil als in allem nur halb so viele nationale politische stärkere Orientierung an der demokratiepoli- AkteurInnen zu Wort. Dies hängt natürlich auch tischen Relevanz der AkteurInnen interpretiert und vor allem mit dem unterschiedlichen For- werden kann. Ausgeprägte Eliten-Zentrierung mat und der damit geringeren politischen Be- ist jedoch kein sich auf die ORF-Berichterstat- richterstattung insgesamt zusammen. Direkt tung beschränkendes Phänomen, sondern es ist vergleichbar bleibt jedoch der Grad der Eliten- in abgeschwächter Form ebenso auf ATV oder Zentrierung. in den Printmedien auf internationaler Ebene Während die O-Ton-Präsenz der nationalen erkennbar, dabei jedoch in einer etwas ent- politischen AkteurInnen in der Zeit im Bild 1 hierarchisierteren Form (vgl. dazu auch Len- stark von deren nomineller und formaler Stel- gauer 2006, 154). lung im politischen System geprägt ist, nimmt ATV-aktuell eine deutlich selektivere und we- niger formal-hierarchische Auswahl vor. So 5.2. Regierungsbonus – Oppositionsmalus? dominiert FPÖ-Chef Strache das quantitative O- Ton-Ranking. Weiters ist die politische Reprä- Das Phänomen des Regierungsbonus bzw. sentanz stark vom steirischen Landtagswahl- des Oppositionsmalus in der Berichterstattungs- kampf und folglich deutlicher von punktuellen Präsenz ist vor allem im Zusammenhang der Ereignissen beeinflusst. Die AkteurInnen- öffentlich-rechtlichen Medien von öffentlichem Zentrierung ist insgesamt aber ähnlich hoch wie Interesse und reflektiert insgesamt einen weite- in der ZiB 1. Die Top-Ten-AkteurInnen errei- ren Gradmesser der quantitativen AkteurInnen- chen eine kumulierte O-Ton-Präsenz von 42 Zentrierung bzw. -Pluralität. So kann das Ver- Prozent und kommen damit fast so lange zu hältnis der Parteien-Präsenz durch den jeweili- Wort wie alle anderen nationalen politischen gen Anteil von O-Tönen von Parteienver- AkteurInnen zusammen. treterInnen als Indikator für die Anteile von

Tabelle 2: O-Ton-Präsenz nationaler politischer AkteurInnen in ATV-aktuell, 2. Halbjahr 2005 (in Prozent der direkten Reden)

1. Heinz-Christian Strache (FPÖ) 6,3 2. Gerhard Hirschmann (Liste Hirschmann) 5,8 3. Franz Voves (SPÖ) 5,5 4. Wolfgang Schüssel (Bundeskanzler, ÖVP) 5,3 5. Hubert Gorbach (Vizekanzler, BZÖ) 5,0 6. Andreas Schnider (ÖVP) 3,4 7. Alfred Gusenbauer (SPÖ) 3,0 8. Peter Pilz (Grüne) 3,0 9. Jörg Haider (BZÖ) 2,5 10. Waltraud Klasnic (ÖVP) 2,4 Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut. 366 Günther Lengauer

Abbildung 1: O-Ton-Präsenz von Parteien-RepräsentantInnen in der Zeit im Bild 1 (in Prozent der Redezeit, 1998–2005)

Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut.

Regierungs- und Oppositionsparteien an der (2002, 265) für die deutsche TV-Berichterstat- medialen Öffentlichkeit gemessen werden. tung, dass im Jänner und Februar 2002 etwa Die O-Ton-Präsenz der Parteien-Repräsen- Kanzler Schröder mehr als doppelt so präsent tantInnen im Zeitverlauf belegt zum einen den war wie die damalige Oppositionspolitikerin Trend, dass Parteien durch den Regierungsein- Merkel und mehr als dreimal so oft vorgekom- tritt (in diesem Fall im Februar 2000) ihre ZiB men ist wie der bayrische Ministerpräsident 1-Präsenz deutlich steigern können. Vor dem Stoiber auf Platz drei des TV-Rankings. Der Regierungswechsel erreicht die damalige Kanz- Regierungs- oder Kanzler-Bonus sind folglich ler-Partei SPÖ ähnlich dominierende O-Ton- allgemeine und transnationale Phänomene der Werte wie die ÖVP nach dem Regierungs- politischen und medialen Kommunikation (sie- wechsel. Es lässt sich also über den gesamten he dazu auch Lengauer 2006), die sowohl für Untersuchungszeitraum ein Präsenz-Bonus für private als auch öffentlich-rechtliche Nachrich- die dominierende Regierungspartei erkennen. ten gelten. Man kann den Regierungsbonus und Betrachtet man die Rangordnung der O-Ton- damit gleichzeitig den Oppositionsmalus zwar Präsenz der Parteien in ATV-aktuell im 2. Halb- den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten jahr 2005, ergibt sich grundsätzlich dieselbe zum Vorwurf machen, jedoch muss dabei zur Verteilung, wobei der ÖVP-Anteil etwas gerin- Kenntnis genommen werden, dass sich diese ger und der SPÖ-Anteil etwas höher ist. Phänomene zu einem Großteil aus der professi- Dieser Regierungsbonus – im Sinne der onellen Nachrichten- und Aufmerksamkeits- quantitativen Präsenz – ist an und für sich kein Logik ableiten und begründen. überraschendes Phänomen. Es erklärt sich in erster Linie nicht durch die Reflexion von po- litischer Partei- oder Einflussnahme, sondern 5.3. Gender-Pluralität begründet sich großteils durch die per Volks- entscheid übertragene Exekutivmacht, den Als weiterer Pluralitäts-Parameter kann die dadurch höheren formalen Status und folglich Geschlechter-Verteilung in der O-Ton-Präsenz den größeren potentiellen journalistischen politischer AkteurInnen angesehen werden. Der Nachrichtenwert. So bestätigt Brettschneider direkte Vergleich von ATV-aktuell und der Zeit ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 367 im Bild 1 im 2. Halbjahr 2005 zeigt, dass die und MinisterInnen liegt sogar bei 50:50), im weibliche Repräsentanz in der ZiB 1 bei den Nationalrat bei 33 Prozent (derzeit 60 weibli- politischen O-Tönen mit 22 Prozent knapp hö- che Abgeordnete) und im Bundesrat bei 27 Pro- her ist als in ATV-aktuell mit einem Frauen- zent (derzeit 17 weibliche Abgeordnete). Somit Anteil von 19 Prozent. In den beiden Tageszei- liegt die mediale Repräsentanz von weiblichen tungen Presse und Standard etwa wurde im Jahr politischen AkteurInnen deutlich unter dem for- 2003 ein politisches Geschlechterverhältnis von mellen Frauen-Anteil in der Regierung oder den 85 Prozent männlichen und 15 Prozent weibli- Parlamentskammern. Das Repräsentanz-Defizit chen HauptakteurInnen in der politischen Be- ist ein hochgradig reziprokes und diskursives richterstattung festgestellt, während in der ZiB Phänomen, das auch von der öffentlichen Re- 1 im gleichen Zeitraum der weibliche Anteil bei präsentanz der Partei-Politik durch Frauen ab- 20 Prozent lag. In der politik- und kommuni- hängig ist und nicht allein auf die journalisti- kationswissenschaftlichen Forschung weisen schen Selektionsmechanismen zurückzuführen Studien wiederholt darauf hin, dass es eine struk- ist. Jedenfalls zeigt sich, dass die ZiB 1 zu- turelle Unterrepräsentanz von Frauen im öffent- mindest tendenziell stärker geschlechter-plura- lichen – in diesem Fall medialen – Raum gibt listisch berichtet als etwa die österreichische (vgl. dazu etwa Pallaver/Pig 2003, 81). Qualitäts-Tagespresse oder ATV-aktuell. Um diese Ergebnisse quantitativ einzuord- nen, kann als Gradmesser der Frauen-Anteil in der Regierung und im Parlament herangezogen 6. Die geographische Pluralität werden. Im Kabinett Schüssel II liegt der Frau- en-Anteil derzeit bei 32 Prozent (6 Minister- Die dargestellten Ereignisräume in der Nach- innen bei insgesamt 19 Regierungsmitgliedern richten-Berichterstattung sind ein weiterer Plu- – das Geschlechterverhältnis bei den Ministern ralitäts-Indikator auf der Ebene der Regionen,

