Popularmusik

Wolfgang Fichna

oh Heimatschdod, i kann di g’spürn jetzt bin i wieder gaunz daham de Kindheitsaungst, di zum Verliern had mi verfolgt in meine Tram

Georg Danzer, Wieder in Wien, 2003

Um 1970 setzt sich der bis heute gängige Begriff Austropop für Popmusik aus Österreich durch. Zu Beginn wird er meist mit der Dialektwelle in der österreichischen Popularmusik assoziiert und damit mit Namen wie (Wia a Glock’n, 1970, Text: Gerhard Bronner), Wolfgang Ambros (Da Hofa, 1971, Text: Joesi Prokopetz) oder Georg Danzer (Jö schau, 1975). Die Bezeichnung hat sich sehr schnell ausgeweitet, und so versteht man heute unter Austropop ein breites Spektrum populärer Musik, das Einflüsse unterschiedlichster Genres, von Rock- und Alternativmusik bis hin zu Hip-Hop und elektronischer Tanzmusik, in sich vereint. Verändert hat sich ebenfalls der Umgang der Stadt Wien mit den Wiener InterpretInnen des Austropop, von der Ablehnung der als widerständig empfundenen Rock- und Beatmusik der 1950er und 1960er Jahre über eine beginnende Akzeptanz mit dem wachsenden kommerziellen Erfolg bis hin zu einer gezielten Instrumentalisierung und Aufnahme in die städtische Veranstaltungs- und Festivalkultur.

Aber auch die MusikerInnen der Stadt haben sich im Laufe der Zeit immer wieder neu zum Austropop positioniert. Er war ein Identifikationspunkt, bald jedoch auch ein Begriff, von dem man sich massiv abgrenzte, und schließlich, als historisches Phänomen, ein Gegenstand von – oft ironischer – Zitierung. Die Wiener Technopioniere Ilsa Gold sampeln beispielsweise den Refrain von Peter Cornelius’ Hit Süchtig in doppelter Geschwindigkeit und schaffen aus dem clownesken Verarbeitungsergebnis der Zeile eines Liebesliedes eine Hymne der exzessiven und drogengeschwängerten Rave-Kultur (→ Peter Cornelius: Süchtig, 1985, und Ilsa Gold: Silke süchtig, 1993).

Die Anfänge

„Ein Saxophonsolo oder die Nennung einer exotischen Zigarettenmarke konnte die

Stimmung eines inneren Fremdseins bei gleichzeitiger – scheinbarer – Anwesenheit evozieren. Das Nachkriegs-Einfamilienhaus bekam in solchen Momenten gläserne

Wände.“(Kos 1995, S. 164). Mit der aufkommenden Jugend- und Protestkultur ab den

1950ern werden auch in Wien Antikonventionen – Kleidung, Musik und Sprache – zu kulturellen Widerstandsformen und bilden eine „Rock Formation“, bestehend aus Musik,

Film, Printmedien, Werbung etc., die auf die Gesellschaft einwirkt und bedeutende Räume des Alltagslebens kolonialisiert (Grossberg, 1992, 131ff.). Die Stadt reagiert restriktiv, und so schreibt die Gemeindeverwaltung 1967 ihren Angestellten die Haarlänge vor. Als ein 17- jähriger Lehrling des technischen Diensts und Gitarrist in der Beatgruppe The Progress unter

Androhung der Kündigung zum Friseur geschickt wird, wenden sich einige empörte

Lehrlinge an die Kronen Zeitung, die daraufhin eine Kampagne gegen die „Langhaarigen“ startet: „Im Rathaus meint man: Statt langer Haare Ärmelschoner!“ (Kronen Zeitung,

27.2.1968).

