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LaG - Magazin

Der Umgang mit NS-Täterschaft und Kollaboration in der historisch-politischen Bildung und in der Erinnerungskultur 08/2016 26. Oktober 2016 Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion Umgang mit nationalsozialistischen Täterschaften und Verfolgungserfahrungen in Familie und Gesellschaft – zur Arbeit mit Nachkommen...... 5 „Stille Post – das beredte Schweigen meines Vaters“...... 10 Täter und Gehilfen – zwischen Freiwilligkeit und Zwang...... 17 Der Umgang mit der Erinnerung an national-sozialistische Besatzung, Shoah und Kollaboration in Lettland und Litauen...... 20 Die Täter-Opfer-Problematik in der Gedenkkultur am Bespiel der Kriegsgräberstätte Costermano...... 26 Zum Umgang mit Angehörigen der Waffen-SS auf Kriegsgräberstätten...... 31

Empfehlung Fachbuch Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte...... 35 Oliver von Wrochem (Hrsg.) „Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie“...... 39 Die Polizei im NS-Staat. Auseinandersetzung mit einer dunklen Vergangenheit...... 43 Erinnerungsfoto aus Auschwitz. Das Höcker-Album...... 46

Empfehlung Unterrichtsmaterial Täter, Opfer oder beides? Suizid eines jüdischen SS-Mannes...... 49

Bildungsträger Ministerien und die Aufarbeitung von NS-Vergangenheit – ein Werkstattbericht...... 51 Ortsbegehung – Stadtrecherchen zu Shoah und Täterschaft...... 53

Lebensbericht Eine Familiengeschichte im Nationalsozialismus und die Folgen...... 56

Magazin vom 23.03.2016 2 Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser, Vergangenheit erst auf Druck von Überle- wir begrüßen Sie zur neuen Ausgabe des benden oder von bürgerschaftlich engagier- LaG-Magazins. Wie der Titel besagt, bil- ten Menschen, häufig gegen die staatliche den Auseinandersetzungsformen mit NS- und mehrheitsgesellschaftliche Agenda, Täterschaft und Kollaboration dieses Mal geführt. Der erinnerungspolitische Um- den Schwerpunkt. In den letzten Jahren gang beispielsweise mit Sinti und Roma ist die Auseinandersetzung mit der Verstri- zeigt, dass hier noch viel Diskussions- und ckung in Nationalsozialismus und deutsche Handlungsbedarf besteht. Besatzung verstärkt in der Bildungsarbeit Oliver von Wrochem konstatiert eine thematisiert worden. Die Täterforschung in zunehmende Bereitschaft, sich in Deutsch- den Geschichtswissenschaften setzt sich seit land mit der Frage von Täterschaft, auch im den 1990er-Jahren in größerem Rahmen familiären Rahmen, auseinanderzusetzen. mit der Thematik auseinander. Seine Betrachtungen basieren auf der reich- Dennoch sind familienbiografische Nach- haltigen Erfahrung mit entsprechenden forschungen und Gespräche gesamtge- Seminaren, die von der KZ-Gedenkstätte sellschaftlich marginal. Hier stellt sich Neuengamme angeboten werden. die Frage, ob und inwieweit der derzeit Barbara Brix hat sich lange Jahre mit der stattfindende Rechtsruck, nicht nur in Geschichte ihres Vaters auseinanderge- Deutschland, mit familiären oder gesell- setzt, der als Mitglied der Waffen-SS und schaftlichen De-Thematisierungen und Arzt der Einsatzgruppe C in das Morden in Problematiken von Erinnerungskulturen an der Sowjetunion verstrickt war. In ihrem die NS-Mordtaten in Europa zusammen- Essay zeichnet die Autorin die Entwicklung hängt. Zumindest besteht in Mittel- und dieser Auseinandersetzung und die Fragen, Osteuropa ein konfliktbehaftetes Verhält- die sich für sie daraus ergaben, sehr persön- nis in den Erinnerungen an den „real exis- lich nach. tierenden Sozialismus“ und stalinistische Mit der ambivalenten Position zwischen Verbrechen auf der einen Seite und an Täterschaft und Opferdasein der Trawniki- deutsche Besatzung, Shoah, Porajmos und Männer, überwiegend sowjetische Kriegs- Kollaboration auf der anderen Seite. Die gefangene, die unter anderem in den Ver- meist geschichtspolitisch aufgeladenen Er- nichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ innerungskonflikte führen nicht selten zu eingesetzt wurden, setzt sich Angelika Benz nationalen Opfernarrativen, wie dies in den auseinander. baltischen Staaten oder auch der Ukraine Der Beitrag von Ingolf Seidel ist ein zu beobachten ist. In diesem Zusammen- Bericht über eine Exkursion zu Orten der hang ist jede Überheblichkeit von deutscher Zeitgeschichte in Lettland und Litauen im Seite aus unangebracht, wurden doch vie- Frühsommer dieses Jahres. Darin zeigt er le Diskussionen zum Umgang mit der NS-

Magazin vom 23.03.2016 3 Zur Diskussion die konkurrierenden Narrative zu sowjeti- Wir wünschen Ihnen eine gewinnbringende scher und deutscher Besatzung innerhalb Lektüre. der beiden baltischen Staaten auf.

Die norditalienische Kriegsgräberstätte für Ihre LaG-Redaktion deutsche Soldaten in Costermano dient für Rolf Wernstedt als Beispiel, sich mit den erinnerungskulturellen Herausforderun- gen und Schwierigkeiten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge auseinan- derzusetzen, die an einem Ort bestehen, an dem unter anderem NS-Täter wie Christi- an Wirth, und Gottfried Schwarz begraben liegen. Auch Henning Pieper nimmt sich des The- mas von Kriegsgräbern an. An drei Beispie- len, Weimar, Costermano und Lommel, führt er seine Betrachtungen zum Umgang mit Gräberstätten aus, die für Täter und Op- fer die letzte Ruhestätte sind. Carmen Ludwig bespricht das Buch „Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stel- len sich ihrer NS-Familiengeschichte“ von Alexandra Senfft, das autobiografische Aus- einandersetzungen zu elf Familiengeschich- ten im Nationalsozialismus beinhaltet.

Wir danken allen externen Autor_innen herzlich für die Mitarbeit.

Das nächste LaG-Magazin erscheint am 23. November. Es trägt den Titel „Extreme Rechte und Möglichkeiten präventiver Bil- dungsarbeit“.

Magazin vom 26.10.2016 4 Zur Diskussion

Umgang mit nationalsozialisti- 2009 bot die Gedenkstätte erstmals Recher- schen Täterschaften und cheseminare an, in denen sich Interessierte Verfolgungserfahrungen in mit der Frage beschäftigen, was ihre Ver- Familie und Gesellschaft – zur wandten im Nationalsozialismus getan bzw. Arbeit mit Nachkommen erlebt haben. Neben Nachkommen von Täte- rinnen und Tätern nehmen regelmäßig auch Von Oliver von Wrochem Verfolgtennachkommen, Wissenschaftle- Mit der zunehmenden zeitlichen Distanz rinnen und Wissenschaftler sowie weitere zum Nationalsozialismus ist in den vergan- Interessierte daran teil. Daneben etablierte genen Jahren eine Verschiebung des In- die Gedenkstätte verschiedene Gesprächs- teresses in Wissenschaft und Gesellschaft angebote, darunter ein Seminar, das sich an festzustellen: Standen bisher die nationalso- Täternachkommen richtet, die sich intensi- zialistischen Täterschaften im Fokus, gibt es ver mit NS-Täterinnen und Tätern und den inzwischen eine hohe Bereitschaft, sich mit Folgewirkungen von Täterschaft in der eige- den familiären und gesellschaftlichen Folgen nen Familie auseinandersetzen wollen. Die- von Täterschaften und Verfolgung im Natio- ses Seminar stößt auf regen Zuspruch – die nalsozialismus auseinanderzusetzen. Meine Nachfrage war zuerst deutlich größer als die bilanzierenden Überlegungen basieren auf nach Gesprächsangeboten für Nachkom- Erfahrungen aus der Arbeit mit Nachkom- men von NS-Verfolgten – was nicht zuletzt men von Verfolgten und Täternachkom- darin begründet ist, dass in Deutschland men an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme wesentlich mehr Nachkommen von Täte- sowie auf Forschungen zu NS-Täterschaften rinnen und Tätern als von Verfolgten leben. und NS-Verfolgung. Dass Nachkommen von NS-Täter_innen Rechercheseminare in der verstärkt Fragen zu ihrer eigenen Famili- KZ-Gedenkstätte Neuengamme engeschichte stellen, ist ein Ergebnis der Forschungen zur NS-Volksgemeinschaft Zwischen 2003 und 2006 wurde die KZ- und zu den Täterinnen und Tätern, die seit Gedenkstätte Neuengamme umgestaltet den 1990er Jahren stetig zunehmen. Vorher und erweitert: In diesem Zeitraum wurden waren es vor allem die Kinder und – selte- die Folgewirkungen von Täterschaft und ner – Enkel von prominenten Nazigrößen, Verfolgung für die zweite und dritte Gene- die sich die Frage stellten, wie sie mit dem ration in den Blick genommen und Inter- familiären Erbe umgehen sollen. Die Fra- views mit Nachkommen beider Gruppen ge „Was haben meine Verwandten im Na- geführt. Ihre Perspektive fand anschließend tionalsozialismus getan?“ stellen sich nun Eingang in die neue Hauptausstellung sowie auch Nachkommen von Mitläuferinnen und die Ausstellung über die Lager-SS des KZ Mitläufern, Zuschauerinnen und Zuschau- Neuengamme. ern. Zudem nimmt die Auseinandersetzung

Magazin vom 26.10.2016 5 Zur Diskussion mit Mittäterschaft und Kollaboration in weiter – und zwar weltweit, in Deutschland, ehemals von Deutschland besetzten Län- in den besetzten Ländern, in den so genann- dern zu, mit der Folge, dass in diesen Län- ten neutralen Staaten, aber auch in der so dern Fragen nach familiengeschichtlichen genannten Dritten Welt, sowohl in Gesell- Bezügen zu NS-Verbrechen laut werden. schaften wie in Familien. Es bestand eine Zeit lang die Sorge, dass Unterschiede der Nachkommen von mit der stärkeren Aufmerksamkeit für die Täter_innen und Verfolgten Ursachen und Folgen von Täterschaft und Es gibt einen ganz wesentlichen Unter- die Arbeit mit Täternachkommen die Auf- schied zwischen Täter- und Verfolgtennach- merksamkeit für das Schicksal der Verfolg- kommen: Während erstere bis heute in ihrer ten und deren Nachkommen in den Hinter- Mehrzahl eher ungern auf ihre Familienge- grund treten könnte. Doch hat sich diese schichte schauen und in ihrer Sozialisation Sorge als unbegründet herausgestellt. So hat kaum mit der Täterschaft in der eigenen sich durch Internationalisierung und Ver- Familie konfrontiert werden, bildet die netzung (z.B. im jährlich stattfindenden Fo- Auseinandersetzung mit den Folgen der NS- rum „Zukunft der Erinnerung“ und im Blog Gewalt bei Nachkommen von Verfolgten „Reflections on Famliy History affected by meist einen wichtigen Teil ihrer lebenswelt- Nazi Crimes“, aber auch in Seminaren und lichen Orientierung. Zumal wenn Verwand- Tagungen) die Arbeit mit Angehörigen von te ermordet wurden, können Nachkommen Verfolgten zu einem festen Bestandteil der von Verfolgten oftmals ihrem familiären Arbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Erbe gar nicht ausweichen. Während es für entwickelt. Zudem machen die Angebote für letztere Gruppe selbstverständlich ist, die Nachkommen von Verfolgten und von Tä- eigene Familiengeschichte in der Gesell- terinnen und Tätern keineswegs der Arbeit schaftsgeschichte des Nationalsozialismus mit anderen Zielgruppen Konkurrenz, viel- und seiner Verbrechen zu verorten, fehlt mehr eröffnen sie Fragestellungen, die für diese Verortung bei den meisten Täter- alle Besuchergruppen relevant sind und die nachkommen. Sie erkennen die Verbrechen Gedenkstättenarbeit insgesamt bereichern. zwar an, dekontextualisieren sie jedoch, in- So lassen sich aus der Arbeit mit dem sie ausblenden, dass die Verbrechen Täternachkommen ebenso wie aus der Ar- von Menschen begangen wurden, die nicht beit mit Verfolgtennachkommen Perspek- fremd, sondern mit ihnen verwandt sind. tiven gewinnen für die Auseinandersetzung Die Tendenz zur Distanz und Abstrakti- mit Nationalsozialismus und Zweitem Welt- on wohnt dem Umgang vieler Täternach- krieg, darunter auch in globalgeschichtlicher kommen mit dem und anderen Dimension. Ähnlich wie der Kolonialismus NS-Massenverbrechen inne. Damit set- und der Stalinismus wirken die Folgen des zen sie eine Tendenz fort, die bereits der Nationalsozialismus bis in die Gegenwart

Magazin vom 26.10.2016 6 Zur Diskussion

NS-Täterschaft selbst – wie anderen Formen und rassisch Verfolgten bildet das Wissen der Massengewalt – eigen ist. Zwar wurde um das Familienschicksal zudem häufig ei- die NS-Gewalt im Vollzug von einer großen nen festen Bestandteil ihrer Sozialisation Gruppe in der Gesellschaft als legitim ge- und ist in die Familienüberlieferungen ein- rechtfertigt, aber bereits während der Hand- geschrieben. Dies gilt allerdings weniger für lung von der eigenen Person entkoppelt und die Nachkommen von Verfolgtengruppen, umgedeutet, indem sie etwa als „notwendige die bis heute um Anerkennung kämpfen, Maßnahme“ durchgeführt und erinnert wur- unter anderem beispielsweise als asozial de. Nach dem Ende der Massengewalt woll- oder kriminell Verfolgte oder Opfer der NS- te es niemand der daran Beteiligten gewesen Militärjustiz. sein und kaum jemand konnte sich erklären, Was hat meine Familie im weshalb Menschen zu „so etwas“ in der Lage Nationalsozialismus getan? sind. Diese Entkopplung setzt sich in der ge- Angesichts der fortschreitenden Historisie- nerationalen Überlieferung in Familien und rung kann die familiengeschichtliche Frage- Gesellschaften bis heute fort. Die Überliefe- stellung – was hat meine Familie in der Zeit rung im privaten Rahmen der Familie war des Nationalsozialismus getan – für viele und ist auf Seiten dieser Gruppen auch des- Menschen einen relevanten Zugang zur Ver- halb oft unverbunden mit dem öffentlichen gangenheit bieten, weil sie einen wichtigen Sprechen über die NS-Verbrechen. Insofern gegenwärtigen Bezug zum historischen Ge- ist ein Ziel der Seminare, den gesellschaft- schehen herstellt: was geht mich das noch lich vorherrschenden gespaltenen Zugang an? Betrachtet man Nationalsozialismus zum Nationalsozialismus bei den Nachkom- und Zweiten Weltkrieg als globalgeschichtli- men von Täterinnen und Tätern, aber auch che historische Ereignisse, deren Folgen die von Mitläuferinnen und Mitläufern wie Gesellschaften weltweit bis heute prägen, so Zuschauerinnen und Zuschauern zu min- stellt sich diese Frage nicht nur in Deutsch- dern. land, sondern auch in den ehemals besetz- Dagegen schlagen Nachkommen von NS- ten Ländern und Kollaborationsregimen, in Verfolgten häufig eine Brücke zwischen der Ländern, die Flüchtlinge aufgenommen ha- eigenen Familiengeschichte und der Gewalt- ben (oder nicht aufgenommen haben) oder geschichte des Nationalsozialismus. Diese eben auch in den damals sogenannten neut- Gruppe ist sich bewusst, dass die Verfol- ralen Staaten. Allerdings stellt sich die Frage gung ein Kollektivschicksal bildete, das ihre in der postnationalsozialistischen deutschen Verwandten nicht zufällig ereilte, sondern Gesellschaft dringlicher, denn hier sind die auf Grundlage von damals herrschenden Folgen der NS-Gewalt bis in die Gegen- gesellschaftlichen Ideologemen wie Rassis- wart überall auffindbar, und die Verweige- mus, Antisemitismus oder Antiziganismus rung, dies zu erkennen und zu reflektieren, stattfand. Bei Nachkommen von politisch führt dazu, dass zwischen dem öffentlichen

Magazin vom 26.10.2016 7 Zur Diskussion

Gedenken an die NS-Massenverbrechen und die sich kritisch mit ihrer Familiengeschich- privaten Erzählungen und Überlieferungen te auseinandersetzen. In einer 2014 abgege- in Familien in Deutschland nicht selten eine benen Erklärung heißt es in diesem Sinne: erhebliche Diskrepanz besteht. „Die Kinder von Tätern und die Kinder von Gespeist von wissenschaftlichen Erkennt- KZ-Häftlingen […] müssen mit den Folgen nissen ist die Zahl jener Täternachkom- einer Vergangenheit umgehen, für die sie men, die über ihre Familiengeschichte in selbst keine Verantwortung tragen. Sie kön- kritischer Weise publizieren oder die sich in nen und sollten gemeinsam handeln, damit künstlerischen Auseinandersetzungen mit die Verbrechen, die ihre Eltern verübt ha- den Folgen für ihr eigenes Leben befassen, ben oder erleiden mussten, sich nicht wie- erfreulicherweise ansteigend. Nicht nur in derholen.“ Deutschland, auch in ehemals von Deutsch- Die Vermittlung von Wissen über die NS- land besetzten Ländern wächst das Interes- Gewaltverbrechen und deren Ursachen ist se an der Auseinandersetzung in Bezug auf aber nicht nur für Verfolgten- wie Täter- Täterschaft und Kollaboration der eigenen nachkommen, sondern für alle Menschen Vorfahren. Diese Nachkommen treten häu- relevant, ebenso die Beschäftigung mit den fig in Distanz zu vorherrschenden Familie- Folgen von Gewalt, sie bildet die Grundlage nerzählungen, in denen die familiäre Ver- eigener Urteilsfähigkeit und eines reflektier- gangenheit abgewehrt bzw. ignoriert wird, ten Geschichtsbewusstseins in Bezug auf die sie artikulieren Loyalitätskonflikte, die mit historischen Ereignisse und ihre Folgen. Fa- der Anerkennung der Schuld ihrer Angehö- miliäre und gesellschaftliche Folgewirkun- rigen einhergehen, innerfamiliäre Verwer- gen von Täterschaften und von Verfolgung fungen, Kontaktabbrüche und das Erlebnis haben nicht nur bezogen auf den National- der Unfähigkeit ihrer Täterverwandten zu sozialismus einen hohen Erklärungswert für Reue. gesellschaftliche Prozesse. Die Motivation Auch die Verfolgtennachkommen setzen der an Verbrechen Beteiligten sowie Ent- sich zunehmend öffentlich mit ihrer Fami- stehungsbedingungen und Mechanismen liengeschichte auseinander und fragen nach der ausgeübten Gewalt, das Schicksal der den Folgen für ihr eigenes Leben. Die öf- von dieser Gewalt betroffenen Gruppen und fentliche Resonanz von familiengeschicht- der Umgang mit den Gewaltakteuren nach licher Literatur ist auch hier ein Faktor für Kriegsende spielen deshalb in der Bildungs- die intensivere Beschäftigung mit der fa- arbeit von Gedenkstätten eine zunehmend miliären Vergangenheit. Und gerade jene, bedeutende Rolle – und zwar mit allen Be- die an die Öffentlichkeit gehen, verbinden suchergruppen. damit ein politisches Mandat, das im Kern Es geht in der Auseinandersetzung mit ein „Nie wieder“ beinhaltet. Dieses Mandat den Vergangenheiten stets auch um uns; verbindet sie mit jenen Täternachkommen, unser Geschichtsbewusstsein, die Ver-

Magazin vom 26.10.2016 8 Zur Diskussion fasstheit der Gesellschaft, die familiären Umgangsweisen, die eigene Stellung zu gegenwärtigen Herausforderungen, bei- spielsweise der eigenen Stellung zu gesell- schaftlichem Rassismus, der sich beispiels- weise im Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und völkischen Tendenzen in Europa im Umgang mit Flüchtlingen, aber auch im Umgang mit andauerndem Antizi- ganismus, Antisemitismus und Islamfeind- lichkeit zeigt. Die Auseinandersetzung mit den familiären und gesellschaftlichen Fol- gen von Täterschaft und von Verfolgung geht uns deshalb alle an. Literatur

Oliver von Wrochem unter Mitarbeit von Christine Eckel (Hg.), Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016.

Thorsten Fehlberg/Jost Rebentisch/Anke Wolf (Hrsg.), Nachkommen von Verfolgten des National- sozialismus. Herausforderungen und Perspektiven, am Main 2016.