Abbildung 2: Die geographische Pluralität in den Nachrichten, 2. Halbjahr 2003 (in Prozent der geographischen Bezüge, n=718)

Anmerkung: Die kumulierte Analyse der Presse und des Standards bezieht sich ausschließlich auf Titelseiten- Beiträge. Mehrfachzuteilung der Ereignisräume (maximal zwei pro Beitrag). Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut. 368 Günther Lengauer

über die berichtet wird. Je stärker die regionale zeitungen im selben Zeitraum Asien etwas mehr Verteilung der medial vermittelten Nachrichten- publizistische Aufmerksamkeit auf der ersten Welt, desto höher ist die geographische Plurali- Seite widmen. tät zu beurteilen. Die Berichterstattung von ATV- Zusammenfassend kann auf dieser Analy- aktuell ist dabei weniger Österreich-zentriert se-Ebene resümiert werden, dass sich nur eine und präsentiert sich etwas stärker ausdifferen- sehr eingeschränkte geographische Pluralität in ziert, was die geographische Pluralität betrifft. der österreichischen Nachrichtenberichter- In der ZIB 1 wird etwa Europa mehr Publizität stattung erkennen lässt, wobei die Struktur der eingeräumt als vergleichsweise auf den Titel- Zeit im Bild 1 am stärksten jener der Qualitäts- seiten von Standard und Presse.6 zeitungen entspricht. Länder und Regionen der Insgesamt ergibt sich eine deutlich homoge- südlichen Hemisphäre (dies gilt auch für Asi- ne geographische Nachrichtenstruktur der en) finden sich nur marginal auf den Titelseiten Qualitätszeitungs-Titelseiten und der ZiB 1 im bzw. in den Abendnachrichten. Die geographi- Untersuchungszeitraum vor dem Hintergrund sche Struktur erweist sich als stark „elite- derselben Ereignis-Struktur und Nachrichten- nationen“- bzw. krisen-zentriert (im Falle Asi- lage. Für alle untersuchten Medien ergibt sich ens – Krisengebiete des Nahen und Mittleren eine sehr eingeschränkte Pluralität in Bezug auf Ostens), während über Europa vor allem in den die geographische Nachrichtenstruktur. Es audiovisuellen Medien berichtet wird. Im direk- dominiert der Österreich-Bezug. ATV-aktuell ten Vergleich mit den deutschen TV-Nachrich- stellt grundsätzlich Elite-Nationen (vgl. dazu ten im Jahr 2005 wird deutlich, dass die Vertei- Schulz 1997, 70) – etwa die USA – stärker ins lung der Regionen sowie die nationale mediale Rampenlicht. Die ZiB 1 als auch ATV- Zentrierung in der ZiB 1 weitgehend dem Durch- aktuell zeigen sich zudem als stärker Europa-ori- schnitt in der deutschen TV-Berichterstattung entierte Plattformen, während die Qualitäts- entspricht (vgl. dazu Krüger 2006, 60).