Aber im Untergrund hat sich längst eine Popbewegung formiert, die an den Schnittstellen zur Kunst agiert. Seit 1965 tritt die Vorläuferformation von Drahdiwaberl bei Festen in der

Akademie der bildenden Künste auf und wird gemeinsam mit der Hallucination Company zu einem Pool junger MusikerInnen, die nicht nur Rockmusik, Theater und Aktionismus formell zusammenführen, sondern auch die Musiklandschaft der Stadt in den folgenden

Jahrzehnten prägen werden. Die Wallflowers, die Milestones (mit Sängerin Beatrix

Neundlinger) sowie Novak‘s Kapelle liefern einen unaufhaltbaren neuen Soundtrack der Stadt, und 1971 finden in der Band Gipsy Love mit Karl Ratzer, Harri Stojka, Kurt

Hauenstein (Supermax) und Peter Wolf Künstler zusammen, die bald, jeder auf seine Art, internationale Strahlkraft erlangen werden.

Austropop und darüber hinaus

Zu den Vorboten der Dialektwelle, durch die sich die erste Phase des Austropop definiert, zählt die Worried Men Skiffle Group, die 1970 mit den Wiener Mundartsongs Glaubst I bin bled und Da Mensch is a Sau beachtliche Erfolge erzielt. Zugleich festigt sich die

Grossberg’sche „Rock Formation“ und findet mit dem 1967 gegründeten Popmusiksender

Ö3 ein Sprachrohr, besonders in der im folgenden Jahr u. a. von André Heller und Wolfgang

Kos entwickelten Sendung „Die Musicbox“. Neben Medien formieren sich in der Stadt zusehends vermehrt Veranstaltungsräume, von denen viele, etwa das Porrhaus, das Atlantis oder das Voom Voom, inzwischen legendär, aber auch fast vergessen sind. Mit der Arena-

Besetzung 1976, der laut Rolf Schwendter „eigentlichen kulturellen Zäsur“ der Zweiten

Republik, findet der Kampf um kulturelle Räume einen ersten Höhepunkt (vgl. Schwendter,

1995).

So eindeutig der Begriff Austropop auf den ersten Blick erscheint, als so diffus entpuppt er sich bei näherer Betrachtung. Tatsächlich oszilliert er zwischen den Sphären des

Mainstreams und des Untergrunds sowie der Kunst- und der Popularmusik, speist sich aus einer Fülle von Genres und schafft in seinen Texten räumliche Motive von lokaler und globaler Ausprägung zugleich – etwa den Zentralfriedhof, das Café Hawelka und die internationale Arbeiterbewegung. Ein Beispiel dafür liefern die Schmetterlinge: Ende der

1960er gegründet, nimmt die Band um Willi Resetarits, den späteren Ostbahn-Kurti, und

Beatrix Neundlinger 1977 am Eurovision Song Contest teil und veröffentlicht im selben Jahr die bei den Wiener Festwochen uraufgeführte und als politisches Oratorium angelegte Proletenpassion. Peter Wolf und Kurt Hauenstein haben Wien zu dieser Zeit bereits verlassen.

Wolf wird, als Produzent und Komponist mehrfach Grammy-nominiert, mit über

200 Millionen verkauften Tonträgern zum mit Abstand erfolgreichsten Wiener Jazz-, Rock- und Popmusiker werden, während Hauensteins Band Supermax als erste weiße Formation, die 1983 beim jamaikanischen Festival Reggae Sunsplash auftritt, in die Musikgeschichte eingehen wird.

Die Wiener Vertreter des Austropop erfahren über die 1970er wie andere erfolgreiche Werke popularer Kultur eine Transformation. So wie Ernst Hinterbergers TV-Serie Ein echter Wiener geht nicht unter, die zu Beginn extrem polarisiert, werden ihre oft kritischen oder naturalistischen Lieder und Sittengemälde (neben Ambros’ Da Hofa, seinem antimilitaristischen Lied Tagwache und Danzers Jö schau beispielsweise Ludwig Hirschs Die

Omama) durch ihren unaufhaltsamen Erfolg schnell identitätsstiftend. Mit ihrer Bewegung in die Mitte der Gesellschaft und ihrer Einordnung als „typisch wienerisch“ beginnt auch ihre wachsende Einbindung in die städtischen Räume: 1976 treten Ambros und Danzer im

Rahmen der Wiener Festwochen in der Stadthalle auf, 1983 gibt Ambros, unterstützt u. a. von Reinhard Fendrich, vor 25.000 Menschen im Wiener Weststadion eines seiner einprägsamsten Konzerte.

