1. DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE

1.1 Nachkriegsdeutschland

Für die Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Fünfzigerjahre konzentriere ich mich zunächst auf die Produktionen Nachkriegsdeutschlands. Das liegt natürlich daran, dass der Untersuchung, auch wenn die internationale Filmproduktion in den Blick genommen wird, eine deutsche Perspektive zu- grunde liegt, die nicht zu leugnen ist. Ich möchte es aber eigentlich damit be- gründen, dass Erinnerungsfilme hier eine Hochkonjunktur hatten. Das ist nach der allgemeinen Beurteilung der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ in dieser Zeit durchaus überraschend. Neben der Analyse der Filme unter historischen Gesichtspunkten sollen auch die theoretischen Überlegungen fortgesetzt werden. Denn es lässt sich feststellen, dass die Theorien zu Massenkultur und Erinnerung aus den 1920er- und 1930er-Jahren für diese Phase nicht mehr greifen. Trotz der zonalen Spaltung kann der deutsche Nachkriegsfilm bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demo- kratischen Republik, also 1949, als Einheit begriffen werden.1 Aufschlussreich ist der Fall des Regisseurs Wolfgang Staudte, der sich, ganz unideologisch, als „gesamtdeutscher Filmemacher“ sah. Für sein Projekt DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946), den ersten deutschen Nachkriegsspielfilm, bekam er überhaupt nur in der sowjetischen Zone eine Drehgenehmigung; er hatte zu- erst vergeblich die Filmoffiziere der westlichen Alliierten aufgesucht. Bei den Projekten, in denen er sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte – DIE MÖRDER SIND UNTER UNS und ROTATION (1948/49) –, nahmen die sowjetischen Kulturoffiziere allerdings sehr stark Einfluss: Bei dem ersten Film musste er den Schluss ändern, bei ROTATION (1949) wurde er gezwun- gen, Szenen wegzulassen beziehungsweise zu modifizieren, die man als eine Kritik an den Alliierten hätte auffassen können. Das Verbot, die alliierte Militärregierung zu kritisieren, galt allerdings für alle Besatzungszonen. Bei einem einzelnen Filmprojekt, das er im Sommer 1951 in Westdeutsch- land begann (GIFT IM ZOO), fand er sich schnell mit dem Innenministerium konfrontiert, das ihn zwingen wollte, sich öffentlich vom Kommunismus zu distanzieren. Staudte brach daraufhin die Arbeit an dem Projekt ab. In einem Text, den man in seinem Nachlass fand, schrieb er: „‚Es ist eine unleugbare

1 S. Peter Pleyer: Der deutsche Nachkriegsfilm 1946-1948, Münster 1965, S. 158.

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Tatsache, daß der »totalitäre Osten« diese meine Auffassung von der Unteil- barkeit der deutschen Kultur begrüßte, während der ‚freie’ Westen mich sehr bald ins Kreuzfeuer einer scharfen politischen Polemik stellte.’“2 Nach einem missglückten Projekt mit Bertolt Brecht, der Verfilmung der Mutter Courage, kam es allerdings zum Bruch Staudtes mit der DEFA und er wandte sich 1955/56 doch der westdeutschen Filmindustrie zu, deren Schwan- ken zwischen Kunst und Kommerz er jedoch immer kritisierte. Tatsächlich ge- lang es ihm dort nur noch selten, sich künstlerisch zu entfalten. Die Arbeitsbe- dingungen in der Bundesrepublik wurden übrigens auch von Remigranten aus den USA, wie Fritz Lang, beanstandet. Nach dem Ende der Bundesbürg- schaftsaktionen, 1955, hatte sich hier ein kopfloses, rein kommerzielles Film- system etabliert. Die Macht ging an die Verleihe über, ohne deren Garantien, einen Film auch tatsächlich in die Kinos zu bringen, kein Projekt mehr finan- ziert werden konnte. Damit lag die Entscheidungsbefugnis über die Pro- duktion aber an einer Stelle, die ausschließlich nach Publikumszahlen urteilte und für die künstlerische Erwägungen keine Rolle spielten. In der DDR gab es hingen von Anfang an Platz für die Kunstgattung „Film“3, während andererseits – bei allem, was man über die westdeutschen Komödien der 1950er-Jahre denken mag – die dortigen Unterhaltungsfilme besonders hölzern und humorlos ausfielen. Auch die filmischen Vergangenheitskonstruktionen der beiden Länder unterscheiden sich voneinander: Die Erinnerungsfilme sind ein spezifisch westdeutsches Phänomen. Neben Staudtes frühem „gesamtdeutschen“ Film DIE MÖRDER SIND UNTER UNS soll daher nur ein Filmwerk aus der DDR ausführlicher in die Untersuchung dieser Phase einbezogen werden: Kurt Maetzigs VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT (1957) – sowohl als Erinnerungsfilm als auch als Komödie eine Ausnahme in der DDR-Produk- tion; und in dieser Kombination überhaupt etwas Besonderes.

1.1 Vergangenheitsbewältigung

Die Haltung der Bundesdeutschen in den 1950er-Jahren wurde überwiegend mit den Schlagwörtern „Schweigen“, „Verdrängen“ und „unbewältigte Ver- gangenheit“ beschrieben, bis der Philosoph Hermann Lübbe mit seinem viel diskutierten Aufsatz Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegs-

2 Wolfgang Staudte: „Wie ich Rebell wurde“. In: Film und Fernsehen, Heft 9/1986, Berlin (DDR), S. 37. Zitiert nach: Malte Ludin: Wolfgang Staudte, 1996, S. 58. 3 Vgl. Wolfgang Gersch: Film in der DDR. Die verlorene Alternative. In: Geschichte des deutschen Films, hg. v. Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes u. Hans Helmut Prinzler, /Weimar 2004, S. 357-404, S. 357.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 45 bewusstsein4 1983 eine Neubewertung herbeiführte: Er erklärte eine „gewisse Stille“ zu einem „sozialpsychologisch und politisch nötige[m] Medium“5 für den demokratischen Neubeginn. So notwendig die Entnazifizierungsmaß- nahmen der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit für den Neubeginn waren, wurde es in den Fünfzigerjahren nicht nur aus ökonomisch-pragmati- schen Erwägungen heraus notwendig, die ehemaligen Nationalsozialisten wieder zu integrieren. – Dauerhaft entfernt oder verfolgt wurden nur ihre An- führer, einzelne Exzesstäter in SS und und einige Unbelehrbare, die auch unter den neuen Verhältnissen nicht davon absahen, ihre Gesinnung zu artikulieren. Dagegen waren es gerade die hohen Funktionäre, die von der Be- schleunigung beziehungsweise Beendigung der Entnazifizierung seit 1947/48 profitierten. Ihre Verfahren waren langwieriger, weil sie durch umfangreiche Ermittlungen oder Internierung verzögert wurden oder auch weil sich die Be- troffenen schlicht der Verhaftung hatten entziehen können, sodass ihre Fälle nun zu einem günstigen Zeitpunkt verhandelt wurden.6 – Lübbe hat darauf hingewiesen, dass diese „Versöhnung“ mit den ehemaligen Parteigängern je- doch auch ein politisches Gebot war und überhaupt erst den demokratischen Neuanfang ermöglichte. Zur Wirklichkeit des Nationalsozialismus gehörten eben nicht nur die Parteigänger, sondern „die noch größere Mehrheit der mit- laufenden Volksgenossen […] – kurz: die Mehrheit des Volkes. […] Gegen Ideologie und Politik des Nationalsozialismus musste der neue deutsche Staat eingerichtet werden. Gegen die Mehrheit des Volkes konnte er schwerlich ein- gerichtet werden.“7 Dem Schweigen in den Fünfzigerjahren lag demnach nicht der unbewusste Prozess des Verdrängens zugrunde, sondern eine bewusste Strategie der „Diskretion“. 8 Sie war Teil einer „Doppeltstrategie“, die auf der einen Seite in der (Re-)Integration der Täter, Mitläufer und Parteigänger be- stand, auf der anderen in einer offiziellen Politik und Selbstdarstellung der Bundesrepublik, die die Ächtung des Nationalsozialismus zu ihrem konstitu- tiven Element machte. Aus der zeitlichen Distanz von vierzig bis fünfzig Jahren kann Helmut König konstatieren, dass diese Doppelstrategie, bei aller Unwahrscheinlichkeit, erfolgreich war.9 Mit der sogenannten „Verdrängungsthese“ verbinden sich die Namen Theo- dor W. Adorno sowie Alexander und Margarete Mitscherlich. Diese Gesell- schaftskritiker haben ihrerseits in den 1960er-Jahren eine Zäsur im Ver-

4 Hermann Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein. In: Historische Zeitschrift 236, Heft 1 (Februar 1983), S. 579-599. 5 Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, S. 585. 6 S. Detlef Garbe: Äußerliche Abkehr, Erinnerungsverweigerung und „Vergangenheits- bewältigung“: Der Umgang mit dem Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik. In: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er-Jahre, 1998, S. 693-716, S. 697ff. 7 Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, S. 586. 8 Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, S. 587. 9 S. Helmut König: Die Zukunft der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2003, S. 25f.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 46 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT gangenheitsbezug der Bundesbürger herbeigeführt: Adorno mit seinem be- rühmten Rundfunkvortrag von 1959, Was bedeutet: Aufarbeitung der Ver- gangenheit10, das Ehepaar Mitscherlich mit dem Buch Die Unfähigkeit zu trauern11 (1967), in dem es den deutschen Umgang mit der noch jungen Ver- gangenheit psychoanalytisch deutete. Die Begriffe „Schweigen“ und „Ver- drängen“ ähneln der Erinnerungs- und Sprachlosigkeit, die Intellektuelle nach dem Ersten Weltkrieg diagnostizierten, und bezeichnen doch ein völlig anderes Phänomen: Während der psychische Apparat der Soldaten des Ersten Weltkriegs überwältigt war, waren nach 1945 die Erinnerungen an die voran- gegangenen Jahre bei den Tätern und Mitläufern durchaus verfügbar. Lübbe missversteht und trivialisiert diesen Standpunkt 1983, wenn er ihn so auffasst, als ob die Deutschen die Erinnerung an ihre Verbrechen verdrängt hätten. „[D]iese Verdrängungs-These [mutet] dem common sense zu, für mög- lich halten zu sollen, millionenfach aus der Erinnerung zum Verschwinden zu bringen, was doch Millionen mit eigenen Augen gesehen hatten – von den brennenden Synagogen bis zu den KZ-Dokumentarfilm-Vorführungen.“12 Weder Adorno noch die Mitscherlichs zweifelten indessen daran, dass ein aus- reichendes Bewusstsein von den begangenen Verbrechen bestand. Es war auch aus ihrer Sicht nicht möglich, dieses Wissen ins Unbewusste zu ver- drängen, womit es unverfügbar geworden wäre. Für Adorno ist die oberflächliche Erinnerungslosigkeit der Nachkriegszeit Resultat eines nur allzu bewussten Prozesses, einer überaus geschmeidigen Anpassung an die neue Situation.13 Verdrängt wurden hingegen eine eigene Mitschuld sowie die Ursachen der Katastrophe, die aus der Sicht dieser Kritiker in der Nachkriegszeit fortbestanden: Für Adorno sind dies die ge- sellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, die unmündige Subjekte er- zeugen und ihre Autonomie verhindern. Für Alexander und Margarete Mit- scherlich handelt es sich um eine spezifisch deutsche Kollektivdisposition zum Narzissmus, die aus einem „bedrängten Selbstgefühl“ heraus einen charisma- tischen Führer zum Liebesobjekt wählt und ihn an die Stelle des eigenen Ich- Ideals setzt. Was dem Vergessen anheim fällt, ist, nach der Katastrophe, zuerst dieser Führer. Erst in einem zweiten Schritt führt das auch zu einer „Entwirk- lichung“ der begangenen Verbrechen in der kollektiven Vorstellungswelt: „Nach dem Erlöschen dieses symbiotischen Zustandes können sich Millionen aus der Faszination entlassene Subjekte um so weniger erinnern, als sie den Führer eben nicht ihrem Ich assimiliert hatten, wie man sich etwa das Vorbild eines Lehrers einverleibt, sondern ihr Ich zugunsten des Objektes, des Führers aufgegeben hatten. So verschwindet, der narzisstischen Objektbesetzung ent-

10 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: T. W. A.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a. M. 1963, S. 125-146. 11 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens [1967], Zürich 2004. 12 Lübbe: Der Nationalsozialismus im Nachkriegsbewusstsein, S. 588. 13 S. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, S. 125ff.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 47 sprechend, der Führer wie ein ‚Fremdkörper’ aus dem psychischen Haushalt. Es bleibt keine Erinnerung an ihn selbst zurück, und auch die Verbrechen, die in seinem Namen begangen wurden, entwirklichen sich hinter einem Schleier der Verleugnung.“14 Die Psychoanalytiker warnten 1967 davor, dass ohne eine Trauerarbeit, die die Opfer einfühlend anerkennt, die alten Ideale unbewusst weiterleben würden.15 Ob nun verleugnendes Schweigen oder pragmatische „Diskretion“16: Einig ist sich der konservative Lübbe mit der linken Vorgängerkritik in dem Befund, dass ein kritischer Vergangenheitsbezug in der Bundesrepublik bis in die 1960er-Jahre in größerem Maßstab nicht stattgefunden hat.17 Der pauschalen Bilanz vom kollektiven Schweigen und der Erinnerungsverweigerung steht entgegen, dass, im Gegensatz zur Sprach- und Erinnerungslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, in den Filmen, die auf den Zweiten Weltkrieg folgten, das Motiv der Erinnerung jedoch von Anfang an da ist; in den anspruchsvolleren Produktionen ist es sogar dominant. Es handelt sich daher, jedenfalls aus film- historischer Sicht, ebenfalls um ein Pauschalurteil, wenn in neueren Beiträgen zur „Vergangenheitsbewältigung“18, die Phaseneinteilungen versuchen, fest- gestellt wird, dass die eigentliche kulturelle Auseinandersetzung19 mit dem

14 Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 76f. 15 Mitschlerich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 83. 16 Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, S. 587. 17 Ein Unterschied zwischen den unmittelbaren Nachkriegsjahren, in denen die Alliierten bei der juristischen Verfolgung der NS-Verbrechen und den Aufklärungskampagnen Feder führten, und den Fünfzigerjahren, als die Aufarbeitung der Vergangenheit in die deutsche Verantwortung überging, wird hierbei immer in Rechnung gestellt. „Wenn man die ‚50er Jahre’ als begriffliche Kategorie zur Typisierung einer in kultur-, mentalitäts- und teilweise auch in politikgeschichtlicher Hinsicht in besonderer Weise gekennzeichneten und insofern abgrenzbaren Zeitspanne versteht und infolgedessen ihr die westdeutsche Geschichte von 1948 bis zum Beginn der 60er Jahr zurechnet, dann ging dieser Epoche – bezogen auf die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Erblast – ein mit dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches’ beginnender und spätestens 1947/48 endender Zeitabschnitt der öffent- lich artikulierten Abkehr voraus“ (Garbe: Äußerliche Abkehr, Erinnerungsverweigerung und „Vergangenheitsbewältigung“, S. 694). 18 Ich schließe mich Königs Verwendung des alten Begriffs an, obwohl er wegen seiner Nähe zum Begriff der Gewalt kritisiert worden ist (s. Jochen Vogt: „Erinnerung ist unser Aufgabe“. Über Literatur, Moral und Politik 1945-1990, Opladen 1991, S. 41). Die neueren Termini: „Erinnerungskultur“ (Peter Reichel), „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei), „Geschichts- politik“ (Edgar Wolfrum) und auch Adornos älterer Vorschlag der „Aufarbeitung“ sind hin- gegen nicht auf die Gesamtheit der Phänomene gemünzt (s. König: Die Zukunft der Vergan- genheit, S. 8). 19 So etwa bei Levy/Sznaider, bei König und bei Rüsen (Jörn Rüsen: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 289), auch wenn sich die Autoren um Differenzierung bemühen. König weist durchaus darauf hin, dass es eine falsche Vorstellung ist, „daß in den 50er Jahren nirgendwo von Nationalsozialismus und Krieg die Rede gewesen wäre. Eher ist das Gegenteil richtig. Viele Broschüren, Magazine und Zeitschriften druckten regelmäßig Erlebnisberichte von Beteiligten ab“ (König: Die Zukunft der Vergangenheit, S. 26). Aus ähnlichen Gründen bevorzugen es Levy und Szanider, für diese Zeit von einem „selektiven Gedächtnis“ zu sprechen, und heben hervor, dass sich einige intellektuelle Außenseiter durchaus für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein-

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Zweiten Weltkrieg und den begangenen Verbrechen erst in den 1960er-Jahren einsetzt. Es ist sogar geradezu falsch: Was in den Sechzigerjahren einsetzt, ist eher eine Abrechnung mit der Bundesrepublik in ihrer Kontinuität zum Dritten Reich als eine Beschäftigung mit der NS-Herrschaft selbst – Beispiele hierfür sind aus filmhistorischer Sicht WIR KELLERKINDER (1960, Regie: Hans- Joachim Wiedermann) und vor allem Alexander Kluges ABSCHIED VON GESTERN (1966). Filmische Trauerarbeit und Ursachenfoschung, wie sie Adorno und die Mitscherlichs gefordert haben, setzen dagegen erst in den 1970er-Jahren ein; hier sind die Namen Rainer Werner Fassbinder, wiederum Alexander Kluge und Hans-Jürgen Syberberg zu nennen. Die Anerkennung der ermordeten Opfer bleibt, meiner Ansicht nach, im deutschen Film jedoch bis heute weitgehend uneingelöst. Eigentliche Erinnerung speziell an die de- portierten und ermordeten Deutschen, die das Kollektivbewusstsein nachträg- lich noch ausgebürgert hat, findet sich schattenhaft nur in den Filmen der un- mittelbaren Nachkriegszeit und der Fünfzigerjahre.

1.3 Die Filmproduktion der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Fünfzigerjahre

Gleich der erste Spielfilm, der in Deutschland wieder produziert werden durfte, Wolfgang Staudtes DIE MÖRDER SIND UNTER UNS von 1946, ist ein Erinnerungsfilm. Er gilt heute als ambitioniertes, wenn auch noch unbe- holfenes Werk der ersten Stunde. Und auch Helmut Käutners IN JENEN TAGEN (1947), die zweite „Inkunabel des deutschen Trümmerfilms“20, the- matisiert das Dritte Reich in Form von Erinnerungen. Die Rückblende war geradezu das beherrschende Stilmittel der frühen Filme nach 1945.21 Weitere Beispiele sind Harald Brauns ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN (1947), Rudolf Jugerts FILM OHNE TITEL (1947) – obwohl darin das Moment der Erinnerung nicht im Vordergrund steht –, Wolfgang Liebeneiners LIEBE 47 (1949; nach dem 1947 uraufgeführten Hörspiel und Theaterstück von : Draußen vor der Tür) und Peter Lorres DER VER- LORENE (1951). Es lassen sich noch zwei Filme der „späten Fünfzigerjahre“ hinzuzählen, in denen sich Rückblicke auf die Kriegszeit vorfinden, als diese

setzten, aber ungehört blieben (Daniel Levy, Nathan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeit- alter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001, S. 68ff.). 20 Thomas Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme. In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, hg. v. Hilmar Hoffmann u. Walter Schobert, Frankfurt a. M. 1989, S. 33-59, S. 39. 21 Vgl. Wolfgang Becker, Norbert Schöll: In jenen Tagen … Wie der deutsche Nachkriegsfilm die Vergangenheit bewältigte, Opladen 1995, S. 148.

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Form schon nicht mehr zeitbedingt ist: ROSEN FÜR DEN STAATS- ANWALT (1959) und KIRMES (1960), beide wiederum von Staudte. In seinem Fall wurde aus dieser Form des Rückbezugs, der zunächst ein Signum seiner Zeit war, offenbar ein persönliches Ausdrucksmittel, woraus sich wohl schließen lässt, dass seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem eigenen Verhalten unter dem Regime nicht so schnell einen Ab- schluss gefunden hat. Wenn ich von einer „Konjunktur“ der Erinnerungsfilme für die unmittel- bare Nachkriegszeit und die Fünfzigerjahre spreche, muss das im Kontext der damaligen Lage betrachtet werden: Die Produktionsstätten der Filmindustrie wurden nach Kriegsende demontiert und die Alliierten strebten eine Privatisie- rung und Entflechtung der deutschen Filmvermögen an. Es brach die Phase der alliierten Lizenzvergabe an, in der die Besatzer nach und nach Produkti- onslizenzen für deutsche Filmprojekte vergaben, die vorab eingehend geprüft wurden. Im amerikanischen Sektor wurden sogar psychologische Gutachten nicht nur der Beteiligten, sondern auch der vorgelegten Konzepte erstellt.22 In dieser Phase entstanden nur wenige deutsche Filme, aber die meisten davon versuchten sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Massenpu- blikum goutierte diese Produktionen allerdings wenig und zog vor allem die harmlose amerikanische Unterhaltungsware vor, die die US-Besatzung auf den deutschen Markt brachte. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS und IN JENEN TAGEN waren hingegen auch Publikumserfolge. Auch in den 1950er-Jahren wurden, im Vergleich zu kommenden Jahrzehn- ten, immer noch viele Erinnerungsfilme gedreht, aber sie hoben sich nun deut- lich von der Masse der Produktion ab. ROSEN FÜR DEN STAATSAN- WALT und Robert Siodmaks NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM (1957) waren hierbei trotzdem auch noch relativ große Publikumserfolge. Von einem „bilderlosen Vergessen“23 (Kreimeier) kann also nicht die Rede sein; die Art dieser Vergangenheitsbilder ist allerdings diskussionswürdig. Die westdeutsche Filmproduktion der Nachkriegszeit gilt im Ganzen vor allem als geschmacklos. Die Fünfzigerjahre: Das sind Heimat-, Schlager-, Ferien- und Verkleidungsfilme. Das Kino dieser Phase hat aber nicht nur we- gen dieser charakteristischen Gattungen einen schlechten Leumund (die Heimatfilme sind übrigens nicht grundsätzlich so anspruchslos und reaktionär, wie ihnen gemeinhin unterstellt wird), es gab auch eine starke personelle Kontinuität zum Dritten Reich, vor allem gelang die ästhetische Erneuerung nicht in überzeugender Weise. – Und das ausgerechnet in Deutschland, wäh- rend, wie der Filmjournalist Joe Hembus in seiner 1961 erschienenen Streit-