Über den Autor Dr. Oliver von Wrochem ist Historiker und seit 2009 Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Magazin vom 26.10.2016 9 Zur Diskussion

„Stille Post – das beredte Unter den Papieren waren zwei Zeugen- Schweigen meines Vaters“ [1] aussagen meines Vaters, in denen er zur Einsatzgruppe C befragt wurde. Aber auch Von Barbara Brix zu seiner eventuellen Beteiligung oder Der Tiefpunkt meiner Nachforschungen wie Anwesenheit bei einer oder mehreren auch der inneren Auseinandersetzung mit Erschießungsaktionen. meinem Vater lag, so scheint es mir jetzt, im Gespräche? Fehlanzeige! September 2012. Bis zu meinem 65. Lebensjahr lag – so dach- Zweieinhalb Tage lang hatte ich mir die te ich lange – eine Decke des Schweigens vorbestellten Unterlagen in der Zentra- über der nationalsozialistischen Vergangen- len Stelle der Landesjustizverwaltung zur heit und den Kriegsjahren meines Vaters. Aufklärung von NS-Verbrechen angeschaut Und doch war da immer etwas, was diffus, und mich durch einige hundert Seiten aber fühlbar durch die Zeiten mitging. Vernehmungsprotokolle aus den Prozes- sen gegen SS-Täter in den Heute kommt es mir eher wie ein Nebel gelesen. vor, aus dem hier und da Spitzen, Hinweise herausstachen, die ich hätte ergreifen, be- Eine blutige Spur hatten die Kommandos denken, erforschen, erfragen können. Ich der Einsatzgruppen C und D vom Sommer tat es nicht wirklich. 1941 bis zum Frühjahr 1944 durch die Uk- raine gezogen. Zusammen mit deutschen Da waren seine Beinprothesen. Irgendwann Polizeibataillonen und einheimischen Kol- und irgendwo hatte er im Krieg seine Bei- laborateuren ermordeten sie, parallel zu den ne verloren. Da war die Geschichte meines Operationen der Wehrmacht und teilweise Onkels. Da war die SS-Anstecknadel, die mit deren Unterstützung, Hunderttausende ich als Halbwüchsige auf dem Grunde ei- galizischer und ukrainischer Juden. ner Kleidertruhe auf dem Dachboden fand. Da waren eine gemeinsame Reise und ein Als ich an dem letzten meiner Archivtage Gespräch in der Intimität des Autos, von durch die spätsommerlich warme Stadt zu dem ich nur noch den einen Satz präzise meinem Hotel zurückging, drängten sich erinnere: “Wir dachten damals: ‚Wo geho- in meinem Kopf die Bilder von Massenexe- belt wird, da fallen auch Späne.’“ Auch wa- kutionen an jüdischen Frauen und Kindern ren da die hoch erregten Szenen im Wohn- durch deutsche Männer; und gleichzeitig zimmer, als meine Schwester und ich im vernahm ich deren Stimmen, wie sie sich Geist der 68er anklagend auf unsere Eltern gegenseitig die Schuld zuwiesen, Ausflüch- eindrangen: “Wo wart ihr damals? Was te suchten, ihr Alter vorschützten, Gedächt- wusstet ihr?“ und ihre hilflos abwehrenden nisausfälle in Anspruch nahmen und offen- Reaktionen. sichtlich auch schamlos logen.

Magazin vom 26.10.2016 10 Zur Diskussion

Da war vor allem die mehrfach auftau- Nationalsozialismus ans Licht der Öffent- chende Bemerkung unserer Mutter, bei der lichkeit gedrungen war, und es in Unter- noch in ihren späten Jahren die Kränkung richt umgesetzt. Wie oft war ich in der KZ- der ursprünglichen Situation mitschwang: Gedenkstätte Neuengamme gewesen, wie dass ihr junger Ehemann sich von Lodz aus viele Projekte hatte ich mit Schülern dazu „freiwillig an die russische Front gemeldet“ gemacht, auch ein Büchlein über einen jüdi- hätte, als sie mit mir hochschwanger war schen Lehrer meiner Schule verfasst… und ihr nichts anderes übrig blieb, als in ihr Ich schob das Nachdenken über die Breslauer Elternhaus zurückzukehren. Verwicklung meines Vaters in die NS-Ver- Als mein Vater 1980 starb, schien dieses brechen zunächst einfach weg. Kapitel erledigt, ohne dass ich es jemals In der Kindheit und Jugend war er mir wirklich aufgeschlagen hatte. geistiger Mentor und maßgebliche morali- 26 Jahre nach seinem Tod, als ich gerade sche Instanz gewesen. Nun war neben das pensioniert worden war, erhielt ich einen Bild meines zugewandten, inspirierenden, Hinweis von einem befreundeten Histori- gleichzeitig ernsten und anspruchsvollen ker, dass er bei seinen Nachforschungen Erziehers plötzlich und unverbunden ein über die Baltendeutschen in der SS auch auf neues, schattenhaftes, beängstigende Fan- meinen Vater gestoßen war. Er sei Arzt der tasien freisetzendes getreten, hinter dem Einsatzgruppe C gewesen. sich Abgründe zu öffnen schienen. Ich fühlte Es traf mich wie ein Schock. Aber fast gleich- mich außerstande, diesen Zwiespalt aufzu- zeitig fiel es mir auch wie Schuppen von den lösen. Augen: Er war nicht „an die russische Front Nachforschungen gegangen“, sondern mit den Einsatzgrup- Erst ein Jahr später – im Rahmen meiner pen im Sommer 1941 in die Sowjetunion Bewerbung für ein Freiwilligenjahr mit „Ak- eingefallen. tion Sühnezeichen Friedensdienste“ und de- Ich hatte erstmalig in den 1990er Jahren auf ren Bedingung, auch familiengeschichtlich der Ersten und Zweiten Wehrmachtsaus- zu forschen – nahm ich den Faden auf. stellung von den Einsatzgruppen erfahren – Vom Bundesarchiv in Berlin erhielt ich ein fassungslos, wie es einem immer wieder er- Kompendium, den Antrag auf „Heiratsge- geht, wenn man sich mit weiteren, bis dato nehmigung“, den mein Vater, Untersturm- noch unbekannten Gräueltaten des Natio- führer der SS, im Juli 1940 an das „R. u. S. nalsozialismus konfrontiert sieht. Hauptamt“ (Rasse- und Siedlungshaupt- Aber eigentlich hätte ich früher Be- amt) gerichtet hatte. Aus Ludwigsburg ka- scheid wissen können; hatte ich doch men zwei Vernehmungsprotokolle, in denen spätestens seit den 198oger Jahren al- er 1966 und 1968 als Zeuge befragt worden les aufgesogen, was allmählich über den war.

Magazin vom 26.10.2016 11 Zur Diskussion

Mit der Lektüre dieses Protokolls im Kopf, aufzusuchen. Vor allem aber erleichterte es irritiert und abgestoßen von der darin wie- mich zu sehen und zu hören, dass andere derkehrenden Wendung „Davon ist mir Menschen meiner Generation - und auch nichts bekannt“, geriet ich 2007 in Paris in der nachfolgenden - ebenso, manche sogar die Ausstellung „La Shoa par balles“ („Die noch viel mehr, an dieser familiären Situati- Shoah durch Erschießungen“). on zu knacken hatten. Sie dokumentierte hauptsächlich den Weg II. Der Werdegang und die des 4a durch die west- Kriegsgeschichte meines Vaters liche Ukraine und listete z. B. exemplarisch Mein Vater wurde 1912 in Riga, damals ein Kalendarium der Erschießungsaktionen noch eine russische Stadt, als jüngstes von für den Monat auf: Alle zwei bis vier Kindern in eine gutbürgerliche Familie drei Tage zogen Einheiten des Kommandos hineingeboren. Er besuchte das Deutsche in die umliegenden Dörfer, trieben die dort Klassische Gymnasium und absolvierte ein lebenden Juden zusammen, brachten sie um Medizinstudium an der Universität Riga. und verscharrten sie in Massengräbern. Die „Seit ihrer Gründung im Januar 1933 gehör- kalte Systematik ihres Vorgehens erlebte ich te“ er nach eigenem Bekunden „der illega- als so ungeheuerlich, dass ich die Ausstel- len Nationalsozialistischen Volksdeutschen lung am Abend wie betäubt verließ. Lange Partei in Lettland“ an, die sein ältester Zeit vermochte ich keinen klaren Gedanken Bruder gegründet hatte, und war bis zu sei- zu fassen, geschweige denn die Rolle mei- nem Staatsexamen „in ihr tätig, zuletzt als nes Vaters in diesem Geschehen gedanklich Scharführer“. zu klären. In inneren Bildern sah ich ihn in Strömen von Blut marschieren oder unifor- Nach dem Examen verließ mein Vater Lett- miert mit anderen Uniformierten rauchend land und machte an verschiedenen deut- an einer mit Leichen gefüllten Grube stehen. schen Universitätskliniken seine Ausbil- Hatte ich ein Ungeheuer zum Vater gehabt? dung zum Kinderarzt. Ich wusste ja, dass nicht selten die brutals- Im September 1939 hatte er sich „als Kriegs- ten Täter zu Hause die liebevollsten Väter freiwilliger bei der Waffen-SS gemeldet. Im gewesen waren. Oktober wurde ich bei der SS Leibstandarte Erneut ließ ich meine Nachforschungen für ‚’ eingestellt“. eine Weile ruhen. „Etwa 4 Wochen vor Beginn des Rußland- 2011 besuchte ich in der Gedenkstätte Neu- feldzuges wurde ich vom Sanitätsersatzamt engamme das Seminar „Ein Täter, Opfer, der Waffen-SS in Berlin zu einer Einsatz- Zuschauer in der Familie“. Es half mir me- gruppe abkommandiert. Diese Gruppe lag thodisch weiter und bestärkte mich darin, in der Nähe von Torgau“, so liest sich die die Archive in Freiburg und Ludwigsburg Aussage meines Vaters 25 Jahre später in

Magazin vom 26.10.2016 12 Zur Diskussion einer der Zeugenvernehmungen. Mehrere als Zeugen benannte (untergeord- Dieser Aufbruch - oder vielmehr der Anstoß nete) Mitglieder der EG C erkennen in der dazu - bleibt widersprüchlich. Meine Mutter ihnen vorgelegten „Lichtbildmappe“ unter beharrte bis zum Ende ihres Lebens darauf, Nr. 51 – 52 „unseren Arzt Dr. K.“ wieder. er sei freiwillig gegangen. Es wäre aber auch In den beiden Aussageprotokollen von 1966 denkbar, dass sie diesen Akt mit seiner frei- und 1968 bestreitet er, von den Massa- willigen Meldung zur Waffen-SS knapp zwei kern an den ukrainischen Juden gewusst Jahre zuvor verwechselt. zu haben, geschweige denn bei einem Der „Weggang“ meines Vaters sollte in oder mehreren dabei gewesen zu sein: Es mehrfacher Hinsicht ein familiäres Schlüs- sei ihm während seiner Tätigkeit als Arzt selerlebnis werden. bei der Einsatzgruppe „nie voll bewusst oder bekannt geworden (ist), daß es zum Meine schwangere Mutter kehrte notge- Schwerpunkt der Aufgaben des Komman- drungen in ihr Elternhaus zurück. Zwei und dos gehörte, an der Vernichtung des Juden- ein halb Monate später wurde ich als erstes tums mitzuwirken.“ Kind und älteste Tochter in Breslau geboren. Doch gibt er bei einer weiteren Vernehmung Da war mein Vater schon mit dem Stab der aus dem Jahre 1969 (als Zeuge im Prozess EG C quer durch die Ukraine über Lemberg, gegen seinen Bruder), auf deren Kopie ich Rowno, Shitomir, Winniza bis Kiew gezo- erst kürzlich stieß, immerhin zu, er hätte gen. sich „damals, im Krieg, als ich beim Grup- Nach seiner Aussage war er medizinisch für penstab war, von diesen Dingen, die ich na- die gesamte EG C mit ihren 6 EKs sowie ei- türlich ahnte und von denen ich gerüchte- nige nahe gelegene Wehrmachtslazarette weise hörte, distanziert, was mir in meiner zuständig und sagte aus, er sei „mit gewissen Stellung auch ohne weiteres möglich war.“ Unterbrechungen fast ständig unterwegs zu Vieles spricht dafür, dass er noch in Kiew den einzelnen Kommandos und weiteren war, als am 28. und 29. September 1941 ganz abgezweigten Gruppen gewesen (bin), um in der Nähe, in , 33. 771 Juden, un- meiner Aufgabe als Arzt gerecht zu werden.“ ter brutalsten Umständen erschossen und in Nach bisherigem - und wahrscheinlich auch eine Schlucht geworfen wurden. endgültigem - Kenntnisstand sind im Zu- Laut den Ereignismeldungen, die alle Kom- sammenhang mit Erschießungsaktionen mandos regelmäßig nach Berlin zu schi- zwei bis drei Situationen aktenkundig, in cken verpflichtet waren, ermordete die Ein- denen von der Präsenz „des Arztes“ oder satzgruppe C vom Juni 1941 bis zu ihrem auch „der Ärzte“ der EG die Rede ist, ohne Rückzug aus der Ukraine (1944) 118.314 dass Namen fallen. Menschen.

Magazin vom 26.10.2016 13 Zur Diskussion

Mein Vater kehrte im Januar 1943 zur Alles in Allem, seine Aussagen und sei- Waffen-SS in die Wehrmacht zurück. In ne Persönlichkeit betrachtend, fand ich in den dann folgenden anderthalb Jahren hat Ludwigsburg und in der Zeit danach zu der er sich als Arzt des 9. SS-Panzer-Regiments Auffassung, dass eine aktive Verstrickung „Hohenstaufen“, vorwiegend im besetz- meines Vaters in die Massenmorde der Ein- ten Frankreich aufgehalten. Bei der alliier- satzgruppe unwahrscheinlich und eine Rolle ten Landung in der Normandie wurde sein als bewusster Zuschauer bei den Exekutio- Regiment fast vollständig aufgerieben. Am nen wenig wahrscheinlich war. 2.7.1944 traf eine Granate sein Lazarett bei Aber es ist offensichtlich - er selbst deutet Neuilly und verletzte ihn so schwer, dass es ja auch an - dass er unmöglich „nichts man ihm in der Eile des Rückzugs beide Bei- gewusst“ hat. Unübersehbar, unüberhörbar ne amputierte. mussten sich die grausigen Aktivitäten und Den Rest des Krieges verbrachte er in Erlebnisse in den einzelnen Kommandos unterschiedlichen Lazaretten und danach auch im Stab der Einsatzgruppe vermitteln. fast zwei Jahre in einem US-amerikanischen Mehr als das: Auch wenn er als sicher hinge- Internierungslager, bis die verstreute Fami- bungsvoll arbeitender Arzt nicht zum Mör- lie im Herbst und Winter 1947/48 in einer der wurde, so gehört er doch durch seine Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets all- hohe Identifikation mit dem Nationalsozi- mählich wieder zusammenfand. alismus und seine 18-monatige Zugehörig- Am 23. 4.1948 wurde er von dem zustän- keit zu einer Einsatzgruppe eindeutig auf digen Kreisentnazifizierungsausschuss als die Seite der Täter. „entlastet“ eingestuft. Über seine Motive, seine intellektuellen und III. Perspektivenwechsel emotionalen Verarbeitungsprozesse aber Der Archivbesuch in Ludwigsburg 2012 ge- kann ich nur spekulieren. Die Protokolle der riet zum Tiefpunkt meiner Nachforschun- drei staatsanwaltlichen Zeugenvernehmun- gen wie auch der inneren Auseinanderset- gen aus späteren Jahren spiegeln wohl eher zung mit meinem Vater. die Bewusstseinshaltung seiner Epoche und persönliche Verteidigungsstrategien wider Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass als eine belastbare Selbstreflexion. mein Vater schrecklich geirrt, ja mehr noch, schrecklich gefehlt hat. Er war ein über- Erhaltene Briefe und Gedichte meines Va- zeugter Nationalsozialist. Es gab einen an- ters aus der Nachkriegszeit sprechen dage- tisemitischen Grundton in seinem Diskurs. gen von depressiven Zuständen, von einem Er agierte innerhalb dieses politisch-weltan- inneren Verlust, von Desillusionierung, von schaulichen Systems, dem er sich freiwillig einer Hinwendung zum Christentum, ohne zur Verfügung gestellt hatte. allerdings je konkret oder gar politisch zu werden. In den späteren Jahren – vor allem

Magazin vom 26.10.2016 14 Zur Diskussion als Reaktion auf die sich immer mehr Ge- in denen ich hätte nachfragen, nachbohren hör verschaffende 68er Bewegung – schien können – und es nicht tat. Weil der Zeit- ein tief verwurzelter Antikommunismus geist es nicht hergab? Weil ich zu feige war? wieder die Oberhand zu gewinnen und sich Weil ich mich vor der Antwort fürchtete? mit einem zunehmenden Konservativismus Auch meine aggressiven Vorwürfe aus der zu verbinden. 68er Zeit sehe ich inzwischen weniger he- IV. Und ich? roisch, als ich es lange empfand. Sie waren Seit fast zehn Jahren beschäftige ich mich zwar von gerechter Empörung getragen, – immer wieder auch innehaltend – mit doch lag diese im Zeitgeist. Es war auch viel der NS-Geschichte meines Vaters und setze antiautoritäre Attitüde dabei, eine Portion mich gedanklich und emotional mit meinen Triumph, das Familienoberhaupt, die El- Erinnerungen und den Dokumenten ausei- terngeneration von ihrem moralischen So- nander. ckel herunterholen zu können. Aber es lag ihnen kein wirkliches Erkenntnisinteresse Es war – und ist – ein Wechselbad der zugrunde und noch weniger der Respekt vor Gefühle. seiner persönlichen Integrität. Am Anfang stand schieres Entsetzen – aber Heute wird mir deutlich, dass ich mich – vor auch die Enttäuschung darüber, dass die allem nach dem Tode meines Vaters - mit moralische Integrität meines Vaters sich als einer fast obsessiven Unermüdlichkeit dem brüchig erwies; und dass er mich mit diesen Thema Nationalsozialismus gewidmet habe. furchtbaren Verdächtigungen allein gelas- In meiner Schule war ich d i e Adresse (und sen und nicht den Mut gefunden hatte, mit auch das Feigenblatt) für alle mit diesem mir darüber zu sprechen. Am besten hätte Gebiet zusammenhängenden Mitteilungen dies - so war mein irrationaler Wunsch - in und Anfragen. Aber auch privat erlaubte einer reflektierten und selbstkritischen Wei- (und erlaube) ich mir nur selten eine andere se geschehen sollen. Lektüre als zu dieser Thematik. Meine Einschätzungen schwankten je nach So denke ich, dass darin auch so etwas wie Stimmungs- und Dokumentenlage. Aber das „kollektive schlechte Gewissen“ der mit der Zeit, und fast unbeabsichtigt, rückte Familie wirksam ist. Nicht zufällig schei- auch ich selbst immer mehr in den Radius nen mir der Weggang meines Vaters zu der Betrachtung. den Einsatzgruppen, die ohnmächtig em- Ich musste - zögernd - zur Kenntnis neh- pörte Rückkehr meiner Mutter in ihr El- men, dass er gar nicht in einem so konse- ternhaus und meine Geburt zeitlich so quenten Schweigen verharrte, wie ich es mir nahe beieinander zu liegen. Da es danach offensichtlich zurechtgelegt hatte. Es gab - in beiderseitigem Versagen - nie zu ei- – wie eingangs erwähnt – Gelegenheiten, nem echten Gespräch zwischen uns kam, ist

Magazin vom 26.10.2016 15 Zur Diskussion gewissermaßen die elterliche „Schuld ins Wäre es nicht sogar notwendig, dass in al- familiäre Unterbewusstsein“ gesunken und len Familien gefragt und geforscht wird, um ich, als Älteste und Betroffene, habe es über- besser zu verstehen, was in Deutschland nommen sie abzutragen. Natürlich weiß ich, nach1933 geschehen ist? dass ich weder etwas gutmachen kann noch Brücken bauen muss, doch ist da ein anhaltend starkes Ge- Seit Kurzem gibt es Anzeichen, dass mein fühl des Involviertseins. Vater doch, entgegen seiner Behauptungen Anders als mein Bruder, der sich (und als Zeuge in SS-Prozessen, bei mindestens mich) fragt, ob wir das Recht haben, „die einer der Massenerschießungen 1941 in der unbekannte Geschichte unseres Vaters“ Ukraine dabei war. ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen und Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser neu- damit bekannt zu machen, anders als meine en Information anfange. Schwester, die meine Haltung zu „defensiv“ findet, verstehe ich mein Nachforschen und Doch weiß ich, dass die in der Gedenkstät- Nachdenken darüber vor allem als eine Art te Neuengamme initiierten Gespräche mit Selbstvergewisserung. Denn unbeantwor- Jean-Michel Gaussot und Yvonne Cossu, tet und unablässig bohrend erhebt sich die Sohn bzw. Tochter von in Neuengamme Frage: Wo hätte ich gestanden? Wie viel Di- umgekommenen französischen Häftlingen, stanz hätte ich gewahrt? Wäre es mir mög- sowie mit anderen Betroffenen der zwei- lich gewesen, mein Mitgefühl mit den Aus- ten und dritten Generation die Chance bie- gegrenzten, Gedemütigten zu erhalten? ten gemeinsam neue Wege im Umgang mit dieser nicht enden wollenden Vergangen- Erst kürzlich, auf der Tagung des Studien- heit zu suchen. zentrums von Neuengamme (zum Thema „Der Umgang mit nationalsozialistischer Literatur

Täterschaft in den Familien von TäterInnen [1] Geneviève Hesse, Und wenn Opa und Oma doch Nazis und NS-Verfolgten sowie in der Gesellschaft waren? In: Psychologie Heute, Juni 2011, S. 77 von 1945 bis heute“) wurde mir klar, dass meine Nachforschungen nicht nur eine pri- Über die Autorin vate Angelegenheit sind, sondern auch eine Barbara Brix, als Barbara Kroeger 1941 in Bres- gesellschaftliche Dimension besitzen: Sind lau geboren, war Lehrerin für Geschichte, Fran- zösisch und Spanisch, zuletzt am Hamburger sie nicht auch ein wichtiger, vielleicht sogar Gymnasium Klosterschule, und führte zahlrei- hilfreicher Beitrag zum Verständnis der Fra- che Projekte zum Thema “Holocaust” durch. gen wie konnte ein ‚ganz normaler Mensch’ 2007/2008 verbrachte sie ein Freiwilligenjahr mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der zum Täter werden? Wie konnte eine über- südfranzösischen Gedenkstätte Rivesaltes. Sie große Mehrheit der Gesellschaft zu Mittä- ist Vorstandsmitglied im Freundeskreis KZ-Ge- denkstätte Neuengamme und seit vielen Jahren tern werden? in der Gedenkstättenarbeit aktiv.

