POLIS 43 Analysen – Meinungen – Debatten
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Hessische Landeszentrale für politische Bildung POLIS 43 Analysen – Meinungen – Debatten Walter Mühlhausen Demokratischer Neubeginn in Hessen 1945–1949 Lehren aus der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft Polis43_U1.indd 1 27.07.2005 10:09:14 POLIS soll ein Forum für Analysen, Mei- nungen und Debatten aus der Arbeit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) sein. POLIS möchte zum de- mokratischen Diskurs in Hessen beitragen, d.h. Anregungen dazu geben, wie heute möglichst umfassend Demokratie bei uns verwirklicht werden kann. Der Name POLIS erinnert an die große geschichtliche Tradition dieses Problems, das sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen immer wie- der neu stellt. Politische Bildung hat den Auftrag, mit ihren bescheidenen Mitteln dazu einen Beitrag zu leisten, indem sie das demokratische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gegen drohende Gefahren stärkt und für neue Herausforderungen sensibilisiert. POLIS soll kein behäbiges Publikationsorgan für ausgereifte akademische Arbeiten sein, sondern ohne große Zeitverzögerung Materialien für aktuelle Diskussionen oder Hilfestellungen bei konkreten gesellschaftli- chen Problemen bieten. Das schließt auch mit ein, dass Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die nicht un- bedingt die Meinung der HLZ widerspiegeln. Polis43_U1.indd 2 27.07.2005 10:09:14 Demokratischer Neubeginn in Hessen 945–949 Inhalt Vorwort: Renate Knigge-Tesche 3 Walter Mühlhausen: Demokratischer Neubeginn in Hessen 945–949. Lehren aus der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft 5 . Befreiung und Neubeginn im Zeichen der Besatzungsherrschaft 8 2. Die Entstehung der Hessischen Verfassung 26 3. Konflikt und Konsens in der Besatzungszeit 47 Zitierte und weiterführende Literatur 7 Bildnachweis 75 Autor 76 43 Polis 2 Polis 43 Demokratischer Neubeginn in Hessen 945–949 Vorwort Am 19. September 2005 vor 60 recht, aber auch das Recht und Jahren unterzeichnete der Obers- die Pflicht zum Widerstand gegen te Befehlshaber der amerika- diktatorische Bestrebungen und nischen Streitkräfte in Europa, Verfassungsverletzungen – diese General Dwight D. Eisenhower, und andere Bestimmungen der die Proklamation Nr. 2, die Ge- hessischen Verfassung zeigen, burtsurkunde des Landes Hessen. dass ihre Mütter und Väter ein- In Artikel I hieß es: „Innerhalb der deutige Lehren aus der Vergan- amerikanischen Besatzungszone genheit gezogen hatten. Nicht werden hiermit Verwaltungsge- zuletzt kam auch der Bildung biete gebildet, die von jetzt ab als eine wichtige Rolle beim Aufbau Staaten bezeichnet werden; jeder der Demokratie zu. Das in der Staat wird eine Staatsregierung Verfassung verankerte Streben haben.“ Damit war „Groß-Hessen“ nach Chancengleichheit im Bil- aus der Taufe gehoben, welches dungswesen wurde in der Praxis – so die Proklamation weiter – die der inneren Neuorientierung er- Gebiete „Kurhessen und Nassau gänzt durch einen Geschichts- (ausschließlich der zugehörigen und Politischen Unterricht, der Exklaven und der Kreise Oberwe- die unmittelbare Vergangenheit sterwald, Unterwesterwald, Unter- nicht aussparte, sowie durch die lahn und Sankt-Goarshausen) und Einrichtung von Lehrstühlen für Hessen-Starkenburg, Oberhessen Politik an den Hochschulen. Da- und den östlich des Rheines ge- rin war Hessen für andere Länder legenen Teil von Rheinhessen“ wegweisend. umfasste. Ein gutes Jahr später, Als im April 1945 amerikanische am 1. Dezember 1946, trat die Truppen das heutige Hessen be- Verfassung des Landes „Hessen“ setzt hatten, der Krieg und damit – wie es nun offiziell genannt wur- auch die nationalsozialistische de – in Kraft. Eine breite Mehrheit Gewaltherrschaft beendet wa- der hessischen Bürgerinnen und ren, hätte niemand es für möglich Bürger hatte sich in einer Volksab- gehalten, dass binnen weniger stimmung für die Demokratie im als zwei Jahren die Basis für eine Lande ausgesprochen. stabile Demokratie geschaffen Die Annahme der Verfassung werden könnte. Zu verdanken ist bedeutete zugleich auch ein Be- 43 dies jenen politischen Kräften kenntnis der Bevölkerung zu ei- der ersten Stunde, vor allem in ner konsequent sozialstaatlichen den beiden stärksten hessischen Polis Zielsetzung der Landespolitik. Parteien SPD und CDU, welche Die Würde und Persönlichkeit sich unter Hintanstellung partei- des Menschen als Grundlage der licher Interessengegensätze dem Sozial- und Wirtschaftsordnung, Neuaufbau eines demokratischen das Recht auf Arbeit, das Streik- Gemeinwesens verpflichtet fühl- 3 Walter Mühlhausen ten. Ihnen war nur zu bewusst, das Nazi-Regime. Mit dem histo- warum die Weimarer Republik ge- rischen Verfassungskompromiss scheitert und das Tor zur Diktatur legten sie den Grundstein zu dem geöffnet worden