Tabelle 3: Themenlandschaft der österreichischen TV-Abendnachrichten, 2. Halbjahr 2005 (in Prozent der Sendungsbeiträge-Vollerhebung, N=4.571)

Themenkomplex Zeit im Bild 1 ATV-aktuell Innenpolitik 22 16 Internationale Politik 16 7 EU-Politik 7 4 Außenpolitik 5 2 Kultur 14 0,2 Wirtschaft 10 3 Naturkatastrophen 7 9 Chronikales (Unfälle etc.) 4 17 Lifestyle – Society 4 7,5 Kriminelles 3 13 Sport 3 13 Wissenschaft/Wissen 2 1 Medizin – Gesundheit 2 5 Tiere 0,1 2 Quelle: Lengauer / MediaWatch-Institut. ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 369

7. Die thematische Pluralität demgegenüber als „soft news“ (Patterson 2000) zusammen, erkennt man, dass die Qualitäts- Nicht nur die quantitativ-orientierte Ak- zeitungen auf ihren Titelseiten anteilig etwas teurInnen-Landschaft gibt Auskunft über die mehr über diese Bereiche berichten als die ORF- Pluralität der Berichterstattung, sondern vor al- Medien (16 zu 10 Prozent). lem die inhaltlich orientierte Themenlandschaft Deutlicher sind die thematischen Differen- des Nachrichtenangebotes.7 Für die Berichter- zierungen, wenn man die Themenstruktur der stattung im 2. Halbjahr 2003 kann in diesem ZiB 1 direkt mit jener von ATV-aktuell im 2. Kontext festgestellt werden, dass die ORF-Me- Halbjahr 2005 vor dem Hintergrund gleicher dien in ähnlichem Ausmaß auf so genannte Ereignis- und Nachrichtenlagen vergleicht. So „hard news“ (Politik, Wirtschaft, Kultur und beträgt der politische Anteil (Innen- und Au- Wissenschaft – 77 Prozent der Beiträge) fokus- ßenpolitik, EU-Politik sowie internationale Po- sieren, wie es auf den Titelseiten der überregio- litik) in der ZiB 1 50 Prozent der Beiträge, wäh- nalen Qualitätspresse (82 Prozent) der Fall ist rend dieser Anteil in ATV-aktuell bei nur 29 (vgl. dazu Daten zu Print- und Rundfunk-Me- Prozent liegt. dien insgesamt in Lengauer et al. 2004, 184ff.). Die Berichterstattung der ZiB 1 ist somit von Lediglich in Bezug auf die Quantität der innen- „hard news“ (Patterson 2000, 2ff.) geprägt. „Soft politischen Berichterstattung ergibt sich eine news“ wie Sport, Lifestyle oder „human interest nennenswerte Divergenz: So wird auf den Stan- stories“ (z. B. Ratgeber-Stories zur Gesundheit) dard- und Presse-Titelseiten im gleichen Zeit- spielen eine untergeordnete Rolle. Das agenda- raum häufiger über Innenpolitisches (41 Pro- setting in ATV-aktuell unterscheidet sich davon zent) berichtet, als es in den ORF-Nachrichten signifikant. Dort ist Chronikales (17 Prozent) (32 Prozent) der Fall ist. Fasst man die Berei- sogar das umfangreichste Berichterstattungs- che Sport, Kriminelles, Gesundheit, Unfälle/ Element und überflügelt die Innenpolitik (16 Katastrophen und Society/Lifestyle und Tiere Prozent), gefolgt von Sport und Kriminellem mit

Tabelle 4: Themenlandschaft von TV-Nachrichten im internationalen Vergleich (in Prozent der Sendungsbeiträge [USA, AUT] bzw. der Sendezeit [BRD])