Magazin vom 26.10.2016 16 Zur Diskussion

Täter und Gehilfen – zwischen SS-Ausbildungslager Trawniki etwa 35 km Freiwilligkeit und Zwang südwestlich von Lublin ausgebildet, wurden sie als verlängerter Arm der SS eingesetzt, Von Angelika Benz um die eroberten Ostgebiete zu verwalten. Noch im Juli 1941 formulierte Hitler in ein- Sie wurden unter anderem zur Erntearbe- er internen Besprechung: „Nie darf erlaubt it, zu diversen Objektschutzaufgaben und werden, daß ein Anderer Waffen trägt, als anderen personalintensiven Tätigkeiten der Deutsche! Dies ist besonders wichtig; herangezogen. Vor allem aber nutzte die SS selbst wenn es zunächst leichter erscheint, sie als Handlanger bei den Ghettoräumun- irgendwelche fremden unterworfenen gen, der Begleitung von Deportationszügen Völker zur Waffenhilfe heranzuziehen, ist und der Bewachung der drei Vernichtung- es falsch! Es schlägt unbedingt und un- slager der „Aktion Reinhardt“: Belzec, Sobi- weigerlich eines Tages gegen uns aus. Nur bor und Treblinka. der Deutsche darf Waffen tragen, nicht der Etwa 5.000 Mann durchliefen das System Slawe, nicht der Tscheche, nicht der Kos- Trawniki. Neben gefangenen Rotarmisten sak oder der Ukrainer!“ Ebenso klar äußerte waren auch freiwillige und zwangsrekruti- er sich die Kriegsführung gegen die Sowje- erte Bewohner des Generalgouvernements, tunion betreffend. Im März 1941 hielt er vor insbesondere Ukrainer aus Galizien, unter rund 250 hohen Offizieren eine Rede und ihnen. Ihre rechtliche Stellung war nicht schwor sie darin auf seine Kriegsziele ein: eindeutig. Zunächst bildeten sie eine Misc- „Es handelt sich um einen Vernichtungs- hung aus – so von Him- kampf. […] Wir führen nicht Krieg, um den mlers persönlichem Stab bezeichnet –, Feind zu konservieren. […] Das ist keine Waffen-SS-Gefolge, Hilfspolizei und mehr Frage der Kriegsgerichte. […] Der Kampf oder weniger rechtlosen Hilfstruppen. Bis wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im März 1942 hießen sie offiziell „Wachman- Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zu- nschaften des Beauftragten des Reichsfüh- kunft. Die Führer müssen von sich das Opfer rers SS und Chefs der Deutschen Polizei verlangen, ihre Bedenken zu überwinden.“ für die Errichtung der SS- und Polizeistüt- (Halder, KTB II, S. 336 (30.3.1941)) zpunkte im neuen Ostraum“, ab März 1942 Angesichts dieser Worte und der Tatsache, „Wachmannschaften des SS- und Polizei- dass 2,6 bis 3,3 Millionen der 5,7 Millionen führers Lublin“. sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Zusammenarbeit oder Kriegsgefangenschaft umkamen, stellten Unterdrückung die Trawniki-Männer, bei denen es sich Die Zusammenarbeit zwischen Trawni- größtenteils um sowjetische Kriegsgefan- ki-Männern und deutscher SS war von gene handelte, eine der außergewöhnlich- Misstrauen, Angst und Willkür geprägt. sten Hilfstruppen der Deutschen dar. Im

Magazin vom 26.10.2016 17 Zur Diskussion

Insgesamt floh über ein Drittel der Trawniki- In Belzec ließ der Kommandant Gottlieb Männer, ein Teil von ihnen schloss sich den Hering zwei Trawniki-Männer, die sich nicht Partisanen ein, andere tauchten unter oder am Judenmord beteiligen wollten, zunächst suchten den Weg zurück in die Heimat. Den in einen Bunker sperren. Dann mussten sie Akten nach beschwerten sich ihre Vorge- Häftlingskleidung anziehen und wurden setzten hauptsächlich über Trunkenheit, erschossen. Schlafen während des Wachdienstes, uner- Handlungsoptionen und Motive laubtem Verlassen der Lager und Disziplin- Das Motiv der Trawniki-Männer in deutsche losigkeit. Die Trawniki-Männer unterstan- Dienste zu treten war, im Falle der Kriegs- den einer harten Disziplinarordnung und gefangenen, den dramatischen Verhältnis- selbst für kleinere Vergehen drohten ihnen sen in den Kriegsgefangenenlagern zu ent- schwere Strafen. Für sie galt auch die Prü- gehen. In den katastrophal überbelegten gelstrafe, auch wenn sie, im Gegensatz zu Lagern ohne sanitäre Einrichtungen, aus- den jüdischen Häftlingen, ihre Hosen dabei reichende Verpflegung oder ein Dach über anbehalten durften. dem Kopf erwartete sie der Tod, sodass Je nach Herkunft, Sprachkenntnissen und eine Kooperation mit den Deutschen eine Situation konnten die Trawniki-Männer Chance zu überleben darstellte. Die jungen Privilegien wie Urlaub, Zugang zu gemein- Rotarmisten waren sich darüber bewusst, samen Saufgelagen mit ihren Vorgesetzten dass sie mit ihrer Gefangennahme zu Vater- oder ein Begräbnis in allen Ehren (sowie landsverrätern geworden waren und ihnen Hinterbliebenenrente für ihre Familien) eine Rückkehr in die Heimat verwehrt war. erhalten und sich mit Reichsdeutschen an- Dies ist für das Selbstverständnis und die freunden. Gleichberechtigt waren sie dabei Situation der Trawniki-Männer eine nicht jedoch nie. Überlieferungen von jüdisch- unerhebliche Tatsache. en Häftlingen berichten von grausamen Die Handlungsoptionen der Trawniki-Män- Spielen auf Kosten der Häftlinge, bei denen ner hingen von ihrer Stellung, ihrem Ein- Trawniki-Männer und SS sie quälten. Es gibt satzort und weiteren Faktoren wie ihren jedoch auch zahlreiche Fälle, in denen die Sprachkenntnissen ab. In den Vernichtung- Trawniki-Männer ihrerseits von der SS mis- slagern der „Aktion Reinhardt“ reicht die shandelt, gequält oder umgebracht wurden. Bandbreite von brutalem Vorgehen gegen Eine Szene in Treblinka macht dies deutlich: Juden und einer Adaption des deutschen Der Kommandant versetzte Verhaltens bis hin zu Hilfestellungen für dem Ukrainer, der dem zuständigen SS- Juden und deren Mitnahme bei der Flucht Mann half, den Motor, dessen Abgase in die aus dem Lager. Gaskammer geleitet wurden, zu reparieren, ein Dutzend Peitschenhiebe ins Gesicht, Festzuhalten bleibt, dass die Deutschen weil er über die Verzögerung verärgert war. ein System des Misstrauens und der Angst

Magazin vom 26.10.2016 18 Zur Diskussion schufen, bei dem die Einbindung der Opfer zu verurteilen, auch wenn ein individueller in ihre eigene Ausbeutung und letztlich Ver- Tatnachweis nicht möglich ist. Das bedeu- nichtung zentral war. In diesem perversen tet, dass jemand aufgrund seiner Zugehörig- System verschwimmen die Grenzen von keit zu einem Kollektiv – in diesem Fall der Opfer und Täter bisweilen, wie die Diskus- Wachmannschaft im Vernichtungslager – sionen um die Kapos zeigen. angeklagt und des Mordes oder der Beihil- Nachkriegsgeschichte – fe verurteilt werden kann. Dieser wichtige Nachkriegsidentitäten Schritt kommt wahrscheinlich zu spät für weitere Verfahren, doch er zeigt die Bere- Bezeichnend ist, dass nichts über Kontakte itschaft der Justiz, sich dem Thema Völker- zwischen ehemaligen Trawniki-Männern mord von einer anderen Seite zu nähern nach Kriegsende (von einer kurzen Nach- und dem komplexen und arbeitsteiligen kriegsphase abgesehen) bekannt ist und, Massenmorden in den Vernichtungslagern dass es auch keine Memoiren oder Leben- damit gerechter zu werden. szeugnisse gibt. Vermutlich aus Scham und aus Nichtzugehörigkeit zur Opfer- bzw. Der Fall deckte aber auch auf, welches Täterseite fehlen Aufzeichnungen und Ein- Identitätsproblem für die (Mit-)Täter nich- blicke in diese Welt. Ein Vergleich mit den tdeutscher Nationalität an den Untaten der SS-Fallschirmjägern, die sich bis heute SS besteht, denn sie haben durch ihre Beteil- treffen und selbstbewusst in die Kamera igung an den deutschen Verbrechen jegliche spucken, wenn sie von Journalisten gefilmt Identität und jegliche Zugehörigkeit verlo- werden, verdeutlicht den Unterschied. ren. Das macht die Frage der Schuld noch komplexer. Unter den Trawniki-Männern Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk befanden sich Nutznießer und Mitläufer des hat das öffentliche Interesse, wenn auch nur deutschen Systems, die Mehrheit jedoch kurz und nicht besonders tiefgehend, auf waren tragische Figuren, die, um zu über- diese Gruppe von Gehilfen am Judenmord leben, von Opfern zu Tätern wurden. Sie gelenkt. Auch wenn der Prozess das Gefühl haben sich schuldig gemacht an furchtbaren der Unzulänglichkeit der Justiz angesichts Verbrechen, die nicht ihre waren. der komplexen Probleme des Holocaust hin- terlässt, so hat er doch einmal mehr gezeigt, wie schwer der Umgang mit den NS-Ver- brechen und wie heikel die Frage nach der Über die Autorin Schuld von Individuen wie von Kollektiven Dr. Angelika Benz ist Historikerin. Ihre Dissertation ist unter dem Titel bis heute ist. Der Prozess hat aber auch – „Handlanger der SS. Die Trawniki-Männer und das ist juristisch gesehen ein großer im Holocaust“ erschienen. Schritt – die Möglichkeit geschaffen, Men- schen wegen der Beteiligung an einem Mord

Magazin vom 26.10.2016 19 Zur Diskussion

Der Umgang mit der der Zeit von 1940-41 nur schwer erklärbar. Erinnerung an national- Dies gilt auch für die Erinnerung an die sozialistische Besatzung, Shoah sowjetische und die nationalsozialistische und Kollaboration in Lettland Besatzung, die jeweils unterschiedlich be- und Litauen wertet werden müssen. Wie die Historikern Katrin Reichelt für Lettland ausführt, kann Von Ingolf Seidel jedoch nicht „die Gesamtheit des Verhal- Die folgenden Ausführungen sind im We- tens der lettischen Bevölkerung gegenüber sentlichen inspiriert durch eine Exkursion zu den einheimischen Juden während des Gedenkstätten und Orten der Zeitgeschichte Holocaust auf die Schreckenserfahrung der in Lettland und Litauen, die der Bayerische sowjetischen Besatzung bzw. die Stellung Jugendring im Zeitraum vom 4. bis 11. Juli der Juden innerhalb dieser Schreckensherr- 2016 anbot. Der Autor nahm als Teilnehmer schaft zurückgeführt und darauf reduziert an dieser Reise teil. Als fachkundige Histo- werden“ (Reichelt : 2011, 64). Die Proble- rikerin stand uns in Litauen die Historikerin matik ist multifaktoriell und kann an dieser Dr. Ekaterina Makhotina zur Seite. Stelle nur verkürzt angerissen werden. Die historische Situation Wie Estland wurden auch Litauen und Lett- In beiden Ländern wurden die deutschen land im Ribbentrop-Molotov-Pakt der sow- Besatzer nicht nur als Befreier begrüßt; es jetischen Einflusssphäre zugeordnet. Nach- gab darüber hinaus eine intensive Zusam- dem Litauen und Lettland von sowjetischer menarbeit mit den Nationalsozialisten im Seite aus ein Beistandspakt aufgenötigt Bereich der Zivilverwaltung. Litauer_in- wurde, der die Einrichtung von Militärbasen nen und Lett_innen beteiligten sich auf vorsah, besetzte am 16. Juni 1940 die Rote das Grausamste an der Ermordung der Armee Lettland. Litauen wurde bereits zwei jüdischen Bevölkerung. In der Lettischen Tage vorher okkupiert. In Lettland führte die Legion der Waffen-SS hatten während des Besatzung zum Ende der Diktatur von Kārlis Krieges etwa 160.000 Letten gedient, teils Ulmanis, die in der Literatur als relativ mil- freiwillig, teils unter Zwang. Sie waren an de beschrieben wird, obwohl der Diktator Massenerschießungen, Brandschatzungen durchaus antisemitische Züge aufwies. Die und als Lagerwachen an Kriegshandlungen folgende Besatzung war eine ausgesprochen und der Partisanenbekämpfung beteiligt. blutige. Beide Länder sollten rasch sowjeti- Nach 1990/91 wurden diese Kollabora- siert werden und ein Zustand der Entrecht- teure als Freiheitskämpfer geehrt (Quelle: lichung sowie Deportationen von Zehn- Gedenkstättenportal). Das Verhalten der tausenden in die sibirischen Gulags waren Bevölkerung in den beiden baltischen Staa- der Ausdruck eines alltäglichen Terrors. ten ist sicherlich ohne Bezugnahme auf die Ein nicht geringer Teil der Juden in beiden stalinistischen Säuberungen vor allem in Ländern stand dem sowjetischen Regime

Magazin vom 26.10.2016 20 Zur Diskussion skeptisch gegenüber, allein weil der Großteil Wie zehntausende anderer Lett_innen auch, der jüdischen Bevölkerung religiös und nicht wurden zuvor vom sowjetischen Geheim- kommunistisch gesinnt war (Reichelt : 2011, dienst NKWD über 23.000 Jüdinnen und 64; Eidintas : 2003, 17). Dennoch war das Juden in die sibirischen Gulags deportiert Sowjetsystem, vor allem für junge Jüdinnen oder konnten in das Landesinnere fliehen. und Juden, im Vergleich zum Nationalsozi- (Quelle: Gedenkstättenportal) alismus das kleinere Übel. Für manche letti- Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wur- schen Juden ergab sich eine gewisse Attrak- den die baltischen Staaten erneut von der tivität der sowjetischen Herrschaft daraus, Sowjetunion besetzt und als Lettische, bzw. dass „die Administration der neuen Macht- Litauische SSR in die Sowjetunion einge- haber in Lettland vielen Juden den Einstieg gliedert. in den politischen und administrativen Ap- Besuch historischer Orte in Lettland parat in einem Maß (bot, der Autor), den die Ulmanis-Regierung nicht zugelassen hatte“ Von den Stationen der Exkursion in Lett- (Reichelt : 2011, 64). Die Mehrheit der letti- land sollen an dieser Stelle einzelne beson- schen und litauischen Jüdinnen und Juden ders hervorgehoben werden. Zu den be- stand jedoch allein aufgrund ihrer Religiosi- suchten Orten gehörten neben anderen die tät dem Sowjetsystem skeptisch gegenüber. Gedenkstätten von Rumbula, Salaspils und Unabhängig von den Realitäten brach sich Bikerniki sowie das Okkupationsmuseum, das antisemitische Stereotyp vom „kommu- das KGB-Haus in Riga sowie der ehemalige nistischen Juden“ nachhaltig in beiden hier jüdische Friedhof in der Moskauer Vorstadt. betrachteten Ländern Bahn. Die Basis dafür Einige dieser Orte stelle ich im Folgenden bot in Litauen „die traditionelle, historisch vor. gewachsene und auf dem Katholizismus Das Okkupationsmuseum überliefert in gründende Judenfeindlichkeit eines Teils erster Linie ein nationales Narrativ von der Litauer“ (Eidintas : 2003, 19). Letten als ausschließlichen Opfern zweier In Litauen ermordeten während der natio- Besatzungen und arbeitet mit historischen nalsozialistischen Besatzung Deutsche und Verkürzungen mit vor allem russophoben Litauer ungefähr 160.000 Menschen. Rund Anklängen. Die NS-Kollaboration kommt 40.000 Überlebende wurden in die Ghettos quasi nicht vor, bzw. wird als reine Zwangs- von Kaunas, und Šiauliai gepfercht. maßnahme der Deutschen dargestellt. Let- Insgesamt überlebten gerade einmal 10.000 tischer Antisemitismus oder Kollaboration? Jüdinnen und Juden den Massenmord in Der ist keiner Erwähnung wert. Stattdessen Litauen (vgl. Tauber : 2010, 47). In Lettland wird lettische Judenrettung auf zwei Tafeln lebten zum Zeitpunkt des Angriffs deut- im Vergleich zu anderen Themen verhält- scher Truppen auf die Sowjetunion am 22. nismäßig breit dargestellt. Durch die bloße Juli 1941 noch 70.000 Jüdinnen und Juden. Aneinanderreihung der unterschiedlichen

Magazin vom 26.10.2016 21 Zur Diskussion

Besatzungen wird ein totalitarismustheo- auf. Der Umgang der lettischen Stadtfüh- retisch begründetes Narrativ transportiert, rerin damit war ausgesprochen offen und das die Spezifika und Unterschiede zwi- nicht von Relativierungen geprägt. schen Nationalsozialismus und Stalinismus Auf unterschiedliche Weise eindrucksvoll einebnet. Für Feinheiten wie die dass die und erschütternd waren die Besuche an den Eingliederung Lettlands in die Sowjetunion Erschießungsplätzen im Wald von Rumbula ohne einen gewissen Rückhalt in der Bevöl- und am Denkmal von Bikerniki. kerung reibungslos kaum möglich gewesen Rumbula liegt acht Kilometer außerhalb von wäre, ist hier kein Raum. Eine Führung Riga an einer vielbefahrenen Straße. Dort durch das KGB-Haus blieb erstaunlich arm wurden 25.000 Jüdinnen und Juden, über- an historischen Fakten. Sichtlich soll hier wiegend aus dem Rigaer Ghetto, ermordet. die düstere Atmosphäre der ehemaligen Zel- Die Erschießungen durch die SS begannen lentrakte vor allem Emotionen wecken. Die Ende November 1941 unter dem Komman- Quintessenz lautete: Es war alles schlimm do des Höheren SS- und Polizeiführers Ost- und grausam und beruhte ausschließlich auf land Friedrich Jeckeln. Zur Bewachung der den Taten der “Anderen”. Nach Auskunft der Fußmärsche der Ghettobewohner_innen an Guides scheint es an einer tiefergehenden die Mordstätte wurden überwiegend letti- gesellschaftlichen Aufarbeitung, jenseits der sche Kollaborateure eingesetzt. Während offiziellen Geschichtserzählungen, von sta- der Sowjetzeit gab es als Erinnerung an die linistischem Terror und Staatssozialismus Massenerschießungen ein Ehrenmal, das in kaum Interesse zu geben, noch weniger an russischer, lettischer und jiddischer Spra- einer Beschäftigung mit der nationalsozia- che den “Opfern des Faschismus, 1941 bis listischen Besatzung und mit Kollaboration. 1944“ gewidmet war. Jüdinnen und Juden Eine weitere Exkursion begann in Riga an finden im Rahmen der universalistischen der zerstörten Synagoge Gogola Str. mit ei- sowjetischen Deutung der Shoah keine Er- nem Denkmal für lettische Judenretter_in- wähnung als spezifische Opfergruppe. Ei- nen am Rande der Moskauer Vorstadt, dem nen ersten Gedenkstein, der Jüdinnen und ehemaligen Viertel der vorwiegend armen Juden benennt, stellte die Menschenrechts- und proletarischen Juden und Jüdinnen. organisation “Memorial“ im Jahr 1990 auf. Dort lebte auch der Historiker Simon Dub- Am 29. November 2002 wurde schließlich now. Die Deutschen errichteten dort das, ein von der lettischen Regierung angeregtes genauer die beiden, Ghettos von Riga. Die Denkmal eingeweiht. Es besteht aus einer Spuren eines alten jüdischen Friedhofs am stilisierten Menora, um die herum Steine Rande des Bezirks sind kaum mehr auszu- mit den Namen von Ermordeten aufgestellt machen, sieht man von einigen Steinen und wurden (vgl. Gedenkstättenportal). einem Denkmal ab. Das Thema Kollabora- tion kam in der Reisegruppe immer wieder