22 S. Bettina Greffrath: Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945-1949, Pfaffenweiler 1995, S. 74. 23 Klaus Kreimeier: Die Ökonomie der Gefühle. Aspekte des westdeutschen Nachkriegfilms, In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, hg. v. Hilmar Hoffmann u. Walter Schobert (Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main), Frankfurt a. M. 1989, S. 11.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 50 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT schrift Der deutsche Film kann gar nicht besser sein24 durch umfangreiche Aufzählungen darlegte, bei den meisten Filmnationen ein Aufbruch in der Filmästhetik stattgefunden hatte. Ende der 1950er-Jahre steckte die bundesdeutsche Branche dann in einer tiefen Krise. Der weitere Einbruch der Besucherzahlen in den Kinos ließ sich nicht nur durch die Konkurrenz des Fernsehens erklären, sondern wurde auch der mangelnden Qualität der produzierten Ware zugeschrieben. Kritiker wie Hembus ärgerten sich darüber, welch klägliche Figur die bundesdeutschen Produktionen auf dem internationalen Markt machten. Die Veröffentlichung seines Pamphlets bildet ein Datum in einer Reihe, in der sich eine starke Front von Kritikern zu formieren und zu artikulieren begann. Seit Januar 1957 er- schien die Zeitschrift Filmkritik, die die „Altbranche“25 unter Beschuss stellte; die Parole „Papas Kino ist tot“ machte die Runde. Ins Visier von Hembus und Filmkritik gerieten gerade die ehemaligen Hoffnungsträger des deutschen Nachkriegsfilms, mit den zwei größten Namen: Staudte und Käutner. Außer- dem schloss sich eine Gruppe von jungen Filmschaffenden zusammen, die bei den VII. Westdeutschen Kurzfilmtagen vom 26.2. bis 3.3.1962 in Oberhausen mit dem „Oberhausener Manifest“ ihren Anspruch vortrug, den deutschen Film zu erneuern, darunter die bekanntesten Namen: Alexander Kluge und Edgar Reitz. Es ist schwer, dieser Kriegsgeneration von Regisseuren Gerechtigkeit wi- derfahren zu lassen, mit der eine kommende Generation aus dem richtigen Wunsch nach Erneuerung so schnell abgerechnet hat. Noch 1992 tut Barbara Bongartz26 die Produktionen dieser Jahre rundweg ab und stellt sich damit in die Tradition einer bis zur Polemik zugespitzten Kritik von Hembus über Pleyer bis Klaus Kreimeier,27 die in den 1960er- und 1970er-Jahren ihre (politische) Berechtigung gehabt haben mag, aber in den Neunzigerjahren un- differenziert erscheint. Seit der Wende gibt es neue Töne in der Filmge- schichtsschreibung, vergleichbar mit der Neubewertung der Vergangenheits- bewältigung dieser Phase, die Lübbe in den frühen 1980er-Jahren eingeläutet hat. Thomas Brandlmeier schreibt: „Die Filme … gelten laut Mehrheitskon- sens der deutschen Filmhistorie als eine Art Missgeburt, sowohl film- wie geistesgeschichtlich. Als Minderheitsmeinung möchte ihr hier betonen, daß man bei genauerer Betrachtung auch Qualitäten und sogar kleine Meister- werke entdecken kann.“28 Wolfgang Jacobsen und Hans Helmut Prinzler

24 Bremen 1961. 25 Fernand Jung: Das Kino der frühen Jahre. Herbert Vesely und die Filmavantgarde der Bundesrepublik. In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946- 1962, hg. v. Hilmar Hoffmann u. Walter Schobert (Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main), Frankfurt a. M. 1989, S. 318-337, S. 322. 26 Barbara Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse. Eine „psychologische“ Geschichte des deutschen Films von 1946 bis 1960, Münster 1992. 27 Klaus Kreimeier: Kino und Filmindustrie in der BRD. Ideologieproduktion und Klassenwirk- lichkeit nach 1945, Regensburg 1973. 28 Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer, S. 34.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 51 schreiben 1992 im Vorwort zu einem Band über Helmut Käutner, dass sich mit der Veränderung Deutschlands auch die Sicht auf ältere deutsche Filme ändere: „Viele Filme von Käutner lohnen ein neues Sehen. Vielleicht gilt das ja auch für andere Regisseure des deutschen Nachkriegsfilms. Zum Beispiel für Rolf Thiele, Rudolf Jugert und Harald Braun aus dem Westen, für Kurt Maetzig, Gerhard Klein und Konrad Wolf aus dem Osten. Neue Bewertungen sind möglich, ohne falschen Respekt, ohne überhebliche Attitüde.“29

1.4 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS

Die Regisseure Staudte und Käutner gelten zwar als die wenigen integren Personen der deutschen Nachkriegsfilmindustrie,30 dennoch hatten auch ihre Karrieren im Dritten Reich begonnen. Beide hatten sich dafür entschieden, unpolitisch zu sein, beide hatten es jedoch nicht immer vermeiden können, an Propaganda-Produktionen beteiligt zu werden. Staudte war beispielsweise Statist in JUD SÜSS gewesen (Regie: Veit Harlan, 1940), und auch aus seinen eigenen ersten Regiearbeiten lässt sich, wie Egon Netenjakob schreibt, kein ästhetischer Widerstand ablesen. Mit AKROBAT SCHÖ-Ö-Ö-N … (1942/ 43), dem ersten langen Spielfilm, den er drehte, verhält es sich möglicher- weise anders.31 Danach führte er unter dem Nationalsozialismus noch bei zwei harmlosen Lustspielen Regie, von dem das eine, DER MANN, DEM MAN DEN NAMEN STAHL (1944), vom Propagandaministerium verboten wurde. Über die Verbotsgründe lässt sich nur spekulieren. Es war eine Satire auf die Bürokratie, aber nach Malte Ludins Einschätzung eher eine Posse denn ein politischer oder provokativer Film, und so scheint er nur der Willkür der Zensoren zum Opfer gefallen zu sein.32 Damit verlor Staudte jedoch auch seine kostbare Befreiung vom Waffendienst: die U. K.-Stellung (das ist die Ab- kürzung für „unabkömmlich“), die auch von idealistischer Bedeutung für ihn war. In Netenjakobs Augen war es vor allem Staudtes pazifistische Über- zeugung, die ihn notwendigerweise in Widerspruch zum Regime stellen musste (er wurde dann übrigens nicht mehr einberufen). Später erklärte er

29 Wolfgang Jacobsen, Hans Helmut Prinzler: Vorwort. In: Käutner, hg. v. W. J. u. H. H. P., Berlin 1992, S. 7. Noch einmal einen Blick auf die Filme zu werfen, empfiehlt auch Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm, S. 167f. 30 Vgl. Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer, S. 36. 31 Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 19ff. 32 S. Ludin: Wolfgang Staudte, S. 26.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 52 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT selbst, er habe etwa die Rolle in JUD SÜSS nur angenommen, um nicht ein- gezogen zu werden.33 Seinen Film DIE MÖRDER SIND UNTER UNS plante er noch vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs als eine ästhetische Abrechnung. Die Idee geht auf ein persönliches Erlebnis einige Monate vor Kriegsende zurück, das er Heinz Kersten, Egon Netenjakob, Eva Orbanz und Katrin Seybold in einem Interview von 1974 so schilderte: „Ein eigenes Erlebnis war, daß ich mal einem SS-Obersturmbannführer, der ziemlich angetrunken war, in die Falle gelaufen bin. Das war im Großen Schauspielhaus. Ein Freund von mir hat da die Kantine kommissarisch bewirtschaftet, und der hatte immer Cognac und Zigaretten und so was. Als ich mich da mal reintraute, waren ein paar ange- trunkene SS-Leute drin. Einer von diesen Ärschen zog seine Wumme raus und hielt die mir vors Gesicht: ‚Du Kommunistensau, jetzt knall ich Dich ab.’ Die anderen haben ihn davon abgehalten, und er wurde auch wieder friedlich und sagte: ‚Wenn der Scheiß vorbei ist, dann kümmere ich mich wieder um meine Apotheke.’ Das war der Apotheker von der Ecke Friedrichstraße/Schumann- straße. Ich hab mich dann verkrümelt und gedacht, was wohl passiert, wenn ich den später mal erwische, denn es war ja klar, daß alles bald zu Ende sein würde. Ich hab ihn später nicht erwischt, denn er war dann tot.“34 Staudte ver- arbeitete das Erlebnis im Konzept für einen Film, der ursprünglich den Titel DER MANN, DEN ICH TÖTEN WERDE tragen sollte. Nach dem Krieg be- kam er, nachdem ihn die Amerikaner, Briten und Franzosen abgewiesen hatten, in der sowjetischen Zone eine Drehgenehmigung dafür. Es handelt sich um die Geschichte des Wehrmachtsunterarztes Hans Mertens (Ernst Wilhelm Borchert), der traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrt. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben. Die Wohnungsnot zwingt ihn, sich – bei allem Zynismus und aller Misanthropie – mit Susanne Wallner (Hildegard Knef), die aus dem KZ heimgekehrt ist, eine Wohnung zu teilen. Er trifft den Urheber seiner quälenden Erinnerungen wieder: Seinen ehemaligen Vorgesetzten, den Haupt- mann Brückner (Arno Paulsen), der als Unternehmer schon wieder ein ganz annehmliches Leben führt: Er stellt aus Stahlhelmen Töpfe her. Brückner hat am Heiligen Abend 1942, irgendwo in Polen, die Erschießung der Bewohner einer Straße angeordnet. Mertens Versuch, ihn von dieser Entscheidung abzu- bringen, scheiterte. Nun ist es wieder Heiliger Abend und Mertens will die Opfer rächen. Nach einer Betriebsweihnachtsfeier will er Brückner er- schießen. Sein Schatten, den er, wie alle, in der scharf ausgeleuchteten Trümmerlandschaft mit sich herumschleppt, ist überdimensional geworden und bedroht den anderen. Susanne Wallner, die mittlerweile seine Geliebte ist,

33 S. Heinz Kersten, Egon Netenjakob, Eva Orbanz u. Katrin Seybold im Interview mit Wolfgang Staudte. In: Egon Netenjakob u. a.: Staudte, hg. v. Eva Orbanz u. Hans Helmut Prinzler, Berlin 1991, S. 131-149, S. 131f. 34 Kersten u. a. im Interview mit Staudte, S. 132.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 53 taucht auf und hindert ihn an der Tat. Er kommt zu sich: In der folgenden Ein- stellung ist wieder er selbst zu sehen. Indem Staudte Mertens durch seinen Schatten in ein bürgerliches und ein mörderisches Rächer-Ich verdoppelt, zitiert er, wie bereits im Titel seines Werks anklingt, einen bestimmten Film der Vorkriegszeit: Fritz Langs M von 1931, der ursprünglich den Titel MÖRDER UNTER UNS tragen sollte. Staudte nimmt hierbei Verkehrungen vor: Der eigentliche Mörder des Films ist natürlich Brückner, der aber von einer Identitätskrise, wie sie die Verdop- pelung Mertens’ durch seinen Schatten anzeigt, frei ist. Staudte ist interes- santerweise auch nicht der Letzte, der sich in der Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Fünfzigerjahre auf M bezieht: Es folgen noch Lorres DER VERLORENE (1951) – Lorre war selbst der Hauptdarsteller in M – und Siodmaks NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM (1957). DIE MÖRDER SIND UNTER UNS wurde von der zeitgenössischen Kritik überwiegend als positives Signal für eine „künstlerische und moralische Er- neuerung“ Deutschlands gewertet. Etwa fünf Millionen Zuschauer sahen ihn bis zum Ende der 1940er-Jahre, und er ist heute einer der berühmtesten deutschen Filme überhaupt.35 Die viel zitierte Kritik, die das Problem des Films im Kern trifft, ist allerdings ebenfalls zeitgenössisch und stammt von dem damals 26-jährigen Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre: „‚Die Mörder sind unter uns? Wir sind die Mörder. Auch Dr. Mertens, der sich im Film zweimal zum Urteilsvollstrecker aufwerfen wollte, ist der Mörder. Denn er ließ das Blutbad am Weihnachtsabend zu. Er schlug resignierend die Hacken zusammen, als er sah, daß sein Einspruch nichts fruchtete. Er tat, was wir alle taten: er kapitulierte vor der Gewalt. Er zuckte die Schultern und ließ schutz- lose Frauen und Kinder hinmorden, ohne auch nur den Versuch einer Rettung unternommen zu haben. Und ausgerechnet diesen schuldig-»unschuldigen« Durchschnittsdeutschen setzte man uns als rehabilitierten Haupthelden vor.’“36 Zu Recht hat man Staudte auch seine unglaubwürdige Figurenzeichnung vorgeworfen – am offensichtlichsten bei der Gestalt der schönen Susanne Wallner, die physisch und psychisch völlig unversehrt aus dem KZ zurück- gekehrt ist.37 Dagegen ist die biedere Jovialität des Unternehmers und Kriegs- verbrechers Brückner, der Figur, um welche es Staudte bei dem Film eigent- lich ging, entlarvend und von hoher Überzeugungskraft. Zu Recht hat man dem Regisseur jedoch auch seinen manierierten, nach innen gewandten Expressionismus vorgeworfen, der später für Adorno und andere zum Kennzeichen einer problematischen Disposition der deutschen Nachkriegsgesellschaft wurde. Obwohl das Werk aus ungenügender Distanz entstanden ist und seinen hohen Stellenwert in der Filmgeschichte sicher eher

35 Ludin: Wolfgang Staudte, S. 39. 36 Deutsche Rundschau, Nr. 8, November 1946. Zitiert nach: Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 27. 37 Vgl. Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 24.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 54 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT aufgrund seiner historischen Bedeutung denn wegen seiner ästhetischen be- haupten kann, wird es damit heute allzu schnell abgefertigt.38 Dass Staudte auf Langs M anspielt, macht seine Aufteilung der Akteure in Schuldige und Un- schuldige weniger eindeutig, als die Kritiker ihm vorgeworfen haben. Anders als bei Lang ist diese Nachkriegsgesellschaft nicht in ihrer gegenwärtigen Existenz verdoppelt – in eine rechtsstaatlich organisierte Gesellschaft und ihr dunkles Spiegelbild in der Verbrecherwelt –, sondern eine vergangene Wirk- lichkeit und die Rollen von gestern lasten auf den Menschen; gerade auf Mertens, der mit seinem Rachewunsch sicher eine Identifikationsfigur Staudtes war. Aus dieser zwiespältigen Perspektive heraus ist es wieder folge- richtig, dass diejenigen, die die Verfolgung des NS-Regimes überlebt haben – Susanne Wallner und der jüdische Brillenmacher Mondschein – (neben dem Täter Brückner) als die einzig ungebrochenen, mit sich identischen Personen erscheinen. Es stimmt, dass die Erschießung der polnischen Geiseln in dem Film nur „schemenhaft und flüchtig“39 erscheint, womit sie einen problematisch irrealen Charakter erhält. Wie Netenjakob schreibt: „Die Verbrechen der Kriegszeit liegen noch wie unter einem Schleier.“40 Andererseits ist es kein filmer- zählerischer Missgriff, wenn eine Rückblende, die eine Erinnerung darstellen soll, diffus und fragmentarisch ist. Die verschwommene Rückblende zeigt vielleicht den Kenntnisstand eines Wolfgang Staudte über die Verbrechen der Wehrmacht im Herbst 1945 an: ein unpräzises, aber dennoch vorhandenes Wissen,41 das übrigens sehr schnell aus der öffentlichen Diskussion verschwin- den sollte.42 Reichel macht Staudte den etwas wunderlichen Vorwurf, dass er nicht zwischen Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen differenziere – eine Unter- scheidung, um die man zeitgleich beim Nürnberger Prozess rang, obwohl dann doch der Begriff „Kriegsverbrechen“ im Zentrum stand.43 Überhaupt bemisst er in seiner Darstellung den Wert der Filme danach, ob sie bereits „Ausch- witz“ thematisieren. Das ist nicht nur aus filmästhetischer Sicht unakzeptabel, sondern auch aus historischer, weil er unsere heutigen Einstellungen auf die

38 Etwa bei Peter Reichel: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München/Wien 2004, S. 171ff. 39 Reichel: Erfundene Erinnerung, S. 171. 40 Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 25. 41 Wie in dem Tagebucheintrag, der im Film zu sehen ist, macht Staudte auch in seinem Film- exposé die ungenaue Ortsangabe: „Es war in Polen …“ (Wolfgang Staudte: Ein Exposé. Arbeitstitel: Die Mörder sind unter uns [1946]. In: Egon Netenjakob u. a.: Staudte, hg. v. Eva Orbanz u. Hans Helmut Prinzler, Berlin 1991, S. 155-157, S. 157). 42 Nach dem Nürnberger Prozess galt die Wehrmacht als rehabilitiert, sodass in der Öffentlich- keit schon bald wieder das Bild vorherrschte, sie hätte einen „normalen Krieg“ geführt (vgl. Edgar Wolfrum: Die beiden Deutschland. In: Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, hg. v. Volkhard Knigge und Norbert Frei, München 2002, S. 133-149, S. 135). 43 Reichel: Erfundene Erinnerung, S. 22.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 55 damaligen überträgt. Die Judenvernichtung spielte nach 1945 im Bild des Na- tionalsozialismus keine besondere Rolle und hat diese zentrale Stellung erst mit dem wachsenden historischen Abstand erhalten.44 Levy und Sznaider stellen in ihrer vergleichenden Darstellung fest, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel und den USA zu dieser Zeit über die jüdischen Opfer geschwiegen wurde. In allen drei Ländern herrschte ein zukunftgerichteter Pragmatismus vor. Sie zitieren darüber hinaus eine von 1997 stammende Stu- die von Peter Lagrou, nach der es in Belgien, Frankreich und den Nieder- landen in der Nachkriegszeit ebenfalls keinerlei Raum für die Erinnerung an die jüdischen Opfer gab. Stattdessen schuf man in diesen Ländern einen Gründungsmythos, der die Mitglieder des Widerstands in den Mittelpunkt stellte.45 Reichel scheint also die heutige Sichtweise maßgeblich zu machen, wenn er Staudte unterstellt, er habe etwas anderes darstellen wollen als er zeigte: nämlich ein Kriegsverbrechen.

1.5 Auslassungsstrategien

Nicht nur die Erinnerungssequenz hat in Staudtes Film diesen unsicheren, etwas surrealen Status, sondern auch die zukünftige Lösung im Fall des ent- larvten Brückner. Staudte wollte ursprünglich zeigen, wie Mertens Brückner tötet, aber der russische Kulturoffizier hatte ihn davon überzeugen können, diesen Schluss zu ändern: „Wenn der Film ein Erfolg ist und die Leute kommen aus dem Kino, dann gibt es Geknalle auf der Straße, und das kommt natürlich nicht infrage. Den Wunsch nach Rache, den können wir verstehen, aber es muß gesagt werden, daß das genau der falsche Weg ist.“46 Der Film schließt also damit, dass Mertens und Susanne Wallner sich von Brückner ab- wenden und davongehen, während sie sagt: „Wir haben nicht das Recht zu richten.“ Und Mertens: „Nein, Susanne. Aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern, im Auftrag von Millionen unschuldig hin- gemordeter Menschen.“ Es folgt wieder eine Einstellung von Brückner, der angesichts von Mertens’ riesigem Schatten in den Hintergrund zurückge- wichen ist, wo er immer noch zwergenhaft verkleinert steht. Er stürzt nach vorn, auf ein Gittertor der Fabrik zu, und klammert sich daran, während die Stangen sich durch Überblendungen in das Gitterfenster einer Gefängnismauer verwandeln. Er schreit immer wieder: „Ich bin doch unschuldig!“ Es folgen weitere Überblendungen von seinen Opfern, darunter auch Soldaten, und dann

44 Vgl. Rüsen: Zerbrechende Zeit, S. 284. 45 S. Levy/Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 90ff. 46 Kersten u. a. im Interview mit Staudte, S. 133.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 56 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT die Einstellungen von einem Massengrab. Der Film schließt mit der Großauf- nahme eines Kreuzes, mit der er auch begonnen hat. Dass Brückner sich, trotz Unschuldsbeteuerung, quasi selbst verhaften muss, zeigt, dass für einen realistischen Schluss kein Akteur zur Verfügung stand. „Ein deutsches politisches Handlungssubjekt gab es 1945 nicht“47, und vermutlich wäre es nicht auf Akzeptanz gestoßen, die Alliierten als die Richter zu zeigen, die sie realiter gerade waren. Wie Bongartz in ihrer Dissertation über den deutschen Film von 1946 bis 1960 feststellt, brachte es die Filmproduktion dieser Phase fertig, die fremden Einflüsse durch die Besatzung nahezu vollständig auszublenden.48 Es handelt sich hierbei zum einen um das Resultat einer Reihe von Gesetzgebungen, die jegliche Kritik an der Militärregierung verboten49 und die andererseits aber auf deutscher Seite einer „vorhandenen Disposition […] die Kränkung der Be- satzungsverhältnisse zu ignorieren“50 entgegenkamen. Die Erinnerungsfilme der unmittelbaren Nachkriegszeit, die den Bezug von Gegenwart und Vergangenheit herstellen, sind durchlöchert von diesen Tabus und Rücksichtnahmen. Sie betreffen nicht nur die alliierte Besatzung, sondern im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit die Opfer wie auch die Täter. Uniformen wie überhaupt alle Hoheitssymbole des Nazi-Staates, vor allem das Hakenkreuz, oder auch der Hitlergruß werden geflissentlich vermieden. Staudtes Film ist hier erstaunlich konkret. Natürlich erscheinen in späteren Militär- und Kriegsfilmen wie Helmut Käutners DES TEUFELS GENERAL (1955) und Frank Wisbars HUNDE WOLLT IHR EWIG LEBEN (1958) auch die Uniformen, aber in den frühen „Zeitfilmen“, wie sie damals genannt wurden, die den vorsichtigen Rückbezug wagten, ist eine merkwürdige Scheu oder Diskretion zu beobachten: In DER VERLORENE ist etwa eine Wehr- machtsuniform nur am Rande zu sehen. Besser als von Tabu spricht man viel- leicht von einem unausgesprochenen „Bilderverbot“: Annette Brauerhochs Untersuchung zu den verpönten Beziehungen von „Fräuleins“ und GIs in der Nachkriegszeit hat ergeben, dass im Wort – in den Printmedien – teilweise offen thematisiert werden konnte, was auf der Leinwand zu zeigen nicht mög- lich war.51 So sollten wohl auch die Zeichen des NS-Regimes auf der Lein- wand nicht fortexistieren, wozu es keines ausgesprochenen Verbots bedurfte. Dass sie gerade in den Zeitfilmen so geflissentlich vermieden wurden, lässt sich damit erklären, dass sie schon gar nicht mit der Nachkriegsgesellschaft in engere Beziehung gestellt werden sollten. Brauerhoch weist auf Projekte hin, die derzeit versuchen, durch das Akten- studium der alliierten Lizenzierungs-, Kontroll- und Zensurverfahren die

47 König: Die Zukunft der Vergangenheit, S. 20. 48 S. Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse, S. 37. 49 S. Pleyer: Der deutsche Nachkriegsfilm 1946-1948, S. 21 50 Annette Brauerhoch: Fräuleins und GIs. Geschichte und Filmgeschichte, Frankfurt a. M./Basel 2006, S. 308. 51 Brauerhoch: Fräulein und GIs, S. 85-112.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 57