Themenkomplex Zeit im Bild 1 US-Network Zeit im Bild 1 ARD-Tagesschau 2. HJ 2003 News 2003 2. HJ 2005 2005 Politik 65 44 50 59,3 Wirtschaft 3 12 10 Kultur 15 n.a. 14 9,1 Wissenschaft/Wissen 1 2 2 Unfälle/Katastrophen 7 10 11 4,8 Kriminelles 2 6 3 0,5 Adabei/Society 0 2 2,5 1 Lifestyle 0,3 6 1,5 0,4 Medizin/Gesundheit* 2 12 2 n.a. Sport 0,3 n.a. 3 9,4 Tiere 0 n.a. 0,1 0,1 Anmerkung: * USA-Daten zu Medizin/Gesundheit stammen aus dem Jahr 1997. Quellen: Österreich-Daten: Lengauer/MediaWatch-Institut. USA-Daten: Committee of Concerned (2004). Deutschland-Daten: Krüger/Zapf-Schramm (2006, 219); Eigene Zusammenfassung. 370 Günther Lengauer je 13 Prozent. Im relativen Vergleich zur ZiB 1 politischer Inhalte und „soft news“ erkennbar berichtet ATV-aktuell etwa über internationale (vgl. dazu Ruhrmann et al. 2003, 70). Politik, EU-Politik oder Außenpolitik anteilig Damit gleicht sich die Zeit im Bild 1-Struk- nur halb so intensiv. tur im Zeitverlauf weitgehend dem Themen- Es kann auf dieser Ebene somit resümiert spektrum an, das auch die öffentlich-rechtlichen werden, dass beide Sendungstypen durchaus Hauptnachrichten-Sendungen in Deutschland von einer hohen Themenpluralität im Sinne ei- vermitteln (vgl. dazu Bretschneider/Hawlik nes breiten Themen-Mix gekennzeichnet sind, 2001, 53). Die ARD-Tageschau berichtet im Jahr wobei die ZiB 1 jedoch deutlich stärker auf „hard 2005 anteilsmäßig gleich viel über Politik und news“ fokussiert, während ATV-aktuell vor al- Wirtschaft wie die ZiB 1, jedoch mehr über Sport lem „soft news“ in den Mittelpunkt ihrer Be- und dafür weniger über Kultur, Katastrophen richterstattung stellt. Während die Zeit im Bild und Kriminelles (Krüger/Zapf-Schramm 2006, 1-Struktur stärker den öffentlich-rechtlichen 203). Dabei erklärte sich der Unterschied bei Angeboten der deutschen ARD-Tagesschau ent- der Katastrophen-Berichterstattung zum Groß- spricht, gleicht die ATV-Struktur auffallend je- teil durch die Hochwasser-Situation in Öster- ner, die für den deutschen privaten Marktführer reich im August 2005. im Info-Bereich (RTL-aktuell) festgestellt wer- Ein direkter Abgleich mit den US-Network den kann (vgl. dazu Bretschneider/Hawlik 2001, News (TV-Abendnachrichten von ABC, NBC 53; Krüger 2006, 52ff.). Somit scheint sich zum und CBS) im Jahre 2003 zeigt, dass sich die einen eine homogene privat-kommerzielle Berichterstattungsstruktur der Zeit im Bild 1 seit Nachrichtenlogik in Bezug auf die Thema- 2003 dabei deutlich dem amerikanischen Mus- tisierung herauszubilden und sich zum anderen ter annähert. Praktisch in allen vergleichbaren eine davon unterscheidbare öffentlich-rechtli- Kategorien kam es in den letzten zwei Jahren che Themen-Matrix in dualen Systemen heraus- zu einer deutlichen Annäherung an die US- zukristallisieren, die zwar tendenziell rückläu- Struktur: weniger Politik, mehr Wirtschaft und fig – trotz allem aber weiterhin – „hard news“ „soft news“. Somit erhöht sich die thematische in den Mittelpunkt stellt (siehe dazu auch Ruhr- Pluralität der ZiB 1 im Sinne der Unterhaltungs- mann et al. 2003). orientierung, dies geht jedoch auf Kosten der Im Juni 2004 wurde die ZiB 1 einem opti- politischen und somit demokratiepolitisch-rele- schen und inhaltlichen Relaunch unterzogen. vanten Berichterstattung. Dieser Befund unter- Wie sich die Berichterstattungsstruktur abseits streicht die These, dass sich auch öffentlich- der Kolorierung von Studio und Graphiken seit rechtliche Nachrichtenanbieter verstärkt an dem Relaunch inhaltlich verändert hat, kann kommerziellen Nachrichtenwerten und Prämis- man unter anderem am folgenden Vergleich der sen orientieren, um im direkten Wettbewerb um Berichterstattung der ZiB 1 im 2. Halbjahr 2003 Anzeigen und Publikum bestehen zu können. und im 2. Halbjahr 2005 erkennen. Hier steht die allgemeine Themenpluralität in Im Jahr 2005 dominieren in der ZiB 1 zwar einem direkt diametralen Verhältnis zum Anteil noch immer deutlich die „hard news“, jedoch des demokratie-politischen und staatsbürgerli- ist der Anteil von „soft news“ ansteigend, vor chen Diskurses. allem auf Kosten der politischen Information. Ebenso hat sich die Wirtschaftsberichterstattung mehr als verdreifacht. Angestiegen ist – gemäß 8. Die Europäisierung der medialen dem Relaunch – auch die Sport- und die Life- Öffentlichkeit style & Society-Berichterstattung, auch wenn deren Anteile insgesamt noch immer gering Im ORF-Gesetz des Jahres 2001 wird im sind. Auch in den deutschen öffentlich-rechtli- Programmauftrag explizit auf die „Förderung chen Nachrichtensendungen ist über das letzte des Verständnisses für die europäische Integra- Jahrzehnt ein allgemeiner Rückgang des politi- tion“ hingewiesen. Daher wird die Herstellung schen Anteils bei gleichzeitiger Zunahme un- einer „Europäischen Öffentlichkeit“ als weite- ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 371 rer Analyse-Parameter herangezogen. Vergleicht sendungen oder den Titelseiten der öster- man dazu die Anteile der Europa-Politik in den reichischen Qualitätspresse (5,7 Prozent EU- Berichterstattungsstrukturen der österreichi- Politik im 2. Halbjahr 2003) eine tendenziell schen Medien, ergibt sich folgendes Bild: In der stärkere Europa-orientierte Plattform darstellt. ZiB1 liegt der Europa-Anteil seit 2003 konstant bei durchschnittlich circa 7 Prozent der gesam- ten Sendungsbeiträge. Auf ATV liegt dieser 9. Substanz der politischen Anteil im 2. Halbjahr 2005 bei 4 Prozent. Diese Thematisierung Divergenz zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Angebot bestätigt sich auch im inter- Wendet man sich der qualitativen Nach- nationalen Vergleich etwa in den deutschen TV- richtenstruktur – im Sinne des sachpolitischen Nachrichten für das Jahr 2005. Während die und somit staatsbürglich-relevanten Diskurses ARD-Tagesschau 4 Prozent ihrer Sendezeit für – zu, so kann man analytisch zwischen policy- Europa-Politik zur Verfügung stellt, ist dies im centered und game-centered reporting differen- privaten Marktführer RTL-aktuell nur in einem zieren (Patterson 1993). Politik-Berichte kön- Prozent der Berichterstattung der Fall (Krüger nen inhaltlich daran unterschieden werden, ob 2006, 61). Peter (2004) führte eine Inhalts- sie primär sachpolitische und somit staatsbür- analyse von TV-Hauptnachrichten in fünf EU- gerliche Relevanz vermitteln (policy-zentriert) Ländern im Jahr 2000 durch und bestätigt ei- oder Politik vorrangig als Macht- und sportives nen durchschnittlichen Anteil von vier Prozent Wahlkampf-Spiel oder -kalkül ohne sach- der TV-Berichterstattung zur Europa-Politik auf politische Diskurs-Dimension darstellen (game- internationaler Ebene. Diese Vergleichsdaten zentriert)8 . Diese Differenzierung kann als bestätigen zum einen den Unterschied der Gradmesser der politischen Diskurs-Tiefe und „Europäisierung der Öffentlichkeit“ in privaten somit als Indikator der politischen Bildungs- und und öffentlich-rechtlichen Nachrichten als auch Informationsqualität herangezogen werden. den Befund, dass die ZiB 1 im Vergleich zu an- Im direkten Vergleich zeigt sich, dass die deren europäischen TV-Hauptnachrichten- ORF-Medien insgesamt wie auch die ZiB 1 –

Abbildung 3: Policy- vs. game-Zentrierung in den österreichischen Nachrichten (in Prozent der Beiträge mit policy-/game-Elementen, 2. Halbjahr 2003, n=2.904)

Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut. Siehe dazu ergänzend Lengauer et al. (2004, 191). 372 Günther Lengauer davon extrahiert betrachtet – stärker auf die hang kann etwa analysiert werden, welcher sachpolitische Dimension des öffentlichen Dis- Anteil von Nachrichtenbeiträgen Wertungen zu kurses eingehen, als es etwa in der politischen politischen Parteien transportiert. Dabei werden Berichterstattung der Qualitätszeitungen der Fall im Vergleich zwischen Presse/Standard und ist, wo die game-zentrierte Politikvermittlung ORF-Medien nur Nachrichtenbeiträge (keine insgesamt leicht überwiegt. Im internationalen Meinungsbeiträge wie Kommentare, Analysen Kontext zeigt sich, dass in den letzten Jahrzehn- oder Interviews) in die Analyse einbezogen, da ten der game-Anteil des politischen Diskurses als journalistischer Professionalitäts-Imperativ nicht nur in heißen Wahlkampf-Phasen die nur bei den Nachrichtenbeiträgen per se davon sachpolitischen Debatten überlagert, sondern ausgegangen werden kann, dass diese möglichst dies auch in der Routine-Berichterstattung – keine Werturteile transportieren sollten. etwa in den USA oder auch Deutschland – zu- Die Wertungsdichte zu Parteien in den nehmend erkennbar wird (vgl. dazu Genz et al. österreichischen Nachrichtenbeiträgen ist gene- 2001; Lawrence 2000; Patterson 1993, 2000). rell als niedrig und somit durchaus journalis- Somit kann die ORF-Politik-Berichterstattung tisch-professionell einzustufen. Mehr als neun auf dieser qualitativ-inhaltlichen Ebene im na- von zehn Nachrichtenbeiträgen transportieren tionalen als auch internationalen Vergleich als keine Wertungen zu den untersuchten Parla- verhältnismäßig substantiell und sachorientiert ments-Parteien. Durchschnittlich wird zu- beurteilt werden. mindest eine der vier Parteien in fünf Prozent der Nachrichtenbeiträge in den Tageszeitungen Presse und Standard bewertet (positiv, negativ 10. Bewertungen zu politischen oder gleichgewichtig), während dies in den AkteurInnen in der Berichterstattung ORF-Medien durchschnittlich nur bei 1,3 Pro- zent der Nachrichtenbeiträge im selben Unter- Der journalistisch-professionelle Standard suchungszeitraum der Fall ist.9 Explizite und der Politik-Berichterstattung kann etwa am Grad implizite Wertungen zu Parteien finden sich der Wertungshäufigkeit zu politischen AkteurIn- somit in den ORF-Medien sowohl signifikant nen gemessen werden. In diesem Zusammen- weniger häufig als auch in einem partei-unab-

Abbildung 4: Wertungsdichte zu Parlaments-Parteien in Nachrichtenbeiträgen (in Prozent, n=2.555 Beiträge mit Partei-Nennungen, 2. Halbjahr 2003)

Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut. ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 373 hängigen Ausmaß. Der Grundsatz der Wert- politischen Eliten ist negativ. Demgegenüber ungsfreiheit scheint somit in den ORF-Medien reflektieren nur knapp drei von zehn Beiträgen noch stärker verwirklicht als etwa in der Be- in Presse/Standard und den ORF-Nachrichten richterstattung von Presse und Standard. positiv über dieselben politischen AkteurInnen. Gesellschaftspolitisch verantwortungsvoller Diese überwiegend negativen Beurteilungen Journalismus findet im Spannungsfeld zwischen treffen auf alle untersuchten politischen Ak- kritischer Kontrollfunktion auf der einen und teurInnen mit Ausnahme der Grünen und Van konstruktiv-kooperativer Berichterstattung auf der Bellen zu. Diese werden im Untersuchungs- der anderen Seite statt. Bei öffentlich-rechtli- zeitraum sowohl von Presse/Standard als auch chen Nachrichtenangeboten kommt der Aspekt von den ORF-Medien häufiger positiv als ne- staatlicher Nähe bzw. Regierungsnähe als pro- gativ vermittelt, was unmittelbar mit deren Ab- blematischer Faktor hinzu. Der öffentlich-recht- schneiden bei den Landtagswahlen in Tirol und liche Journalismus muss sich somit zwischen Oberösterreich zusammenhängt, die am 28. Sep- den jeweiligen Erwartungshaltungen „watch- tember 2003 stattfanden. Dies muss allerdings dog“ (Wachhund) und „lapdog“ (Schoßhund) als kommunikativer Sonderfall kategorisiert bewegen und positionieren. Die Wertungsbilanz werden und hängt weniger mit journalistischer gibt als Parameter zumindest eingeschränkten Intention zusammen als mit den unmittelbaren Aufschluss über die publizistische und perspek- historischen Wahlerfolgen in Tirol und der Re- tivische Ausgewogenheit und Äquidistanz in der gierungsbeteiligung in Oberösterreich. Diese medialen Darstellung zu einzelnen politischen Daten reflektieren somit sowohl in der Bericht- AkteurInnen bzw. AkteurInnengruppen. erstattung der Tageszeitungen Presse und Stan- Die Analyse zeigt, dass im 2. Halbjahr 2003 dard als auch in den ORF-Medien eine Art po- die österreichischen politischen Eliten überwie- litische Äquidistanz zu den politischen Eliten, gend negativ durch die Medien vermittelt wer- die weitgehend akteurInnen-unabhängig ist, je- den. Dabei gleichen sich die Darstellungen von doch im Wertungs-Koordinatensystem (zwi- Presse/Standard und ORF-Medien auffallend, schen negativ-konfrontativ und positiv-koope- was das Niveau dieser negativen Wertungs- rativ) insgesamt leicht in die negativ-kon- bilanz betrifft. Etwa jede zweite Wertung zu frontative Hälfte verschoben ist. Die journalis-

Abbildung 5: Das Wertungsspektrum zu politischen Akteuren in den Nachrichten (in Prozent der Beiträge mit Wertungen zu Parlaments-Parteien und deren Vorsitzenden, n=254, 2. Halbjahr 2003)

