Hausmitteilung 16. September 2013 Betr.: Steinbrück, Stewardessen, „Dein SPIEGEL“ weimal schaffte es Peer Steinbrück, SPD-Kanzlerkandidat, in den vergangenen ZMonaten auf den SPIEGEL-Titel: im Oktober 2011, als ihm Altkanzler Helmut Schmidt („Er kann es“) Amtstauglichkeit attestierte; erneut im Januar 2013, als ein Team von Redakteuren um SPIEGEL-Autor Dirk Kurbjuweit der Frage nachging, warum Steinbrück so viele Fehler macht. Kurbjuweit kennt den Kandidaten seit rund zehn Jahren, er war dabei, als Steinbrück vor drei Jahren zu erkennen gab, dass er sich eine Kandidatur vorstellen könne, er war auch dabei, als Schmidt ihn später zum geeigneten Kandidaten ausrief. Kurbjuweit beobachtete Steinbrück im Wahljahr bei einigen Dutzend Terminen, er schrieb kritisch darüber, das hatte Fol- gen: Anfang August ließ Steinbrück ausrichten, dass er Kurbjuweit nicht mehr zu Vier-Augen-Gesprächen empfangen werde, da „eine Beeinflussung nicht zu erwar- ten ist“. Kurbjuweit nahm den Satz als Aus- zeichnung. Sechs Tage vor der Bundestags- wahl widmet der SPIE- GEL Steinbrück nun erneut eine große Ge- schichte, diesmal geht es um seine charakter-

liche Eignung für das WEISS / DER SPIEGEL MAURICE Amt (Seite 30). Kurbjuweit SPIEGEL-Titel 43/2011, 2/2013

ährend die Lufthansa ein Sparprogramm nach dem anderen beschließt, will Wdie arabische Fluggesellschaft Emirates in den nächsten Jahren kräftig wachsen. Derzeit sucht sie Tausende neue Flugbegleiter, allein in diesem Jahr rund 3800 – per Casting, offen für jeden, der mindestens 21 Jahre alt ist und Abitur hat. Die SPIEGEL- Redakteurinnen Dinah Deckstein und Ann-Kathrin Nezik wollten wissen, wie solche Castings ablaufen, deshalb gab sich Nezik in Stuttgart als Bewerberin aus. Schon in der ersten Runde musste sie nachweisen, dass sie mindestens 2,12 Meter hoch greifen kann (und im Notfall an die Ausrüstung herankommt) und keine sichtbaren Täto- wierungen hat; später wurde sie unter anderem gefragt, ob sie bereit sei, jederzeit Alkohol zu servieren, auch während des Fastenmonats Ramadan. Immerhin: Die SPIEGEL-Redakteurin schaffte es in die letzte Runde in Deutschland (Seite 82).

ernfrust, Konflikte mit Mitschülern, Lustlosigkeit: LEin Viertel aller Kinder fühlt sich in der Schule un- wohl. „Dein SPIEGEL“, das Nachrichten-Magazin für Kinder, beschreibt in der Titelgeschichte, wie wichtig Klassenklima und eigene Motivation im Schulalltag sind. Vom Bekämpfen der Prüfungsangst bis zum Umgang mit Lehrern gibt das Heft Tipps für mehr Spaß am Schul- alltag. Beantwortet wird auch die Frage nach der Rolle der Eltern: Wie viel Einmischung ist zu viel? Außerdem: Kinder-Reporter befragen Peter Wesjohann, Chef von Wiesenhof, Europas größter Geflügelschlachterei. „Dein SPIEGEL“ erscheint an diesem Dienstag.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Bundestagswahl bereits am Samstag, dem 21. September, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de DER SPIEGEL 38/2013 7 In diesem Heft

Titel Warum die Mode des Nichtwählens die Demokratie gefährdet ...... 20 Die Schwächen des Wahl-O-Mat ...... 24 In sozialen Brennpunkten gehen oft nur halb so viele Bürger zur Wahl wie in bürgerlichen Vierteln ...... 28 Serie Wahl-Spezial (Teil 7): Der seltsame Ironie-Wahlkampf des Peer Steinbrück ...... 30 Wie SPD-Chef Sigmar Gabriel um seinen Posten ringt ...... 37 Deutschland Panorama: Mitglied des SPD-Kompetenzteams kassierte doppelte Bezüge / Unionspolitiker wollen Waffenexport steigern / NPD klagt gegen Bundespräsidenten ...... 15 Grüne: Spitzenkandidatin Göring-Eckardt stemmt sich gegen das Umfragetief ...... 40 Karrieren: Arbeitsministerin von der Leyen wirbt um die Gunst ihrer Partei ...... 42 Linke: Sahra Wagenknecht kopiert im Wahlkampf erfolgreich die Methoden Oskar Lafontaines ...... 44 Ein Mann fürs Grobe Seite 30 Verteidigung: Interne Dokumente belegen Peer Steinbrück reckt den Mittelfinger, er ist unbeherrscht, aggressiv und Defizite von Bundeswehr-Waffen ...... 46 narzisstisch. Manchmal tritt er eher wie ein Proll und nicht wie ein Kanzler- Justiz: Eine Berliner Anwältin will im kandidat auf. Könnte Deutschland ruhig schlafen, wenn er regieren würde? Gerichtssaal ein Kopftuch tragen ...... 49 Bildung: Mehr Wertschätzung, weniger Drill – im SPIEGEL-Gespräch fordert der Kinderarzt JOHANNES EISELE / AFP und Autor Remo Largo bessere Lehrer ...... 54 Geheimdienste: Der Ex-Vize des Verfassungs- schutzes Alexander Eisvogel rechnet in einem Brief mit der Behörde ab ...... 61 Kein Freak, nirgends Seite 40 Schleswig-Holstein: Kiels Oberbürger- Die grüne Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt soll im Wahlkampf bürgerliche meisterin Gaschke erließ einem Unternehmer fast vier Millionen Euro Schulden ...... 62 Wähler gewinnen – als Gegenpol zum Parteilinken Jürgen Trittin. Religion: Die „Zwölf Stämme“ haben offenbar Doch der Plan könnte scheitern. Die Umfragewerte der Grünen sinken. mehrere Kinder nach Tschechien gebracht, um sie dem Zugriff der Behörden zu entziehen ... 64 Strafjustiz: Heidi K. in Darmstadt wegen Freiheitsberaubung verurteilt ...... 66 Gesellschaft NSA späht die Finanzwelt aus Seite 80 Szene: Warteschlangen vor einem Ärztehaus in Gera / Wie können wir den Syrern helfen? .... 68 Der amerikanische Geheimdienst NSA schneidet auch Teile des internatio- Ein Video und seine Geschichte – wie es nalen Zahlungsverkehrs mit. Im Visier sind Banken und Kreditkartenfirmen, ein 96-jähriger Amerikaner mit einem Lied die Informationen fließen in eine riesige Datenbank. in die Charts brachte ...... 69 Ressentiments: Menschen mit ausländischen Wurzeln schildern ihren deutschen Alltag ..... 70 Homestory: Ein junger FDP-Kandidat versucht, im linken Berliner Osten zu punkten ...... 76 Wirtschaft „Wie ist es mit Trends: Verbraucherschützer warnen vor steigenden Mobilfunkkosten / Bedroht Giftmüll in NRW das Grundwasser? / Drogen?“ Seite 70 Regierung will weiteren Mindestlohn ...... 78 Deutschland redet wieder Spionage: Der US-Geheimdienst NSA späht auch Banken und Kreditkartendaten aus ...... 80 über den Rassismus: In Luftfahrt: Wie Emirates den Rivalen Lufthansa Berlin wurden Asylbewerber mit Stewardessen-Castings demütigt ...... 82 bedroht, in der Gemeinde Reklame: SPD und Grüne haben Probleme Rackwitz wehren sich Bürger mit ihren Öko-Wahlplakaten ...... 84 dagegen, Flüchtlinge in ih- Konzerne: Energieriesen wie E.on und RWE fehlt rem Ort unterzubringen. Auf es an Gewinn und Ideen für die Zukunft ...... 85 Twitter wird über Fremden- Wie sich die FDP von der Solarlobby dirigieren ließ ...... 88 hass debattiert. Wie erleben Manager I: Die Machtdemonstration Menschen mit ausländischen des Ferdinand Piëch ...... 90 Wurzeln ihren deutschen Manager II: Der Machtverlust Aziza Janah Alltag? 15 von ihnen schildern

des Josef Ackermann ...... 91 BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL ihre Erfahrungen.

8 DER SPIEGEL 38/2013 Medien Trends: Datenschützer Johannes Caspar über die Fingerabdruck-Erkennung des neuen iPhone / ZDF plant weitere Krimi-Reihe ...... 93 TV-Nachwuchs: Jan Böhmermann und andere frische Fernsehgesichter machen in der Nische das überraschendere Programm ...... 94 Ausland Panorama: Wurde Femen von der Regierung in Kiew unterstützt? / Was die Verschärfung der Zensur für chinesische Blogger bedeutet ... 98 Nahost: Warum ausgerechnet Wladimir Putin im Syrien-Konflikt vermitteln will ...... 100 Kommt Teheran im Atomstreit auf den Westen zu? ...... 102 Amerikas Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld lästert im SPIEGEL-Gespräch über Obamas Schlingerkurs ...... 105 Frankreich: Paris scheitert mit Reformplänen 108 Indien: Menschenhändler verkaufen Kinder im „Rainbow Home“ Kindersklaven an Fabriken und Bordelle ...... 116 Global Village: Der Niedergang eines Londoner Clubs zeigt das Ausmaß der britischen Krise ...... 120 Befreit aus der Sklaverei Seite 116 Sport In Indien arbeiten Millionen Kinder als moderne Sklaven in Haushalten, Nähe- Szene: Ulrike Ballweg, Co-Trainerin der reien, Bordellen. Eltern verkaufen ihre Mädchen, Menschenhändler sammeln deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft, über Testspiele gegen junge Männer / Lionel Waisen ein. Einige finden Schutz im „Rainbow Home“ von Bangalore. Messis Ärger mit spanischen Steuerbehörden ... 121 Autorennen: Warum viele Formel-1-Teams

ANNE BACKHAUS / DER SPIEGEL ANNE BACKHAUS um ihre finanzielle Existenz bangen ...... 122 Sportdiplomatie: Der Inner Circle des neuen IOC-Präsidenten Thomas Bach ...... 124 Ratschläge eines Kriegsherrn Seite 105 Wissenschaft · Technik Prisma: Raumsonde auf dem Weg Donald Rumsfeld ist ein harter Krieger: Im SPIEGEL-Gespräch wirft Amerikas zur Zwergsonne / Mehr Testosteron im Blut Ex-Verteidigungsminister nun Barack Obama Zaudern im Syrien-Konflikt vor. durch Holzfällen ...... 126 Und Putin als Vermittler nennt er einen „Fuchs im Hühnerstall“. Tierschutz: Löwenwurst und Gorillasteak – Gentests sollen den illegalen Handel mit Buschfleisch stoppen ...... 128 Medizin: Die Gynäkologin Julia Bartley über die unsinnige Rezeptpflicht für die „Pille danach“ ...... 131 Ärzte wollen „Pille danach“ freigeben Seite 131 Geschichte: Wie die Entdeckung Amerikas zur Globalisierung von Tieren, Pflanzen Je schneller die „Pille danach“ eingenommen wird, desto besser verhindert und Mikroben führte ...... 132 sie ungewollte Schwangerschaften. Ärzte fordern deshalb, die zeitraubende Automobile: Chinesen retten das Rezeptpflicht abzuschaffen – wie in anderen europäischen Ländern auch. London Taxi ...... 135 Kultur Szene: Gangsta-Rapper Bushido als Anti- Sarrazin / Insolvenzrechtler Philipp Fölsing über den Suhrkamp-Streit ...... 136 Bürgerrechte: Der Schriftsteller Sir Simons Ferdinand von Schirach über die Rechtsbrüche westlicher Regierungen ...... 138 Literatur: US-Autor James Salter – Abschied Seite 150 vom Kriegspiloten zum Romancier ...... 142 Kino: Das Filmdebüt des Anfang des Jahres hatte „Sopranos“-Erfinders David Chase ...... 146 Simon Rattle, Chefdirigent Klassik: SPIEGEL-Gespräch mit der Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle, dem seit 2002, seinen Rückzug Chef der Berliner Philharmoniker ...... 150 angekündigt. Im SPIEGEL- Bestseller ...... 153 Gespräch äußert er sich nun Konzertkritik: Die US-Band The Milk Carton über seine Erfahrungen mit Kids feiert die Wiedergeburt der Folkmusik ... 154 dem selbstbewussten Orches- Briefe ...... 10 ter und über die Gründe Impressum, Leserservice ...... 158 für seinen Abschied: „Es ist Register ...... 160 vielleicht für beide Seiten an Personalien ...... 162 der Zeit, ein anderes Leben Hohlspiegel / Rückspiegel ...... 164

zu führen.“ / CARO WAECHTER Titelbild: Illustrationen Jason Seiler für den SPIEGEL

DER SPIEGEL 38/2013 9 Briefe

wären zufriedengestellt. Aber Angie, An- gie, sag nicht, wir hätten’s nicht versucht. Angie, du bist schön, doch es wird Zeit, „Man soll doch nicht alles Abschied zu nehmen (Originaltext der schlechtreden. Frau Merkel hat Rolling Stones)! Fazit: Die Berühmtheit mancher Zeitgenossinnen lässt sich nur mit das Problem gelöst, wie man der Blödheit ihrer Bewunderer erklären. INGRID ZEITRAEG, BERLIN auch im Stehen die Hände in den Sie stellen mit Recht den lauen Wahl- Schoß legen kann. Immerhin!“ kampf an den Pranger und suchen den Schuldigen. Aber wo hat es das schon gegeben, dass ein Verteidiger sich selbst DR. RAINER PAUL, WIESBADEN angreift? Sturm im Wahlkampf ist Sache SPIEGEL-Titel 37/2013 der Opposition. ERHARD WIEGAND, HERBSTEIN (HESSEN)

Nr. 37/2013, Die Kanzlerin verweigert sich Grau mit Symbolen der Firmen, die im Wahlkampf einer Debatte über von ihren Regierungsentscheidungen Nr. 36/2013, SPIEGEL-Gespräch mit die Zukunft des Landes – aus Furcht vor be sonders profitieren. Beispiele: Waf - Gesundheitspolitiker Karl dem Wähler fenlieferanten, die Automobilindustrie, Lauterbach über das schwierige Verhält- Hotelbetreiber. nis von Politik und Intelligenz Angie, Angie OLAF WROBEL, RHEINE (NRW) Erkläre mir einer die Beliebtheit dieser Selten bis gar nicht habe ich eine lang- Näselnder Langweiler Frau bei den Deutschen! Ich raufe mir die weiligere Titelgeschichte gelesen. Man Ach, wie unendlich wohltuend dieses Haare und frage mich, was Frau Merkel könnte meinen, Sie hätten sich während Interview mit einem in der Tat intelligen- hat, was ich nicht sehe. Wo sind Emo - der Recherche bei der Kanzlerin ange- ten, klugen Politiker, der auch noch selbst- tionen, Biss, Klarheit und Prägnanz, Per- kritisch ist und aus seinen Erfahrungen spektiven, eine philosophische Ausrich- gelernt hat – wann hat man das bei Poli- tung ihres Handelns? Wo brennt ein Feu- tikern? Keine Klischees, kein Wortge- er, das mich ergreift? Ich möchte regiert schwurbel, wunderbar. Ihre Interviewer und nicht verwaltet werden. hätten sich die dämlichen Fragen zu Pinot WILHELM STAUCH-BECKER, STUTTGART Grigio und Bundeskanzler-Einkommen sparen können, insbesondere die zur Wie kann von Entfremdung die Rede Gleichsetzung von Intelligenz und Arro- sein, wenn Frau Merkel auf der Beliebt- ganz. Aber sicherlich sind auch SPIEGEL- heitsskala ganz oben rangiert? Wenn Redakteure lernfähig. Merkels herausragende Stellung in der SABINE JUSZCZAK, KÖLN CDU gemeint ist: Die meisten ihrer Ri- valen haben sich selbst verabschiedet, wie Danke für das tolle Interview. der SPIEGEL richtig feststellt. Und wenn Internet-Persiflage auf ein CDU-Wahlplakat MATTHIAS POIT, HEMMOOR (NIEDERS.) es um die Themen im Wahlkampf geht, kann doch jede Partei ihre Akzente set- steckt. Oder es ist ein letzter, verzweifel- Drei kostbare SPIEGEL-Seiten banalen zen und Angela Merkel zu entsprechen- ter Versuch, Wahlkampf für die andere Inhalts für den stets oberlehrerhaft nä- den Reaktionen zwingen. Seite zu machen. Mein Beileid zu diesem selnden Langweiler der Nation, Prof. Dr. HARTWIG WISCHENDORF, SCHWERIN Unterfangen, denn Sie haben mit ihm Dr. Karl Lauterbach, das ist zu viel. Prof. lediglich die potentiellen Nichtwähler Lauterbach hat meines Wissens keine Das Thema ist ein ganz anderes: Wollen gestärkt. Erfahrungen in der praktischen Tätigkeit wir eine Mehrheit, die alles fordert, die CHRISTIAN , MÜLHEIM AN DER RUHR mit Patienten, wird aber immer als alles verspricht und alles verändern will, „Gesundheitsexperte“ gehandelt. Bei sol - oder wollen wir Menschen wie Frau Mer- Unglaublich, welchen schleichenden chen „Experten“ im Kompetenzteam von kel, die innerlich gefestigt ist, die real Wahlkampf der SPIEGEL seit Wochen Peer Steinbrück wundern mich dessen denkt, die real handelt, die uns nach vorn gegen Steinbrück und für Merkel führt! Umfrage werte nicht. bringt, die unser Ansehen stärkt? Seitenweise Fotos mit Merkels fiesem Lä- PROF. DR. MED. HANS-EGBERT SCHRÖDER, HUGO KOHL, LEIWEN (RHLD.-PF.) cheln, begleitet von lobenden Kommen- DRESDEN taren. Auf einer der letzten Seiten, wenn Über das äußerst gelungene Titelbild der Leser schon die Lust am Weiterlesen Normalerweise werden Politiker in „Angela die Große“ habe ich lange ge- verloren hat, stehen dann ein paar un- SPIEGEL-Interviews immer gegrillt. schmunzelt. Meisterhaft! sympathische Wahrheiten über ihre Tak- Nicht so Prof. Lauterbach. Und in seiner JÜRGEN HINRICHS, LÜGDE (NRW) tik. Das Foto mit Putin soll wohl alles Bürgersprechstunde gibt er medizini- Gesagte wieder ins rechte Licht rücken? schen Rat. Was will er den Leuten raten? Angela Merkel in dieser Aufmachung als HEILWIG DUWE-PLOOG, GROSSENSEE Er hat keine Facharztweiterbildung, keine Titelbild – musste das denn sein? Erfahrung in Klinik oder Praxis, sein ROSWITHA GRUBER, HANNOVERSCH MÜNDEN Oh Angie, Angie, wann werden all diese Staatsexamen liegt viele Jahre zurück. Wolken verschwinden? Angie, Angie, Jeder Medizinstudent im Examenssemes- Frau Merkel hat nicht verdient, eine wohin wird es uns nun führen? Ohne ter weiß vermutlich mehr als er über Schärpe in den Farben der Deutschland- Liebe in den Seelen, ohne Geld in den praktische Medizin. flagge zu tragen. Besser wäre eine in Taschen. Du kannst nicht sagen, wir DR. MED. BURCKHARD SCHÜRENBERG, SCHLESWIG

10 DER SPIEGEL 38/2013 Briefe

Nr. 36/2013, Hohe Beiträge ihrer privaten die Abstimmung im Europaparlament Krankenversicherung belasten Senioren zur Tabakproduktrichtlinie verschoben. Offensichtlich war deren Lobbyaktivität im Gesundheitsausschuss noch nicht Übergebührlich privilegiert erfolgreich genug, um auch diesen Aus- Ein „Subventionsgesetz“ nach Daniel schuss den Interessen der Industrie Bahr für die privaten Krankenversiche- dienlich werden zu lassen. Bitte machen rungen (PKV) zu Lasten der gesetzlichen Sie weiterhin den Einfluss der Lobby Krankenversicherungen (GKV) kann und transparent! darf es nicht geben. Die PKV haben schon DR. MARTINA PÖTSCHKE-LANGER, HEIDELBERG heute eine Tarifstruktur, die die jüngeren DEUTSCHES KREBSFORSCHUNGSZENTRUM Menschen übergebührlich privilegiert und die dafür bei den älteren Menschen Bei der Änderung der Tabakproduktricht- unverhältnismäßig „absahnt“ – das lässt linie wurde vor lauter Verbotswahn das sich eindeutig nachweisen. eigentliche Ziel, der Nichtraucherschutz, ROLF SCHNIEDERMANN, BONN aus den Augen verloren. Solange über Prozentchen bei der Größe der Warn- Ich kann es nicht mehr hören. Immer wie- hinweise oder die Dicke ihrer Umrandun- der Artikel über kaum bezahlbare Kosten gen gestritten wird, kann es kaum um die in der privaten Krankenversicherung, be- Gesundheit der Bürger gehen. Hier geht sonders bei alten Menschen. Und keiner es einzig und allein um wirtschaftliche dieser Versicherten beschwert sich dar- Inter essen. über, dass er jahre-, wenn nicht jahrzehn- RALF SCHRIENEWERK, SEELAND (SACHS.-ANH.) telang niedrigere Beiträge als in der ge- setzlichen Krankenversicherung zahlen musste. Mein Vorschlag: Privatversicherte Nr. 36/2013, SPIEGEL-Gespräch mit sollten nachzahlen, was sie in ihrer Zeit dem Schriftsteller Lawrence Wright über bei der PKV gespart haben, und dann als die Macht von Scientology Normalversicherte in die GKV wechseln. JÜRGEN SCHMIEDESHOFF, MÜNSTER Gesellschaftliche Gefahr Herr Wright hätte jederzeit die Möglich- Nr. 36/2013, Die Tabakindustrie bekämpft keit gehabt, mit Vertretern der Sciento- ein in Brüssel geplantes logy-Kirche zusammenzuarbeiten. Er hat Gesetz für mehr Nichtraucherschutz es allerdings vorgezogen, bei seiner Re- cherche auf die Aussagen von ehema- ligen Scientologen, die jeweils ihre eige- Prophetische Züge ne Agenda verfolgen, zurückzugreifen, Renate Sommer kämpft nicht für die und so hat er sich zum Steigbügelhalter Zigarettenindustrie, sondern gegen den dieser Apostaten gemacht. Teilweise Regulierungswahn der EU, die alles über waren sie bei Scientology nur passive einen Kamm scheren will. So geht es Mitglieder ohne Kenntnisse über die Ent- nicht nur darum, dass man den Rauchern wicklungen und Fortschritte der Kirche in der jüngsten Zeit. Einer hat ausgesagt, eine Vielzahl seiner Geschichten gegen Bares, teilweise für bis zu 10 000 Dollar, verkauft zu haben. Jeder kann sich heute auf unseren Websites selbst informieren. Die Beurteilung einer Gruppe allein auf- grund von Aussagen von Ehemaligen wird den Millionen von Zufriedenen nicht gerecht. FRANK BUSCH, HAMBURG

RAINER HACKENBERG / PICTURE ALLIANCE / DPA / PICTURE HACKENBERG RAINER SCIENTOLOGY HAMBURG Zigarettenpackungen mit Schockfotos Das strategische Ziel von Scientology den geliebten Glimmstängel vergällen ist es, die Welt zu erobern. Und das will, sondern auch darum, dass man geht nur über die Familien und die durch entsprechende Regulierungen die In dividuen. Somit ist Scientology keine weitaus weniger schädliche E-Zigarette persönliche Gefahr mehr, sondern eine faktisch gleich mitverbieten will. gesellschaftliche. DIRK LORENZ, FÜRTH RAINER HÜCK, KÖLN

Vielen Dank für den Artikel, der ge- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek- radezu prophetische Züge aufweist, denn tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: leider ist in der Woche seines Erschei- [email protected] nens genau das eingetreten, was Sie In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet berichteten: Auf massiven Druck der sich im Mittelbund ein zwölfseitiger Beihefter der Firma Tabak- und E-Zigaretten-Lobby wurde Peek & Cloppenburg (P&C).

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Panorama Deutschland

BUNDESTAGSWAHL Stoppen kleine Parteien Schwarz-Gelb?

Der Friedrichshafener Politologe Joa- chim Behnke hält in der kommenden Legislatur einen Bundestag mit mehr als 675 Abgeordneten für möglich (sie- he Grafik). Dass das Parlament so groß werden könnte wie nie zuvor, liegt an der jüngsten Änderung des Wahlrechts: Wegen des Zusammen- spiels von Erst- und Zweitstimme fal- len bei den größeren Parteien soge- nannte Überhangmandate an; um den Parteienproporz wiederherzustellen, sieht das neue Wahlrecht dann zusätz- liche „Ausgleichsmandate“ vor. Wenn keine neue Partei – etwa AfD oder Pi- raten – in den Bundestag einzieht, so hat Behnke zudem errechnet, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine schwarz- gelbe Mehrheit bei etwa 60 Prozent. Falls mindestens eine weitere Partei ins Parlament käme, wäre eine Fortset- zung des jetzigen Regierungsbündnis- ses dagegen nahezu ausgeschlossen. Machnig MARCO-URBAN.DE Berechnung der CDU-Überhangmandate und der Sitzgröße des neuen Bundestags MINISTER

SZENARIEN Erwartete Erwartete Überhang- Sitzgröße Machnig kassierte doppelt mandate für des Bundes- Bundestag ... die CDU tags Thüringens Wirtschaftsminister Mat - Staatssekretär seien mit seinem Mi - 620 thias Machnig, der im Kompetenzteam nistergehalt (147000 Euro im Jahr) ohne FDP, AfD, 5 von SPD-Kanzlerkandidat Peer Stein- vollständig verrechnet worden. Mit und Piraten brück für das Thema Energie zustän- Machnigs Bezügen wird sich in dieser dig ist, hat mehrere Jahre lang Bezüge Woche der Thüringer Landtag beschäf- 10 626 aus zwei Quellen erhalten. Wie ein tigen. Auch das zuständige Bundesfi- mit FDP, ohne Schreiben der Bundesfinanzdirektion nanzministerium macht in der Causa AfD und Piraten Mitte von vergangener Woche bestä- keine gute Figur. Die ihm unterstellte tigt, bezog Machnig neben seinem Ein- Finanzdirektion hatte Machnig jahre- 17 kommen als Minister in Thüringen ein lang so behandelt, als wäre er im An- 655 Ruhegehalt aus seinem vorherigen schluss an seine Tätigkeit im Bundes- mit FDP sowie Amt als Staatssekretär im Bundesum- umweltministerium nicht in ein Mi- AfD oder Piraten weltministerium. Erst nach einem Ur- nisteramt gewechselt, sondern in die teil des Bundesverwaltungsgerichts Privatwirtschaft. Dieser Praxis schob über 21 wurde Machnigs zweites Einkommen das Bundesverwaltungsgericht in ei- mehr als reduziert. Das Urteil „hatte zur Folge, nem bislang kaum bekannten Urteil 675 dass im Ergebnis eine höhere Anrech- im Jahr 2011 einen Riegel vor. Rechts - mit FDP, AfD nung der Ministerbezüge auf die Ver- experten wie der Berliner Verwal- und Piraten sorgungsansprüche gegen den Bund tungsrechtler Ulrich Battis kritisieren erfolgte“, heißt es in dem Schreiben. den laxen Umgang mit Versorgungsan- Nach Informationen des SPIEGEL be- sprüchen ehemaliger Spitzenbeamter laufen sich die Zahlungen aus der seit langem: „Das Verbot der Doppel- reguläre Größe Größe nach Bundeskasse von November 2009 bis alimentierung ist auf dem Papier in- des Bundestags der Wahl 2009 Juli 2012 auf insgesamt deutlich über zwischen weitgehend durchgesetzt, 598 622 100000 Euro. Machnig, 53, will sich beim Vollzug hat es aber immer wie- zur Höhe der Einkünfte nicht äußern, der Nachlässigkeiten gegeben.“ Das hält sie aber für rechtmäßig. Bislang Bundesfinanzministerium betonte, Quelle: Behnke; Berechnung auf Basis aktueller Umfragen; hatte er stets behauptet, die Ansprü- man habe nach dem Urteil Machnigs Abweichung von 3 Sitzen bei den Überhangmandaten möglich che aus seinem früheren Amt als Bezüge „umgehend“ gekürzt.

DER SPIEGEL 38/2013 15 Panorama

FAMILIENMINISTERIUM STROMPREISE Frauenförderung floppt Industrie wird geschont Schröder

Der „Frauen-Karriere-Index“ (FKI) CARO Die steigenden Strompreise treffen vor von Familienministerin Kristina Schrö- allem private Stromkunden. Nach einem der (CDU) erweist sich als Flop. Einge- Karriere-Index“ des Ministeriums. Gutachten im Auftrag der Grünen zah- führt hatte Schröder den Index im Frauen sollten dem Verzeichnis ent- len deutsche Haushalte mit durchschnitt- Rahmen der sogenannten Flexi-Quote, nehmen können, welche Betriebe faire lich 27 Cent pro Kilowattstunde heute mit der sie Unternehmen ermuntern Aufstiegschancen bieten. Unterneh- 35 Prozent mehr als Mitte 2008. Bei den wollte, mehr Frauen in Führungsposi- men wiederum sollte der Index einen Firmen dagegen sind die Strompreise mit tionen zu bringen. Gleichzeitig wollte Vergleich mit anderen Firmen ermögli- 10,1 Cent nahezu gleich geblieben – was sie damit verbindliche Quoten für chen – und ihnen demonstrieren, wel- unter anderem daran liegt, dass die In- weibliche Spitzenmanager umgehen. che Maßnahmen der Frauenförderung dustrie ihre Stromverträge selbst aushan- Wie nun aus einer Antwort ihres Parla- sich als besonders wirksam erweisen. deln kann und so von gesunkenen Prei- mentarischen Staatssekretärs auf eine Das Ministerium hat in das Projekt sen an der Strombörse profitiert. Die Anfrage der Bundestagsabgeordneten knapp eine Million Euro investiert. Grünen-Abgeordnete Bärbel Höhn kriti- Caren Marks (SPD) hervorgeht, betei- Eine verbindliche Quote für Frauen in siert: „Die Strompreis-Schere zwischen ligten sich lediglich 32 von über drei Aufsichts- und Verwaltungsräten will Industrie und Verbrauchern geht immer Millionen Unternehmen am „Frauen- die CDU erst von 2020 an einführen. weiter auseinander.“

TNS Forschung nannte die Namen von Politikern. Joachim BELIEBTHEIT Anteil der Befragten, Veränderungen zur letzten Umfrage im Gauck die angaben, dass der jeweilige Politiker Juli 2013, in Prozentpunkten künftig „eine wichtige Rolle“ spielen solle Im Juli nicht auf der Liste Angela Merkel „Dieser Politiker ist mir unbekannt.“

Hannelore Ursula Peer Frank- Angaben in Prozent Kraft von der Steinbrück Walter Leyen Steinmeier Wolfgang Schäuble

Horst Seehofer Gregor Klaus Gysi Wowereit Thomas Jürgen de Maizière Trittin

75

67

60 59 56 56 55

42 41 41 39 39

–5 +7 +8

15 8 5 7 10 5

Veränderungen von bis zu drei Prozentpunkten liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.

16 DER SPIEGEL 38/2013 Deutschland

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT Partei von Gauck Auskunft, ob er Gegendemonstrationen „öffentlich gutgeheißen und unterstützt“ habe NPD vs. Gauck und ob er sich mit der „Bezeichnung ,Spinner‘ auf Mitglieder bzw. Aktivis- Bundespräsident Joachim Gauck muss ten der NPD bezogen“ habe. Gauck sich beim Bundesverfassungsgericht ließ erklären, „bei verständiger Wür- gegen eine Klage der NPD wehren. digung der Medienberichte“ beant - Dabei geht es um Äußerungen des worte „sich Ihre Frage von selbst“. Staatsoberhaupts zu ausländerfeind- Dar aufhin reichte die NPD Organkla- lichen Protesten gegen ein Asylbewer- ge gegen den Bundespräsidenten ein, berheim in Berlin-Hellersdorf und verbunden mit einem Eilantrag, ihm Gegendemonstrationen. Nach einem solche Äußerungen bis auf weiteres zu Auftritt vor Oberstufenschülern Ende untersagen. Als das Gericht Gauck zur August war Gauck in der Presse unter Stellungnahme aufforderte, erklärte anderem mit den Worten zitiert wor- der Bundespräsident, er habe zu kei- den: „Wir brauchen Bürger, die auf die nem Zeitpunkt zu Protesten gegen die Straße gehen und den Spinnern ihre NPD aufgerufen und „konkrete“ Per- Grenzen aufweisen.“ Da die rechts- sonen als Spinner bezeichnet. Über extreme NPD die Proteste gegen die den Eilantrag will das Gericht noch Asylbewerber befeuert, verlangte die vor der Bundestagswahl entscheiden.

Merkel schwächelt, Steinbrück holt auf

Der Eindruck, dass SPD-Kanzlerkan - ken – oder sind es die richtigen The- didat Peer Steinbrück in den letzten men, die der Linken-Fraktionschef an- Wochen des Wahlkampfs Boden gut- spricht? Erstaunlich: Trotz der NSA- macht, bestätigt sich in der aktuellen Affäre ist Innenminister Hans-Peter Umfrage. Auch Gregor Gysis Präsenz Friedrich mehr als einem Drittel der in den Medien scheint sich auszuwir- Befragten unbekannt.