Magazin vom 26.10.2016 22 Zur Diskussion

Auch im Wald von Bikerniki, östlich von sowjetischen Besatzung. Im üppig ausges- Riga gelegen, ermordeten die SS und letti- tatteten Museum bleibt nicht nur der Geno- sche Kollaborateure zehntausende Jüdinnen zidbegriff unklar. Deutlich wird allerdings, und Juden. Die Opfer stammten vorwiegend dass Jüdinnen und Juden im Rahmen der aus Deutschland, Lettland, Tschechien und Ausstellung durch ihre Nichtbenennung aus Österreich. Alleine bis Oktober 1941 wurden der Nation heraus definiert werden. Anson- 6.300 Jüdinnen und Juden aus Riga und sten hangelt sich die Narration entlang einer Umgebung erschossen. Insgesamt wurden Opfererzählung über die litauische Nation. bis zur Eroberung durch die Rote Armee in Ausgespart werden konsequenterweise die Bikerniki bis zu 45.000 Menschen ermor- Jahre 1941-44 und somit die Kollaboration det, von denen ca. 25.000 aus dem Deut- mit den nationalsozialistischen Besatzern. schen Reich kamen. Das Denkmalensemble Stattdessen werden positive Bezüge von den wurde am 30. November 2001 eingeweiht. antikommunistischen Partisanen, v.a. den Das zentrale Mahnmal ist von mehreren “Waldbrüdern” bis zu den Menschenketten tausend Steinen umgeben. Außerdem sind im Jahr 1991 hergestellt. Dass man sich die Orte, aus denen die Opfer stammten dabei in eine Tradition mit eben den auch gekennzeichnet (vgl. Gedenkstättenpor- antisemitisch gesinnten „Waldbrüdern“ tal). Finanziert wurde die Anlage durch den stellt, scheint den Ausstellungsmacher_in- Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. nen entweder nicht bewusst zu sein, oder es Wie auch in Rumbula sind die Massengrä- wird zugunsten der Konstruktion des natio- ber durch Stelen gekennzeichnet, die den nalen Narrativs in Kauf genommen. Auch, Davidsstern, christliche Kreuze und Lor- dass es zwischen der Stalin-Zeit und der beerkränze zeigen. Nach Angaben unseres Chrustschow-Periode gravierende Unter- Guides ersetzten die Lorbeerkränze ehemals schiede gab, ist der Ausstellung gerade mal dort vorhandene Sowjetsterne. Wann diese einen Nebensatz wert. Obwohl eine Schau- Veränderung vorgenommen wurde ist nicht tafel deutlich zeigt, dass der litauische KGB bekannt. sich in erster Linie aus Litauern rekrutierte, Litauens widersprüchliche wird dieser Umstand in keiner Erläuterung Erinnerung problematisiert. Litauer_innen als Täter_ innen sollen in der heutigen nationalen Von den besuchten Erinnerungsorten in Geschichtserzählung anscheinend nicht er- Litauen möchte ich auch hier nur einige wähnt werden. Diese Erzählung folgt, wie herausheben. Dazu gehört das Museum in Lettland, in erster Linie einem schlichten der Opfer des Genozids in Vilnius. Wer Totalitarismusparadigma; für Ambivalen- beim Wort Genozid an die Vernichtung zen bleibt kein Raum. Gut und hilfreich war der europäischen Juden denkt, täuscht die Einordnung der uns begleitenden His- sich; gemeint ist der vorgebliche Geno- torikerin Dr. Ekaterina Makhotina, die zur zid an “ethnischen” Litauern während der

Magazin vom 26.10.2016 23 Zur Diskussion litauischen Erinnerungskultur forscht. Zur rere große Gruben, noch aus der Zeit der Vernichtung der europäischen Juden gibt es ersten sowjetischen Besatzung 1940/41 im Museum einen Raum in Kellergeschoss, stammend, wurden von den Deutschen als der nachträglich eingerichtet wurde; eine Massengräber für die Ermordeten genutzt. mehr als halbherzige Konzession im Rahmen Ursprünglich waren diese Gruben von den des EU-Beitritts. In einem Raum, in dem Sowjets als Treibstoffdepots gedacht. 1943 Fotos von Roma im stereotypisierendem Stil wurden im Rahmen der Aktion 1005 die von “Landfahrerbildern” gezeigt werden, Leichen ausgegraben und verbrannt, um die fehlt die sonst durchgängige Übersetzung Spuren zu verwischen. Neben einem klein- ins Englische wie auch die Thematisierung en Museum, heute dem jüdischen Museum des Porajmos – also des Genozids an den von Vilnius zugeordnet, findet man dort ein Roma. An den Besuch des Genozidmuseums gemischtes Ensemble an Denkmälern: Für schloss sich eine Führung durch die Altstadt die jüdischen Opfer, für Angehörige der pol- von Vilnius und damit über das Gebiet des nischen Armia Krajowa, randständig eines ehemaligen großen und kleinen Ghettos mit für sowjetische Kriegsgefangene sowie eines Fania Branvosky an. Fania Branvosky war aus Sowjetzeiten für die Opfer des “faschist- als litauische Jüdin gezwungen, während ischen Terrors”. Ein Denkmal für die ermor- der deutschen Besatzung dort zu leben. Die deten Roma gibt es nicht, sie werden auch heute 94-Jährige gehörte zu den jüdischen im Museum nicht erwähnt. Partisan_innen um Abba Kovner. Noch im Das kleine jüdische Museum, auch Jahr 2008 ermittelte die litauische Staatsan- „Grünes Haus“ genannt, erzählt zentral waltschaft gegen ehemalige Partisan_innen, über die Shoah, aber auch die 600-jährige bei deren Kampfhandlungen litauische Zi- Geschichte der litauischen Juden. Ein großes vilist_innen starben. Zu denjenigen, gegen Verdienst der Museumsbetreiber_innen die sich die Ermittlungen richteten, gehörte ist es, die Geschichte des jüdischen Wider- neben Frau Branovsky auch der ehemalige standes, sowohl des kulturellen, als auch Direktor von . Die des bewaffneten, ausführlich zu würdigen. damalige Kampagne des litauischen Staates Bemerkenswert ist der Unterschied hinsi- trug deutlich antisemitische Züge, während chtlich der Ausstattung im Vergleich zum von den tausenden Kollaborateuren und Di- Museum des Genozids. Sichtlich muss das rekttätern seit der Unabhängigkeit Litauens jüdische Museum mit knappen finanziellen nicht ein einziger angeklagt wurde. Mitteln auskommen und wirkt aufgrund der Die Gedenkstätte Panariai liegt ca. 12 räumlichen Situation beengt. km außerhalb von Vilnius. Dort wurden Abschließend lässt sich festhalten, dass die rund 100.000 Menschen ermordet, davon besuchten Erinnerungsorte einen höchst 70.000 Jüdinnen und Juden. Panariai gilt zwiespältigen Eindruck hinterlassen. als zentrale litauische Mordstätte. Meh- Selbstverständlich nimmt die Erinnerung

Magazin vom 26.10.2016 24 Zur Diskussion an die sowjetische Besatzung und den Katrin Reichelt: Lettland unter deutscher Besatzung stalinistischen Terror einen breiten Raum 1941-1944. Der lettische Anteil am Holocaust. Berlin, in der lettischen und litauischen Erinner- 2011. ungskultur ein. Es darf weiterhin nicht ver- Joachim Tauber: “Gespaltene Erinnerung“ Litauen gessen werden, dass die deutsche Besatzung und der Umgang mit dem Holocaust nach dem überhaupt erst Möglichkeit und Gelegen- Zweiten Weltkrieg. In: Micha Brumlik, Karol Sau- heit zu den Morden an Jüdinnen und Juden erland (Hrsg.): Umdeuten, verschweigen, erinnern. durch Litauer und Letten geboten hat. Der Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa. sogenannte „Holocaust by bullets“ hätte je- Frankfurt am Main, 2010. doch ohne die Kollaboration in der bekannt- en und verheerenden Form wohl nicht durchgeführt werden können. Empathie wird in den verschiedenen Ausstellungen vor allem mit denen herbeigeführt, die zur litauischen Nation gerechnet werden. Juden und Jüdinnen oder sowjetische Kriegsge- fangene gehören sichtlich nicht zu diesem Nationenkonstrukt. In einem Gespräch mit unserer Reisegruppe brachte der litauische Historiker Alvydas Nikžentaitis die Prob- lematik auf den Punkt. Er würde sich wün- schen, die Geschichte der sowjetischen Be- satzung mit weniger Gefühl und dafür mehr Verstand zu erzählen und die Geschichte der Ermordung der jüdischen Bevölkerung dafür mit mehr Gefühl darzustellen.

Literatur

Alfonsas Eidintas: Das Stereotyp des „jüdischen Kommunisten“ in Litauen 1940-41, in: Vincas Bartusevičius, Joachim Tauber, Wolfram Wette (Hsrg.): der Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmor- de und Kollaboration im Jahre 1941. Köln, 2003.

Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Eu- ropa, Lettland: http://www.memorialmuseums.org/ laender/detail/13/Lettland (29.08.2016).

Magazin vom 26.10.2016 25 Zur Diskussion

Die Täter-Opfer-Problematik in Verurteilung keine besondere Schwierigkeit. der Gedenkkultur am Bespiel Auf der deutschen Kriegsgräberstätte der Kriegsgräberstätte Costermano, die 1967 für die in Norditali- Costermano en umgekommenen deutschen Soldaten am Garda-See eingerichtet worden ist und auf Von Rolf Wernstedt der heute knapp 22.000 Tote liegen, kann Der Zweite Weltkrieg und die politischen man die damit verbundene Problematik Begleitumstände machten es den Siegern studieren. leicht, ihre gefallenen Soldaten als in einem Dort liegen mindestens drei der schlimms- gerechten Krieg Gefallene zu verstehen, de- ten deutschen Verbrecher, die führend an nen Anerkennung und Ehre gebührt. Ganz der Vernichtung deutscher geistig Behin- anders stellt es sich für Deutschland dar. derter („“) und der systematischen Nach übereinstimmender wissenschaftli- Ermordung polnischer Juden („Aktion Rein- cher und politischer Erkenntnis und Mei- hardt“) beteiligt waren: Christian Wirth, nung kann man den Zweiten Weltkrieg als Franz Reichleitner und Gottfried Schwarz. einen Angriffs- und Vernichtungskrieg be- Sie waren nach Norditalien beordert, um die zeichnen. Erinnerungspolitisch auf der Seite Vernichtung der norditalienischen und kro- der Opfer zu stehen, gehört zu den deutschen atischen Juden durchzuführen. Italienische ethischen und politischen Verantwortungs- Partisanen hatten sie erschossen. pflichten. Die entwickelten Formen der Ge- denkstättenarbeit, der wissenschaftlichen Ihre Leichname waren nach dem Krieg nach und didaktischen Bemühungen finden fast Costermano umgebettet worden, ohne dass einhellige Unterstützung aller politischen die damalige Führung des Volksbundes, Kräfte und zivilgesellschaftlichen Organisa- der Träger des Friedhofs ist, vom Vorleben tionen. wusste oder davon Kenntnis hatte. Ihre Na- men, Lebensdaten und Rangtitel waren auf Das Besondere dieser Tatsache im Unter- den Grabsteinen angegeben. schied zu allen anderen Nationen ist die Bereitschaft, die Schuld der damaligen Auf dem Friedhof wurde zudem eine beson- Generationen und politisch Verantwortli- dere Form der Ehrung angebracht. Alle fast chen anzuerkennen, zu benennen und sich 22.000 bekannten Namen wurden in ein verpflichtet zu fühlen, das nicht wieder zu- bronzenes Ehrenbuch eingraviert und aus- zulassen. gestellt. Eindeutige Täter-Opfer Beziehungen Als im Jahre 1987 italienische Wissen- am Fall Costermano schaftler und Journalisten auf die drei Tä- ter aufmerksam wurden und von den deut- Wenn man die Täter identifiziert hat, ist schen Verantwortlichen im Volksbund und die tatsächliche und erinnerungspraktische im Generalkonsulat in Mailand verlangten,

Magazin vom 26.10.2016 26 Zur Diskussion diese drei Täter in die Ehrung der Toten am sich aber der seit Jahrzehnten andauern- Volkstrauertag nicht einzubeziehen, son- den Erinnerungsdebatte nicht mit gleicher dern deren Gebeine vom Friedhof entfer- Intensität gewidmet, auch wenn viel über nen und ihre Namen aus dem bronzenen Versöhnung und Friedensarbeit gesprochen Gedenkbuch tilgen zu lassen, reagierte der und getan worden ist. Hinderungsgrund Volksbund traditionell. für eine solche Auseinandersetzung war die Er meinte, dass die Totenruhe zu gelten Furcht, dass man auf allen Friedhöfen nach habe und diese Toten bereits vor ihrem belasteten Namen suchen und die Gebeine Richter gestanden hätten. Der damalige entfernen sollte. Mailänder Generalkonsul allerdings weiger- Der Wissenschaftliche Beirat beim Volks- te sich, beim Volkstrauertag zu reden, bevor bund, der im Jahre 2005 gegründet wur- dieses Problem nicht gelöst sei. Anstatt da- de, hat für Costermano einen Vorschlag rauf inhaltlich zu reagieren, bekam er vom erarbeitet, dessen Hauptpunkte sind: Auswärtigen Amt disziplinarische Schwie- • Die Gebeine bleiben auf dem Friedhof, rigkeiten, die nur durch die Intervention des weil in unserer Kultur jedem Individu- damaligen Vizepräsidenten des Deutschen um ein Grab gebührt. Bundestages, Heinz Westphal, abgewendet • Die Rangbezeichnungen werden von den werden konnten. Grabsteinen gelöscht. Die Folge war, dass zum Volkstrauertag • Die bronzenen Buchtafeln werden insge- in jedem Jahr italienische Zeitungen groß samt entfernt und in ein Sepulkralmuse- über den „Mörderfriedhof“ schrieben und um verbracht, weil nicht auszuschließen Demonstranten die von dem Konflikt gar ist, dass noch andere Namen mit Ver- nicht berührten deutschen trauernden Ver- brechen in Verbindung gebracht werden wandten durch ein Spalier von protestie- könnten und eine anlassbezogene Ent- renden Transparenten gehen ließen. Auch fernung die Neugier nach den entfernten die Entscheidung des Volksbundes in den Namen anfachen würde. 90er Jahren, den Titel des Bronzebuches als „Ehrenbuch“ zu entfernen, führte zu keiner • Im Eingangsbereich des Friedhofs wird Beruhigung. eine kurze historische Erklärungstafel angebracht und auch auf die Verbrechen Es ist zu kritisieren, dass sich der Volksbund und die dort liegenden Personen hinge- nicht ernsthaft mit dieser Situation beschäf- wiesen. tigt und auf eine sinnvolle Lösung hingear- beitet hat. Die traditionelle Auffassung im Der mit dem Auswärtigen Amt unter Mithil- Volksbund hatte sich auf die Anlage, Pflege fe des Instituts für Zeitgeschichte und dem und Instandhaltung der Friedhöfe und die Deutschen Historischen Institut in Rom Betreuung der Angehörigen konzentriert, erarbeitete Text hat die Zustimmung der

Magazin vom 26.10.2016 27 Zur Diskussion italienischen Seite erhalten. Er lautet in der Vorgehensweise und Lösung des Problems entsprechenden Passage: „Es ist nicht aus- in Costermano haben paradigmatische Be- zuschließen, dass unter den hier 22.000 deutung für alle Friedhöfe. Es gibt Fried- begrabenen Soldaten auch solche sind, die höfe, in denen bekannte Kriegsverbrecher an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt wa- liegen und deren historische Einordnung ren. Gegenwärtig weiß man jedoch, dass bisher nicht öffentlich am Friedhof bezeugt einige SS-Funktionäre, die hier begraben wird. Das ist z. B. auf dem Friedhof in La sind, aktiv und verantwortlich an der Ermor- Cambe in der Normandie der Fall, auf dem dung der jüdischen Bevölkerung im besetz- u. a. der SS-Führer Diekmann mit vielen sei- ten Polen und in Italien mitgewirkt haben ner Männer liegt, die das Massaker von Ora- - allen voran Christian Wirth als Inspekteur dour zu verantworten haben. Französische der Vernichtungslager. Diese Männer waren Veteranenverbände möchten nicht, dass abkommandiert worden, um die Verfolgung es eine Debatte darüber gibt, dass Franzo- von Juden und Partisanen im Nordosten sen (Elsässer in der Einheit von Diekmann) Italiens und in Istrien in die Wege zu leiten. Franzosen ermordet haben. In Maleme auf Die hier liegenden Toten mahnen uns zu Kreta ist der letzte wegen besonderer Grau- Frieden und Versöhnung. Auch die Schul- samkeit zum Tode verurteilte deutsche Ge- digen, die hier begraben sind, mögen ihre neral Müller begraben. Außerdem liegt dort letzte Ruhe finden, obwohl sie unaussprech- der für die Deportation griechischer Juden liches Leid über viele Menschen und ihre verantwortliche General Bräuer. Dies ist seit Familien gebracht haben. Ihre Verbrechen fünf Jahren dort zu lesen. sind uns jedoch zugleich Aufforderung, In Polen gibt es Gespräche darüber, wie aus der Geschichte zu lernen und auch un- mit den Grabstätten der Angehörigen der ter schwierigen Umständen stets für die Gruppe „Dirlewanger“, die besonders für Achtung der Menschenrechte und -würde die blutigen Massaker an den polnischen einzutreten.“ Aufständischen 1944 verantwortlich war, Seit dem Volkstrauertag 2006 gibt es in umzugehen ist. Costermano keine Demonstrationen mehr. Grundsätzliches zur Opfer-Täter- Auch die Befürchtung, dass mit der Erwäh- Problematik bei deutschen Soldaten nung der dort liegenden Verbrecher eine des Zweiten Weltkrieges Diskriminierung der anderen dort liegenden Der Charakter des Zweiten Weltkrieges unbelasteten Soldaten verbunden sei und mit der deutschen Verantwortung und die diese gleichsam an einen postmortalen Pran- gegebene Befehlsstruktur machen eine ger gestellt würden, ist nicht eingetreten. präzise und gerechte Gedenkhaltung schwierig.