Quelle: Lengauer/MediaWatch-Institut. Siehe dazu ergänzend Lengauer et al. 2004, 178ff. 374 Günther Lengauer tisch skeptische Distanz zu den politischen Eli- gleicht über weite Strecken dem Angebot des ten hat sowohl in den untersuchten Printmedi- deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens, en als auch in den ORF-Medien über Partei- zumindest was die verglichenen Hauptnach- Grenzen hinaus Gültigkeit. richtensendungen betrifft. Es lässt sich eine dy- Dass es in der Darstellungslogik bezogen auf namische Entwicklung einer transnationalen die Bewertung politischer Spitzenrepräsen- Nachrichtenlogik erkennen, die auch die öffent- tantInnen zwischen öffentlich-rechtlichen und lich-rechtliche Berichterstattung in wesentlichen privaten Nachrichten übergreifende Konvergen- Dimensionen prägend beeinflusst. Durch Inter- zen und offenbar eine übergeordnete Logik gibt, nationalisierungs- und Dynamisierungs-Phäno- zeigt auch Brettschneider (2002, 266) für das mene verstärken sich ökonomischer wie auch deutsche Fernsehen. Von 2000 bis 2002 wurde journalistischer Wettbewerb, wovon auch öf- Gerd Schröder in allen untersuchten öffentlich- fentlich-rechtliche Nachrichtenanbieter in ihrer rechtlichen als auch privaten TV-Hauptnach- Selektions- und Darstellungslogik betroffen sind richtensendungen überwiegend negativ vermit- und sich davon nicht grundsätzlich abkoppeln telt, während etwa Angela Merkel überwiegend können. Folglich setzt sich zumindest teilweise positiv dargestellt wurde. eine medien(politik)übergreifende Nachrichten- Private Stationen berichten zwar tendenzi- logik und eine graduelle – aber keinesfalls voll- ell exponierter und emotionaler, die Grund- ständige – Konvergenz-Tendenz (Donsbach/ tendenzen und Wertungsrichtungen sind bei Dupre 1994; Schatz et al. 1989) durch. So ist privaten und öffentlich-rechtlichen Nachrichten eine tendenzielle De-Thematisierung politischer jedoch weitgehend übereinstimmend. Hier Inhalte in den Nachrichtensendungen erkenn- scheint sich eine inter-mediale Darstellungslogik bar (Ruhrmann et al. 2003). Die quantitäts-be- zu manifestieren, die sich weniger an formalen zogene Pluralität der Nachrichtenbericht- und starren Neutralitätsgeboten, sondern viel- erstattung ist ebenso medien-übergreifend rela- mehr am faktischen Nachrichtenangebot und der tiv schwach ausgeprägt (etwa AkteurInnen- tagesaktuellen Ereignislage orientiert. Zentrierung, Regierungsbonus, Nachrichten- Starke journalistische Konfrontativität ist geographie). Dies muss ebenfalls als trans- dabei kein außergewöhnlicher Befund, sondern nationales Phänomen gesehen werden, das nicht er reiht sich nahtlos in internationale For- nur auf die österreichische Berichterstattung, schungsergebnisse etwa aus den USA oder sondern in ähnlichem Maße etwa auch für die Deutschland ein. Zahlreiche Analysen belegen, deutsche öffentlich-rechtliche Berichterstattung dass Politik-Beurteilungen in den letzten Jah- zutrifft. ren und Jahrzehnten journalistisch vermehrt Auf der anderen Seite bleiben weiterhin sig- negativ transportiert werden (z. B. Jamieson nifikante Berichterstattungs-Differenzierungen 1992; Kepplinger 1998; Patterson 2000; Wilke/ zwischen privatem und öffentlich-rechtlichem Reinemann 2000). Somit ist die tendenzielle Angebot sichtbar. So zeigt sich etwa in der ORF- Konfrontativität in der Politik-Vermittlung auch Berichterstattung insgesamt und in der ZiB 1 im kein auf privat-kommerzielle Nachrichtenan- Besonderen eine im Vergleich zu Qualitäts- bieter konzentriertes Phänomen, sondern reflek- zeitungen und ATV stärkere demokratie-politi- tiert sich auch in der öffentlich-rechtlichen Be- sche und europapolitische Diskurs-Ausrichtung richterstattung. und -Tiefe. Daneben erweist sich die politische Berichterstattung in den ORF-Medien in Bezug auf die geprüften professionellen Imperative der 11. Fazit Ausgewogenheit und Unabhängigkeit als ten- denziell weniger exponiert, ausgeglichener und Die Berichterstattung der ORF-Medien be- zumindest ähnlich äquidistant (wenn auch ten- wegt sich insgesamt im Rahmen des national denziell konfrontativ) wie die Berichterstattung und international etablierten, qualitäts- in der Qualitätspresse. In diesem Zusammen- orientierten Nachrichtenjournalismus und hang scheint der gesetzliche Programmauftrag ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 375 einen breiteren demokratiepolitischen Diskurs Interessant ist in diesem Zusammenhang, und professionelle Standards zu ermöglichen dass dem informations-orientierten Kanal ORF bzw. zu sichern, während sein fördernder Ein- 2 zum Beispiel nicht nur ein besseres Image in fluss auf die untersuchten Pluralitätsindikatoren der Bevölkerung attestiert wird, sondern er in nur eingeschränkt (z. B. in der Gender-Plurali- Summe auch größere Reichweiten als der stär- tät) erkennbar wird. ker auf Unterhaltung fokussierende Kanal ORF Für die zukünftige Positionierung bzw. die 1 erreicht (Gallup, März 2006; ORF-Medien- Relevanz-Beurteilung des öffentlich-rechtlichen forschung 2006). Für Deutschland zeigt sich auf Status lassen sich folgende Ableitungen treffen. empirischer Basis für die öffentlich-rechtliche Demokratie-politische Relevanz und Informa- Nachrichtensendung ZDF-heute, dass die Annä- tion sind nicht nur Werte, die der gesetzliche herung an private Nachrichtenstrukturen offen- Programmauftrag normativ vorschreibt, sondern bar weder die Reichweite noch das Image lang- die auch die MediennutzerInnen selbst für fristig fördert (siehe dazu Zubayr/Geese 2005). durchaus erstrebens- und erhaltenswert erach- Eine wesentliche Unterscheidung zwischen ten. So zeigt sich für Deutschland, dass die privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern ist mediale Informationsnutzung gegenüber ande- neben dem gesetzlichen und gesellschaftlichen ren Medieninhalten in den letzten Jahren sogar Auftrag die damit gekoppelte Legitimation ge- zugenommen hat (Gerhards/Klingler 2005). Für genüber der Gesellschaft. Gerade diese sollte Österreich bestätigen Plasser und Ulram (2004), nicht ausschließlich in Marktanteilen und Reich- dass auch das österreichische Medienpublikum weiten evaluiert werden, sondern vor allem an im Vergleich zu anderen Themen durchaus ein- Kompetenz-, Image-, Nutzungs- sowie politi- gehend politisch informiert werden will. schen bzw. publizistischen Pluralitäts-Beurtei- MedienrezipientInnen sind somit durchaus an lungen. Direkte Konkurrenz um Unterhaltungs- „hard news“ interessiert. „… dass genuin poli- Kompetenz mit den Privaten macht offenbar tische Berichterstattung am Markt der öffentli- weder aus ökonomischer noch aus strategischer chen Aufmerksamkeit nicht mehr kompetitiv Sicht langfristig Sinn. Die vorrangige Posi- sei, wäre eine folgenreiche Unterschätzung der tionierung mit einem meritorischen Kulturgut Erwartung des Publikums an die tagesaktuelle scheint dem öffentlich-rechtlichen Status ver- Beichterstattung“ (Plasser/Ulram 2004, 71). träglicher als die Positionierung mit kom- Hinzu kommt, dass sich im Lichte des etablier- modifizierten Konsumgütern. Dabei scheint die ten dualen Systems in Deutschland das Publi- Abgrenzung von Inhalt und Kompetenz der pri- kum vor allem bei den öffentlich-rechtlichen vaten Rundfunkanbieter und folglich die Stär- Sendern informiert, während es sich von den kung des Informationsangebots als zielführende Privaten primär unterhalten lässt (Zubayr/ Strategie, die Differenzierung, Unverwechsel- Gerhard 2005). Diese Nutzendifferenzierung barkeit und gleichzeitig Legitimation sichert. und -orientierung hat in der deutschen Bevöl- Selbstkommerzialisierung scheint aufgrund kerung in den letzten Jahren ebenfalls zugenom- der präsentierten empirischen Erfahrungswerte men (vgl. dazu Ridder/Engel 2005; Zubayr/ eine Legitimationsfalle und somit eher eine Stra- Geese 2005). Dementsprechend kommt hinzu, tegie der Selbstkannibalisierung darzustellen als dass öffentlich-rechtliche Sender in der Image- eine nachhaltige Überlebensstrategie für öffent- Beurteilung für anspruchsvolles, glaubwürdiges lich-rechtliche Anbieter. Dabei geht es nicht um Programm stehen, während Private vorrangig eine ausschließende Entscheidung zwischen mit unterhaltendem und emotionalem Pro- Information und Unterhaltung, sondern um ein gramm identifiziert werden (siehe dazu Bret- ausgewogenes und verträgliches Verhältnis, schneider/Hawlik 2001; ORF-Medienforschung sowohl was das Angebot als auch die Ressour- 2006; Zubayr/Geese 2005). Die Kompetenz- cen-Bindung betrifft. Außerdem können Infor- Zuschreibung liegt bei den Öffentlich-Rechtli- mationssendungen genauso niveaulos sein wie chen somit deutlich bei der Information und bei Unterhaltungsangebote kreativ, innovativ und den Privaten bei der Unterhaltung. niveauvoll. 376 Günther Lengauer