Rahmenbedingungen der Nachkriegsspielfilmproduktion zu beleuchten, stellt aber fest, dass dadurch allein die Leerstellen in den Filmen nicht erklärbar werden.52 Für die hier behandelten Beispiele scheinen Einflussnahmen durch die jeweilige Besatzungsmacht nur bei Staudtes Filmen eine direkte Rolle ge- spielt zu haben. Relevanter war wohl eine Mischung aus viel weniger greif- baren, psychologischen Faktoren: den vielleicht oft nur befürchteten Zensur- eingriffen, persönlicher Befangenheit der Filmschaffenden und einer Zuvor- kommenheit gegenüber dem Publikumsgeschmack. Chris Marker gab in einer Ausgabe der Cahiers du Cinema vom Juli/August 1951 in einem Artikel, der mit Siegfried und die Kerkermeister überschrieben war, folgende Ein- schätzung: „‚Das deutsche Kino liegt in Ketten. Diese Verschwörung des Schweigens ist nicht das einzige Übel, an dem es leidet. Es teilt die Mängel des Weltkinos: Zensur, Krise des Sujets (das eine in weitem Ausmaß Konse- quenz des anderen), und zieht sich andere, eher persönliche zu: die Konfusion der Werte, das Erbe des Expressionismus, die Unkultur des Publikums, das Nahezu völlige Fehlen einer aufmerksamen und unabhängigen Filmkritik, den Schuldkomplex, die Fehleinschätzung hinsichtlich der Kompetenzen (einen eigenen Artikel brauchte es, um die Herrschaft der Professoren im deutschen Dokumentarfilm anzuprangern). Unter den Kerkermeistern, die es an der Kette halten, spielen die Okkupationsmächte ihre Rolle, weniger durch direkte Intervention als durch die Konsequenzen der Situation, die sie schaffen.’“53 Karsten Witte führt ein Zitat Käutners an, der zum Erscheinen des Films IN JENEN TAGEN, den Witte als behutsames und versöhnendes Werk be- zeichnet, in Film-Echo, einer Zeitschrift für die Filmwirtschaft, schrieb: „‚Die meisten deutschen Filmschaffenden sind sich darüber klar, daß es nicht mög- lich oder gar erstrebenswert ist, an den geschehenen Dingen und ihren Folgen vorbeizulügen. Sie sind der Meinung, daß man die Traumfabriken endgültig demontieren muß. … Es sind verschiedentlich Versuche dieser Art gemacht worden. Das deutsche Publikum hat bisher nicht darauf reagiert. Es wendet sich ostentativ von jeder Zeitbezüglichkeit ab, die es auf Grund einer schlech- ten Angewohnheit für Tendenz oder Propaganda hält. Es will Entspannung, Konflikte statt Probleme, äußere Handlung statt Erleben.’“54 Auch in den Re- zensionen dieser Zeit wird ständig erörtert, was dem Publikum zugemutet werden könne. Die frühen deutschen Spielfilme, die die „Zeitbezüglichkeit“ versuchten, stellten Alternativen zu den dokumentarischen Aufklärungskam- pagnen der Alliierten mit ihren schockierenden Bildern dar, auf die das Publi- kum betroffen, aber mit Schuldabwehr reagierte. Angesichts der Maßlosigkeit der gezeigten Gräuel ist es eine nachvollziehbare Reaktion, dass das Publikum jede Verantwortung für das Gezeigte von sich wies.55 Die deutschen Produkti-

52 S. Brauerhoch: Fräuleins und GIs, S. 308. 53 Zitiert nach Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm, S. 171 54 Helmut Käutner in Film-Echo, Nr. 5, Juni 1947. Zitiert nach: Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 89. 55 S. Reichel: Erfundene Erinnerung, S. 162ff.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 58 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT onen waren aber auch eine Alternative zu den harmlosen US-Spielfilmen, die die Besatzungsmacht für den deutschen Markt als richtig erachtete und die ei- nen regen Zulauf fanden – Kreimeier spricht von einem „amerikanischen Film-Kolonialismus“56. Die Zeitfilme waren allerdings recht unbeliebt: Der heute besser bekannte Ausdruck „Trümmerfilm“, der allerdings nicht deckungsgleich mit dem anderen ist57, war eigentlich ein Schimpfwort. Lorres DER VERLORENE (1951) ist der letzte dieser Gattung und scheiterte völlig an den Kinokassen, weil der aus dem Exil zurückgekehrte Regisseur die optimistische Stimmung nach der Währungsreform verfehlte. Walter Bittermann schrieb im Rheini- schen Merkur über den Film: „Selbst der magische Realismus der äußerst scharf zupackenden Kamera kann uns nicht in eine Untergangsstimmung hineinbetrügen, die auf falschen Verknüpfungen fußt.’“ 58 Ähnliches hat man auch über Wolfgang Liebeneiners Film LIEBE 47 festgestellt, der zwei Jahre zuvor in die Kinos kam und der aber, wie ich im Weiteren noch erläutern werde, in vieler Hinsicht ein problematisches Werk ist. Die „relative Autonomie“59, die Jochen Vogt der Literatur zusprechen kann, besitzt das Industrieprodukt Film nicht: Seine Entstehung kann an vielen Stellen scheitern, und auch noch die ersten Aufführungen in den Kinosälen können seine Wirkungsgeschichte frühzeitig beenden. Andererseits ist er damit aussagekräftiger für gesellschaftlich weitverbreitete Vorstellungen. Die Aus- lassungsstrategien, derer sich Käutner in dem Film IN JENEN TAGEN, Braun in ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN (beide 1947) und Liebeneiner in LIEBE 47 (1949) mit großer Virtuosität bedienen, lassen sich als sympto- matisch für die psychische Verfassung der Nachkriegsgesellschaft betrachten.

IN JENEN TAGEN

Die Analyse von IN JENEN TAGEN soll einen doppelten Nutzen erfüllen: Der Film lässt sich nicht nur als symptomatisch für die filmischen Vergangen-

56 Kreimeier: Die Ökonomie der Gefühle, S. 12. Bettina Greffrath zählt auf, unter welchen Kriterien die Filme ausgesucht wurden. Sie sollten folgende vorbildlichen Verhaltensweisen vermitteln: „[E]ine starke und selbstbewusste Individualität, eine kämpferische Orientierung am Gemeinwohl, ohne Rücksicht auch auf eigene Vorurteile und führende gesellschaftliche Machtinteressen, Kritik- und Konfliktfähigkeit (allerdings nicht ohne eine grundlegende Parteilichkeit für die Demokratie), Zivilcourage, ein vom typisch deutschen – militaristischen – unterschiedenes Heldentum, das sich dem Kampf für Menschenrechte und gegen Ignoranz und Reaktion verschreiben habe, Anstand und – hier wurde sicherlich besonders der britische Einfluß auf die Richtlinien wirksam – die Fähigkeit zu Selbstdistanzierung und Humor“ (Greffrath: Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit, S. 69). 57 Der Begriff „Zeitfilm“ wurde schon in der Weimarer Republik geprägt. 58 Walter Bittermann: Der Verlorene. In: Rheinischer Merkur, 29.9.1951. In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, hg. v. Hilmar Hoffmann u. Walter Schobert (Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main), Frankfurt a. M. 1989, S. 359. 59 Vogt: Erinnerung ist unsere Aufgabe, S. 14.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 59 heitsdarstellungen dieser Jahre betrachten; es können daran auch die theoretischen Überlegungen für diese Arbeit fortgeführt werden. Es handelt sich um einen Episodenfilm, der Menschen in Entscheidungs- situationen zeigt, in denen sie sich immer wieder für die Mitmenschlichkeit entscheiden. Die Rahmenhandlung besteht darin, dass zwei Männer (Erich Schellow und Gert Schaefer) auf einem Schrottplatz ein Auto auseinander- nehmen und dabei über die Gegenwart philosophieren. Als einer von ihnen be- hauptet: „Es gibt keine Menschen mehr“, schaltet sich, nur für den Zuschauer hörbar, das Auto in das Gespräch ein und beginnt in Rückblenden seine Geschichte und die Geschichten seiner Besitzer zu erzählen. Das Auto, ein Opel Kadett, verlässt genau am Tag der „Machtergreifung“ der Nazis das Werk. Die erste Episode, von der es berichtet, ist eine Dreiecksgeschichte. Eine Frau (Winnie Markus) steht zwischen zwei Männern (Werner Hinz und Karl John), und erst als sie hört, dass der, den sie liebt, von dem neuen Regime verfolgt wird, entschließt sie sich, mit ihm ins Ausland zu gehen. Auch die zweite Episode ist in gewisser Weise eine Dreiecksgeschichte (vielleicht die Entscheidungssituation schlechthin). Ein Komponist (Hans Nielsen) ist mit einer Familie befreundet. Die Tochter (Gisela Tantau), die noch ein Teenager ist, ist in ihn verliebt; mit der Frau (Alice Treff) hat er ein Verhältnis. Als die Tochter hinter das Verhältnis kommt, will sie die beiden verraten, aber an dem Tag berichtet der Komponist auch davon, dass seine Musik nicht mehr aufgeführt werden darf, weil sie als „entartet“ gilt, und das Mädchen behält sein Wissen für sich. Die dritte Episode handelt von einem kleinbürgerlichen Ehepaar (Willy Maertens und Ida Ehre), dessen Zusammenleben längst im Stumpfsinn erstarrt zu sein scheint. Um ihrem Mann Schikanen zu ersparen, will die jüdische Frau sich von ihm trennen. Da wird ihnen beiden klar, wie viel sie einander noch bedeuten. Beim Pogrom der „Reichskristallnacht“ suchen sie gemeinsam den Freitod. Die vierte Episode ist erneut eine Dreiecksgeschichte: Ein Mann ist ver- schwunden. Seine Frau (Erica Balqué) erfährt, dass er zusammen mit ihrer Schwester (Evi Gotthardt) im Widerstand gearbeitet hat und dass daraus ein Verhältnis entstanden ist. Kurz darauf erfährt sie auch, dass er von der Ge- stapo abgeholt und ermordet wurde. Sie überredet daraufhin ihre Schwester zur Flucht, ohne sie über den Tod ihres Geliebten in Kenntnis zu setzen. Obwohl die Ehefrau weiß, dass die Gestapo sie selbst und nicht ihre Schwester für die Verbündete ihres Mannes hält, verzichtet sie darauf, sich in Sicherheit zu bringen, und wird am Ende ebenfalls von der Gestapo verhaftet. Die fünfte Episode spielt in Russland: Ein junger Leutnant (Fritz Wagner) wird von einem alten Soldaten (Hermann Speelmanns) in dem Opel durch Partisanengebiet an die Front gefahren. Der Alte versucht dem Jungen klar- zumachen, wie feindlich die einsame Schneelandschaft ist, die später im hellen Vollmondlicht friedlich dazuliegen scheint. Sie geraten unter Beschuss und der Alte sackt am Steuer zusammen. Der Junge versucht, den Wagen

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 60 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT weiter zu steuern, dessen Scheinwerfer nicht richtig eingestellt sind. Verzwei- felt versucht er, von dem Toten die Richtung zu erfahren. In der sechsten Episode hilft ein Dienstmädchen (Isa Vermehren) seiner al- ten Dienstherrin (Margarete Haagen) bei der Flucht, deren Sohn am Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 beteiligt war. Ein Wachtmeister kontrolliert die beiden routinemäßig und entdeckt, dass nach der Baronin gefahndet wird. Das Dienstmädchen versucht ihn heimlich zu überreden, die alte Frau doch laufen zu lassen, und gibt sich so als Mitwisserin zu erkennen. Sie werden daraufhin beide verhaftet. In der siebten Episode, schließlich, gelingt die Rettung. Wie in der Weih- nachtsgeschichte heißen die Protagonisten Maria und Josef. Josef, ein Soldat (Carl Raddatz), lernt Maria (Bettina Moissi) kennen, die nach dem Tod ihres Mannes zusammen mit ihrer kleinen Tochter versucht, zu Verwandten zu kommen. Obwohl er sich in Gefahr begibt, als Deserteur verhaftet zu werden, geht Josef mit dem Auto von seiner vorgesehenen Route ab, um die beiden ein Stück mitzunehmen. Er und Maria verlieben sich ineinander. Als er wieder allein ist, gerät er doch in Schwierigkeiten und soll als Deserteur erschossen werden, aber ein Kamerad lässt ihn laufen.

Es ist nicht zu bezweifeln, dass Käutners Film beschönigend ist: In einer Zeit, die so radikal gezeigt hat, wozu Menschen fähig sind, erzählt er nur von Menschlichkeit und das in Form einer Art Heilsgeschichte, die aber von Dis- kontinuität und Scheitern gekennzeichnet ist und an deren Ende ein un- heroisches Entkommen steht. Bongartz, die bei ihrer Untersuchung der Filme von 1946 bis 1960 die deterministischen massenpsychologischen Thesen von Kracauers Von Caligari zu Hitler und Alexander und Margarete Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern zugrunde gelegt hat, macht eine ihrer wichtigsten Thesen vor allem an diesem Film fest: Dass er größtenteils aus Groß- und Nahaufnahmen besteht, zeige die „Konzentration des Individuums auf sich selbst“60, wie sie im Ganzen auch zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Filme dieser Phase zur Innerlichkeit tendieren und auf eine Analyse der Reali- tät verzichten. Es handelt sich hierbei aber, anders als Bongartz suggeriert, nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen. Der italienische Neorealismus, der immer wieder zum Vergleich mit den deutschen Filmen dieser Phase herangezogen wird, weil er sich zeitgleich mit der sozialen Wirklichkeit aus- einandersetzte, stellte die Ausnahme unter den verschiedenen Länderproduk- tionen dar, nicht die Regel. Es stimmt, dass die historischen Ereignisse in dem Film IN JENEN TAGEN nur den Hintergrund bilden: Massenaufläufe und Ausschreitungen sind immer nur an den Bildrändern zu erahnen, während die Kamera die Menschen im Auto fokussiert. Andererseits ist Käutner darauf bedacht, die Handlung an die Chronologie historischer Daten zu binden, wie die „Macht-

60 Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse?, S. 33.

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61 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 63. 62 Zitiert nach Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 64. 63 Hembus: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein, S. 51.

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DDR.64 Dabei hat Käutner die primitiven Arbeitsbedingungen der unmittel- baren Nachkriegszeit später als „stilbildende Kraft“ bezeichnet. Die Zeit zwischen Kriegsende und Währungsreform betrachtete er rückblickend als die glücklichste seines Lebens, vor allem weil er voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft war: „weil ich damals glaubte, daß morgen alles besser wird, ganz be- stimmt besser als es gestern war, aber auch besser als heute.“65 Was er mit IN JENEN TAGEN dokumentiert, ist jedoch weniger eine neu gewonnene Frei- heit als eine anhaltende Unfreiheit.66 Statt als Innerlichkeit lässt sich die Fokussierung auf das Wageninnere besser als ein klaustrophobischer Effekt beschreiben – Witte spricht bei Käutners Filmen von „Fluchtphantasien, die sich in enge Räume pressen“67. Er bezeichnet den Regisseur als einen „Zeit- abtrünnigen“: „Im Krieg wandte … sich [sein Werk] dem Vorkrieg zu, im Nachkrieg widmete es sich den Kriegszeiten und als endlich Frieden schien, bedachte es den unerklärten Bürgerkrieg der Bundesrepublik.“ 68 Filme können grundsätzlich nicht das Abstrakte, Absolute einer reinen Ver- gangenheit darstellen. Jede Vergangenheitsdarstellung im Film ist durchsetzt von ihrer Gegenwart – darin besteht eine strukturelle Ähnlichkeit zur Er- innerung und zur Historie. Während Käutner 1942/43 in ROMANZE IN MOLL Marianne Hoppe als Madeleine gefangen in den Interieurs des 19. Jahrhunderts zeigt, fahren in dem Film von 1947 die Insassen des Opel para- noid durch einsame Landschaften und nahezu leere Straßen. An keiner Stelle wirken die Repräsentanten des Staates, so sie denn auftauchen, bedrohlich; die Ursache für die Isolation und Bedrohung der Protagonisten bleibt weitgehend unsichtbar. Angeblich bestand Käutners Problem bei dem Film darin, die NS- Zeit ohne Aufmärsche und Massenszenen darzustellen (womit er die Lügen der Propaganda wiederholt hätte), aber zu einem Reporter, der fragte, ob man unter solchen Bedingungen überhaupt drehen könne, sagte er: „Wir können es alle. Wir wollen die Wirklichkeit einfangen. Hier ist sie!“69 Dass es sich bei IN JENEN TAGEN nicht zuletzt um eine Gegenwartsdarstellung handelt, legt auch der Schluss des Films nahe: Die Rettung in der letzten Episode wird im selben Zug negiert: Maria und Josef liegen im Stroh. Sie glauben ein Lied von der Weihnachtsgeschichte zu kennen, aber es ist die Melodie von Hänsel und Gretel, die ihnen einfällt: keine religiöse Heilsgeschichte, sondern nur ein Märchen.

64 S. Hembus: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein, S. 59. 65 Helmut Käutner zitiert nach Willibald Eser: Helmut Käutner. „Abblenden“. Sein Leben, seine Filme, München 1981, S. 81. 66 Kreimeier führt noch eine andere Selbstaussage Käutners an, der bekundet habe, „nach dem Krieg aus dem Regen in die Traufe, nämlich aus einem System des politischen Drucks in eines der ökonomischen Zwänge geraten zu sein“ (Klaus Kreimeier: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, Frankfurt a. M. 2002, S. 449). 67 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 65. 68 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 63. 69 Eser: Helmut Käutner, S. 69.

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In Käutners Film wird die „Subjektlosigkeit“ in den Vergangenheitsdar- stellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – die Scheu, Handelnde zu zeigen – mit der Idee, ein Requisit die Hauptrolle spielen zu lassen,70 auf die Spitze getrieben. Aus einer Verlegenheit erwächst ein „ästhetisches Programm“, das, wie Witte schreibt, „am Materialismus der Dinge ausgerichtet“ ist.71 Käutner, der dem Auto seine Stimme leiht, sagt zu Beginn der Erzählungen, er wolle „sachlich, vorurteilsfrei und herzlos“ verfahren. Mit der Transportbewegung des Autos stellt er, anstatt der Personen, das „Medium der Zeit“ selbst in den Mittelpunkt des Films – seine immer gerade Fahrtrichtung steht für die „chro- nologische Linie historischer Zeit“.72 Wittes Beschreibung nach muss man Käutner für einen Bergsonianer halten. Käutners zeitliche Form der Geschlechtertrennung lässt sich mit Bergsons Unterscheidung „Mensch der Tat“ und „Träumer“ vergleichen.73 Die Fähigkeit des Menschen der Tat zu handeln steht andererseits seinem Ver- mögen im Weg, durch kontemplative Schau zu erkennen. Die oft sozial er- zeugte Immobilität von Käutners Heldinnen befähigt sie hingegen, anstatt sich aktiv des Raums zu bemächtigen, passiv der Zeit gewahr zu werden. Witte schreibt: „Käutners praktizierte, nicht erklärte Theorie zur geschlechter- spezifischen Wahrnehmung hieße hier: der Mann macht sich den Raum unter- tan, fixiert das bewegte Bild, das sich vor ihm auftut; die Frau, dagegen, liquidiert den Raum, um ihn in sich zu eröffnen. Im Genre des Melodrams übt Käutner das Spiel, in dem sich der fremderfahrene und der selbsterzeugte Blick als unversöhnlich gegenüberstehen. Im Zweifelsfall entschied sich Käutner für den selbsterzeugten Blick, das Artefakt, das sichtbar Hergestell- te.“74 An diese Beobachtung können einige theoretische Überlegungen geknüpft werden.

Fiktion und Wirklichkeit

In der vierten Episode von IN JENEN TAGEN, in der der Ehemann von Dorothea Wieland (Erica Balqué) verschwindet, wird sie als Hauptperson sehr indirekt eingeführt: Sie ist zuerst auf einem Foto zu sehen, das auf dem Armaturenbrett des Opel angebracht ist. Die Kamera schwenkt hoch und zeigt sie im Rückspiegel. Während das Auto fährt, stellt die Kamera in einer oszillierenden Bewegung mal ihr Spiegelbild, mal die äußere Umgebung scharf. Erst als der Wagen hält und sie aussteigt, kommt sie zum ersten Mal unmittelbar ins Bild, und das alles in einer einzigen Einstellung. Sie führt

70 S. Eser: Helmut Käutner, S. 62. 71 S. Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 88. 72 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 88f. 73 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 148ff. 74 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 74.

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Dorotheas Person aus einer Perspektive ein, die der ihren, auch der ihrem Selbstbild entsprechenden, in größtmöglicher Weise angenähert ist. Für diese Episode lässt sich Bongartz’ globale Analyse bestätigen, dass es sich bei der Fokalisierung auf das Wageninnere um eine innerliche Perspekti- ve handelt. Physisch ist die Kamera in dieser ersten Einstellung dicht neben der Frau positioniert, zudem ist das Schwanken zwischen Innen und Außen, dem Spiegelbild im Wageninneren und der Straße, charakteristisch für die Struktur von Subjektivität.75 Mit dem Foto und dem Spiegelbild sind zwei Bil- der von ihr präsent: eines aus der Vergangenheit und ein augenblickliches. Bergson bezeichnet Erinnerungsbilder auch als „geistige Fotografien“76. Das Foto auf dem Armaturenbrett ist, wie seine Erinnerungsbilder, genau datiert77: Dorotheas Schwester Ruth findet später auf der Rückseite eine Widmung, unter der September 1938 steht. Die Widmung bekundet Dorotheas Über- zeugung, die einzige Frau im Leben ihres Mannes zu sein. Als sie von seinem Verhältnis mit ihrer Schwester erfährt, erlebt sie, was Witte einen „Bilder- sturz“ nennt; er ist den Frauen in Käutners Melodramen vorbehalten.78 Wäh- rend sie mit dem Auto weiterrast, wird sie von Erinnerungen überflutet. Das Gewesene wird aber nur auf der Tonspur aktualisiert – durch die Stimme ihres Mannes, der die Widmung auf dem Foto liest. Wie die Fotografie selbst lässt sich sein Sprechen damit genau in der Vergangenheit verorten. Auf der Bild- ebene werden dagegen chaotische Eindrücke von der Fahrbahn und den vorbeihuschenden Häuserzeilen mit ihrem Gesicht überblendet. Das einzige Bild aus der Vergangenheit bleibt ihre Fotografie. Es repräsentiert noch immer ihr Selbstverständnis, das aber nicht mehr mit dem zur Deckung zu bringen ist, was sie an jenem Tag über sich und ihre Existenz erfährt: die Veränderun- gen in ihrer Ehe, die ihr entgangen sind. Nach Bergson ist die Vergangenheit im Geist des Individuums koexistent zur Gegenwart, sie ist aber unbewusst und damit machtlos. Wäre sie es nicht – würde das Bewusstsein nicht die vergangenen Bilder ausschalten, die sich nicht in die gegenwärtige Wahrnehmung einordnen lassen –, drohte sie „den

75 S. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003 (ital. 1998), S. 105, 112 u. 132ff. 76 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 77. 77 S. Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 72. 78 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 77. Eine Ausnahme bildet der Seemann Hannes Kröger in GROSSE FREIHEIT NR. 7 (1944). Er ist auf der Hamburger Reeperbahn geradezu „auf Grund gelaufen“ und kommt nicht mehr weg. In einem Traum erscheint er sich eines Nachts selbst als so immobil wie sein eigenes Abbild, die ziehharmonikaspielende Puppe, die vor dem Tanzlokal Große Freiheit steht, in dem er allabendlich auftritt. In diesem Traum über- wogen ihn Bilder, wie es sonst Käutners Frauenfiguren vorbehalten ist. An dieser Stelle ist bemerkenswerterweise auch zum ersten und einzigen Mal zu sehen, dass Hannes eine nackte Frau auf der Brust tätowiert hat. Eine unglückliche Liebe befreit ihn schließlich schmerzhaft aus seiner Festgefahrenheit und eröffnet ihm wieder den männlichen Handlungsspielraum. Die Frauenfigur (Ilse Werner) besitzt in dem Film hingegen ein Zuviel an äußerer Freiheit – sie ist bindungs- und schutzlos –, was sie dagegen einem inneren Wiederholungszwang er- liegen lässt, den sie nicht erkennen kann.