war. Viele von nunmehr 60 Jahre alten Land Hes- ihnen verband die gemeinsame sen. Erfahrung der Verfolgung durch Renate Knigge-Tesche Leiterin des Referats III der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung 43 Polis 4 Demokratischer Neubeginn in Hessen 945–949 Walter Mühlhausen Demokratischer Neubeginn in Hessen 1945–1949 Lehren aus der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft Im Sommer 1942, zum Ende des der Verhaftung durch die Ge- dritten Kriegsjahres, verfasste stapo. Seine Denkschrift war für der ehemalige Reichstagsab- die Widerstandsgruppe um den geordnete Ludwig Bergsträsser ehemaligen hessischen Innenmi- eine Denkschrift über den poli- nister Wilhelm Leuschner (SPD) tischen Neuaufbau für die Zeit bestimmt. Darin entwickelte er nach Hitler.1 Der Archivar und den Plan, wie die Diktatur des Historiker, vormals Mitglied der nationalsozialistischen Deutsch- liberalen Deutschen Demokra- land zum demokratischen Ver- tischen Partei (DDP), hatte sich fassungsstaat zurückverwandelt gegen Ende der Weimarer Re- werden könnte, wie die Demo- publik der SPD angeschlossen. kratie nach Hitler wieder lang- Von den Nationalsozialisten so- sam aufzubauen war und welche fort nach ihrer Machtergreifung verfassungsrechtlichen Bestim- als Mitarbeiter der Außenstelle mungen aus der Weimarer Zeit des Reichsarchivs in Frankfurt am man übernehmen sollte und wel- Main entlassen, leistete der mitt- che nicht. Stillschweigend ging lerweile in Darmstadt ansässige Bergsträsser von einer Restaura- Pionier der modernen Parteien- tion des parlamentarischen Sys- forschung2 Kurierdienste zwi- tems in republikanischer Form schen sozialdemokratischen Emi- mit einem Präsidenten an der grantengruppen in Frankreich Spitze aus. Dieser Präsident sollte und Widerstandszirkeln im Reich. – das war die historische Lektion Er entging mehrfach nur knapp aus der unheilvollen Wahl des kai- 1 Die Denkschrift, auf der Bergsträsser 1947 handschriftlich notierte, dass er diese im Sommer 1942 verfasst habe, befindet sich in: Hessisches Staatsarchiv 43 Darmstadt, Nachlass Wilhelm Leuschner 45 (alte Signatur 4/8). Vgl. im Detail: Mühlhausen, Denkschrift. 2 1921 erschien seine grundlegende Studie: Ludwig Bergsträsser: Geschich- Polis te der politischen Parteien, Mannheim/Berlin/Leipzig 1921. Sie erlebte noch zu seinen Lebzeiten, von ihm selbst aktualisiert, die 10. Auflage. Die 11. (und letzte) Auflage erschien dann unter Bearbeitung von Wilhelm Mommsen 1965, nach Bergsträssers Tod. Vgl. zu seiner Biographie die Einleitung zu seinem Ta- gebuch von 1945 bis 1948, veröffentlicht als: Bergsträsser, Befreiung, S. 10 ff. Für ihn auch: Franz, Bergsträsser, S. 188 ff. 5 Walter Mühlhausen tungskörperschaften, dachte er ein Mitbestimmungsrecht bei Ge- setzentwürfen zu. Die Rückkehr zu demokratischen Strukturen war aber nur die eine Seite, die Bergsträsser beleuchtete. Eben- so wichtig erschien ihm für die Stabilisierung einer zweiten Re- publik auf deutschem Boden die Erziehung der Bürger zur Demo- kratie: „So wichtig die […] Fragen der Organisation einer parlamen- tarischen Regierung sind, man wird sich darüber klar sein müs- sen, dass sie das Wesentlichste nicht betreffen. Man kann […] diese Regierung konstituieren, einsetzen, man hat damit allein noch keine Garantie für ihre Dau- er.“ Und er fährt fort: „Wenn der Staatsbürger bestimmenden An- teil an der Regierung des Staates hat, muss er hierzu erzogen wer- den. […] Das parlamentarische System wird in Deutschland [...] nur dann bestehen können, wenn man Staatsbürger vorbildet […]. Nur ein ausgedehntes staatsbür- gerliches Bildungswesen wird dem deutschen Volke die Grund- lage schaffen, auf der ein parla- mentarisches System auf lange Zeit bestehen und fruchtbar ar- Ludwig Bergsträsser (SPD), 1945–1948 Regierungspräsident von Darm beiten kann.“3 Das waren Worte stadt, 1946 Mitglied der Verfassungberatenden Landesversammlung zu einer Zeit, als der deutsche und 1946–1949 des Landtages. Widerstand noch hoffen durfte, Hitler beseitigen zu können. Die serlichen Feldherrn Paul von Hin- Pläne zum Umsturz waren Berg- 43 denburg zum Reichspräsidenten strässer wohl in den Grundzügen im Frühjahr 1925 – allerdings bekannt; Leuschners Aufforde- Polis nicht mehr vom Volk, sondern rung, bereit zu sein und nach von Reichstag und Senat gewählt einem erfolgreichen Attentat werden. Dem Senat, bestehend Führungspositionen zu überneh- aus Vertretern der Selbstverwal- men, wurde von ihm bejaht. Doch 6 3 Denkschrift Bergsträssers [siehe Anm. 1]. Demokratischer Neubeginn in Hessen 945–949 war er offensichtlich nicht in den Boden gingen? Wie vollzogen Zeitpunkt eingeweiht, wann sich Befreiung und Neuaufbau das Attentat ausgeführt werden im Zeichen der Besatzungsherr- sollte. Im Juli 1944 war Bergsträs- schaft? (Kap. 1). Die Demokra- ser ahnungslos.4 tiegründung in Hessen nach Bei einem erfolgreichen