Magazin vom 26.10.2016 28 Zur Diskussion

Mehr als 12 Millionen Soldaten standen Schuldfrage Klarheit bestand, sickerte auch auf deutscher Seite unter Waffen, dazu ka- beim Volksbund langsam die Frage nach men noch etwa eine Million Angehörige der der jeweiligen Verantwortung in den Blick. Waffen-SS, die größtenteils aus überzeug- Dabei war immer die Frage bedeutsam, in- ten Nationalsozialisten aus Deutschland, wieweit es seriös ist, als Nachgeborener in Holland. Belgien, Norwegen und anderen Kenntnis des Ausgangs der Geschichte nicht Nationen bestand, aber auch unfreiwillig billige Nachtreterei zu betreiben. eingezogene junge Männer in ihren Einhei- Unter diesem Gesichtspunkt bleibt es ten hatte. beispielsweise - auch nach damaligem Etwa fünf Millionen sind gefallen. Zwei Kriegsvölkerrecht - ein Kriegsverbrechen, Millionen haben bis 1990 in den westlichen etwa drei Millionen sowjetische Kriegsge- Ländern und Nordafrika ein Grab gefunden. fangene an der Ostfront und in Deutsch- Eine Million sind in sowjetischer Kriegs- land umkommen und krepieren zu lassen. gefangenschaft unter entsetzlichen Bedin- Die Verantwortung lag bei der Wehrmacht. gungen gestorben, 800.000 sind seit 1990 Desgleichen muss man konstatieren, dass in Mittel- und Osteuropa gefunden und direkt oder indirekt durch gewähren lassen größtenteils identifiziert worden, etwa eine die Wehrmacht an der Ermordung von Ju- Million werden wohl nie mehr gefunden. den, Partisanen und an willkürlichen Gräu- Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfür- eltaten beteiligt war oder Mitverantwortung sorge hat jahrzehntelang den Aspekt des in- trug. Die Wehrmachtsausstellung vor 20 dividuellen Todes gepflegt, die verständliche Jahren hat dies trotz einiger Zuordnungs- Rücksicht auf die Angehörigen vorbildlich fehler eindringlich vorgeführt. Und schon betrieben und die „Versöhnung über den Peter Bamm hat Anfang der 1950er Jahre in Gräbern- Arbeit für den Frieden“ zu seiner seinem berühmten Stalingrad- Roman „Die Leitlosung gemacht und in Jugendcamps zu unsichtbare Flagge“ darauf hingewiesen. realisieren versucht. Wer sich schuldig gemacht hat und welche Die Frage nach Schuld und Verantwortung Umstände zu Kriegsverbrechen führten, von Wehrmachtsführung und einzelnen Sol- muss immer gesondert gefragt oder belegt daten wurde weitgehend ausgeblendet. Die werden. Es kann keine pauschale Verurtei- Rücksicht auf die Angehörigen und ihre Be- lung geben. dürfnisse, den Soldatentod in der gleichen Die meisten Soldaten waren Opfer, viele traurigen Unschuld zu sehen, wie schon waren Täter, und die Zahl derer, die sowohl nach dem Ersten Weltkrieg in den Familien Täter und Opfer zugleich waren, ist nicht eingeübt, mag eine Begründung sein. bestimmbar. Situationen und seelische Be- Nachdem in der Forschung, im öffentlichen findlichkeiten von Soldaten nachzuzeichnen Diskurs und in den Schulen längst über die bleibt ein Erfordernis, um Verhaltensweisen

Magazin vom 26.10.2016 29 Zur Diskussion gerecht einschätzen zu können. Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherr- schaft, Loccumer Protokolle 73, Loccum 2005. Für die Täter-Opfer-Problematik bleibt es festzuhalten, dass das Gedenken an die Rolf Wernstedt „Deutsche Erinnerungskul- toten deutschen Soldaten nicht privati- turen seit 1945 und der Volksbund Deut- siert und lediglich auf den individuellen sche Kriegsgräberfürsorge e. V., Volksbund- Traueraspekt reduziert werden darf, zumal Forum Band 2, Kassel 2009. mit dem zeitlichen Abstand zum Krieg die Hermann Düringer/Sabine Mannitz/Karl Starzacher Unmittelbarkeit der Betroffenheit abnimmt. (Hrsg.):„Möglichkeiten und Vielmehr ist die historische Einordnung Grenzen kollektiver Erinnerung: Ambivalenz und bis zur möglichen individuellen Eingren- Bedeutung des Kriegsopfer-Gedenkens“, Arnoldshai- zung das Erfordernis eines gerechten Erin- ner Texte Band 140, Frankfurt a. M. 2007. nerns. Alle Kriegstoten sind nicht nur einen privaten, sondern einen öffentlichen Tod gestorben. Und darüber muss auch Über den Autor

öffentlich geredet werden. Prof. Rolf Wernstedt studierte Geschichte, Philosophie und lateinische Philologie an den Der häufig gehörte Vorwurf, dass sich hier Universitäten Göttingen und Heidelberg. die deutsche Erinnerungspraxis in einzigar- Er war Niedersächsischer Kultusminister sowie tiger Selbstbezichtigung darstellt, obwohl es Präsident des Niedersächsischen Landtages. Seit 2003 ist er Vorsitzender des Landesver- auch Kriegsverbrechen in anderen Armeen bandes Niedersachsen im Volksbund Deutsche gegeben habe, greift zu kurz. Die unzähligen Kriegskräberfürsorge e.V. und war bis 2016 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates Kriegsverbrechen auf alliierter Seite machen des Verbandes. die deutsche Verantwortung für den Krieg und die Vernichtungsabsicht der deutschen Führung nicht kleiner. Dies zu betonen ist umso wichtiger, als sich aktuell politische Populisten wieder dieses Themas annehmen. Literatur

Willy-Peter Reese „Mir selber seltsam fremd“, München 2003.

Sönke Neitzel/Harald Welzer „Soldaten, Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“, Frankfurt a. M. 2011.

„Soldaten und andere Opfer?“ Die Täter-Opfer-Prob- lematik in der deutschen Erinnerungskultur und das

Magazin vom 26.10.2016 30 Zur Diskussion

Zum Umgang mit Angehörigen Weimar der Waffen-SS auf Auf dem Hauptfriedhof von Weimar wurden Kriegsgräberstätten Soldaten der Wehrmacht und zivile Tote beerdigt, aber auch SS-Wachmannschaf- Von Henning Pieper ten des Konzentrationslagers Buchenwald, Im Jahr 1984 kam es zu einem politi- die bei einem Luftangriff im Jahr 1944 zu schen Skandal, als Bundeskanzler Helmut Tode kamen. Zu DDR-Zeiten wurden die Kohl gemeinsam mit dem amerikanischen Kriegsgräber durch die Angehörigen ge- Präsidenten Ronald Reagan eine Kriegsgrä- pflegt; die Gräber wiesen damals keiner- berstätte in Bitburg besuchte, auf der auch lei Angaben zur Einheitszugehörigkeit der Soldaten der Waffen-SS begraben liegen. Toten auf. Nach der Wende kam es jedoch Auch heute noch ist es vielerorts schwierig, zu einem Skandal, als bei einer Restaurie- im Gedenken an zivile und militärische Op- rung des Gräberfeldes Dienstgrade auf den fer des Zweiten Weltkrieges zu einem ange- Grabsteinen angebracht wurden und somit messenen Umgang mit ehemaligen Angehö- zwischen Wehrmachts- und SS-Angehöri- rigen einer bewaffneten Kraft zu finden, die gen unterschieden werden konnte. Die Stadt die Vernichtungspolitik des Dritten Reiches Weimar befürchtete die Entstehung eines mit umsetzte und zu Recht während der Wallfahrtsortes für Rechtsextreme und ließ Nürnberger Prozesse zur verbrecherischen SS-Bezeichnungen wieder von den Steinen Organisation erklärt wurde. Der Volksbund entfernen. Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. ist in Bis heute ist durch Erwähnung militärischer vielen Fällen mit der gleichen Problematik Rangangaben einerseits und Aussparungen konfrontiert: Wie kann man als Angehö- unter den Namen verstorbener SS-Männer rigenorganisation, die sowohl Gräber von andererseits ein deutlicher Unterschied zu Verfolgten und Opfern als auch von Tätern erkennen (zum Teil auf ein und demselben des NS-Regimes betreut, auf Friedhöfen mit Grabstein). Bei Besuchen des Friedhofes dieser Vergangenheit umgehen? Die Kom- durch Schülergruppen im Rahmen der po- plexität des Themas lässt sich an drei Fällen litischen Bildungsarbeit des Volksbundes darlegen. Sie zeigen entweder eine Entfer- bildet dieser Umstand eine interessante nung von Hinweisen auf die Identität Ver- Gesprächsgrundlage. Berührt werden dabei storbener oder eine klare Benennung von beispielsweise die Frage der Notwendigkeit Tätern und Taten sowie die Einbeziehung einer Kennzeichnung der Truppenzugehö- von Schicksalen in die Bildungsarbeit vor rigkeit als auch die des ewigen Ruherechts, Ort. das laut Gräbergesetz allen im Zweiten Weltkrieg „während ihres militärischen oder militärähnlichen Dienstes“ ums Leben Gekommenen zusteht.

Magazin vom 26.10.2016 31 Zur Diskussion

Costermano (Italien) italienischen Faschisten und ihren Gegnern Auf der vom Volksbund unterhaltenen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Deut- Kriegsgräberstätte Costermano in Nord- sche Soldaten machten in dieser Situation italien wird darauf hingewiesen, dass sich oft keinerlei Unterschied mehr zwischen unter den dort bestatteten deutschen Sol- Zivilisten und Partisanen und führten in ei- daten auch Kriegsverbrecher und Täter des nigen Landesteilen einen regelrechten Krieg Holocaust befinden. Der Aufarbeitung war gegen die italienische Bevölkerung. jedoch ein jahrzehntelanger Streit um den Diese Umstände bewogen den Wissenschaft- Umgang mit diesen Toten vorausgegangen. lichen Beirat des Volksbundes Deutsche Ausgelöst wurde dieser im Jahr 1988 durch Kriegsgräberfürsorge, in Zusammenarbeit die Weigerung des deutschen Generalkon- mit dem Auswärtigen Amt zwei Informati- suls in Mailand, Manfred Steinkühler, an onstafeln zu erstellen. Seit 2006 erläutern der jährlich in Costermano durchgeführ- sie im Eingangsbereich des Friedhofes den ten Veranstaltung zum Volkstrauertag teil- historischen Hintergrund der Kriegsgräber- zunehmen. Steinkühler hatte es nicht mit stätte. Zu den Toten heißt es: seinem Gewissen vereinbaren können, an „Es ist nicht auszuschließen, das unter den einem Ort der Toten zu gedenken, an dem 22.000 hier begrabenen Soldaten auch sol- neben vielen anderen auch der ehemalige che sind, die an Kriegsverbrechen in Italien SS-Hauptsturmführer Christian Wirth be- beteiligt waren. Gegenwärtig weiß man je- erdigt wurde. Bei ihm handelte es sich um doch, daß einige SS-Funktionäre, die hier einen der Organisatoren des Massenmordes begraben liegen, aktiv und verantwortlich an behinderten Menschen im Dritten Reich. an der Ermordung der jüdischen Bevölke- Im Zweiten Weltkrieg war Wirth außerdem rung im besetzten Polen und in Italien mit- mitverantwortlich für die Ermordung Hun- gewirkt haben - allen voran Christian Wirth derttausender Juden, Sinti und Roma. als Inspekteur der Vernichtungslager. Diese Neben Informationen zu diesem Männer waren abkommandiert worden, um Täterschicksal konnten in den neunziger die Verfolgung von Juden und Partisanen Jahren auch neue Erkenntnisse zur Kom- im Nordosten Italiens und in Istrien in die plexität der Kampfhandlungen in Itali- Wege zu leiten. en gewonnen werden. Drei zwischen 1943 Die hier liegenden Toten mahnen uns zu und 1945 parallel ausgetragene Konflikte Frieden und Versöhnung. Auch die Schul- spiegeln sich ebenfalls in Costermano wi- digen, die hier begraben sind, mögen ihre der. Sowohl Kämpfen mit alliierten Trup- letzte Ruhe finden, obwohl sie unaussprech- pen als auch Gefechten mit Untergrund- liches Leid über viele Menschen und ihre kämpfern fielen zahlreiche Angehörige von Familien gebracht haben. Ihre Verbrechen Wehrmacht und SS zum Opfer. Außerdem sind uns jedoch zugleich Aufforderung, führten Auseinandersetzungen zwischen

Magazin vom 26.10.2016 32 Zur Diskussion aus der Geschichte zu lernen und auch un- verlangt wurde, sich auch gegen die eigenen ter schwierigen Umständen stets für die Untergebenen richtete und bis hin zu Mord Achtung der Menschenrechte und -würde reichte. Zugleich wird an diesen Fällen einzutreten.“ deutlich, wie Deutsche und SS-Angehörige Lommel (Belgien) sowohl Täter als auch Opfer sein konnten. Ein Vergleich zwischen den „politischen Vier SS-Männer, die auf der Kriegsgräber- Soldaten“ der Waffen-SS und aus rassischen stätte im belgischen Lommel beerdigt wur- oder anderen Gründen von den Nationalso- den, stehen für eine gänzlich andere Gruppe zialisten verfolgten Menschen verbietet sich von Kriegstoten. Die vier Soldaten waren dabei jedoch. Rekruten der 1. SS-Panzerdivision „Leib- standarte Adolf Hitler“ im Alter von 17 bis In Lommel befindet sich heute neben einem 18 Jahren. Sie wurden an Pfingsten 1944 Friedhof für über 39 000 deutsche Gefalle- durch ein Standgericht wegen Wehrkraft- ne des Ersten und Zweiten Weltkrieges eine zersetzung zum Tode verurteilt und hinge- Jugendbegegnungsstätte des Volksbundes. richtet. Ihre während des Garnisonsdienstes Hier betreuen pädagogisch geschulte Mitar- im besetzten Belgien begangenen Vergehen beiter_innen internationale Jugendbegeg- - Entfernung von der Truppe und Lebens- nungen und bieten Projekte zur Bildungsar- mitteldiebstahl - waren geringfügig. Verant- beit und Friedenserziehung an. Dazu gehört wortlich für die unverhältnismäßige Verhän- auch die Erläuterung von Einzelschicksalen, gung der Todesstrafe war ihr Vorgesetzter, durch die eine Annäherung an historische der hochdekorierte SS-Offizier Joachim Pei- Ereignisse vermittelt werden kann. per, der durch das drakonische Urteil ande- Schlussbetrachtung ren ein warnendes Beispiel geben wollte. In Der Stand der historischen Forschung er- den vorangegangenen Jahren war Peiper an möglicht heute eine differenziertere Be- Kriegsverbrechen und am Holocaust in der trachtung als in den 1980er und 1990er Sowjetunion und Italien beteiligt. Nach dem Jahren. Zudem werden Kriegsgräberstätten Krieg wurde er für das Ende 1944 an ame- inzwischen noch umfassender in die poli- rikanischen Kriegsgefangenen begangene tische Bildung von Schülern und Jugendli- Malmedy – Massaker zunächst zum Tode, chen eingebunden. Auf diese Weise ist es in später zu lebenslanger Haft verurteilt, aus vielen Fällen möglich, zwischen echten und der er 1956 entlassen wurde. Im gleichen vermeintlichen Verbrechern zu unterschei- Jahr wurden gegen ihn Ermittlungen wegen den und diesen Umstand klar zu benennen. der vier in Belgien verhängten Todesurteile Lebensgeschichtliche Beispiele können uns angestrengt, die jedoch ergebnislos blieben. heute helfen, die Ereignisse des Zweiten Diese Biographien zeigen, wie die kom- Weltkrieges besser zu verstehen: Aus ein- promisslose Härte, die von SS-Offizieren zelnen Biographien wird deutlich, daß die

Magazin vom 26.10.2016 33 Zur Diskussion pauschale Verurteilung aller Waffen-SS – Angehörigen als Täter ebenso zu kurz greift wie die vermeintlich unpolitische, unter- schiedslose Betrachtung aller Kriegstoten als Opfer. Als Hintergrund der Soldaten- friedhöfe muss dabei der Nationalsozialis- mus erläutert werden: Eine Weltanschau- ung, die Krieg und Rassismus propagierte, brachte die Opfer in Situationen, in denen sie Tatbeteiligte wurden.

Quellen- u. Literaturangabe

Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft vom 1. Juli 1965 (BGBl I 1965), § 1 Abs. 2 http://www.volksbund.de/kriegsgraeberstaetten. html (Informationen zu Costermano und Lommel)

Westemeier, Jens: Himmlers Krieger. Joachim Pei- per und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn u.a.: Schöningh, 2014.

Über den Autor Dr. Henning Pieper, Historiker, arbeitet als Schul- und Bildungsreferent des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. im Bezirks- verband Lüneburg/Stade.

Magazin vom 26.10.2016 34 Empfehlung Fachbuch

Der lange Schatten der Täter. erst durch das Gespräch mit der Autorin Nachkommen stellen sich ihrer überhaupt ermutigt gefühlt, öffentlich über NS-Familienge-schichte, Mün- die Familiengeschichte zu sprechen. Acht chen/Berlin 2016. persönliche Gespräche und Begegnungen zeichnet Senfft nach und schildert diese aus- Von Carmen Ludwig führlich und einfühlsam. Dem Buch liegen „Die in diesem Buch Porträtierten sind neben den Biografien auch zahlreiche Ge- nicht die Kinder und Enkel ranghoher Na- spräche mit Psychologen und Historikern tionalsozialisten, sondern Menschen wie zugrunde, deren Erkenntnisse sie zum Teil du und ich. Ihre Angehörigen waren auf in die Porträts einflechtet. Jede Biografie, je- unterschiedlichste Weise in das NS-System der Lebensweg, jeder persönlicher Umgang involviert, meist kleine Rädchen im mörde- mit der eigenen NS-Familiengeschichte rischen Getriebe“ (S. 10), schreibt die Auto- steht für sich – Senfft hat jeder Geschichte rin und Islamwissenschaftlerin Alexandra ein eigenes Kapitel gewidmet. Senfft im Vorwort ihres neuen Buches „Der „Ich kann doch meinen Vater nicht in lange Schatten der Täter. Nachkommen die Täterecke einreihen!“ stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte“, Es sind Geschichten, wie die von Paula Al- das im Frühjahr 2016 bei Piper erschienen brecht (Jg. 1950), Tochter von Günter Al- ist. Auch wenn seit mehreren Jahren ver- brecht, Obergefreiter der Wehrmacht. Im mehrt über Täterschaften und die Verstri- Frühjahr 1942 war Albrecht an der Belage- ckung einzelner Personen im NS-System rung Leningrads beteiligt, die heute zu den gesprochen und geforscht wird, wurde eine schwersten Verbrechen der Wehrmacht biografische Aufarbeitung bislang weniger in zählt. Paula Albrecht berichtet davon, wie den Blick genommen. Senfft unternimmt in ihr Vater ihren Kindern von seinen Kriegs- ihrem neuen Buch den Versuch, das Schwei- erlebnissen erzählte, eingeleitet mit den gen zu brechen und einen offenen Dialog Worten: „Jetzt hört mal genau zu!“ – doch anzuregen. die Täter waren in seinen Erzählungen im- Aber von vorne: In „Der lange Schatten der mer die anderen. Paula Albrecht weiß nicht Täter“ porträtiert Senfft Frauen und Män- viel über die Vergangenheit ihrer Angehöri- ner, die sich mit ihrer Familiengeschichte gen und gesteht, dass Schweigen, Unsicher- auseinandergesetzt haben und über Tatbe- heit und Angst eine große Rolle im Umgang teiligungen Familienangehöriger im NS- mit der eigenen Familiengeschichte spielten System sprechen. Männer und Frauen, die und bis heute spielen. „Ich kann doch mei- auf verschiedene Weise sich ihrer Fami- nen Vater nicht in die Täterecke einreihen!“ liengeschichte gestellt haben und sich bis (S. 82), war ihre erste Reaktion auf einen heute mit ihr beschäftigen. Einige von den Umschlagentwurf des Buches von Senfft. Protagonisten in Senffts Buch haben sich Paula Albrecht steht mit ihrer Biografie für

Magazin vom 26.10.2016 35 Empfehlung Fachbuch viele Deutsche Familiengeschichten, in de- tut weh. Eine deutsche Familiengeschich- nen Unwissenheit und Scham über die Ver- te“ veröffentlichte. Darin arbeitete sie uner- flechtungen der eigenen Verwandten in das müdlich ihre eigene NS-Familiengeschichte NS-System vorherrschen – in denen die auf. Eine Familiengeschichte, in der ihr Täter immer die anderen waren. Großvater Hanns Ludin, SA-Gesandter in Es sind auch Geschichten wie die von Stefan der Slowakei, über Jahrzehnte einen langen Ochaba (Jg. 1972), Enkel von Erich Ocha- Schatten warf. Ludin wurde 1947 als Kriegs- ba, Direktor (später Vorstandsmitglied) der verbrecher in Bratislava hingerichtet. Rund Webstuhl- und Webereimaschinen-Fabriks- zehn Jahre nach „Schweigen tut weh“ nun AG. Die Fabrik im tschechischen Krnov, „Der lange Schatten der Täter“, in dem die nach dem Münchener Abkommen 1938 von Autorin anderen Menschen Mut verleiht, den Deutschen besetzt und in Jägerndorf sich der eigenen Geschichte zu stellen und umbenannt, gehörte dem jüdischen Ehe- öffentlich darüber zu sprechen. paar Eibuschitz. Das Ehepaar sowie etwa Schuld, Scham, Schande 600 weitere Jägerndorfer Juden wurden aus Die Biografien bilden den Hauptteil des der Stadt vertrieben, 1942 wurden das Ehe- Buches. Daneben befasst sich die Autorin paar Eibuschitz in Sobibor ermordet. Erich auch generell mit Fragen zur Aufarbeitung Ochaba wandelte die Fabrik in einen Rüs- nationalsozialistischer Täterschaften heu- tungsbetrieb um, in dem Zwangsarbeiter te. Insbesondere die justizielle Aufarbei- tätig waren. Im Entnazifizierungsverfahren tung von NS-Täterschaft stellt sie in den wurde Ochaba 1948 als Mitläufer eingestuft. Fokus, denn auch bei heute stattfindenden Er starb früh, sodass sein Enkelkind ihn Prozessen spielen Fragen nach dem gegen- nicht selbst mit seinen Fragen konfrontie- wärtigen Umgang mit Tätern eine zentra- ren konnte. Stefan Ochaba ging den Spuren le Rolle. Im ersten Kapitel berichtet Senfft nach, manchmal hatte er das Gefühl „fast von ihrem Beisein an einem Prozesstag von besessen etwas aufspüren zu wollen“ (S. Oskar Gröning im Sommer 2015 in Lüne- 296). Seitdem er sich mit seiner Familienge- burg. Schweigen, Lügen oder Leugnen ver- schichte auseinandersetzt, ist das Verhältnis bindet man wohl mit vielen Prozessen von zu einigen Verwandten nahezu zerstört. Er NS-Tätern – doch Gröning sprach, er äu- selbst, Angehöriger der sogenannten Enkel- ßerte sich vor Gericht zu seinen Taten und generation, lehnt die Bezeichnung „Kriegs- bekannte eine moralische Mitschuld. Doch enkel“ vehement ab und nennt sich „Nazi- reicht das? Senfft stellt fest, dass die meis- Enkel“ (S. 290). ten anderen Täter bis heute schweigen und Nachkommen stellen sich ihrer NS-Fami- das Schweigen an ihre Nachkommen verer- liengeschichte, so heißt es im Untertitel ben würden. Auch ihr Großvater Hanns Lu- des Buches. Eben dies tat auch die Autorin din hätte an der Stelle Grönings vor Gericht selbst, als sie 2007 das Buch „Schweigen sitzen können, stellt sie sich vor. Senfft