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praktischen Charakter des Lebens [zu] verderben.“79 Dorothea kommt durch die Erinnerungsbilder von den praktischen Erwägungen des Lebens ab: Nach- dem sie auch noch vom Tod ihres Mannes erfährt, reicht ihre Selbstdisziplin nur noch dazu aus, ihre Schwester am Telefon zur Flucht zu überreden, wäh- rend sie für sich selbst keinen Grund mehr sieht, sich zu retten. Wie Dorothea erleidet auch Madeleine in ROMANZE IN MOLL einen solchen Bildersturz, eine Überwältigung durch die Vergangenheit, und sucht danach den Freitod. Für Witte ist dieser Film, der mit Madeleines Tod beginnt und sie dann in ihrem früheren Leben wieder erstehen lässt, nicht nur „melo- dramatisch und todessüchtig, [er] betont auch das Artefakt, den erzeugenden Akt durch die Kinomaschine. Der Apparat erzählt, und das Publikum leiht seine Sinne der Vergangenheit, lässt sich auf die Form ein, die Wirklichkeit als flüchtige Erinnerung beschwört.“ Mit den rasanten Rückblenden, die in den Köpfen der Frauen ablaufen, bezeichnet der Regisseur in seinen Augen „[d]ie weibliche Imagination [als den] Ort, dem die Bildermaschine zuge- schrieben wird.“80 Witte betont damit das Artifizielle und Fiktive der Erinnerung, das sie auch für Bergson und, in seinem Gefolge, für Deleuze besitzt. Für Bergson sind die

79 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 74. 80 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 76f.

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„reinen Erinnerungen“ geistig. Sie sind a priori vorhanden, das heißt, sie haben ihren Ursprung nicht in Erfahrung, sondern allein in der Vorstellungs- kraft. Er vergleicht sie deshalb mit einem Gemälde.81 Für Deleuze ist die Ver- gangenheit der reinen Erinnerung, „wie sie nie erlebt wurde“, nie gegenwärtig war, deshalb „wahrer“ als das in der Gegenwart Existierende: Es handelt sich um das Ansich der Dinge, unverfälscht von Erfahrung.82 Er vertritt damit eine profane Variante des religiösen Gedächtnis-Konzeptes des Augustinus, wo- nach die göttlichen Wahrheiten sich im Gedächtnis befinden und dort inwen- dig schaubar sind. Sie finden ihren Eingang darin nicht über die Sinne, son- dern sind von jeher dort vorhanden; äußere Einflüsse dienen nur dazu, sie dort hervorzurufen.83 Ricœur bemüht sich demgegenüber um eine historische Lesart von Berg- sons ahistorischer Theorie.84 Ob man eine philosophisch-enthistorisierende oder eine historische Gedächtnistheorie bevorzugt, ist nach Auschwitz keine rein theoretische Entscheidung mehr, sondern eine ethische: Ricœurs Ansatz und auch dem George Didi-Hubermans ist deshalb der Vorzug zu geben. Ricœur betont die Geschichtlichkeit des Moments, in dem sich etwas in den Geist eines Individuums einschreibt, die zeitliche Markierung des Vorher. Für ihn ist die reine Erinnerung gleichzusetzen mit dem ursprünglichen Eindruck, der so aber nie wieder zurückkehren kann und immer virtuell bleibt. Damit ist die reine Erinnerung nichts Absolutes oder Geistiges, sondern vielmehr das Korrelat der reinen Erfahrung, unverfälscht von Vernunft und Abstraktion. Ihre Existenz, oder vielmehr: ihre Persistenz ist vergleichbar mit der Unbe- wusstheit, die wir „äußeren Dingen zuschreiben, solange wir sie nicht wahr- nehmen.“85 Aus seiner geschichtstheoretischen Lesart folgt, dass er den Bezug der Erinnerung86 zu einem vorgängigen Realen verteidigen muss. Gleichwohl plädiert auch er für die Fiktionen, allerdings weniger für die filmischen als für die literarischen, und hebt, wie Deleuze, besonders ein Werk hervor: Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Die „Literatur der Melancholie, der Nostalgie, des spleen“ kommt für Ricœur der „Hingabe an einen Traum- zustand“87 nahe, der die ursprünglichen Eindrücke wieder ans Licht führen kann.88 Nun besitzt aber gerade die Filmmontage grundsätzlich eine Traum-

81 Vgl. Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 242. 82 S. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1997 (frz. 1968), S. 117f. 83 S. Augustinus: Bekenntnisse, X, 10 u. 15, S. 513 u. 523. 84 Vgl. Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 609 u. Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2001 (frz. 1966), S. 27. 85 Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 658. 86 Hier ist nicht mehr die reine Erinnerung gemeint, sondern die Erinnerung im üblichen Sinne: die gegenwärtig ist und also mit der aktuellen Wahrnehmung eine Verbindung eingegangen ist. 87 Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 670. 88 Bergson schreibt: „Tritt aber ein Umstand ein, der das vom Gehirn aufrecht erhaltene Gleich- gewicht zwischen der äußeren Reizung und der motorischen Reaktion stört, lässt für einen Moment die Spannung der Fäden nach, die von der Peripherie über das Zentrum der Peri-

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 68 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT struktur: Die Bilder können beispielsweise rein assoziativ aneinandergereiht werden, und es sind in Spielfilmen eher die aus der Literatur importierten Erzählkonventionen, die die traumhaften Übergänge innerhalb der Montage unmerklich machen. Von den Erinnerungsfilmen, die hier untersucht werden, lassen sich viele als Werke der Melancholie und des spleen bezeichnen – auf IN JENEN TAGEN trifft die Bezeichnung zweifellos zu. Ricœur ist dem Bild gegenüber allerdings skeptisch. Für ihn ist es gerade die Komponente „Bild“ im Erinnerungsbild, die an die halluzinatorische Funktion der Imagination grenzt und die für das Gedächtnis „Schwäche, Misskredit, Glaubwürdigkeits- verlust“89 bedeutet. Didi-Huberman hat das Bild in seiner Streitschrift Bilder trotz allem (Images malgré tout, 2003) eben gegen diesen Vorwurf verteidigt: Er stellt fest, dass unser Geist prinzipiell von Vorstellungen bewohnt ist, und er ver- weist auf Aristoteles, demzufolge jede geistige Anstrengung von einem Bild begleitet werden muss.90 Sein wichtigstes Argument in diesem Zusammenhang ist, dass ein Wissen um die Erfahrung eines anderen nur über Imagination ge- wonnen werden kann.91 Im Hinblick auf Auschwitz muss jedes Bild unver- hältnismäßig zur Proportionalität des Ereignisses bleiben, und trotz allem dürfen die Bemühungen nicht abreißen zu verstehen, was auch bedeutet: sich ein Bild zu machen.92 Er wendet sich damit gegen ein grundsätzliches Bilder- verbot von Auschwitz, wie es in Frankreich von Claude Lanzmann und ihm nahestehenden Intellektuellen vertreten wird. Dabei leugnet Didi-Huberman nicht, dass die Bilder der Konzentrationslager einen problematischen Charak- ter haben können, wobei er sich vor allem auf die kommerziellen Holocaust- Spielfilme aus Hollywood bezieht.93 Wenn es für diesen theoretischen Exkurs notwendig ist, auf die Krise der Repräsentation nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen zu kommen, die heute mit der Chiffre „Auschwitz“ bezeichnet wird, muss festgehalten werden, dass der Völkermord an den europäischen Juden für Käutners Film keine oder höchstens eine periphere Rolle spielt. Auf dieses aus heutiger Sicht zentrale Problem komme ich im folgenden Kapitel zurück.94 Dass Erinnerung als Bild wiederkehrt, mobilisiert nach Ricœur die Ein- bildungskraft.95 Das Erinnerungsbild ist dementsprechend immer eine Zwi- schen- oder Mischform. Eine reine Erinnerung kann sich dagegen nie aktuali- sieren – höchstens, wie Bergson spekuliert, vielleicht im Moment des Todes,

pherie gehen, sofort drängen jene verdunkelten Bilder an Licht. Diese Bedingung ist ohne Zweifel gegeben, wenn wir im Schlafe träumen“ (Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 74). 89 Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 93. 90 S. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München 2007 (frz.: 2003), S. 98 u. 163. 91 S. Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 224. 92 S. Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 228f. 93 S. Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 106f.. 94 S. Die Allegorie der weiblichen Leiche, S. 117-136. 95 S. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 87.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 69 wenn die aufmerksame Spannung auf das Leben vollständig erschlafft ist. Käutners Film ist in seinem Ganzen auch eine Darstellung der eigenen Er- fahrung, in der „Erinnertes, Fiktives und Abgebildetes“96 Verbindungen mit- einander eingehen oder einander überlagern. Schon dass der Schriftsteller Ernst Schnabel das Drehbuch mitgeschrieben hat, führt vor Augen, dass es sich hierbei nicht um die Erfahrung eines Einzelnen handelt, sondern dass die vielfältigen Erfahrungen des ganzen Filmteams in das fertige Werk ein- gegangen sind – wie der Film in seiner episodischen Struktur auch eine Viel- falt von Erfahrungen repräsentieren will. Witte bezeichnet den Film als „kol- lektive Versöhnungsleistung“, weil die Besetzung einerseits Mitläufer und andererseits politisch wie rassisch Verfolgte zusammenbrachte.97 Eser weist allerdings darauf hin, dass Käutner sich seine Schauspieler nicht aussuchen konnte; es handelte sich eher um eine Gemeinschaft aus Versprengten, die sich nach dem Krieg in Hamburg und aus den näher gelegenen Städten ver- sammeln ließ.98 Diese Untersuchung geht von der Voraussetzung aus, dass der Film einem kollektiven Gedächtnis angehört. Er hat auch teil an vielen der Subgedächt- nisse des kollektiven Gedächtnisses, die Theoretiker im Gefolge von Halb- wachs ausgemacht haben: wie dem „kulturellen“, dem „kommunikativen“ (Jan Assmann) und dem „historischen Gedächtnis“ (Ricœur). Es ist in diesem Fall die Erfahrung der Mitwirkenden von IN JENEN TAGEN, die es erlaubt, den Film als ein großes Erinnerungsbild zu betrachten. Auch bei King Vidors THE BIG PARADE war es, obwohl der Regisseur selbst nicht im Krieg war, die Verkettung von physischen Verletzungen, mit der sich eine Verbindung von den realen Erfahrungen zu den Erinnerungsbildern im Film herstellen ließ. Wie steht es aber mit den Filmen, die eine Erfahrung erinnern, die die Be- teiligten selbst nicht gemacht haben? Didi-Huberman spricht zwar vom „Bild“, das wir uns von der Erfahrung anderer machen, aber inwiefern lässt sich auch dieses als ein „Erinnerungsbild“ bezeichnen? Berechtigt die Fanta- sie, die in den persönlichen Erinnerungen enthalten ist, dazu, auch Bilder und Texte, die als Fiktionen intendiert sind, zu Erinnerungen zu erklären? Edmund Husserl, auf den sich Ricœur mit seinen Überlegungen zum Wahrheitsan- spruch des Gedächtnisses bezieht, unterscheidet ganz klar zwischen Erin- nerung und der „Repräsentation durch ein ähnliches Objekt wie im Falle be- wußter Bildlichkeit (Gemälde, Büste u. dgl.).“99 Es lassen sich ein paar Argu- mente anführen, die diese Trennung weniger deutlich erscheinen lassen: In die verschiedenen Formen des kollektiven Gedächtnisses, wie das kulturelle, das historische oder das Familiengedächtnis, gehen diese „ähnlichen Objekte“ sehr stark ein. Sie verlängern unser Vergangenheitsbewusstsein über die eigene Le-

96 S. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 85. 97 S. Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 89. 98 Eser: Helmut Käutner, S. 71. 99 Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins [1928], Tübingen 2000, S. 50.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 70 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT bensspanne hinaus und sind in ähnlicher Weise konstitutiv für unsere Identität wie unsere persönlichen Erinnerungen. Welzer hat außerdem dargelegt, dass selbst die eigenen, autobiografischen Erinnerungen von medialen Versatz- stücken durchwirkt sind.100 Aus ähnlichen Gründen kritisiert Ricœur Husserl für seine extreme „Egologie“, die ihm den Weg zum Fremden versperre, während er auf der anderen Seite auch die Distanz des Selbst zu seinen eigenen Erinnerungen nicht bemerke.101 Husserls Phänomenologie stellte die antagonistische Denkrichtung zu der gerade entstandenen Soziologie dar. Wie Ricœur schreibt, nehmen beide Lager eine so starke Position ein, dass sie un- fähig sind, „die scheinbare Legitimität der Gegenthese abzuleiten: Auf der einen Seite den Zusammenhang der Bewusstseinszustände des individuellen Ich, auf der anderen die Fähigkeit kollektiver Entitäten, gemeinsame Er- innerungen zu bewahren und ins Gedächtnis zurückzurufen.“102 Ricœur sieht, wie eingangs dargestellt, eine Schnittstelle und die Möglichkeit zur Ver- mittlung vor allem in Halbwachs’ Begriff des „historischen Gedächtnisses“, das gleichzeitig eine öffentliche und eine intime Dimension besitzt.103 Auch wenn Husserls Auffassung des individuellen Bewusstseins zu herme- tisch ist – rechtfertigt das umgekehrt, bei den Spielfilmen selbst von Erinne- rungsbildern zu sprechen? Einer der wichtigsten Unterschiede zu den eigent- lichen Erinnerungen besteht darin, dass die Filme, für sich selbst genommen, außerhalb eines erinnernden Bewusstseins existieren. Teil eines Bewusstseins werden sie erst im Vorgang der Rezeption und dann handelt es sich um eine gegenwärtige Wahrnehmung, die mit Erinnerung als „Reproduktion“104 zu- nächst einmal nichts zu tun hat. Dennoch ist der Rezeptionsfaktor für das Wei- tere wesentlich; insofern ist es besser, vom „Kino“ als vom „Film“ zu spre- chen. Erinnerungen im eigentlichen Sinn werden die Filmbilder also nicht durch den schöpferischen Akt des Filmemachers, sondern erst durch das pro- duktive Vorstellungsvermögen des einzelnen Rezipienten. Auch der Wahrheitsanspruch, den Ricœur für das Gedächtnis zu verteidigen versucht und den er die „Treue“ des Gedächtnisses nennt, wird durch diese fabrizierten, äußerlichen Bilder infrage gestellt. In Anschluss an Husserl be-

100 S. Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 175. Schon Augustinus stellt fest, dass sich im Gedächtnis das selbst Erlebte mit dem von anderen Erfahrenen vermischt – „geglaubte[ ] Dinge mit vergangenen zu einem Gefüge“ verknüpft werden (Augustinus: Bekenntnisse, X, 8, S. 507). Und Halbwachs schreibt, dass die Erinnerungen, die wir aufgrund eigener Er- fahrung heraufbeschwören, unmöglich von denen zu unterscheiden seien, die „zumindest teilweise auf Zeugenaussagen und Folgerungen beruhen“ (Halbwachs: Das kollektive Ge- dächtnis, S. 56). 101 S. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 170 u. 198. 102 Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 193. 103 S. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 609. 104 Husserl legt dar, dass Erinnerung als „Retention“, als Festhalten der vorangegangenen Sinnesempfindung, an jeder Wahrnehmung beteiligt ist. Was in dieser Arbeit als Erinnerung bezeichnet wird, nennt er die „sekundäre Erinnerung“, die Erinnerung als Reproduktion (s. Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 19 u. 29).

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 71 tont er die zeitliche Orientierung der Erinnerung, die sie wesentlich von der Fiktion unterscheidet. „In der bloßen Phantasie ist keine Setzung des re- produzierten Jetzt und keine Deckung desselben mit einem vergangenen ge- geben. Die Wiedererinnerung dagegen setzt das Reproduzierte und gibt ihm in dieser Setzung Stellung zum aktuellen Jetzt und zur Sphäre des originären Zeitfeldes, dem die Wiedererinnerung selbst angehört.“105 Die Filmbilder sollen deshalb nicht mit den eigentlichen Erinnerungsbildern gleichgesetzt, sondern es soll vielmehr eine Analogie gebildet werden. Damit möchte ich eine ähnliche Position einnehmen, wie es Deleuze in seiner auf Bergson basierenden Kinotheorie tut.106 Die Zeitkonstruktionen der Filme las- sen sich mit den Prozessen eines Bewusstseins vergleichen, in denen sich Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen usw. aneinanderreihen. Dabei sind die Filmbilder materiell, während davon ausgegangen wird, dass die subjektiven Vorstellungen immateriell sind. Die Analogie erlaubt es, Husserls phänomenologische Überlegungen zur zeitlichen Bezüglichkeit107 der Erinne- rungsbilder, bei allem Artifiziellen und Prothesenhaften, das dieser Konstruk- tion zu eigen sein mag, zumindest versuchsweise zu übertragen. Der wesent- liche Unterschied zu Deleuze besteht darin, dass dieser das Filmbild selbst nicht auf eine historische Wirklichkeit bezieht. Obwohl auch für ihn Ausch- witz der Einschnitt ist, der den Wechsel vom Bewegungs- zum Zeit-Bild her- beiführt, geht es ihm letztlich um eine immanente Analyse der Filme und der Entwicklung philosophisch inspirierter Beschreibungskategorien. (Die materi- ellen Filmbilder anstelle der Vorstellungen eines Subjekts zu setzen findet übrigens seine Entsprechung in Käutners Verfahren, aus der Perspektive eines Requisits zu erzählen.) Unter diesen Prämissen lässt sich das Gemisch aus Erinnertem, Fiktivem und Abgebildetem, das das filmische Erinnerungsbild ausmacht, noch weiter analysieren: Didi-Huberman geht in seinem Text von der Fotografie aus und stellt von dort aus auch Überlegungen zum Bild im Allgemeinen an. Es geht ihm zum einen um den prozessualen Charakter jeglichen Bildes (beispielswei- se lässt sich jedes Bild kontextualisieren und in Sequenzen einordnen, und auch innerhalb eines Bildes lassen sich Sequenzen identifizieren). Mit diesen Überlegungen gelangt er zwangsläufig zum Filmbild. Zum anderen geht es ihm – wie Ricœur – auch um den Bezug der Bilder zur Vergangenheit. Die Filmbilder sind in besonderem Maß ihrer Gegenwart verpflichtet und scheinen die Vergangenheit immer zu verleugnen. Christian Metz schreibt: „[D]a die starre Photographie in gewisser Hinsicht die Spur eines vergangenen Ereignis- ses ist, wie André Bazin es ausdrückte, würde man erwarten, daß die bewegte Photographie (d. h. das Kino) in Analogie dazu als Spur einer vergangenen

105 Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 43. 106 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (frz. 1983), Frankfurt a. M. 1998 u. Das Zeit- Bild, Kino 2, Frankfurt a. M. 1997 (frz. 1985). 107 Ich spreche bewusst nicht von „Intentionalität“, die in der Phänomenologie ausschließlich psychischen Phänomenen vorbehalten ist.

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Bewegung empfunden wird. In Wirklichkeit ist dem aber nicht so, denn der Zuschauer nimmt die Bewegung immer als gegenwärtig auf (selbst wenn sie eine vergangene Bewegung ‚reproduziert’) […]. Die Gegenstände und die Personen, die uns der Film zeigt, erscheinen dort als Abbild, doch die Be- wegung, durch die sie belebt werden, ist kein Abbild der Bewegung, sie er- scheint wirklich.“108 Nach Bergsons (und auch Husserls109) Theorie muss das bewegte Bild allerdings immer einen Vergangenheitscharakter haben, den unser Denken gewohnt ist zu negieren. Entgegen unserer gewöhnlichen Auf- fassung siedelt Bergson die Bewegung nicht im homogenen Raum an, der ihre Dauer vernachlässigt: „In den Raum verbannt, und zwar in den abstrakten Raum, wo es immer nur einen einzigen Augenblick gibt und wo alles immer wieder neu beginnt, verzichtet die Bewegung auf jene Solidarität von Gegen- wart und Vergangenheit, welche ihr eigentliches Wesen ist.“110 Nach Deleuze kann das bewegte Filmbild, indem es die Bewegung als ein Nacheinander darbietet, unsere gewöhnliche, „verräumlichende“ Anschauung unterlaufen111 und für uns die Dauer der Bewegung – und damit die Zeit, derer das Subjekt sonst immer nur innerhalb seiner selbst ansichtig wird112 – über- haupt erst äußerlich wahrnehmbar machen. Er gibt hierfür Beispiele aus den Filmen Orson Welles’, zunächst aus CITIZEN KANE (1941): „[A]ls Kane seinen Freund, den Journalisten, treffen will, um mit ihm zu brechen, bewegt er sich in der Zeit: er nimmt eher einen Ort in der Zeit ein, als daß er seinen Ort im Raum veränderte. Und wenn der Untersuchungsbeamte zu Beginn von Mr. Arkadin in dem weiträumigen Hof auftaucht, dann kommt er nicht eigent- lich von irgendwoher, sondern taucht buchstäblich aus der Zeit auf.“113 Es ist die Bildtiefe und in technischer Hinsicht: die Schärfentiefe, durch die Welles diesen Effekt erzeugt.

108 Christian Metz: Semiologie des Films, München 1972, S. 27. 109 Husserl führt seine Überlegungen in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeit- bewusstseins am Beispiel der Musik als Zeitkunst durch. Er hätte sie aber ebenso gut am Filmbild explizieren können. 110 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 218. 111 S. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 15. 112 Augustinus schreibt: „Darum wollte es mich dünken, Zeit sei Ausdehnung und nichts anderes: aber wessen Ausdehnung, weiß ich nicht. Es sollte mich wundernehmen, wäre es nicht der Geist selbst“ (Augustinus: Bekenntnisse, XI, 26, 655). Und Kant: „Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. III, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974, S. 71). In der Moderne wird das Subjekt hingegen zunehmend einer objektiven, äußer- lich gemessenen Zeit unterworfen. Das hat Konsequenzen für die Subjektkonstitution: Die Einheit, zu der sich Augustinus auf seiner Gottessuche noch zu bündeln trachtet (vgl. Augustinus: Bekenntnisse, XI, 29, S. 667), wird wieder aufgelöst und fragmentiert. Die dis- kontinuierliche Zeiterfahrung des Subjekts findet in der Filmmontage einen Spiegel, denn die Kamera ist kein „homogener Zeuge“ eines zeitlichen Kontinuums (vgl. Virilio: Krieg und Ki- no, S. 21). Es ist daher bemerkenswert, dass Ricœur im digitalen Zeitalter glaubt, wieder an eine halbwegs unversehrte innere Zeit anknüpfen zu können, wobei er sie allerdings mit der Theorie eines kollektiven Gedächtnisses vermittelt. 113 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 57f.