In den 1980ern verdichtet sich das Zusammenwirken der wachsenden und sich stetig ausdifferenzierenden Wiener Popmusikszenen mit der Stadt und dem ihr innewohnenden

Branding als ‚Musikstadt Wien‘. Neue Deutsche Welle, Punk, New Wave, die verschiedenen

Rockgenres von Heavy Metal bis Hardcore und schließlich Hip-Hop und elektronische

Musikstile treten mit den städtischen Räumen in komplexer und höchst unterschiedlicher

Weise in Beziehung. Wie die ersten VertreterInnen des Austropop wird , der aus dem

Umfeld von Drahdiwaberl und der Hallucination Company erwächst, zum Spielball der Kräfte. Seine Musik trifft den Zeitgeist im Untergrund wie im Mainstream, erklingt in subkulturell geprägten Clubs, in den Massenmedien und auf den Bühnen städtischer

Festivalkultur bis hin zur Festwochen-Eröffnung. Falco ist es auch, der mit seinem Welthit

Rock me Amadeus erstmals das musikalische Erbe der Stadt zum Popthema macht. 1983 lockt ein Freiluftkonzert von Minisex, Tom Pettings Hertzattacken und anderen

100.000 BesucherInnen an die Floridsdorfer Brücke und wird zum Startpunkt des vom damaligen Bezirksrat Harry Kopietz initiierten Donauinselfests. Andere Formationen wie

Chuzpe und die Mordbuben AG behalten ihre Widerständigkeit und liefern den Soundtrack zum Kampf um alternative Räume wie die besetzten Häuser in der Gasser- und Ägidigasse.

Die beginnende Rave-Szene erschließt schließlich auf illegalen Veranstaltungen industrielles

Brachland.

Kulturpolitik und städtische Räume

Damit wächst auch die Komplexität der Beziehung von Stadt und Popularmusikstilen. Aus der Sicht der Stadtverwaltung geht es dabei im Wesentlichen um drei Aspekte:

Zum Ersten wäre da die Kontrolle von Gegenkulturen. Sie findet, stets mit der Arena-

Besetzung von 1976 im Hinterkopf, in der Aushandlung von kulturellen Räumen,

Veranstaltungs- und Produktionsorten statt. Dies führt in den 1990ern zu einer gezielten urbanen Gestaltung mittels der Ansiedlung von Musikclubs auch jenseits des Untergrunds, die der Stadt ein modernes Bild geben sollen. Als Zweites lässt sich eine gezielte Einbindung populärer Musik in die städtische Kulturpolitik beobachten. Neben dem Donauinselfest entsteht eine Reihe von oft geförderten Festivals, etwa das Popfest am Karlsplatz oder der

Electric Spring im Museumsquartier. Und nicht zuletzt ist da noch die Vermarktung der

Musikstadt Wien nach außen. Falco hat vorexerziert, wie Mozart als Popphänomen zu behandeln ist, und die Stadt lernt diese Lektion sehr schnell. Besonders deutlich sichtbar wird dies im Umgang mit der Wiener Elektronik. 1. Räume

1979 wird Helmut Zilk Wiener Stadtrat für Kultur und Bürgerdienst (1979–1983). Mit ihm beginnt eine neue Ära des Umgangs mit der lokalen Gegenkultur, die sich um autonome

Projekte wie das Amerlinghaus oder die Gassergasse gruppiert, welche sich den städtischen

Abriss- und Neubaukonzepten der 1970er widersetzen. Zilk startet eine Politik, die zwischen

Repression und Dialog wechselt. „Zwar mußte man [strikt gesetzliche] Vereine gründen und

Kontrollorgane der Gemeinde akzeptieren. Doch dafür gab es verhältnismäßig großzügige

Subventionen. Die Rathaus-Politiker warteten ab, ob sich die Szenen professionalisieren oder ob Selbstverwaltung in destruktiven internen Machtkämpfen enden würde.“ (Mattl, 1998, S.