Abgrenzung vom privat-kommerziellen An- jahr 2003) umfasst die Qualitätszeitungen Die Presse gebot unterstützt dabei nicht nur die gesell- und Der Standard sowie die Hörfunksendungen Ö1- Morgenjournal, Ö1-Mittagsjournal, Ö3-Mittags- schaftliche, sondern auch die politische Legiti- journal; die TV-Hauptnachrichtensendungen Zeit im mation. Die EU-Kommission beurteilt Rund- Bild 1, Zeit im Bild 2 und die privat-kommerzielle funkgebühren grundsätzlich als Wettbewerbs- Abendnachrichten-Sendung ATV-plus-aktuell – verzerrung, wenn sie nicht mit „besonderen insgesamt 3.214 Sendungs- und Printbeiträge. Das Sample 2 (2. Halbjahr 2005) umfasst die Zeit im Dienstleistungen“ zu rechtfertigen sind. Un- Bild 1 und ATV-aktuell – in Summe 712 Sendungs- verwechselbarkeit und folglich das Anbieten beiträge. An einem Subsample von zwei Prozent des eines Dienstleistungs-Unikats, das nur öffent- gesamten Untersuchungssamples (80 zufällig aus- lich-rechtliche Anbieter leisten können bzw. gewählte Beiträge) wurden ein Intercoder-Reliabi- litätstest (vier CodiererInnen) und ein Validitätstest wollen, ist somit gleichzeitig Legitimationsbasis (Übereinstimmung zwischen CodiererInnen und für das Sichern der finanziellen Basis. Eine un- Forscher/Autor) durchgeführt. Kumuliert für alle un- verwechselbare öffentlich-rechtliche Signatur tersuchten Variablen (nominal-skalierte, ordinal- auf Basis von Pluralität, Seriosität, Ausge- skalierte und ratio-skalierte) ergeben sich insgesamt ein durchschnittlicher Reliabilitätswert von 0.882 wogenheit oder innovativer Kreativität kann und ein Validitäts-Koeffizient von 0.935. dazu die Grundlage bilden. 5 Dabei handelt es sich um Parteien- und Sozialpart- ner-VertreterInnen. Es ist anzumerken, dass es sich hierbei um einen rein quantitativen Indikator der Pluralität handelt, der nichts über die Qualität der Medien-Präsenz aussagen kann. Von politischer Seite kann Nicht-Präsenz – bei kritisch-konfron- ANMERKUNGEN tativen Themenlagen – ebenso als strategisches Kommunikationsziel gelten. Zudem hängt die Prä- 1 Die folgenden Ausführungen sind vom Autor vor- senz von politischen AkteurInnen nicht ausschließ- genommene und synoptisch-bearbeitete Zusammen- lich von unreflektierten journalistischen Selektions- fassungen und Auszüge aus dem ORF-Gesetz. Ge- entscheidungen per se ab, sondern ist stark mit dem setzestext online unter: www.rtr.at/web.nsf/deutsch/ Nachrichten- und Neuigkeits-Angebot von politi- Rundfunk_Rundfunkrecht_Gesetze_RFGesetze_ scher Seite selbst verknüpft. ORF-G. 6 Für diese komparative Analyse wurden ausschließ- 2 Zu den ORF-Nachrichten (im Beitrag auch als ORF- lich die Titelseiten von Presse und Standard für den- Medien bezeichnet) zählen in dieser Untersuchung selben Untersuchungszeitraum im 2. Halbjahr 2003 die reichweitenstärksten und überregionalen TV- herangezogen, da so die analytische Vergleichbar- und Radio-Informationsformate: Zeit im Bild 1, Zeit keit mit TV-Abendnachrichten besser (wenn auch im Bild 2, Ö1-Morgenjournal, Ö1-Mittagsjournal eingeschränkt) hergestellt werden kann, als wenn und Ö3-Mittagsjournal. die gesamte und weit umfangreichere Berichterstat- 3 Obwohl der Abgleich mit Printmedien (kein gesetz- tung (inklusive Feuilleton- oder Reportagen-Stre- liches Objektivitätsgebot) zwangsläufig nur einge- cken) einer Tageszeitung der Zeit im Bild 1 gegen- schränkt vergleichbare empirische Befunde ergeben übergestellt wird. kann, liefert er empirische Anhalts- und Orien- 7 Für diese Analyse wurden jeweils sämtliche Sen- tierungspunkte sowie eine Bestandsaufnahme zur dungsbeiträge herangezogen. österreichischen medialen Öffentlichkeit und bildet 8 Für jeden Beitrag mussten die CodiererInnen auf vor allem einen journalistischen Kontextrahmen zur einer dreistufigen Likert-Skala abstufen und ent- komparativen Einordnung auf Basis derselben Nach- scheiden, welcher Aspekt überwiegt bzw. ob beide richtenlage. Zum Vergleich wurden die im Unter- Perspektiven gleichrangig vermittelt werden (basie- suchungszeitraum reichweitenstärksten, tages- rend auf qualitativen wie auch quantitativen Dimen- aktuellen und überregionalen Qualitätszeitungen Die sionen). Presse und Der Standard ausgewählt. Sie sind per 9 An dieser Stelle wird analytisch unterschieden, wel- Eigendefinition stärker dem normativen Qualitäts- chen Eindruck der gesamte Beitrag zu einer Partei und Pluralitätspostulat verpflichtet als andere kumuliert vermittelt. Dieser Eindruck kann die Fol- österreichische Printmedien (z. B. Neue Kronen ge von expliziten bzw. impliziten Werturteilen in Zeitung) und erscheinen im selben publizistischen Wort und/oder Bild (semantischer Kontext) sein. Die Tages-Rhythmus wie die untersuchten ORF-Nach- CodiererInnen hatten dabei die Möglichkeit auf ei- richtensendungen. ner dreistufigen Likert-Skala zwischen „eher posi- 4 Für die systematischen Stichproben für das 2. Halb- tiver Gesamteindruck“, „ambivalent/gleichgewich- jahr 2003 und das 2. Halbjahr 2005 wurde jeweils tig“ und „eher negativer Gesamteindruck“ zu un- ein künstliches Monat in derselben systematischen terscheiden. Waren keine Wertungen erkennbar, Zusammensetzung gebildet. Das Sample 1 (2. Halb- wurde „neutral/nicht erkennbar“ codiert. ORF-Nachrichten im Spannungsfeld zwischen Professionalität, Profit, Publikum und Politik 377