Magazin vom 26.10.2016 36 Empfehlung Fachbuch konnte ihn nicht befragen, sie weiß nicht, ihren Taten konfrontiert werden. ob er sich seinen Taten und seiner Schuld Das letzte Kapitel ist in besonderer Weise ein gestellt hätte und die Wahrheit gesprochen persönliches Kapitel der Autorin, in dem sie hätte. Reflektionen und Verbindungen zu plötzlich wieder selbst in der Situation wie ihrer Familiengeschichte durchziehen das viele ihrer Gesprächspartner steht, als sie in gesamte Buch wie einen roten Faden, die einem Teil des Museums der Gedenkstätte Leser_innen erfahren ein detailliertes Bild Auschwitz mit ihrem Großvater konfrontiert von der Autorin, von ihrer eigenen Ausein- wurde: „Meine Gefühle sind ambivalent, andersetzung mit der NS-Familiengeschich- Befremdung aber dominiert: Mein fremder te und den Folgen für ihr Leben heute. Großvater; der Vater meiner Mutter, die an Der Verdacht liegt nahe, dass Senfft mit „Der diesem Erbe zerbrach und sich schleichend lange Schatten der Täter“, knapp zehn Jahre umbrachte; der Mann, über dessen Schuld nach der Veröffentlichung von „Schweigen oder Unschuld die Familie meiner Mutter tut weh“, eine Fortsetzung schreibt. Senfft und ich seit Jahren in Clinch liegen […]. Ich hat persönlich das Verdrängen und Ver- schwanke zwischen Triumph (schaut her, schweigen in der eigenen Familie durchlebt ihr Verwandten, selbst in Auschwitz ist er und schließlich durchbrochen, sie möch- zu sehen, und ihr beharrt noch immer auf te nun verstehen und beschreibt in ihrem seiner Unschuld!) und Trauer (Warum ist Buch den Versuch einer Verständigung. das alles so gekommen, was hat das mit uns Verständigung sowohl mit Personen, die an allen angerichtet, bis ins dritte Glied! Wel- ähnlicher Stelle stehen wie Senfft vor zehn che Schuld, Scham und Schande, welche Jahren, aber auch Verständigung mit Nach- seelischen Schrammen!)“ (S. 332f.). Auch kommen von Verfolgten im NS. So schließt wenn Senfft mit dieser Reise nach Ausch- sich am Ende der Kreis in ihrem Buch, wenn witz einen Abschluss suchte, zeigt sie deut- sie im abschließenden Kapitel über eine Rei- lich, dass die Aufarbeitung der eigenen Fa- se nach Auschwitz berichtet, die die Autorin miliengeschichte ein unabgeschlossener mit einer Gruppe Mitgliedern des Arbeits- Prozess ist und bleibt. Ob sie selbst oder ihre kreises für intergenerationelle Folgen des Gesprächspartner es am Ende schafften, aus Holocaust ehem. PAKH e.V. unternommen dem Schatten ihrer eigenen Vergangenheit hat, die für sie „Abschluss und Neubeginn herauszutreten, bleibt offen. zugleich markieren soll“ (S. 313). Auch an Zusammenfassung die Taten Oskar Grönings denkt Senfft an Alexandra Senfft gelingt es auf sensible diesem Ort zurück, ebenso an den Prozess. Weise, persönliche Gedanken und Erfah- Senfft hält fest, dass es wichtig sei, dass der rungen der Porträtierten nachzuerzäh- Prozessbeginn gegen Mitverantwortliche len und bettet das Gesagte durch klug ge- und Beteiligte des Holocaust überhaupt wählte Verbindungen und Verweise auf stattfand und die Angeklagten endlich mit

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Einschätzungen von Psychologen und His- torikern in den aktuellen Forschungsstand zum Thema transgenerationelle Weitergabe ein. „Der lange Schatten der Täter“ ist zu- gleich ein sehr persönliches Buch, in dem die Autorin auch ihre eigene Biografie re- flektiert und in die Erzählungen einbezieht. Insgesamt ein Buch, das sich aktuell in eine (neue) Debatte um den Umgang mit Täter_ innen des Nationalsozialismus einfügt – bei der danach gefragt wird, wie wir heute mit Täterschaften im Familienkreis umgehen können und wie öffentlich und juristisch mit Täter_innen umgegangen werden soll. Zugleich ist das Buch ein Plädoyer dafür, dem Schweigen zukünftig keinen Raum zu geben, sondern mit den eigenen Kindern und Enkelkindern zu sprechen und Fragen zu beantworten. Literatur

Alexandra Senfft: Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familienge- schichte, Piper Verlag, München/Berlin 2016, 352 Seiten, 22 Euro.

Über die Autorin Die Historikerin Carmen Ludwig leitet den Ge- schichtswettbewerb des Bundespräsidenten bei der Körberstiftung und ist freie Mitarbeiterin bei der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

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Oliver von Wrochem (Hrsg.) drei Kapitel basieren auf den beiden Fach- „Nationalsozialistische konferenzen, während die Kapitel vier und Täterschaften. Nachwirkungen fünf auf Grundlage der Seminare und der in Gesellschaft und Familie“ dabei rekonstruierten Biografien entstan- den sind. Von Christian Schmitt „Das öffentliche, gesellschaftliche und das Wie andere Beiträge in dieser LaG-Ausgabe familiäre Erinnern an den Nationalsozia- bereits gezeigt haben, hat die Auseinander- lismus steht in einem Wechselverhältnis setzung mit den familiären, wissenschaftli- zueinander“ (S. 11), so die eingangs formu- chen und gesellschaftlichen Folgen von nati- lierte Grundthese des Bandes. Um dieser onalsozialistischer Täterschaft in den letzten Annahme systematisch nachzugehen, ist Jahren zugenommen. Diese begrüßenswer- das Buch sinnvoll strukturiert in die Berei- te Entwicklung wird auch und insbesonde- che „Forschung und Gesellschaft“, „Bildung re von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Gesellschaft“, „Literatur, Film und Er- intensiv vorangetrieben. Am Anfang der innerungsgemeinschaften“, „Auseinander- Ausgabe berichtet Oliver von Wrochem von setzungen mit der Täterschaft der Eltern“ den Recherche- und Gesprächsseminaren in sowie „Auseinandersetzungen mit der Tä- Neuengamme, in deren Rahmen Menschen terschaft der Großeltern“ unterteilt. zur Belastung ihrer Vorfahren forschen Das erste Kapitel setzt sich mit der aktuellen können und die Möglichkeit haben, die ge- Täterforschung sowie ihren Begrifflichkei- wonnenen Informationen im Gespräch zu ten, Periodisierungen und Grundannahmen verarbeiten. Ebenfalls in Neuengamme fan- auseinander. Es befasst sich mit gesell- den im Jahr 2013 zwei wissenschaftliche schaftlichen Widerständen gegen die juris- Konferenzen statt, die sich dem Umgang tische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in mit NS-Täterschaft widmeten. In der jün- der alten Bundesrepublik und ergründet geren Vergangenheit ist viel Arbeit geleistet NS-Täterschaft sowie den individuellen worden, sodass es an der Zeit scheint, eine Umgang mit ihr anhand zusätzlicher Analy- Zwischenbilanz zu ziehen. sekategorien wie etwa Geschlecht und Alter. Erinnern in wechselseitigem Prozess gegen Verhältnis als Wendepunkt Eben dies tut Oliver von Wrochem als Sehr anschaulich zeichnet etwa Gerhard Herausgeber des Sammelbandes „National- Paul die Veränderungen des Bildes von sozialistische Täterschaften“ aus der „Rei- Täter_innen in Wissenschaft und Öffent- he Neuengammer Kolloquien“. 34 Beiträ- lichkeit am Beispiel von Adolf Eichmann ge in fünf Kapiteln sowie eine DVD mit elf und Rudolf Höß nach. Täter-Bilder waren filmischen Porträts greifen den vielfältigen demnach in den mehr als 70 Jahren seit Umgang mit NS-Verbrechen auf. Die ersten

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Kriegsende erheblichen Schwankungen nicht mehr zeitgemäß ist. unterworfen. In den 1950er- und frühen Einfluss von historisch-politischer 1960er-Jahren galten NS-Täter_innen als Bildung auf das Handeln Dämonen und Psychopathen, „die über die von Polizist_innen Deutschen hineingebrochen waren, gleich- Das zweite Kapitel arbeitet Grundlagen und sam als exterrestrische Wesen, mit denen Potentiale von historisch-politischer Bil- die deutsche Gesellschaft nichts gemein hat- dungsarbeit im Umgang mit Täterschaft te“ (S. 57). Der sprachlich aufgeladene Dis- heraus. Sehr interessant sind zwei Beiträ- kurs wurde zu einem großen Teil von ehe- ge von Thomas Köhler und Uta George zu maligen KZ-Häftlingen, Journalist_innen berufsgruppenspezifischer Bildungsarbeit, und den Ankläger_innen der Nürnberger zeigen sie doch eindrucksvoll, wie die Ausei- Prozesse geprägt. nandersetzung mit NS-Verbrechen auch für 1961 jedoch markierte der israelische Pro- Menschen ohne familiäre Belastung für das zess gegen Adolf Eichmann eine Wende. eigene Handeln relevant sein kann. In den Medien begann sich nun die Deu- Köhler berichtet von Seminaren in der Vil- tung als pflichtergebener Schreibtischtä- la ten Hompel in Münster, deren Ziel es ist, ter, als „Mordbeamter“ (S. 59) in passiver durch die Auseinandersetzung mit der Rolle Täterschaft, durchzusetzen. Diese Wahr- der Polizei im „Dritten Reich“ Polizist_in- nehmung fußte auch auf dem Auftreten nen Denkanstöße für ihr eigenes Berufsbild Eichmanns, der sich selbst während des zu geben. Überblicksartig zeichnet er die Prozesses als unterwürfiger Aktenwurm Selbstwahrnehmung und Außendarstellung von „rätselhafte[r] Gewöhnlichkeit“ (S. 61) der Polizei im Verlauf des 20. Jahrhunderts inszenierte. Auch die Forschung nahm dieses nach, um die daraus resultierenden Heraus- Narrativ weitgehend an, und so avancierte forderungen für die Arbeit mit den Seminar- der „Schreibtischtäter“ zur „wohlgefälligen teilnehmer_innen zu benennen. und langlebigen […] Entschuldungsfigur der Nachkriegsgesellschaft“ (S. 62.). Demnach brachten die Protestbewegun- gen der 1950er- und 1960er-Jahre ein seit Die Autobiografie von Rudolf Höß sowie Jahrzehnten bestehendes elitäres Selbst- ihre Rezeption verfestigten das Bild des bild ins Wanken, wonach die Polizei aktiv initiativlosen Beamten weiter und tru- Einfluss auf die Entwicklung von Staat und gen dazu bei, dass es auch in der heutigen Gesellschaft nehmen könne. Der im Zuge Gesellschaft nach wie vor Bestand hat, darauf einsetzenden Reformierung der auch wenn die Geschichtswissen- Polizei in stärkerer Anlehnung an die schaft seit den 1990er-Jahren inten- Bürgerrechte wurde in Reaktion auf den siver zu den Entscheidungsspielräu- Terrorismus der RAF ein vorläufiges men der „Schreibtischtäter“ forscht Ende gesetzt. Der „Leitgedanke […] einer und diese Deutung von dieser Seite aus

Magazin vom 26.10.2016 40 Empfehlung Fachbuch aufgerüsteten Polizei als Bürgerkriegs- Altenpflegeschulen, aber auch armee“ (S. 152) etablierte sich erneut, für Mitarbeiter_innen aus dem wenngleich diese Periodisierung vor dem Bildungsbereich. Hintergrund der bereits 1968 erlassenen In den Seminaren drängen sich wie auch Notstandsgesetze durchaus streitbar ist. Erst bei den Polizist_innen Fragen nach den seit den 1980er-Jahren ist die Entwicklung eigenen Handlungsmöglichkeiten in einem einer sich öffnenden Polizeikultur erkenn- hierarchischen Umfeld auf, ebenso wie As- bar und mit ihr die Auseinandersetzung mit pekte von Menschenwürde und Inklusion. der NS-Vergangenheit der Institution, nicht Die Teilnehmer_innen studieren die Aus- zuletzt im Rahmen der Ausbildung. sagen ehemaliger Angestellter der Heilan- Bei den Seminaren in der Villa ten Hompel stalt in den Prozessen der Nachkriegszeit. werden Polizist_innen anhand einer Dauer- Die Argumente der Täter_innen werden ausstellung mit dieser Vergangenheit kon- nach Berufsgruppen separiert (Ärzt_innen, frontiert. Die sich aufdrängenden Fragen Krankenpfleger_innen, Verwaltungsbe- und Diskussionen, etwa nach der potenti- amt_innen) und in der Runde diskutiert. ellen eigenen Reaktion auf verbrecherische Auffällig ist dabei das große Verständnis, Befehle, können möglicherweise das unste- das die Teilnehmenden, auch aus dem Bil- te Wertegerüst der Polizei nachhaltig be- dungsbereich, immer wieder für das Han- einflussen. Ziel der Seminare ist daher eine deln der Täter_innen entwickeln. Hier Stärkung der „humanen Autonomie“ (S. spiegelt sich auch ein Teil der deutschen 155) sowie die Entwicklung neuer, nicht hi- Erinnerungskultur wieder, in der etwa Er- erarchisch angeordneter Denk- und Hand- lösungsphantasien („Vielleicht war der Tod lungsmuster. für die Kranken das Beste“) oder der niedri- Erlösungsphantasien bei der ge soziale Status von Menschen mit Behin- Beurteilung von derung auch heute noch in die Beurteilung Euthanasie-Verbrechen von Euthanasie-Verbrechen einfließen. Der Beitrag von Uta George bezieht sich Das Problem des Nicht-Bedauerns auf die Bildungsarbeit zu Täter_innen der Das dritte Kapitel thematisiert die ehemaligen Landesheilanstalt Darstellung von NS-Täterschaft in auto- in Hessen, wo alleine im Jahr 1941 mehr biografischen Dokumentarfilmen oder als 10.000 Menschen mit Behinderung autobiografischer Literatur, aber auch in oder psychischer Erkrankung vergast wur- regionalen sowie familiären Erinnerungs- den. Seit 1983 ist das Krankenhaus eine gemeinschaften. Es zeigt sich unter ande- Euthanasie-Gedenkstätte. Heute werden rem, wie oftmals verharmlosende Narra- dort Seminare veranstaltet, vorwiegend für tive zu Täterschaft in der eigenen Familie Schüler_innen von Kranken- und existieren, während gleichzeitig „die

Magazin vom 26.10.2016 41 Empfehlung Fachbuch geschichtspolitische Anerkennung der NS- Porträts Zugang zum Innenleben der Nach- Verbrechen […] als gesellschaftliche[r] kommen von NS-Täter_innen und reflek- Konsens“ (S. 14) akzeptiert wird. tieren auf ehrliche Weise Aufarbeitungs-, In den Kapiteln vier und fünf kommen Bewältigungs- sowie Verdrängungsmecha- schließlich Nachkommen ehemaliger Tä- nismen. ter_innen zu Wort. Sie berichten über ihren Literatur eigenen Umgang mit der Täterschaft der El- Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische tern oder Großeltern, über die eigene Flucht Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und in die wissenschaftliche Literatur, über Familie, Metropol Verlag, Berlin 2016. 534 Seiten + Fortbestehen von NS-Ideologie in der Fami- DVD, 24 Euro. lie und das Problem des Nicht-Bedauerns. Die Rolle der Eltern als Vermittlungsinstanz zwischen Enkeln und Großeltern wird eben- so aufgegriffen wie Probleme bei der objek- tiven Recherche der eigenen familiären Be- lastung. Die beiliegende DVD knüpft an die letzten beiden Kapitel an, porträtiert elf der betei- ligten Autoren und geht auf der Grundlage von Interviews mit Nachkommen weiteren Fragen im Umgang mit familiärer NS-Belas- tung nach. Zusammenfassung Mit dem Sammelband „Nationalsozialisti- sche Täterschaften“ ist ein komplexes Werk entstanden, das einen multidimensionalen Blick auf den Umgang mit NS-Täterschaft in verschiedensten Bereichen von Forschung, Bildung und Gesellschaft sowie den beob- achtbaren Wechselwirkungen zwischen die- sen wirft. Das Buch ist damit besonders für Akteure der historisch-politischen Bildung interessant, die über die Grenzen ihres ge- wohnten Tätigkeitsbereiches hinausschau- en und sich über die Arbeit ihrer Kollegen informieren wollen. Nicht zuletzt bieten die

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Die Polizei im NS-Staat. Ausstellung waren Florian Dierl, Mariana Auseinandersetzung mit einer Hausleitner, Martin Hölzl und Andreas Mix, dunklen Vergangenheit die zusammen mit der Deutschen Hoch- schule der Polizei auch den Katalog zu der Von Frederik Schetter Ausstellung herausgaben. Auf eine Auseinandersetzung mit der „Saubere Polizei“ eigenen NS-Geschichte und die Bereitschaft Dem eigentlichen Katalog vorangestellt sind zur historischen Aufarbeitung musste man – neben einigen Gruß- und Vorworten sowie bei der Polizei seit dem Ende des national- einer kurzen Einleitung – sieben Essays. sozialistischen Deutschlands lange Zeit ver- Diese geben auf insgesamt 80 Seiten einen geblich warten. Erst seit den 1990er-Jahren Überblick über die konkreten inhaltlichen fand auf lokaler und regionaler Ebene in Themen der Ausstellung. zunehmendem Maße eine Aufarbeitung der Rolle der Polizei im NS-Staat statt. Den Anfang macht Mariana Hausleitner mit Mit der Entwicklung einer Ausstellung der einem kurzen Überblick über die Rolle der Deutschen Hochschule der Polizei (Münster) Polizei in der Weimarer Republik. Sie geht und des Deutschen Historischen Museums dabei speziell auf die militärische Tradition wurde von April 2008 an der „großangelegte der Polizei ein und analysiert die Gründe für Versuch unternommen, ein Gesamtbild der das Scheitern des Versuches, eine bürger- Geschichte der Polizei im NS-Staat zu zei- nähere Polizei zu schaffen. Darauf folgend gen“ (S.12), wie der ehemalige Präsident der gehen Florian Dierl, Thomas Roth und Ger- Stiftung Deutsches Historisches Museum, hard Paul auf die Rolle der Ordnungspoli- Hans Ottomeyer, zusammenfasst. Die tem- zei, der und der Geheimen poräre Ausstellung war im Zeitraum vom 1. Staatspolizei () im NS-Regime ein. April 2011 bis 28. August 2011 – und damit Florian Dierl hebt speziell die innerhalb der knapp einen Monat länger als geplant – im vorhandene Sympathie ge- Deutschen Historischen Museum zu sehen genüber der Führung und Struktur des NS- und ist seitdem in einigen Bundesländern Regimes und die Bereitschaft, sich in ihre an Bildungsstätten der öffentlichen Ver- Herrschaftsstruktur zu integrieren, hervor. waltung als modifizierte Wanderausstel- Auch verdeutlicht er den Widerspruch zwi- lung unterwegs. Geleitet wurde das Projekt schen der Präsentation der Ordnungspolizei der Ausstellungsentwicklung von Wolfang als „freundliches Gesicht des NS-Staates“ Schulte von der Deutschen Hochschule der (S. 38) und der zentralen Mitwirkung am Polizei und Detlef Graf von Schwerin, dem Holocaust und dem Verüben von Kriegs- ehemaligen Leiter des Zentrums für Zeitge- verbrechen durch Ordnungspolizisten. Bei schichte der Fachhochschule der Polizei des der von Thomas Roth analysierten Krimi- Landes Brandenburg. Kurator_innen der nalpolizei wird ebenfalls die Beteiligung