89). 1979 ist auch das Gründungsjahr des Vereins zur Schaffung offener Kultur- und

Werkstättenhäuser (WUK), der sich für die Erhaltung und Weiternutzung der historischen

Gebäude des Technologischen Gewerbemuseums im neunten Wiener Gemeindebezirk einsetzt und die Aufmerksamkeit Zilks erregt. Zwei Jahre später besetzen AktivistInnen des

Vereins das Gelände und erhalten wenig später von Bürgermeister Leopold Gratz das Recht zur provisorischen Nutzung. Unter Zilks reger Anteilnahme und mit Unterstützung der

Stadt wird das Areal in der Folge saniert und besteht bis heute als alternatives

Kulturzentrum mit Proberäumen und als Veranstaltungsort.

Im Umfeld der Autonomen und der Punkszene entsteht 1990 in , dem zwölften

Wiener Gemeindebezirk, der Untergrundclub Flex, der 1995, ebenfalls unterstützt durch die

Stadtverwaltung, in einen stillgelegten U-Bahn-Schacht am Donaukanal übersiedelt und seitdem als Wiens renommiertester Musikclub für internationale elektronische Tanzkultur und Alternative Music gilt. So gut wie alle erfolgreichen Wiener VertreterInnen dieser

Szenen, von Kruder und Dorfmeister über Electric Indigo bis hin zu Wanda und dem Nino aus Wien, sind im Flex aufgetreten. In den 1990ern werden im Rahmen des EU-geförderten

Stadterneuerungsprojekts „Gürtel plus“ und unter der Stadträtin für Kultur Ursula Pasterk

(1987–1996) zahlreiche Stadtbahnbögen unter der U-Bahn-Linie U6 an Veranstaltungslokale vergeben, für die sich entlang der Hauptverkehrsachse des Gürtels kaum Probleme mit

Lautstärkengrenzen ergeben. Clubs wie das elektronisch ausgerichtete Rhiz und das Chelsea, das den Rock- und Alternative-Bereich abdeckt, tragen so zu einer vitalen lokalen

„Gürtelszene“ bei. Das neue Flex (als Teil eines Konzepts zur Belebung des Donaukanals) und das „Gürtel plus“-Projekt stehen bereits unter neuen kulturpolitischen Vorzeichen:

Jugend- und Popkultur werden von der Gemeinde längst nicht mehr als Gegen- oder

Widerstandskonzepte aufgefasst, sondern sind Teil von moderner Stadtentwicklung und von City-Branding geworden.

Bemerkenswert ist, wie die Schaffung popularer Musik- und Kulturorte trotz geänderter ideologischer Vorzeichen weiter nach ähnlichen Mustern der Neudefinition urbaner Räume funktioniert. Die verschlafene einstige Milchtrinkhalle Meierei im Stadtpark, von der

Stadtverwaltung langjährig und günstig an einen Gastronomen verpachtet, erlebt in der

Blütezeit der Wiener elektronischen Musikszene zwischen 1996 und 2002, als ihre

Umgestaltung längst beschlossene Sache ist, eine Phase als angesagter Tanzclub, in dem die namhaften PartyveranstalterInnen, DJs und MusikproduzentInnen der Stadt einen höchst attraktiven und beliebten Aufführungsort finden. Im Anschluss erfolgt die Umgestaltung zu einem Tempel der internationalen Spitzengastronomie. Wie das Flex in den 1990ern erobert das Fluc im folgenden Jahrzehnt den architektonischen Wiener Untergrund. Diesmal ist es kein stillgelegter U-Bahn-Tunnel, sondern eine nicht mehr genutzte Fußgängerunterführung, die zu einem Kulturraum umgestaltet wird. Aus einem Offspace, der sich im Zuge des

Umbaus des Bahnhofsareals am Praterstern auftut, wird 2006 ein von Klaus Stattmann entworfener Konzert- und Veranstaltungsort, der sich in das neu gestaltete Umfeld einfügt und die lokalen Musikszenen versammelt. Die Rolle der Stadt in der Entstehung des Fluc fasst DJ und Veranstalterin Tib Curl zusammen: „Es gibt sehr viele Leerräume, aber es gibt keine Muse seitens der Stadt Wien, Energie in solche Projekte zu stecken. […] Die Laura Rudas [zu dieser Zeit die jüngste Gemeinderätin, Anm.] war ja die Pusherin vom Fluc. Das heißt, ohne Politik kommst du in der Stadt eh nicht weit.“(Fichna, 2011, S. 75).