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. News people around the world, Cresskill/ AUTOR NJ, 213–227. SOS ORF (2006). SOS ORF, Wien. Online unter: Günther LENGAUER ist Politologe und seit 2004 www.sos-orf.at. Leiter der Research-Abteilung von MediaWatch, Insti- Wilke, Jürgen/Carsten Reinemann (2000). Kanzlerkan- tut für Medienanalysen, in Innsbruck. Nach dem Studi- didaten in der Wahlkampfberichterstattung. Eine ver- um der Politikwissenschaft in Innsbruck und Stuttgart gleichende Studie zu den Bundestagswahlen 1949– arbeitete er als Journalist und ist Absolvent des 1998, Köln. Redaktionslehrgangs “Magazinjournalismus” bei Trend/ Zubayr, Camille/Stefan Geese (2005). Die Informations- profil in Wien. 2000 bis 2003 Freier wissenschaftlicher qualität der Fernsehnachrichten aus Zuschauersicht, Mitarbeiter für das Ludwig Boltzmann Institut für an- in: Media Perspektiven, 4, 152–162. gewandte Politikforschung unter der Leitung von Univ.- Zubayr, Camille/Heinz Gerhard (2005). Tendenzen im Prof. Dr. Fritz Plasser in Wien. 2000 bis 2002 DOC- Zuschauerverhalten, in: Media Perspektiven, 3, 94– Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissen- 104. schaften. 2001 bis 2003 Studium im Rahmen eines Fulbright Fellowships an der University of Illinois at Chicago, Degree Candidate (M.A. in Communication). 2003 Research Assistant im Rahmen des PEW Internet & American Life Projects.

Kontakt: MediaWatch GmbH, Innrain 25, A–6020 Innsbruck. E-mail: [email protected].