Sigmar Claudia Guido Gabriel Roth Westerwelle Peter Altmaier Rainer Philipp Hans-Peter Katrin Brüderle Rösler Friedrich Göring- Eckardt

38 38 37 31 29 29

–4 –5 24 23

7 8 20 10 4 38 46

TNS Forschung für den SPIEGEL am 10. und 11. September; 1000 Befragte ab 18 Jahren

DER SPIEGEL 38/2013 17 Deutschland Panorama

Waffenmesse in Abu Dhabi BUNDESTAG tungsexportrichtlinien müs- Briefwahl boomt sen überdacht und die poli- tische Unterstützung für Die Zahl der Briefwähler wird in die- Exporte gestärkt werden – sem Jahr offenbar einen neuen Re- auch gegen medialen Wi- kordwert erreichen. In den zehn größ- derstand“, schreiben die ten Städten wurden so viele Unterla- Verteidigungsexperten der gen angefordert wie noch nie. In Stutt- Union, darunter die Abge- gart sind es über 25 Prozent mehr als ordneten Ernst-Reinhard bei der Bundestagswahl 2009, in Mün- Beck und Florian Hahn, in chen und Köln rund 20 Prozent. In einem Strategiepapier. Es Berlin haben knapp eine halbe Million sei nicht notwendig, das Bürger Stimmzettel angefordert, das Parlament stärker bei der ist ein Fünftel aller Wahlberechtigten. Kontrolle von Waffen- Hinzu kommen die Direktwähler, die exporten einzubeziehen. ihre Stimme schon in den Wochen vor Stattdessen sollten die Aus- der Wahl in Meldehallen oder Rathäu- fuhren wie bisher vom

sern abgeben. Die Wahlämter stellt BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL Bundessicherheitsrat ge- der Ansturm vor Probleme: Zwar nehmigt werden. „Wer auf habe man mit einer höheren Nachfra- UNION die Exportnation Deutschland stolz ist, ge gerechnet, aber nicht mit solch darf das auch im Wehrtechnikgeschäft einem drastischen Anstieg. In Bremen sein“, so die Unionsleute, „mehr Mut etwa machen Mitarbeiter Überstun- „Mehr Mut“ bei wäre hier wünschenswert.“ Die den, um alle Anträge rechtzeitig bear- schwarz-gelbe Koalition steht in der beiten zu können, viele Städte haben Waffengeschäften Kritik, weil sie den Export von Kriegs- zusätzliche Aushilfen eingestellt. Die gerät auch in Länder mit fragwürdiger Stadt Köln hat erneut externe Dienst- Verteidigungspolitiker der CDU/CSU Menschenrechtspolitik genehmigte, leister mit dem Scannen und Drucken fordern einen industriefreundlicheren etwa nach Indonesien oder in Staaten der Wahlbriefe beauftragt. Kurs der Bundesregierung. „Die Rüs- der Golfregion.

auf drei Buchstaben, auf SPD, CDU, CSU, FDP, AfD, bei KOLUMNE anderen Parteien auf ein paar mehr. Das war früher leichter, da es häufiger ein Wählen ohne Nachdenken gab. Man war Eine Woche noch in ein Milieu hineingeboren, man war Mitglied einer Partei und nahm das Programm und die Personen an, weil sie von Als ich am Dienstag der vergangenen Woche gegen der Partei kamen. 21 Uhr den Wahl-O-Mat ausgefüllt hatte, tauchten Dem postmodernen Menschen ist diese Folgsamkeit nicht vor meinen Augen drei erschreckende Buchstaben möglich. Ich finde die ökologische Orientierung der Grünen auf: AfD. Mein Sohn, der hinter mir stand, brach in gut, halte ein bedingungsloses Grundeinkommen aber für Un- ein höllisches Gelächter aus, und ich zog sofort die sinn. Ich stimme dem Plan der SPD zu, eine Bürgerversiche- Vorhänge zu und schloss die Tür ab. Ich verdonnerte rung einführen zu wollen, bin jedoch gegen einen flächende- meinen Sohn dazu, niemals über das Gesehene zu sprechen. ckenden Mindestlohn. Den branchenspezifischen Mindestlohn Ich schaltete den Computer aus, damit die NSA meine Daten à la CDU finde ich richtig, nicht aber das Betreuungsgeld. nicht abfischen konnte, aber ich weiß nicht, ob das hilft. Ich Ich muss aushalten, dass es keine Partei gibt, die mein poli- löschte das Licht und saß lange und still in der Dunkelheit. tisches Denken repräsentiert. Ich muss auch aushalten, dass Die AfD ist eine Partei, die damit lieb- es Parteien gibt, mit denen ich offenkun- äugelt, den Euro abzuschaffen. Ich selbst Die Zumutung des Wählens dig zum Teil übereinstimme, obwohl ich halte mich für einen fanatischen Euro- liegt in der Reduzierung sie insgesamt ablehne, siehe AfD. Also päer und den Euro für eine große Errun- lieber der Politik fernbleiben und nicht genschaft, an der wir unbedingt festhal- aller politischen Gedanken wählen? ten sollten. Die AfD ist mir von allen auf drei Buchstaben. Kommt nicht in Frage. Ich gehe am 22. Parteien die fremdeste, nach der NPD. September wählen. Um die Demokratie Punkt Nummer 4 beim Wahl-O-Mat war der Satz: „Deutsch- zu stützen? Auch. Zudem aber wegen des Kicks. Ich bin ge- land soll den Euro als Währung behalten.“ Ich klickte eu- zwungen, mir aus dem Wust der Vorschläge eine Meinung phorisch auf „stimme zu“ und gab Punkt 4 ein besonderes zu bilden, und ich weiß, dass es knapp wird. Ich muss eine Gewicht, damit er doppelt berücksichtigt wird, aber es nützte große Entscheidung treffen, und das muss ich nicht oft. Ich nichts. Mir wurde nahegelegt, die AfD zu wählen. Erst dachte werde vier Jahre darum bangen, dass ich die richtige Wahl ich, dass ich mich davon nie mehr erholen würde. Dann getroffen habe. dachte ich, dass dieses krude Ergebnis ganz gut ausdrückt, Ich bin immer ein bisschen aufgeregt, wenn ich zur Urne was gerade in mir vorgeht. gehe. Überrasche ich mich noch selbst? Ein bisschen ist es Die Zumutung des Wählens liegt in der Festlegung, in der wie Bungeespringen, traut man sich oder nicht? Sich einfach Reduzierung aller politischen Gedanken, die man so hat, mal fallen lassen. Ich bin bereit. Dirk Kurbjuweit

18 DER SPIEGEL 38/2013

Titel

1972: 1976: Urnengang 91,1 90,7 Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen, in Prozent

Quelle: Bundeswahlleiter 1957: 87,8 1961: 87,7 Größter Sieg der SPD-Historie Bundeskanzler Willy Brandt schlägt Rainer Barzel, den Kandidaten 1953: der Union. Die Wähler bestätigen die erste sozial-liberale Koalition 85,8 1965: 1969: und deren umstrittene Ostpolitik. 86,8 86,7 Triumph der Union Konrad Adenauer gelingt die Wiederwahl gegen Erich Ollenhauer, den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD. Dessen schlechtes Ergebnis wird erst 2009 von Frank-Walter Steinmeier unterboten. SIMON / SVEN ULLSTEIN ULLSTEIN BILD / ACTION PRESS BILD / ACTION ULLSTEIN P. BOUSERATH / BPK BOUSERATH P. MAX EHLERT / DER SPIEGEL MAX EHLERT

Kontrahenten Ollenhauer und Adenauer, 1953 Kontrahenten Brandt und Barzel, 1972 1949: 78,5 Die Schamlosen

Nichtwählen ist salonfähig geworden. Schuld daran sind Intellektuelle und Prominente, die ihre teils politikverachtende Haltung über alle Kanäle verbreiten. Sie schaden damit der Demokratie.

Die Zentrale der Bewegung Auf einem Bildschirm im Schaufenster hat im Lande. „Ich merke, dass meine liegt in der Kölner Mittelstraße, laufen die politischen Debatten der Ver- Idee jetzt den Durchbruch geschafft hat“, sie ist 20 Quadratmeter groß, gangenheit. Hans-Jochen Vogel gegen sagt er. „Die Zeit ist reif.“ WAHL weiß und kahl und enthält Franz Josef Strauß, Herbert Wehner ge- Seine Landsleute seien endlich offen 2013 kaum mehr als ein paar Flyer. gen alle – die schöne alte Zeit, als es in für seine Forderungen, glaubt Peters. „Sie Das Banner über der Eingangs- der Politik noch um gut oder böse ging, haben die Parteien als Selbsterhaltungs- tür aber verspricht Großes, eine Zeiten- nicht um besser oder schlechter, als die maschinen erkannt, die nicht den Volks- wende. „Der schlafende Riese erwacht.“ Welt noch übersichtlich war und die Deut- willen transportieren, sondern den Willen Der schlafende Riese ist der Nichtwäh- schen noch fleißig wählten. der Apparate.“ ler, und erwecken will ihn Werner Peters, Peters ist ein Intellektueller. Er betreibt Peters ist in diesem Sommer zum ge- Vorsitzender der „Partei der Nichtwäh- das Kölner Künstlerhotel Chelsea, hat Bü- fragten Mann geworden. Er wurde in ler“. Er steht in seiner Nichtwähler-Kam- cher geschrieben und lädt regelmäßig zu Talkshows eingeladen und durfte viele pa und trägt ein weißes Leinensakko zu philosophischen Salons ein. Seine Partei Interviews geben. In der vorvergangenen schwarzen Jeans. Den Raum hat Peters der Nichtwähler gründete er bereits vor Woche diskutierte er in Berlin auf einer bis zum Wahltag gemietet, dann verkauft 15 Jahren, um auf die Schwächen der Par- prominent besetzten Konferenz („Denk hier wieder ein Türke, der gerade Som- teiendemokratie hinzuweisen. All die Jah- ich an Deutschland“) vor den Augen von merurlaub macht, seine Edelstahl-Sche- re nahm kaum jemand Notiz von ihm, Deutsche-Bank-Chef Anshu Jain. ren und Pinzetten. Bis dahin muss der und wenn, allenfalls belustigt. Doch jetzt, Der Riese, der erwacht. Die Zeit, die Riese wach sein. mit 72, spürt er, dass sich etwas gedreht reif ist. Der Ton klingt ein wenig nach

20 DER SPIEGEL 38/2013 41 39 37 35 Nichtwähler nach Alter 31 1983: Anteil an der jeweiligen Altersgruppe in Prozent, 2009 28 27 27 25 89,1 Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung 20

1980: 88,6

unter 21 21 bis 25 25 bis 30 30 bis 3535 bis 4040 bis 45 45 bis 50 50 bis 60 60 bis 70 70 und älter

1987: 1998: Ende einer Ära 84,3 82,2 Zum insgesamt sechsten Mal MARCO URBAN MARCO tritt er an. Aber diesmal schei- MARC DARCHINGER MARC tert Helmut Kohl nach 16 Jahren Kanzlerschaft an Herausforderer Gerhard Schröder von der SPD. Beherrschendes Wahlkampf- Kontrahenten Schröder thema: die Arbeitslosigkeit. und Kohl, 1998

West 78,6 2002: 1994: 79,0 79,1 2005: 1990: 77,8 77,7

Ost 74,5

West 72,2

2009: 70,8 Das große Fremdeln Selten hat ein Wahlkampf die Deutschen so ratlos gemacht wie dieser, viele Bürger erkennen ihre einstige Lieblingspartei nicht wieder. So geht es auch der Politik- beraterin Gertrud Höhler, dem Berliner Autor Moritz Rinke, dem ehemaligen BDI-Prä- sidenten Hans-Olaf Henkel, dem Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoglu und dem Münchner Liedermacher Konstantin Wecker. Trotzdem sind sich die Kritiker in einem einig: Nichtwählen ist keine Alternative.

Ost GLOBALIMAGENS / IMAGO; P. PEITSCH; M. POPOW / SUEDD. VERLAG; MAY / PICTURE ALLIANCE / DPA; LEONHARDT / DPA (V.L.N.R.) / DPA LEONHARDT ALLIANCE / DPA; / PICTURE MAY VERLAG; / SUEDD. M. POPOW PEITSCH; P. / IMAGO; GLOBALIMAGENS Höhler Rinke HenkelZaimoglu Wecker 64,7

DER SPIEGEL 38/2013 Titel

rungskoalitionen wie ihre aktiven Mitbür- ger, die Wähler. Gravierender jedoch sind die indirekten Auswirkungen des Nicht- wählens, die Folgen für die politische Kul- tur und die Strahlkraft der Demokratie. Bewahrheitet sich, was die Demosko- pen vorhersagen, hätte der nächste Bun- destag die schwächste Legitimation von allen bislang gewählten Bundestagen. Sei- ne Entscheidungen würden noch weniger Akzeptanz finden, als das bisher der Fall war. Was ist das für ein Bürgertum, dem schon die niedrigste Hürde zur Teilhabe zuwider ist: ein Kreuzchen zu machen? Der Widerwille sitzt so tief, dass in ei- ner Umfrage des Instituts Insa jeder zwei- te befragte Nichtwähler angab, selbst bei einer Wahlpflicht nicht oder ungültig zu wählen. Dabei war es einst Ehrensache, zur Höhler Wahl zu gehen. Nach dem politisch-mora-

GLOBALIMAGENS / IMAGO GLOBALIMAGENS lischen Zusammenbruch in der Nazi-Zeit, wollten die Deutschen sich als vorbildliche Politisch habe ich mich immer als liberal, Demokraten präsentieren – vor dem Aus- aber unionsnah betrachtet. Ich habe oft Die Arena ist leer land, aber auch vor sich selbst. Sie wollten CDU gewählt, aber in diesem Jahr fällt mir wenigstens die zweite Chance nutzen, die Wahl sehr schwer. Meine Entschei- Angela Merkel führte die CDU auf nachdem sie die erste in der Weimarer Re- dung bereitet mir keine Bauchschmerzen, Linkskurs und planierte ihre Kultur. publik so tragisch verspielt hatten. sondern Kopfschmerzen. Aber es gibt keine Alternativen. Trotzdem ist der Nichtwähler auch in Denn wer die Politik der Bundeskanzle- der Bundesrepublik kein neues Phäno- rin, der „Patin“, wie ich sie nenne, mit VON GERTRUD HÖHLER men. Nach den ersten Jahrzehnten wahl- einigermaßen wachem Verstand verfolgt, bürgerlicher Beflissenheit sank die Wahl- erkennt: Sie hat eine Bewegung aus der beteiligung schleichend – auf zuletzt 70,8 politischen Mitte an den linken politischen Prozent bei der Bundestagswahl 2009. Rand vollzogen. Die CDU propagiert so den Zeugen Jehovas, nach einer kleinen Unter den bisherigen Nichtwählern fan- viele linke Themen, dass sie glatt mit der Sekte, aber es geht um eine Gruppe, die den sich vor allem die Armen und gering Linken paktieren könnte. Merkels Partei ist sich an diesem Sonntag tatsächlich als Gebildeten, die sich schon längst von dem für Mindestlöhne, sie zerstört unseren Riese herausstellen könnte. politischen Diskurs verabschiedet hatten, Wohlstand durch eine überfallartige Ener- Es sind Leute wie Peters, die in diesem weil sie „die da oben“ für ihr eigenes giewende und hat in der Euro-Krise wie Wahlkampf alle denkbaren Ressenti- Schicksal verantwortlich machten. 41 Pro- eine Kriegsherrin die Kultur unserer süd - ments gegen „die Politik“ oder „das Sys- zent aller befragten Arbeitslosen gehen europäischen Nachbarländer plattge- tem“ schüren und potentiellen Nichtwäh- nicht wählen, fand das Insa-Institut heraus. macht. lern damit die Absolution erteilen. Wie Es gibt auch die ehemaligen Stammwähler, Die Kultur ihrer Partei hat sie gleich nie zuvor wettern Intellektuelle, Autoren, die tief enttäuscht sind von ihrer früheren mitplaniert. Die CDU von heute ist eine Künstler dieser Tage gegen die Parteien Lieblingspartei, es aber nicht übers Herz Partei unzufriedener Funktionsträger, die und ihr Personal. Auf allen Kanälen dür- bringen, eine andere zu wählen. So blie- ihrer Kanzlerin murrend hinterhertraben, fen sie zum Beifall des Publikums ihre ben viele ehemalige SPD-Wähler nach die Faust in der Tasche, es aber nicht Fundamentalkritik am System zum Bes- den Agenda-Reformen den Wahlen fern. wagen, ihren Kurs ernsthaft in Frage zu ten geben. Das zeigt Wirkung. Mittlerweile aber gibt es eine dritte stellen. Wie bereits 2009 könnte die Zahl der Gruppe, die dem Nichtwählen eine neue Damit kein Missverständnis aufkommt: Nichtwähler bei dieser Bundestagswahl Dimension verleiht, vor allem qualitativ. Ich will keine CDU von gestern. Ich wün- größer sein als die Zahl der Wähler der Ein neuer Typus ist hinzugekommen, der sche mir eine moderne liberal-konservati- erfolgreichsten Partei. Forsa-Chef Man- gebildete, oft auch wohlhabende Nicht- ve Partei. Aber in der heutigen CDU unter fred Güllner warnt vor einem Nichtwäh- wähler, der Abstinenzler aus den besse- Merkels Führung zentralisiert sich die ler-Rekord. „Es ist zu befürchten, dass ren Kreisen. Macht in kleinen Zirkeln und entzieht sich weniger als 70 Prozent der Wahlberech- Wer in der Vergangenheit nicht zur zunehmend der parlamentarischen Kon- tigten abstimmen.“ Würde man die Nicht- Urne ging, wurde behandelt, als hätte er trolle. wähler in die gängigen Fernsehdiagram- Hundekot unter der Sohle. Man rümpfte Jeder Wähler sollte sich davor hüten, me einfügen, bekämen sie den höchsten die Nase. Früher war es peinlich, wenn die Abwiegelungspolitik der Kanzlerin als Balken. Man müsste von den wahren man zu faul gewesen war, die Wahl ver- Gemütszustand zu übernehmen. Wahlsiegern sprechen, wenn es nicht passt oder keine passende Partei gefunden Aber die Lage ist ernüchternd. Wenn gleichzeitig eine Niederlage für die De- hatte. Die neuen Nichtwähler kennen kei- ich überlege, wen ich statt ihrer gern in mokratie wäre. ne Scham, sie tragen ihr Nichtwählertum der Kommandozentrale sähe, stelle ich Nichtwählen hat konkrete Auswirkun- wie eine Monstranz vor sich her. Selbst fest: Die politische Arena ist leergefegt. gen, das weiß nicht nur Edmund Stoiber, als FDP-Wähler hat man üblere Schmä- „Ein Nachfolger hat sich noch immer ge- dessen Union im Jahr 2002 nur rund 6000 hung zu erwarten, denn als Nichtwähler. funden“, sagt Merkel. Aber wo ist dieser Stimmen fehlten, um stärkste Fraktion zu „In der Öffentlichkeit hat ein Stim- Nachfolger? Der Status quo gerät zur bes- sein. Nichtwähler entscheiden somit eben- mungswandel stattgefunden“, stellt Mei- ten Verlegenheitslösung. falls über Kanzlerschaften und Regie- nungsforscher Hermann Binkert von Insa

22 DER SPIEGEL 38/2013 fest. „Man muss sich nicht mehr schämen, Nichtwähler zu sein.“ Gerade mal sieben Prozent der im Auftrag von Insa befrag- ten Nichtwähler mussten sich gegen Kri- tik von Freunden und Familie verteidigen. 57 Prozent gaben an, es sei ihrem Umfeld egal, ob sie wählen gingen. So ist die Politik- und Parteienverach- tung bis in die höheren Etagen der deut- schen Gesellschaft vorgedrungen, venti- liert und absolutiert von ein paar Fernseh- intellektuellen, aber auch von einer wach- senden Zahl an weniger prominenten Ak- tivisten. Die neuen Nichtwähler trifft man in- zwischen überall, in Zahnarztpraxen, an Stammtischen, in der Berliner Künstler- szene oder im Internet. Von einem neu- artigen Typus des „hochmütigen Nicht- wählers“ spricht Bundestagspräsident Norbert Lammert. Die Hochmütigen le- Rinke

ben nicht von Hartz IV, sie klagen auch PETER PEITSCH nicht, dass Politik und Gesellschaft ihnen die Chance zum Aufstieg verwehrten. Im Beim rot-grünen Machtwechsel 1998 fühl- Gegenteil, sie kommen im Gewand des Bloß nichts sagen te ich mich noch von Schröder und Fischer Philosophen daher, verbringen ihre Zeit angesprochen, mitgenommen, motiviert, vornehmlich in Fernsehstudios und tra- Die SPD stand mal für Fortschritt; ich habe sogar mein Stück „Republik Vine- gen ihre Hemden extrem weit offen. heute hat sie einen Kandidaten, der ta“ im Kanzleramt lesen lassen, ein Stück Der Philosoph Peter Sloterdijk hat vor nicht weiß, womit er angreifen soll. über Macht und Utopien. kurzem allen Ernstes verkündet, er wisse Ich habe kürzlich mit Günter Grass ge- nicht mal, wann der Wahltag sei. „Bisher VON MORITZ RINKE sprochen, dem meine Generation zu „un- hieß, politisch vernünftig sein, das ge - politisch“ erscheint und die sich, seiner ringere Übel zu wählen. Doch was tun, Meinung nach, zu sehr in privater Distanz wenn ich nicht mehr weiß, wo das gerin- hält. Ich habe ihm entgegnet, dass ich we- gere Übel liegt?“, fragt Sloterdijk und be- der Mut, sondern die Möglichkeit der der Brandts Ostpolitik miterlebt habe gründet damit seine Wahlabstinenz. Sein Identifikation.“ Am 22. September sei er noch die Friedenspolitik, die Demokratisie- Kollege Richard David Precht erklärt der- übrigens gar nicht in Deutschland. Ohne- rung der Republik, die Politisierung durch weil: „Es ist mir persönlich nicht wichtig, hin sei es ihm persönlich nicht wichtig, ’68 – alles, was ich als politische Soziali- ob ich wähle oder nicht.“ Es handele sich, ob er wähle oder nicht. Im Saal ist es still. sation erlebt habe, waren die langen, läh- „um die vermutlich belangloseste Wahl Precht gehört zu jenen Prominenten, menden Kohl-Jahre und die Hoffnung ’98: in der Geschichte der Bundesrepublik“. die derzeit durch Fernsehshows und Feuil- Aufbruch, eine Republik, die sich links der Was im Gestus intellektueller Nachdenk- letons der Republik schwirren, um sich Mitte positioniert und die dann doch bei lichkeit daherkommt, heißt übersetzt auf Kosten der Demokratie zu profilieren. Hartz IV landete. Und danach: Große Koali- nichts als: „Alle doof. Außer mir.“ Zu den neuen Nichtwählern zählen Phi- tion, dann die Merkel-Jahre und vor allem: Während sich die Unterschicht von der losophen und Künstler, Publizisten und die verschwundenen politischen Alterna - Parteiendemokratie abgehängt fühlt, Ökonomen. Sie haben das Nichtwählen tiven, die Unsichtbarkeit der SPD, die Zer- schauen Deutschlands Eliten zunehmend zu ihrem Markenkern erhoben und ver- reißproben der Grünen, die hilflosen auf sie herab. Politik ist ihnen zu lang- stehen sich als gesellschaftliche Avant - Fluchtversuche vieler zu Piraten und Linker. weilig, zu wenig intelligent, zu schmud- garde. Ihren kalkulierten Tabubruch in- Was bleibt am Ende als einigermaßen delig. Sie fühlen sich zu fein für sie. Man szenieren sie geschickt als Rebellion, die polarisierendes Thema? Der Mindest- gefällt sich in seinem Politik-Ekel und hält sich gegen ein vermeintlich verkommenes lohn? Steuern rauf, Steuern runter? Die sich für etwas Besseres. Das mag dem System zur Wehr setzt. Themen, um die man wirklich streiten Einzelnen helfen, interessanter zu wirken, Zu den Vordenkern der Bewegung könnte: Finanzkrise, Banken, Europa – da für eine lebendige Demokratie aber sind zählt auch Gabor Steingart, früher SPIE- sitzen schon alle im selben Boot. Es gibt solche Vorbilder verheerend. GEL-Journalist, heute Herausgeber des also nichts mehr zu streiten, es sei denn, „Ich nehme das kopfschüttelnd zur „Handelsblatts“, der schon 2009 ein Buch man führt sich selbst ad absurdum. Kenntnis“, sagt Lammert. „Weil es nach mit dem Titel „Die Machtfrage: Ansich- Und wir deutschen Kulturleute? Sitzen, meinem Empfinden politisch wie intel- ten eines Nichtwählers“ auf den Markt oft subventioniert und hochdekoriert, im lektuell unter dem Niveau ist, das die Pro- brachte. Vor kurzem saß er bei „Günther globalen Schaumbad und versuchen, tagonisten für sich ausdrücklich reklamie- Jauch“ und nannte das Nichtwählen eine Feindbilder zu kreieren. Insofern ist das ren. Diese Diskrepanz finde ich eben so Art „Notwehrmaßnahme“. Sein Auftritt von grundsätzlichen Bekenntnissen ge - erstaunlich wie enttäuschend.“ gipfelte in der Aufforderung an Erstwäh- säuberte Kulturleben eigentlich nur Aus- Am Montag vor zwei Wochen sitzt ler, ihre Stimme abzugeben und an die druck der Politik selbst: bloß nichts sagen. Precht bei der Diskussionsrunde „Der Sache zu glauben – denn jeder „muss sei- Einen neuen Günter Grass wird es in mei- Montag an der Spitze“ im Hamburger ne Erfahrungen selber machen, auch Ent- ner Generation kaum mehr geben. Und es Körber-Forum, die Hände gefaltet, den täuschungen muss man sich verdienen“. ist eben auch unmöglich, aus Angela Mer- Blick gesenkt. Der Moderator fragt, ob Der Historiker Arnulf Baring, der die kel Franz Josef Strauß zu machen oder aus er wählen gehe. Precht holt Luft. „Zum Bürger schon vor Jahren „auf die Barri- Richard David Precht Herbert Marcuse. Bekenntnis zu einer Partei fehlt mir nicht kaden“ treiben wollte, hat seine Stimme Wählen werde ich aber trotzdem.

DER SPIEGEL 38/2013 23 Titel zwar schon per Briefwahl abgegeben, sundheit“. Ähnlich argumentiert auch der Hätten Precht, Sloterdijk und Kollegen scheint das aber inzwischen zu bereuen. Sozialpsychologe Harald Welzer, der sich zwischen ihren Auftritten auch nur kurz „Ich habe viel Sympathie für die Nicht- vor ein paar Monaten mit seiner Weige- durch die Wahlprogramme geblättert, sie wähler“, sagt Baring. „Denn ich bin ent- rung, das „kleinere Übel“ zu wählen, im hätten die Unterschiede nicht übersehen geistert, wie eindimensional und ver- SPIEGEL als Nichtwähler outete. können. Dann wüssten sie, dass SPD und druckst politische Debatten sind, wie we- Die These, wonach alle Parteien gleich Grüne eine völlig andere Steuerpolitik nig die Parteien die Wähler mitnehmen.“ sind, ist das Lieblingsargument der Nicht- vertreten als Union und FDP. Dass es ei- Sloterdijk nennt Deutschland eine wähler. Zwar stimmt es, dass die Gegen- nen Unterschied macht, ob die bisherige „Lethargokratie“, seine eigene Lethargie wart ohne die großen ideologischen Kämp- Krankenversicherung in eine Bürgerver- als Bürger stört ihn dabei nicht, er feiert fe der Vergangenheit auskommt, was sich sicherung umgewandelt wird oder nicht. sie medienwirksam. Sein Professoren- auch in den Programmen der Parteien spie- Dass die Positionen zum Ehegattensplit- kollege, der Wirtschaftswissenschaftler gelt. Auch wäre es wünschenswert, wenn ting, zum Adoptionsrecht für homo- Max Otte, führt ein anderes Wort ins Feld, die Opposition in zentralen Fragen wie der sexuelle Paare oder zur Kinderbetreuung um seine Abstinenz zu begründen: Er Zukunft Europas oder der Energiewende weit auseinandergehen. Dass auch die sieht den Staat in Richtung Plutokratie mit starken Gegenkonzepten aufwarten Frage, wer für die Schulden der Länder driften, eine Herrschaft der Reichen. könnte. Natürlich wäre es schön, wenn Südeuropas aufkommen soll, sehr unter- Die Hochmütigen halten sich für bessere Kanzlerin Angela Merkel inhaltlichen Aus- schiedlich beantwortet wird. Doch all dies Demokraten, besser jedenfalls als die Par- einandersetzungen nicht so penetrant aus übersehen die Propagandisten des Nicht - teien und ihr ach so mediokres Personal. dem Weg ginge. Die Demokratie lebt vom wählens. Es würde die These zerstören, Die Themen des Wahlkampfs werden von Wettstreit der Ideen, und der funktioniert wonach ohnehin alles eins ist. ihnen allenfalls mit einer hochgezogenen am besten, je verschiedener die Ideen und Eine Demokratie ist aber weder ein Augenbraue bedacht. Sie wollen die ganz je pointierter ihre Vertreter sind. Lieferservice noch ein Unterhaltungspro- großen Fragen diskutieren und beklagen Aber rechtfertigt der gegenwärtige gramm. Eine Demokratie darf von ihren einen Mangel an Zukunftsvisionen. Mangel an Polarisierung, dass sich immer Bürgern eine gewisse Informiertheit er- Precht spricht vom „Kinderkrempel- mehr Bürger in die Rolle des Konsumen- warten, ein klitzekleines Engagement. Wahlkampf“ und beschwert sich über die ten verabschieden? In ein Wesen, das von Wer das verweigert, verweigert seinen „unphilosophische Politik“ und den „kol- der Politik etwas „geboten“ bekommen Beitrag zu ihrem Gelingen – und setzt sie lektiven Verlust der Utopiefähigkeit“. Er möchte, statt sich selbst über die politi- so aufs Spiel. beklagt eine Angleichung der Parteien schen Angebote zu informieren? Es mag Jene aber, die nun beklagen, das An- aneinander, es gebe nur noch eine einzige ja sein, dass Angela Merkel die Bürger gebot sei nicht attraktiv genug, die Par- „Mega-Partei“. Diese sei „für Umwelt und einschläfern will. Aber muss man sich teien seien lahm und langweilig, haben Europa, für Bildung, Familie, Kinder, Ge- deshalb einschläfern lassen? nichts dagegen getan, dass sie lahm und

These zu: „Das gesetzliche Renten - eintrittsalter soll wieder gesenkt wer- Nach Belieben gewichten den.“ Der Wahl-O-Mat sei „keine Wahl- Millionen Deutsche nutzen den Wahl-O-Mat – auch wenn er die empfehlung, sondern ein Informations- Positionen der Parteien nur unzureichend widerspiegelt. angebot über Wahlen und Politik“, heißt es auf der Internetseite. Und elbst im Duden steht er schon, auch wenn die Wahlprogramme der doch wird am Ende die Übereinstim- der „Wahl-O-Mat“. Das Online- Parteien ganz unterschiedliche Varian- mung in Prozent angegeben, eine Par- SSpiel, mit dem jeder testen kann, ten vorschlagen. tei als Sieger gekürt. welcher politischen Partei er am nächs- Außerdem kann jeder Nutzer die „So einfach ist Politik aber nicht“, ten steht, ist in diesem Jahr so erfolg- Thesen nach Belieben gewichten. Das kritisiert der Politikwissenschaftler Ha- reich wie nie. In den vergangenen zwei kann vor allem dann zu fragwürdigen rald Schoen von der Universität Bam- Wochen wurde die Anwendung der Ergebnissen führen, wenn sich die Par- berg. Er wirbt für eine Alternative, den Bundeszentrale für politische Bildung teien bei vielen Fragen um Antworten „Bundeswahlkompass“ einer niederlän- knapp sieben Millionen Mal genutzt. drücken. dischen Initiative, der vor knapp einem 38 Thesen zur Europa-, Familien- Dann reicht schon die Übereinstim- Monat online gestellt wurde. Ein gro- oder Sozialpolitik muss der Nutzer mung in wenigen Positionen, um bei- ßer Vorteil sei die Möglichkeit, Zustim- überprüfen; die Antworten gleicht der spielsweise als Wähler der Piraten oder mung oder Ablehnung abgestuft ange- Wahl-O-Mat dann mit den Positionen der Alternative für Deutschland er- ben zu können. der Parteien ab. Am Ende zeigt der kannt zu werden. Zudem beziehen die Statt eines Rankings erstellt das Pro- Computer an, mit welcher Partei es die Parteien für den Wahl-O-Mat Positio- gramm am Schluss eine Grafik, die den größten Übereinstimmungen gibt. nen, die sich in ihren Programmen so Nutzer zwischen den Achsen „sozial Das Verfahren ist erprobt, aber es nicht wiederfinden. Die SPD stimmt – progressiv“ und „sozial konservativ“ hat auch Schwächen. So kann der Nut- entgegen den Worten ihres Kanzler- sowie zwischen „wirtschaftlich links“ zer den Thesen nur zustimmen oder kandidaten – beispielsweise folgender und „wirtschaftlich rechts“ einstuft. sie ablehnen, sie überspringen oder Diese „Position im politischen Netz“, sich als neutral einstufen. Bei mancher so Schoen, diene weitaus besser als An- Frage aber fällt das durchaus schwer: haltspunkt für eine Wahlentscheidung spiegel.de/app382013wahlomat „Der Spitzensteuersatz soll erhöht wer- oder in der App DER SPIEGEL als die reine Prozentangabe. den“, um wie viel, scheint irrelevant, ANN-KATRIN MÜLLER

24 DER SPIEGEL 38/2013 langweilig wurden. Sie verhalten sich wie Schwarzseher, die keine GEZ-Gebühr be- zahlen und trotzdem über das Programm der Öffentlich-Rechtlichen herziehen. Sie übersehen zudem, dass sie sich mit ihrer Haltung nicht nur über den politi- schen Betrieb und sein Personal erheben, sondern auch über den braven Wähler und letztlich über die Demokratie als Staatsform. Die Weigerung, das kleinere Übel zu wählen, ist auch eine Absage an all das Unschöne und Unfertige der De- mokratie, an ihr Wesensmerkmal, den Kompromiss, und damit letzten Endes an diese Staatsform selbst. Wenn sich Intellektuelle wie Precht be- schweren, dass über „einen Euro mehr oder weniger Mindestlohn diskutiert wird“, spricht daraus nicht nur Arroganz gegenüber den Sorgen von Geringverdie- nern, er verkennt auch, was Demokratie Zaimoglu

ausmacht. Dass sie auch Kleinteiliges ver- ALLIANCE / DPA / PICTURE MAY FRANK handeln muss und oft Mittelmaß hervor- bringt. Dass sie gerade in Deutschland Wo sind meine Grünen hin? Die, die un - als Gegenentwurf zu den ganz großen Jungs in Röhrenjeans angepasst waren, die sich laut aufregten, Visionen konzipiert ist. die gegen die gängige Meinung ankämpf- Die Demokratie muss naturbedingt im- Früher waren die Grünen eine ten? Sie sind weg. mer ein wenig mittelmäßig und ungla- Protestpartei, jetzt drohen sie an Stattdessen sehe ich eine Partei, die mourös bleiben. Zum Schwärmen sollte ihrer Bravheit zu ersticken. sich den Bürgerlichen anbiedert, die in man besser in die Oper oder ins Fußball- jeder Situation politisch korrekt sein will stadion gehen. Eine Alternative wäre Pla- VON FERIDUN ZAIMOGLU und an ihrer Bravheit fast erstickt. Jetzt tons Idee einer Regierung der Philoso- wählen sogar Arzttöchter und Jungs in phen. Ein Kabinett Precht. Das muss nun Röhrenjeans, die Munterkeitswässerchen wirklich nicht sein. schlürfend durch In-Bezirke schlendern, Zu oft gerät dieser Tage auch in Ver- zière und Polit-Urgestein Egon Bahr disku- grün. Früher galten die „Ökos“ als Krawall- gessenheit, dass die Chance zu wählen tieren sollte. Ein „Schock“ sei das gewesen. macher, heute sind sie stinknormal. Dabei ein über Jahrhunderte erkämpftes Grund- „Was ich gesagt habe, hat sie überhaupt mochte ich die Unruhe, die in der Partei recht ist. Vor diesem Hintergrund wirkt nicht interessiert.“ Das habe ihre Meinung herrschte, sie sorgte für Diskussion. Und es besonders seltsam, dass der Anteil der noch einmal bestätigt: Dass sie „verarscht“ die fördert bekanntlich neue Denkansätze. Nichtwähler gerade in Ostdeutschland werde. In der Sendung sagte sie: „Ich halte Die Idee mit dem größten Aufreger - deutlich höher als im Westen ist, obwohl Politiker für Lügner.“ Nach der Ausstrah- potential im Wahlkampf ist der Veggie-Day. Millionen DDR-Bürger einst für freie lung bekam Hünniger Mails von Leuten, Die Grünen sind zu Gesundheitsaposteln Wahlen auf die Straßen gegangen sind. die sich bei ihr bedankten, weil sie ihnen verkommen. Aber ich will mir nicht sagen „Ich empfinde Parallelen zur Zeit vor aus der Seele gesprochen habe. lassen, wie ich zu leben habe. Statt Re- der letzten Wahl in der DDR“, klagt der Während den Nichtwählern aus unte- geln zur sozialen Verkehrsordnung brau- Theaterregisseur Sebastian Hartmann, ren Gesellschaftsschichten auch die Bil- chen wir mehr Kampfansagen. Statt um der gemeinsam mit Jana Hensel, der Vize- dung fehlt, die immer komplexeren Zu- Fleischverbrauch und Rauchverbote muss Chefredakteurin der Wochenzeitung sammenhänge der Politik zu verstehen, es wieder um soziale Gerechtigkeit gehen. „Freitag“, und dem Schriftsteller Maxim missbrauchen die neuen Nichtwähler ihre Die Armen in Deutschland werden immer Biller im Feuilleton der „Zeit“ Gründe Bildung, um sich über das politische Sys- weiter ausgeplündert. Doch positive Im- fürs Nichtwählen nannte. „Es ist spürbar, tem zu erheben. pulse der Grünen sind kaum erkennbar. dass dieses System nicht so weiterlaufen „Ich war noch nie wählen, da mich die Ich wünsche mir, dass die Politiker – am kann“, sagt Hartmann. Er wolle zwar Politik noch nie überzeugen konnte“, be- besten aller Parteien – mal wieder an die nicht „zum Schattenreich der Nichtwäh- kennt der Schauspieler Moritz Bleibtreu. frische Luft gehen und sich die Deutschen ler gehören“. Wählen könne er aber auch In einem demokratischen Land sei es sein anschauen. Ich sehe müde Menschen, die niemanden, nicht mal die Grünen. Die gutes Recht, sich der Stimme zu enthalten. sich kaputtarbeiten und an einem Über - profunde Begründung: „Ich kann die Er könne auch nicht feststellen, dass ir- bietungswettkampf teilnehmen, den sie Windräder nicht mehr sehen.“ gendein Regierungswechsel für ihn je et- kaum gewinnen können. Eine antikonserva- Die in der DDR geborene und heute was verändert habe. „Ich bin einfach von tive Bewegung muss her, das neoliberale in Berlin lebende Autorin Andrea Hanna keiner Partei zu 100 Prozent überzeugt.“ Gruselprojekt namens Bundesregierung ge- Hünniger erzählte kürzlich bei „Günther Wer jedoch 100-prozentige Überein- hört beendet. Jauch“, dass sie noch nie gewählt habe. stimmung erwartet, hat die Demokratie Darum kann ich doch nicht anders, als „Dabei bin ich kein Opfer. Ich bin jung, nicht verstanden. Der verlangt die Pass- grün zu wählen. Meine Lieblingskonstella - gebildet und politisch.“ Doch ihre Gene- genauigkeit eines maßgeschneiderten An- tion ist immer noch Rot-Grün. Vielleicht ration, klagt die 28-Jährige, habe das Ge- zugs, wo es nur Stangenware geben kann. werden dann endlich die Jammerlappen fühl, in dieser Gesellschaft nicht mehr ge- Welches Modell davon am ehesten passt, dieser Republik, die Reichen, stärker be- braucht zu werden. muss jeder selbst herausfinden. steuert. Und bei der nächsten Wahl müss- Aufgefallen sei ihr das, als sie bei Jauch In der Talkshow musste Hünniger ein- te ich nicht mehr so lange nachdenken, mit Verteidigungsminister Thomas de Mai- räumen, in den letzten Wochen keine ein- wer meine Stimme bekommt.