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Es gibt verschiedene Verfahren, im Film das Vergangenheitsmoment des bewegten Bildes zu betonen und auch auf eine tiefere Vergangenheit zu ver- weisen: In dem Film IN JENEN TAGEN setzt sich real Gewesenes – Iso- lation, Verängstigung und Flucht – in der Haltung der Schauspieler fort. Am Anfang der Episode, die sich um Dorothea dreht und auf die ich näher ein- gegangen bin, zeigen die Fotografie und das Spiegelbild, die in der Einheit einer Einstellung zusammengefasst sind, die Erhaltung ihres vergangenen Selbstbildes in der Gegenwart an. Und schließlich handelt es sich bei der Fahrt des Autos, das seine Geschichte erzählt, um eine große Bewegung aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Witte legt dar, dass sich fast jede Episode chronologisch datieren lässt.114 Insofern setzt Käutner die Gegenwart in Be- ziehung zu ganz bestimmten Punkten in der Vergangenheit. Dabei handelt es sich nicht nur um die Daten einer objektiven Zeit; in der ersten Episode wird das Datum der „Machtergreifung“ „30/1/33“ buchstäblich in die Windschutz- scheibe des Autos geritzt und entspricht damit ganz einer Ricœurschen „Ein- schreibung“115. Im Kapitel über die 1960er-Jahre, in denen die „intellektuellen“, sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehenden Erinnerungsdarstellungen aufkommen, die ihre Zeitdarstellung stark reflektieren, sollen diese theoretischen Über- legungen fortgesetzt werden. Im Folgenden kehre ich aber zurück zu der eher historischen Analyse der Filme der unmittelbaren Nachkriegszeit.

ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN

Ein ausgesprochen janusköpfiges Werk ist Harald Brauns ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN (1947), das sich übrigens stets erwähnt, aber selten besprochen findet. Der Film bricht zunächst mit einem der Tabus: Es erscheint darin eine Jüdin als Opfer – sogar das Wort „Jüdin“ fällt (wenn auch nur geflüstert: als Selbstbezeichnung der Jüdin Nelly Dreyfuss [Sybille Schmitz116]). Sie nimmt sich selbst das Leben, indem sie sich das Treppenhaus eines Hotels hinunterstürzt, um ihren Häschern, die in Zivil gekleidet sind, zu entgehen. Dass die Täter nicht wirklich als Täter sichtbar werden, ist sicher die problematischste Auslassung des Films, der aber im Ganzen um eine Leer- stelle herumgebaut ist. Brauns Kunstgriff besteht vor allem darin, aus der Perspektive eines Rückkehrers aus dem Exil, des Karikaturisten Michael Rott (Viktor de Kowa), zu erzählen. Der Kriminalfall, das Unrecht, das im Zentrum

114 Witte: Im Prinzip Hoffnung, S. 90f. 115 „Die Einschreibung im psychischen Sinne des Wortes ist nichts anderes als das Weiterleben per se des der Urerfahrung zeitgleichen mnemonischen Bildes“ (Ricœur: Gedächtnis, Ge- schichte, Vergessen, S. 671). 116 Sybille Schmitz war mit ihrer Biografie – ihrer Ufa-Karriere, an die sie in der Nachkriegszeit nicht mehr anschließen konnte, der Drogensucht und ihrem Selbstmord – übrigens das Vor- bild für Veronika Voss in Rainer Werner Fassbinders Film (BRD 1982).

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 74 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT der Handlung steht, ist nicht etwa der Mord an Dreyfuss, sondern der Raub ihres Schmucks, der Rott angelastet wird. Falls Braun damit die Enteignung der Juden thematisieren wollte, wofür spricht, dass am Ende die Frage nach dem Eigentum an dem Schmuck auf sehr moralische Weise gestellt wird, wäre das noch problematischer: Dreyfuss gibt ihren Schmuck freiwillig in Rotts Obhut, damit dieser ihn ihrem nicht-jüdischen Gatten übergibt. Wenn man den stellvertretenden Charakter117 der Figuren in dem Film berücksichtigt, lässt das nur das Resümee zu, dass Nelly Dreyfuss, das jüdische Opfer, sich zuerst selbst enteignet, sich durch ihre „Selbstbezichtigung“ als Jüdin selbst stigmatisiert und dann von eigener Hand stirbt. Auch Braun ist es unmöglich, die Handelnden und die Gewalt, die sie ausüben, zu zeigen. Rott muss in der Nacht von Dreyfuss’ Tod ins Ausland fliehen, aber nicht, wie nach seinem Verschwinden alle vermuten, um das ihm anvertraute Kollier zu rauben, sondern weil er sich mit der Karikatur eines Oberministerial- direktors (Otto Wernicke) politische Probleme eingehandelt hat. Sein Schicksal verschränkt sich mit dem von Nelly Dreyfuss: Statt seiner wird sie von der Polizei ergriffen. Indem zehn Jahre bis zu seiner Rückkehr ausgelassen werden – nur eine kürzere Rückblende der jungen Herumtreiberin Kat (Hildegard Knef) erzählt von den letzten Kriegsjahren –, zeigt der Film die Menschen im Hotel zu- nächst in den ersten Jahren der NS-Herrschaft, in denen sie dem Regime distanziert, kritisch und sogar widerständig gegenüberstehen, und dann, nach dem Zusammenbruch, als dessen zermürbte Opfer. Es wird nicht gezeigt, wie sie sich in den zehn Jahren arrangieren, welche Konzessionen sie machen, wann sie wegschauen. Stattdessen hat sich der Professor für Kunstgeschichte (Erich Ponto), der am Anfang als gutmütig, wenn auch ohne Menschenkennt- nis dargestellt wird, am Schluss, wie so viele Gestalten des deutschen Nach- kriegsfilms, in einen Misanthropen verwandelt, der an Rott den Vorwurf richtet, der den Emigranten in der unmittelbaren Nachkriegszeit gemacht wurde: „Wo sind Sie gewesen?“ – Es ist der Remigrant, der sich rechtfertigen muss, dessen Partei der Film aber großzügig ergreift. Trotz des problematischen Plots ist ZWISCHEN GESTERN UND MOR- GEN in seiner Raum-Zeit-Konstruktion meisterlich. Braun gelingt es, die Ge- genwart zwischen den Trümmern als einen Nicht-Ort darzustellen, an dem sich Türen buchstäblich ins Leere öffnen. Nur in der Erinnerung entfaltet sich der Handlungsort des Hotels wirklich als Raum: und hier als ausgesprochener Zeit-Raum. Nach Bergson erhalten sich vergangene Eindrücke zwar im Geiste des Subjekts, aber sie sind „unausgedehnt“ und können nur zur Ausdehnung ge- langen, indem sie mit einer gegenwärtigen Wahrnehmung verschmelzen. Im

117 Diese artifizielle Anlage der Figuren hat Peter Pleyer, dessen Buch ein Klassiker der Film- geschichtsschreibung für diese Phase ist, blind für alle Vorzüge des Films gemacht. Er inter- pretiert ihn als platten „Gesellschaftsfilm“ (s. Pleyer: Deutscher Nachkriegsfilm, S. 62).

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Kino kann die Aufnahme einer vergangenen Wirklichkeit dagegen „Ex- tension“ gewinnen, ohne mit der Materialität eines gegenwärtigen Augen- blicks zu verschmelzen. Bergson bezeichnet die Extension als „eine Art Zwischending“118 aus dem, was die abendländische Philosophie und auch unsere Alltagsauffassung als „Zeit“ und „Raum“ aufzuspalten pflegen. Als eine Art Zwischending definiert Panofsky auch den Film: „als Dynamisierung des Raumes und entsprechend als Verräumlichung der Zeit.“119 In seiner Ex- tension lässt sich der Film, wie ich im vorangegangenen Theorieexkurs vor- geschlagen habe, mit der zeitlichen Ausdehnung des menschlichen Geistes vergleichen. Vergangenheit und Zukunft sind für Rott in dem schier unbewohnbaren Hier und Jetzt personifiziert durch zwei gegensätzliche Frauen: Die eine ist Annette Rodenwald (Winnie Markus), eine dunkle, herbe Schönheit, mit der er gerade eine Liebesbeziehung begonnen hat, als er fliehen muss, und mit der die schwermütig-romantische Titelmusik assoziiert ist. Sie ist, als er zurück- kehrt, mit dem Hotelier Rolf Ebeling (Viktor Staal) verheiratet, der seine Brie- fe an sie abgefangen hat. Die andere ist das Mädchen Kat, gespielt von der blonden Hildegard Knef, die Rott bei seiner Rückkehr kennenlernt. Sie ist jung, spontan, zukunftsgewandt und optimistisch und wirkt durch ihre lässige Kleidung wie auch die Abkürzung ihres Namens („Kat“ für Katharina) amerikanisiert. Auch mit ihr ist ein musikalisches Thema verbunden: eine leichte, übermütige Tonfolge auf einer Querflöte. Es ist sie, der er sich am Ende zuwendet.120 Daneben zeigt der Film in den Rückblenden auch die Beziehung des Ehe- paares Nelly Dreyfuss (welcher ebenfalls ein eigenes, dramatisches Musik- thema zugeordnet ist) und Alexander Corty (Willy Birgel): Der narzisstische Schauspieler ist abhängig von seiner selbstsicheren Frau, die ihm vor allem als Künstler Anerkennung gibt. Er hat zunächst ihr Opfer angenommen, sich von ihm zu trennen, um dann zu merken, dass er ohne sie kein Selbstwertgefühl besitzt. Seinem Agenten, der offenbar die Linie des Propagandaministeriums vertritt und ihm einredet, er tauge nur noch für Nebenrollen, hat er nichts ent-

118 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 245. 119 Panofsky: Stil und Medium im Film, S. 25. 120 Georg Seeßlen hat über diese Mädchengestalten des deutschen Nachkriegsfilms geschrieben: „‚Das Mädchen, das man, immer noch, auch >Mädel< nannte, war gewissermaßen die Seele der zukünftigen Gesellschaft. … Es hatte das Märchen vom Dornröschen auf den Kopf ge- stellt: Zerknirschte und resignierte, müde gewordene und gar auch von Scham gebeugte Män- ner wurden von einem dieser Mädel nur flüchtig geküsst oder mit dem einen oder anderen aufmunternden Wort bedacht, und schon erwachten sie aus der Mattigkeit des Selbstzweifels, vergaßen, was sie an Schuld in diesem Krieg auf sich genommen hatten, und schluckten vor allem ihr Selbstmitleid herunter, sie krempelten die Ärmel auf, wenn das Mädchen begeistert zusah, und schufen das deutsche Wirtschaftswunder. Und das Mädchen blieb und pflegte >siehste< zu den Aufbau- und Umbauleistungen zu sagen und sich sehr zu freuen; es er- leuchtete all die notwendigen Dinge, die für die neue Gesellschaft unternommen werden mussten, mit dem Glanz der Unschuld’“ (Georg Seeßlen in epd Film, Mai 1992. Zitiert nach Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm, S. 182f.).

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 76 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT gegenzusetzen.121 Als Corty seine Frau im Hotel wieder trifft, will er sie nicht mehr alleine gehen lassen. Sie versucht, ihn davon abzubringen; in ihrer Auf- regung irrt sie nachts über den Hotelflur und läuft der Polizei in die Arme. In der Rückblende, die Kat zugeordnet ist, sieht man Corty Jahre später wieder im Hotel: Aus seinem Dialog mit ihr erfährt der Zuschauer, dass er, dem Nelly durch Rott ihren wertvollen Schmuck zukommen lassen wollte, ihn tatsächlich all die Jahre in Besitz hatte; dass er ihn nach ihrem Tod verpfändet hat, um nach seinem Karriereknick einen Neuanfang machen zu können, und dass er ihn an eben jenem Tag wieder ausgelöst hat. Es ist der Abend, an dem das Hotel zerbombt wird. Er setzt sich bei dem Angriff in einen Sessel in der Lobby. Die Kamera zieht von ihm weg und zeigt ihn in einer starren Halb- totalen: Bei den Bombeneinschlägen erfolgen immer wieder Abblenden, wäh- rend Corty wie eine Statue dasitzt – es ist nicht erkennbar, ob er noch lebt oder schon tot ist. Am Ende dieser Szene kommt auch die ständige Bewegung der Hoteldrehtür zum Erliegen, mit der der Film im Vorspann beginnt: in ihr zirkulierten ständig Licht und Schatten; ihr Stillstand ist ein eindringliches Bild für den Tod. In der Gegenwart des Films steht die Tür immer noch still: Sie ist als Drehtür, wie sie seit Friedrich Wilhelm Murnaus Film DER LETZTE MANN (1924) die Zirkulation des großstädtischen Lebens repräsen- tiert, funktionslos geworden, weil der ehemalige Vordereingang nur noch zu den Privatzimmern des Hoteliers und seiner Frau führt.122 Von den hier untersuchten Filmen dieser Phase ist ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN sicher derjenige, der in seiner Form am meisten der alten Ufa-Ästhetik entspricht und damit eine problematische Kontinuitätslinie auf- weist. Meines Erachtens ist es aber einer der wenigen Filme, nicht nur im Vergleich zu den Produktionen dieser Jahre, in denen sich Bilder der Trauer finden. Sie wirken echt, weil sie einen eigenen Verlust beklagen und deshalb nicht in Symbolen erstarren. Der Handlungsort des Films, das Münchner Regi- na-Hotel, war ehemals ein urbaner Treffpunkt von Globetrottern, Künstlern, Gelehrten und Diplomaten.123 In der Gegenwart der Erzählung ist er so nicht mehr existent. Der Schauspieler Corty ist ein Repräsentant dieses früheren Künstler- und Intellektuellenmilieus, der zunächst aber zu selbstbezogen ist, um zu merken, dass er mit seiner jüdischen Frau auch sich selbst verliert: Ihr

121 Corty erinnert an den Schauspieler Larry Renault (John Barrymore) in George Cukors DINNER AT EIGHT (1933): Nach einem Gespräch mit seinem Agenten (Lee Tracy), der ihm völlig unverblümt sagt, dass er abgehalftert sei, begeht Renault Selbstmord, indem er den Gashahn in seiner Wohnung aufdreht. 122 Harald Braun wagte übrigens 1955 eine Neuverfilmung von DER LETZTE MANN, mit Hans Albers in der Hauptrolle, die gerade die Tatsache, dass sie misslungen ist, interessant macht. Darin wird der alternde Hotelangestellte nicht Opfer der modernen Rationalisierung, sondern eines windigen Geschäftsmannes (), der die junge Hotelbesitzerin (Romy Schneider) heiraten will, um an ihr Geld zu kommen. 123 S. WTS: Film an der Wegscheide. In: Westdeutsches Tageblatt, 18.2.1948. In: Zwischen Ges- tern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, hg. v. Hilmar Hoffmann u. Wal- ter Schobert (Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main), Frankfurt a. M. 1989, S. 343.

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Tod ist auch sein eigener. Der Ort, an den Rott schließlich zurückkehrt, ist provinziell, nicht mehr kosmopolitisch, die Leute sind misstrauisch und borniert. Weil das intellektuelle Klima von früher verloren ist, bleibt nur der Neuanfang. Der Film endet deshalb mit der ziemlich unromantisch und regressiv wirkenden Geste, dass der Zeichner dem Mädchen Kat, das nur durch Blicke als seine neue Liebe designiert wird, mit einem Taschentuch die Nase putzt.124

LIEBE 47

Bei LIEBE 47 (1949) von Wolfgang Liebeneiner handelt es sich um die Ver- filmung des Hörspiels und Theaterstücks von Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür. Liebeneiner hat das expressionistische Stationenstück mit einer naturalistischen Zeitreportage von Kurt Joachim Fischer gekoppelt. Der damals bekannte Kritiker Gunter Groll bezeichnete das Resultat in einer zeit- genössischen Kritik als eine „interessante künstlerische Monstrosität“125. Die spätexpressionistische Vorlage Borcherts erwies sich als äußerst un- filmischer Stoff. Reichel rätselt, warum dem Theaterstück, obwohl es von Kritik und Literaturwissenschaft nie sonderlich geschätzt wurde, ein so lang anhalternder, auch internationaler Erfolg beschieden war. Seine Analyse, dass der Grund dafür in seiner Zeitlosigkeit liegt, die wiederum auf die radikale Innerlichkeit zurückgeführt werden kann, ist sehr überzeugend. Obwohl Draußen vor der Tür als Zeugnis der Kriegsheimkehrergeneration genommen wird, geht es darin nicht um diesen konkreten Krieg, sondern den Krieg an sich.126 Die Inszenierungen des Theaterstücks konnten deshalb von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mit immer neuen Themen besetzt werden. Filme sind, wie schon hinreichend betont wurde, dagegen immer zeitgenössisch. Die Universalität und Zeitlosigkeit, zu denen das traditionelle Kunstwerk hinstrebt, steht dazu im Widerspruch.127 Interessanter für diese Untersuchung ist deshalb der „natu- ralistische“ Teil des Films mit der Geschichte der Anna Gehrke (Hilde Krahl).

124 Die Geste taucht in dem Film zweimal auf. Am Beginn der ersten Rückblende putzt Rott dem Oberministerialdirektor, der in einem Schwitzbad festsitzt, die Nase. Braun scheint damit einen weiteren Rückgriff auf den Weimarer Film zu machen: auf die frühen deutschen Stummfilmkomödien Ernst Lubitschs. Wenn dort die Figuren nach Ausgelassenheit und Aus- schweifung ein böses Erwachen erleben, geben sie sich genauso lustvoll der Regression hin: Sie heulen rückhaltlos wie Kinder und stets ist jemand behilflich und putzt ihnen die Nase (ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN [1918], DIE AUSTERNPRINZESSIN [1919], DIE BERGKATZE [1921]). In Brauns Tonfilm wirkt die Geste dagegen eher hölzern. 125 Groll, Gunter: Borchert, Liebeneiner und der Zeitfilm. Der verlorene Maßstab/Bemerkungen zu „Liebe 47“. In: Süddeutsche Zeitung, 28.5.1949. In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, hg. v. Hilmar Hoffmann u. Walter Schobert (Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main), Frankfurt a. M. 1989, S. 348. 126 S. Reichel: Erfundene Erinnerung, S. 45ff. 127 Das soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Kriegsfilme, die in der Nach- kriegszeit gedreht wurden, den Zweiten Weltkrieg als einen „normalen“ Krieg darstellten.

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Liebeneiner ist der Widerstand, den Borcherts Stück der Verfilmung entge- gensetzt, wohl nicht entgangen und er hat den anderen Stoff im Wunsch hinzugefügt, dem abzuhelfen. Dieser Teil des Films könnte für die Lage der Frauen nach dem Krieg und die Erinnerung an ihre Kriegserlebnisse auf- schlussreich sein. Anna Gehrke trifft den Heimkehrer Beckmann (Karl John) am Elbufer, wo beide Selbstmord begehen wollen. In Rückblenden erzählen sie einander ihre Geschichten. Ihre beginnt mit ihrer Hochzeit, die nicht wie der Beginn eines privaten Glücks zelebriert wird, sondern wie der Anfang einer neuen Epoche, einer „neuen Welt“, wobei ihre Erzählstimme im Off die feierlichen Bilder schon mit dem „Verrat“ und dem kommenden „Scheitern“ kontrastiert. Das junge Eheglück ist nicht von langer Dauer: Der Krieg fängt an, ihr abenteuer- lustiger Gatte (Dieter Horn) wird eingezogen und fällt. Einsamkeit und Not bringen Anna dazu, sich nacheinander mit verschiedenen Männern einzu- lassen, wobei sie sich immer nach einer festen Bindung sehnt, die aber jedes Mal an den Männern scheitert. Als der Letzte in dieser Reihe (Albert Florath), ein Importeur – und in diesen Zeiten: ein Schieber –, sich in seiner Gefängnis- zelle erhängt und die Polizeibeamten sie wie sein Flittchen behandeln, will sie sich das Leben nehmen. Eher beiläufig wird dagegen der Tod ihrer kleinen Tochter (Sylvia Schwarz) geschildert: Er ist nur ein weiteres Unglück in einer Reihe von Katastrophen. Anna findet schließlich in Beckmann einen neuen Partner, mit dem sie die Gegenwart meistern kann. Auch bei diesem Film sind es die Auslassungen, die Bände sprechen.128 Wie Bettina Greffrath schreibt, fällt LIEBE 47 in eine Phase der westdeutschen Produktion, in der die „natürlichen“ Geschlechterrollen – das sind die bürger- lichen – in den Filmen schon wieder konsolidiert waren, während sich noch bis 1948 Widersprüche in den Darstellungen aufgetan hatten, deren Ursachen aber in der Realität andauerten.129 Wie im Film thematisiert wird, waren nach dem Krieg viele Frauen alleinstehend oder hatten allein eine Familie zu ver- sorgen.130 Ihre erhöhte Erwerbstätigkeit bedeutete auch eine Veränderung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Eine andere Erscheinung, die damit in Zusammenhang steht, war die Nach- kriegspromiskuität von jungen Frauen. Wie Merith Niehuss darlegt, gab es in den ersten Nachkriegsjahren eine starke Zunahme unehelich geborener Kin- der, die nicht selten Kinder der Besatzungssoldaten waren: „Eine Umfrage des

128 Das hat auch Brauerhoch in ihrem Buch Fräuleins und GIs dargelegt (S. 288-302). 129 S. Greffrath: Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit, S. 257. 130 „In Bayern zum Beispiel trafen 1946 in der Altersgruppe zwischen 20 und 35 Jahren auf 100 Männer 162 Frauen. […] Obwohl sich mit den heimkehrenden Kriegsgefangenen der Män- nermangel verringerte, standen 1950 in Bayern immer noch 100 Männer des Geburtsjahr- ganges 1915 144 Frauen gegenüber; beim Geburtsjahrgang 1918 waren es 163, 1919 143, 1921 und 1924 145 bzw. 146 Frauen auf jeweils 100 Männer“ (Merith Niehuss: Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren. In: Modernisierung im Wiederaufbau. Die west- deutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 316-334, S. 317f.).