Magazin vom 26.10.2016 43 Empfehlung Fachbuch an verschiedenen nationalsozialistischen politische und gesellschaftliche Situati- Verbrechen hervorgehoben. So bezeichnet on. Martin Hölzl nimmt sich der „aktiven Roth beispielsweise den Völkermord an Vergangenheitspolitik“ (S. 93) an, derer sich den Sinti und Roma als „Kernprojekt der Polizisten in beiden deutschen Staaten be- NS-Kriminalpolizei“ (S. 50). Sowohl für die tätigten. Durch Behauptungen und Legen- Ordnungspolizei als auch für die Kriminal- denbildung wurde dazu beigetragen, ein polizei wird festgestellt, dass es nach 1945 möglichst sauberes Bild der während des kaum eine Aufarbeitung der begangenen „Dritten Reiches“ an Holocaust und Kriegs- Verbrechen gab, sondern im Gegenteil die verbrechen beteiligten Polizei zu schaffen. Polizei als unbeteiligt präsentiert wurde. Interne Ermittlungen mit dem Ziel der Bei der thematischen Vorstellung der Aufklärung wurden zudem in vielen Fällen Gestapo relativiert Gerhard Paul in keinster sabotiert. Weise die durch diese begangenen Verbre- Militarisierung und berufliche chen, dekonstruiert jedoch den Mythos der Kontinuitäten Allmacht und hebt die Bedeutung von ins- Auf diese sieben Essays folgt das Kernstück: titutionellen Kooperationen, von Spitzeln der Katalog mit den Ausstellungsobjekten. und von Denunzianten aus der Gesellschaft Auf knapp über 200 Seiten werden die ins- hervor. Das Verhältnis zwischen Polizei und gesamt 489 Ausstellungsexponate aufge- Wehrmacht stellt Detlef Graf von Schwerin führt. Diese sind nur in Teilen mit Abbil- in den Mittelpunkt seines Essays. Er ver- dungen versehen. Eingeteilt in insgesamt weist auf die Verantwortlichkeit der Wehr- neun Einzelbereiche werden so Schritt für macht, durch deren Vorrücken der Polizei Schritt die in den Essays angesprochenen erst „der Spielraum für den Völkermord“ (S. Inhalte, Probleme oder Fragestellungen 69) eröffnet wurde, und stellt Gemeinsam- in weiten Teilen chronologisch durch Ex- keiten und Unterschiede in der Zusammen- ponate dargestellt. Begonnen wird dabei arbeit zwischen Wehrmacht und Polizei in nach einigen einleitenden Exponaten mit den unterschiedlichen eroberten Gebieten der Zeit der Weimarer Republik. Das Ende fest. bilden Ausstellungsobjekte, die auf die seit Die Essays von Andreas Mix und Martin einiger Zeit zunehmende Aufarbeitung der Hölzl gehen auf die Aufarbeitung und Aus- Polizeigeschichte verweisen. einandersetzung mit der NS-Geschichte Die Exponate lassen sich überwiegend in nach dem Ende des nationalsozialistischen fünf Gruppen einteilen. Den Schwerpunkt Deutschlands ein. Andreas Mix stellt die des Ausstellungskatalogs bilden Exponate, strafrechtliche Aufarbeitung der Polizeiver- die der Polizei im Allgemeinen oder indi- brechen in beiden deutschen Staaten dar. viduellen Polizisten zuzuordnen sind. Die Er berücksichtigt dabei neben Statistiken zweite Gruppe besteht aus Objekten, die und den rechtlichen Grundlagen auch die

Magazin vom 26.10.2016 44 Empfehlung Fachbuch genaue Informationen über die Opfer geben. lektoriert und übersichtlich gestaltet. Ausstellungsobjekte, die die politischen und Die vorangestellten Essays ermöglichen gesellschaftlichen Begleitumstände in un- eine Einordnung und ein tiefergehendes terschiedlichen Zeiträumen darlegen, kön- Verständnis der nachfolgend aufgeführ- nen der dritten Gruppe zugeordnet werden. ten Exponate. Inhaltlich ist der Versuch Die vierte und letzte Gruppe bilden Expona- gelungen, „ein Gesamtbild der Geschichte te wie beispielsweise Zeittafeln, Karten oder der Polizei im NS-Staat zu zeigen“ (S. 12). Organigramme, welche einen Überblick Durch die Auswahl der Exponate gelingt über historische Kontexte oder Strukturen dies, ohne dabei zu sehr zu verallgemeinern. geben. Der fünften Gruppe, die sich zum Ein moralisierender Blick aus der heutigen Teil mit anderen überschneidet, können Zeit wird vermieden. Vielmehr wird es er- Exponate, die speziell eine individuelle Bio- möglicht, sich anhand der Vielzahl an un- graphie oder einen beruflichen Werdegang terschiedlichen Exponaten eine eigene Mei- aufzeigen, zugeordnet werden. nung zu bilden. Der Ausstellungskatalog, Die aufgeführten Exponate zeichnet eine vor allem aber – falls möglich – der Besuch große Bandbreite aus. Neben historischen oder die Möglichkeit zum Entleih der modi- Gegenständen, Filmaufnahmen, Plakaten fizierten Wanderausstellung lassen sich in oder Fotografien werden beispielsweise der Bildungsarbeit daher gut nutzen, auch auch relevante Gesetze und Befehle sowie weil unter Umständen noch bestehende My- persönliche Briefe ausgestellt. Betrachtet then dekonstruiert werden und für aktuelle man die Exponate, so fallen zwei Aspekte historische Aufarbeitungsprozesse sensibili- besonders auf: Erstens die konkret fassbare siert wird. Militarisierung der damaligen Polizei, was Literatur & Informationen sich besonders an den Abzeichen, gezeig- Deutsche Hochschule der Polizei; Dierl, Florian; ten Waffen und weiteren Ausrüstungsge- Hausleitner, Mariana; Hölzl, Martin; Mix, Andreas genständen festmachen lässt. Zweitens die (Hrsg.): Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im Kontinuitäten innerhalb der Polizei und im NS-Staat. Eine Ausstellung der Deutschen Hoch- Berufsleben von Polizisten. Dies geht aus schule der Polizei, Münster, und des Deutschen His- den Biographien hervor, welche den berufli- torischen Museums, Berlin. 1. April bis 31. Juli 2011, chen Werdegang am Beispiel von einzelnen Sandstein Verlag, 2011. Polizisten von der Weimarer Republik bis in Ausstellungskatalog bestellbar bei: Deutsche Hoch- die Nachkriegszeit aufzeigen. schule der Polizei, Publikationen Shop, Preis: 19,80 € Zusammenfassung Für Einrichtungen, die die Ausstellung zeigen möch- Der mit einer Zeittafel und einem ten, besteht die Möglichkeit zur Kontaktaufnah- Personenregister ausgestattete Ausstel- me mit dem Polizeimuseum Niedersachsen unter: lungskatalog ist informativ, sehr gut [email protected]

Magazin vom 26.10.2016 45 Empfehlung Fachbuch

Erinnerungsfoto aus Auschwitz. ähnlich der Funktion eines Familien- Das Höcker-Album Albums – als persönliche Erinnerungen an eine Zeit dienen, die viele der Tä- Von Anne Lepper ter_innen eben nicht als „bedrückend“ Bei den Mordaktionen der Nationalsozi- oder „falsch“ erlebten und erinnerten. So alisten_innen inner- und außerhalb der fand man bei der Verhaftung des Konzentrations- und Vernichtungslager ehemaligen stellvertretenden Lager- handelte es sich meist um koordinierte kommandanten des Vernichtungslagers Vorgänge, deren Ablauf von den Täter_in- Treblinka, in dem zwischen 1942 und nen präzise geplant und durchgeführt 1943 mehr als eine Million Menschen wurde. Zu dem bürokratisierten Morden ermordet wurden, , Ende der gehörte dabei auch, die eigenen Taten – 1950er-Jahre ein Album, das unter an- meist für den internen Gebrauch – zu doku- derem Aufnahmen aus seiner Dienstzeit mentieren. Dies erfolgte in endlosen Regis- im Vernichtungslager zeigt und mit der tern, Karteien und (Lage-) Berichten, immer Überschrift „Schöne Zeiten“ versehen wieder jedoch auch durch Fotografien, die wurde. von den Täter_innen an den Orten ihrer Frühe und späte Funde Taten aufgenommen wurden und die Die Dokumentationswut der National- dazu dienen sollten, die eigenen „Erfolge“ sozialisten, deren Früchte sich in ei- festzuhalten und zu belegen. So dokumen- nem unüberschaubaren und durchbüro- tierte der in Warschau zur Niederschla- kratisierten System aus Behörden und gung des Ghetto-Aufstands eingesetzte Verwaltungsabläufen zeigten, wurde SS-Führer Jürgen Stroop anhand eines abgelöst von dem ebenso ambitioniert Foto-Albums mit dem Titel „Es gibt kei- betriebenen Versuch, jegliche Spu- nen jüdischen Wohnbezirk in Warschau ren der eigenen Taten zu beseitigen. Die mehr!“ den Ablauf der Ghettoräumung. Vernichtungslager in Ostpolen – Belzec, Eines der darin enthaltenen Fotos, auf dem Sobibor und Treblinka – wurden schon ein kleiner Junge zu sehen ist, der mit er- 1943 geschlossen und im Anschluss dar- hobenen Armen das Ghetto verlässt, findet an von jeglichen Hinweisen auf ihre frühe- sich heute in zahllosen Publikationen und re Nutzung befreit. In Berlin, der Zentrale Ausstellungen wieder und ist damit wich- der nationalsozialistischen Macht, bemüh- tiger Bestandteil einer über die Jahrzehnte ten sich die untergehenden Herrscher noch entstandenen Ikonografie des Holocausts. bis unmittelbar vor dem Eintreffen alli- „Schöne Zeiten“ ierter Truppen darum, Beweismaterial zu Doch neben der Dokumentation der vernichten. Dennoch tauchten in den eigenen Taten hatten die Fotografien oft vergangenen Jahrzehnten und tauchen auch einen anderen Zweck. Sie sollten – bis heute immer wieder Schriftstücke und

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Fotografien auf, die die Gewaltverbrechen ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer der Nationalsozialisten aus der Perspektive historiografischen Kontextualisierung aus- der Täter_innen darstellen. Der Umgang einander. mit diesen Dokumenten ist heikel – nicht Spaß in Auschwitz nur in der Bildungsarbeit. Eine durchdachte Betrachtet man die Bilder aus dem Höcker- und ausführliche Kontextualisierung kann Album, wirken besonders jene Aufnahmen jedoch auch in der Arbeit mit Jugendlichen verstörend, die die Täter und Täterinnen sinnvolle Ansatzpunkte für die Auseinan- in ihrer Freizeit zeigen. Jene Frauen und dersetzung mit dem Nationalsozialismus Männer, die zur selben Zeit den hunderttau- und dem Holocaust im Allgemeinen und mit sendfachen Mord an den ungarischen Ju- Täterschaft im Besonderen bieten. den und Jüdinnen begingen, sieht man hier Das Höcker-Album bei einem Ausflug „zur Solahütte“ in unbe- Dass „Täterschaft“ in der Tat und von den schwerter Atmosphäre herumalbern und Täter_innen selbst nicht unbedingt als diese Blaubeeren essen. Die Bilder, die ohne eine rezipiert wird, illustriert ein Dokument, das entsprechende Kontextualisierung eben- erst vor wenigen Jahren in die Hände des so gut eine beliebige Gruppe an irgend- Holocaust Memorial Museum einem Ort und zu irgendeiner Zeit zeigen (USHMM) gelangte. Ein Nachrichtenoffi- könnten, bringen die Täter_innen und da- zier der US-Army hatte am Ende des Zwei- mit auch ihre Taten näher an uns heran. ten Weltkriegs in einer verlassenen Woh- Auschwitz – Synonym für Mord, Sadismus nung in Frankfurt am Main ein Fotoalbum und Entgrenzung – wird dadurch zu einem gefunden, es mit nach Hause genommen Ort, an dem Menschen vermeintlich „norma- und mehr als sechzig Jahre bei sich aufbe- le“ Dinge taten. Das Lager, das in geschichts- wahrt. Erst 2006 gab der Mann, inzwischen wissenschaftlichen Narrativen als von allen hochbetagt, die Aufnahmen an das Archiv moralischen und zivilgesellschaftlichen des USHMM. Dort stellte sich heraus, dass Grundsätzen befreiter Raum dargestellt es sich um ein privates Fotoalbum von Karl wird, erscheint hier als Ort der Freude und Höcker handelt, der als Adjutant des letz- der Gemeinschaftsgefühle. Eine Ausein- ten Lagerkommandanten in andersetzung damit sowie mit den Gefüh- Auschwitz Dienst tat. Darin enthalten sind len, die bei der Betrachtung der Aufnah- 116 Fotografien, entstanden im Sommer men unweigerlich aufkommen, ist nicht 1944, die den Alltag im Lager sowohl aus einfach. In dem Band bemühen sich die dienstlicher als auch aus privater Perspek- Herausgeber deshalb um eine differenzier- tive beleuchten. Eine jüngst von Christophe te und multiperspektivische Kontextuali- Busch, Stefan Hördler und Jan van sierung des Albums. Quasi als Gegenstück Pelt herausgegebene Publikation setzt sich und ständiger Spiegelpunkt dient den ver- nun akribisch mit den Fotografien selbst, schiedenen Autoren dabei das sogenannte

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„Auschwitz-Album“, das von der Rezeptionsgeschichte eingehen, widmet sich ungarischen Jüdin Lilli Jacob unmit- ein Beitrag zunächst der Biografie von Karl telbar nach ihrer Befreiung im Kon- Höcker, der im Mai 1944 mit dem Beginn der zentrationslager Mittelbau-Dora ge- Ungarn-Aktion nach Auschwitz kam. An- funden wurde und das die Ankunft schließend daran geben vier weitere Beiträ- ihres Deportationstransportes aus Un- ge einen Einblick in den Erfahrungszusam- garn in Auschwitz-Birkenau zeigt. Bei den menhang von Auschwitz. Dazu zählt neben Aufnahmen, die zur selben Zeit wie jene einem Text, der die „verkommene Welt“ von aus dem Höcker-Album gemacht wurden, Auschwitz und Birkenau rekonstruiert, auch handelt es sich um die einzigen Fotografien, ein Beitrag, der sich mit den SS-Täternetz- die den gesamten Ablauf im Vernichtungsla- werken und der Personalpolitik im Lager ger Birkenau – von der Ankunft des Trans- auseinandersetzt. Darauf aufbauend wird portes bis zur Selektion – wiedergeben. der Fokus schließlich auf die SS-Helferinnen Man sieht also auf der einen Seite Menschen, gelegt, deren Rolle und unmittelbare Betei- die sich in ihrer Freizeit gemeinsam zu ligung am Mordprozess anders als jene der einem Ausflug aufmachen und – gut genährt SS-Aufseherinnen in der Historiografie und bei herrlichem Wetter – in Liegestühlen bisher weitgehend unbeachtet geblieben entspannen. Auf der anderen Seite sieht man ist. Die Publikation, die vom Philipp von dieselben Menschen, wie sie sich bereitwillig Zabern Verlag als hochwertiges Hardcover- in den Dienst einer Mordmaschinerie stel- Buch herausgegeben wurde, bietet zahlrei- len und über Leben und Tod tausender ver- che Möglichkeiten, sich dem komplexen ängstigter Menschen mit einem Fingerzeig Thema der Täterschaft im NS und der entscheiden. Die Klammer zwischen den (Selbst-) Inszenierung durch Fotografie beiden Seiten bildet die sowohl hier als auch anzunähern. Einziger Wermutstrop- da wahrnehmbare Kameradschaft unter fen ist der Preis, der ebenso opulent ist den Angehörigen der SS, die schnell – das wie das Werk selbst. Dennoch kann zur wird an den Fotos des „Auschwitz-Albums“ Anschaffung nur geraten werden, da die deutlich – zur Komplizenschaft wird und Bilder, die am Ende des Bandes die das Bewusstsein jeder individuellen großformatig und in hochauflösender Verantwortung auszuschalten vermag. Qualität abgedruckt sind, hervorragend für die Bildungsarbeit genutzt werden können. In der Publikation nähern sich die Au- tor_innen aus verschiedenen Perspekti- Literatur ven den Aufnahmen des Höcker-Albums. Busch, Christophe; Hördler, Stefan; Van Pelt, Robert Neben zwei einführenden Texten, die das Jan (Hrsg.): Das Höcker-Album. Auschwitz durch Album in seinen historiografischen Zu- die Linse der SS. Philipp von Zabern Verlag, Darm- sammenhang einordnen und dabei sowohl stadt 2016. auf seine Entstehungs- als auch auf die

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Täter, Opfer oder beides? Suizid klassischen Sinne“: Walter Müller, geboren eines jüdischen SS-Mannes 1901, ist 1933 leitender Klinikarzt in Waib- lingen sowie SS-Sturmarzt. Im Mai wird der Von Christian Schmitt überzeugte Nationalsozialist angezeigt; bei Geschichte nicht ausschließlich aus der den anschließenden Ermittlungen finden Sicht von Opfern und Beherrschten bezie- die Behörden heraus, dass Müllers Vater hungsweise von Tätern und Herrschenden Jude ist. Müller selbst ist bei Adoptiveltern nachzuvollziehen, gehört zu den Grundvo- aufgewachsen und weiß nichts über seinen raussetzungen eines multiperspektivischen biologischen Vater. Am 27. Juni wird der Geschichtsunterrichts. Das Einbeziehen Arzt über seine „jüdische Abstammung“ mehrerer Perspektiven ist unerlässlich für und seine bevorstehende Entlassung aus der ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein. Klinik auf Grundlage des „Gesetzes zur Wie- Besondere Ansprüche an das Reflexions- derherstellung des Berufsbeamtentums“ vermögen und die narrative Kompetenz der informiert und nimmt sich noch am selben Schüler_innen werden dann gestellt, wenn Abend das Leben. sich der Perspektive keine dieser Rollen Im Arbeitsmaterial enthalten sind Fotos eindeutig zuordnen lässt. von Müller in Gesellschaft seiner SS-Kame- Das ist der Fall bei dem Unterrichtsmaterial raden, aus dem Hochzeitsurlaub sowie von zum Suizid des jüdischen SS-Mannes Wal- seinem Grab. Eine Infobox beinhaltet die ter Müller, der sich im Juni 1933 im schwä- Biografie Müllers, von seiner Geburt und bischen Waiblingen ereignete. Die Materi- Jugend über Studium und Eintritt in die SS alien eignen sich für die Sekundarstufe II bis zu besagten Ereignissen des Jahres 1933 und sollen „einen problemorientierten und und seinem darauf folgenden Tod. gegenwartsbezogenen Zugang zur Frage Erinnerungskulturelle Diskussion nach der Erinnerung an Täter und Opfer zum Grab Walter Müllers des Nationalsozialismus“ bieten. Sie umfas- Was für ein überzeugter Antisemit und sen ein Arbeitsblatt und zwei weitere Blätter Nationalsozialist Walter Müller gewesen mit der Biografie sowie Quellen zum „Fall ist, bezeugen die vorliegenden schriftlichen Walter Müller“. Autor ist Dr. Christoph Quellen. So berichtet etwa sein Nachfolger, Pallaske, Studienrat im Hochschuldienst in wie Müller Ausschreitungen gegen einen der Abteilung Didaktik der Geschichte der jüdischen Assistenzarzt initiierte, bei denen Universität zu Köln. dieser von einem Mob Fackeln tragender „Eine Tragödie im klassischen Sinne“ SS- und SA-Leute aus dem Krankenhaus Die historischen Ereignisse beschreibt der und schließlich aus der Stadt gejagt wurde. Waiblinger Stadthistoriker Hans Schultheiß Auch der Abschiedsbrief an Müllers Ehefrau Jahrzehnte später als „eine Tragödie im Marianne zeigt, in welcher Identitätskrise

Magazin vom 26.10.2016 49 Empfehlung Unterrichtsmaterial sich der Mann urplötzlich befand. Unerträg- Zusammenfassung lich schien ihm der Gedanke, „nicht mehr in Der paradoxe und doch bezeichnende Fall der NSDAP [und SS] mittun zu dürfen“ (S. des SS-Arztes Walter Müller eignet sich 3). Er hoffte, dass nach seiner Auferstehung hervorragend, um Schüler_innen Abstand seine „Atome sich glücklicher zusammenf[ä] zu historischem Schwarz-Weiß-Denken nden als dieses Mal“ (ebd.). Sein letzter gewinnen zu lassen. Eine anspruchsvol- Wunsch an sie: „Sei in all deinem Tun und le und widersprüchliche Perspektive for- Handeln Nationalsozialistin, so wie ich trotz dert ihre Urteilskompetenz heraus und allem als SS-Mann sterbe“ (ebd.). garantiert eine kontroverse Diskussion im Der Aufgabenzettel regt eine erinnerungs- Klassenzimmer. Anhand der Waiblinger kulturelle Diskussion an. Dabei sollen die Debatte um die Form des Erinnerns an Mül- Schüler_innen drei Fragen beantworten: ler erfahren die Schüler_innen darüber hin- Was sollte mit dem Grab Walter Müllers aus die Aktualität zeithistorischer Fragestel- passieren? Soll für den ehemaligen Arzt ein lungen. gesetzt werden? Soll für ihn eine erklärende Mahnstätte errichtet wer- Informationen den? Als Grundlage dient auch ein Artikel Das Unterrichtsmaterial „Täter, Opfer oder bei- des „Stern“ aus dem Jahr 2008, der von des? Suizid eines jüdischen SS-Manns“ ist auf einer entsprechenden Debatte in Waib- lehrer-online.de zu finden. Der Download lingen berichtet. Die Schüler_innen sol- erfordert eine Anmeldung, ist aber kostenlos. len als unabhängige Historiker_innen ein Gutachten für den Waiblinger Stadtrat erstellen und zu jeder dieser Fragen Stellung beziehen. Der didaktisch-methodische Kommentar empfiehlt, die Schüler_innen anhand ihrer Antwort auf die erste Frage in drei Grup- pen aufzuteilen (1. Grab einebnen, 2. Grab überwuchern, 3. Grab weiterhin von der Stadt pflegen) und sich ihre Argumente ge- genseitig vortragen zu lassen. Im Anschluss ist zu fragen, ob manche der Schüler_innen im Laufe der Diskussion ihren Standpunkt geändert haben.