DER SPIEGEL 38/2013 25 Titel

wähler“ aus Bayern. Der Präsident ist Zahnarzt, die etwa hundert Mitglieder vorwiegend Ärzte, Juristen oder Lehrer. Er könne es nicht verantworten, „ei- nem dieser Leute“ seine Stimme zu ge- ben, sagt Franz Xaver Berger, der Präsi- dent. „Sonst heißt’s wieder: Ihr habt uns ja gewählt.“ Berger agitiert auch während seiner Arbeit. Liegt ein Patient mit offe- nem Mund auf seinem Zahnarztstuhl, be- handelt er nicht nur dessen Zähne, son- dern auch dessen Wahlverhalten. Berger und seine Mitstreiter glauben das politische System durchschaut zu ha- ben. Man müsse es mit seinen eigenen Waffen schlagen, nicht mit Wahlen. Die wahre Macht im Staat liege bei Lobbyis- ten. Deshalb wollen sie so viele Mitglie- der gewinnen, bis der Verein sich einen eigenen Lobbyisten in Berlin leisten kann. Henkel Die Berliner Künstlergruppe „moder-

METODI POPOW / SÜDD. VERLAG / SÜDD. POPOW METODI ne21“ nutzt derweil das Netz, um ihre politikschmähenden Inhalte per Film oder Im deutschen Meer der Gleichmacherei Podcast zu verbreiten. Das sieht dann erschien mir die FDP immer wie ein libera- Liberale Todsünde etwa so aus: Eine junge blonde Frau sitzt ler Fels in der Brandung. im Pyjama auf dem Bett und klagt über Liberale Leuchttürme wie mein Sozio - Weil sie um jeden Preis den Schlafstörungen, die alle vier Jahre wie- logieprofessor Ralf Dahrendorf und Otto Euro retten will, verrät die FDP derkehrten. „Ich habe gegen meinen Wil- Graf Lambsdorff, beide übrigens Euro- ihre wichtigsten Grundsätze. len gehandelt“, sagt sie. Der Grund für Kritiker der ersten Stunde, garantierten ihr Unwohlsein: Sie habe ihr Unterbe- einen klaren Kurs. Seit deren Nachfolger VON HANS-OLAF HENKEL wusstsein übergangen. Immer wieder sei die wichtigsten liberalen Grundsätze sie zur Wahl gegangen, weil man das auf dem Altar des Euro opferten, ist die eben so mache. „Obwohl ich intuitiv ei- FDP für mich unwählbar geworden. Aus gentlich wusste, dass ich damit die fal- drei Gründen: zige Wahlkampfveranstaltung besucht zu schen Kräfte in diesem Land gestärkt ‣ Das liberale Prinzip der Subsidiarität, haben. Parteiprogramme kennt sie eher habe.“ Seit sie mit dem Wählen aufgehört also der Verankerung von Verantwor- sporadisch. So bleiben die Gründe für die habe, sei sie geheilt. tung möglichst nah am Bürger, spielt in Politikverachtung an der Oberfläche – Die blonde Frau ist Schauspielerin, die der Europapolitik der Freien Demokra- oder im Reich der Vermutung. Es geht Szene stammt aus einem Film, der Teil ten keine Rolle mehr. Dort ist jetzt das wohl mehr um die Bugwelle als um die des Projekts „Wahlabsage“ ist. „Wir wol- Gegenteil, Zentralismus, angesagt. Wasserqualität. len die Diskriminierung von Nichtwäh- Nichts anderes bedeutet das gebets- Statistisch mögen die Prechts, Sloter- lern stoppen“, sagt Hartmut Lühr, 43, mühlenartige Wiederholen von „mehr dijks und Bleibtreus zu vernachlässigen Soziologe und „Hörspielaktivist“. „Uns Europa“ durch ihre heutige Führung. sein, die Wirkung ihrer öffentlich prokla- wird ständig vermittelt: Wer nicht wählt, ‣ Das Bekenntnis zum Wettbewerb, Kern- mierten Haltung ist es nicht. Der Hip- ist ein schlechter Mensch“, meint seine kompetenz jeder liberalen Partei, hat Hopper Samy Deluxe outete sich bereits Kollegin Sonja Schmidt-Peters, 44, eine die FDP durch das Predigen von der Har - 2009 als Nichtwähler. In einem seiner Theaterpädagogin. „Wählen ist so was monisierung in der Euro-Zone ersetzt Songs rappt er: „Scheiß auf Politik, wir wie heilig.“ Dagegen wolle sie etwas tun. (eine euphemistische Umschreibung gehen nicht wählen, weil es scheint, als Denn Parteien seien „verschimmeltes der Gleichmacherei) und damit eine ob unsere Stimmen eh nicht zählen.“ Auf Brot oder verschimmelte Kekse“. liberale Todsünde begangen. seiner Fanpage finden sich dieser Tage Auf der Website von „moderne21“ wird ‣ Das Prinzip der Eigenverantwortung nun Kommentare wie: „Ich wähle nicht, ein neues Feindbild entworfen: „Gewohn- hat die FDP mit der Verletzung des weil Samy Deluxe (mein Vorbild) auch heitswähler schädigen aus vordergründig im Maas trichtvertrag festgelegten „No- nicht wählt.“ ehrenhaften Motiven die Demokratie“. So Bail-out-Gebots“ über Bord geworfen. „Bekannte und intellektuelle Nichtwäh- steht es dort. Es ist eine arrogante Um- Damit hat sie nicht nur die Brand - ler handeln allzu sorglos vor den Folgen kehrung der Verhältnisse, aber sie ist ty- mauer zwischen deutschen Steuer- ihres Tuns“, sagt der Mannheimer Polito- pisch für die neuen Hochmütigen. zahlern und ausgabefreudigen Politi- loge und Wahlforscher Rüdiger Schmitt- Nichtwählen passt offenbar in eine kern im Süden des europäischen Beck. „Sie machen das Nichtwählen sa- Zeit, in der nichts hinderlicher zu sein Kontinents zum Einsturz gebracht, son- lonfähig, ohne konkrete Alternativen an- scheint als Festlegungen und Bekenntnis- dern sich für die schleichende Soziali- zubieten.“ se. Es passt zu einer Generation, die bin- sierung der Schulden in der Euro-Zone Ihre Nachahmer findet man in Zahn- dungsloser lebt, die sich, anders als ihre ent schieden. arztpraxen, an Stammtischen oder in der Vorgänger, weder an ein Milieu noch an Eine Partei, die sich in Europa für Zen- Berliner Künstlerszene. Im ganzen Land eine politische Strömung gebunden fühlt. tralismus, Gleichmacherei und Sozialis- schießen Gruppen aus dem Boden, die Hinzu kommt das dumpfe Gefühl, dass mus einsetzt, kann zu Hause nicht mehr offen zum Nichtwählen auffordern. Da die großen politischen Entscheidungen glaubwürdig für Subsidiarität, Wettbewerb ist die Sponti-Gruppe aus Stuttgart, die nicht mehr in Berlin, sondern von den und Eigenverantwortung stehen. Deshalb Wahlplakate mit „Bla“-Sprechblasen de- Bürokraten in Brüssel oder gleich von wähle ich jetzt die AfD. koriert. Oder der „Bund aktiver Nicht- den Spekulanten an der Wall Street ge-

26 DER SPIEGEL 38/2013 troffen werden. Ein beliebter Nichtwäh- ler-Spruch lautet, dass es wahrschein - licher sei, auf dem Weg zum Wahllokal von einem Auto getötet zu werden, als durch die eigene Stimme die Politik zu beeinflussen. Die bisherigen Nichtwähler sagten: Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen. Die neuen Nichtwähler sagen: Die da oben haben ja eh keinen Einfluss. Diese Lethargie hat große Teile des deutschen Bürgertums zu Biedermeiern werden lassen. Man investiert Zeit lieber in Projekte, die unmittelbaren Nutzen versprechen: für die Verschönerung der Kita, für buntbepflanzte Verkehrsinseln in der Nachbarschaft oder eben gegen Fluglärm. Es geht vor allem um die eigene Lebenswelt, den eigenen Vorteil, nicht ums Gemeinwohl. Und erst recht nicht um den Zustand der Demokratie. Wecker

Es gebe aktive Staatsbürger, und es / DPA LEONHARDT FRANK gebe Schutzbefohlene, wusste schon Im- manuel Kant. Der aktive Bürger, so Kant, Für mich ist die Partei Die Linke die einzige besitze alle Rechte, insbesondere das Ewige Streitereien ernsthafte Alternative zu der neoliberalen Recht der Wahl. Schutzbefohlene hinge- Ideologie, der alle anderen Parteien blind gen hätten dieses Rechte nicht. Wer nicht Die Linke zerreibt sich und hat un- hinterherlaufen. Sie ist auch die einzige zur Wahl geht, macht sich selbst zum vernünftige Steuerkonzepte. Gut, Partei, die sich dem allgemeinen Kriegs - Schutzbefohlenen. dass sie in der Opposition bleibt. gerassel verweigert. Und ich werde sie Anders, als sie sich vorgaukeln, be- wieder wählen, auch deshalb, weil sie für schleunigen Nichtwähler keineswegs den VON KONSTANTIN WECKER die Demokratie wichtig ist. Sie treibt die ersehnten Wandel, sie stabilisieren nur regierenden Parteien vor sich her. die Macht jener, über die sie klagen. Sie Aber es gab in letzter Zeit einige un- machen die Parteien sogar größer, als sie schöne Seiten an der Partei, die mich sehr tatsächlich sind. Wer zu Hause bleibt, Jahrelang verbrachte Fohrmann die gestört haben. Es fängt an bei den ewigen weil er Angela Merkel nicht mehr sehen Abende damit, seinen Ärger über die Poli- Streitereien und Machtkämpfen zwischen kann, begünstigt in Wahrheit ihre dritte tik mit Gleichgesinnten in Internetforen Ost- und Westlinken. Die kriegen sie ein- Amtszeit. „Es ist ja nicht so, als hätte zu verarbeiten. Zur Wahl ging er nicht fach nicht unter Kontrolle. Gewiss, andere Nichtwählen keinen Einfluss“, sagt Bun- mehr. In diesem Sommer aber sieht es Parteien streiten auch, aber bei der Linken destagspräsident Lammert. „Es hat einen aus, als würde er, nach langer Abstinenz geschieht es immer lautstark und in aller Einfluss, doch in der Regel nicht den be- und ganz gegen den Trend, ins Reich der Öffentlichkeit. Es gibt Barrieren zwischen absichtigten.“ Wähler zurückkehren. Seit kurzem hat den beiden Lagern, die offensichtlich un- Auch Klaus Fohrmann war ein Nicht- er für sich eine Lösung gefunden: die Al- überwindbar sind. wähler der gehobenen Mittelschicht. Er ternative für Deutschland. Ich habe nichts gegen inhaltliche De- ist Chef eines Steuerberatungsbüros am „Für mich war es eine Erleichterung, batten, davon lebt unsere politische Kul- Rand der Hamburger HafenCity, fünf ich konnte es gar nicht fassen. Da waren tur, aber diese Konflikte sind destruktiv Räume, vier Mitarbeiter. Er lehnt sich in kompetente Leute, diszipliniert, die und schaden dem Image der Partei unge- seinem Ledersessel zurück, schlägt die endlich was verändern wollen“, sagt er mein. Beine in Stonewashed-Jeans übereinan- über die konservative Anti-Euro-Partei, Inhaltlich kann ich mich mit dem Steu- der und redet im üblichen Nichtwähler- die einen Großteil ihrer Popularität erprogramm der Linken nicht wirklich an- Jargon: „Irgendwann dachte ich: Das ist der Botschaft verdankt, dass Professoren freunden. Sie fordern 75 Prozent Millionär- alles unerträglich. Egal wer regiert, da und Technokraten die besseren Politiker steuer, Frau Kipping hat sogar mal für Ein- sind stets die gleichen Dilettanten und und Parteien die Wurzel allen Übels kommen ab 40000 Euro im Monat einen Ideologen am Werk. Sachverstand spielt seien. Spitzensteuersatz von 100 Prozent gefor- keine Rolle.“ In den Siebzigern stand Wie kaum eine andere Partei könnte dert. Das finde ich unvernünftig. Aber mal Fohrmann einmal den Grünen nahe und die populistische AfD am Sonntag von ehrlich: Katja Kipping wird nie Bundes- war Mitglied im „Bund der Fußgänger“. einer geringen Wahlbeteiligung profitie- kanzlerin werden, viele Sprüche sind also Aber er war nie in einer Partei. ren. Denn je weniger Menschen zur Wahl nur heiße Luft. Ich finde es gut, dass die Wie alle Nichtwähler hat auch Fohr- gehen, desto leichter haben es Ein-The- Linke nie regieren wird – wir brauchen sie mann höchstpersönliche Gründe, von der men-Parteien, ins Parlament zu kommen. als starke Opposition. Politik enttäuscht zu sein. Er ärgerte sich Inzwischen spricht Fohrmann von wir, „Teilen macht Spaß“, sagt die Partei auf über ständig neue Steuergesetze, den wenn er über die AfD redet. Er ist beige- ihren Wahlplakaten – na meinetwegen, da Bruch des Steuergeheimnisses durch ge- treten, verteilt Flyer in Eimsbüttel und gehe ich schon d’accord. Aber ich gehöre kaufte Daten-CDs. Dann die sündteure Barmbek. „Ich sag’s Ihnen: Wir kommen nicht zu den Linken, die denken, dass je- Elbphilharmonie. Und schließlich noch rein.“ der Unternehmer doof ist. Ich kenne gran- das Rauchverbot! Ob er recht behält, werden am Sonntag diose Mittelständler, denen das Wohl ihrer Was der Politik zur gleichen Zeit alles auch die Nichtwähler entscheiden. Mitarbeiter am Herzen liegt, die vernünf - gelungen ist, blendet Fohrmann geflis- NICOLA ABÉ, MELANIE AMANN, tige Sachen herstellen. Auf die sollte man sentlich aus. MARKUS FELDENKIRCHEN Rücksicht nehmen.

DER SPIEGEL 38/2013 27 MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL MARTIN Wohnblock in Halle-Neustadt: „Soll ich sonntags zur Wahl aufstehen?“ Hallescher Stadtteil Heide-Süd: Kaum Hartz-IV-

Die Ärmeren treten für ihre Interessen nicht einmal mehr bei Wahlen ein. In gro- ßen Städten, deren Viertel stark nach Die Abgehängten Wohlstand segregiert sind, führt das zu erstaunlichen Phänomenen. Die Wahlbe- teiligung schwankt von Stadtteil zu Stadt- In sozialen Brennpunkten gehen oft nur halb so viele Menschen teil gewaltig – aber an wenigen Orten in zur Wahl wie in bürgerlichen Vierteln. Deutschland so extrem wie in Halle. Die Unterschiede verstärken sich noch: „Je Die Armen werden dadurch unterrepräsentiert. geringer der Sozialstatus und je größer das politische Desinteresse im Freundes- Der Nichtwähler hört auf den Tiefstand. Bei der letzten Bundestags- kreis, desto weniger wahrscheinlich wird Namen Wolfgang und ist seit wahl gingen hier nur 28,1 Prozent der der Gang zur Wahlurne“, so die Erhe- einem Jahr krankgeschrieben. Stimmberechtigten an die Urne. Im Stadt- bung „Gespaltene Demokratie“ der Ber- WAHL Wolfgang sitzt kurz vor zwei teil liegt die Arbeitslosenquote bei 15 Pro- telsmann Stiftung. Sie ergab, dass in den 2013 am Nachmittag mit einigen zent, 22 Prozent leben von Hartz IV, unteren Schichten nur 31 Prozent der Bür- Flaschen „Meister Fels“ auf ei- mehr als 30 Prozent sind 65 Jahre oder ger fest planen, zur Wahl zu gehen. ner Stahlbank in Halle-Neustadt in Sach- älter. In der Begegnungsstätte der Volks- Auch im Westen sind die Städte nach sen-Anhalt. Er trägt eine Lederjacke und solidarität in der Neustadt sagt die Ange- Wohlstand und Teilnahme am Urnengang Ohrringe. Vor ihm und seinen Kumpels stellte, die alten Leute interessierten sich gespalten. In der Ruhrgebietsmetropole türmt sich das Leergut. nicht für Wahlen. Dafür trifft sich dort Essen liegen zwischen Wahlbezirken im „Wählen?“ Wolfgang winkt gelangweilt der ISOR-Sozialverein, die berüchtigte ehemaligen Arbeiterviertel Altenessen- ab. „Bringt eh nichts.“ Wann er denn das Interessengemeinschaft ehemaliger Stasi- Süd und im bürgerlichen Haarzopf bei letzte Mal im Wahllokal war? „Vor der Wen- Leute und NVA-Offiziere. der Wahlbeteiligung bis zu 35 Prozent- de, als ich musste.“ Da habe es noch einen Beharrliche Nichtwähler stammen vor punkte. Im alten Bundesgebiet ist die Blumenstrauß gegeben, wenn man als allem aus den unteren sozialen Schichten. Wahlbeteiligung in traditionellen Arbei- Erster kam. Und die 24 Jahre danach? „Ich „Es gilt ohne Ausnahme: Je ärmer ein war viel auf Montage. Kam Freitag spät Stadtteil, desto geringer fällt die Wahlbe- Wählen nach Wohnlage heim, und dann soll ich sonntags zur Wahl teiligung aus“, sagt Armin Schäfer vom aufstehen? Nee.“ Die Politiker machten Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor- Die Wahllokale in Halle (Saale) mit der ohnehin alle, was sie wollten. Am 22. Sep- schung. Er hat die Ergebnisse der Bun- höchsten bzw. niedrigsten Wahlbeteiligung tember werde er wieder nicht hingehen. destagswahl von 1500 Stadtteilen in 34 bei der Bundestagswahl 2009, in Prozent Von seiner Bank aus hat Wolfgang freie Großstädten analysiert. Die Bürger der 66,7 Sicht auf das Elend seines Viertels. Die unteren Schichten sind enttäuscht und Kröll- Kneipe Hopfen und Malz hat zugemacht, gleichgültig, koppeln sich vom politischen 67,3 das Café im Flachbau liegt unter einer Prozess ab. Sie haben wenig gemein mit witz dicken Staubschicht, nur der Discount- den Elite-Nichtwählern, die in diesem 68,8 Laden Happy Cent öffnet noch die Türen. Jahr weder Merkel noch Steinbrück etwas Heide Süd HALLE (SAALE) In Wolfgangs Rücken ragt „Block 10“ auf, abgewinnen können. Westliche Neustadt ein Trumm von 380 Meter Länge, elf Die Wahlverweigerung der Unter- Geschosse hoch: der längste je in der schicht hat Folgen: Sie führe zu einer 28,1 25,4 DDR errichtete Plattenbau. Der Volks- „Schieflage in der politischen Repräsen- Ammendorf/ mund taufte die Retortenstadt in An - tanz“, weil die Politik „in immer stärke- Silberhöhe Beesen lehnung an den sozialistischen Bruder rem Maße die Interessen der eher privi- Vietnam „HaNeu“. legierten Schichten der Bevölkerung“ be- 31,5 Die Wahlbeteiligung in Wolfgangs rücksichtige, heißt es in einer Studie der Wahlbezirk 57303 erreichte 2009 einen Friedrich-Ebert-Stiftung.

28 DER SPIEGEL 38/2013 MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL MARTIN Empfänger, Rekord-Wahlbeteiligung

terstadtteilen vergleichsweise niedrig, was vor allem der SPD schadet. Sozialdemo- kratische Kandidaten vor Ort versuchen die Menschen mit Hausbesuchen zu er- reichen – bislang mit wenig Erfolg. Laut Friedrich-Ebert-Stiftung geben dauerhaf- te Wahlverweigerer als häufigsten Grund für ihre Haltung an, die Politiker hätten „kein Ohr mehr für die Sorgen der klei- nen Leute“. In Halle liegt direkt neben der West - lichen Neustadt das Viertel Heide-Süd, in dem bei der letzten Bundestagswahl bis zu 68,8 Prozent der Berechtigten ihre Stim- me abgaben, die höchste Wahlbeteiligung im Stadtgebiet. Heide-Süd war zu DDR- Zeiten Garnisonsstandort der Sowjetar- mee. Erst seit 1998 sind vor allem Familien in die sanierten Kasernen mit den glän- zenden Ziegeln und die modernen Neu- bauten eingezogen. Auch der naturwissen- schaftliche Campus der Universität Halle sowie ein Gründungs- und Technologie- zentrum haben hier Quartier genommen. In Heide-Süd liegt die Arbeitslosen- quote bei nur 1,7 Prozent, weniger als ein Prozent der Einwohner lebt von Hartz IV. Laut einer Statistik der Stadt zur Wohnzufriedenheit finden 90 Prozent ihr Viertel super. Bianca Brandt ist eine von ihnen. Sie sagt, dass sie „natürlich“ wäh- len gehe, „allein schon, damit nicht an- dere Parteien an die Macht kommen, die ich nicht will“. Die Analyse der Wahlbeteiligung bis hinunter ins einzelne Wahllokal zeigt, dass der Prozentsatz stark von der Sozial - struktur des Viertels abhängt. In Halle ist das Erstaunlichste, dass die unterschied- lichen Bürger in der Westlichen Neustadt und in Heide-Süd am Ende ihr Kreuz an derselben Stelle machten: In beiden Wahl- bezirken lag nach der Auszählung der Erststimmen Petra Sitte vorn, die Kandi- datin der Linken. CHRISTINA ELMER, CHRISTINA HEBEL, FIDELIUS SCHMID, STEFFEN WINTER

DER SPIEGEL 38/2013 29 Serie

DEUTSCHLAND, WIE GEHT’S? (VII) Wahlkampf ist das Spiel mit der mensteuer für Gutverdienende. Hat sich Steinbrück links beson- Wahrheit, und weil er sich unterscheiden möchte, nennt Peer nen oder sich dem Parteiwillen gebeugt? Und wäre er ein guter Steinbrück seine Kampagne „Klartext“. Dabei fällt auf, dass der Kanzler – mit seinem aggressiven Hang zum Gehenlassen, zum Kandidat ein Programm vertritt, das der Finanzminister abgelehnt Unverblümten? Zu Hause ist er in einer ältlichen Männerwelt, die hat: Vermögensteuer, gesetzlicher Mindestlohn, höhere Einkom- dem Willen der Bürger zur Partizipation wenig abgewinnen kann. Ansichten eines Clowns Peer Steinbrück hat als Finanzminister bewiesen, dass er ein intelligenter und sachkundiger Politiker ist. Doch nun muss der SPD-Kandidat eine andere Frage beantworten: Hat er auch das Zeug zum Kanzler? Von Dirk Kurbjuweit

Weiß eigentlich jemand, wie aber könnte es sein, dass sie eine Menge Umverteilung auf sozialdemo- aussagt. kratisch geht? Peer Steinbrück Seit knapp einem Jahr ist bekannt, dass WAHL weiß es. Er hält eine kleine Peer Steinbrück, 66, für die Sozialdemo- 2013 Tafel Ritter Sport in der Hand, kraten das Bundeskanzleramt erobern eine ganz kleine, vier Stück- soll. Am kommenden Sonntag wird ge- chen. Er sitzt in einem Reisebus und lässt wählt, und die Chancen für Steinbrück sich über die Schwäbische Alb fahren, stehen nicht gut, wenn man den Umfra- Fachwerk, grüne Hügel, es regnet, es ist gen glaubt. Demnach wird er seine bei- der Dienstag der vergangenen Woche. den Wahlziele nicht erreichen: Bundes- Steinbrück sitzt ganz hinten, ein Dutzend kanzler zu werden, eine rot-grüne Koali- Journalisten sind bei ihm. Wie teilt man tion anzuführen. nun die Schokolade auf? Zu Recht besteht er jedoch darauf, dass Er öffnet die Packung und sagt, jeder er nicht abgeschrieben wird, bevor nicht könne ja mal dran schnuppern. Dann be- das Wahlergebnis vorliegt. Deshalb soll ginnt er genießerisch zu essen. „Das ist es hier um die Frage gehen, ob Peer Stein- Umverteilung à la Sozialdemokratie“, brück Bundeskanzler sein sollte. Ob er sagt Peer Steinbrück und lacht sein der Richtige ist für das wichtigste Amt großes Lachen, die Augen schmal, der im Staat? Es wird dabei persönlich wer- Mund offen. den. Steinbrücks Charakter steht im Mit- Er hat mal wieder Spaß an seiner Kam- telpunkt dieses Berichts. pagne. Er hat eine wüste Art, und das Es geht um Politik als Spiel, es geht zeigt er gern. Wäre doch gelacht, könnte auch um Schlaf. Schlaf ist eine politische man nur mit Angepasstheit Bundeskanz- Kategorie, mit der eine oft gestellte Frage ler werden. Steinbrück scheint das Ge- verbunden ist: Kann man gut schlafen, genteil beweisen zu wollen. Vielleicht wenn dieser oder jene das Land regiert geht es ja auch mit Wildheit. und plötzlich eine Krise ausbricht? Das Dafür gibt es nun ein Bild. Es erschien vor allem ist das Thema. in der vergangenen Woche auf der Titel- Steinbrück kann eine Geisterbahn spie- seite des Magazins der „Süddeutschen len, ganz allein eine ganze Geisterbahn. Zeitung“. Steinbrück steht mit ver- Er macht das am Montag vergangener Wo- schränkten Armen da und zeigt den Mit- che in Würzburg, als er am Ufer des Main telfinger. Er sieht nicht aus wie ein Bun- um Wählerstimmen wirbt. Ein offenes deskanzler, sondern wie ein grimmiger Zelt, rote Bierbänke, rote Biertische, ein Proll, anders kann man es nicht sagen. paar hundert Zuhörer, darunter ein Inder Er wurde in diesem Moment nach den mit einem roten Turban. Steinbrück Spitznamen „Pannen-Peer, Problem-Peer, kommt und macht sofort das Victory-Zei- Peerlusconi“ gefragt. chen, so wie einst Josef Ackermann von Eine solche Geste kann passieren, sie der Deutschen Bank. Dann dreht er Run- kommt häufig vor. Oft ist es eine Aus - den auf einem Podest in der Mitte. nahme im Verhalten eines Menschen. Er will klarmachen, wie die CDU eine Dann sagt sie wenig aus. Bei Steinbrück Regierung von Sozialdemokraten verteu-

30 DER SPIEGEL 38/2013 felt: „Trockenhauben und Rasierappara- Donnerstimme, entsetzte Riesenaugen Steinbrücks schönste Belohnung sind te“ würden verstaatlicht, es würde so bei Steinbrück. Lacher, er giert danach. Hat er nicht mal grauenhaft wie in der Geisterbahn, und Dass Politiker Schauspieler sind, wird die italienischen Politiker Grillo und Ber- plötzlich ist er die ganze Geisterbahn, das häufig geschrieben, und gemeint ist dann, lusconi Clowns genannt? Bei seinem Auf- Skelett, die Riesenspinne, der blutige Kerl dass sie sich selbst in politischen Rollen tritt in Würzburg ist die Stimmung bald mit dem eigenen Kopf unterm Arm. spielen. Steinbrück ist Schauspieler in ei- so wie im Zirkus. Witz, Gelächter, Witz, Steinbrück redet mit grottiger Stimme, nem eher klassischen Sinne. Sein perfor- Gelächter. Also, der Christian Ude, der die Sozis „nehmen euch alles weg“, „es mativer Ehrgeiz geht dahin, andere dar- Spitzenkandidat der bayerischen SPD bei wird kalt und grau“, er schneidet Grimas- zustellen, Szenen zu spielen, das aber der Landtagswahl, der hat sich doch vor- sen, schleicht wie ein hinterhältiger Mör- nicht nach der modernen Theaterart, also genommen, dass er am Wahlsonntag aus- der, und seine linke Hand hängt dabei karg und zurückhaltend, sondern so wie schlafen wird, aber er, Peer Steinbrück, schlaff herab, als wäre er auch der Leich- früher in Stummfilmen: ausdrucksstark, hat die Telefonnummer vom Christian nam vom Dienst. Huhuhu. dicke Gesten, große Grimassen. Ude, und da wird er ihn am Wahlsonntag Steinbrück kann noch viel mehr. Er Er steppt und wirbelt über die Wahl- frühmorgens anrufen, und dann hat es kann auch die fiese Bundeskanzlerin und kampfbühnen, er lässt seine Stimme zu- sich gehabt mit dem Ausschlafen. Geläch- deren enttäuschte Wähler spielen. Ange- schnappen, schmelzen, aufbrausen, und ter am Mainufer. la Merkel, muss man wissen, überreiche das mit hohem Selbstgenuss. Hier ist ein Noch einen? In Ludwigsburg besucht den Bürgern hübsche Pakete mit bunten Narziss unterwegs, einer, dem es gefällt, er auf seiner Wahlkampftournee einen Bändern, und das sagt der Kanzler- anderen zu gefallen, ein Poser der Politik. Fotografen, der sich auf Musiker speziali- kandidat säuselnd, mit seifiger Stimme, Die Fotos im Magazin der „Süddeut- siert hat. Wie es ihm so gehe, will der doch dann sind die Pakete leider leer. schen“ entsprechen ihm perfekt. Fotograf wissen. Also, sagt Steinbrück, er

Kanzlerkandidat Steinbrück mit Jusos in Hamburg HANNIBAL HANSCHKE / PICTURE ALLIANCE / DPA HANSCHKE / PICTURE HANNIBAL Serie

schlafe so bis zehn, dann führe er ein net- tes Gespräch wie dieses, dann zwei Stun- den Siesta, dann ein Wahlkampftermin, und dann gehe es auch schon wieder ins Bett. Steinbrück lacht fett, er hat oft eine Riesenfreude an sich selbst. Manchmal erinnert er ein wenig an Wim Thoelke, an den Humor von früher, als schwere Männer mit ihren Witzen für erdrücken- de Unterhaltung sorgten. Es ist mit Sicherheit die spaßigste Kam- pagne aller Zeiten. Dröhnend liegt Stein- brücks Gelächter über dem Land. Seine ernstesten Stunden waren die vom TV- Duell, als er sich nicht hat hinreißen las- sen zum Klamauk. Das waren seine bes- ten Stunden in diesem Wahlkampf. Ansonsten schafft er es kaum einmal, zehn Minuten lang ernst zu bleiben. Aber warum? Ironie ist ein Mittel der Distanz, zu sich selbst, zu anderen. Man schafft Emotionen – Fröhlichkeit, Lachen –, ohne selbst welche preisgeben zu müssen. Man gibt sich eine Aura der Überlegenheit, weil man der Welt nicht zugesteht, sie ernst nehmen zu müssen. Aber muss man die Ansichten eines Clowns ernst nehmen? Die Inhalte, die Steinbrück in seinem schunkelnden Wahlkampf vertritt, sind letzten Endes auch an eine Charakter - frage geknüpft. Meint er das eigentlich alles so? Steht er ein für die Dinge, die er ankündigt? Überzeugend ist Steinbrück, wenn er über den Euro redet. Er kann verständ- lich schildern, was passieren würde, gäbe es den Euro nicht mehr. Er sagt unver- blümt, dass es die Deutschen Geld kostet, wenn der Euro erhalten bleiben soll, und er empfiehlt, dass sie das Geld investieren sollen. An diesen Stellen haben seine Wahlveranstaltungen ihren Namen ver- dient: „Klartext“. Dann geht es um die Rente. Die Idee zur Rente mit 67 kam aus der SPD, vom ehemaligen Vorsitzenden und Arbeits - minister Franz Müntefering, und Stein- Ex-Kanzler Schröder beim Wahlkampf in Hannover

brück fand diese Idee gut. Nun haben / LAIF HC PLAMBECK ihm die Genossen ins Wahlprogramm ge- schrieben, dass die Rente mit 67 aufge- weicht werden soll. Steinbrück lobt, dass Aber er wirbt für etwas, das offenkun- der mithalf, die Agenda 2010 und die die SPD überhaupt ein Rentenkonzept dig nicht zu ihm passt. Sein Programm, Rente mit 67 durchzusetzen. hat, sagt aber auch, dass dies die Renten- nein, das Programm der SPD, ist der Ist der Kandidat also gewendet, oder kassen bedrohen könne, weil es so viele Bauplan für einen Staat, der weit stärker ist er windig? Das ist eine große Frage an Alte gibt, die lange leben. eingreift als bislang. Er verschafft sich Steinbrück, und nur die Kanzlerschaft Spätestens hier schleicht sich der Ge- mehr Einnahmen über eine Vermögen- könnte sie beantworten. Zweifel an ei- danke ein, dass der Bundeskanzler Stein- steuer und über eine höhere Einkom- nem neuen, einem „linken“ Steinbrück brück ein ganz anderer sein würde mensteuer für Gutverdienende. Er setzt kann man haben. als der Wahlkämpfer Steinbrück. Wahl- einen flächendeckenden gesetzlichen Anfang August, Steinbrück marschiert kampf ist das politische Spiel mit der Mindestlohn fest, er beendet die Wahl den Lusen im Bayerischen Wald hinauf, Wahrheit schlechthin, nahe an der Schar- zwischen privater und gesetzlicher 1373 Meter, einer dieser Wahlkampfter- latanerie. Steinbrück dreht das noch ein Krankenversicherung, er baut die Pflege - mine, von denen niemand weiß, warum Stück weiter: Klartext, ehrlich, authen- versicherung aus, er reguliert den Miet- es sie gibt. Vielleicht weil die SPD Bay- tisch. Das ist die Kernbotschaft seines markt. Das klingt nicht nach dem Stein- erns das Wort „Bergauf-Tour“ für einen Wahlkampfs. brück, den man kannte, dem Steinbrück, Knüller hält. Es geht jetzt um den zweiten