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Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge ermittelte für das Jahr 1951 in Westdeutschland (einschließlich West-Berlin) allein 93.000 unehe- liche Besatzungskinder; 3.000 davon waren Mischlinge.“131 Wie Brauerhoch darlegt, wurden die Beziehungen deutscher Frauen zu den Besatzern von einem Großteil der Bevölkerung als Verrat und zweite Niederlage empfunden. Neben dem faktischen Mangel an deutschen Männern war es, wie sie aus zeit- genössischen Veröffentlichungen folgert, auch der „Imageverlust der deutschen Männer als despotische Verlierer“132, der die GIs in der amerikani- schen Besatzungszone, der ihre Untersuchung gilt, attraktiver erscheinen ließ. Sie versorgten die Mädchen und Frauen außerdem mit Waren, die sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen konnten. (LIEBE 47 wurde allerdings in der britischen Besatzungszone produziert.) Frank Becker ergänzt in einer Rezension ihres Buches, dass die sexuelle Freizügigkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit möglicherweise auch eine Kontinuität des Nationalsozialismus darstellt, der eine „‚natürliche’ Körper- lichkeit“ propagierte. „Als sich nach 1945 der Einfluss des bürgerlich-konser- vativen Establishments und der Kirchen zunächst wieder vergrößerte und eine weitgehende Restauration der ‚alten’ Sexualmoral erfolgte, markierte die NS- Zeit im Rückblick möglicherweise eine Phase, in der man sich sexuelle Frei- heiten erlaubt hatte, die nun aufs Neue massiv eingeschränkt wurden.“133 Brauerhoch beobachtet in ihrer Untersuchung, dass die verpönten Bezie- hungen deutscher „Fräuleins“ zu den Besatzungssoldaten in den Filmen dieser Phase tabuisiert sind und höchstens als Auslassung, als Verschiebung oder Umschreibung auftauchen. LIEBE 47 thematisiert zwar die sexuelle Freizügigkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber die Autoren des Films machen sich ihren eigenen Reim darauf: Anna arbeitet beispielsweise eine Zeit lang in einer Fischfabrik – was übrigens als ein Martyrium geschildert wird. Von den anderen Frauen dort, die ständig von ihren wechselnden Liebhabern erzählen, distanziert sie sich ent- schieden: „Ich konnte es nicht mehr hör’n: Es lohnt sich, und die hat ’nen Tommy, und die hat ’nen Lastfahrer, und die hat ’nen Bäcker, und die hat ’nen Fleischer. – Nein. Ich sah nur noch Geschäfte. Die ganze sogenannte Liebe: ein Geschäft.“ Als einer ihrer Liebhaber, der ihr Zuzug und Wohnung ver- schafft hat, sie bittet, einem seiner Geschäftspartner zu Diensten zu sein, gerät sie völlig außer sich und wirft ihn raus. Wie Brauerhoch bemerkt, fällt schließ- lich der gesellschaftliche Vorwurf der Prostitution mit ihrem Entschluss zu- sammen, Selbstmord zu begehen.134 Obwohl sie faktisch ein recht bewegtes Liebesleben führt und sich stets mit den Männern einlässt, die ihr aus Not-

131 Niehuss: Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, S. 318f. 132 Brauerhoch: Fräulein und GIs, S. 296ff. 133 Frank Becker: Rezension von Annette Brauerhochs Fräulein und GIs. In: FES: Archiv für Sozialgeschichte – Online: 47 (2007), http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80780.htm, 16.12.2006. 134 S. Brauerhoch: Fräulein und GIs, S. 292.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 80 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT lagen helfen, wird das auf die Zeitumstände zurückgeführt, deren Opfer sie ist. Es zählen nur ihre konservativen Wertvorstellungen und die verzweifelte Ohnmacht, mit der sie sich nach ihrem toten Mann zurücksehnt. Auf diese Weise baut der Film den Frauen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ent- sprechende Erfahrungen gesammelt haben mögen, eine goldene Brücke, ihr eigenes Verhalten in diesem Sinne zu deuten. Brauerhoch und Greffrath heben allerdings hervor, dass der Film, obwohl der Verleih ein weibliches Publikum anvisierte135, vor allem Männern gefiel: Eine Umfrage von 1949 ergab, dass „unter den 10 besten Filmen LIEBE 47 dreimal häufiger von Männern als von Frauen genannt wurde.“136 Sie schließen daraus, dass das Frauenbild, das er vermittelt, eher männlichen Wunschvorstellungen entsprach als dass es den Frauen Identifikationsmöglichkeiten geboten hätte. Es ist allerdings fraglich, inwiefern die These von der veränderten Rolle der Frau in der Nachkriegszeit selbst ein Mythos ist. Sie beruht auf zeit- genössischen Beobachtungen, die die Umwälzungen dieser Jahre, möglicher- weise durch den fremden Einfluss der Besatzer, überbewertet haben dürften.137 Brauerhoch zitiert beispielsweise aus einer aus dem Jahr 1948 stammenden Studie von Hilde Thurnwald – Gegenwartsprobleme Berliner Familien. Eine soziologische Untersuchung an 498 Familien –, in der die Soziologin die „Gründe für das Auseinanderfallen traditioneller Familienverbände“ unter- sucht, das sie offenbar von vornherein unterstellt.138 Dagegen legt die Histori- kerin Niehuss rückblickend an diversen Statistiken zur Scheidungsrate und zur Erwerbstätigkeit von Frauen dar, dass die Institution „Familie“ in der Nach- kriegszeit sogar gestärkt worden ist. Dazu gehörte auch, dass die Ehepartner in ihren überlieferten Rollenverteilungen verblieben.139 „[D]ie Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und der gegenwärtigen Probleme geschah in nahezu jedem Fall innerhalb der Familie.“140 Hierbei mussten die verschiedenen Er- fahrungen, die Männer und Frauen während des Krieges gemacht haben – und wie sie auch der Film thematisiert –, integriert werden und dies scheint, Niehuss’ positiver Bilanz zufolge, gelungen zu sein. Insofern gibt LIEBE 47 also durchaus die damaligen Einstellungen wieder. Mir scheint das Frauenbild, das dem Film zugrunde liegt, jedoch eine problematische Kontinuitätslinie aufzuweisen: Einer der Männer, die Anna bei ihrer Flucht trifft, ist ein todessüchtiger Junker (Rudolf Kalvius), der als einer der Letzten einer edlen, aussterbenden Art dargestellt wird. Die Episode deutet an, dass die beiden füreinander bestimmt gewesen wären und dass es nun aber zu spät für sie ist. Er sagt zu ihr: „Sie sind jung, und Sie sind schön, und wenn

135 S. Brauerhoch: Fräuleins und GIs, S. 296. 136 Greffrath: Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit, S. 230, mit dem Verweis auf die Zeitschrift Der neue Film 1/1950, S. 3. 137 Vgl. Niehuss: Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, S. 316. 138 S. Brauerhoch: Fräulein und GIs, S. 297. 139 S. Niehuss: Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, S. 322. 140 Niehuss: Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, S. 316.

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das Leben Sie liebt, dann werden Sie eines Tages wie eine Feder zurück- schnellen. Aber mir steht es nicht an, mich zu biegen oder mich zu ducken und irgendwo unterzukriechen. Wir waren Herren hier im Osten. Was da nun herankommt, das ist die Masse – ein Gesicht wie das andere. Adel und Unter- gang, meine Gnädigste, Adel und Untergang. Das hat der Gefreite aus Braunau geschafft. … Sehen Sie, Sie sind das Leben, die Fruchtbarkeit, die Zukunft, Frau, heilige Natur, immer dem Wege des Herzens nach. Abschied, Anna. Bei mir ist das Leben zu Gast.“ Dem folgt eine Großaufnahme von ihr, bei der ihr Kopf nach hinten gelehnt ist: Ausdruck völliger Hingabe und Sinn- lichkeit. Dem Junker zufolge reagiert die Frau auf die gefahrvollen Zeit- umstände wie eine niedere Lebensform: Sie biegt sich, sie duckt sich weg, sie kriecht unter. Nach allem wird sie sich doch wieder in üppiger Fruchtbarkeit regenerieren; sie wird nicht brechen, sie wird sich biegen. Von allen Männer- phantasien wohl die für Frauen gefährlichste, anscheinend resistent gegenüber einer anderen „Empirie“, gerade in dieser Zeit. Nach Theweleits Analysen handelt es sich bei der Gedankenabfolge des Junkers – von der Frau zur Masse – um eine nahe liegende Assoziationskette. Er legt dar, wie sich über die Jahrhunderte beim bürgerlichen Mann ein Frauenbild herausgebildet hat, das sie mit „Aggregatszuständen des Körper- innern“, zuerst mit der Flut und dann mit dem Blut, in Verbindung brachte. In diesen Bildern mischt sich Anziehung mit Auflösungsängsten; aus der „Angst-

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 82 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT lust“ resultiert auch Abwehr und Aggression. Im 19. Jahrhundert werden diese männlichen Assoziationen von ihrem eigentlichen Objekt abgelöst und heften sich im 20. zunehmend an die Masse; das heißt in Deutschland: an die rote bolschewistische Masse, die auch der Junker meint.141 Auf die Ambivalenz des faschistischen Massenbegriffs bin ich bereits bei der Analyse von G. W. Pabsts Film KAMERADSCHAFT (1931) eingegangen.142 Er inszeniert dort die wimmelnde, feminierte bolschewistische Masse, während Leni Riefenstahls TRIUMPH DES WILLENS die gefeierte Masse zeigt: Sie ist formiert und in Dammsysteme gegossen, ein Führer ragt aus ihr heraus.143 Für den Junker wird der Untergang dadurch herbeigeführt, dass man einen Mann, der selbst der Masse entstammt – den „Gefreiten aus Braunau“ –, zu ihrem Anführer gemacht hat. Diese Dialogsätze des Junkers lassen sich zwar nicht als die Deutung der unmittelbaren Vergangenheit kennzeichnen, die in dem Film insgesamt ver- treten wird, aber immerhin werden sie auf der Bildebene sehr stark affirmiert. Kreimeier charakterisiert den Regisseur Wolfgang Liebeneiner als den Ideal- typus des „widerstrebenden Mitläufers“ und des „anpassungsfähigen Dis- sidenten“. Obwohl er bekanntermaßen zu den „stillen Skeptikern“144 gehörte, gelangte er im Dritten Reich zu allen Würden, die einem Mann der Filmbran- che zuteilwerden konnten: Goebbels ernannte ihn 1942, in Ermangelung eines geeigneteren (regimetreuen) Kandidaten, zum Produktionschef der Ufa; 1943 zeichnete er ihn, neben Veit Harlan, dem Regisseur von JUD SÜSS, mit einem Professorentitel aus. Im Dritten Reich hatte Liebeneiner unter anderem bei zwei dem Führer-Mythos gewidmeten Bismarck-Verfilmungen Regie ge- führt145 und daneben auch bei dem „Euthanasie“-Film ICH KLAGE AN (1942), der das Töten auf Verlangen einer Multiple-Sklerose-Patientin thema- tisiert. LIEBE 47 ist an vielen Stellen ein bedrückender Beleg für die Fortdauer der alten Einstellungen. Das liegt auch an der Vorlage Borcherts. Es ist bekannt, dass der Autor Schlimmes durchlitten hat: Er war selbst Soldat an der Ost- front, ist wegen „Wehrkraftzersetzung“ verurteilt, begnadigt und einer Straf- kompanie zugeteilt worden. Er kehrte krank zurück und starb einen Tag vor der ebenfalls von Liebeneiner inszenierten Hamburger Uraufführung von Draußen vor der Tür, am 20. November 1947. Groll schrieb in seiner zeitge- nössischen Rezension: „[W]üsste man nicht, was er litt und und wie er endete, so empfände man dieses Werk wie es ohne Zweifel später empfunden werden wird: als schwer erträgliche Mischung aus Pathos und Sentimentalität, aus Imitation und radikalem Originalitätswillen, aus Gefühlsausbrüchen und pla-

141 S. Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte [1977]. In: Männerphantasien 1+2, Hamburg 2000, S. 236ff. 142 S. S. 39. 143 S. Theweleit: Männerphantasien 2, S. 8. 144 Kreimeier: Die Ufa-Story, S. 404. 145 S. Kreimeier: Die Ufa-Story, S. 321.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 83 kathafter Belehrung.“146 Schwer erträglich sind vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens insbesondere die geschrienen Aufzählungen der deutschen Opfer. Die Soldaten an der Ostfront konnten kaum in Unkenntnis der Massen- erschießungen gewesen sein, die in ihrem Gefolge durchgeführt wurden.147 Borchert geht dann auch noch so weit, Mitleid für die Nazi-Eltern Beckmanns einzufordern, die durch die Entnazifizierungsmaßnahmen in den Selbstmord getrieben wurden.148 Andererseits war es ausgerechnet die Schauspielerin und Theaterintendan- tin Ida Ehre, die als Jüdin selbst vom NS-Regime verfolgt und im Konzentra- tionslager Fuhlsbüttel interniert worden war, die von Borchert eine Theaterfas- sung seines Hörspiels erbat und es von dessen Freund Liebeneiner in ihren Hamburger Kammerspielen inszenieren ließ. Diese Personenkonstellation führt vor Augen, wie sehr sich damalige Einstellungen den heutigen Auffas- sungen entziehen.149 Der Film LIEBE 47 traf allerdings schon nicht mehr den Nerv seiner Zeit; an den Kinokassen war er ein Misserfolg.

1.6 Zwischenbilanz

In Westdeutschland sind in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Dar- stellungen der jüngsten Vergangenheit von Leerstellen durchlöchert. Wenn Levy und Sznaider von „selektiver Erinnerung“ sprechen, lässt sich das für die Filme spezifizieren: Die Auslassungen betreffen insbesondere die Täter. – Das habe ich die „Subjektlosigkeit“ dieser Darstellungen genannt.

146 Groll: Borchert, Liebeneiner und der Zeitfilm, S. 348. 147 S. etwa Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005. 148 Reichel zitiert Falk Harnack, der Borchert sehr früh und vehement widersprochen hat: „‚In gefährliche Bezirke aber versteigt sich Borchert in der Szene vor seiner elterlichen Wohnung. Hier fordert er Mitleid für das aktive Nazi-Elternpaar, das nach dem Zusammenbruch Selbst- mord beging. Hier klingt falsche Tragik“ (Falk Harnack über Wolfgang Borchert. In: Sonntag, 28.5.1949. Zitiert nach: Reichel: Erfundene Erinnerung, S. 49). 149 Aufschlussreich hierfür finde ich die Erinnerung Käutners an die Stimmung in einer Wirt- schaft nahe Cuxhaven, in der er die Nachricht von Hitlers Tod hörte: „Und dort zwischen all dem Elend gab es eine Wirtschaft, in einer Baracke, einen Unterschlupf für viele, die nicht in ein Meinungsbild einzuordnen waren. Wir drückten uns hinein. Aus einem Volksempfänger kam dann die Nachricht von Hitlers Tod. Einige gestrandete oder versprengte junge SS- Männer gingen vor die Tür der Wirtschaft und erschossen sich, einige Überfanatische riefen zur Disziplin, andere erbrachen sich oder weinten. Da waren Wut, Zorn, Ohnmacht, Freude und Jubel und mischten sich zu einer Stimmung. Der Wirt kam auf uns zu mit einer Flasche Burgunder, goß uns und sich ein Glas ein, man stieß nur an, und keiner sagte ein Wort. Der Burgunder erwärmte das verbliebene Restgefühl von Freiheit. Worte hätten die Situation ver- zeichnet“ (Helmut Käutner zitiert nach Eser: Helmut Käutner, S. 64).

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 84 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT

Wie schon festgestellt wurde, ließ gerade Staudte auch Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre nicht davon ab, diese Art Erinnerungsfilme zu drehen. In ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT (1959) und KIRMES (1960) tauchen die Opfer der Vergangenheit wieder auf und stören kurzzeitig die Abläufe in der Gegenwart – wie Staudte selbst wohl ein Störer der unbe- kümmert-optimistischen Stimmung in der Bundesrepublik des Wirtschafts- wunders sein wollte. Doch selbst zu diesem späteren Zeitpunkt ist es ihm nicht möglich, die Täter anders als passiv zu zeigen. Sein Film DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, den man zu einem utopischen „Kino des Nullpunkts“ rechnen kann, weil das Konzept dafür noch im „Transitraum“150 des bevor- stehenden Zusammenbruchs entstand, ist, bei aller Verschwommenheit der Rückblende, die dort gezeigt wird, die einzige Ausnahme von dieser Regel. In der Satire ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT entkommt hingegen der wegen eines Bagatelldelikts von einem Standgericht zum Tode verurteilte Soldat (Walter Giller) bei einem Fliegerangriff; in KIRMES besteht die Lö- sung wieder einmal darin, dass der Deserteur (Götz George) in den Selbst- mord getrieben wird und selbst das Maschinengewehr auf sich richtet. Staudte will damit zwar deutlich machen, dass ein ganzes Dorf und nicht speziell die Schergen des Regimes schuld am Tod des jungen Mannes sind – hierbei untersucht er sehr differenziert den Mechanismus der Angst151 –, dennoch ist dieser Schluss falsch und symptomatisch für die Zeit. Die Passivität der Täter in diesen Filmen rührt im Kern wohl daher, dass die Regisseure unbedingt vermeiden wollten, Gewalt und Täter-Opfer-Relationen darzustellen. Die überaus präsenten Dokumentarbilder von der Befreiung der KZs bilden in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings die Hintergrund- folie dieser durchlöcherten Repräsentationen. Schon in sehr früher Nach- kriegszeit wurden dagegen im Ausland Filme über den Nationalsozialismus gedreht, in denen sich sehr drastische Folterszenen vorfinden, wie Roberto Rossellinis ROMA, CITTÀ APERTA (1945) und der polnische OSTATNI ETAP (deutscher Verleihtitel: DIE LETZTE ETAPPE, Regie: Wanda Jaku- bowska, 1945), der von Auschwitz-Überlebenden gedreht wurde und stilbil- dend für den Holocaust-Film geworden ist. Die Scheu in deutschen Produkti- onen, Gewalt im Nationalsozialismus darzustellen, lässt sich übrigens bis heu- te konstatieren.152 Den deutschen Erinnerungsfilmen, die in der Phase der alliierten Lizenz- vergabe entstanden sind, ist immerhin zugutezuhalten, dass sie, bei aller Be- fangenheit ihrer Schöpfer, eine Reflexion der Vergangenheit versuchen. Die Regisseure stellten sich durchaus dem Anspruch, den die amerikanischen Kontroll-Offiziere an diese Filmprojekte formulierten: das Publikum „zum

150 Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm, S. 167. 151 Vgl. Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 78. 152 Vgl. Frank Bösch: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (2007), S. 1-32, S. 6.

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Denken zu bringen“.153 Terdiman hat, wenn auch für eine ganz andere historische Situation, festgestellt, dass der Verlust geschichtlicher Kontinuität eine Fixierung auf das Gedächtnis hervorbringt.154 Dem entspricht, dass der Rückbezug in den Filmen der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem in Form von Erinnerungssequenzen stattfindet. Offenbar gab es in der Vorstellung der Regisseure zwischen der NS-Zeit und der Gegenwart eine Trennung, die nicht so ohne Weiteres durch eine fortlaufende Chronologie negiert werden konnte.155 Bongartz macht wiederum nur an einem der Filme, LIEBE 47, eine der Mitscherlich-Thesen fest: dass die Vergangenheit in diesen Filmen derealisiert werde.156 Das ist, wie dargelegt wurde, in LIEBE 47 aber nur für die Erinne- rungen des heimgekehrten Beckmann der Fall und dieser Effekt kommt dadurch zustande, dass ein unfilmischer Stoff verfilmt wurde. Die „weib- lichen“ Erinnerungen der Anna Gehrke sind dagegen sogar realistischer dar- gestellt als die alptraumhafte Trümmerlandschaft der Gegenwart. Auch in ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN findet sich das genaue Gegenteil: Die Vergangenheit scheint hier der weitaus bewohnbarere „Ort“ als die Ge- genwart zu sein. Zutreffend ist diese Behauptung Bongartz’ eigentlich nur für die besagte verschwommene Rückblende in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS. Diese Beobachtungen lassen sich daher besser in dem Sinne verallge- meinern, dass in jedem Fall ein deutlicher Unterschied zwischen Vergangen- heit und Gegenwart dargestellt wird157: In der Vergangenheit scheint es sich um ein anderes Land gehandelt zu haben, insofern findet sich in den deutschen Filmen dieser Phase durchaus so etwas wie eine imaginäre „Stunde Null“. Auch die Regisseure amerikanischer „Trümmerfilme“ wie Jacques Tourneur (BERLIN EXPRESS [1947/48]), Billy Wilder (A FOREIGN AFFAIR [1948]) und Howard Hawks (I WAS A MALE WAR BRIDE [1949]) inszenieren übrigens eine Art „Stunde Null“. Sie zeigen Deutschland an einem Nullpunkt der Zivilisation: ein utopisches Niemandsland und anarchischer Freiraum, in dem die Bevölkerung verwildert wirkt und über den sich die rätselhaft-ornamentale Struktur des modernen Verwaltungsapparats der Alli- ierten legt. Unter den deutschen Regisseuren ist Staudte von Anfang an der Moralist und Mahner, der auf Kontinuitäten hinweist: Das beginnt bereits bei dem zum Biedermann gewendeten Kriegsverbrecher in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS. Unbequem wird der Regisseur, als er Ende der Fünfziger-, Anfang der

153 Kreimeier: Die Ufa-Story, S. 439. 154 S. Terdiman: Present Past, S. 5ff. 155 Zu einer radikal anderen Bewertung kommen Wolfgang Becker und Norbert Schöll (Becker/Schöll: In jenen Tagen …, S. 164). 156 S. Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse, S. 37. 157 Eine Ausnahme bildet die paranoid wirkende Fluchthaltung der Schauspieler in Käutners IN JENEN TAGEN, bei der man nicht umhin kann, sie auf die Gegenwart der Entstehungszeit zu beziehen.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 86 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT

Sechzigerjahre immer noch nicht von diesem Thema ablässt. In ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT kritisiert er die personelle Kontinuität im Justiz- sektor und stößt damit eine öffentliche Debatte an. 1961 schlägt sich dies im- merhin im Deutschen Richtergesetz mit der Bestimmung über den „Eintritt in den Ruhestand in Sonderfällen“ (§ 116 Richtergesetz) nieder.158 Das ist ein konkretes Beispiel dafür, dass das Kino als „Arena“ des kollektiven Gedächt- nisses159 dienen kann, statt den passiven Zuschauern nur Vorstellungen aufzu- zwingen (worin das Unbehagen an der Macht der filmischen Vergangenheits- darstellungen gründet). Das Beispiel ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT zeigt aber auch, wie anfällig Filme für alle möglichen Arten der Einfluss- nahme sind. Zunächst bedurfte es, nach Staudte, mehrerer glücklicher Zufälle, damit das Projekt überhaupt zustande kam, und während der Dreharbeiten be- kam er es erneut mit dem Bonner Innenministerium zu tun. Um das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland nicht zu gefährden, wurde er genötigt, eine Szene hinzuzufügen, die zeigt, dass es in diesem Land auch demokratische Richter gibt. Ironischerweise wurde diese Szene für das DDR-Kino wieder herausgeschnitten.160 In KIRMES formulierte er seinen Vorwurf der Kontinuität dann wahr- scheinlich zu allgemein, um sich damit viele Freunde zu machen.161 Auch hier stellt der frühere Ortsgruppenleiter skandalöserweise wieder den Bürger- meister, aber der Vorwurf, „buchstäblich eine ‚Leiche im Keller’“162 zu haben, ergeht an die ganze Dorfgemeinschaft, in der man unschwer einen Pars pro Toto der bundesrepublikanischen Gesellschaft erkennen kann. Obwohl die kommende Generation von Regisseuren es sich eben zur Auf- gabe machte, auf die Verbindungslinie zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik hinzuweisen, kam zwischen ihr und Staudte keine Beziehung zustande. Die Jungen sahen im Kino der Alten keine Tradition, an die man an- schließen konnte, und zu Recht oder zu Unrecht warfen sie die Regisseure der Kriegsgeneration alle in einen Topf,163 wie das übrigens auch für jene Schrift- stellergeneration der Fall war.