2. Festivalisierung

In der Gegend um den Platz am Hof und den Judenplatz findet 1978, organisiert vom ÖVP-

Vizebürgermeister Erhard Busek, das erste Wiener Stadtfest statt, bei dem Hochkultur und

Popelemente zusammenfinden und das die Innenstadt zum Schauplatz eines Volksfests bei freiem Eintritt macht. Im selben Jahr erscheint Buseks Buch Wien – Ein bürgerliches Credo

(1978), in dem er seine Vorstellung der Stadterneuerung formuliert. Wie das Stadtfest zeitlich in Konkurrenz zu den sozialdemokratischen Feiern zum 1. Mai steht, wenden sich auch

Buseks Ideen zur städtischen Gestaltung gegen die von der Wiener Stadtplanung zu der Zeit noch immer vertretenen fordistischen Neubau- und Megastrukturkonzepte und propagieren die Betonung historischer dörflicher Reststrukturen. In diesem Sinne setzt er sich, ganz an der Funktion der historischen Vorstadt als Ort des Popularen orientiert, auch für ein

Rockmusikprogramm im Hernalser Metropol ein. Die Antwort der Stadtregierung wird unter Kulturstadtrat Zilk ausgearbeitet und wird verwirklicht, als er 1984 Bürgermeister wird: Das Donauinselfest, veranstaltet von der Wiener SPÖ, wird im Lauf der Zeit zum weltweit größten Freiluftmusikfestival.

„Statt der kulturellen ‚Supermarkt‘-Politik aus Zilks Anfängen als Kulturpolitiker“ (Mattl,

1998, S. 94), die auf alternative Kulturinitiativen ausgerichtet war, vertritt der Nachfolger von Bürgermeister Gratz jetzt eine Doppelstrategie. Einerseits treibt er die großflächige popkulturelle Festivalisierung der Stadt voran, andererseits arbeitet er, unterstützt von der

Festwochen-Intendantin und späteren Kulturstadträtin Ursula Pasterk, an der

Zurückdrängung von Wien-Klischees zugunsten der Wiener Moderne mit deren Heroen

Freud, Wittgenstein und Schönberg. Die Stadt soll sich als ungebrochenes geistiges Zentrum Mitteleuropas zwischen den politischen Blöcken und zugleich als entstaubte, dynamische

Metropole modernen Typs präsentieren.

Auch nach der politischen Neuordnung Europas und dem Beitritt Österreichs zur EU laufen diese Prozesse weiter. Sie wirken nach innen und außen, wie Kruder und Dorfmeisters

Auftritt auf dem Heldenplatz anlässlich der Feiern zum ersten österreichischen EU-

Ratsvorsitz, und unterstützen die steigende Attraktivität der Stadt als touristische

Destination, wie das Filmfestival auf dem Rathausplatz, das seit 1991 neben

Filmaufzeichnungen von klassischen Konzerten und Opern im Rahmen des Jazz Fests auch

Livekonzerte bietet. Die Techno- und Ravekultur findet ebenso ihren Niederschlag in der

Stadt. Nach dem Vorbild der Berliner Loveparade finden in den 1990ern auf der Wiener

Ringstraße mehrfach die Freeparade und die Free-Republic-Demonstration statt. Hier verschmelzen Party und politische Artikulation, die sich als symbolische Herausforderung des Zentrums entlang des Verlaufs der ehemaligen Stadtmauer formiert und dieses Areal als weltoffenen, kreativen Raum neu definiert.

Der Erfolg dieser verschiedenen Festivalformen führt auch in der Amtszeit von Zilks

Nachfolger Michael Häupl zu weiteren Innovationen. So fügt sich unter Kulturstadtrat

Andreas Mailath-Pokorny ab 2010 unter anderem das Popfest am Karlsplatz in die Reihe regelmäßiger, von der Stadt geförderter Veranstaltungen. Anders als das Donauinselfest ist es ein Festival für alternative und experimentellere Popmusikstile und wird von wechselnden KuratorInnen aus der Musikszene programmiert.