32 DER SPIEGEL 38/2013 Dauermodus von Steinbrücks politischem auch als Ministerpräsident von Nord- wird gespielt. Das ist bei Merkel nicht an- Dasein, neben der Ironie: Das ist Aggres- rhein-Westfalen nicht beherrscht. Er tob- ders als bei Steinbrück. sivität. Politik ist oft eine Zumutung, ist te gegen den grünen Koalitionspartner, Bei ihm fällt auf, dass er nicht in der oft so, dass Steinbrück jemanden anbrül- er tobte gegen linke Genossen, als um Lage ist, tröstend zu wirken, jedenfalls len möchte, sich aber zusammenreißen die Agenda 2010 gestritten wurde. Er hat nicht öffentlich. Sein Ton ist ironisch, muss und das schlecht kann. Wie schlägt sich auch als Finanzminister nicht be- schnoddrig-bärbeißig, im besten Fall sach- er sich am Lusen? herrscht und tobte gegen die Schweiz, lich, aber er ist so gut wie nie warm. Als Safari-Look, beige Hose, beiges Hemd, die er mit der Kavallerie stürmen wollte, sich in der „Wahlarena“ der ARD am Wanderschuhe, Sonnenhut. „Ich bin top- sollte sie nicht das Bankgeheimnis lo- Mittwoch der vergangenen Woche eine fit“, tönt Steinbrück unten und mar- ckern. Er tobte am dollsten, wenn er ei- geschiedene ältere Frau mit ihren Arbeits- schiert los, durch den Tann, umringt von niges getrunken hatte. platzsorgen an ihn wendet, wird sie mit Journalisten. Ein Fernsehteam hält ihm „Das Bier dort macht mich fertig.“ Das technischen Erwägungen beschieden. Es die Kamera ständig ins Gesicht, und die ist ein ehrlicher Satz aus seinem Wahl- fällt das Wort Erwerbspersonenpotential. Reporterin läuft rückwärts vor Steinbrück kampf. Er sagt ihn auf Norderney, als er Er wirkt nahezu immer distanziert. her und will ihre Fragen loswerden, un- schon eine Weile geredet hat. Er bestellt Wenn er nicht lacht, scheint er hinter erbittlich. Er hasst solche Bedrängungen, ein Wasser, dann sagt er: „Ich habe mei- einer Milchglasscheibe zu stehen. Er ist aber noch nimmt er den Kampf nicht auf. ner Frau zugesagt, dass ich während des nicht ganz da, bekommt nicht alles mit. Freundlich weist er die Frau ab. Wahlkampfes keinen Alkohol trinke.“ Man sieht es bei Begrüßungen und Ab- Der Pfad wird steiler, kaum noch Bäu- Das war nach dem Schnäpschen und dem schieden. me, kaum noch Schatten, Steinbrück Mittagsweißbier vom Lusen. In Detmold tritt er zusammen mit dem nutzt jede Gelegenheit, um ein Päuschen Er habe sich so ziemlich dran gehalten, ehemaligen Bundeskanzler Gerhard einzulegen, interessiert sich plötzlich un- sagt er im Wahlkampfbus, ein Schlück- Schröder auf, Menschenfischer, Schlacht- gemein für einen schneeweißen Zottel- chen auf der Bühne bei der 150-Jahr-Feier ross vieler Wahlkämpfe. Gemeinsam ver- hund, dessen Besitzer er eingehend be- der SPD in Berlin, ein Gläschen beim Fest lassen sie das Büro der örtlichen SPD, fragt. Das bringt fünf Minuten Ausruhen. vom „Vorwärts“ und ein Gläschen nach überqueren die Straße, an der treue Am Gipfelkreuz umringen ihn Journa- dem TV-Duell. Sozialdemokraten Spalier stehen, vorn listen, die natürlich auch geniale Wort- Auf der kernigen Seite des Gefühls- geht Schröder, einen halben Schritt da- spiele kennen. War der Weg holpriger spektrums ist Steinbrück sich selbst aus- hinter Steinbrück, sie schreiten gewichtig, als sein Wahlkampf? Folgt dem Aufstieg ernstes Gesicht, und dann nicht der Abstieg? Werden ihm nicht kommt es, das große, un- auch sonst Steine in den Weg gelegt? PEER STEINBRÜCK VERGISST vergessliche Schröder-Be- Steinbrück macht das Spielchen mit, ant- MANCHMAL DIE RITUALE DES grüßungsgrinsen, begleitet wortet brav, zeigt aber manchmal ein von einem Winken zu den Teufelsgrinsen. MITEINANDERSEINS. ER IST Leuten, „schönen guten Schnäpschen, klar, am Gipfel muss ein Abend“, und jetzt merkt es Schnäpschen getrunken werden. Dann AUCH EINER, DER FÜR SICH IST. auch Steinbrück: Da sind wendet sich Steinbrück ab von den Jour- ja Menschen, zu denen nalisten, stützt eine Hand gegen das Gip- geliefert. Was ist mit der anderen Seite, man sprechen könnte. „Hallo“, sagt er felkreuz und schaut auf das Land unter mit Empathie, mit Wärme? und lächelt verspätet. sich, bemooste Felsen, Nadelbäume, klei- Er ist in Duisburg, eine Straße der Nach einem Auftritt in Hilden sagt eine ne Siedlungen. Aber vielleicht sieht er Kleinbürger, die schlecht damit leben kön- ältere Frau, dass er sich bitte nicht einer das alles gar nicht. Sein Blick ist müde, nen, dass einige hundert Sinti und Roma Großen Koalition verweigern soll. Stein- sehr, sehr müde. in ein Hochhaus gezogen sind. Lärm die brück diskutiert eine Weile mit ihr, ver- Nach einem Weißbier und Gesprächen ganze Nacht, Belästigungen, Schlägerei- tritt freundlich seinen Anspruch, Kanzler mit Wanderern kommt, wie vermutet, en – das sind ihre Klagen. Sie sind ver- zu werden, und dann hat er genug und der Abstieg, und jetzt ist es ein Bürger, zweifelt, ihre Häuschen haben schwer an marschiert zu seiner Limousine, ohne Ab- der nervt, ein Unternehmer aus der Bran- Wert eingebüßt. Einige schimpfen: „Wir schied. che der erneuerbaren Energien, der mit dürfen nichts, die dürfen alles.“ – „Mein Er meint das nicht böse. Er vergisst jammervoller Penetranz für seine Sub- Sohn wurde zweimal zusammengeschla- manchmal einfach die Rituale des Mit - ventionen kämpft. Steinbrück streitet gen.“ – „Meine Tochter wurde belästigt.“ einanderseins. Steinbrück ist auch einer, eine Weile mit ihm, erst ruhig, dann zor- Emotionen, kurz vorm Aufruhr. Was der für sich ist. So richtig wohlig erlebt nig. Der Kerl lässt nicht locker, und jetzt macht Steinbrück? Er hört zu, am Ende man ihn vor allem mit Raufbolden, zum bleibt Steinbrück stehen und brüllt ihn sagt er, die Kommunen müssten bessere Beispiel mit einem Journalisten auf seiner an. Er solle doch mal aufhören, ihm so Einnahmen haben, dann könnten sie viel- Tour durch Süddeutschland Anfang der auf den Geist zu gehen. Ein wutroter leicht helfen. Dann fährt er. „Um hier vergangenen Woche. Schädel im Nadelwald. Aber dann schafft Ruhe reinzubringen, dafür brauchen wir Ein Wirtshaus in Würzburg, Schäufele, Steinbrück doch noch die Trias des auf- doch kein Geld“, sagt ein Mann. Knödel, Krautsalat, Wässerchen, Fragen geklärten Cholerikers: Entladung, Beru- Politik, gerade Wahlkampf, schafft eine zu Koalitionen nach der Wahl, vor allem higung, Versöhnung. Menge flüchtiger Begegnungen, die in von jenem Journalisten, zum Teil idio- Ungerührtheit kann der Schauspieler Wahrheit nur Simulationen von Begeg- tisch, für einen Kandidaten vor der Wahl Steinbrück nicht spielen. Er regt sich nungen sind. Ein kurzer Austausch zwi- nicht zu beantworten, penetrant. Stein- häufig auf, er muss sich aufregen, es schen Bürgern und Politikern, die einen brück schwillt der Kamm. Er macht sich platzt aus ihm raus, rums. Beherrschung teilen ihre brennenden Sorgen mit, die dann breiter, fährt die Ellbogen auf den sollte niemand von einem Bundeskanzler anderen hören tausendmal von solchen Lehnen seines Stuhls aus, sein Kopf kippt Peer Steinbrück erwarten. Er hat sich Sorgen und rauschen weiter. Kontakt leicht in den Nacken, als böte er sein Kinn

DER SPIEGEL 38/2013 33 Serie

dar: Schlag doch zu, wenn du dich traust. Atmung mit offenem Mund. Am nächsten Tag sitzen die beiden nebeneinander im Bus, verbrüdert, hoho, was wird da gescherzt, gelacht. Männer, wie es sie früher mal gab. Auf dieser Fahrt wird er dann doch ein- mal kurz sentimental. Für die SPD, sagt Steinbrück, empfinde er nun „Dank und Empathie“. In den ersten Monaten des Jahres habe ihn die Partei wunderbar ge- stützt. Damals hatte er eine ganze Reihe von Ausrutschern hinter sich, die ruppige Verteidigung hoher Vortragshonorare, lo- ses Reden über das Kanzlergehalt und den Preis von Pinot Grigio. Die Sozial- demokraten machten unverdrossen Wahl- kampf für Steinbrück, obwohl er früher gern gegen seine Partei gelästert hatte, auch mit dem Wort „Heulsusen“. Wobei „Dank und Empathie“ nicht heißt, dass er sich nicht mehr über die SPD lustig machen würde, siehe „Umver- teilung à la Sozialdemokratie“ mit Scho- kolade. Als ihm der Fotograf in Ludwigs- burg von einer „losen Bande“ erzählt, fin- det Steinbrück natürlich, dass dies auch ein guter Name für die SPD sei. Dröh- nendes Lachen. Er kann nicht anders, er muss das einfach raushauen. Da ist er wirklich authentisch – und eben Wanderer Steinbrück bei Wahlkampfbergtour auf dem Lusen kein Schauspieler seiner selbst, was ihn von den meisten Politikern unterscheidet. Er spielt nicht Wärme, nicht Geschmeidig- keit, nicht Korrektheit. Steinbrück lässt sich gehen, mutet sich zu, keine Verblümt- heiten. Das rechnet er sich als Vorteil an, und manche tun das ebenso: endlich ein Mensch, kein Politikmensch. Bleibt aber schon die Frage, was für ein Mensch? Mitte Juni hat ihn seine Frau Gertrud gesprächsweise porträtiert. Familienkon- vent der SPD in Berlin, zusammen sitzen sie auf dem Podium und werden von ei- ner Moderatorin befragt. Wie sie ihn bei der ersten Begegnung fand? „Einen rich- tig guten Eindruck hat er nicht gemacht“, sagt Gertrud Steinbrück. Was ihr Mann zu Hause besonders gut kann? „Lesen.“ Lachen im Publikum. „Sehen Sie es so Erfrischung auf dem Gipfel

rum: Er stört nicht.“ Dann fällt ihr ein: JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES „Er kann richtig gut handwerken.“ Ein Vogelhaus baue er „atomsicher“. Sie spielt gern Scrabble mit ihm, sie Hier müsste man, wenn man es genau Manchmal ist Gertrud Steinbrück er- war in seine Erwägungen zur Kanzler- nimmt, eine klitzekleine Einschränkung staunt über das, was sie in den Medien kandidatur nicht einbezogen. Er rief sie machen. Flunkerei ist ihm nicht fremd. über ihren Mann lesen muss: „Wo ist der an und verkündete seinen Entschluss. Zu seinem Auftritt in Norderney kam er emotionale Mensch, der berührbare?“ „Ich war erschüttert“, sagt sie. „Uns ging anderthalb Stunden zu spät. Ein Mann Die Frage kann beantwortet werden: es supergut, wir hatten Freiheit.“ beschwerte sich, vor allem wegen der Der emotionale Mensch zeigt sich öf- Es ist ein ungeschminktes Bild, das sie Kinder, die nun durstig seien. Peer Stein- fentlich fast nur in Aggressionen. Was von ihrem Mann entwirft, harsch im Ton brück entschuldigte sich mit Wind und nicht heißt, dass es die andere Seite nicht und doch irgendwie liebevoll. Im Prinzip Wetter. Es regnete, ein bisschen hatte die gibt. sei ihr Gatte „ein ganz normaler Mann“, Fähre geschaukelt, doch zu spät kam Von den Erzählungen seiner Frau war sagt Gertrud Steinbrück, „eine grundehr- Steinbrück wegen falscher Planung und Steinbrück zunächst pikiert, dann so liche Haut“. Trödelei. gerührt, dass es ihm die Sprache ver-

34 DER SPIEGEL 38/2013 Bildunterschrift schlug. Da war dann auch der Berührba- nicht wollten, kam er anstrengungslos zur ist, zumal wenn es sich um Pressetexte re zu sehen, berührt vom eigenen Schick- Kandidatur, mehr oder weniger aus dem handeln sollte. sal, wenn man es noch einmal genau Politikurlaub heraus. Journalisten sind seine Lieblingsfeinde. nimmt. Es gelang ihm nicht, seine neue Rolle Er ist im Landkreis Steinfurt unterwegs, Was von dem Gespräch vor allem blieb, gleich anzunehmen. Er dödelte mit Wor- besucht einen Bioenergiepark, der früher war Gertrud Steinbrücks Erschütterung ten herum, Kanzlergehalt, Pinot Grigio, ein Munitionslager war. Das interessiert darüber, dass ihr Mann Kanzlerkandidat bis er selbst merkte, dass sich ein Kanz- ihn. „Was für Munition ist da gelagert werden musste. Sein Bruder Birger, der lerkandidat anders verhalten sollte als ein worden, Artillerie?“, fragt Steinbrück. auch sein Freund ist, hatte sich zuvor ähn- Autor. Diese Verspätung hat er einge- Schiffe und Militärisches sind seine lich eingelassen. räumt, und für eine Weile sah es so aus, Hobbys. Der nächste Termin ist die Fähr- Und Torsten Albig, sein ehemaliger als habe er gelernt. fahrt nach Norderney einschließlich eines Sprecher, jetzt Ministerpräsident von Dann kam das Bild mit dem Mittelfin- Gedankenaustauschs mit dem Kapitän, Schleswig-Holstein, sagte über die Kan- ger. Nichts hat er gelernt, gar nichts. An- der übernächste Termin ein Besuch der didatur: „Ich mag Peer Steinbrück viel ders gesagt: Er kann sich halt so gar nicht Meyer Werft in Papenburg, Schiffe satt, zu sehr, als dass ich ihm das wünschen zusammenreißen. Riesenschiffe. würde. Mein Rat an ihn ist: ,Tu dir das In die Kandidatur gefallen, sie dann Jetzt steht er erst einmal neben diesem nicht an.‘“ Später schob er nach: „Bun- verpennt und vermurkst. Ein großer Ge- ehemaligen Munitionsbunker und parliert deskanzler zu sein, das ist nicht nur ver- über Munition. Aber bald gnügungssteuerpflichtig.“ ist die Freude getrübt, Das sind Bedenken dreier Menschen, IN DIE KANDIDATUR GEFALLEN, weil sich ein Kamerateam die Steinbrück sehr gut kennen. Er hat SIE DANN VERPENNT UND der Sendung „Monitor“ einmal selbst erzählt, dass seine Frau vordrängelt und einen nicht gerade den Prototyp des Bundes- VERMURKST. GESTALTUNGSWILLE Kommentar zur Partei kanzlers in ihm sieht. Warum also? Die Linke hören will. Er ist nicht der Mann, der stets unbe- ZEIGT SICH SO NICHT. Peer Steinbrück blafft den dingt die Fährnisse des Landes gestalten Reporter weg, der aber wollte. Nach der Niederlage 2009 wurde staltungswille zeigt sich so nicht. Auf je- lässt sich nicht einschüchtern und ver- er zum hochbezahlten Vortragsreisenden den Fall hat diese Kampagne narzissti- sucht es noch einmal. Wieder Blafferei. und Buchautor mit Sitz im Bundestag, sche Elemente. Da will einer den großen Wieder die Trias. Der Reporter bekommt aber ohne größeres Interesse an den Preis der Politik, die Kanzlerschaft, weil doch noch sein Interview. politischen Ereignissen, ein Mann des er sie vielleicht kriegen kann und das eine Alles halb so wild. Steinbrücks erfolg- leckeren Lebens. tolle Sache wäre, eine Belohnung. reichstes Spielchen im Wahlkampf war das Zwei Jahre vor der Bundestagswahl Es wäre jedoch ungerecht, ihm reinen mit den Medien. Er hat so lange behauptet, 2013 ließ er sich dann etwas überra- Hedonismus vorzuwerfen. Nach dem Auf- es gebe eine Kampagne gegen ihn, bis ihm schend von Altkanzler Helmut Schmidt tritt in Norderney, nach einem langen, ein paar Leute geglaubt haben. im SPIEGEL (43/2011) zum geeigneten langen Tag, setzt er sich in sein Auto, als Nimmt man die überregionalen Print- Mann für die Kanzlerschaft ausrufen: „Er die Fähre auf Norddeich Mole zufährt, medien, ist das Meinungsbild ausgewo- kann es“. Regen, Wind, graue Welt. Im Fond brennt gen. Pluralität ist gewahrt, eine skepti- Damit war Steinbrück im Gespräch, gelbes Licht, Steinbrück liest Akten und sche „FAZ“, eine wohlwollende „Süd- und weil Parteichef Sigmar Gabriel und streicht Sätze mit einem Textmarker an, deutsche Zeitung“ eine freundliche Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier was sicherlich nicht gerade ein Vergnügen „Zeit“, ein kritischer SPIEGEL. Gleich- Wahlkämpfer Steinbrück mit Journalisten in Berlin GREGOR FISCHER / DAVIDS GREGOR wohl verschwendete Steinbrück einen Als Finanzminister der Großen Koali- ohnehin kraftraubenden, nervenzehren- größeren Teil seiner Kräfte darauf, gegen tion war Steinbrück gut, aber da hatte den Beruf. die Medien anzukämpfen, bei nahezu je- er nicht die ganze Verantwortung, son- Als Oberaufseher hätte er nicht Angela dem Termin, und das gegen den Rat von dern stand unter der Oberaufsicht der Merkel an der Seite, sondern Sigmar Gerhard Schröder. Der hat ihm gesagt: ewig beherrschten, aber wenig unter- Gabriel, den Vorsitzenden der SPD. Der Nerven behalten, souverän mit allen haltsamen Bundeskanzlerin. Eine Große ist so unbeherrscht wie Peer Steinbrück, Zumutungen umgehen. Aber diese Sou- Koalition, sagt er, komme für ihn nicht der ist dazu noch flatterhaft, und die veränität liegt nicht in Steinbrücks Natur. mehr in Frage. Er will Chef sein oder beiden sind schon im Wahlkampf heftig Zuletzt motzte er über die Meinungs- nichts. aneinandergeraten (siehe Seite 37). Für forscher, die naturgemäß alles falsch Ein Kanzler wird noch genauer beob- Unterhaltung wäre gesorgt, aber sie sind machen, solange sie nicht Steinbrück achtet als ein Kanzlerkandidat. Jedes sicher nicht das Paar, das einen in der vorn sehen. Krise gut schlafen lassen Nun hofft er auf die große Überra- würde. schung. Sollte man mit ihm hoffen? ER SCHLIEF HERVORRAGEND Im Bus hadert er damit, Er selbst sieht sich im Vergleich mit WÄHREND DES WAHLKAMPFS. dass der Wahlkampf nicht Angela Merkel so: Bei aller Kritik im noch zwei Wochen länger Einzelnen – Syrien-Laviererei, Europa- NUR DAS LICHT IN DEN HOTEL- dauert. Er sieht sich im Schwammigkeit – zeigt er Respekt vor Aufschwung. Er weiß da ihrer Arbeitsleistung und beendet seinen ZIMMERN GING NICHT AUS. zwar schon, dass sein Mit- kleinen Vortrag mit dem Satz: „Ich bin telfinger in wenigen Tagen dafür nicht langweilig.“ Er sagt das im Wort wird auf die Goldwaage gelegt, im ein großes Thema sein wird, aber er Bus, und weil es ihm gefällt, wiederholt Inland, im Ausland. Jedes Wort kann eine glaubt nicht, dass es ein Problem sein er den Satz bei einem „Klartext“-Auftritt Koalitionskrise auslösen, eine internatio- könnte. in Schwäbisch Gmünd: „Ich bin dafür nale Krise. Er kennt schon eine Antwort auf die nicht langweilig.“ Klartext also: Steinbrück ist unbe- Frage, was am Montag nach der Wahl Das stimmt. Aber was ist wichtiger: herrscht, er ist aggressiv, er ist narziss- passieren wird. In Würzburg hat er es den Unterhaltsamkeit oder guter Schlaf in der tisch. Es fällt ihm schwer, etwas wirklich Leuten erzählt. Also, der Christian Ude, Krise? ernst zu nehmen, nicht einmal seine der hat auch seine Handy-Nummer, und Steinbrück schlief übrigens hervorra- Kandidatur. Er ist niemand, der immer dann wird Ude frühmorgens anrufen und gend während des Wahlkampfs. Er hatte mit der Welt in Kontakt sein will. Er ist er, also Steinbrück, kann nicht ausschla- nur Probleme mit den unzähligen Licht- niemand, den es unbedingt nach poli- fen. Großes Lachen am Mainufer. schaltern, die es in modernen Hotelzim- tischer Gestaltung drängt. Er ist niemand, mern gibt. Er drückte und drückte, an der sich mit den Zumutungen des poli- Video-Analyse: Merkels und der Tür, am Bett, aber ging das eine Licht tischen Lebens abfinden kann. Was ihn Steinbrücks Rhetorik im Vergleich aus, ging das andere an. Ein weitverbrei- aufregt, dagegen begehrt er auf. Das spiegel.de/app382013rhetorik tetes Problem. kostet Kraft, das kostet Nerven in einem oder in der App DER SPIEGEL

36 DER SPIEGEL 38/2013 Serie Der Lostreter Sigmar Gabriel hat die Kanzlerkandidatur von Peer Steinbrück erfunden, doch im Wahlkampf ging er auf Distanz zu dessen verunglückter Kampagne. Er hofft, sich so an der Spitze der SPD halten zu können. Von Gordon Repinski

Vorbei, aus. Die Grabstätte war bis eben eine würdige Ku- lisse, jetzt stört sie nur noch. WAHL Der besinnliche Teil des Ta- 2013 ges liegt hinter Sigmar Ga- briel, er hat eine rote Nelke auf das Grab August Bebels fallen lassen, er hat innegehalten, am 100. Todestag des Mitbegründers der Sozialdemokratie. Nun schlägt die Stimmung um. „Nee!“, ruft Gabriel. Er nähert sich einer Fernsehkamera, die mitten auf einem Kiesweg auf einem Stativ aufgebaut ist. „Nee, da ist doch ein Grab im Hinter- grund“, sagt Gabriel. Der schweizer Fernsehmann schaut ihn verdutzt an. „Aber es ist doch eine so schöne Allee?!“ „Aber im Hintergrund ist ein Grab.“ „Na gut, wir können es umbauen.“ Hektisch dreht der Kameramann das Objektiv auf die andere Seite des Weges, richtet das Licht neu aus. Im Hintergrund sieht man nun eine kleine Traube Men- schen mit Plastikbechern in der Hand. Gabriel zupft sich am Sakko, so könnte es gehen. Bloß nicht so wie eben. Vorn der Vorsitzende, im Hintergrund der Tod, das ist kein gutes Bild. Nicht in einer Zeit, in der er immer wieder mühsam beweisen muss, dass die SPD noch lebt. Sigmar Gabriel, 54, Parteichef der SPD, steht vor den wichtigsten Wochen seiner Karriere. Nach der Bundestagswahl ent- scheidet sich, ob er die Partei weiter füh- ren darf und vielleicht sogar zum Vize- kanzler einer Großen Koalition aufsteigt. Oder ob er abstürzt. Wenn Peer Stein- brück die Partei in eine vernichtende Nie- derlage führt, dann ist auch Gabriel dran. Denn Steinbrück ist sein Kandidat. Deswegen spielt Gabriel seit Monaten ein doppeltes Spiel. Er ist hin- und herge- rissen, denn er würde in der verkorksten Kampagne so gern so vieles so anders machen als Peer Steinbrück. Andererseits muss er sich zurückhalten, im Wahlkampf ist der Kandidat die Nummer eins. Gabriel gehört zu einem fast ausgestor- benen Politikertypus, dem Konfliktpoli- tiker. Wo er ist, rumpelt es. Das ist gut, denn es macht die Dinge interessant. Es

DER SPIEGEL 38/2013 SPD-Chef Gabriel MARKUS TEDESKINO / AGENTUR FOCUS TEDESKINO / AGENTUR MARKUS ist aber auch schlecht, denn die tungshoheit in der Gesellschaft“. meisten Wähler wollen nicht das Dort müsse die SPD wieder hin. Gefühl haben, dass es dauernd Es ging dann sogar einige Mo- rumpelt. Sie wollen sich gebor- nate lang bergauf. Es gab kaum gen fühlen und mögen Politiker, Streitereien, und Gabriel mühte die verlässlich erscheinen. sich redlich darum, in der SPD An einem Dienstagmorgen im aufzuräumen. Es war die Zeit der August sitzt Sigmar Gabriel in ei- Zukunftswerkstätten im Willy- nem Frankfurter Messehotel und Brandt-Haus, Gabriel stand auf sinniert über sozialdemokrati- Bürgerkonferenzen und pinnte sche Steuerpolitik. Er schimpft Pappkärtchen an Korkwände. Es über die Linkspartei, da bricht er war die Zeit des kontrollierten seinen Satz plötzlich ab und Sigmar Gabriel. schaut zu seinem Sprecher. Sig- Im Wahlkampf erlebt die SPD mar Gabriel hat eine Idee. einen anderen Vorsitzenden, es „Wir können mal überlegen, gibt ihn in vier verschiedenen Ver- ’ne Meldung zu produzieren.“ sionen, je nach Laune. Da ist der Er dreht sich von seinem Spre- euphorische Gabriel, der die Welt cher weg und sagt jetzt schon umarmen möchte, wenn die Dinge einmal das, was er produzieren gut laufen. Dann gibt es den spon- möchte. „Wenn es uns gelingen tanen, der Parteitagsbeschlüsse würde, von Firmen wie Apple in kippt. Oft folgt der melancholische Europa mehr Steuern einzuneh- SPD-Deutschlandfest in Berlin Parteichef, dann wird er ruhig, sein

men, würde ich auf die Steuer - / DAVIDS BOILLOT FLORIAN Blick schweift ins Nichts, die The- erhöhungen verzichten, die wir men werden grundsätzlich. Weni- beschlossen haben.“ ge Momente danach kann er un- Ein Hauch von Revolution weht durch Tempolimit, mal ein neuer Steuerplan. Er erträglich werden. Dann flucht er und den Raum. Sechs Wochen vor der Wahl tritt einfach etwas los, er folgt seinem In- raunzt seine Gesprächspartner an. hat Gabriel in einem Frankfurter Hotel stinkt. Er hat das schon früher gemacht. Es war nicht leicht für die SPD in den die Idee, die SPD-Parteibeschlüsse der Im Landtagswahlkampf in Niedersachsen letzten Jahren. Es schien, als projizierten vergangenen Jahre zu kippen. 2003 war es seine Idee, gegen den eigenen die Wähler nacheinander ihre Hoffnun- Auf alle Steuererhöhungen verzichten? Kanzler Gerhard Schröder Politik zu ma- gen auf FDP, Grüne und Piraten. Auf der Gabriel ist jetzt mitten in einer eruptiven chen. Die SPD verlor am Ende 14,5 Pro- Sozialdemokratie ruhten keine Hoffnun- Phase, in der alles möglich scheint. In so zentpunkte und stürzte aus der absoluten gen. Wer heute SPD wählt, tut das, weil einer Phase könnte Gabriel Sozialsyste- Mehrheit in die Opposition. Unter zahl- er tief in dem Milieu der Partei verwur- me umschreiben oder einen Bundeswehr- reichen heftigen Niederlagen der jünge- zelt ist. Oder weil er glaubt, dass es für einsatz beenden. Kein Gesetz ist vor ihm ren sozialdemokratischen Geschichte hat die Demokratie schlecht wäre, wenn die sicher. Was zählt, ist der Applaus des Pu- Sigmar Gabriel die übelste eingefahren. SPD noch kleiner wird. Es sind also auch blikums. Er wurde vom Wähler zerschmettert. Stimmen aus Mitleid. Würde er also auch auf die Einkom- Es ist Dienstag, der 18. mensteuererhöhung verzichten? September 2012, als Sigmar „Am liebsten würde ich sagen: ja!“ ES GIBT VIER VERSCHIEDENE Gabriel aus dieser Situation Der Sprecher wird nervös, hier geht es GABRIELS. ER IST EUPHORISCH, einen Ausweg finden will. nicht allein um Geld, sondern um Befind- Der Ausweg heißt Peer lichkeiten der SPD. Der ganze Wahl- SPONTAN, MELANCHOLISCH, Steinbrück. Die beiden kampf ruht auf der Idee, Reiche stärker Männer haben sich im Hotel zur Kasse zu bitten. Gabriel ist unbeirrt: UNERTRÄGLICH. Luisenhof in der Innenstadt „Ich hätte Lust, da etwas loszutreten.“ von Hannover verabredet. Der Sprecher schweigt, er kann sich Der Instinktpolitiker Gabriel ist dann Gabriel ist fest entschlossen, Steinbrück ausmalen, welches Geschrei Gabriels Idee am schwächsten, wenn er unmittelbar sei- jetzt zum Kandidaten zu machen, der auslösen würde, bei den Jusos und der nen Instinkten folgt. Wenn er weiß, dass Parteichef sieht in ihm den Mann, der SPD-Linken. er sich zurücknehmen muss, wenn keiner auch Wähler der Mitte gewinnen kann. Er sagt: „Wir klären das intensiv.“ mehr mit ihm rechnet, wird er stark. Das Eine Art neuer Gerhard Schröder. Sechs Tage später feiern die Sozialde- war so, als er sich als Umweltminister für Doch Steinbrück windet sich, bringt mokraten in Berlin mit Hunderttausen- die große Politik rehabilitieren musste. als Alternative ein letztes Mal Fraktions- den Besuchern ihr „Deutschlandfest“ Und so war es, als er 2009 als Außenseiter chef Frank-Walter Steinmeier ins Spiel. zum 150. Geburtstag der Partei. Die gi- die kranke SPD übernahm. Schließlich willigt Steinbrück ein. gantische Veranstaltung mitten in Berlin Seine große Stunde wurde der Bundes- Gabriel ist zufrieden, aber er schärft ist eigentlich ein Coup, aber die Nach- parteitag im November 2009 in Dresden. Steinbrück auch ein, dass Kanzlerkandi- richtenagenturen tickern, dass sich Sig- Gabriel, durch eine Erkältung mit den Kräf- dat eine neue Rolle sein wird. „Sie wer- mar Gabriel von Steuererhöhungen di- ten eigentlich am Ende, legte einen fulmi- den dich von morgens bis abends beob- stan ziert. Die Meldung macht viele in der nanten Auftritt hin. Er reinigte die SPD achten“, warnt er. „Du wirst deinen Ag- SPD fassungslos. Das Fest ist ruiniert. von den Grabenkämpfen der Regierungs- gregatzustand verändern.“ Das Problem ist, dass Gabriel völlig un- zeit, er fand sogar ein neues Ziel für seine Aber Steinbrück ändert sich nicht, er kontrolliert Ideen ausstößt. Mal ist es ein Partei. Die „Mitte“ sei der Ort der „Deu- plaudert immer noch so haltlos vor sich

38 DER SPIEGEL 38/2013 Serie

hin wie als Hinterbänkler im Bundestag. dem Peer Steinbrück 25000 Euro für ei- Sie fürchtet, zwischen Land und Bund Mit jedem Patzer wird Gabriel klarer, nen kurzen Vortrag verdiente. „Klar, in zerrieben zu werden wie einst Kurt dass Steinbrück möglicherweise eine Bochum wissen wir bei Vorträgen, wor- Beck. Fehlentscheidung war. über wir reden“, lästert Gabriel, „alles Olaf Scholz würde gern Parteichef wer- Mit Beginn des Wahljahres fängt Ga- nicht besonders optimal.“ den, aber er will dafür keine offenen Kon- briel langsam an, sich von seinem Kandi- Es gibt viele Momente, in denen Ga- flikte eingehen. Er weiß, dass der Voll- daten zu distanzieren. Anfang Januar briel sich abgrenzt. Eine seiner Lieblings- blutpolitiker Gabriel sich niemals ohne sitzt er im Café „Henry’s“ am Marktplatz geschichten im Wahlkampf ist die der er- weiteres ergeben würde. Gabriel ginge von Goslar. Draußen liegt Schnee, Glüh- folgreichen Sozialdemokraten. Von Willy auf einem Parteitag wohl auch in eine wein wird ausgeschenkt. Gabriel trägt ei- Brandt und von Schröder erzählt er dann, Kampfabstimmung. nen rostbraunen Wollpulli und zieht mit es sind Leute aus kleinen Verhältnissen. Gefährlich wird es für Gabriel, wenn ruhigen Worten eine vernichtende Zwi- Wie auch er selbst. Jeder weiß, dass der sich Hannelore Kraft und Olaf Scholz schenbilanz seines Kanzlerkandidaten. Karrierebeamte Steinbrück nicht in diese zusammentun. In der SPD gibt es Über- Dessen Umfeld sei völlig amateurhaft, Reihe gehört. legungen, die beiden zur ersten Doppel- Steinbrück selbst scheue die Attacke. Gabriel wurde auf dem Weg nach oben spitze in der Geschichte der SPD zu Es wird die Melodie der folgenden Mo- nichts geschenkt. Nach dem verlorenen machen. Beide stehen für die größten nate. Immer wieder stichelt der Parteichef Landtagswahlkampf im Jahr 2003 arbei- Wahlerfolge der vergangenen Jahre, sind

hinter Steinbrücks Rücken. Vor dem Par- tete er hart an sich, ein Coach half ihm zudem bereits Gabriels Stellvertreter. Für teikonvent im Juni platzt dem Kanzler- dabei, sich vorteilhafter darzustellen. Noch beide wäre das Modell denkbar, so kön- kandidaten der Kragen. Im SPIEGEL for- heute isst Gabriel auch an langen Tagen nen sie Verantwortung teilen. Es wäre dert er, die Partei solle loyal sein, „auch in der Öffentlichkeit nie mehr als ein Stück das Ende für Sigmar Gabriel. Dabei hat der Parteivorsitzende“. Die beiden spre- Brot oder eine Tomate – wohl aus Sorge, er noch so viel vor mit seinen Sozialde- chen sich aus, aber hintenrum geht es man würde seine äußerliche Fülle mit ei- mokraten. Und mit sich selbst. weiter. nem Genussbild verbinden können. Am Tag, als Sigmar Gabriel seine Ende Juli sitzt der Parteichef auf einem Jetzt will er nicht mit Steinbrück in die Steueridee hat, sitzt er im Fond seiner roten Sofa in der Bochumer Innenstadt. Grube stürzen. Für die Woche nach der Dienstlimousine, es ist Mittag, Autobahn Bochum, das ist sozialdemokratisches Wahl hat Gabriel einen Konvent einbe- Frankfurt, linke Spur. Gabriel ist jetzt in Herzland. Ein Kiosk neben der Bühne rufen, es ist ein cleverer Schachzug, denn seiner ruhigen, nachdenklichen Phase. schenkt Bier aus, ein Obdachloser geht es ist vor allem die Parteibasis, die im Wollen Sie eigentlich Kanzler werden? durch die Reihen und sammelt Geld, Sig- Moment noch zu ihm steht. „Nicht jetzt.“ mar Gabriel redet über Mindestlohn und Doch am Ende wird das Schicksal Ga- Gabriel hält inne, sein Ellenbogen Rentenpolitik. Großer Applaus. „Eine briels von Olaf Scholz und Hannelore stützt sich auf die Mittelarmlehne. „Fra- Anregung hätte ich ja noch“, sagt plötz- Kraft abhängen, dem Ersten Bürgermeis- gen Sie mich noch mal in ein paar lich die Moderatorin zu Gabriel, „es ist ter Hamburgs und der Ministerpräsiden- Jahren.“ schade, dass Sie nicht der Kanzlerkandi- tin aus Nordrhein-Westfalen. Beide kön- dat der SPD sind.“ nen mit Gabriel nicht viel anfangen. Im nächsten Heft: Welche Eigenschaften Fünf Gehminuten von hier haben die Wenn sie den Daumen senken, muss sollte ein(e) Kanzler(in) haben, und wer un- Stadtwerke ihren Sitz, es ist der Ort, an ein Ersatz her. Kraft will es nicht machen. ter den Amtsinhabern war besonders gut?