158 S. Garbe: Äußerliche Abkehr, Erinnerungsverweigerung und „Vergangenheitsbewältigung“, S. 709. 159 Ein Konzept Ricœurs, in dem er das Zwischenreich der „Übertragung“ in der Psychoanalyse, das Freud einmal die „Arena“ nannte, auf Jürgen Habermas’ öffentlichen Raum der Diskussi- on überträgt (s. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 117, 127). Es fällt leicht, hier- bei auch an das Kino zu denken, das für Heide Schlüpmann eine „Gegenöffentlichkeit“ dar- stellt, unter anderem weil es zu einem gesellschaftlichen Unbewussten tendiert (s. Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Basel/ Frankfurt a. M. 1990). 160 S. Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 71 u. Ludin: Wolfgang Staudte, S. 76f. 161 Ein ähnliches Motiv taucht auch in seinem letzten deutschen Kinofilm HERRENPARTIE (1964) wieder auf. 162 Ludin: Wolfgang Staudte, S. 80. 163 Vgl. Netenjakob: Ein Leben gegen die Zeit, S. 89ff.

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Abschließend will ich noch einmal zu der oft und bereits von Zeitgenossen festgehaltenen Beobachtung zurückkehren, dass in den westdeutschen Filmen von 1946 bis 1960 ein Rückzug ins Private und in eine Sphäre der Innerlich- keit festzustellen ist: Das soll bei allen Einwänden und Relativierungen generell nicht bestritten werden. Diese Tendenz ist es schließlich, die in dieser Phase die Ausbeute für die vorliegende Untersuchung so reichhaltig macht: Denn das Gedächtnis gehört, wie ich in Anschluss an Ricœur schon betont habe, zunächst einer Sphäre der Innerlichkeit an. Brandlmeier weist allerdings darauf hin, dass die neuen Formen von Innerlichkeit und Individualismus, in denen eine „Erneuerungstendenz bürgerlicher Werte“164 erkennbar ist, bereits seit Beginn der 1940er-Jahre festzustellen sind und dass es sich dabei nicht um ein deutsches Phänomen handelt. Seiner Ansicht nach ist der große Einschnitt nicht in einer „ominösen Stunde Null“ zu suchen, sondern in der Eskalation des Zweiten Weltkriegs. Er hebt besonders den amerikanischen film noir her- vor, der sich mit den deutschen Trümmerfilmen das Phänomen der komplexen Rückblendenstruktur teilt.165 Dasselbe gilt auch für die sogenannten biopics im Stile von CITIZEN KANE. Beispiele, in denen sich in der Nachkriegszeit Kriegserinnerungen verarbeitet fanden, sind THE DESERT FOX (Regie: Henry Hathaway, USA 1951) sowie Joseph L. Mankiewicz’ THE BARE- FOOT CONTESSA (1954), auf den ich noch zurückkommen werde. Denkt man aber auch an den französischen Poetischen Realismus, dann ist die Veränderung schon früher, spätestens Ende der 1930er-Jahre anzusetzen. Dass so raffinierte Zeitdarstellungen wie in Sacha Guitrys LE ROMAN D’UN TRICHEUR (1936) und Marcel Carnés LE JOUR SE LÈVE (1939) möglich werden, kann auch einfach auf eine technische Innovation zurückgeführt werden: Der Tonfilm hatte das Bild aus seiner Erklärungsfunktion und damit aus seiner narrativen Starre befreit.166 Pierre Nora diagnostiziert jedoch auch einen Wandel in den gesellschaftlichen Vorstellungen jener Zeit: Während in Spanien, Italien und Deutschland der Nationalismus eskalierte, äußerte sich die „Krise der Nation“167 in Frankreich und den USA filmisch darin, dass der Poetische Realismus und der film noir sich auf das Individuum vor dem Hin- tergrund düster und pessimistisch gezeichneter Milieus konzentrierten. In Deutschland schuf meines Erachtens Käutner 1945 mit UNTER DEN BRÜCKEN etwas Vergleichbares, indem er eine zarte Liebe darstellte, die in

164 Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer, S. 55. 165 Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer, S. 55f. Wie Turim hervorhebt, wurzelt der amerikani- sche film noir auch sehr stark im deutschen expressionistischen Stummfilm (s. Turim: Flash- backs in film, etwa S. 173). 166 Natürlich sind Stummfilmerzählungen wie etwa D. W. Griffith INTOLERANCE (USA 1916) oder Victor Sjöströms KÖRKARLEN (Schweden 1921) ebenfalls durch schwierige Zeit- konstruktionen gekennzeichnet, ohne jedoch jene Leichtigkeit zu besitzen, die erst der Ton- film möglich macht. 167 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1998, S. 18.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 88 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT einer überaus manifesten, harten Realität (aus der der Krieg allerdings völlig ausgeblendet bleibt) fast keinen Ort findet. Gegenüber dem film noir und den biopics der Vierzigerjahre ist das oscar- gekrönte amerikanische Kriegsheimkehrerdrama THE BEST YEARS OF OUR LIVES (1946) von William Wyler hingegen erstaunlich erinnerungslos in dem Sinne, dass die Erfahrungen der Heimgekehrten nicht durch Rück- blenden bebildert werden. Es geht darin vor allem um die Reintegration der zurückgekehrten Soldaten, von denen die Gesellschaft fordert, ihre Traumata zu überwinden und sich wieder den zivilen Anforderungen von Beruf und Fa- milie zu stellen. Nunnally Johnsons Verfilmung von Sloane Wilsons Roman The man in the gray flannel suit, in der es um dieselbe Problematik geht, zeigt zehn Jahre später dagegen die Kriegserfahrungen Tom Raths (Gregory Peck) auch in Rückblenden und räumt ihm damit, ganz physikalisch, mehr Zeit ein, um sie zu verarbeiten. Er übersteht die Krise gemeinsam mit seiner Frau (Jennifer Jones), die umgekehrt damit fertigwerden muss, dass er im Krieg ein Kind mit einer anderen gezeugt hat. TWELVE O’CLOCK HIGH, ebenfalls mit Gregory Peck, markierte 1949 bereits einen Wendepunkt in der filmischen Verarbeitung der Kriegserinne- rungen. Obwohl die Gegenwartsebene darin nur als Rahmenhandlung zu dienen scheint, handelt es sich nicht um ein konventionelles Fliegerdrama; vielmehr inszeniert der Regisseur Henry King eindringlich die schiere psy- chische Belastung und am Ende: die seelische Erschöpfung des Brigade- Generals Savage, gespielt von Peck. In der amerikanischen Produktion der unmittelbaren Nachkriegszeit fand sich hingegen angesichts der Katastrophe Europas anstelle von Erinnerungen ein Bewusstsein für die Krise der eigenen Gesellschaft. Der film noir zeigt sie als von Gewalt und Verbrechen durchzogen: Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs setzten sich die Gräuel darin in ähnlich gesellschaftlich unbe- wusster und nur auf einen anderen Schauplatz verschobener Weise fort, wie es in der Kultur der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. In dem Film DEAD RECKONING (1947) von John Cromwell, auf den ich noch näher eingehen werde, spielt Humphrey Bogart beispielsweise einen Kriegsheimkehrer, der im Verbrechermilieu nach den Mördern seines toten Kameraden fahndet. Bei den Rückblenden, die darin halluzinatorisch, im Mo- ment des Ohnmächtigwerdens, auftreten, handelt es sich um Kriegserinnerun- gen. Im Kino zeichnet sich der international feststellbare Rückzug ins Private nicht nur zuerst ab – es fällt dieser Tendenz auch zum Opfer. Seit Mitte der 1950er-Jahre beginnt der Siegeszug des Fernsehens als neues Leitmedium. Dieser gesellschaftliche Wandel erklärt aber auch, dass die aus den Zwanzi- ger- und Dreißigerjahren stammenden Überlegungen Kracauers und Benja- mins zu Massenkultur und Gedächtnis an Erklärungskraft für diese Filme ver-

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 89 lieren. An die Stelle eines Kinos des Schocks ist ein neurotisches Kino der Innerlichkeit getreten.168

1.7 Die DEFA-Produktionen

Die DEFA-Filme der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Fünfzigerjahre sind weniger von Auslassungen durchlöchert, setzen sich freimütiger mit dem Nationalsozialismus auseinander als die westdeutschen Produktionen. Ludin schreibt über Westdeutschland: „Von ‚Morituri’ (1948), einem gutgemeinten, aber untauglichen Versuch abgesehen, fand sich, bis 1955 Falk Harnacks ‚Der 20. Juli’ herauskam, unter den rund fünfhundert fertiggestellten und in den Kinos verbreiteten Filmen westdeutscher Provenienz nicht einer, der sich mit der Realität im Dritten Reich oder den im Namen des deutschen Volkes be- gangenen Verbrechen ernsthaft auseinandergesetzt hätte. Man überließ das Thema den östlichen Nachbarn, um es desto leichter als kommunistische Propaganda abtun zu können.“169 Zum einen war die sowjetische Bestatzungsmacht die erste, die wieder eine deutsche Filmproduktion förderte. Zum anderen musste in der jungen DDR auch keine nationale Identitätskrise von der Art ausgetragen werden wie in der jungen Bundesrepublik. Das neue Selbstbild des Staates wurde kurzerhand von außen auferlegt und dekretiert. Der Gründungsmythos, demzufolge die DDR der Staat der deutschen Antifaschisten war, die an der Seite der Sowjet- union die Hitler-Diktatur besiegt hatten, ermöglichte es, den Nationalsozialis- mus aus der eigenen Geschichte auszuklammern und allein als verbrecherische Abkunft der Bundesrepublik zu betrachten. Dieser Mythos stellte zwar die Pri- vatgedächtnisse vor ein Problem: Es hatte ja nur einen geringen Widerstand gegeben und so konnte diese Erzählung in der alltäglichen Kommunikation kaum zirkulieren.170 Für die Erinnerungskultur bedeutete es jedoch, dass Intel- lektuelle und Künstler, die auf einer Verarbeitung der Vergangenheit bestan- den, sich hier schneller und freier artikulieren konnten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit lag die Verantwortung zunächst bei den von vielen Künstlern als äußerst gebildet und liberal geachteten sowje- tischen Kulturoffizieren.171 Staudtes erster DEFA-Film, DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, den er noch während des Krieges konzipiert hat, ist, wie ge-

168 Vgl. Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm, S. 206. 169 Ludin: Wolfgang Staudte, S. 56. 170 S. Wolfrum: Die beiden Deutschland, S. 142ff. 171 S. etwa Kurt Maetzig im Interview mit Günter Gaus. In: Günter Gaus: Zur Person. Kurt Böwe, Albert Hetterle, Dieter Hildebrandt, Thomas Langhoff, Kurt Maetzig, Wolfgang Mattheuer, Claus Peymann, Willi Sitte, Katharina Thalbach, Berlin 1999, S. 11-27, S. 15.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 90 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT sagt, in einer Art Transitraum entstanden; er ist noch weitgehend frei von Ein- flüssen durch die Besatzungsmacht. ROTATION (1949), der zweite Film, in dem er sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, ist im Vergleich das reifere Werk, aus einer sichereren zeitlichen Distanz entstanden, aber auch schon konform mit der Vergangenheitspolitik des neuen Staates. Dem Regis- seur trugen zwei Szenen des Films dennoch Auseinandersetzungen mit den sowjetischen Kulturoffizieren ein, die auch die Erstaufführung verzögerten: In der einen kritisiert er die internationale Beteiligung an den Olympischen Spielen von 1936 (die Sowjetunion hatte nicht teilgenommen), was einem Deutschen zu dieser Zeit noch nicht zustand. Am Ende des Films lässt er außerdem die Protagonisten eine Hitlerjungen-Uniform verbrennen – eine Kritik an der Uniform und dem Militarismus im Allgemeinen, die ebenfalls nicht der Auffassung der sowjetischen Besatzer entsprach.172 Andererseits gibt er in Reinform die Idee wieder, die den neuen Staat be- gründen half: Im Mittelpunkt des Films steht ein Maschinenmeister (Paul Esser), der unter der NS-Herrschaft zunächst ein Mitläufer ist und dann zum politischen Widerstand bekehrt wird. Die Einnahme Berlins durch die sowjetische Armee wird für ihn buchstäblich zur beschworenen „Befreiung“: Die große Rückblende,173 die seine Geschichte erzählt, ist gerahmt durch Ein- stellungen, in denen er vor einer Zellenwand steht und seine Exekution er- wartet. Die Ankunft der russischen Soldaten rettet ihn in letzter Sekunde.174 Auch wenn die DEFA-Regisseure einerseits unter einem größeren Zwang standen, gewisse Narrative zu reproduzieren, die für das Selbstverständnis des neuen Staates konstituierend waren, genossen sie andererseits auch größere Freiheit: Ohnehin brauchten sie keine Vermarktungserwägungen zu üben, aber sie hatten auch mit einer geringeren Sensibilität des Publikums zu rechnen, das sich durch das antifaschistische Selbstverständnis des neuen Staates von vornherein entlastet fühlen175 und Kritik auf die Bürger des Nachfolgestaates des Faschismus, die Bundesrepublik, projizieren konnte. Während die westdeutschen Filme von Leerstellen durchlöchert sind, finden sich in diesen Filmen „Abschweifungen“ im Sinne Kracauers, die bei-

172 S. etwa Netenjakob: Staudte, S. 32f. 173 Trotz dieser Rückblende fasse ich ROTATION nicht als einen Erinnerungsfilm auf, wie sie in der vorliegenden Untersuchung im Mittelpunkt stehen, sondern als einen „Rückblicksfilm“ (vgl. auch Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse, S. 145ff.). 174 Zu den Bildern und Erzählungen des Gründungsmythos der DDR siehe Monika Flacke und Ulrike Schmiegelt: Deutschland. Demokratische Republik. Aus dem Dunkel zu den Sternen: Ein Staat im Geiste des Antifaschismus. In: Vom Kriegserleben zur Mythe. In: Mythen der Nationen, Arena der Erinnerungen, hg. v. Monika Flacke (Deutsches Historisches Museum), Berlin 2004, S. 173-202. Die beiden Autorinnen bestreiten allerdings, dass die DEFA je einen wirklichen „Befreiungsfilm“ gedreht hätte (s. S. 175), während ich ROTATION unbedingt als solchen ansehen möchte. 175 „Im neuen Deutschland war am 28. Februar 1948 in einem Artikel von Walter Ulbricht zu lesen, es komme nicht darauf an, was der einzelne in der NS-Zeit getan habe, sondern wo er heute stehe und wie intensiv er sich an dem demokratischen Aufbau engagiere“ (Flacke/ Schmiegelt: Deutschland. Demokratische Republik, S. 174).

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 91 läufig die wegschauende Haltung des Normalbürgers in der Nazi-Zeit fest- stellen. In ROTATION beobachtet die Familie des Maschinenmeisters Behnke einmal von ihrem Fenster aus eine Judendeportation. Die Frau (Irene Korb) wendet sich ruckartig ab, Behnke schickt seinen kleinen Sohn in sein Zimmer und zieht dann brüsk die Gardinen vor. In Maetzigs DIE BUNTKARIERTEN (1949), der Chronik einer Arbeiterfamilie, wird Guste (Camilla Spira), das weibliche Familienoberhaupt, mit ihrem Sohn (Kurt Liebenau) Augenzeugin, wie das Eigentum ihrer befreundeten jüdischen Nachbarn versteigert wird. Während Guste nach weiteren Erfahrungen öffentlich aufbegehrt und verhaftet wird, hat ihr Sohn es vorgezogen, sich mit dem Nationalsozialismus zu arran- gieren. Seine Mutter, die nur eine geringe Schulbildung genossen hat, aber instinktiv und ideologisch unverbildet „richtig“ denkt, überlebt allein mit ihrer Enkelin den Krieg. An das Mädchen, das nun als Erste der Familie in den Genuss kommt zu studieren, gibt sie ihre Erfahrungen weiter. Ganz der neuen Staatsräson entsprechend sind es in beiden Filmen die anti- faschistischen Widerstandskämpfer und die kommende Generation, auf denen alle Hoffnungen für die Zukunft ruhen. Dem korrespondiert übrigens der Schluss von ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN als westdeutscher Er- zählung: Bei allen problematischen Deutungen, die der Film durch seine Lückenhaftigkeit provoziert, sind es am Ende – wie oft auch bei Heinrich Böll – der Exilant, der definitiv nicht durch das Regime korrumpiert worden ist, und die jüngere Generation, die von Hildegard Knef repräsentiert wird, die für die Zukunft stehen. Auffallend ist auch, dass die Regisseure in der DDR für die eigene Geschichte andere, chronologisch durchgehende Vergangenheitskonstrukti- onen als die Erinnerung bevorzugten.176 Im Gegensatz zur BRD war es im Staat der Antifaschisten nicht notwendig, sich schamhaft von der Vergangen- heit abzugrenzen. Das änderte sich dann in den 1960er-Jahren (etwa: DAS ZWEITE GLEIS, 1962, Regie: Joachim Kunert), doch diese Filme blieben vereinzelt. Roland Gräf berichtete bei einem Kolloquium an der Ruhr-Uni- versität Bochum, am 3. Februar 2008, dass die Verantwortlichen seinen Film FARIAHO (1983) mit Lob für seinen künstlerischen Wert überhäuften, um ihn dann mit einer kleinen Anzahl von Kopien nur in den Kunstkinos laufen zu lassen. Der Film erzählt von einem fahrenden Puppenspieler, der das Kon- zentrationslager überlebt hat und in der Gegenwart versucht, die Erinnerung an die toten Opfer zu bewahren. In den 1950er-Jahren entstanden dagegen nur zwei Erinnerungsfilme, die auf eine Verstrickung der Gesellschaft der Gegenwart hinweisen; ihre Hand- lungen sind deshalb auch in Westdeutschland angesiedelt: ZWISCHENFALL

176 Vgl. Becker/Schöll: In jenen Tagen …, S. 147.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 92 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT

IN BENDERATH, 1956, Regie: János Viczi und DER PROZESS WIRD VERTAGT, 1958, Regie: Herbert Ballmann.177

VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT

Als Erinnerungsfilm, der sich auch auf die Gegenwart der DDR-Gesellschaft bezieht, stellt Kurt Maetzigs VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT (1957) in dieser Phase eine große Ausnahme dar; gleichzeitig ist der Film eines der wenigen Beispiele für eine Erinnerungskomödie. Die Filmkomödie tendiert normalerweise stark zur Physis des Menschen und seiner Umge- bung.178 Formen der Subjektivität und Innerlichkeit – wie die Erinnerung – sind ihr eher wesensfremd. Ihren reinen Ausdruck findet die Filmkomödie in der Tücke des Objekts im Slapstick. Aber auch spätere klassische Spielarten, die scheinbar mehr Gewicht auf den „geistigen“ Witz zu legen scheinen – wie der verbale Irrsinn eines Groucho Marx oder auch die rasanten Dialoge in den amerikanischen Screwball- und Zeitungs-Komödien der 1930er- und 1940er- Jahre – leben noch ebenso sehr von der Materialität der gesprochenen Sprache wie von ihrer witzigen Bedeutung. Der Hinweis erübrigt sich fast, dass im Tonfilm nicht wenige Komödienhelden stumm oder zumindest sehr schweig- sam geblieben sind: Man denke etwa an Harpo Marx und Jacques Tatis Monsieur Hulot. Es lassen sich bezeichnenderweise eher Beispiele für Erinnerungskomödien finden, die sich auf den Ersten Weltkrieg beziehen. Obwohl er die „Ur- katastrophe des 20. Jahrhunderts“ darstellt, hat die Erinnerung daran nie die sakralen Züge angenommen wie die an den Zweiten Weltkrieg mit seinen Massenmorden an Zivilisten.179 Beispiele für ein „komisches Gedenken“ an den Ersten Weltkrieg sind der Harry-Langdon-Film ALL NIGHT LONG (Re- gie: Harry Edwards, USA 1924) und Preston Sturges HAIL THE CON- QUERING HERO (USA 1944). In Sturges Film sind es sicher auch die Er- fordernisse des aktuellen Krieges, die es möglich machen, die Erinnerung an einen gefallenen Kriegshelden zur Komödie zu wenden und sie damit, wie in den meisten Produktionen um die Zeit des Zweiten Weltkriegs, für Propa- gandabotschaften zu instrumentalisieren. Gleich sechs Kriegshelden helfen darin einem wehruntauglichen jungen Mann (Eddie Bracken), seinen Ödi-

177 S. Elke Schieber: „Vergesst es nie – Schuld sind sie!“. Zur Auseinadersetzung mit dem Völkermord an den Juden in Gegenwartsfilmen der DEFA. In: Die Vergangenheit in der Gegenwart. Konfrontationen mit den Folgen des Holocaust im deutschen Nachkriegsfilm, hg. v. Deutschen Filminstitut (DIF), Frankfurt a. M. 2001, S. 36-47, S. 39f. 178 Wie Henri Bergson und Sigmund Freud schreiben, wird das Komische zunächst an der Physis von Personen gefunden. Das Seelische stellt sozusagen einen sekundären Bereich der Komik dar (s. Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Frankfurt a. M. 1988 u. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten [1905], Frankfurt a. M. 1992, etwa S. 201). 179 Vgl. Rüsen: Zebrechende Zeit, S. 145f.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 93 puskonflikt mit einem heldenhaft im Ersten Weltkrieg gefallenen Übervater auszutragen, indem sie an dessen Stelle treten. Stellvertretend für die US-Zi- vilbevölkerung wiederum findet der junge Mann nach dem erfolgreich über- wundenen Konflikt eine Rolle, in der er einen ehrenwerten Beitrag zum gegenwärtigen Krieg leisten kann. Im Gegensatz zu diesen früheren Filmen fügt sich die Filmerzählung Maetzigs und seines Drehbuchautors Kuba nicht ganz ins Komödiengenre,180 sondern es handelt sich viel eher um einen gelungenen Balanceakt zwischen der Erinnerung an ein Paar, das im KZ interniert war und an den Folgen der Haft gestorben ist, und einer Liebeskomödie, die in der Gegenwart spielt und in der die Tochter der beiden, die ins gesellschaftliche Abseits gedrängt zu werden droht, doch noch ihr Glück findet. Ungewöhnlich für das Genre der Komödie ist auch die Figurenanlage der Titelheldin (gespielt von Eva Maria Hagen): Sie trägt zu Beginn des Films alle Züge einer femme fatale. Sie ist verführerisch und dabei unschuldig, raffiniert und doch arglos. Die gesellschaftlichen Konventionen hat sie nicht inter- nalisiert, sondern folgt ihren Impulsen wie ein Kind. Der glamouröse Prototyp dieser Frauengestalten ist Lulu, wie sie Louise Brooks 1928/29 in Pabsts DIE BÜCHSE DER PANDORA181 verkörpert hat. Männer, die diesem Typ des un- schuldigen Vamps verfallen, steuern früher oder später in ihr Verderben, während diese Frauenfiguren selbst, die so wenig den gesellschaftlichen Er- wartungen entsprechen, normalerweise am Ende der Filmerzählung dafür be- straft werden. Bei der femme fatale handelt es sich um einen sexistischen To- pos, der unterschwellige Ängste vor Sexualität mobilisiert.182 Regisseure wie Pabst, Josef von Sternberg (neben DER BLAUE ENGEL [Deutschland 1930] auch THE DEVIL IS A WOMAN [USA 1935]), William Wyler (JEZEBEL, USA 1938) und King Vidor (BEYOND THE FOREST [USA 1949]) sympa- thisieren jedoch gleichzeitig mit ihren unangepassten Frauengestalten und üben dadurch eine indirekte Gesellschaftskritik. In VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT ist das alles jedoch nicht der Fall; noch dazu siedeln die Autoren die Erzählung im Alltag an, der von eher banalen Handlungen be- stimmt ist. Dieser Transfer macht aus dem normalerweise tragischen Stoff einen Komödienstoff. Es handelt sich außerdem um einen der wenigen gelungenen Versuche der DEFA auf diesem Gebiet.183 Die reinen Unterhaltungsproduktionen, die in den 1950er-Jahren in der DDR entstanden, hatten eher biederen Charakter und das Komische meist einen moralischen Unterton.184 In VERGESST MIR MEINE