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Ministerien und die Aufarbei- Virtuelle Ausstellung tung von NS-Vergangenheit – Verantwortlich für die virtuelle Ausstellung ein Werkstattbericht sind Studierende des achten Masterstudien- ganges Public History der Freien Universität Von Frederik Schetter Berlin. Die konzeptionelle Entwicklung der Die Aufarbeitung der nationalsozialis- virtuellen Ausstellung wurde im Rahmen tischen Herrschaft und der ihr folgen- eines Seminars des Lehrstuhls Didaktik der den Nachkriegszeit erlebt derzeit in den Geschichte des Friedrich-Meinecke Instituts Bundesministerien einen regelrechten im Sommersemester 2016 von den Semin- Boom. Den Anfang machte das Auswär- arteilnehmer_innen gemeinsam durchge- tige Amt und berief im Jahr 2005 eine führt und abgeschlossen. Eine Kerngruppe Unabhängige Historikerkommission zur von insgesamt sechs Studierenden ist seit Untersuchung der eigenen NS-Vergangen- September 2016 für die konkrete Umsetzung heit und des Umgangs mit derselben. In den der virtuellen Ausstellung verantwortlich. darauf folgenden Jahren gaben zahlreiche Die folgenden Ausführungen basieren auf weitere Bundesministerien und -behörden meinen Kenntnissen als Teil dieser Gruppe ähnliche Studien in Auftrag. und spiegeln den aktuellen Stand bei der Seit Ende des Jahres 2014 geht auch das Umsetzung wieder. Bundesministerium des Innern (BMI) die- Zentraler Aspekt ist dabei die im Vergleich sen Weg und initiierte ein von den Direk- zur der für 2018 geplanten Hauptstudie toren des Institutes für Zeitgeschichte (IfZ) veränderte Zielgruppe. Für den Besuch der und des Zentrums für Zeithistorische For- virtuellen Ausstellung setzen wir explizit schung (ZZF) geleitetes, unabhängiges For- kein historisches Expertenwissen voraus. schungsprojekt. Die Forscher_innen stell- Vielmehr richtet sie sich an eine breite, ten im November 2015 die Vorstudie „Die historisch interessierte Öffentlichkeit. Nachkriegsgeschichte des Bundesministe- Dies sind beispielsweise Studierende, riums des Innern (BMI) und des Ministeri- Schüler_innen höherer Jahrgangsstufen ums des Innern der DDR (MdI) hinsichtlich oder Pädagog_innen, im Besonderen aber möglicher personeller und sachlicher Kon- die interessierte Öffentlichkeit jenseits der tinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus“ Schule oder anderer formaler Lernorte. vor. Sie bildet die Basis für eine Hauptstu- Unser Ziel ist es, Geschichte auf der Basis die, deren Veröffentlichung für den Sommer der wissenschaftlichen Forschungsergeb- 2018 geplant ist. Darüber hinaus fördert das nisse nicht nur verständlich, sondern auch BMI die Präsentation der Forschungsergeb- anschaulich zu erzählen. nisse im Rahmen einer virtuellen Ausstel- lung, welche im Sommer 2017 eröffnet wird.

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„Geschichte mit Geschichten“ in regelmäßigen Abständen zu persönlichen Der Nutzung von Biographien kommt Treffen, um Fragen der Visualisierung un- daher eine zentrale Rolle zu. Sie werden tereinander abzustimmen und redaktionelle eng mit thematischen Schwerpunkten Entscheidungen zu treffen. verknüpft und ermöglichen es so, Neben der Zusammenarbeit mit der Agen- „Geschichte mit Geschichten“ multi- tur ist vor allem der regelmäßige Austausch perspektivisch und personifizierend zu mit den Forscher_innen des IfZ und des erzählen. Die Einbindung einer Chronik ZZF von zentraler Bedeutung. Denn wir sowie weiterer Hintergrundinformationen Studierenden erarbeiten in diesem Fall ermöglichen eine Einordnung von zentralen keine neuen Forschungsergebnisse, son- historischen Personen oder Geschehnissen. dern bereiten die vorhandenen Ergebnisse Multimediale Elemente wie beispielsweise unserer Zielgruppe entsprechend auf. Videointerviews mit den Forscher_innen Anknüpfung an Forschungsprozesse von IfZ und ZZF ergänzen die Inhalte und Im Kontext der Auseinandersetzung der ermöglichen einen audiovisuellen Zugang. Bundesministerien mit der Vergangenheit Die virtuelle Ausstellung soll den jeweili- soll durch die virtuelle Ausstellung eine gen Besucher_innen möglichst subjektiv Lernumgebung geschaffen werden, die erfahrbar gemacht werden und so die einer breiteren Öffentlichkeit einen Einblick Möglichkeit bieten, sich selbst in einen aktuellen Forschungsprozess ver- eine eigene Meinung zu komple- schafft. Ein Besuch der virtuellen Ausstel- xen Sachverhalten zu bilden. Ein lung verursacht keine Kosten und ist zudem solcher ist beispielsweise die in der virtu- – sofern ein Internetanschluss vorhanden ellen Ausstellung immer wiederkehrende ist – jederzeit möglich. Im bildungspoliti- Thematisierung des Belastungsbegriffes. schen Kontext eröffnet die virtuelle Aus- Die Besucher_innen der virtuellen Aus- stellung die Möglichkeit, der interessierten stellung sollen dabei unter anderem zur Öffentlichkeit einen Anknüpfungspunkt Reflexion angeregt und für die Frage nach oder Einstieg in jene Forschungsprozes- der Messbarkeit von nationalsozialistischer se und –diskussionen zu bieten, die in den Belastung sensibilisiert werden. meisten Fällen allein in wissenschaftlichen Um sowohl eine ansprechende Visualisie- Publikationen zu finden sind. rung als auch eine professionelle und qua- litativ hochwertige Programmierung der virtuellen Ausstellung zu gewährleisten, arbeiten wir Studierenden mit einer in die- sen Bereichen erfahrenen Agentur zusam- men. Im Zuge dessen kam und kommt es

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Ortsbegehung – Motivlagen und Stadtrecherchen zu Shoah Handlungsspielräume erkennen und Täterschaft Zu Beginn der drei „Ortsbegehungen“ standen jeweils Workshops, Stadtführun- Von Christian Schmitt gen, Filmstudien sowie Gedenkstättenbesu- „Was hat das mit mir zu tun?“, fragt Sacha che und Gespräche mit Zeitzeug_innen. Die Batthyány in seiner hier an anderer Stelle Jugendlichen erweiterten ihr Wissen über vorgestellten Familiengeschichte. Dabei Nationalsozialismus und Holocaust, wobei bezieht er sich auf NS-Verbrechen, in die Fragen nach Täterschaft im Vordergrund unter anderem seine Großtante verwickelt standen: Wie war es möglich, dass so viele war. Dass diese Frage nicht nur Menschen Menschen zu Tätern wurden? Welche Mo- mit eigener familiärer Belastung betrifft, er- tive, welche Handlungsspielräume hatten schließt sich vielen heute nicht mehr auf An- sie? In den Workshops wurden diese Frage- hieb. Diesem Trend entgegenzuwirken, war stellungen auch auf die Gegenwart übertra- ein Ziel des Modellprojekts „Ortsbegehung“ gen und Aspekte von Diskriminierung und der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen („Weit- Ausgrenzung diskutiert. erdenken“), das zwischen 2012 und 2014 Im Anschluss ging es in die Archive. Nach durchgeführt wurde. einer Einführung in die Archivarbeit und Der Untertitel „Stadtrecherchen zu Shoah Quellenkritik suchten die Jugendlichen und Täterschaft“ verrät bereits, was bei nach Spuren von Täterschaft in ihrer Hei- dem Projekt im Mittelpunkt stand: Lokal- mat. Sie erfuhren dabei, wie Menschen in geschichte. Jugendliche waren dazu ein- ihrer Stadt an Verfolgung und Vernichtung geladen, sich historisches Wissen zu ihrer beteiligt waren und welche Ausschnitte der Heimatstadt anzueignen, „das kleine Hand- jeweiligen Stadtgeschichte repräsentativ werk des Stadthistorikers […] zu erlernen“ für das Vernichtungssystem des NS-Staates und ihre Recherchen und Eindrücke an- sind. schließend in einer selbst konzipierten Aus- Augenmerk auf der individuellen Tat stellung zu vermitteln. Ziel war es, „Ge- schichte als Handlungen von Menschen vor Nach ihren Recherchen begannen die Schü- Ort begreifbar zu machen und nicht nur als ler_innen, ihre Ergebnisse inhaltlich und ferne Entscheidungen ‚von oben‘“, wie es auf ästhetisch aufzubereiten, um sie dann der der Website der Böll-Stiftung Sachsen heißt. lokalen Öffentlichkeit zu präsentieren. Er- Geschehen ist dies bislang in Freiberg, Dö- fahrene Kurator_innen und Künstler_in- beln und , wobei sich dieser Artikel nen halfen ihnen dabei, sich kreativ mit der auf die beiden erstgenannten Städte bezieht. Thematik auseinanderzusetzen und den Ausstellungen einen innovativen und zeit- gemäßen Anstrich zu verpassen.

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In Freiberg etwa rekonstruierten Vernichtungsmaschinerie zu sehen, die sich Schüler_innen in fünf Teams jeweils ei- bis Auschwitz verdichten und schließlich nen Ausschnitt der örtlichen Geschichte im dort zusammenlaufen. Mit Helga Weissová Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt ih- und ihrer Freundin Lisa Miková, ebenfalls rer Nachforschungen standen konkrete Überlebende, hatten die Schüler_innen Handlungsentscheidungen von Menschen während des Entstehungsprozesses eine in Freiberg während dieser Zeit. In der berührende Begegnung. Eine Postkarte zum Ausstellung wurde bewusst darauf ver- Projekt zeigt die Gedenktafel im alltäglichen zichtet, Menschen in die Kategorien Opfer, „Gebrauch“. Täter und Zuschauer zu unterteilen. Viel „Gemeinsames Unternehmen mehr betrachtete sie die individuelle Tat an Massenmord“ sich in ihrer ganzen potentiellen Bandbreite In Döbeln ist nicht nur eine Ausstellung von Unterlassung bis Mord. entstanden. In dem Film „über wiesen“ Begegnung mit nehmen die beteiligten Jugendlichen die Holocaust-Überlebenden Zuschauer_innen mit auf einen Gang durch Thema der Ausstellung war auch die ihre Stadt. Mit den einzelnen Orten verbin- Freiberger Außenstelle des KZ Flossenbürg den sie nicht unbedingt konkrete verbre- an dem Ort, wo sich heute der Sportplatz cherische Handlungen, sondern vielmehr des Berufsschulzentrums befindet. Ab 1944 alltägliche Situationen, die in der Summe mussten dort 1002 Mädchen und Frauen aber als Fundament für den Holocaust di- bis zu ihrer Deportation im Jahr darauf in enten. Dazu gehörten etwa der Kauf der Tag- Zwangsarbeit Flugzeugteile fertigen. eszeitung mit judenfeindlichen Artikeln oder Zentrales Ausstellungsstück war dabei die der Besuch des örtlichen Schwimmbads, Gedenktafel „Ihnen“, die nach einem Ent- zu dem Jüdinnen und Juden der Zutritt wurf der Künstlerin Stefanie Busch ent- verboten war. standen ist. Sie erinnert an die Schick- Ein szenisches Spiel imitiert die kalte Dis- sale von Jüdinnen und Juden, die nach kriminierungs- und Mordverwaltung mit oder von Freiberg deportiert wurden. Ein ihren Akten ausfüllenden und stempeln- Tagebucheintrag der Überlebenden Helga den Zahnrädern. Der Kommentar betont Weissová vor dem Hintergrund der mit die freiwillige Teilnahme all dieser Zahn- Kohle gezeichneten Höhenlinien des KZ- räder am „gemeinsamen Unternehmen Geländes prägt die Tafel: „Wenn nicht Massenmord“. Thematisiert werden außer- irgendein Wunder geschieht, halten wir es dem die Entnazifizierungsverfahren in nicht aus. Hoffentlich ist bald Schluss!“ In der Stadt Döbeln. Der Kurzfilm erörtert dominantem Orange sind darüber die De- damit nicht nur ortsbezogene Aspekte von portationswege der gesamten deutschen Täterschaft, sondern greift auch

Magazin vom 26.10.2016 54 Bildungsträger philosophische Fragen über Schuld und Unschuld auf. Zusammenfassung Das Land Sachsen machte in jüngster Vergangenheit zunehmend negative Schlag- zeilen. Sowohl in Freiberg, Döbeln als auch in Leipzig wurden in den vergange- nen Monaten Brandanschläge auf Asylun- terkünfte verübt. Mit der Teilnahme an Projekten wie der „Ortsbegehung“ setzen Jugendliche ein Zeichen dafür, dass syste- matische Ausgrenzung und Bedrohung ei- ner Minderheit am selben Ort bereits schon einmal stattgefunden haben und sich auch in abgewandelter Form nicht wiederholen dürfen. Es wäre erfreulich, wenn die als Modellprojekt gedachte „Ortsbegehung“ bleibende Motivation hinterlassen hat und in Zukunft nicht nur in Sachsen ähnliche Angebote entstehen. In jedem Fall hat sie gezeigt, wie tiefgründig und vielfältig sich eine vom Holocaust doch schon ein Stück entfernte Generation mit der Thematik auseinandersetzen und die NS-Verbrechen auch in lokalen Erinnerungskulturen wieder stärker verankern kann.

Magazin vom 26.10.2016 55 Empfehlung Lebensbericht

Eine Familiengeschichte im Asbest. Erst der Großenkel beginnt Fragen Nationalsozialismus und die zu stellen. Er recherchiert, nachdem ihn eine Folgen Kollegin auf einen Zeitungsartikel aufmerk- sam gemacht hat, in dem der Großtante eine Von Ingolf Seidel Beteiligung an dem Judenmord nachgesagt Der Schweizer Journalist Sacha Batthyány wird. Der Schriftsteller Maxim Biller stellt stammt aus einer Familie, die in den NS- ihm daraufhin die Frage: Und was hat das Staat verstrickt war. Die Großtante, Mar- mit dir zu tun? Für Sacha Battyány beginnt git von Batthyány-Thyssen, stammte aus mit den Nachforschungen eine Zeit der Ver- der Unternehmerfamilie Thyssen und hat- unsicherung. Was weiß seine Familie, sein te 1933 den verarmten ungarischen Grafen Vater? Was hat sie zum Schweigen gebracht? Ivan von Battyány geehelicht. Die Familie Angst? Scham? Das Geld der Großtante? bewohnte das Schloss der Stadt Rechnitz im Auch in Rechnitz herrscht Schweigen. Zwar Burgenland, zugleich ein Erholungsort für wurde ein Prozess angestrengt, aber nach die Waffen-SS. Dort findet in der Nacht vom der Ermordung von zwei Augenzeugen, da- 24. auf den 25. März 1945 ein Gefolgschafts- runter ein Überlebender des Massakers, fest von Mitgliedern der Gestapo, örtlichen stockt dieser. Nazi-Größen und SS-Angehörigen in An- Batthyány wendet sich an nahe und ent- wesenheit des Grafen und der Gräfin statt. fernte Verwandte. Er liest Akten über seine Zur selben Zeit stehen am Bahnhof von Tante Margit, ihren Mann Ivan, Bücher über Rechnitz ungefähr 200 ungarisch-jüdische die Thyssen-Familie, alte Tagebücher und Zwangsarbeiter. Am Ende des Abends sind durchsucht Archive in Berlin, Bern, Buda- 180 von ihnen tot. Ermordet. Erschossen in pest und . Im Frühjahr 2009 begibt er einer nahen Scheune von Gästen des Schlos- sich das erste Mal nach Rechnitz. Der Autor ses. Es bleibt unklar, ob die Gräfin selbst an stellt fest: „Es war ein Massaker an 180 Ju- der Mordaktion beteiligt war, ob sie Juden den, das mich meiner Familie näherbrach- erschossen hat. Das Massaker findet in der te.“ Er konfrontiert den Vater mit dessen Familie Thyssen keine Erwähnung, 62 Jah- Wissen um den Judenmord: „Aber hast du re lang herrscht Schweigen und es gelingt dir nie überlegt, dass sie möglicherweise lange, die Offenlegung einer möglichen Ver- darin verwickelt war?“ Die Gegenfrage: „Ist wicklung oder Beteiligung der Familie an das ein Verhör?“ dem Massenmord zu vertuschen. Im Zuge der Nachforschungen ändert sich Gräfin Batthyány-Thyssen beginnt nach die Motivation von Batthyány. Er will nicht dem Krieg ein neues Leben in der Schweiz – nur die Geschichte des Verbrechens re- als Pferdezüchterin und Sportschützin. Ihr konstruieren. In den Mittelpunkt rückt die Mann wird gefangengenommen und landet Frage, die titelgebend für das Buch über die für zehn Jahre in einem sibirischen Gulag in Familienrecherche sein wird: Was hat das

Magazin vom 26.10.2016 56 Empfehlung Lebensbericht mit mir zu tun? Der Autor reist nach Mos- Buch ist vielmehr eine autobiographische kau und Sibirien, begleitet vom Vater. Es Auseinandersetzung mit seiner Familie. kommt zu Auseinandersetzungen. „Die Rus- Wer eine Generalabrechnung erwartet, wird sen haben Methylalkohol aus den Benzin- also enttäuscht sein. Das ist eine Stärke und lampen gesoffen, kannst du dir das vorstel- Problematik zugleich. Der Autor schafft ein len? Die Deutschen waren zivilisierter.“ „Die familiäres Narrativ, das es ihm ermöglicht Nazis? Zivilisiert?“, frage ich, „das ist nicht sich anzunähern und dabei einen Bruch zu dein Ernst.“ „Nicht jeder Deutsche war ein vermeide. Das ist ein durchaus diskutabler Nazi“, antwortet er. Sie besuchen die Men- Aspekt, stellt sich doch die Frage, ob nicht schenrechtsorganisation Memorial. Sacha heute noch in Bezug auf die NS-Vergangen- Batthyány fragt sich nach dem Sinn der Rei- heit wesentlich mehr Brüche vonnöten wä- se: „War ich nicht nach Sibirien geflogen, ren. Gleichzeitig vermeidet Batthyánys Her- damit mein Vater mich endlich bemerkte?“ angehensweise einen moralisierenden Blick Auch die Eltern von Agnes Mandel auf seine Vorfahren. Seine familienbiogra- wurden ermordet. Sie waren die „Dorfju- fische Auseinandersetzung ist eingängig den“. Im Beisein der Großeltern von Sacha und flüssig geschrieben – manche Passagen Batthyány. Auch sie haben geschwiegen und wirken beinahe zu unterhaltsam. Für den zugesehen. Agnes Mandel hat die deutsche Einsatz im Unterricht sind allerdings sol- Vernichtungspolitik überlebt und ist nach che Merkmale eine Empfehlung. Der Autor dem Krieg nach Buenos Aires gezogen. Dort stellt sich die Frage, ob er anders gehandelt leben ihre Nachfahren, die Schwestern hätte als seine Großtante und die Großel- Marga und Mirta, zu denen der Autor tern. Anhand von Fragen nach eigener Ver- Kontakt aufnimmt. Bei einer Begegnung antwortung und eigenem Handeln kann im in Argentinien stellt er die Frage, ob es Unterricht ein Gegenwartsbezug hergestellt nicht besser gewesen wäre, die Geschichte werden. Und es kann eine Problematik the- ruhen zu lassen. „Wozu?“ sagten sie nicht matisiert werden, den der Historiker Yehuda spöttisch (...), „Wir sind mit dem Gefühl auf- Bauer beschrieb: „Die der Shoah innewoh- gewachsen“, sagte Mirta, „dass die schmerz- nende Warnung lautet eindeutig, daß unter volle Vergangenheit unser heutiges Leben bestimmten Umständen jeder Mensch die bestimmt. Es ist unser Erbe. Es war immer Handlungen der Täter wiederholen könnte.“ da, in jeder Minute unserer Kindheit, je- (Bauer : 2001,38). der Stunde unserer Jugend, an jedem Tag Zudem: Es gibt auch heute noch viele Fa- unseres Lebens.“ miliengeschichten aufzudecken. Die Ausei- Auch wenn die Auseinandersetzung mit der nandersetzung in der Mehrzahl der Fami- begleitenden Psychoanalyse Batthyánys im- lien von Täter_innen, Zuschauer_innen, mer wieder Raum einnimmt, gerät der Text Kollaboratuer_innen und Bystandern nicht selbstbezüglich oder larmoyant. Das sind in der Mehrzahl nicht erzählt. Dazu

Magazin vom 26.10.2016 57 Empfehlung Lebensbericht anzuregen wäre eine pädagogische Aufgabe.

Literatur

Sacha Batthyány: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. Köln, 2016.

Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen. Frankfurt am Main, 2001.

Magazin vom 26.10.2016 58 Unser nächstes Magazin erscheint am 23.11.2016 und trägt den Titel „Extreme Rechte und Möglichkeiten präventiver Bildungsarbeit“

I M P R E S S U M

Agentur für Bildung - Geschichte, Politik und Medien e.V. Dieffenbachstr.76 10967 Berlin http://www.lernen-aus-der-geschichte.de http://www.agentur-bildung.de

Projektkoordination: Ingolf Seidel Webredaktion:Anne Lepper, Frederik Schetter, Christian Schmitt, Ingolf Seidel

Die vorliegende Ausgabe unseres Magazins wird durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. gefördert. Die Beiträge dieses Magazins können für nichtkommerzielle Bildungszwecke unter Nennung der Autorin/des Autors und der Textquelle genutzt werden.