DER SPIEGEL 38/2013 39 sungen und öffentlichen Fehleranalysen in Grenzen. Aber nach der Wahl wird man sich mit den Gründen beschäftigen. Es wird um die umstrittenen Steuererhö- hungen gehen, die Pädophilievorwürfe, die verunglückte Veggie-Day-Diskussion. Aber man wird auch über das Spitzenduo sprechen. Vor Beginn des Wahlkampfs hatten die Grünen in einer Untersuchung ermittelt, was ihre Anhänger vom Spitzenpersonal erwarten. Das Ergebnis: Grüne Politiker sollen kompetent und konsequent sein, erwarten die Sympathisanten. Und auf- müpfig. Doch Aufmüpfigkeit hat das Spitzen- duo Trittin/KGE nicht im Angebot. Das Unangepasste, der Mut, aufzufallen und anzuecken, der einst genauso zu den Grünen gehörte wie Umweltschutz und Anti-Atom, ist verlorengegangen. Das Freakige, das Quäntchen Anarchie. Der ehemalige Straßenkämpfer Trittin bildete sich im Selbststudium in den Chef- etagen von Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds zum Finanzministeranwärter aus. Im Habitus wechselte er ins staatsmännische Fach. Spitzenkandidatin Göring-Eckardt Und Göring-Eckardt wurde das freund -

MAURIZIO GAMBARINI / DPA GAMBARINI MAURIZIO liche Gesicht an seiner Seite. Auf dem Wahlkampfbild, das die Merkel-Fotogra- fin Laurence Chaperon von ihr schoss, GRÜNE schaut sie so brav und unbedarft in die Welt wie Annika, Pippi Langstrumpfs ängstliche Freundin. Die Anti-Pippi Seit ihrem Triumph bei der Urwahl hat sie das Gefühl, dass die Grünen sie genau so wollen: freundlich, leise, ohne scharfe Die grüne Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt will linke Töne. Sie soll zeigen, dass Grünsein nicht Steuerpolitik verkaufen – im bürgerlichen Gewand. weh tun muss, dass ein Grüner nicht lei- den muss an der Welt, nicht rebellieren, Doch ihr fehlt, was die Grünen ausmachte: das Quäntchen Anarchie. dass man grün wählen und SUV fahren kann, dass grün und bürgerlich zusam- Katrin Göring-Eckardt beugt chen. Man diskutiert. Schließlich einigt menpasst. sich über die Modellland- sich Göring-Eckardt mit den Modell- Als es im Frühsommer um Merkels schaft und kann es nicht fas- bauern, dass die Gans für „freie Gestal- DDR-Vergangenheit ging, nutzte Göring- WAHL sen: „Was macht die Gans auf tung des Lebens“ stehen könnte. Doch Eckardt die Gelegenheit, sich auch als 2013 dem Balkon?“ Sie beugt sich sie bleibt irritiert. Eine Gans auf dem Bal- FDJ-Propaganda-Sekretärin zu outen. Sie ein wenig tiefer und zeigt mit kon – das ist schon fast Anarchie. tat das beiläufig, im Plauderton, der ihr spitzem Zeigefinger auf das winzige Tier. Als „KGE“ im vergangenen November so liegt. Alles ist gut, nichts Schlimmes „Wieso ist da eine Gans?“ Es ist Ende Au- in einer Urwahl zur Spitzenkandidatin dabei. Es hat nicht weh getan. Sie sprach gust, die grüne Spitzenkandidatin besucht bestimmt wurde, schien sie die ideale Er- nicht über den Anpassungsdruck, den das das Miniatur-Wunderland in Hamburg gänzung zum linken Ur-Grünen Jürgen Leben in der Diktatur mit sich bringt; und stellt dabei das grüne Utopia vor. Die Trittin. Dass die freakige Parteichefin nicht davon, wie das ist, wenn man eine Modellbauer haben jeder Partei ihren Claudia Roth abgeschlagen auf dem vier- blaue Uniform anzieht, die nicht zu ei- Traum vom wahr gewordenen Wahlpro- ten Platz landete, verstand man auch als nem passt. Wie es ist, wenn man ständig gramm erfüllt. Die Grünen bekamen ei- Absage an die alternativ-provokative mit der Lüge lebt. Wenn es selbstver- nen Quadratmeter heile Welt: Arbeiter Gründungsgeneration der Grünen, als ein ständlich ist, dass man nach draußen das bauen Panzer zu Traktoren um, Kinder Votum für die neue grüne Bürgerlichkeit. eine sagt und nach drinnen das andere, spielen in bunten Kitas, und glückliche Trittin sollte die grünen Stammwähler an- schon als Kind. Hühner brechen aus einer eingestürzten sprechen, Göring-Eckardt das postmoder- Die Spitzenkandidatur ist Göring-Eck- Legebatterie aus. ne Bürgertum. Doch es könnte sein, dass ardts große Chance, nachdem es in ihrer Göring-Eckardt schaut sich das alles an, die Rechnung nicht aufgeht: Zur Zeit der Karriere nach dem Ende von Rot-Grün sie nickt viel. Bis sie die Gans auf dem Urwahl stand die Partei in Umfragen bei bergab gegangen war. In der Partei hatte Balkon im vierten Stock eines Mietshau- 14 Prozent. Jetzt sind es noch 11, Forsa man es ihr übelgenommen, mit welcher ses entdeckt. Direkt an der Autostraße. sah die Grünen sogar nur einstellig – hin- Verve sie sich vor zehn Jahren als Frak- Für eine Partei, die sich artgerechte Tier- ter der Linkspartei. tions chefin für die Agenda-Politik ein- haltung auf die Fahnen geschrieben hat, Bislang ist es bemerkenswert ruhig in setzte – mit welcher Überzeugung, wie haben Gänse auf Balkonen nichts zu su- der Partei, halten sich die Schuldzuwei- es schien. Sie sah die Grünen als „Re-

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formmotor“ und schwärmte von einer denen es ans Portemonnaie gehen soll, „revolutionären Umbruchphase“. dürfen ja den pekuniären Verlust auf der Heute predigt sie linke Sozialpolitik – moralischen Haben-Seite verbuchen. mit derselben Überzeugung, wie es Wenn Göring-Eckardt Umverteilung scheint. Sie stellt den Sinneswandel als sagt, klingt es nach Barmherzigkeit. Es einen Lernprozess dar. Lernen ist immer ist der Kirchentagssound: Sie spricht nicht gut. Einsicht kann schmerzlich sein, aber von Reichen, sondern von „denen, die so lernen tut nicht weh. Sie stellt es so dar, viel haben, dass sie anderen helfen kön- als wäre es nur um ein paar Details ge- nen“. Von denen, die starke Schultern ha- gangen. Einzelne Maßnahmen, die über ben. Selig sind, die starke Schultern ha- das Ziel hinausgeschossen oder versäumt ben. „Ich nehme an, Sie gehören nicht worden wären. Aber es ging um Grund- dazu“, fügt sie vorsichtshalber Richtung sätzliches. Darum, ob man die neolibera- Publikum hinzu. Man kann schließlich len Reformen als gerechtfertigt ansieht nicht sicher sein. „Aber ist es wirklich zu oder als unmenschlich, ob man meint, viel verlangt, wenn diese zehn Prozent dass soziale Sicherheit von der Konjunk- etwas zum Gemeinwohl beitragen?“ tur abhängen darf. Oder der Veggie-Day. Anfang August In der Zeit ihres Karriereknicks rettete steht Göring-Eckardt auf einer Bühne am sie sich in Ämter, in denen man nicht Kurplatz der Nordseeinsel Norderney. streiten muss, sondern nur repräsentieren. Zwei Tage zuvor hatte es in der „Bild“- Sie wurde Vizepräsidentin des Bundes- Zeitung geheißen, die Grünen wollten tags, Präses der EKD-Synode und Kir- den Deutschen das Fleischessen verbieten. chentagspräsidentin. Dann kam der Sin- Göring-Eckardt greift das Thema auf, sie neswandel, die Verwandlung zur „Mutter spricht vom Grauen der Massentierhal- Teresa“. Es gefällt ihr nicht, wenn sie so tung und von Schweinen, denen der Rin- tituliert wird. Aber manchmal zitiert sie gelschwanz abgeschnitten wird. „Deutsch- es selbt, weil es ihre Glaubwürdigkeit er- land ist die Hölle.“ Beim Veggie-Day höht. Ihr Engagement in der Kirche wird bleibt sie vage. Am Ende weiß man nicht, zur Begründung für den Sinneswandel. ob sie öffentliche Kantinen tatsächlich zu Sie argumentiert jetzt nicht mehr prak- einem fleischfreien Tag verpflichten will. tisch, sondern moralisch. Das Unbestimmte hat Methode. Nur Der Sinneswandel ist Bedingung für ih- nicht anecken. Und bestimmte Worte un- ren Sieg bei der Urwahl. Als Agenda-An- bedingt vermeiden. Beim Veggie-Day ist hängerin war ihr der Aufstieg in der Par- das: Verbot, Zwang, Verpflichtung. Das tei verwehrt, als linke Sozialpolitikerin sind Worte, die abschrecken könnten. wird sie gewählt. Doch die Verwandlung Wochen später in Berlin wird sie auf stellt sie vor eine schier unlösbare Aufga- dieselbe Frage mit einem länglichen Vor- be. Nun muss sie gleichzeitig bürgerliche trag über das Verhältnis von Freiheit und Wähler ansprechen und die linke Sozial- Regeln antworten, der in etwa darauf hin- politik verkaufen. Sie wählt dafür den ho- ausläuft, dass Freiheit dazu dient, sich hen Ton, das Kirchentagsvokabular. Regeln zu geben. Und außerdem sei ein Sie tut das ruhig, nie aggressiv, immer fleischfreier Tag in der Woche gute christ- verpackt in wohlklingende Hüllen. Nichts liche Tradition. darf weh tun. Am besten niemandem. An einem Augustabend tritt Göring- Das ist bei Steuererhöhungen gar nicht Eckardt im ehemaligen Güterschuppen so einfach. Aber Göring-Eckardt be- in Aurich auf. Auf der Bühne sitzt die Lo- kommt das ganz gut hin. Denn diejenigen, kalgröße Jürn Cornelius zwischen drei mannshohen grünen Pappbäumen und Sonntagsfrage singt „Imagine“ auf Plattdeutsch: „Stell „Welche Partei würden Sie wählen, di mol vör“. wenn am kommenden Sonntag In der Diskussion stellt sich einer der Bundestagswahl wäre?“ Fragesteller vor, wie das sein wird am Wahlabend, wenn es nicht für Rot-Grün Angaben in Prozent; Juni 2011 Quelle: Infratest und auch nicht für Schwarz-Gelb reicht. dimap für ARD- 24 „Werdet ihr euch dann auf Rot-Rot-Grün Deutschlandtrend einlassen?“ KGE gibt ihm ihre weiche Antwort. Sie spricht von der Unverein- barkeit der Programme und der Unzuver- lässigkeit der Linken. Als sie geendet hat, März 2013 17 blickt sie den Fragesteller auffordernd an: Er soll sich setzen. Doch der Mann bleibt März 2011 stehen. Er merkt, dass sie ausgewichen Reaktor- katastrophe ist. Er fragt noch einmal nach, doch sie in Fukushima wiederholt nur ihre Antwort, leicht vari- iert. Der Mann bleibt stehen. „Ich bin März 2012 13 nicht zufrieden mit der Antwort“, sagt Bundestags- er. „Das mag sein“, antwortet sie. Und wahl 2009 Sept. 2013 wendet sich dem nächsten Frager zu. 10,7 10 CHRISTIANE HOFFMANN

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Beim vergangenen Bundesparteitag erhielt sie eines der schlechtesten Ergebnisse von KARRIEREN Merkels Stellvertretern. Das Bündnis mit Schäuble ist eine der wenigen politischen Freundschaften, die Die Krabbenfreundschaft von der Leyen pflegt. Das Zusammen- spiel der beiden hat in Berlin Seltenheits- wert: Einen Pakt von Spitzenpolitikern, Ursula von der Leyen will den Wahlkampf für eine Aussöhnung der über Jahre trägt, das gibt es in der in- mit der CDU nutzen. Dabei soll ihr Parteiveteran Wolfgang trigengeplagten Hauptstadt nicht oft. Das könnte nach der Wahl auch Angela Mer- Schäuble helfen. Für die Kanzlerin ist das Bündnis ungemütlich. kel noch zu spüren bekommen. Denn der zupackende Politikstil von der Jeden Mittwochmorgen, er- Münchner Traditionslokal zu diesem Leyens und Schäubles steht im Gegensatz zählt Ursula von der Leyen, Trick. Ein Hauch großer Politik zieht zur ruhigen Hand der Kanzlerin. Während habe sie eine ganz besondere durch die holzgetäfelte Gaststube. Merkel in kleinen Schritten und vor allem WAHL Verabredung. Da treffe sie Doch wenn Ursula von der Leyen von pragmatisch regiert, finden von der Leyen 2013 sich mit ihren Unionskollegen ihrer Freundschaft zu Wolfgang Schäuble und Schäuble, dass man für seine Über- im Kanzleramt zum Früh- erzählt, geht es ihr nicht nur darum, selbst zeugungen auch mal etwas riskieren muss. stück, um die anschließende Kabinetts- ein bisschen vom Glanz des Grandsei- Von der Leyen macht kein Geheimnis sitzung vorzubereiten. Mit dem Bundes- gneurs der CDU abzubekommen. Sie daraus, wie dankbar sie Schäuble ist. „Er finanzminister, der neben ihr sitzt, pflege braucht ihn wirklich. Der Wahlkampf ist war in meinen ersten Jahren in der Re- sie ein besonderes Ritual. von der Leyens Versuch einer Aussöh- gierung ein Mentor, von dem ich viel ge- „Er gibt mir seine Portion Krabben ab. nung mit ihrer Partei. Für ihre Rehabili- lernt habe“, sagt sie. Die Ministerin hat Und bekommt dafür mein Rührei. Das tierung ist Schäuble die wichtigste Stütze. hinten rechts in ihrem Dienst-Audi Platz ist meine Krabbenfreundschaft mit Wolf- Es ist paradox: Wo immer die Arbeits- genommen und ihren rosa Blazer gegen gang Schäuble.“ ministerin auftritt, strömen die Bürger her- ein graues Strickjäckchen getauscht. Der Es ist Mitte August, der Wahlkampf bei. Doch bei den Unions-Apparatschiks Wagen quält sich durch den Münchner kommt auf Touren. Um die Bürger zu be- in der Bundestagsfraktion sinkt die Tem- Feierabendverkehr. eindrucken, geben Politiker jetzt gern peratur, sobald der Name von der Leyen Gewöhnlich schätzt von der Leyen ge- kleine Intimitäten preis. Auch von der fällt. Sie verübeln ihr die zahlreichen Al- nau ab, ob ihr Menschen nützlich sind. Leyen greift bei ihrem Auftritt in einem leingänge, zuletzt bei der Frauenquote. Doch wenn sie über Schäuble spricht, FABRIZIO BENSCH / REUTERS FABRIZIO CDU-Politikerin von der Leyen*: Nicht so isoliert, wie viele behaupten

42 DER SPIEGEL 38/2013 schwingt echte Bewunderung mit, für sei- obersten Führungszirkel der Partei. ne Kraft und Disziplin, für sein zweites Schließlich ergriff einmal Schäuble das Leben im Rollstuhl. Die beiden haben na- Wort. „Liebe Leute, habt ihr eigentlich türlich keinen Bündnisvertrag. Doch sie Töchter?“, fragte er. „Sind wir gerade da- profitieren voneinander. Von der Leyen bei, eine Rolle rückwärts zu machen?“ kann zeigen, dass sie nicht so isoliert in Damit war die Debatte beendet. der CDU ist, wie viele behaupten. Als von der Leyen Arbeitsministerin Schäuble wiederum sieht neben von wurde und er Finanzminister, vermieden der Leyen nicht aus wie ein knorriger, al- beide den traditionellen Rollenkonflikt. ter Mann. Vor allem in der Familienpoli- Von der Leyen verwaltete mit einem Mal tik haben Schäubles drei Töchter ihren den größten Etat des Bundes, einen Vater in die moderne Welt geführt. Seit- Schatz, den noch jeder von Schäubles dem ist er ein glühender Anhänger von Vorgängern heben wollte. Doch statt zäh der Leyens, er unterstützte den Ausbau um jeden Euro zu ringen, erbrachte sie der Kitas und die Gleichstellung der „mit weitem Abstand den größten Spar- Homo-Ehe im Steuerrecht. beitrag“, lobte Schäuble. Doch Schäuble geht es um mehr. Er Richtig eng wuchsen beide zusammen, hat das Spiel der Macht unter Helmut als ihr Herzensthema auf die Agenda Kohl gelernt. Der Altkanzler hatte ihn rückte – die Zukunft Europas. Von der erst als Nachfolger auserkoren und ihm Leyen und Schäuble sind beide glühende später in der CDU-Spendenaffäre seine Anhänger der europäischen Idee. Im bitterste Niederlage zugefügt. Als Schäub- Wahlkampf reden beide weit enthusiasti- le ihn bat, die geheimen Geldgeber zu scher über Europa als die Kanzlerin. nennen, ließ Kohl ihn hängen. Vor Parteifreunden in Rees nahe der niederländischen Grenze geriet von der Leyen kürzlich regelrecht in Verzückung, Wenn der Name Ursula als sie die geistigen Wurzeln des moder- von der Leyen fällt, nen Europa aufzählte – „Jerusalem! Athen! Rom!“, rief sie ihren Zuhörern sinkt die Temperatur in zu. Und auch Schäuble bemüht die Histo- rie, wenn er den Bürgern klarmachen will, der Unionsfraktion. was in der Euro-Krise auf dem Spiel steht. Das sei ähnlich wie 1913. Damals hätte Schäuble weiß, dass es in der CDU sich auch niemand vorstellen können, dass nicht mehr viele Leute gibt, die sich für sich Europa einmal bekriegen würde. Spitzenjobs eignen. Von der Leyen dage- Diese Lust an der großen Geste ist der gen hat Härte und Durchsetzungsvermö- Kanzlerin gänzlich fremd. Sollten Schäub- gen, Eigenschaften, die auch eine künfti- le und von der Leyen nach der Bundes- ge Parteichefin braucht. „Man darf sich tagswahl weiter unter Merkel dienen, über ihr Lächeln nicht täuschen“, sagte könnten die schwelenden Konflikte offen er schon zu ihrer Zeit als Familienminis- zutage treten. Während sich die Kanzle- terin. „Sie hat eine charmante Ausstrah- rin entschieden hat, die Krise weitgehend lung und doch einen harten Kern.“ auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu lö- Als die Ministerin im Frühjahr der sen, treten Schäuble und von der Leyen Kanzlerin drohte, gemeinsam mit der Op- für mehr Integration in Europa ein. position für die Einführung einer Frauen- Von der Leyens Ziel sind die Vereinig- quote zu stimmen, war Schäuble kein kri- ten Staaten von Europa nach Vorbild der tisches Wort über diese Erpressung zu USA. Und auch Schäuble fordert mehr entlocken. „Ich kann kein Fehlverhalten Macht für Brüssel. Seit Jahren macht er erkennen“, sagte er. Erst als von der Ley- sich für einen gewählten EU-Präsidenten en erwog, ihren Triumph im Bundestag stark. Beide Ideen lehnt die Kanzlerin mit einer Rede zu feiern, griff Schäuble strikt ab. Sie sagt das so nicht, aber Mer- ein. Sein Rat: Sieger genießen im Stillen. kel hält nicht viel von Wolkenschieberei- Es war nicht das erste Mal, dass Schäub- en. Alles, was nicht hilft, den Euro zu ret- le von der Leyen zu Hilfe kam. Kurz nach- ten, stört sie nur. dem sie 2005 Familienministerin wurde, In der Unionsfraktion ist vielen das hatte sie sich in den Kopf gesetzt, das El- Bündnis der beiden schon aufgefallen. terngeld und später ein Milliardenpro- Bei von der Leyens Auftritt in München gramm zum Ausbau von Kinderkrippen sagt der örtliche CSU-Bundestagsabge- auf den Weg zu bringen. Das Weltbild ordnete Peter Gauweiler: „Sie hat ein vieler CDU-Größen geriet ins Wanken, Sonderverhältnis zu unserem Bundes- für sie waren Kitas immer noch sozialis- finanzminister. Er scheucht alle weg. tisches Teufelszeug. Wenn Frau von der Leyen kommt, nimmt Entsprechend feindselig war auch er Haltung an und lässt sich dahin schie- die Stimmung im CDU-Präsidium, dem ben, wo sie es möchte.“ Von der Leyen hört es sich an, dann lä- * Am 1. September während des TV-Duells im Berliner chelt sie spitz und sagt: „Er brummt mir Studio Adlershof mit Wirtschaftsstaatssekretär Peter Hintze (l.), Finanzminister Wolfgang Schäuble und Ex- schon zu, wohin es gehen soll.“ Fußballnationalspieler Christoph Metzelder. PETER MÜLLER

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Ringen um den Fraktionsvorsitz und die künftige Ausrichtung der Partei. Als Gysi LINKE kürzlich bei seinem Lieblingsitaliener in Berlin abends beim Wein gefragt wurde, ob er sicher sei, dass nach der Wahl nicht La Fontaine doch auch Wagenknecht an die Frak - tionsspitze gewählt werde, sagte er: „Das werden sie nicht wagen.“ Es klang nicht Das Umfragehoch grämt den Realo-Flügel: Es ist auch der so, als wäre er sich dessen sicher. Erfolg einer gewandelten Sahra Wagenknecht. Die Kommunistin Wagenknecht und Gysi verfolgen im Wahlkampf verschiedene Ziele: Gysi will kopiert ihren Lebensgefährten und greift nach der Macht. beweisen, dass er ohne Lafontaine Ab- stimmungen gewinnen kann. Er strebt Die Linken lieben Symbole. touren nach Frankreich und hat im Hause an, die Linke über eine Stärkung des Im vergangenen Jahr nutzten Lafontaine gelernt, sich noch besser zu Realo-Lagers in eine Koalition zu führen; sie die Auferstehungskirche vermarkten, wie zuletzt in der Promi- Wagenknecht kämpft für ein stärkeres WAHL in der Berliner Friedenstraße, Postille „Gala“, für die sie sich in Posen Fundi-Lager als eigene Machtbasis. Er- 2013 um Harmonie zu inszenieren. der Malerin Frida Kahlo ablichten ließ. bittert streiten die Flügel über den Ein- Dort trafen sich Oskar Lafon- Wie schon bei Lafontaine bleibt Wagen- satz der Bundeswehr im Ausland. Die taine und Gregor Gysi kurz nach ihrem knechts Stuhl bei Fraktions- und Partei- Realos wollen Missionen mit Uno-Man- öffentlichen Zerwürfnis auf dem Göttin- vorstandssitzungen zum Ärger der Genos- dat unter Umständen zustimmen, die ger Bundesparteitag, um zu beweisen, dass die Par- tei doch nicht endgültig ge- spalten sei. Am vergangenen Mon- tag luden die Genossen nun erneut in die Auferste- hungskirche, zum Schau- laufen des achtköpfigen Spitzenteams mit Gregor Gysi und Sahra Wagen- knecht. Ex-Partei- und Fraktionschef Lafontaine reiste dazu gar nicht an – und war vielen Genossen dennoch so präsent wie eh und je. Als Lafontaines Lebens- gefährtin Wagenknecht das Podium bestieg, um ihre Standard rede gegen Ban- kenmacht und den bösen Finanzkapitalismus zu hal- ten, ätzte ein linker Funk- tionär in der letzten Reihe: „Achtung, jetzt spricht die Fachfrau für Finanzen in Wahlkämpfer Wagenknecht, Lafontaine*: Populismus statt Politik, Feindbilder statt Dialog, Dienstwagen Oskars Namen.“ Seit einem Jahr beobachten die Genos- sen oft leer. Die Mühen der Ebene in der Fundis die Armee am liebsten ganz ab- sen die Wiederkehr des Lafontainismus Parteiarbeit meidet sie, inhaltlich konzen- schaffen. in der Person Wagenknecht. Mal mit triert sie sich auf Finanz- und Wirtschafts- Bei den Wählern ist die Doppelstrate- Spott, mal mit mulmigem Gefühl regi- politik und drückt der Partei eher durch gie bisher zwar erfolgreich – in den Um- strieren sie, dass Wagenknecht ihrem markige Interviews als in Sitzungen ihren fragen liegt die Linke bei bis zu zehn Pro- Freund Oskar im Auftreten, im Reden und Stempel auf. Sie benutzt häufig sogar zent –, aber in Wahrheit agiert sie bei in den Methoden zum Verwechseln ähn- Kraftausdrücke, die Genossen an die ge- dieser Wahl nach dem grotesken Motto: lich geworden ist: Populismus statt Politik, fürchteten Reden von Lafontaine er innern. getrennt marschieren in Ost und West, Feindbilder statt Dialog, Dienstwagen Wagenknecht hat nicht nur Karl Marx um Stimmen zu maximieren – und einan- statt Demut. Und zwischendurch ein biss- gelesen, sondern auch Ludwig Erhard – der später schlagen. chen Hummer. „und verstanden“, wie Gysi giftig lobte. Die Spaltung der Partei lässt sich schon Wagenknecht hat sich zum Popstar der Ein Spitzengenosse, der Wagenknecht am Terminplan ihrer Protagonisten able- Linken entwickelt – von der grimmigen seit Jahrzehnten kennt, sagt gleicher - sen. Es sind so gut wie keine gemeinsa- Anführerin der Kommunistischen Platt- maßen belustigt wie beeindruckt: „Sie ist men Veranstaltungen von Wagenknecht form aus dem Osten hat sie sich zum Lieb- die Kopie Lafontaines“, la Fontaine. und Gysi vorgesehen – und wenn, dann ling der Talkshows gewandelt, der auch Die Kopie kommt gut an. Die rote Sah- gehen sie nacheinander auf die Bühne. im Westen Säle füllt und sich unter Ban- ra ist Gysis schärfste Konkurrentin im Beim offiziellen Wahlkampfauftakt der kern so geschmeidig bewegt wie im Stra- Bundespartei in Leipzig sollte Wagen- ßenwahlkampf. Die gebürtige Jenaerin * Auf einer Linken-Veranstaltung am 7. September in knecht anfangs gar nicht auftreten. Der lebt inzwischen im Saarland, macht Rad- Düsseldorf. örtliche Stadtverband lud sie dann auf

44 DER SPIEGEL 38/2013 eigene Faust ein, und Parteichefin Katja Aber die Realos schlagen zurück und Das muss aber nichts bedeuten. Im Kipping kündigte die „großartige Rede“ wildern im Westen. Weil Oskar Lafon - Westen, wo die Partei zuletzt eine Wahl einer „Buchautorin und Doktorin“ an. taine in seinem saarländischen Heimat- nach der anderen vergeigte, stabilisiert Hauptredner Gysi kam erst, nachdem Wa- verband seine Wunschkandidatin für sich Die Linke, was die Fundis als Wa- genknecht schon zur Talkshow von Anne Platz eins nicht durchsetzen konnte, genknechts Verdienst werten. Die Realos Will weitergereist war. macht er dort beleidigt keinen offiziellen ätzen, das sei allenfalls der „Syrien- Gysi hatte sich im Januar nur mit Mühe Wahlkampf. Stattdessen tourt auch er Effekt“, welcher der selbsternannten Frie- einem gemeinsamen Spitzenkandidaten- durch Nordrhein-Westfalen, wo Sahra denspartei Wähler zutreibe. Duo mit ihr widersetzen können. Der und ihre Entourage die vorderen Lis- Doch wo Wagenknecht auftaucht, Kompromiss war dann eine typisch linke tenplätze belegen. Thomas Lutze, im herrscht Andrang, und die früher Unnah- Lösung, um den brüchigen Parteifrieden Saarland auf Listenplatz eins und kein bare schreibt sogar ihren Anhängern bis zur Wahl zu wahren: ein Achterteam, Freund lafontainescher Methoden, konn- Autogramme direkt auf die Haut. Wenn das die Strömungen abbildet, von dem te sich dennoch über prominente Unter- sie wie einst Lafontaine in ihren Reden aber die eigenen Funktionäre nicht im- stützung freuen: Gysi füllte die Lücke als poltert, der „Finanzmafia“ dürfe man mer wissen, wer alles dazugehört. Gastredner vor Lafontaines Haustür nur nicht „den Arsch vergolden“, tobt der Wagenknecht konzentriert sich im zu gern. Saal. Wagenknecht sieht dann ein wenig Wahlkampf fast ausschließlich auf Nie- Im innerparteilichen Lagerwahlkampf so aus, als wäre sie von sich selbst über- dersachsen und Nordrhein-Westfalen, die um die Vormacht in der künftigen Bun- rascht. Machtbasis der Fundis im Westen. Gysi destagsfraktion sind alle Mittel recht. Die steigenden Umfragewerte im Wes- bereist mit seinen fast 200 Terminen zwar Dem praktisch zahlungsunfähigen Lan- ten beunruhigen das Realo-Lager. Noch das ganze Land, fördert aber gezielt Lan- desverband Rheinland-Pfalz, Bastion der vor kurzem waren dessen Anhänger sich sicher, dass sie in der kommenden Fraktion die Mehrheit mit überwiegend Ostvertretern stellen. Jetzt rechnen sie hektisch Mo- delle durch, welche Mi- schung bei welcher Pro- zentzahl droht: Acht Pro- zent gelten als gut für die Reformer, bei neun droht eine Übermacht der Fun- dis, bei zehn ziehen auch hintere Listenplätze im Westen, was ein paar Re- former mehr in die Frakti- on spülen würde. Doch nicht nur die Mo- dellrechnungen kursieren unter den Linken, es sind auch schon Listen aufge- taucht mit Namen von Mit- arbeitern in Fraktion und Parteizentrale, die man nach der Wahl loswerden möchte. Das Wort „Säube-

FOTOS: ROLAND WEIHRAUCH / DPA WEIHRAUCH ROLAND FOTOS: rung“ macht die Runde, statt Demut, und zwischendurch ein bisschen Hummer was einige an finsterste SED-Zeiten erinnert. Ein desverbände und Direktkandidaten aus Fundis im Westen, verweigerte der Realo- Spitzengenosse spricht von einem „schi- dem Realo-Lager. Bundesschatzmeister eine Kreditverlän- zophrenen Wahlkampf“, der gegen Teile Verirren sie sich dennoch in das Hoheits- gerung. Dass nun bekanntwurde, Wagen- der eigenen Partei gehe. gebiet des jeweils anderen, dann nur, um knechts Ex-Mann Ralph Niemeyer sei Der 22. September wird wohl ein sehr zu sticheln. So reiste Wagenknecht Anfang von der Bundestagsfraktion mit gutdo- langer Wahlabend für Die Linke, die zur September zwar nach Cottbus in Branden- tierten Aufträgen versorgt worden, wird Party in Berlins Kulturbrauerei geladen burg. Aber nicht, um die linke Direkt - im Fundi-Lager als gezielte Indiskretion hat. Die Prognose um 18 Uhr inter essiert kandidatin aus dem Reformerlager zu der Realos gewertet. die wenigsten Parteimitglieder; dass man unterstützen. Sie veredelte eine Podiums- Die Partei wirbt mit zwei Gesichtern wieder über fünf Prozent kommt und in diskussion von Wolfgang Neskovic, der auf Großflächen-Plakaten: Eins zeigt den Bundestag einzieht, gilt als sicher. 2012 die Bundestagsfraktion der Linken Gysi, eins Wagenknecht. Ein gemeinsa- Die Genossen werden auf das Ergebnis verlassen hat und nun als parteiloser Di- mes Poster mit Wagenknecht hatte Gysi in der Nacht starren und dann zählen. rektkandidat mit den Linken konkurriert. abgelehnt, weil es als eine Festlegung auf Denn die Frage, welche Landesverbände Nach einer wütenden Beschwerde des Wagenknecht als Nachfolgerin gewertet wie viele Abgeordnete entsenden, wie brandenburgischen Landesverbands bei werden könnte. Eifersüchtig zählen die viele Ausgleichsmandate und Direktman- Parteichefin Kipping konnte diese Wa- Genossen, wer in der Zentrale welches date die Linke gewinnt, entscheidet dar- genknecht immerhin das Versprechen ab- Motiv bestellt. Im Krieg der Plakate liegt über, wie stark die jeweiligen Lager in ringen, in der Diskussion zur Wahl der Gysi weit vorn – sein Konterfei wurde der künftigen Fraktion vertreten sind. Linken aufzurufen. Offiziell gilt die Sache bisher doppelt so oft geordert wie das Und dann beginnt die Abrechnung. damit als „befriedet“. von Wagenknecht. MARKUS DEGGERICH

DER SPIEGEL 38/2013 45 BJÖRN KIETZMANN BJÖRN Bundeswehrsoldat auf Patrouille in Afghanistan im Mai 2012: „Uns wurde klar, dass mit den Waffen etwas nicht stimmt“

VERTEIDIGUNG „Auf Handwärme abkühlen“ Waffen, mit denen die Bundeswehr in Afghanistan kämpft, weisen erhebliche Defizite auf, behauptet ein Ex-Beamter des zuständigen Prüfamts. Doch seine Warnungen werden ignoriert. Steht Minister de Maizière vor einem neuen Rüstungsskandal?

s ist der Karfreitag des Jahres 2010, Weltkrieg. Doch nicht nur die Zahl der bar mit Gewehren in den Krieg ziehen, die Soldaten der deutschen Afgha- Opfer beunruhigte die Truppe, es gab die unter bestimmten Gefechtsbedingun- Enistan-Truppe bereiten sich auf einen noch eine zweite bestürzende Auffällig- gen zu wirkungslos sein können, um es Routineeinsatz vor. Sie sollen im Distrikt keit: 28000 Schuss gaben die Deutschen mit Feinden aufzunehmen, die nicht mehr Chahar Darreh nach Sprengfallen suchen. während der Schlacht ab, die meisten aus tragen als Sandalen, einen Kaftan, Plötzlich zischen Gewehrkugeln über ihren Gewehren vom Typ G36. Kalasch nikow und Panzerfaust. ihre Köpfe. Ein Hinterhalt. Den ersten Ka- Doch die eilends ins Feld entsandten Die Bundeswehr hält den brisanten Be- meraden trifft ein Geschoss in den Bauch, Ermittler fanden keinen einzigen toten richt bis heute unter Verschluss. Auch die anderen suchen in Panik nach Deckung. Afghanen, noch nicht einmal Spuren ei- mehr als drei Jahre nach dem fatalen Sie schießen zurück auf die Taliban, die nes verletzten Gegners. „Uns wurde lang- Scharmützel versucht das Verteidigungs- sich in vielleicht 300 Meter Entfernung hin- sam klar“, sagt ein Bundeswehr-General, ministerium gegenüber den eigenen Sol- ter Lehmwänden verschanzt haben. „dass mit den Waffen etwas nicht stim- daten, den Bürgern und dem Parlament Zehn Stunden dauert das Gefecht. Der men musste.“ den Anschein aufrechtzuerhalten, dass es verwundete Infanterist verblutet, zwei Die Gewehre wurden überprüft, sogar keine ernsten Probleme mit Handfeuer- weitere Bundeswehrsoldaten fallen. Erst Lehmziegel aus Afghanistan flog man waffen der deutschen Armee gibt. tief in der Nacht schweigen die Waffen. zum Testgelände der Bundeswehr nach Dabei müssten es die Mitarbeiter von Es war das bis dahin längste Gefecht Meppen. Die Ergebnisse nährten den Ver- Ressortchef Thomas de Maizière (CDU) deutscher Soldaten seit dem Zweiten dacht, dass Deutschlands Soldaten offen- eigentlich besser wissen. Über Jahre be-