180 Vgl. Ludmilla Kasjanowa, Anatoli Karwaschkin: Begegnungen mit Regisseuren. Kurt Maetzig, Günter Reisch, Joachim Hasler, Konrad Wolf, Berlin (DDR) 1974, S. 48. 181 Nach Frank Wedekinds Bühnenstücken Erdgeist und Die Büchse der Pandora. 182 S. Michael Töteberg: Fritz Lang, Hamburg 1994, S. 53. 183 Kasjanowa/Karwaschkin: Begegnungen mit Regisseuren, S. 48. 184 Vgl. Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse?, S. 180.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 94 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT

TRAUDEL NICHT vertreten die Autoren dagegen eine sehr unkonventionelle Moral, die dabei von einer entschiedenen Humanität geprägt ist. Der Film beginnt damit, dass Traudel aus einem Erziehungsheim wegläuft und von dem jungen Lehrer Wolfgang Auer (genannt „Kiepe“, gespielt von Günther Haack) fast mit seinem Motorrad angefahren wird. Nachdem sie ihn zum (unbewussten) Diebstahl eines Kleides angestiftet und ihn auch sonst in jeder Hinsicht zum Trottel gemacht hat, taucht sie in der Wohnung auf, die er sich mit dem Volkspolizisten Hannes Wunderlich (Fred Delmare) teilt, und findet dort Unterschlupf. Von da an sind die beiden Männer in Schwierig- keiten: Ihre klatschsüchtige Wirtin (Erna Sellmer) versucht herauszukriegen, wer das Mädchen ist, und die beiden tun ihr Bestes, um Traudel, die noch nicht einmal einen Personalausweis besitzt, legale Papiere zu verschaffen. Auch sonst kümmern sie sich rührend um sie: Dazu gehört auch, sie neu ein- zukleiden. Wie Bongartz schreibt, versucht aber niemand, Traudel pädago- gisch zu beeinflussen. Der Polizist, der sowieso etwas unbeholfen in seinem Beruf wirkt, ist alles andere als eine autoritäre Persönlichkeit.185 Er spielt Trau- dels Beschützer, und die beiden verlieben sich ineinander. Am Ende wird er ihretwegen aus dem Polizeidienst entlassen, geht aber ohne großes Bedauern in seinen Zivilberuf als Damenschneider zurück. Da der Film Traudels gesell- schaftliche Integration ständig an ihrer Kleidung thematisiert, scheint er damit nur noch besser geeignet zu sein, sich um sie zu kümmern. Maetzig war Mitbegründer des Filmaktivs, aus dem 1946 die DEFA hervor- ging. Er war einer der bedeutendsten Regisseure der DDR: 1954 Mitbegründer der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Babelsberg, wurde er dort zum Rektor und Professor für Filmregie. Er zeichnete einerseits für so berüchtigte Propagandastreifen wie die beiden THÄLMANN-Filme (1954 und 1955) ver- antwortlich; andererseits ist er mit seinem Film DAS KANINCHEN BIN ICH (1965) und der öffentlichen Selbstkritik, die er später geübt hat, zum promi- nentesten Zensur-Fall des 11. ZK-Plenums der SED von 1965 geworden. Den- noch scheint er in seiner politischen Haltung immer gleich und alles andere als ambivalent geblieben zu sein: In einem Interview mit dem Fernsehjournalisten Günter Gaus von 1993 erklärte er, dass er zwar durch den politischen Kurs, der seit 1948/49 eingeschlagen wurde, enttäuscht war, aber – wie so viele Künstler in der DDR – nie aufgehört habe, an die Idee eines demokratischen Sozialismus, eines „deutschen Weges“ und die Reformierbarkeit des Systems von innen heraus zu glauben. „Es ist nicht so eindeutig, daß auf der einen Seite eine schlimme Politik und auf der anderen Seite ein edler Mensch stand, der etwas anderes anstrebte. Ich habe in diesem Spannungsfeld zwischen den eigenen Zielen und den Verhältnissen gelebt.“186 Dass die Autoren in VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT die Na- zi-Verbrechen auf die sozialistische Gesellschaft der Gegenwart beziehen

185 Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse?, S. 183. 186 Maetzig im Interview mit Günter Gaus, S. 17.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access UNMITTELBARE NACHKRIEGSZEIT UND FÜNFZIGERJAHRE 95 können, ist dadurch möglich, dass sie grundsätzlich ein sympathisches Bild der DDR entwerfen, obwohl sie die Verhältnisse auch nicht für vollkommen erklären. Auch wenn Traudel aneckt und in Schwierigkeiten gerät, zeigen sie, dass sie nur hier Integration finden kann. Die bundesrepublikanische Gesell- schaft charakterisierten sie dagegen als oberflächlich und indifferent: Bei einer Einkaufstour im Westen Berlins schwatzen die Verkäuferinnen Traudel ein für den Alltag völlig untaugliches, billiges Abendkleid auf. In dem rücksichtslo- sen Straßenverkehr, der in diesem Teil der Stadt herrscht, gerät sie, die sie sich an keine Regeln halten kann – schon gar nicht an Straßenverkehrsregeln –, im wörtlichen Sinn fast unter die Räder. Ebenso passiv und zufällig wird sie in dem Abendkleid am Abend in eine Bar verschlagen, in der später Rock 'n' Roll getanzt wird. Ein paar Männer beginnen, sie hin und her zu stoßen und immer wieder über die Schulter zu werfen. Schließlich versucht Hannes in seiner Eigenschaft als Polizist, das grausame Spiel zu beenden. In der Stimmung, die von der „westlichen Jugendkultur“ aufgeheizt ist, besitzt er jedoch kaum Autorität und muss die Sache in einer Prügelei austragen, bis der Wirt endlich das Revier anruft und um Verstärkung bittet. Der Film suggeriert einen großen gesellschaftlichen Freiraum, in dem ein natürliches Wesen wie Traudel nicht durch Zwang angepasst werden muss, sondern liebevoll dahin gelockt werden kann, sich zu integrieren. In Bongartz’ Worten macht Maetzig ein „Naturrecht“ geltend, das noch vor dem kodi- fizierten Recht gilt.187 Hierbei tritt auch die Differenz dieser Mädchenfigur zu den mythischen femmes fatales zutage: Sie trägt nicht wie diese die Zerstö- rungskraft und das Chaos der Natur in sich, sondern ist nur ein Mädchen, das zu lieben man fast vergessen hätte. Dass sie hemmungslos lügt, stiehlt, ihre Reize ausspielt und sich an keine Regeln hält, liegt daran, dass sie nie die Zu- gehörigkeit zu einer Familie erfahren hat. Dafür findet sie in der Männer- Wohngemeinschaft von Kiepe und Hannes einen ungewöhnlichen Ersatz. Trotz der pikanten Situation und Traudels nymphenhafter Auftritte geht dort alles sehr unschuldig zu. In einer Sequenz waschen Traudel und Hannes die Wäsche, während sie, zum Kontrast, dabei die Moritat von einer Vergewalti- gung im Wald trällern, die eine Schwangerschaft zur Folge hat. Dass Traudel hierbei ihre Unterwäsche auf dem Balkon der Männer aufhängt, erregt vor allem die Fantasie der klatschsüchtigen Nachbarsfrauen, die vor Empörung in heftiges Gezeter ausbrechen. Es sind biedere Moral und Intoleranz, die die Autoren an der gegenwärtigen Gesellschaft, durchaus als eine Kontinuität, kritisieren. 1966 erzählt Alexander Kluge in ABSCHIED VON GESTERN (ANITA G.) aus bundesdeutscher Sicht eine ganz ähnliche Geschichte und gelangt seinerseits zu durch und durch pessimistischen Schlussfolgerungen, nicht nur

187 Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse?, S. 183.

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 96 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT für die heimische Bundesrepublik, sondern auch für die DDR.188 Auch seine Hauptfigur, Anita G. (Alexandra Kluge), ist „amoralisch“ angelegt: Sie lügt, klaut und versucht, wenig erfolgreich, sich von verheirateten Männern aus- halten zu lassen (die systemkonformen Männer der Bundesrepublik verfallen nicht mehr kopflos den Reizen eines gesellschaftlich unangepassten Natur- geschöpfs und riskieren damit ihre bürgerliche Existenz). Während Maetzigs Film mit der gelungenen Flucht Traudels aus dem Erziehungsheim beginnt, kommt Kluges Filmerzählung kurz nach ihrem Einsatz schon an einem End- punkt an: Anita hat an ihrem Arbeitsplatz, weil sie fror, unter anderem die Strickjacke einer Kollegin aus deren Spind entwendet und wird dafür von einem bundesdeutschen Richter (Hans Korte) zu Gefängnishaft verurteilt. Ihre Geschichte verläuft kreisförmig: Nach ihrer Haft zeigt der Film ihre fehlschla- genden Versuche, sich in die Gesellschaft zu integrieren, wobei sie weitere Bagatelldelikte begeht. Am Ende stellt sie sich selbst der Polizei – ihr drohen nun vier bis fünf Jahre Haft –, und bringt im Gefängnis ein Kind zur Welt, das ihr weggenommen wird. Ironischerweise wird ihr bei ihren Gefängnisaufent- halten, wie ein Ersatz für menschliche Wärme, jedes Mal eine Strickjacke zu- gestanden. Wie bei Traudel gibt es auch bei Anita handfeste biografische Gründe für ihre gesellschaftliche Unangepasstheit: 1937 geboren, durfte sie als Jüdin während der NS-Zeit die Schule nicht besuchen, ihre früheste Kindheitserin- nerung ist die Deportation ihrer Großeltern. Ihre Eltern, die das Lager Theresienstadt überlebt haben, sind nach dem Krieg nach Ostdeutschland zurückgekehrt, wo sie ihre Fabriken, die von den Nazis enteignet worden waren, zurückerhalten. Im Film wird Anitas Vorgeschichte nur fragmentarisch angedeutet und lässt sich durch die Literaturvorlage – ihre Geschichte gehört in Kluges Lebens- läufe189 – rekonstruieren. In der Verfilmung geht es hingegen weniger um die Entwicklung ihrer Person – auch wenn die Kamera sie ständig fokussiert – als um ihre Fähigkeit, eben aufgrund ihrer Lebensgeschichte und der daraus resultierenden „Deplatziertheit“, den Zustand der bundesrepublikanischen Ge- sellschaft zu registrieren. Kluge hat sie als „Seismographen“ bezeichnet, „der durch die Gesellschaft geht“, während er als Regisseur versucht, die Ausschlä- ge zu registrieren.190

188 Ich reduziere den Film an dieser Stelle weitgehend auf seine Spielfilmhandlung. Kluge hat ihm jedoch eine Form gegeben, die die Tendenz hat, diese Handlung – und damit die illusio- nistische, ideologische Dimension, die jeder Erzählung zueigen ist – zu zersetzen (s. die Ana- lysen von Miriam Hansen: Space of history, language of time: Kluge’s “Yesterday Girl” (1966). In: German Film and Literature: Adaptations and transformations, hg. v. Eric Rent- schler, New York/London 1986, S. 193-216 und Wenzel: Gedächtnisraum Film, S. 78-111). 189 Alexander Kluge: Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung [1962], Frankfurt a. M. 1980. 190 Alexander Kluge im Interview mit Enno Patalas und Frieda Grafe. In: Filmkritik 9 (1966), S. 487-491, S. 487.

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Im Gegensatz zu Traudel wird Anita zum Objekt mehrerer Erziehungsver- suche, während ihre Bedürfnisse, selbst die einfachsten und notwendigsten: nach Geborgenheit und einem Heim, unbefriedigt bleiben. Für Kluge ist von den beiden Nachfolgestaaten des NS-Systems einer wie der andere. In die Intimität einer „Bettszene“ dringt an einer Stelle des Films das Deutschland- lied aus dem Radio. Anita und der junge Mann (Peter Staimmer), mit dem sie geschlafen hat, singen mit und sie verfällt prompt in den Text der DDR- Hymne. Als die Filmerzählung beginnt, hat sie die DDR bereits hinter sich: Der Film spielt 1958, sie ist 1957 in die Bundesrepublik geflohen. Vor dem Richter sagt sie aus, sie habe dort Angst gehabt. Die Feindschaft, die die Sowjetunion seit Beginn des Kalten Krieges gegen Israel hegte, sorgte in den 1950er-Jahren in der DDR für ein Klima, in dem sich viele Juden so bedroht fühlten, dass sie in den Westen flohen.191 Zur Begründung ihrer Angst verweist Anita vor dem Richter diffus auf die Vergangenheit. Der tut das ab: „Ach, Sie meinen die bewussten [Vorfälle – B. N.] aus dem Jahre 1943/44? Das glaube ich nicht. Nach der Lebenserfahrung wirkt das bei jungen Menschen nicht nach.“ Anita muss sich in der westdeutschen Gesellschaft zurechtfinden, die glaubt, ihre Vergangenheit vollständig hinter sich gelassen zu haben, und nicht daran erinnert werden will. Die Erfahrungen, auf denen ihr gegenwärtiges Handeln gründet, liegen jedoch gerade in dieser Vergangenheit. Von dort rührt ihr Verfolgungstrauma her, aber dort liegt auch, was sie vermisst: die Ge- borgenheit in ihrem großbürgerlichen Elternhaus, das in beiden Teilen Nach- kriegsdeutschlands endgültig zu einer verlorenen Welt gehört. Die deutschen Gesellschaften der Gegenwart sind mit ihren pädagogischen Zwangsmaßnah- men und ihren Diskursen, die sich weit vom einzelnen Menschen entfernt haben, nicht in der Lage, sie mit ihrer Vergangenheit in sich aufzunehmen. Dass Maetzigs Film, auch in diesem Vergleich, nicht naiv, sondern an- rührend wirkt, verdankt sich der ungewöhnlichen Anlage des Erinnerungs- motivs. Es ist dort keineswegs die Gesellschaft der Gegenwart, die sich um die Opfer der Vergangenheit kümmert, sondern die Bewegung läuft in genau um- gekehrter Richtung: Es ist der Appell von Traudels toter Mutter, der dafür sorgt, dass ihrer Tochter in der Gegenwart nicht dasselbe Schicksal widerfährt wie Kluges Anita. Als Hannes aus den Polizeiakten erfährt, dass Traudel ge- sucht wird, dass sie wegen „unsittlichen Verhaltens“ aktenkundig ist und schon aus mehreren Erziehungsheimen hinausgewiesen wurde, will er sie

191 Das Gefühl von Bedrohung wurde im Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess in Prag akut, der einen großen Teil der führenden Mitglieder jüdischer Gemeinden dazu bewog, nach Westdeutschland zu fliehen. „Rudolf Slánský wurde unter dem Vorwurf, ein ‚imperialis- tisches Agentenzentrum’ gebildet zu haben, zum Tode verurteilt und Anfang 1953 hingerich- tet“ (Flacke/Schmiegelt: Deutsche Demokratische Republik, S. 188). In diesem Prozess wur- de auch Paul Merker belastet, der in der DDR zu den Spitzenfunktionären der SED gehörte und sich für Wiedergutmachung an den überlebenden Juden eingesetzt hatte. Er wurde als „Agent des amerikanischen Imperialismus und Zionismus“ verhaftet und kam erst 1956, im Zuge der Entstalinisierung, wieder frei (s. Flacke/Schmiegelt: Deutsche Demokratische Republik, S. 184).

Bettina Noack - 9783846749104 Downloaded from Brill.com09/30/2021 12:27:57PM via free access 98 DIE RESTAURATION DER INNERLICHKEIT eigentlich loswerden. Er ändert seine Meinung, als er erfährt, dass ihre Mutter im Konzentrationslager Ravensbrück interniert war. Traudel trägt einen Brief bei sich, den die Mutter dort geschrieben hat und der mit den dringenden Worten schließt: „Vergesst mir meine Traudel nicht!“ Die Vermieterin findet ihn, als sie ihre Sachen durchwühlt, und gibt die Information, im Glauben, das Mädchen damit bloßstellen zu können, an Hannes und die Polizei weiter. Im Präsidium macht man daraufhin Zeugen ausfindig, um die Identität von Traudels Eltern zu klären. Anders als es die Wirtin beabsichtigt hat, bewirkt sie damit, dass Traudels Foto von der Polizeiakte, die ihre dubiose Ver- gangenheit vermerkt, in einen echten Personalausweis wandert, der sie endlich zu einem „vollwertigen“ Mitglied der Gesellschaft macht. Benjamins Erinnerungskonzept aus den geschichtsphilosophischen Thesen erfährt in diesem Erinnerungsnarrativ eine erstaunliche Umkehrung. Es sind hier zunächst nicht die Lebenden, die die Kraft und die Fähigkeit haben, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und damit ihre eigene Gegenwart zu erlösen. Es ist vielmehr eine Frau, die um ihren nahe bevorstehenden Tod weiß und die, indem sie ihren Appell in eine unabsehbare Zukunft richtet, dafür sorgt, dass ihr Kind nicht zugrunde geht. Der Brief ist zwar an ihre Schwester gerichtet, aber mit ihrem Schlusssatz „Vergesst mir meine Traudel nicht!“ spricht sie eine diffuse Mehrzahl von Personen an. Durch ihre Wort- wahl „vergesst nicht“ legt sie außerdem nahe, dass es nicht nur darum geht, sich unmittelbar um Traudel zu kümmern, sondern sie räumt eine zeitliche Distanz ein. „Vergessen“ meint, etwas aus dem Gedächtnis verlieren oder nicht rechtzeitig daran denken. Durch seine Beziehung zum Gedächtnis ist das Vergessen, das sich auch darauf beziehen kann, etwas in der Gegenwart aus dem Bewusstsein zu verlieren, doch vor allem zeitlich konnotiert. In der Wortwahl der Mutter und ihrer Bitte, die Tochter nicht verloren zu geben, schwingt außerdem mit, dass sie selbst vergessen sein wird. Ihr Appell er- innert in seiner Struktur an das „Versprechen“, wie es Friedrich Nietzsche definiert hat: Er bezeichnet es als „Gedächtnis des Willens“, mit dem der Mensch sich herausnimmt, über die Zukunft zu verfügen und von sich selbst zu sagen, dass er „als Zukunft gut“ sein wird.192 Im Vergleich dazu ist der Appell von Traudels Mutter, die weiß, dass sie bald sterben wird, ein ohn- mächtiger Versuch, ebenso über die Zukunft zu verfügen. Es ist deshalb ein Wunder und ein Fall von Ricœurs und auch Benjamins „glücklichem Gedächt- nis“, dass sie trotzdem Gehör findet – die Unwahrscheinlichkeit wird an- gedeutet, indem der Brief mehrmals in falsche Hände fällt. Dass die Wirtin ihn arglistig instrumentalisieren will, ändert nichts an der guten Absicht und der Dringlichkeit der darin niedergeschriebenen Bitte. Indem der Brief Nach- forschungen veranlasst, bewirkt er außerdem, dass Traudels surreal an- mutenden Erinnerungen an ihre Eltern, die Hannes zunächst für bloße Fantasie hält, gerechtfertigt werden.

192 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 292.

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Die Autoren des Films hegen keine Illusionen darüber, dass die Gesell- schaft, die sie darstellen, ihre Vergangenheit vergessen hat. Sie unterziehen das aber keiner wirklichen Kritik, und auch ihre eigene Erzählung huldigt sehr stark dem Leben und dem gegenwärtigen Augenblick, wenn auch die Titel- musik des Films recht sentimental ist. Die Erinnerungskonzeption, die sie ver- treten, ist optimistisch und lässt an jene denken, für die Ricœur zur Jahr- tausendwende angesichts einer seit den 1990er-Jahren nicht enden wollenden „Tyrannei des Gedächtnisses“ (Pierre Nora) eingetreten ist: Er plädiert für die sorglose Selbstvergessenheit, das Vertrauen darauf, dass es ein verwahrendes Vergessen gibt und die Vergangenheit sich selbst erhalten kann.193 Der Optimismus Kubas und Maetzigs erscheint dagegen verfrüht und unan- gemessen angesichts der Vergangenheitspolitik des sozialistischen Staates, der die Schuldfrage verneint und tabuisiert hat194 und in dem es schon längst wieder neue Verfolgung von Dissidenten gab. Ungewöhnlich ist denn auch die Opfergruppe, um die sich der Film dreht: Während in der DDR hauptsächlich der politischen Opfer gedacht wurde, sind Traudels Eltern wegen „Rassenschande“ interniert worden – ihr Vater, so mut- maßen die Zeugen, war Pole oder Tscheche. Es handelte sich hierbei für die Autoren wahrscheinlich um eine neutrale Opfergruppe, denn nach dem Slán- sky-Prozess und dem Ärzteprozess in der Sowjetunion wurde der ermordeten Juden zunächst nicht mehr gedacht.195 Maetzig, dessen jüdische Mutter durch die Verfolgung des NS-Regimes in den Selbstmord getrieben wurde, muss sich der „Verdrängungspolitik“ der DDR sehr bewusst gewesen sein. Der Film bekundet die Überzeugung der Autoren, die das Projekt gegen Widerstände durchgesetzt haben,196 dennoch im richtigen System zu leben, und ihre Hoff- nung, die Menschen darin könnten die Verhältnisse zum Besseren wenden.

193 S. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 775f. 194 S. Flacke/Schmiegelt: Deutsche Demokratische Republik, S. 187. 195 S. Anmerkung 191 in diesem Kapitel u. Schieber: Vergesst es nie – Schuld sind sie“, S. 38. 196 S. Bongartz: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse?, S. 183

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