3. Die Musikstadt

Helmut Zilks und Ursula Pasterks kulturpolitische Strategie des Brandings einer modernen

Stadt erscheint aus heutiger Sicht ambivalent. Nach wie vor bewegt sich das Bild, das Wien von sich selbst zeichnet, zwischen den Polen des Innovativen und des Musealen und ist dabei doppelt erfolgreich. Längst hat die Stadt beides zu bieten, touristische

Selbstvermarktung wie ein zeitgemäßes, vielschichtiges musikalisches Angebot. Als die

Wiener elektronische Musikszene in den 1990ern ihre große Blüte erfährt, fördert das Wiener

Kulturresort mit dem Phonotaktik-Festival die Avantgarde, bietet dem Label Cheap Records einen Raum im Museumsquartier und lässt dessen Betreiber Patrick Pulsinger und Erdem

Tunakan für die Volksoper eine Remix-Version von Schwanensee erarbeiten. Auch die

Medien beteiligen sich an diesem Spiel und schrecken nicht davor zurück, für die

Elektronikszene Begriffe wie „Dritte Wiener Schule“ zu kreieren (vgl. Niederwieser, 2012).

Aber auch vonseiten der KünstlerInnen wird die Stadt selbst zum Thema und ihre Musik zum Soundtrack: Wolfgang Ambros besingt den „Zentralfriedhof und alle seine Toten“,

Hansi Lang zieht es in Keine Angst „heimwärts“. Niemand hat so viele Bilder von Wien gezeichnet wie Falco (, Der Kommissar, Auf der Flucht, Calling, Rock me

Amadeus und Wiener Blut, um nur einige zu nennen), und die VertreterInnen der Wiener

Elektronik haben sich geschlossen in ihrer Musik vom musikalischen Erbe der Stadt abgegrenzt, so sehr, dass diese Abgrenzung selbst zu einem Statement geworden ist.

Zugleich haben sie es aber verstanden, die Räume, die ihnen die Stadt angeboten hat, zu nutzen. Theoretisch fassbar sind diese Motive längst nur mehr mit den Begriffen des

Poststrukturalismus, etwa mit dem des Rhizoms von Gilles Deleuze und Félix Guattari.

Denn sie wirken in alle Richtungen, sind verwoben und lösen Zeitachsen auf. 2010 rappen die Ottakringer türkischer Herkunft von Sua Kaan mit Streichersamples im Hintergrund:

„Vier Minuten Vollkontakt, Amadeus über Nacht in der Stadt, Vienna City mach mal Platz.

[…] Was geht ab in diesem Land, macht das Getto keinen hart, ich top alte Klassiker und pump wie Falco seine Parts – Amadeus, Amadeus! […] Keiner von euch Abgefuckten kommt an meinen Style, und die Geigen, die jetzt spielen, machen sogar Mozart geil.“ Falco ist längst Geschichte, ein Klassiker wie Mozart und Amadeus steht für mehr als den

Komponisten und den auf ihn bezogenen Falco-Song, denn im selben Jahr sind Sua Kaan für den Amadeus Austrian Music Award nominiert, den größten österreichischen Musikpreis, der vom Verband der österreichischen Musikwirtschaft vergeben wird.

So wie die Stadt Wien ihre MusikerInnen aktiv in ihre Selbstvermarktung einbezieht – nicht ohne ihnen dabei Möglichkeiten anzubieten – und die Musik den Stadtraum thematisiert, findet auch eine wechselseitige Historisierung statt. Die zentralen Figuren des Austropop,

Georg Danzer, Wolfgang Ambros und , treten zwischen 1997 und 2002 erfolgreich als Austria 3 auf, interpretieren einander und beschwören noch einmal die eigene große musikalische Vergangenheit. 2000 spielen sie ein Großkonzert vor dem Schloss

Schönbrunn, wo 2019 auch ihre Nachfolger, die Band Bilderbuch, zweimal hintereinander für 20.000 ZuseherInnen spielen. Wiener Popmusik hat sich längst nahtlos in das multimediale Branding-Konzept der Marke ‚Musikstadt Wien‘ eingefügt. Und die Stadt selbst stellt damit einmal mehr unter Beweis, wie sehr sie die Neudefinition ihrer historischen Orte ebenso wie ihrer KünstlerInnen perfektioniert hat.