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lieferte sie ein besorgter Beamter aus dem Mündungsfeuerdämpfer des G36 auffal- tion verwendet wurde – ein großer Makel Wehrbeschaffungsamt in Koblenz mit Un- lend oft bersten. für jeden Waffencheck. Zudem stießen terlagen, die eklatante Schwächen bei Ge- Die Probleme, auf die der Beamte bei die Fachleute von der Wehrtechnischen wehren und Pistolen der Bundeswehr auf- seinen Recherchen zum G36 stößt, werfen Dienststelle in Meppen auf erstaunliche zeigen. De Maizières Behörde aber wie- neues Licht auf Vorfälle in Afghanistan. Phänomene, die sie eigentlich hätten alar- gelt bis heute ab. Vor zwei Wochen dann Rund um das Jahr 2006 ist den Verant- mieren müssen: Bei einer Distanz von 500 schickte der Waffenexperte seine brisan- wortlichen dort der hohe Munitionsver- Metern erweiterte sich bei Dauerbeschuss ten Informationen an Mitglieder des Ver- brauch der Soldaten aufgefallen. „Wir der Streukreis von 75 auf 250 Zentimeter. teidigungsausschusses des Bundestags. dachten zunächst an einen Ausbildungs- Durch Witterungseinflüsse betrage „die Auf über 50 Seiten beschreibt der un- mangel“, erinnert sich ein General. „Doch Abweichung des mittleren Treffpunktes längst in den Ruhestand versetzte Beam- trotz verbesserter Ausbildung blieb das bis ca. 600 cm“, so stellten sie fest. te, wie er bei seiner Prüfarbeit im Be- Phänomen bestehen.“ Bei dem mittleren Treffpunkt handelt schaffungsamt systematisch behindert Dass die Angehörigen der Afghanistan- es sich um das wohl wichtigste Maß für worden sein soll. Er sei strafversetzt und Truppe so viele Patronen verschossen, hat- die Präzision einer Schusswaffe. Sechs Me- seine Unterlagen seien gelöscht worden, te vermutlich eine andere Ursache: Die ter sind ein gewaltiger Wert, der die Prü- schließlich sollte er sich einer psych - Waffen schossen im Gefecht nicht präzise fer hätte stutzig machen müssen. Aus den iatrisch-psychologischen Untersuchung genug, weshalb die Schützen immer wie- Beschuss-Ergebnissen im Anhang der Stu- unterziehen. Auf je mehr Ungereimt - der neu etwas neben dem alten Zielpunkt die ergibt sich, dass sich dieser mittlere heiten er stieß, desto größer wurden die ansetzten in der Hoffnung, endlich zu tref- Treffpunkt beim G36 unkontrolliert ver- Attacken seines Dienstherrn. fen. „Der Soldat zweifelt zunächst an sei- lagert. Waffenkenner lässt so etwas auf- Ein Spinner, ein Querulant, alles längst nen eigenen Fähigkeiten, bis er an die horchen. Denn es ist ein Indiz dafür, dass widerlegt – nach dieser Melodie versucht Möglichkeit denkt, es könnte an der Waffe der Lauf des Gewehrs nicht stabil in die das Ministerium, den Nestbeschmutzer zu liegen“, so der hohe Militär. richtige Richtung zeigt. diskreditieren. Doch der notorische Be- Wie richtig er mit seiner Vermutung Doch niemand ging dem Warnhinweis amte hat seinem Schreiben eine CD mit liegt, zeigt ein verräterisches Dokument nach. Stattdessen machten die Tester den vielen internen Dokumenten beigefügt. aus dem Jahr 1994, das der Koblenzer Be- Weg für den Kauf der Waffe frei; eine Ent- Zusammen mit anderen, bislang vor der amte bei seinen Nachforschungen zutage scheidung, deren Fragwürdigkeit erst Öffentlichkeit geheim gehaltenen Unter- förderte. Es war der Erprobungstest, auf später unter realen Gefechtsbedingungen lagen ergeben sie ein verstörendes auffiel: als der Marschbefehl nach Bild: Sie zeigen ein Ministerium, Afghanistan erteilt worden war. das über eine ungesunde Nähe zum Plötzlich war das G36 extremen Rüstungskonzern Heckler&Koch Witterungsverhältnissen ausgesetzt, verfügt, kritischen Berichten nicht bei Angriffen musste das Gewehr angemessen nachgeht und Fehler viele Feuerstöße aushalten. So wie wegredet. Alles zu Lasten der Sol- am Karfreitag des Jahres 2010. daten im Einsatz. Den Verantwortlichen wurde Die Dokumente des Beamten langsam klar, dass die Wärme dem zeigen Auffälligkeiten bei mehre- Schussgerät zusetzt. Erstmals ein- ren Waffensystemen der Bundes- wandfrei festgestellt wurde das im wehr, etwa der Pistole P8, die von Dezember 2011. Zwei G36-Geweh- den Soldaten selbst im Camp ge- re wurden von der Front zur Un- tragen werden muss, weil sie sich tersuchung nach Deutschland ge- damit gegen heimlich übergelau - schickt. Bei einer der Waffen war fene afghanische Soldaten wehren der Kunststoff-Handschutz regel- sollen. recht weggeschmolzen. Beim Einsatz der Bundeswehr- Die Resultate waren nieder- Munition vom Typ DM51 soll ein schmetternd. Von einem „erhebli- gefährlich hoher Gasdruck entste- chen Mangel“ ist in einem Doku-

hen. Pistolen seien am Verschluss BENSCH / DPA FABRIZIO ment der Wehrtechnischen Dienst- oder Rohr gerissen, bei manchen Minister de Maizière: Nicht erneut mit dem Vorgang befasst? stelle 91 aus dem Dezember 2011 würden durch den Druck Metall- die Rede. Nach der Abgabe von teile herausgeschleudert. Das Ministerium dessen Grundlage das G36 von der Bun- 90 Schuss aus 100 Meter Entfernung habe räumt 48 Vorkommnisse seit dem Jahr deswehr angeschafft worden war. die Waffe einen Streukreis von 50 bis 2012 ein, darunter 12 durch „Bruch oder Das schwer zugängliche Papier zeigt 60 Zentimetern aufgewiesen. „Hier ist Riss“, hält dies aber für ungefährliche die schlechten Voraussetzungen, unter de- die Frage zu stellen, inwieweit ein Soldat „Verschleißphänomene“. nen die Waffe gekauft wurde. So klagte in einem Feuergefecht mit heißgeschos- In internen Dokumenten ist von einer der verantwortliche Prüfer, der Test sei sener Waffe überhaupt noch treffen „Verletzungsgefahr“ bei Verwendung der wegen Urlaub und Krankheit von Mit- kann“, so der zuständige Hauptmann. Munition die Rede. Doch noch heute arbeitern erschwert gewesen. Aus dem Es folgte eine ganze Reihe von Krisen- schießen Bundeswehrsoldaten mit der Dokument geht auch hervor, dass es kein sitzungen. Ein weiterer, umfangreicher vermutlich gefährlichen Munition in der sogenanntes Lastenheft gab, in dem die Test wurde angeordnet. Die Soldaten in P8. Heckler&Koch führt die Probleme Leistungsanforderungen an das neue Ge- Afghanistan, bei denen es bei der Wahl auf den Einsatz nicht freigegebener Mu- wehr vorher festgehalten worden wären. der Waffe um Leben und Tod ging, rea- nition zurück, die zu „überhöhtem Gas- Dabei ging es um den Kauf von bislang gierten auf ihre Weise: Wer konnte, be- druck“ führe, und zählt aber auch jene 180000 Gewehren im Gesamtwert von sorgte sich aus alten Beständen das Vor- DM51 dazu. über 180 Millionen Euro. Der Erprobungs- läufermodell des G36, das G3. Probleme habe es auch bei Maschinen- test genügte allerdings kaum den Stan- Bei Heckler&Koch reagierten die Ma- pistolen und Maschinengewehren gege- dards, unter anderem, weil überwiegend nager sauer auf den unerwartet großen ben, so der Informant. Zudem würden die nicht die für das G36 vorgesehene Muni- Ermittlungseifer der Wehrbeschaffer. In

DER SPIEGEL 38/2013 47 einer E-Mail vom 6. Juni 2012 schreibt der Kunststoff gemischt, die nicht gleichmäßig Leiter der Produktstrategie, Marc Roth, im Plastik verteilt waren. man sei „irritiert“, dass die Bundeswehr Dadurch erwärmt sich das Material je sich „seit Monaten bemüht, eine vermeint- nachdem, wie viel Glasfasern die betref- liche Kausalität zwischen dem angeblich fende Stelle enthält, unterschiedlich stark. suboptimalen Gehäusewerkstoff des G36 Das führe zu einem „nicht vorhersehba- und den angeblich vorliegenden Streu- ren Verziehen des Materials“. Wohin sich kreisvergrößerungen im heißgeschosse- das Gewehr gerade verzieht, kann der nen Zustand festzustellen“. Schütze nicht wissen. Der Treffpunkt sei- Doch die Firmenvertreter konnten auf nes G36 wandert „in Stärke und Rich- einen Verbündeten im Verteidigungsmi- tung“, ohne dass diese Bewegung in ir- nisterium zählen, den für die Beschaffung gendeiner Weise vorhersehbar wäre. des Gewehrs zuständigen Referatsleiter. Signifikant sei dieser Effekt nicht nur Der Beamte wischte die Bedenken seiner bei heißer Waffe. Schon bei einer Außen- Kollegen aus dem Wehrbeschaffungsamt temperatur von 23 Grad leide die Steifig- kurzerhand beiseite. Dabei hatten die ihn keit des Kunststoffs, so steht es in dem nur darum gebeten, weitere Käufe des Geheimbericht. Liege die Waffe in der G36 so lange auszusetzen, bis die Unter- Sonne oder werde sie von einer Seite er- suchungen abgeschlossen seien. wärmt, verlagere sich der Treffpunkt be- Doch der Referatsleiter sah dafür kei- reits. Die „Erst-Treffer-Wahrscheinlich- nen Grund: „Da diese Empfehlung weder keit“ sinke, der Munitionsbedarf steige, von Ihnen begründet wird noch ein ver- der Soldat verliere „das Vertrauen in seine änderter Erkenntnisstand vorgelegt wird“, Schießfähigkeit“, so die Prüfer. halte er an der Beschaffung fest. Und so Die Warnungen des Koblenzer Beamten wurden weitere G36 gekauft. Die Staats- scheinen durch dieses Gutachten bekräftigt anwaltschaft Koblenz ermittelt mittlerwei- zu werden. Heckler&Koch jedoch verweist le gegen den leitenden Beamten. darauf, dass die Verwendung von Kunst- Heckler&Koch dagegen behauptet, es stoff bewusst zur „deutlichen Gewichts- handle sich bei den beobachteten Phäno- reduzierung“ gewählt wurde. Das Vertei- menen um „auch für den Laien nachvoll- digungsministerium hält bis heute in ziehbare“ normale physikalische Vorgän- Nibelungentreue am G36 fest. Würden de ge. Es sei, so schreibt Heckler&Koch, eine Maizières Beamte die Probleme einräu- „Binsenweisheit“, dass jede Schusswaffe men, dann müssten sie auch zugeben, dass durch Dauerschießen heiß werde und „die schon bei der Beauftragung und Erst- thermische Reaktion“ zur Ausdehnung beschaffung in den 1990er Jahren Fehler des Laufs sowie zu „einer geringeren Ziel- gemacht wurden, auf Kosten der Truppe. genauigkeit“ führe. Einen Konstruktions- Bislang hat sich der Minister so verhal- mangel habe das Gewehr nicht, es sei nur ten, wie es aus der „Euro Hawk“-Affäre bis 200 Meter Kampfentfernungen ge- bekannt ist: seine Staatssekretäre voran- dacht. Für hochpräzise Treffleistungen schicken und dann nicht mehr mit der Sa- über größere Entfernungen stünden an- che befasst sein. Mehrmals wandte sich dere Gewehre bereit. der Informant aus dem Wehrbeschaffungs- Die Soldaten bekamen vom Führungs- amt direkt an den Ressortchef. einsatzkommando eine Reihe von Anwei- Wenige Tage nach Amtsübernahme sungen, etwa jene, „bei starker Rohr- von seinem Vorgänger Karl-Theodor zu erhitzung“ nicht mehr zu schießen, bis Guttenberg im März 2011 erhielt de Mai- das G36 „auf Handwärme wieder abge- zière das Schreiben mit sämtlichen An- kühlt“ sei – ein zynischer Rat für einen hängen. Der Christdemokrat beauftragte Infanteristen im Feuerkampf. zwei Ministerialdirigenten von der Hardt- Zumal die Waffenprüfer der Bundes- höhe in Bonn damit, den Vorgang zu über- wehr mittlerweile den entscheidenden prüfen. Die versorgten zunächst einmal Konstruktionsmangel des G36 gefunden die beschuldigten Beamten mit Unterla- zu haben glauben. So berichten sie im Juli gen, der Rechercheur aus Koblenz dage- vergangenen Jahres in ihrem Abschluss- gen wurde mit verschärften Sanktions- bericht zu den weiteren Untersuchungen maßnahmen belegt. am G36 (Projekt-Nr.: R1/0000009844; Die interne Untersuchung habe die Vor- „VS – vertraulich“), dass die beim Schie- würfe nicht bestätigen können, heißt es ßen entstehende Wärme vom Rohr in den nun lapidar aus dem Verteidigungsminis- die Haltebuchsen umgebenden Kunststoff terium. Es habe daher keine Veranlassung übergeht. „Dies führt bei der gegebenen bestanden, „den Minister erneut mit dem Konstruktion zwangsläufig zu einer zu- Vorgang zu befassen“. nehmend instabilen Rohrlagerung“, heißt Die Kontroverse um das G36 scheint es dort. den Minister zu nerven. Als er im ver- Kunststoff und Stahl arbeiten anschei- gangenen Herbst nach einer Sitzung des nend gegeneinander, das Rohr verschiebt Verteidigungsausschuss zu dem Gewehr sich. Dieses „Auswandern“ des mittleren befragt wurde, antwortete de Maizière: Treffpunkts werde noch durch eine ande- „Ich kann mich nicht um jede Waffe re Eigenschaft des Materials verstärkt. So kümmern.“ MATTHIAS GEBAUER, hatte Heckler&Koch Glasfasern in den GERALD TRAUFETTER, ANDREAS ULRICH

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Rechtsanwältin Soykan Freche Kommentare vom Richterstuhl

Unter Advokaten und Experten außer- halb der Justiz finden die Kopftuch- Arrangements im Fall der Berliner An- wältin kaum Beifall. In den Augen der Frauenrechtlerin Seyran Ateş, die in der Hauptstadt selbst als Anwältin tätig ist, sind es „Kompromisse mit bitterem Bei- geschmack“, weil die Kopftuch-Frage nicht „kompromissfähig“ sei. Der Er - langer Islamrechtler Mathias Rohe ist überzeugt, dass die Justiz das „Gewürge mit dem Kopftuch nicht durchhalten kann“. Um Einzelfälle handelt es sich nicht. Nach einer Umfrage der Berliner Senats- verwaltung für Justiz treten Rechtsanwäl- tinnen mit Kopftuch inzwischen in fast allen Gerichtszweigen auf: vor sieben von elf Amtsgerichten, vor dem Landgericht, dem Sozialgericht sowie dem Verwal-

GETTY IMAGES tungs- und dem Oberverwaltungsgericht. Zum Konflikt kommt es wohl nur selten. In Berlin plädiert nach Einschätzung des JUSTIZ Islamrechtlers und Vizepräsidenten des Amtsgerichts Tiergarten Peter Scholz eine „überwiegende Mehrheit der Richter Der Stoff des Anstoßes und Staatsanwälte dafür, Anwältinnen mit Kopftuch zu dulden“. Er selbst hatte keine Einwände, als er mit einer verhan- Dürfen Anwältinnen, Referendarinnen oder Schöffinnen im deln musste. Gerichtssaal ein Kopftuch tragen? Eine Berliner Muslimin will Allerdings weiß Scholz auch von einem Kollegen, der 2011 eine Verteidigerin sich dieses Recht notfalls vor einem Verfassungsgericht erstreiten. nicht in der Verhandlung sehen wollte, solange sie ein Kopftuch trug. Für Seyran reimal hatten sich Richter am Rechtsanwaltskammer hat ihr finanzielle Ateş käme ein Kopftuchverbot im Ge- Kopftuch der Anwältin gestört, und personelle Unterstützung zugesagt. richtssaal zwar „fast einem Berufsverbot“ Dweil sie als „Organ der Rechtspfle- Ist eine Rechtsanwältin mit Kopftuch gleich. Trotzdem ist ihr „die religiöse Neu- ge“ mit diesem Tuch die weltanschauliche im Gerichtssaal mit der verfassungsrecht- tralität der Justiz“ wichtiger, auch weil und religiöse Neutralität der Justiz ver- lichen Pflicht der Justiz zur weltanschau- nach ihrer Ansicht durch Anwältinnen letze. Dreimal hatte sich die Muslimin auf lich-religiösen Neutralität vereinbar? Es mit Kopftuch „ein Frauenbild und eine Kompromisse eingelassen. ist eine Grundsatzfrage, mit der sich wo- Rollenverteilung festgeschrieben werden, Bei zwei Verhandlungen nahm die möglich hohe deutsche Richter werden die wir nicht wollen“. Der Berliner Islam- Rechtsanwältin, die anonym bleiben will, beschäftigen müssen. In Varianten hat wissenschaftler Ralph Ghadban meint, deshalb ihr Kopftuch ab. Darunter trug sich diese Frage bereits andernorts ge- dass ein Kopftuch als religiöses Zeichen sie laut dem Berliner Gerichtssprecher stellt: Darf ein Rechtspfleger – wie am vor Gericht nichts zu suchen habe: „Das Ulrich Wimmer eine „Art Kappe“. Die Amtsgericht Berlin-Lichtenberg gesche- ist ein Rückzug des Staates Schritt für habe den Eindruck eines „dichten Haar- hen – eine Kippa tragen? Darf eine Proto - Schritt.“ netzes“ erweckt und durchaus modisch kollführerin ihr Kopftuch aufbehalten? Kenan Kolat, Vorsitzender der Türki- gewirkt. Im dritten Fall habe sie das Kopf- Erträgt die Justiz eine Referendarin mit schen Gemeinde Deutschlands, ist anderer tuch „anders gebunden“, so Wimmer, Robe und Haarbedeckung, die in einer Ansicht: „Wenn eine Anwältin zugelassen nämlich „nach hinten geschlungen“, so Gerichtsverhandlung einen Staatsanwalt ist, läuft ein Kopftuchverbot praktisch auf dass es „wie ein bäuerliches Kopftuch aus- vertritt? Berufsverbot hinaus – das geht nicht.“ gesehen“ habe. Die Richter waren zufrie- Und jedes Mal lässt sich der Zwist um Auch Nurhan Soykan, kopftuchtragende den: Die Kopfbedeckung habe nach den ein Stück Stoff auf einen Kern verdichten: Rechtsanwältin und General sekretärin des Veränderungen „nicht mehr religiös ge- Wie säkular soll unsere Justiz sein? Wie Zentralrats der Muslime, ist empört. Das wirkt“. viele religiöse Symbole verträgt die dritte Ansinnen der Berliner Richter, Muslimin- So konnten die drei Fälle verhandelt Gewalt in einer multireligiösen Gesell- nen hätten die Kopfbedeckung abzuneh- werden: ein Auffahrunfall, ein Auto, das schaft? Soll die Justiz zum Beispiel ein men oder anders zu binden, sei „men- beim Ausparken mit einem Taxi kollidiert Kruzifix im Gerichtssaal hinnehmen, wie schenverachtend und respektlos“. war, und ein Zusammenstoß auf einer im Prozess um den „Nationalsozialisti- Für den Präsidenten der Berliner Kreuzung. In Zukunft will sich die An- schen Untergrund“? Ein türkischer Ab- Rechtsanwaltskammer Marcus Mollnau wältin auf „erniedrigende Kompromisse“ geordneter hatte das beanstandet, weil wäre ein Kopftuchverbot für Anwältin- aber nicht mehr einlassen. Sollte erneut es gegen die Prinzipien des säkularen nen im Gerichtssaal ein „Eingriff in die ein Richter an ihrem Kopftuch Anstoß Rechtsstaates verstoße und alle Nicht- Religions- und Berufsfreiheit, für den es nehmen, will sie Beschwerde beim Berli- christen bedrohe, insbesondere die mus- bisher keine gesetzliche Grundlage gibt“. ner Verfassungsgerichtshof einlegen; die limischen Angehörigen der Terroropfer. Das Neutralitätsgebot der Justiz werde

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Deutschland

durch das Kopftuch nicht verletzt, weil dies hängt vom Bundesland, manchmal der Anwalt seinen Beruf unabhängig aus- auch vom einzelnen Gericht ab. Als übe und in erster Linie die Interessen sei- Schöffe an der Rechtsprechung mitzuwir- ner Mandanten wahrzunehmen habe. ken sei ein „Ehrenamt“, das die Aus- Noch deutlicher formuliert es der Vorsit- gewählten „trotz der Amtsausübung“ als zende des Berliner Richterbundes Stefan Privatperson wahrnehmen, urteilte etwa Finkel: „Für einen Anwalt gilt das Neu- das Berliner Kammergericht. Dass die tralitätsgebot nicht“, sagt er, „der Anwalt Schöffin während der Hauptverhandlung kann mit Turban oder Kippa, die Anwäl- ein Kopftuch trage, werde vom Grund- tin mit Kopftuch auftreten.“ Wenn sie recht auf Religionsfreiheit geschützt. Und denn als Advokatin erkannt wird. in das könne nur aufgrund eines Ge - Die Kölner Anwältin Soykan berichtet, setzes eingegriffen werden, das es bis- dass sie vor einigen Jahren noch auf her nicht gebe. Das Landgericht Dort- etliche Richter gestoßen sei, die sie we- mund hat hingegen den Ausschluss einer gen der Haarbedeckung zunächst über- Schöffin wegen ihres Kopftuchs gebilligt. haupt nicht als Rechtsvertreterin wahr- Dass die Justiz auf das Kopftuch bisher genommen und „verdutzt gefragt haben, hilf- und orientierungslos reagiert, ist kein wo denn die Anwältin bleibt“. Auch Wunder. Ihr fehlt ein Kompass dafür, wie freche Kommentare habe sie ertragen das staatliche Neutralitätsgebot ange- müssen. sichts wachsender kultureller, ethnischer In Hessen tritt ihre Kollegin Kadriye und religiöser Vielfalt am besten zu schüt- Aydin regelmäßig mit Kopftuch im Ge- zen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat richtssaal auf. Nur zu Be- 2003 im Urteil zum Kopf- ginn ihrer Tätigkeit 2005 tuchverbot für Lehrerinnen verweigerte ihr eine Fa - zwei mögliche Wege skiz- milienrichterin wegen des ziert. Kopftuchs zweimal, Anträ- Der eine: die „Pflicht des ge zu stellen, weil – wie es Staates zu weltanschaulich- im Sitzungsprotokoll heißt religiöser Neutralität“ stren- – „die gerichtliche Kleider- ger zu handhaben – auch ordnung nur das Tragen um Konflikte zwischen den einer Robe ohne Kopf- Religionen, Weltanschauun-

bedeckung erlaubt“. In bei- KLAR RETO gen und Ethnien zu ver- den Verfahren halfen ihr Anwältin Ateş meiden, etwa das Aufeinan- Kollegen, die sie auf dem „Bitterer Beigeschmack“ dertreffen eines jüdischen Gerichtsflur ansprach: Die Angeklagten mit Kippa und beiden stellten die Anträge einer muslimischen Schöf- für sie. fin mit Kopftuch. Der ande- Für Richterinnen oder re Weg führt in die entge- Staatsanwältinnen ist die gengesetzte Richtung: die Rechtslage dagegen klar. zunehmende religiöse Viel- Landesgesetze wie das Ber- falt für die „Einübung von liner „Weltanschauungssym- Toleranz zu nutzen“, um da- bolegesetz“ schreiben vor, durch einen „Beitrag zur In- dass sie im Dienst keine tegration zu leisten“.

„sichtbaren religiösen oder ERLANGEN / UNIVERSITÄT GLASOW KAROLINE Im Ausland gehen die weltanschaulichen Symbo- Islamrechtler Rohe Meinungen über Advoka- le“ tragen dürfen. In Hessen „Juristisches Gewürge“ ten mit religiösen Symbolen zum Beispiel ist Muslimin- weit auseinander. Im laizis- nen während der Referendarausbildung tischen Frankreich ist eine Rechtsanwältin das Tragen des Kopftuchs bei Tätigkeiten mit Kopftuch im Gerichtssaal nicht vor- verwehrt, bei denen sie „als Repräsen- stellbar. In Spanien schloss der bekannte tantin der Justiz oder des Staates wahr- Richter Javier Gómez Bermúdez eine An- genommen werden oder wahrgenommen wältin mit Kopftuch von einem Prozess werden können“, wie es ein Erlass for- aus. Im liberalen England dagegen dürfen muliert. Rechtsanwältinnen seit 2006 vor Gericht Das heißt, Kopftuchträgerinnen dürfen ein Kopftuch tragen, Gleiches gilt seit An- keine Verhandlungen bei Zivil- und Ver- fang dieses Jahres auch in der Türkei. waltungsgerichten leiten oder Sitzungs- Klare Regeln wünschen sich viele auch vertretungen bei der Staatsanwaltschaft für Deutschland. Nach Beobachtung des wahrnehmen. Nach dem hessischen Er- Islamrechtlers Rohe ist eine nicht akzep- lass sind sie sogar darüber zu belehren, table „Rechtsunsicherheit“ entstanden: dass sich ihre religiöse Prinzipientreue „Weder Richter noch Anwälte wissen Be- negativ auf ihre Gesamtbeurteilung aus- scheid.“ Die Unklarheit müsse beseitigt wirken kann, „da nicht erbrachte Regel- werden – durch Gerichtsentscheidungen leistungen grundsätzlich mit ‚ungenü- oder den Gesetzgeber. Bis dahin können gend‘ zu bewerten sein werden“. Anwältinnen mit Kopftuch nie wissen, Bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt was ihnen beim nächsten Termin vor sich die Justiz mal tolerant, mal rigoros; Gericht widerfährt. JOACHIM WAGNER

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„Man darf ruhig Vertrauen darin haben, dass sich Kinder gut entwickeln.“ DAN CERMAK DAN

BILDUNG „Auf Leistung getrimmt“ Der Kinderarzt und Bestsellerautor Remo Largo fordert bessere Lehrer und anderen Unterricht: Das bisherige Schulsystem missachte die Schüler – und diene den falschen Zwecken.

Der Schweizer Largo hat mehrere Bücher Ich habe solche Situationen in Klassen- Frontalunterrichts: gleicher Inhalt für über die Erziehung und Entwicklung von zimmern gefilmt, sie spiegeln das Haupt- alle, dargeboten in langwierigen Aus - Kindern geschrieben, unter anderem den problem unserer Zeit: Wir denken zu führungen, im Zweifel langweilig und Bestseller „Babyjahre“. Er war Professor wenig darüber nach, wie ein Lehrer mit unverständlich. für Kinderheilkunde und forschte 30 Jahre einem Kind umgehen sollte. Stattdessen SPIEGEL: Frontalunterricht zu kritisieren lang über kindliche Entwicklung an der streiten wir über Strukturen. Entschei- ist schon länger modern, er hat aber man- Universitäts-Kinderklinik Zürich. Largo dend ist das Zusammenspiel von Lehrern chen Studien zufolge auch Vorteile. Im- hat drei Töchter und vier Enkel. und Schülern. merhin bietet er Schülern, die sich in SPIEGEL: Wie sieht denn dieses Zusammen- Gruppenarbeit verzetteln, eine klare SPIEGEL: Herr Largo, auch mit 69 Jahren spiel bestenfalls aus? Form. gehen Sie immer wieder in Schulen. Sie Largo: Das habe ich erst heute Vormittag Largo: Wenn Lehrer wenig und Schüler besuchen Klassen und ergründen Miss- wieder beobachtet, als ich eine Doppel- viel reden, ist auch Frontalunterricht in stände. Ihr neues Buch ist auch ein Er- klasse besucht habe, 17 Dritt- und Viert- Ordnung. Genau das ist ja meine These: gebnis solcher Erkundungen*. Von wel- klässler, die gemeinsam unterrichtet wer- Es geht um das Zusammenspiel! Solange chen Schreckenserlebnissen können Sie den. Deren Lehrerin war unglaublich gut: ein Pädagoge erkennt, was ein Schüler berichten? Sie hat jeden Schüler auf seinem Wissens- bereits verstanden hat und woran es noch Largo: Solche Erlebnisse sind leider zahl- stand abgeholt und nach jedem Lern- mangelt, ist alles gut. Dann spielt die Un- reich. Am schlimmsten ist es, wenn Kin- schritt bestätigt. So hatte jedes Kind in terrichtsform, die Struktur, kaum eine der in Unterrichtsstunden wie abgestellt dieser Klasse heute mindestens einen Rolle. wirken. Solange sie sich unauffällig ver- Lernerfolg. SPIEGEL: Wie haben Sie Ihre eigene Schul- halten, nehmen Lehrer sie gar nicht wahr. SPIEGEL: Wie war das möglich? zeit in der Schweiz in Erinnerung? Largo: Der Unterricht war sehr flexibel, Largo: Reichlich negativ. In der sechsten * Remo Largo: „Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, auch räumlich: Die Kinder saßen mal auf Klasse geriet ich sogar in eine Art Aus- Schule, Gesellschaft?“. Beltz Verlag, Weinheim; 112 Sei- dem Boden, mal an den Pulten, aber kein nahmezustand. Das war 1955, wir wurden ten; 9,95 Euro. Das Gespräch führten die Redakteure Katja Thimm und einziges Mal wie festgenagelt. Und nie auf die weiterführenden Oberstufen ver- Markus Verbeet. verfiel die Lehrerin in die Unart des teilt. 37 kamen in die Realschule, einer

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Deutschland aufs Gymnasium und vier – genau dann entsteht, wenn auch ich zählte dazu – in die Menschen die Erfahrung tei- Sekundarschule. Nicht einer len, dass es auf die Gesamtheit von uns allen bestand die Pro- ihrer Fähigkeiten ankommt. bezeit in diesen Schulen, sie Schweizern fällt diese Haltung musste um ein halbes Jahr ver- möglicherweise leichter als längert werden. Es war ein Deutschen, auch weil das Abi- Skandal in unserer Stadt: Wir tur hier einen niedrigeren Stel- hatten in den ersten sechs lenwert hat. Fast 80 Prozent Schuljahren nahezu nichts ge- der Karrieren laufen bei uns lernt. über andere Wege. Und am SPIEGEL: Warum? Ende erhalten diese scheinbar Largo: Wir waren die Opfer ei- schlechter Qualifizierten bes- nes völlig überforderten Päd - ser bezahlte Jobs als die meis- agogen, der bereits das Pen- ten Gymnasiasten. Personal- sionsalter erreicht hatte und chefs verlangen Kompetenz, gewalttätig war. Seine Schläge und die ergibt sich eben nicht waren hart, immer wieder traf unbedingt aus einer akademi- es dieselben Schüler. Mich schen Karriere. nicht, wahrscheinlich war ich SPIEGEL: Bestreiten Sie denn zu unauffällig. Der Mitschüler, auch, dass Schüler über einen der damals am stärksten gelit- bestimmten Katalog von Fähig- ten hat, wurde später Schwei- keiten und Fertigkeiten verfü- zer Meister im Boxkampf. Ich gen sollten, bevor sie entlassen habe mich oft gefragt, ob das OTO.DE werden? eine Folge dieser Leidenszeit Largo: Das ist eine schwierige war – und was ihn eigentlich Frage, da haben wir auch das in der Schule hielt. Und war - Problem der Altlasten, speziell

um Kinder wie er nicht ein- / GRAFIKF M. STAUDT in einer Kulturnation wie fach beschließen: Es reicht, ich Grundschüler, Lehrer: „Sie wollen lernen, sie sind motiviert“ Deutschland. Den Goethe gehe! wird man nie los. Doch wenn SPIEGEL: In Deutschland verweigern ge- SPIEGEL: Wenn jedes Kind sich nach seiner man Schulen so gestaltet, dass Kinder schätzt rund 300000 Jungen und Mäd- Natur entwickeln könnte: Wie sähe dann darin tatsächlich ihre naturgegebenen chen den Schulbesuch. Was sagt uns das? unsere Gesellschaft aus? Kompetenzen realisieren können, stellt Largo: Da drückt sich, in einer Extrem- Largo: Mit Sicherheit menschengerechter. sich diese Frage auch gar nicht mehr. form, ein weitverbreiteter Mangel aus. Im Moment mangelt es doch überall im Dann werden sie wie selbstbestimmt den Die meisten Schüler vermissen Wertschät- Arbeitsleben an Anerkennung und Wert- Katalog an Fähigkeiten erwerben, den zung, sie sehnen sich nach dem Gefühl, schätzung. Und das liegt auch an den sie brauchen. in ihrer Schule am richtigen Platz zu sein. Schulen: Sie haben uns gelehrt, dass Wert- SPIEGEL: Das klingt traumtänzerisch. Ihnen fehlt eine grundlegende Lernerfah- schätzung vor allem jenen zuteilwird, die Largo: Ist es aber nicht. Es ist nur eine Fra- rung, die sie langfristig ermutigt: So wie dem herrschenden Anspruch problemlos ge der Perspektive. Wir schauen immer ich bin, kann ich erfolgreich sein und An- gerecht werden. So lernen wir, uns über auf die Defizite und wollen sie ausmer- sehen gewinnen. Solch eine Erfahrung zen – dabei ist das aussichtslos. Für jedes trägt einen durch das ganze Leben. Kind existiert ein individuelles Optimum SPIEGEL: Sie sind, wie viele Kritiker des „Überall im dessen, was es erlernen kann. Im besten Schulwesens, als Kinderarzt kein Experte, Arbeitsleben mangelt es Fall erreicht es die oberste Grenze, aber der das Bildungssystem von innen kennt. niemals kann es darüber hinaus gehen. Was macht Sie so sicher, dass Sie mit Ih- an Anerkennung Trotzdem stellen wir alle möglichen Er- ren Einmischungen richtigliegen? wartungen an Schüler, die sie selbst mit Largo: Ich habe mich mein Leben lang mit und Wertschätzung.“ Fleiß und bestem Willen nicht erfüllen Kindern beschäftigt. Die sogenannten Ex- können. Und damit verletzen wir ihre perten – Bildungspolitiker, Lehrer, Profes- Karrieremuster und Konkurrenz zu defi- Integrität und ihr Selbstgefühl. soren, Unternehmer – definieren hingegen nieren, und üben nicht, Menschen wegen SPIEGEL: Sie halten, wie auch viele Reform- ein theoretisches Ideal. Sie haben ein Men- ihrer individuellen Fähigkeiten zu schät- pädagogen, die emotionale Bindung zwi- schenbild und wollen es in den Schülern zen. Das aber sollten wir schleunigst än- schen Lehrern und Schülern für den verwirklicht sehen. Vergesst es! Kinder dern, wenn wir unsere Gesellschaft am Schlüssel zum Lernerfolg. Die Kinder, die sind nicht formbar wie ein Klumpen Lehm. Leben erhalten wollen. Unsere Volkswirt- in der Schule versagen, haben oft ein SPIEGEL: Das klingt hübsch, aber was heißt schaft speist sich zu 70 Prozent aus dem schwieriges Sozialverhalten. Ist es nicht es genau? Dienstleistungsgewerbe. Also lautet die zu viel von einem Lehrer verlangt, Kin- Largo: Kinder lernen, erstens, aus sich Frage: Welche Menschen brauchen wir? der zu lieben, die sich dauernd unflätig selbst heraus, sie wollen lernen, sie sind Überangepasste oder doch besser selb- benehmen oder ihn attackieren? motiviert. Und sie sind, zweitens, kom- ständige und kreative? Largo: Die Beziehungsqualität halte ich plett verschieden. Der Maßstab für den SPIEGEL: Stopp! Jetzt argumentieren Sie tatsächlich für entscheidend. Kinder ge- Lernerfolg eines Kindes müssen darum in einer Weise, die Sie eben noch kriti- horchen, weil sie emotional abhängig die ureigenen Möglichkeiten sein, die es siert haben. Sie blicken auf die Bedürf- sind, und nicht irgendwelcher Verbote in sich trägt. Aber solche Erkenntnisse nisse der Gesellschaft und fordern ent- wegen. Sie wollen die Liebe der Eltern verneint unser Schulsystem. Es geht von sprechende Schulen. und Lehrer nicht verlieren. einem Normkind aus, das eine Normleis- Largo: Der springende Punkt ist aber, dass SPIEGEL: Nun stellen in manchen Klassen tung erbringen soll. eine kreative Dienstleistungsgesellschaft aber Schüler die Mehrheit, die in zerrüt-

56 DER SPIEGEL 38/2013 teten Verhältnissen und dem Be- wendig gelernt, dann abgefragt, wusstsein aufwachsen, diese Liebe schließlich gibt es eine Note. Mein längst verloren zu haben. Welche Lieblingsbeispiel ist eine Hausar- Chance bleibt dann dem Lehrer? beitslehrerin, die in einer Klassen- Largo: Es wird ihm im üblichen arbeit alle 43 Teile einer Nähma- Schulbetrieb nicht gelingen, sol- schine aufgezählt haben wollte. chen Kindern das erwünschte Be- Völlig sinnlos! Wieso sollte sich ziehungsverhalten beizubringen. ein Kind so etwas merken? Also Aber wenn er sich ungewöhnlicher geraten die Eltern unter Druck, je- Mittel bedient, hat er zumindest den Kleinkram mit ihren Söhnen eine Chance, sie an die Schule zu und Töchtern zu lernen. Dabei zei- binden. Ich kenne eine Lehrerin, gen zahlreiche Studien, dass Haus- die mit ihrer Klasse – die als ex- aufgaben, Prüfungen und Noten trem schwierig galt – erst einmal nicht zu einem Lernerfolg führen. eine Woche in den Bergen ver- SPIEGEL: Also: Hausaufgaben, Prü- bracht hat. Danach existierte so fungen und Noten abschaffen? etwas wie Gemeinschaftsgefühl. Largo: Ja, das wäre gut. Dann wä- Hätte sie in der ersten Stunde mit ren die Lehrer gezwungen, sich für dem Unterrichtsstoff begonnen, jeden Einzelnen maßgeschneider- wäre sie gescheitert. te und sinnvolle Aufgaben zu über- SPIEGEL: Die Kinder haben Glück legen. In Schweden, einem ande- gehabt … ren Siegerland der ersten Pisa- Largo: … aber darauf darf es ja Studie, sind immerhin die ersten nicht ankommen. Wir müssen da- sieben Jahre frei von Noten. Oft für sorgen, dass alle Lehrer kom- geben Zeugnisse die Realität doch petent sind. Im Unterricht wirkt ohnehin nicht wieder: Eine Zwei sich das direkt aus: Klassen mit in Deutsch ist kein Garant für den besten Lehrern einer Schule einen anständigen Text. Viele Leh- leisten doppelt so viel wie jene mit rer schätzen Noten, weil sie sich den schlechtesten. dahinter verstecken können. Päd- SPIEGEL: Was ist zu tun, um die agogisch sind die unbrauchbar. Qualität allerorten zu steigern? SPIEGEL: In Deutschland plädieren Largo: In den Klassen müsste regel- viele Menschen für ein einheitli- mäßig gefilmt werden. Die Lehrer ches Bildungssystem mit einem analysieren gemeinsam die Stich- Zentralabitur. Das ist nicht denk- proben: Was war da los, warum bar ohne Normen und Noten. beteiligen sich manche Schüler Largo: Diese Bemühungen sind nicht? Was hätte der Lehrer besser doch völlig absurd. Erneuerung machen können? kann es nicht durch Vereinheitli- SPIEGEL: Fordern Sie da nicht zu chung von oben geben, sondern viel Einsatz von den Lehrern? nur durch eine Entwicklung von

Largo: Nein, überhaupt nicht. Ein CERMAK DAN unten. Jede einzelne Schule muss guter Lehrer ist selbst ein Lernen- Großvater Largo mit Tochter und Enkeln aus sich selbst heraus einen Weg der – ein Leben lang. Es kann „Kinder sind nicht formbar wie ein Klumpen Lehm“ finden. Ich muss noch einmal nicht sein, dass Lehrer von ihren Schweden erwähnen: Dort erhal- Schülern fordern, sich beurteilen zu las- keit und mehr Zeit – manches, was Sie ten Familien Bildungsgutscheine vom sen, sich selbst aber jeder Verbesserung sagen, klingt sehr einfach, fast banal. Was Staat, die sie entweder bei öffentlichen entziehen. sagt es eigentlich über uns, Ihr Publikum, oder bei privaten Schulen einlösen kön- SPIEGEL: Was sollte sich noch ändern? dass Millionen Menschen Geld für Ihre nen. So entsteht ein gesunder Wettbe- Largo: Auch wenn es viele nicht mehr hö- Bücher ausgeben, um solche Einsichten werb, der zudem die Kreativität von Kol- ren wollen: Man sollte sich an den Sie- zu lesen? legien beflügelt. Von oben, aus der Bil- gern der Pisa-Studie orientieren. In Largo: Nun ja, am häufigsten höre ich von dungsbürokratie heraus, lässt sich die Deutschland verlässt jeder fünfte bis Pädagogen und Eltern, die Lektüre habe nicht ankurbeln. sechste Jugendliche die Schule, ohne sie entspannt. Es ist sicherlich beruhigend SPIEGEL: Sie haben mehrere Enkel. Mi- wirklich lesen, rechnen und schreiben zu zu erfahren, dass der Umgang mit Kin- schen Sie sich in deren Schulkarrieren können, in Finnland nur jeder zwanzigs- dern im Grunde einfach ist und man fast ein? te! Um Deutschland auf das finnische alles richtig machen kann. Und dass man Largo: Nein. Es ist auch nicht nötig. Der Niveau zu heben, müssten alle Kinder, ruhig Vertrauen darin haben darf, dass jüngste, er ist jetzt sieben, hat im Sommer die unter ungünstigen Bedingungen auf- sich die Kinder gut entwickeln – wenn sie begonnen, dieser Tag war wirklich berüh- wachsen, ab dem dritten Lebensjahr in sich geborgen fühlen und entwicklungs- rend. Kinder, Eltern, Großeltern und Leh- eine Kindertagesstätte gehen. Das ist die gerechte Erfahrungen machen können. rer haben gemeinsam Lieder gesungen; einzige Maßnahme, die nachweislich SPIEGEL: Beruhigung sucht, wer unsicher dann wurde jedes neue Schulkind einzeln Erfolg verspricht, nicht dieser ganze För- ist. Woher rührt die allgemeine Verunsi- auf die Bühne gebeten und mit einer Blu- derwahn und die Sonderpädagogik. Wir cherung? me begrüßt. So erreicht man Beziehungs- vernachlässigen die Kinder in dieser Largo: In einer globalisierten Welt merken qualität. Es ist wichtig für die Kinder, aber frühen Lebensphase und wollen später viele Erwachsene, dass manche Gewiss- auch für die Familien, zu sehen: Mein retten, was schon verloren ist. heiten nicht mehr gelten. Und die Kinder Kind ist willkommen. SPIEGEL: Jedes Kind ist anders, jedes Kind werden auf Leistung getrimmt, ich spre- SPIEGEL: Herr Largo, wir danken Ihnen will lernen, wir brauchen mehr Achtsam- che oft von einer Treibjagd: Erst wird aus- für dieses Gespräch.