Empfohlene Literatur:

Busek, Erhard: Wien – Ein bürgerliches Credo. Wien, München, Zürich, Innsbruck: Molden,

1978.

Deisl, Heinrich: Im Puls der Nacht. Sub- und Populärkultur in Wien 1955-1976. Wien: Turia+Kant, 2013.

Fichna, Wolfgang: „Stadt-Musik-Szenen-Räume“. In: Rosa Reitsamer, Wolfgang

Fichna: „They say I’m different“ Popularmusik, Szenen und ihre Akteur_innen. Wien:

Löcker, 2011, S. 59-77.

Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München: dtv, 2008.

Gröbchen, Walter (Hg.): Heimspiel. Eine Chronik des Austro-Pop. St. Andrä-Wördern:

Hannibal, 1995.

Gröbchen, Walter (1998): Helden von heute. Als gestern heute war oder: Ein Rückblick auf die Musik und Popkultur der „Idealzone“ Wien. In: Martin Drexler, Markus Eiblmayr, Franziska Maderthaner (Hg.): Idealzone Wien. Die schnellen Jahre (1979-1985). Wien: Falter Verlag, 1998, S. 19-31.

Grossberg, Lawrence: We Gotta Get Out Of This Place: Popular Conservatism and

Postmodern Culture. London, New York: Routledge, 1992.

Hachleitner, Bernhard: “Stadion, Stadthalle und Satisfaction. Streiflichter auf Programmatik

und Praxis zweier Wiener Großveranstaltungsorte“, in: Werner Schwarz, Ingo Zechner

(Hg.): Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift für Siegfried Mattl. Wien:

Turia+Kant, 2014, S. 240-248.

Keller, Fritz: Wien, Mai 68. Eine heiße Viertelstunde. Wien: Mandelbaum Verlag, 2008.

Kis-Horvath, Elisabeth, Carsten Fastner: Musik in Wien. Ein Begleiter durch das Musikgeschehen

der Stadt. Wien: Falter Verlag, 2003.

Kos, Wolfgang: Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945. Wien:

Sonderzahl, 1995. Larkey, Edward: „Austropop: popular music and national identity in Austria“, in: Popular

Music 11/2 (1992), S. 151–185.

Luger, Kurt: Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur 1945–1990. Wien, St.

Johann/Pongau: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag, 1991.

Mattl, Siegfried: „Die lauen Jahre – Wien 1978-1985“, in: Martin W. Drexler, Markus

Eiblmayr, Franziska Maderthaner (Hg.): Idealzone Wien. Die schnellen Jahre (1978-1985).

Wien: Falter Verlag, 1998, S. 85-96.

Maurer, Philipp: Danke, man lebt. Kritische Lieder aus Wien 1968–1983. Wien: Österreichischer

Bundesverlag, 1987.

Niederwieser, Stefan: „Globale Avantgarde“, in: The Gap, 21. Sept. 2012.

N.N.: „Im Rathaus meint man: Statt langer Haare Ärmelschoner“, in: Kronenzeitung, 27. Feb.

1968, S. 5.

Schwendter, Rolf: „Das Jahr 1968. War es eine kulturelle Zäsur?“, in: Reinhard Sieder, Heinz

Steinert/, Emmerich Tálos (Hg.): 1945-1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien: Verlag

für Gesellschaftskritik, 1995.

Wagner, Martin, Ursula Maria Probst, Peter Nachtnebel (Hg.): Fluc – Tanz die Utopie! Urbaner

Aktivismus als gelebtes Experiment in der Wiener Kunst-, Musik- und Clubszene. Wien:

Falter Verlag, 2014.