60 DER SPIEGEL 38/2013 Deutschland

Fromm und Eisvogel widmeten sich GEHEIMDIENSTE demnach „völlig“ den „zahllosen, ach so wichtigen Terminen in Berlin und im Aus- land“. Das Bundesamt für Verfassungs- Titanic auf schutz mit seinen insgesamt 2700 Mit - arbeitern sei nicht von der Amtsleitung, sondern von den Abteilungsleitern ge- Zickzack-Kurs führt worden. „Wir waren der Auffassung, dass Sie Der Ex-Vize des Verfassungs- schließlich jederzeit um einen Termin schutzes offenbart in einem Brief, bitten konnten. Das musste reichen“, wie die Behörde außer Kontrolle schreibt Eisvogel selbstkritisch an die Mit- arbeiter des Hauses. Und resümiert nüch- geriet. Alexander Eisvogels tern: „Dass im Laufe der Jahre immer Schreiben ist eine Abrechnung. weniger zu uns kamen, fiel uns, fiel mir eigentlich kaum auf.“ er Duft von Dillkartoffeln hing in Mit seiner Kritik trifft der ehemalige der Luft, als Alexander Eisvogel, Vize einen sensiblen Punkt. Denn es wa- D48, offiziell verabschiedet wurde. ren vor allem schwere Kommunikations- Der Vizepräsident des Bundesamts für defizite, die dem Verfassungsschutz seine Verfassungsschutz (BfV) war noch einmal wohl größte Identitätskrise der vergange- aus dem Urlaub zurückgekehrt, um am nen Jahrzehnte bescherten. Bei der Su- letzten Freitag im Juli der Rede seines che nach den Killern von acht türkisch- Präsidenten Hans-Georg Maaßen zu lau- stämmigen Männern sowie einem Grie- schen, in der Kantine der Kölner Behörde, chen operierten die Geheimdienstler kurz vor dem Mittagstisch für mehr als von Bund und Ländern mitsamt ihren 1500 Geheimdienstmitarbeiter. V-Leuten oft blind und ahnungslos ne- Maaßen bedankte sich vor der versam- beneinanderher. Dass die Mordserie auf melten Belegschaft bei Eisvogel, der an das Konto von Rechtsextremisten gehen der „Zukunftsorientierung des Inlands- könnte, zog kaum einer von ihnen in Er- nachrichtendienstes entscheidend mitge- wägung. wirkt“ habe. Das war alles, danach gab Kommunikationsmängel kosteten auch es Menü 1 bis 5. BfV-Chef Heinz Fromm das Amt. Kurz Inzwischen hat sich Alexander Eis - nach der Enttarnung der NSU-Gruppe im

vogel auch um die Vergangenheitsbewäl- WEISS / OSTKREUZ MAURICE November 2011 ließ ein Referatsleiter tigung des BfV verdient gemacht. Der Ehemaliger Verfassungsschützer Eisvogel Akten von sieben V-Leuten aus dem Um- Spitzenbeamte hat einen Abschiedsbrief Jahresplan ohne Zielorientierung feld der Terroristen schreddern. Als die geschrieben – und skizziert darin scho- Aktion acht Monate später bekanntwur- nungslos eine Behörde, deren Führung „Ich hielt mich für einen ganz Großen“, de, zog ein wütender, von seinen Leuten die Kontrolle entglitten ist. „Wir waren schreibt Eisvogel in seinem Papier unver- enttäuschter Fromm die Konsequenz – wie die Titanic auf großer Fahrt“, schreibt blümt. Dass sich der smarte Mittvierziger und ließ sich in den Ruhestand versetzen. der ausgeschiedene Vizechef, „ziellos selbst als besseren Präsidenten sah, war Eisvogel blieb als Vize im Amt, galt aber im Zickzack über den ,VS-Atlantik‘ un- im Hochsicherheitskomplex von Köln- als angeschlagen. terwegs! Und das mit vielen Eisbergen Chorweiler ohnehin ein offenes Geheim- In seiner Abschiedsnote fragt er sich voraus.“ nis. So verwundert es kaum, dass die nun, ob man die Schuld für die Reißwolf- Das Sieben-Seiten-Papier stellte Eis- Probleme beim Verfassungsschutz laut Aktion „allein bei denen abladen kann“, vogel vor seinem Wechsel an die Bundes- Eisvogel nicht erst mit seiner Rückkehr die sie ausführten und danach vertusch- akademie für öffentliche Verwaltung in begannen, sondern schon viel früher. ten. Oder ob der Vorgang nicht vielmehr das für alle BfV-Mitarbeiter einsehbare Jahrelang habe der damalige Präsident ein „Symptom für die Sprachlosigkeit“ Intranet ein. Es bietet Einblicke in eine Heinz Fromm eine „Führung an der lan- zwischen Amtsleitung und Arbeitsebene Welt, die seit dem Skandal um die rechte gen Leine“ praktiziert. Diesem als „alter- sei. So viel Selbstkritik war bislang sel- Terrorgruppe NSU aus den Fugen geraten nativlos“ empfundenen Stil habe er, Eis- ten bei der Aufarbeitung des NSU-Kom- ist. Es ist eine Streitschrift für eine Radi- vogel, sich angepasst. plexes. kalreform des Inlandsgeheimdienstes – Wenn das Bild vom deutschen Inlands- Eisvogels Gedanken zum Abgang sind zugleich wirft der Brief aber auch ein nachrichtendienst zutrifft, das der BfV- auch ein Dokument der Resignation, Licht auf jenen Mann, der versuchte, das Vize in dem Schreiben entwirft, dann war geschrieben von einem, der an seinen BfV durch die Krise zu lotsen: Eisvogel die Amtsleitung vom Alltag der Agenten, Ansprüchen gescheitert ist. Dass Refor- selbst. der Auswerter und V-Mann-Führer so men im Amt nötig waren, habe er bereits Als der Jurist im Frühjahr 2010 zweiter weit entfernt wie Berlin vom Rhein. vor der NSU-Affäre erkannt, schreibt Mann des Verfassungsschutzes wurde, kannte er das Amt bereits in- und aus- wendig. In der Geheimdienstzentrale hat- te Eisvogel Karriere gemacht, war zum Leiter der Islamismus-Abteilung aufge- stiegen. 2006 holte ihn das CDU-geführte Hessen an die Spitze seines Landesamtes für Verfassungsschutz. Beste Vorausset- zungen also für den nächsten Karriere- schritt am Rhein. Ausriss aus dem Eisvogel-Brief: Ein Dokument der Resignation

DER SPIEGEL 38/2013 61 Deutschland er. Die Veränderungen seien jedoch „zu vorsichtig begonnen“ oder „einfach ver- schoben“ worden. „Wir mögen einen Jahresplan gehabt haben, aber keine Zielorientierung.“ Auch das lausige Image der Behörde, die Politiker von Grünen und Linken am liebsten ganz auflösen würden, themati- siert Eisvogel. „Wir werden von Teilen der Gesellschaft als Anachronismus emp- funden“, räumt der ehemalige Vize ein, „also dürfen wir auf keinen Fall wie ein Anachronismus wirken!“ Das ist leichter gesagt als getan. BfV- Präsident Maaßen, seit gut einem Jahr im Amt, kämpft an mehreren Fronten ge- gen die schlechte Verfassung des Inlands-

geheimdienstes. Und die wohl schwierigs- JANSSEN SVEN / IMAGO ZWEIKAMERADEN te Front ist der Streit mit den Chefs der Kieler Oberbürgermeisterin Gaschke, Unternehmer Uthoff*: Geld verdient, Geld verbrannt Landesämter für Verfassungsschutz über Zuständigkeiten. die Stadt alles von ihm fordern würde. Kaum weniger problematisch ist die SCHLESWIG-HOLSTEIN Allerdings stammte das Gutachten von Kommunikation nach außen, die sich seit einem Uthoff-Berater; Uthoff selbst hat der Entdeckung des NSU kaum verbes- es bezahlt. Entsprechend groß sind nun sert hat. Als der SPIEGEL vergangene Zum Schluchzen die Zweifel, ob der Klinikchef wirklich Woche detaillierte Fragen zu einer gehei- so arm dran gewesen wäre – und ob die men, von BfV, Bundesnachrichtendienst Die Stadt Kiel erlässt einem Stadt, wie Gaschke befürchtete, ohne die- und dem amerikanischen Geheimdienst Unternehmer fast vier Millionen sen Deal wirklich kaum noch Geld von CIA gemeinsam betriebenen Datensam- Euro Schulden; dabei lebt der ihm gesehen hätte. melstelle nach Köln schickte, ließ das Fest steht, dass der Mediziner viel Geld Amt die Fragen zunächst weitgehend un- Mann im Luxus. Jetzt erreicht die verdient und viel Geld verbrannt hat, das beantwortet. Keine Auskunft darüber, Affäre Ministerpräsident Albig. erste mit dem Lasern von Augen, das wann das Parlamentarische Kontrollgre- zweite mit dem Kauf von Immobilien für mium des Bundestags über das „Projekt er Chef der exklusiven Augen - mehrere hundert Millionen Mark in den 6“ unterrichtet wurde. klinik Bellevue hat eine Yacht für achtziger und neunziger Jahren. Als er Nachdem der SPIEGEL-Artikel öffent- Ddie schnelle Spritztour. Schon et- sie damals auf Druck der finanzierenden lich wurde, lieferte das Amt ein Informa- was älter, aber eben eine Yacht, Sunseeker Banken wieder verkaufen musste, forder- tionshäppchen nach: Das BfV erklärte, Tomahawk 37. Und ein Flugzeug, die zwei- te die Stadt dafür Gewerbesteuer. Seit dass die Politiker des Gremiums über den motorige Piper 23-250 Aztec, zwar aus den 2008, nach einem Dauerstreit vor Gericht, Vorgang informiert seien. Am vergange- Siebzigern, aber immerhin ein Privatflug- hat sie dafür auch einen rechtskräftigen nen Dienstag legte das Amt dann in einer zeug. Dazu ein Reetdachhaus auf Sylt, im Titel. weiteren Presseerklärung offen, wann Nobel-Ort Kampen, das bestimmt ein paar Den hätte Kiel danach problemlos durch- das geschehen war: am 12. August, also Millionen wert ist. Kurz gesagt: Der Kieler setzen können: Wie das Finanzministerium zu einem Zeitpunkt, als die Behörde be- Mediziner Detlef Uthoff besitzt, was die erläutert, läuft es in der Regel nämlich so, reits von den SPIEGEL-Recherchen zu meisten Steuerzahler niemals besitzen wer- dass „im Falle eines rechtskräftigen Urteils Projekt 6 wusste. den. Und trotzdem hat die Kieler SPD- nach nochmaliger Zahlungsaufforderung Selbst intern gilt diese Krisen-PR als Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke ge- kurzfristig vollstreckt wird“. Doch im Ge- unglücklich. Dabei hätte Maaßen früh- tan, was die meisten Steuerzahler nie er- gensatz zum Finanzamt Kiel-Nord, das zeitig in die Offensive gehen können; leben werden: Sie hat ihm Steuerschulden ebenfalls noch eine offene Rechnung mit schließlich trug er im Jahr 2010, als die erlassen, fast vier Millionen Euro. Uthoff hat und am 27. Dezember 2012 die gemeinsame Datenbank von BfV, BND Deshalb hat die Politikerin, die bis zu Vollstreckung androhte, verzichtete die und CIA abgeschaltet wurde, noch keine ihrer Wahl im November Redakteurin bei Stadt auf die harte Tour. Stattdessen be- Verantwortung in Köln. der „Zeit“ war, jetzt ein Problem. Es ist gann das Feilschen, schon unter Albig. Ob Maaßen, dem Zurückhaltenden, die ein Problem, das sogar den Ministerpräsi- „Seit vielen Jahren fanden Gespräche offenen Worte seines ausgeschiedenen denten von Schleswig-Holstein, Torsten mit der Stadt Kiel über eine Lösung der Vizes gefallen haben, ist fraglich. Der Albig (SPD), erfassen könnte. Der war Gewerbesteuerfrage statt“, sagt dazu ein Jurist, dessen Mitarbeiter über das hohe Gaschkes Vorgänger im Bürgermeisteramt Uthoff-Sprecher. Und Gaschke, keine Arbeitspensum ihres Chefs stöhnen, will und offenbar sogar bereit, Uthoff notfalls Freundin von Albig, verlor die Nerven die verkrusteten Strukturen der Behörde noch stärker zu entlasten. Nur dass es in und verwies auf ihren Vorgänger, der aufbrechen. Dafür richtete er eigens seiner Amtszeit noch nicht so weit kam. doch auch schon mit der Sache zu tun ge- eine „Querdenker-Gruppe“ ein. Mit sei- In diesem Juni ordnete Gaschke per- habt habe. Zuvor war Gaschke in der ner Abrechnung befeuert Eisvogel nun sönlich und per Eilentscheid an, Uthoff Ratsversammlung hart angegangen wor- jene Kritiker, die ohnehin glauben, dass 3,7 Millionen Euro Zinsen und Säumnis- den und hatte mal schluckend, mal das Amt nicht zu retten sei. Ein paar gebühren auf seine Gewerbesteuerschuld schluchzend mit den Tränen gekämpft. Monate Reform, ein „bloßes ,brush up‘“, zu erlassen. Im Gegenzug erklärte sich Wie weit Albig dem säumigen Uthoff schreibt Eisvogel, das werde nicht rei - der Arzt bereit, die Hauptschuld von 4,1 schon entgegenkommen wollte, lässt er chen: „Der Verfassungsschutz wird sich Millionen Euro in Raten abzustottern. künftig dauerhaft anpassen und erneuern Gaschke verließ sich dabei auf ein Gut- * Als Sänger einer von ihm zusammengestellten Big müssen.“ HUBERT GUDE achten, wonach Uthoff pleite wäre, wenn Band.

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Deutschland heute offen: „Ich habe auch solche Fälle Finanzamt austricksen lässt, das von Ut- auf dem Schreibtisch gehabt und um ent- hoff noch Einkommensteuer will. RELIGION sprechende Prüfung gebeten, jedoch kei- Der Sprecher des Arztes verweist bei ne Entscheidung getroffen.“ Damit aber allen Fragen grundsätzlich auf das Steu- weicht Albig aus. Wenn er gekonnt hätte, ergeheimnis, legt aber Wert darauf, dass Wer liebt, dann hätte wohl auch er zu den heutigen Uthoff nie gegen Vorschriften verstoßen Konditionen eingeschlagen. habe. Das werde schon daran deutlich, Aus seinem Umfeld heißt es, Albigs dass die Steuerbehörden kein Ermitt- der schlägt Auftrag an die Stadtverwaltung habe lungsverfahren gegen ihn eingeleitet gelautet: „Prüft es unter der Voraus - hätten. Uthoff habe die legalen Möglich- Bayerische Behörden gehen gegen setzung 50 + 1.“ Die Verwaltung sollte keiten des Steuerrechts genutzt, nichts die „Zwölf Stämme“ vor. Doch also sicherstellen, dass mehr als die Hälf- anderes. die Sekte hat längst einen neuen te der Steuerschuld hereinkam. So steht Das stimmt allerdings nur für die ver- es auch in einem Brief an die Kommunal- gangenen 20 Jahre. 1993 akzeptierte Ut- Standort aufgebaut – und aufsicht, in dem Gaschke die Historie hoff einen Strafbefehl über 1,8 Millionen wohl Kinder ins Ausland gebracht. des Falls geschildert hat. Gaschkes Deal Mark, weil er über Jahre Ausgaben in sei- dagegen bringt nun immerhin 52,5 Pro- nem Privathaushalt als Dienstkosten de- nfangs freute sie sich, dass endlich zent ein. klariert und von der Steuer abgezogen neue Nachbarn in den roten Klin- Für eine Partei, die im Bundestagswahl- hatte. Dafür gab es auch noch zehn Mo- Akerbau gegenüber eingezogen wa- kampf mehr Steuergerechtigkeit ver- nate auf Bewährung. ren. Von ihrem Wohnzimmer aus schaute spricht, ist das Steuergeschenk trotzdem Ilona Meyer in den Innenhof: Sie sah Frau- ein Desaster. Zwar versichert Uthoffs en mit langen Haaren und weitem Rock, Sprecher, die Piper Aztec stehe kaputt Männer mit Bart und Pluderhose und Kin- im Hangar, das Haus auf Sylt diene den der, endlich wieder Kinder. Banken komplett als Sicherheit. Und 76 Menschen leben in Dolchau, einer die Yacht sei längst nicht mehr Uthoffs Ortschaft im Norden Sachsen-Anhalts. Eigentum, sondern das der Pandam KG, Anfang Juli kamen die Neuen. Sie seien einer Familienfirma, hinter der nur seine freundlich und offen gewesen, berichtet Ehefrau Anke und die Kinder stehen. Meyer, sie hätten sich ordentlich vorge- Doch Uthoff lässt sich zu seinen Vorle- stellt und von ihrer Gemeinschaft gespro- sungen an der Universität Halle jetzt chen, den „Zwölf Stämmen“. Rund zehn eben mit einem gemieteten Flugzeug brin- Kinder seien zuletzt darunter gewesen, gen. Und als seine Klinik 2010 ihr 25-jäh- sagt auch eine andere Nachbarin, „alle riges Bestehen zelebrierte, feierte Uthoff Größen“. Die jüngsten vielleicht 7, die äl- auch sich selbst. Mit Streichorchester und testen 16 Jahre alt. Lasershow, in einer Bootshalle in Kiel- Spielen sah man die Jungen und Mäd- Laboe, in die extra für diesen Tag eine chen nie. Nun sieht man sie gar nicht MICHAEL AUGUST / DER SPIEGEL MICHAEL AUGUST zweite Ebene eingebaut worden war, um mehr: Seit wenigen Tagen sind die Kinder Platz für 450 Gäste zu schaffen. Kosten verschwunden, sie wurden vermutlich ins der Sause: deutlich sechsstellig. Ausland gebracht. Dass einer, der angeblich seine Steuer- In Dolchau hat sich offenbar der nächs- schulden nicht bezahlen kann, trotzdem te Akt eines Dramas ereignet, das seit so solvent ist, könnte auch an seiner Frau Jahren an wechselnden Orten in Deutsch- Anke liegen. Die hat nicht nur ein fünf- land zu beobachten ist. Die Behörden geschossiges Wohnhaus in begehrter können die Kinder der Sekte anscheinend Hamburger Lage. Auch der Gebäudekom- kaum davor schützen, von den erwach- plex der Augenklinik gehört Frau und senen Mitgliedern misshandelt zu werden. Kindern, in diesem Fall ihrer Bellevue Wenn der Staat dann doch, wie in den Pandam GmbH, an der Detlef Uthoff wie- vergangenen Tagen in Bayern, den Druck der nicht beteiligt ist. Uthoffs Klinik sitzt erhöht, sind zumindest manche Sekten- dort nur als Mieter. mitglieder längst weitergezogen. Wenn es eng wird, ist es mit den ge- Die Kinder verschwanden nach und trennten Kassen aber wohl nicht weit her: nach aus Dolchau, die letzten am selben

Nach seinem Immobilienabenteuer hat- / DER SPIEGEL MICHAEL AUGUST Tag, an dem gut 500 Kilometer entfernt ten mehrere Banken noch offene Forde- Uthoff-Augenklinik in Kiel, -Haus auf Sylt Mannschaftswagen der Polizei auf Höfe rungen gegen Detlef Uthoff. Sie gaben Streichorchester und Lasershow in Bayern rollten. Seit mehr als zehn Jah- bald die Hoffnung auf und verkauften ren sind die „Zwölf Stämme“ auf Gut Ansprüche an eine Firma namens DSU Warum weder Gaschke noch Albig die Klosterzimmern bei Nördlingen ansässig, Forderungsverwaltungsgesellschaft in ganz legale Möglichkeit genutzt haben, seit 2009 gibt es eine Kommune im mit- Kiel. Dabei stand das „D“ offenbar für die Gewerbesteuer fällig zu stellen und telfränkischen Wörnitz. Es habe „neuer- Marion D., Uthoffs Finanzchefin in der einen Zahltermin festzusetzen, das müs- liche Hinweise auf erhebliche und dauer- Klinik. Das „S“ für seinen Steuerberater, sen sie nun im Wahlkampf den Bürgern hafte Kindesmisshandlung“ gegeben, er- der nun auch das günstige Gutachten be- erklären. Den SPD-Anhängern. Der Par- klärte das Landratsamt Donau-Ries. sorgte. Das „U“ für Anke Uthoff. tei der kleinen Leute. Eigentlich ist das 40 Kinder holten die Beamten aus der Um die Jahreswende 2012/2013 über- schon Strafe genug. Bei der Oberbürger- sektenähnlichen Gemeinschaft, mehrere ließen dann alle drei ihre DSU-Anteile – meisterin kann es aber noch damit enden, Weidenruten wurden sichergestellt. Die und damit die Forderungen – kurzerhand dass jetzt etwas anderes fällig gestellt Staatsanwaltschaft Augsburg ermittelt we- Detlef Uthoff. Eine Operation, mit der wird. Gaschke in ihrem Amt. gen Misshandlung Schutzbefohlener und sich möglicherweise auch gleich noch das JÜRGEN DAHLKAMP, GUNTHER LATSCH schwerer Körperverletzung. Von dem Hof

64 DER SPIEGEL 38/2013 in Sachsen-Anhalt wussten die Behörden offenbar nichts. Von dort sollen die Kin- der nach Tschechien gebracht worden sein, berichten Aussteiger. In der Nähe von Prag besäßen die „Zwölf Stämme“ einen Bauernhof mit Obstgarten, Wein- berg, Schafherde und Fischteichen. Hier, so die Hoffnung der Sektenmit- glieder, können sie die Kinder den Be- hörden entziehen. Hier, so die Befürch- tung ehemaliger Sektenmitglieder, sind die Kinder schutzlos der Erziehungs - maxime der Urchristen ausgeliefert: Wer sein Kind liebt, schlägt es. Nach Erkenntnissen der Staatsanwalt- schaft werden die Kinder von klein auf mit Stockschlägen auf Hände und Hin- tern gezüchtigt. Das Gericht in Ansbach begann in der vorigen Woche, die Eltern anzuhören. Die Kinder leben vorerst in Heimen und Pflegefamilien. Sozialpäd - agogen berichten überrascht, bislang habe keines der Kinder nach seiner Mama

gefragt. Der Leiter des Jugendamtes Do- RTL nauwörth, Alfred Kanth, erzählt, dass Heimliche Aufnahme von Sektenmitgliedern im „Bestrafungsraum“: Auf Hände und Hintern sich während der Polizeiaktion keines der Kinder an seine Eltern geklammert habe. sich allein aber nicht aus, um Kinder her - und nie negativ auffallen. Der Bürger- Eine derart emotionslose Inobhutnahme auszunehmen“, sagt Krüger. meister von Deiningen, Karlheinz Stipp- habe er in 40 Berufsjahren nicht erlebt. Auch in Niedersachsen beschäftigten ler, gibt zu, von den Misshandlungsvor- Der Reporter Wolfram Kuhnigk hatte sich Jugendamt, Kultusministerium und würfen gegen die Urchristen auf Gut Klos- den Polizeieinsatz ausgelöst; er hatte im Bezirksregierung mit der Sekte. Anfang terzimmern gewusst zu haben. Aber er Auftrag von RTL II mit versteckter Ka- der neunziger Jahre siedelten sich die habe sich nicht vorstellen können, „dass mera verstörende Szenen in sogenannten „Zwölf Stämme“ in Pennigbüttel, nördlich sich hinter so einer friedlichen Fassade Bestrafungsräumen aufgezeichnet. Sie von Bremen, an. Ein Nachbar ist noch ein solcher Abgrund auftun“ könne. zeigen weinende Jungen und Mädchen, heute entsetzt darüber, was er vor rund „Den Papierkram – Einwohnermelde- denen eine Frau mit einem Stock auf den 15 Jahren auf einem Sabbat-Fest der Sek- amt, Steuererklärung, solche Dinge – ha- nackten Po schlägt. „Ich bin nicht müde“, tenmitglieder erlebte: „Die Kinder saßen ben die immer vorbildlich erledigt“, sagt wimmert ein Mädchen. Erst als es sich da wie Mumien.“ Im Laufe des Abends er. Konflikte mit der Gemeinde habe es nach sechs Schlägen zu einem leisen „Ich hätten Männer mehrmals Kinder hinaus- nie gegeben. Anfang des Monats hätten bin müde“ durchringt, hört die qualvolle geführt, in der Hand einen kleinen Stock. die „Zwölf Stämme“ ihr jährliches Hoffest Prozedur auf. Schon damals berichtete die Lokalzei- mit mehr als tausend Besuchern aus der Die Bewegung, die sich auf das Urchris- tung „Kurier am Sonntag“ von Misshand- ganzen Region gefeiert. Das Bio-Gulasch tentum beruft und von einem Weltunter- lungsvorwürfen. Die Mitglieder hätten öf- habe wie immer vorzüglich geschmeckt. gang im Jahr 2026 ausgeht, entstand in fentlich und vor Zeugen zugegeben, dass Ein Sprecher der Sekte ließ kein Un- den siebziger Jahren in den USA. In sie ihre Kinder schlügen, sagt der evan- rechtsbewusstsein erkennen; die Bibel ver- Deutschland soll es mehr als hundert An- gelische Pastor Gert Glaser, der zu dieser lange, seine Kinder zu züchtigen, wenn hänger geben. Sie schicken ihre Kinder Zeit als Sektenbeauftragter im Kirchen- man sie liebe. Ein Vater müsse seinen Kin- nicht zur Schule, aus Angst vor Sexual- kreis arbeitete. Er erstattete Strafanzeige, dern Grenzen setzen, „um sie vor ihrem kunde und Evolutionslehre. Sechs Väter doch die Staatsanwaltschaft stellte das egoistischen Streben nach Vergnügen zu mussten deshalb 2004 in Erzwingungshaft. Verfahren ein, aus Mangel an Beweisen. beschützen“, heißt es auch in einer Wer- Schon seit Jahren kursieren Misshand- Zum gleichen Ergebnis kam im August bebroschüre der „Zwölf Stämme“. Die lungsvorwürfe gegen die Urchristen. Die die Staatsanwaltschaft Augsburg, die nach Urchristen in Dolchau wollen nicht über Grünen hatten das Thema 2006 auf die Berichten von Aussteigern im „Focus“ die Ereignisse der vergangenen Tage spre- Tagesordnung im Bayerischen Landtag 2012 Ermittlungen aufgenommen hatte. chen: Wer klingelt, wird freundlich emp- gesetzt. „Doch das Kultusministerium hat Ein Aussteiger erzählt, dass er unmittel- fangen, bekommt aber keine Antworten. sich damals hinter dem Erziehungsrecht bar nach Veröffentlichung des Artikels Nachbarin Ilona Meyer erzählt, sie und der Eltern verschanzt“, klagt die Grünen- Besuch vom Leiter des Jugendamts Do- ihr Mann hätten oft Kinder singen hören. Fraktionsvorsitzende Margarete Bause. nauwörth und von einem Vertreter des „Mensch, ist das schön“, sagte ihr Mann Das bayerische Landesjugendamt kann- Schulamts bekommen habe. Sie hätten dann, „Kinderstimmen im Dorf.“ te die Vorwürfe spätestens seit 2007. Die ihm gesagt, dass „alles, was ich sage, auch Später, wenn es dunkel ist, will sie über Leiterin Stefanie Krüger betont, man gegen mich verwendet“ werden könne. das Kopfsteinpflaster auf die andere müsse „genau abwägen zwischen elterli- Er habe sich eingeschüchtert gefühlt und Straßenseite gehen, in der Hand ein Blatt cher Erziehungsverantwortung und staat- nichts mehr sagen wollen, da er selbst als Papier mit einem Text der Liedermache- licher Eingriffsschwelle“. Beweise für Ge- Sektenmitglied Kinder mehrmals am Tag rin Bettina Wegner. An die Tür der walt gegen Kinder hätten weder amtsärzt- mit der Rute „diszipliniert“ habe. „Zwölf Stämme“ will sie die Zeilen pin- liche Untersuchungen noch Befragungen So ließen sich die wiederkehrenden nen: „Sind so kleine Hände, winzige Fin- der Kinder durch Jugendämter erbringen Vorwürfe nie beweisen. Der Vorteil der ger dran. Darf man nie drauf schlagen, können. „Abschottung ist ein Indiz für Urchristen dürfte darin liegen, dass sie die zerbrechen dann.“ ANNA KISTNER, eine Kindeswohlgefährdung, reicht für alle anderen staatlichen Gesetze befolgen FRAUKE LÜPKE-NARBERHAUS, CONNY NEUMANN

DER SPIEGEL 38/2013 65 Deutschland

STRAFJUSTIZ Verlorene Jahre Von Gisela Friedrichsen

rund zum Jubeln? Die Ange- Heidi K. hält dagegen an ihrer Ver- Darmstädter Strafkammer 2013 auf- hörigen des Studienrats Horst gewaltigungsgeschichte fest. Sie zeigt wandte – an die 60 Zeugen wurden GArnold, der über ein Jahr- keinerlei Unrechtseinsicht. Die Tat gehört und Sachverständige herange- zehnt lang als Vergewaltiger verleum- habe sie „noch immer vor Augen“, sag- zogen, jedem Detail gingen die Rich- det war, verließen, von den Medien te sie am Ende des Strafprozesses. Das ter akribisch nach –, um endlich Licht bedrängt, das Darmstädter Landge- mag sein. Sie könne sich in Geschichten in die Sache zu bringen, war aller Eh- richt am vergangenen Freitag mit ver- „hineinlügen“, nannte eine Zeugin dies. ren wert. Doch die verlorenen Jahre steinerten Gesichtern. Die Staatsan- Auch von anderen hanebüchenen kann Arnold und seiner unter dem waltschaft zeigte sich verhalten er- Geschichten, etwa, sie sei von dem Unrecht bis heute leidenden Familie leichtert. Das Urteil sei in Ordnung, Leiter und/oder dem Personalratsvor- niemand zurückgeben. hieß es. Jubel, dass man Grund, mit sich selbst ins „gewonnen“ hat? Nein. Gericht zu gehen, haben Rache kennt das Straf- „Sie kann sich auch der damalige Psychia- recht nicht. Verurteilungen in Geschichten hineinlügen“, ter, der laut Leygraf horren- sind oft nur ein unzuläng- den Unsinn über K. von licher Versuch, etwas wie- sagte eine Zeugin sich gab, und ihre Lehrer- der ins Lot zu bringen, das kollegen, die „schon im- nicht wieder gutzumachen mer“ an K.s Wahrheitsliebe ist. Bisweilen, so im Fall des gezweifelt haben wollen. absichtlich falsch bezichtig- Im Prozess gegen Horst Ar- ten Lehrers Arnold, schei- nold schwiegen sie; jetzt, tern die Richter damit sogar im Prozess gegen Heidi K., auf ganzer Linie. drucksten sie herum und „Die Justiz würde sich redeten von Erinnerungs- bei Herrn Arnold gern ent- lücken. Nein, diese Zeugen schuldigen“, sagte die Vor- boten kein gutes Bild. sitzende Richterin Barbara Es bleibt die Frage nach Bunk. Doch der Mann ist dem Motiv. Das Erschre- tot. Er hatte in einem Wie- ckende sei, sagte die Vorsit- deraufnahmeverfahren in zende, dass dieses fehle. Kassel zwar einen Frei- Aber: „Die Angeklagte spruch erzielt. Dass gegen braucht kein Motiv!“ Es rei- Heidi K., 48, seine ehe - che, dass „jemand ihr auf malige Kollegin, die ihn die Füße tritt“ – und schon 2001 der Vergewaltigung entstehe eine neue Räuber- bezichtigt hatte, 2012 An- geschichte.

klage erhoben wurde, er- HÖRNLEIN / PDH WOLFGANG Leygraf attestierte Heidi lebte er bereits nicht mehr. Angeklagte Heidi K., Verteidiger K. eine histrionische Per- „Wir hätten uns gern ein sönlichkeitsstörung. Sie sei Bild von ihm gemacht“, sagte die Vor- sitzenden einer Schule vergiftet wor- eine Person mit einem „erheblichen sitzende. den, lässt sie ungeachtet anderslauten- Bedürfnis, sich als einen ganz ,be- Am Freitag ist Heidi K. im selben der ärztlicher Expertisen bis heute sonderen‘ Menschen darzustellen“, Darmstadt, wo man 2002 Arnolds nicht ab. Wird sie irgendwann einmal deren Leben geprägt sei durch eine Schuld nicht bezweifelt hatte, wegen Einsicht zeigen und umkehren auf ih- „Aneinanderreihung dramatischer Er- schwerer Freiheitsberaubung verur- rem von Schauergeschichten gesäum- lebnisse“ – etwa die bei einem Unfall teilt worden. Haben die jetzigen Rich- ten Lebensweg, die ihrer Gier nach getötete Tochter, die es nicht gab, ein ter dabei doch eine Art ausgleichen- Geltung und Zuwendung und ihrer durch Kopfschuss verletzter Lebens- der Gerechtigkeit im Sinn gehabt, als „Ich-Zentriertheit“ entspringen, wie gefährte, den es nicht gab, Hirntumo- sie eine Freiheitsstrafe von fünfein- es der Sachverständige Norbert Ley- re, Krebserkrankungen –, nichts da- halb Jahren verhängten? Arnold hatte graf beschrieb? Oder wird sie an ihrer von hatte mit der Realität zu tun. die gegen ihn – zu Unrecht – verhäng- „Unschuld“ festhalten – und dann voll Die Richter von 2002 haben Heidi te Strafe von fünf Jahren bis zum letz- verbüßen wie Horst Arnold? K. unbesehen geglaubt. Sie haben nur ten Tag verbüßen müssen, da er sich 2002, als er in Darmstadt verurteilt Horst Arnolds Leben unter die Lupe einer Aufarbeitung der vermeintli- worden war, sind unsägliche Fehler genommen, nicht aber das seines „Op- chen Tat verweigerte. Er bestritt die gemacht und Versäumnisse begangen fers“. Das ist die Lehre aus dem nie- Vergewaltigung bis zuletzt. worden. Die Mühe, die die 15. Große derschmetternden Fall.

66 DER SPIEGEL 38/2013

Szene

Was war da los, Frau Viehmann? BODO SCHACKOW / BILD-ZEITUNG BODO SCHACKOW

Luzia Viehmann, 91, Rentnerin aus Gera, über Geduld: „Als ich Schließlich sah ich im Ärztehaus einen Aushang: Am 9. Sep- am Ärztehaus ankam, sah ich schon die Schlange. Es hatten tember werde eine neue Augenärztin Termine vergeben. auch andere Patienten mitbekommen, dass es eine neue Nach zwei Stunden in der Warteschlange erfuhr ich, dass die Augen ärztin gibt. Ich muss dringend zu einer Kontrollunter- Menschen drinnen bis zum zweiten Stock standen. Ich hoffte, suchung, ich wurde an beiden Augen operiert. Als ich im mich auf eine Stufe setzen zu können, da sagte jemand unten Mai 2012 bei meiner alten Augenärztin war, sagte sie mir, an der Tür: In diesem Jahr können wir keine Patienten mehr dass sie die Praxis schließen werde. Ich hörte mich nach annehmen. Meine Beine taten tagelang weh, aber einen Arzt- Alternativen um, aber kein Arzt hier will neue Patienten. termin habe ich immer noch nicht.“

Wie können wir den Syrern noch helfen, Herr Perabo?

Elias Perabo, 32, gehört zu den Grün- versorgt haben. Und dann gibt es Orte, Internetverbindungen über Satellit. Wir dern der Initiative Adopt a Revolution, in denen die Menschen nicht mehr schicken Geld, über Kuriere oder die seit zwei Jahren von Deutschland gegen das Regime, sondern gegen radi- Syrer, die Verwandte im Ausland haben. aus den Aufstand in Syrien gegen den kale Islamisten protestieren. SPIEGEL: Um wie viel Geld geht es? Diktator Assad unterstützt. SPIEGEL: Wer sind diese Menschen? Perabo: Mit zwei- oder dreitausend Euro Perabo: Apotheker, Lehrer, Studenten, kann eine Gruppe ein paar Monate SPIEGEL: Sie suchen Paten, die mit Ärzte – die Mitte der Gesellschaft. lang eine Zeitung herausbringen oder Spenden die friedliche Revolution in Sie bauen Warnsysteme gegen Bomben- Sirenen installieren. Wir unterstützen Syrien unterstützen. Inzwischen ist angriffe auf, sammeln Blutspenden, 14 Bürgerkomitees und 4 größere das Land aber in einem Bürgerkrieg richten Suppenküchen ein. Projekte, darunter zusammen mit der versunken, auch Assads Gegnern wer- SPIEGEL: Was brauchen sie dringend? Hilfsorganisation Medico Interna- den brutale Übergriffe vorgeworfen. Perabo: Medikamente, Verbandsmate - tional eine Kellerschule in Irbin, einem Perabo: Es gibt in Syrien nicht nur die rial, Wasserfilter. Ganz wichtig sind Vorort von Damaskus. Truppen von Assad und die Rebellen. SPIEGEL: Wie können Sie sicher sein, Der Aufstand begann mit gewaltfreien, dass die Leute keine Waffen kaufen? teilweise bunten Demonstrationen, Perabo: Wir lassen alles dokumentieren. mit dem Wunsch nach Demokratie. Die Syrer schicken uns Fotos, Videos Viele Syrer halten daran fest, auch und Berichte. Wir veröffentlichen sie wenn man sie in den Nachrichten im Internet. nicht mehr oft sieht. SPIEGEL: Was kann man tun, wenn man SPIEGEL: Man sieht im Fernsehen und kein Geld nach Syrien schicken will? im Internet vor allem Kämpfer. Perabo: Viele Hilfsorganisationen sam- Perabo: Es gibt im ganzen Land Men- meln Spenden für Nahrungsmittel, schen, die keiner Armee angehören, Medikamente oder Decken, die an die sondern einander beim Überleben hel- Flüchtlinge in den riesigen Lagern fen. In Kampfgebieten dokumentieren hinter der Grenze verteilt werden. Man sie das Grauen. Die Fotos der Giftgas- kann auch ohne Geld helfen – indem

opfer, die um die Welt gingen, haben A REVOLUTION ADOPT man Druck auf Politiker ausübt, mehr Leute gemacht, die wir mit Kameras Schüler der Kellerschule in Irbin Syrer in Deutschland aufzunehmen.

68 DER SPIEGEL 38/2013 Gesellschaft

Ein Lied für Lorraine EIN VIDEO UND SEINE GESCHICHTE: Wie ein 96-jähriger Amerikaner in den Charts Justin Timberlake überholte

red Stobaugh hatte nicht vor, be- feiert er einen Videoclip, den er für eine sagt Colgan, geschrien: „Sie können an rühmt zu werden, als er sich an ei- Kosmetikfirma gedreht hat. Wenn man dem Wettbewerb nicht teilnehmen, aber Fnem Abend im April an den Esstisch am Telefon mit ihm spricht, spürt man, wir wollen aus Ihrem Text gern ein Lied in seinem Wohnzimmer setzte, vor sich dass auch er einer glücklicheren Zeit machen!“ ein paar leere Blätter Papier und einen nachtrauert. Stobaugh antwortete: „Das ist ja nett, Bleistift. Seine Frau Lorraine war kurz Colgan betrachtete die Sätze, die Sto- aber das kann ich mir nicht leisten.“ zuvor gestorben, nach 75 gemeinsamen baugh zu Papier gebracht hatte, und er Colgan schrie: „Wir machen das erst Jahren, und das Haus erschien ihm mit las das Schreiben, das dem Gedicht beilag. mal umsonst!“ einem Mal viel zu groß und viel zu leise. Es erzählte von einem Paar, das sich im Stobaugh antwortete: „Oh, na dann.“ Stobaugh war davon ausgegangen, dass Jahr 1938 kennengelernt hatte, an einem Colgan arrangierte den Text, kompo- er vor ihr sterben würde. Immerhin war Bierstand im Bundesstaat Illinois, einem nierte die Musik, sang den Song selbst Lorraine fünf Jahre jünger gewesen als Paar, das drei Töchter großzog und immer ein und kümmerte sich darum, dass all er, und Frauen überleben meist ihre zusammenblieb. das gefilmt wurde. Er besorgte sich Fami- Männer, daran hatte Sto- lienfotos von Stobaugh, baugh geglaubt. Plötzlich ließ ihn interviewen, und aber saß er da, allein, ein dann besuchte er Sto- Mann von 96 Jahren, an baugh, um ihm den Song dem Esstisch, den sie ge- vorzuspielen. Am Ende meinsam gekauft hatten, schnitt Colgan das Mate- zwischen den weißen rial zu einem neunminü- Spitzendeckchen, die Lor - tigen Video zusammen, raine so geliebt hatte. veröffentlichte es im Inter- Und Stobaugh versuchte, net. Und er betete. auch diesen schwierigen Bis heute wurde das Vi- Abend zu überstehen. deo über sechs Millionen In der Lokalzeitung hat- Mal angeklickt. Der Song, te er von einem Musik- der den Titel „Oh Sweet wettstreit gelesen, der in Lorraine“ trägt, wurde der Stadt ausgerichtet über 100000-mal aus dem wurde. Es ging um selbst- Internet geladen. Zeitwei- komponierte Lieder, man se lagen Stobaugh und sollte sich beim Singen Colgan in den US-Charts filmen und das Video ins von iTunes vor den aktu- Internet laden. Der Sieger ellen Hits von Justin Tim- werde zu einer profes- berlake und Miley Cyrus.

sionellen Aufnahme in QUELLE: VIMEO Fred Stobaugh, der Wit- einem Tonstudio einge - Stobaugh im Video wer, hat schätzungsweise laden. 70000 Dollar eingenom- Stobaugh kann nicht men, er kann jetzt endlich komponieren, er kann das Dach seines Hauses nicht singen, und einen Internetanschluss Colgan fragte sich, was er tun solle. Er reparieren lassen und wird demnächst hat er auch nicht. Mitmachen wollte er könnte den Text zur Seite legen, denn zum ersten Mal in seinem Leben in ein trotzdem, obwohl er sich keine Chancen den Kriterien des Wettbewerbs genügte Flugzeug steigen. Er will nach New York, ausrechnete. Alles war besser, als noch das Manuskript nicht. Es war kein Lied, um in einer Fernsehshow aufzutreten. eine Nacht lang die Wand anzustarren. es gab kein Video, nichts war im Internet Colgan, der Musiker, hat mit Stobaugh Stobaugh schrieb ein Gedicht, ein Re- zu sehen. Niemand wäre imstande, ihm, mittlerweile einen Vertrag geschlossen, quiem auf seine Frau, auf seine Ehe, eine Colgan, einen Vorwurf zu machen. der ihn an den Einkünften beteiligt. Col- Hymne auf das Leben. Er könnte aber auch auf diesen Text gan sagt, er sei weit unter dem üblichen Wenige Tage später lag das Gedicht auf setzen, den ein unmusikalischer, pensio- Satz eines Produzenten geblieben. Außer- dem Schreibtisch von Jacob Colgan, ei- nierter Witwer geschrieben hatte, er dem hat Colgan vor ein paar Tagen end- nem der Besitzer des Musikstudios Green könnte auf die Kraft einer ungewöhnli- lich wieder einen eigenen Song veröffent- Shoe in East Peoria, Illinois. Colgan ist chen Idee vertrauen. Und er könnte Zeit licht. Er trägt den Titel „Far From Over“. ein junger Mann mit einem weichen investieren, diesen Text in einen Song An den meisten Abenden ist Stobaugh Gesicht, der als Musiker nur mäßig er- zu verwandeln. Colgan überlegte noch immer allein, aber er starrt folgreich war und sich jetzt als Geschäfts- nicht lange. nicht mehr die Wand an. führer eines kleinen Unternehmens Er rief bei Stobaugh an, und weil Er liest die Briefe der Menschen, durchschlägt. Es ist Jahre her, dass er eine der Rentner fast taub ist, musste die ihn für dieses Lied bewundern. eigene Platte veröffentlichte. Als Erfolg Colgan ins Telefon brüllen. Er habe, UWE BUSE

DER SPIEGEL 38/2013 69 Gesellschaft

RESSENTIMENTS Singen, tanzen und erpressen In Berlin-Hellersdorf wurden Asylbewerber bedroht. Und auf Twitter beginnt eine Debatte über Rassismus. Wie erleben Menschen mit ausländischen Wurzeln ihren Alltag in Deutschland? 15 von ihnen geben Einblick in ihr Leben. BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

LEWIS OTOO 11, Schüler, Berlin

„In Naturwissenschaften haben wir Schokoküsse mit Luft auf- nutzt, weil man früher damit schwarze Menschen beleidigt geblasen, um zu sehen, wie die platzen. Die Lehrerin hat an hat. Doch danach wollte die Lehrerin mein Handy sehen. Sie drei verschiedenen Tagen vom N-Wort-Kuss statt Schokokuss behauptete, ich hätte meine Mama angerufen. Es ist verboten, gesprochen. Am ersten Tag erzählte ich es abends meiner in der Schule zu telefonieren. Ich beteuerte, dass ich meine Mama, die im Vielfalt-Komitee der Schule ist. Am nächsten Mama nicht angerufen, sondern ihr abends vom N-Wort Tag schrieb sie eine E-Mail an die Schule, in der stand: Wol- erzählt habe. Und dass die Lehrerin das Wort schon das dritte len wir uns nicht einigen, dass das Wort nicht geht? Am drit- Mal gesagt habe. Sie rief, sie hätte es nur einmal gesagt, und ten Tag sprach die Lehrerin wieder vom N-Wort, hielt sich nahm mir das Handy weg. Auch die nächsten Tage musste ich die Hand vor den Mund und rief: ,Oh, das darf ich ja gar es ihr geben und bekam es erst nach dem Unterricht zurück. nicht sagen.‘ Sie fragte, ob jemand erklären könnte, warum. Erst nachdem mein Stiefvater sich persönlich bei der Lehrerin Ich meldete mich und sagte, dass man das N-Wort nicht be- beschwert hatte, hörte das auf. Es gab keine Entschuldigung.“

70 DER SPIEGEL 38/2013 LINCOLN ASSINOUKO 23, Fußballspieler (zuletzt beim BV Cloppenburg, Regionalliga Nord), Mettingen

„Ich bin Stürmer in meiner Fußballmannschaft. Oft fallen bei den Spielen Schimpfwörter, das kennt man aus körper- betonten Mannschaftssportarten, und das gehört zu so einem Kontaktsport. Bei einem Punktspiel im Winter 2011 gegen eine Mannschaft aus der unteren Hälfte der Tabelle provozierten mich aber von der ersten Minute an die bei- den Innenverteidiger – vulgär, unter der Gürtellinie, verlet- zend. Die Wörter möchte ich nicht wiederholen, sie waren im höchsten Maße rassistisch und bezogen sich ausschließ- lich auf meine Abstammung und Hautfarbe. Ich wollte weg- hören, aber irgendwann war ich so sauer, dass ich mich nicht mehr auf den Sport konzentrieren konnte. Mein Trai- ner hat mich in der 70. Minute ausgewechselt. Gemeinsam entschieden wir, den Vorfall zu melden, es kam zum Pro- zess vorm Sportgericht. Vorher hatte ich Bedenken. Was ist, wenn man mir nicht glaubt? Doch zum Glück hatte ich Zeugen, die meine Aussage bestätigten. Die beiden Verteidi - ger wurden gesperrt. Was mich zusätzlich zum Nachdenken gebracht hat, ist die Tatsache, dass einer der Beschuldigten sich in der Ausbildung zum Polizeikommissar befand.“ BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

NATALIA DRECHSLER 56, Dozentin für Deutsch in Integrationskursen, Hannover

„Ich komme aus Russland und lebe seit 15 Jahren in Deutschland. Dass ich berufstätig bin, mit einem Deutschen verheiratet war, auf die Hilfe vom Staat nicht angewiesen bin und trotzdem immer noch über keine Niederlassungs - erlaubnis verfüge, davon möchte ich jetzt nicht sprechen. Eigentlich geht es mir nur um ein winziges Detail. Der letzte Besuch im Ordnungsamt vor zwei Monaten nämlich hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Der Beamte bat mich um meine Fingerabdrücke. Die Fingerabdrücke seien eine der Voraussetzungen, die zwingend erfüllt sein müss- ten, um eine Niederlassungserlaubnis zu erlangen. Also wur- den meine Fingerabdrücke gespeichert. Ich habe meinen deutschen Freund gefragt, der auch dabei war, ob er für sei- nen Ausweis die gleiche Prozedur durchmachen musste. Der Beamte erklärte, dass deutsche Bürger dazu nicht ver- pflichtet seien, nur Ausländer. Fingerabdrücke braucht man doch, um Kriminellen leichter auf die Spur zu kommen. Ich als Ausländerin werde automatisch als eventuelle Kri-

minelle betrachtet, Deutsche werden das nicht.“ BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

TSEPO BOLLWINKEL KEELE 51, Musiker, Lüneburg

„Immer wenn ich Menschen erzähle, dass ich als Berufs - musiker arbeite, höre ich diesen einen nervenden Satz. Sie sagen: Kein Wunder, Musik liege mir ja auch im Blut. Meine Standardantwort ist dann: Nein, ich habe geübt. Für mich ist das auch eine Form von Rassismus. Die Leute meinen es nicht böse, das weiß ich, aber sie wenden damit, ohne nach- zudenken, rassistische Stereotype an und reproduzieren Rassismus. Als ob man als schwarzer Mensch automatisch singen und tanzen könnte.“ BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 38/2013 71 BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

THUY NGUYEN 28, Volkswirtin, Rostock

„Ich wollte nach meinem Bachelor- Abschluss 2011 ein Praktikum ma- chen. Im Internet habe ich viele Angebote gefun-

den. Doch auf BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL jede Bewerbung AZIZA JANAH 40, Hausfrau, Hamburg bekam ich eine Absage. Angeb- „Vor acht Jahren habe ich beschlossen, ein hier? Wir wollen dich hier nicht!‘ So etwas lich war die Stelle Kopftuch zu tragen. Seither ist mein Leben ein passiert häufig. Der Busfahrer grüßt anderes. Mein Vater kam aus Marokko nach mich nicht mehr, seit ich Kopftuch trage. Als immer schon be- Hamburg, er hat im Hafen gearbeitet, später ich mit einem Burkini, also einem lang- setzt. Die ande- als Sportwart bei der Polizei. Meine Mutter ist ärmligen Schwimmanzug, ins Freibad ging, ren Vietnamesen Deutsche. Niemand hat mich zu diesem wies mich die Bademeisterin zurecht. Schritt gedrängt. Es war meine Entscheidung. Andere Gäste fühlten sich angeblich gestört. in meinem Stu - Vor einiger Zeit ließ ich ein Paket für einen Für die einen bin ich das Opfer einer ver- diengang machen kurzen Moment unbeobachtet vor einer meintlich archaischen Kultur, die Frauen Bushaltestelle stehen. Passanten erschraken. diskriminiert. Für die anderen eine gefährliche übrigens die Sie fürchteten wohl, ich wollte einen An- Fanatikerin, eine Islamistin. Ich werde gleiche Erfahrung. schlag begehen. Bei Lidl hat mich ein älterer als selbstbewusste Frau mit Kopftuch nicht Die deutschen Mann grundlos beschimpft: ‚Was suchst du akzeptiert.“ Studenten haben dagegen fast nie

Probleme, ein ADETOUN KÜPPERS-ADEBISI 44, Wirtschaftsingenieurin, Berlin Praktikum zu fin- den. Ich habe „Ich komme aus Lagos in Nigeria, als Kind bin ich meinen mich dann ent- Eltern nach Solingen gefolgt. Manchmal sagte jemand auf der Straße zu mir: ,Du bist ein armes Kind‘, und gab mir schlossen, noch fünf Mark. Später habe ich in Mannheim und Köln Inge- den Master zu nieurwissenschaften studiert. Ich habe als Wirtschaftsinge- nieurin in Berlin gearbeitet. Die Kollegen in der Firma ha- machen, um ben mir schnell klargemacht, was sie von mir halten: nichts. so auf ein höhe- Sobald wir in der Kantine saßen, wurden sie zu Afrika- res Niveau Experten und taten, als wüssten sie über diesen Kontinent bestens Bescheid, besser als ich. Irgendwann wurde ihnen zu kommen.“ das aber zu langweilig. Es verschwanden Daten von meinem Computer. Bei meinen Präsentationen fehlte der Beamer.

BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL Ich entwickelte also eine Strategie: Ich loggte mich jedes Mal aus, bevor ich heimging, sicherte meine Daten auf einem Stick, machte Kopien von Präsentationen. Ich ließ mir eben- so wie sie nichts anmerken. Dann lief mein Vertrag aus.“

72 DER SPIEGEL 38/2013 APOSTOLOS TSALASTRAS 49, Stadtkämmerer, Oberhausen

„Ausgerechnet ein Grieche! Das haben sich viele Journalis- ten gedacht, als ich 2011 Kämmerer in Oberhausen gewor- den bin, in einer der am höchsten verschuldeten Städte in Deutschland. Und das haben sie so oder so ähnlich auch ge- schrieben. Das war eine spannende Geschichte für sie, ein Kuriosum, und das war am Anfang auch okay. Was nicht okay war: Nach über einem Jahr waren meine griechischen Wurzeln immer noch eine Geschichte. Das wurde immer noch als Botschaft kommuniziert. Vielen ging es weniger um Inhalte, also um die Frage: Wie wollen Sie die Probleme in Oberhausen lösen? Es ging mehr darum: Woher stammen Sie? Wie bescheuert! Ich bin in Deutschland geboren, in Hilden im Rheinland, ich habe in Deutschland Volkswirt- schaftslehre studiert. Meine Eltern sind vor langer Zeit, An- fang der sechziger Jahre, aus Griechenland nach Deutsch- land gekommen, als Gastarbeiter, wie das damals hieß. Für meine Arbeit als Kämmerer ist das aber doch völlig irrele- vant. In Oberhausen selbst war das übrigens nie ein Thema. Kein Bürger hat jemals darauf angespielt, kein Verwaltungs- mitarbeiter, nicht mal ein politischer Gegner. Das war eine

rein mediale Auseinandersetzung mit den Journalisten.“ BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

ARTIOM KARPOVICH 20, Abiturient, Chemnitz

„So richtig was Grobes gab es nie. Ich kam mit meiner Mutter aus Weißrussland, ging in den Kindergarten, da war erst mal alles cool. In der Schule hat das dann mit Vorurteilen angefan- gen, sie nannten mich Russe, und wenn ich mit dem relativ guten Auto meines Vaters gebracht wurde, sagten sie: ,Typisch Russen, die mit ihren schönen Autos.‘ Das Wort ,geklauten‘ verkniffen sie sich, es schwang aber mit. Später, in der Ober- stufe, sah mich einer meiner Lehrer immer streng an, wenn es um Putin ging, um die Gefangennahme der Frauen von Pussy Riot etwa. So, als könnte ich etwas dafür, als wäre ich Putin, als wären alle Russen Putin. Das ist nicht wirklich schlimm, aber es nervt. Es nervt auch, wenn ich im Kaufhaus stehe, mit Verwandten auf Russisch telefoniere und sehe, dass einige Frauen ihre Tasche an den Körper drücken und festhalten.“ SVEN DOERING / AG. FOCUS / DER SPIEGEL DOERING / AG. SVEN

OLGUN EKSI 26, Ladenbetreiber, Hamburg

„Für viele Kunden macht mich meine Glatze zum Zuhälter und mein Dreitagebart zum Islamisten. Ich bin am Fisch- markt geboren und im Exportladen meines Vaters auf der Reeperbahn aufgewachsen. Heute haben wir einen Kiosk. Ich bin sicher, irgendwo gibt es einen geheimen Workshop, wo man lernt, was die Standardfragen an türkische Laden- besitzer sind: Gehört der Laden dir? Wie sieht’s aus mit Drogen? Schutzgeld? Großfamilie im Rücken, oder? Großfamilie? Das sind meine drei kleinen Schwestern.“ BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 38/2013 73 Gesellschaft BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

HERMANN HÖLLENREINER 79, Rentner, Mettenheim in Oberbayern

„Ich war neun Jah- re alt, als ich mit meiner Familie nach Auschwitz

BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL deportiert wurde. Die Nazis haben ALI GÜNGÖRMÜS 36, Küchenchef und Inhaber des Restaurants „Le Canard Nouveau“, Hamburg eine halbe Million „Ich finde, Deutschland ist ein schönes Land, du nur Ausländer bist, ist das erst mal schlecht. Sinti und Roma und ich lebe gern hier, aber es gibt Momente, Aber wenn du Ausländer bist und erfolgreich, ermordet. Davon in denen das nicht so ist. Als ich 24 war, wurde dann ist es okay. Ich musste mir meinen Re - ich Küchenchef, und ein Freund meines da- spekt hart erarbeiten. Das, was heute noch im wissen die we- maligen Chefs sagte zu meinem Chef: ,Du willst Restaurant passiert, ist eher lustig, es trifft nigsten. Ich kämp- doch nicht einen Türken zum Küchenchef mich nicht mehr. Wenn mich Leute Grünge- fe bis heute ge- machen.‘ Und bevor ich mit 28 nach Hamburg müs nennen oder ein Gast sagt: ,Herr Güngör- ging, um meinen ersten eigenen Laden zu müs, meine Frau und ich waren neulich in Ih- gen Ignoranz und übernehmen, las ich in der Zeitung: ,Gibt es rer Heimat, in Istanbul.‘ ,Aha? Schön‘, habe Vorurteile an. bald einen Edel-Döner im Le Canard?‘ Das hat ich gesagt, ‚in Istanbul bin ich auch gern, aber Als ich vor 50 Jah- mich getroffen, dahinter steckten rassistische meine Heimat ist das nicht.‘ Oder ein anderer Gedanken: Weil ich Ali heiße und schwarze Gast, eigentlich weltoffen, wollte mich loben ren nach Metten- Haare habe, denken sie, Ali kann nur Döner. und sagte: ,Also diese Kompositionen mit den heim in Oberbay- Die Leute fragten sich: Der will das Le Canard Aromen aus der Gegend, aus der Sie kom- übernehmen? Eine der teuersten Locations men…‘ Ich fragte ruhig: ,Welche Aromen aus ern zog, hieß es, Deutschlands? So haben viele geredet. Für welcher Gegend meinen Sie?‘ Er: ,Na ja, der ‚Asoziale‘ würden mich war das aber auch Ansporn. Nach einem Steinbutt mit dem Zimt aus Ihrer Heimat…‘ sich im Dorf guten Jahr kam der erste Stern. Und wissen Und ich sagte: ,Wissen Sie, ich bin in München Sie was? Danach war Ruhe im Karton. Wenn aufgewachsen, und da wächst kein Zimt.‘“ niederlassen. Ich habe einen Anti- quitätenladen geführt und ein OMID NOURIPOUR 38, Mitglied des Bundestages (Grüne), Berlin Haus gebaut, und es kommt heute „‚Omnipour, Sie sind auch so ein zugewanderter Kanake, der bis- her nichts richtig auf die Reihe gebracht hat‘, schrieb einer dieser immer noch Kommentatoren mal, es ging um mein Fachthema, die Verteidi- vor, dass ich als gungspolitik. ‚Sie haben doch nie eine Rekrutenstube von innen gesehen.‘ Es ist eigentlich immer das Gleiche, die Kommentare ‚Zigeuner‘ be- kommen auf Online-Seiten, als Mail oder Brief. Fast jeden Tag schimpft werde.“ muss ich so etwas lesen. Meine Mitarbeiter unterteilen in auslän- derfeindliche und islamfeindliche Zuschriften, sortieren nach Blogs, Facebook-Kommentaren und Briefen. Ich bin mit 13 Jahren aus Iran nach Frankfurt gekommen. Nach einigen Jahren im Bundestag versuche ich, die Beleidigungen nicht mehr persönlich

zu nehmen. Humor ist aus dieser Situation der beste Ausweg. BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL Wenn ich als Iraner zum ‚Scheißaraber‘ gemacht werde und Video: Ist Deutschland schleunigst ‚zurück in die Türkei‘ soll, dann kann ich nur lachen, ein offenes Land? so dumpf ist mancher Kommentator.“ spiegel.de/app382013rassismus oder in der App DER SPIEGEL

74 DER SPIEGEL 38/2013 BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

SANDRINE MICOSSÉ-AIKINS 33, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin, Berlin

„Mein Mann und ich sind in Berlin geboren – und hier woll- werben wolle, und ich sagte ja. Er antwortete, das sei ja scha- ten wir auch eine neue Wohnung finden. Das war schwieriger de, denn es würde wohl nichts werden. Auf meine Rückfrage als gedacht. Wir sind afrodeutsch. Am Telefon hört man uns nach dem Grund reagierte er ausweichend: Es seien schon so das nicht an. Meinen Nachnamen halten Vermieter oft für viele Leute hier. Dann fragte er, wie mein Mann mit Vorna- französisch. Ein gutes Einkommen haben wir. Einen Besichti- men heiße. Als ich ihm den Namen mitteilte, sagte der Makler, gungstermin bekamen wir immer. Doch an der Tür war die dass es für uns schwierig werden würde. Zu Hause riefen Stimmung merkbar kühler. Wir suchten mehrere Monate mein Mann und ich die Antidiskriminierungsstelle des Senats lang. Vergebens. Darum entschieden mein Mann und ich uns, an. Die Mitarbeiter sagten, dass der Vorfall klar rassistisch sei. dass er zu den Besichtigungen nicht mehr mitgeht. Ich allein Sie rieten uns, einen Vergleichstest zu machen. Also rief meine wirke offenbar weniger bedrohlich als ein schwarzer Mann. Mutter den Makler an. Er war bemüht, sie zu einer Besich - Einmal war ein Makler am Telefon sehr angetan von uns. Die tigung zu überreden, und stellte keine Verbindung zu mir her. Wohnung habe ich mir mit wenigen anderen Kandidaten an- Eigentlich hatten wir damit genug Material, um den Vorfall gesehen. Sie gefiel mir gut, also fragte ich den Makler nach vors Gericht zu bringen. Wir entschieden uns dagegen. Es den Formularen. Daraufhin wollte er wissen, ob ich mich be- hätte passieren können, dass Aussage gegen Aussage steht.“

DENIZ BERKPINAR 23, Speditionsarbeiter, Köln

„Was meine Kollegen wirklich über mich dachten, erfuhr ich, als ich mittags eine Bifi auspackte. ,Du isst Schweinefleisch? Hab ich noch nie bei einem Türken gesehen. Ich verstehe eh nicht, warum diese Muslime kein Schweine- fleisch essen, sind doch Hirnis.‘ Zwei Jahre lang merkte sich niemand mei-

BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL nen Namen. ,Wo ist der Türke?‘, hieß es, wenn jemand mich suchte. Ich bin kein Muslim, ich bin auch kein Türke. Ich bin Deutscher, in Köln geboren. Neu- lich verabredete ich mich mit einer Frau. Sie kannte nur meinen Vornamen. Ich war frisch rasiert. Mitten im Gespräch sagte sie: ,Ich war mir nicht sicher, aber Gott sei Dank bist du kein Türke.‘ Ich habe sie nicht mehr angerufen.“

AUFGEZEICHNET VON: ANTONIA BAUER, SVEN BECKER, TOBIAS BECKER, ÖZLEM GEZER, BARBARA HARDINGHAUS, ANNA KISTNER, KATRIN KUNTZ, MIRIAM OLBRISCH, MAXIMILIAN POPP, GORDON REPINSKI, ANNE-KATRIN SCHADE, TAKIS WÜRGER

DER SPIEGEL 38/2013 75 Gesellschaft

Und dann war da der Freiheitsgedanke im Programm. Die Freiheit des Einzelnen als Grund und Grenze von Politik. Das hat mich fasziniert. Unter meinen Mitschülern und Freunden kannte ich nieman- den, der Mitglied einer Partei war. Nachdem ich den Aufnahme - antrag im Internet abgeschickt hatte, rief mich der FDP- Übermut Bezirksvorsitzende an. Er wollte prüfen, ob es sich um einen ernstgemeinten Antrag handelte. In Marzahn-Hellersdorf leben HOMESTORY Der 19-jährige Direktkandidat 250000 Menschen. Der Bezirksverband der FDP hat 69 Mit- Tom Wesener versucht, im linken glieder, wir sind eine kleine, aber aktive Truppe. Ich bin schnell Berliner Osten für die FDP zu punkten. Schatzmeister geworden. Schon bald ging es darum, wen wir zur Bundestagswahl auf- stellen. Die FDP ist eine Regierungspartei, natürlich muss sie in jedem Wahlkreis präsent sein. Der Bezirksvorsitzende fragte Vor meinem ersten Auftritt war ich euphorisch. Das mich, ob ich es machen könne. Er selbst hat eine Firma, er war im Mai, beim Biesdorfer Blütenfest in Berlin, arbeitet sehr viel, da bleibt wenig Zeit. an einem schönen Samstagmorgen. Ich fuhr zusam- Direktkandidat, das klang groß. War ich dem schon ge - WAHL men mit meinem Kumpel hin, der nebenbei mein wachsen? Ich habe eine ganze Weile überlegt. Es war eine 2013 Wahlkampfmanager ist, und wir bauten den Stand Gefühlssache, mich für die Kandidatur zu entscheiden, viel- auf. Es ist ein kleiner Klappstand, er steht in weni- leicht auch Übermut. gen Minuten. Wir legten die Flyer Ich dachte, ich erkläre den Men- aus, die wir von der Parteizentrale schen, was die FDP in der Bundes- bekommen hatten. regierung gemacht hat. Deutsch- Gleich kommen die Leute, dach- land steht gut da, finde ich. Und te ich. ich erzähle, was Politiker leisten, Die Leute kamen auf das Fest, wie viel die meisten Abgeordneten aber an meinem Stand liefen die arbeiten, ob im Landtag oder im meisten vorbei. Und von denen, Bundestag, ob bei der Linkspartei die stehen blieben, fing jeder Zwei- oder der CDU. te sofort an zu schimpfen. Was für Bei meiner ersten Podiumsdis- Deppen die Politiker doch alle sei- kussion saß ich nervös neben den en. Vor allem die Politiker aus mei- Kandidaten der anderen Parteien, ner Gurkentruppe. alle waren sehr nett zu mir. Mein Ich bin in der FDP – und ich tre- erstes Statement holperte. Dann te im Wahlkreis 85 an, in Marzahn- meldeten sich die Wähler zu Wort. Hellersdorf, tief im Osten Berlins. Ein Zuhörer stellte mir eine Frage, Meine Eltern haben hier nach der ohne mich anzusehen oder meinen Wende gebaut. Es gibt in diesem Namen auszusprechen. Für ihn Viertel nicht nur Plattenbauten, war ich bloß „der Vertreter der sondern auch viele Ein- und Zwei- FDP“. familienhäuser. Politisch ist der Ich hatte gesagt, dass Arbeit im- Bezirk allerdings fest in der Hand mer besser sei als keine Arbeit. der Linkspartei. Die Linke holt bei „Was für ein Quatsch!“, rief der jeder Bundestagswahl das Direkt- Mann. In Berlin gebe es nicht ge- mandat, so war es immer. nug Jobs. Leider hat er recht, aber Ich werde diesen Wahlkreis ich wies ihn darauf hin, dass in Ber- nicht gewinnen. Ich werde nicht in lin die SPD regiert. Pfiffe, Buhrufe. den Bundestag kommen. Trotz- Bei weiteren Podiumsdiskussionen dem ziehe ich mit meinem Klappstand von U-Bahnhof zu Ein- lief es ähnlich, meist kamen ältere Menschen, es ging um die kaufscenter. Es geht darum, den Menschen zu zeigen, dass es Rente und danach um den Mindestlohn. Die Positionen der die FDP hier noch gibt. Aber ich mache das auch, weil ich für FDP kamen meist nicht so gut an. Das ist in Ordnung. Aber die Politik werben will. Politiker sind keine Deppen. Buhrufe sind in einer Demokratie überflüssig, finde ich. Im Juni habe ich Abitur gemacht, im Oktober fange ich an „Was wissen Sie schon, in Ihrem Alter!“, „Leisten Sie erst zu studieren. Drei freie Monate liegen dazwischen. Ich hätte mal was!“, das höre ich oft. „Sie sind sicher stinkreich!“ an irgendeinen Strand fahren können, Bücher lesen. Andere Ich wohne noch bei meinen Eltern, in einer Doppelhaushälf- fliegen nach dem Abitur nach Costa Rica, um den Regenwald te, und ich zahle einen Smart ab, von meinem eigenen Geld. zu retten. Ich jobbe im Supermarkt an der Kasse, für 7,50 Euro in der Ich kam erst im vergangenen Jahr zur FDP, durch ein Stunde, morgens vor dem Beginn des Wahlkampftags. Erkannt Praktikum bei der FDP-Fraktion im thüringischen Landtag. hat mich im Supermarkt noch niemand, aber wer vermutet Ich wollte erfahren, was Politik ausmacht. Die Fraktion war auch schon, dass die FDP an der Kasse sitzt? klein, viele Mitarbeiter waren jung, jeder durfte mitreden. Ich habe etwas gelernt. Ich weiß jetzt, dass ich es aushalte, ausgepfiffen zu werden. Ich weiß auch, wie zäh es ist, die Men- schen von Politik und Politikern zu überzeugen. Ich werde es noch eine Woche lang versuchen, bis zum Wahltag, und ich Ich weiß jetzt, dass freue mich über jeden, der meinen Flyer liest. Aber mein Über- ich es aushalte, mut ist ein bisschen verflogen. TOM WESENER WIRD BALD BETRIEBSWIRTSCHAFT STUDIEREN, ausgepfiffen zu werden. ER LEBT IN BERLIN. AUFGEZEICHNET VON WIEBKE HOLLERSEN FÜR DEN SPIEGEL ROTHACKER THILO

76 DER SPIEGEL 38/2013

Trends Wirtschaft

BÖRSENGÄNGE STÄDTE Wohnungs- und Immobilienunterneh- men und dem Internetportal Immobi- lienscout24 in Auftrag gegeben wurde. Stille statt Gezwitscher Glücklich in Miete Überraschenderweise unterscheiden sich die Antworten von Der Kurznachrichtendienst Twitter, der Trotz Wohnungsnot Bewohnern sehr gefrag- vermutlich 2014 an die Börse gehen und Kostendruck sind Wohneigentum in Europa ter Städte wie Hamburg will, macht es potentiellen Aktionären 85 Prozent aller Mieter Eigentumsquoten 2011, in Prozent oder Berlin kaum von schwer. Das Unternehmen reichte in Deutschland mit ihrer denen in weniger ange- seinen Börsenprospekt bei der US-Bör- persönlichen Wohnsitua- Norwegen 84,0 sagten Wohnorten. Kein senaufsichtsbehörde SEC in vertrau- tion „zufrieden“ oder Spanien 82,7 Wunder, dass die meis- licher Form ein. So müssen sich Inter - gar „sehr zufrieden“; ten Deutschen immer essierte zunächst mit den vagen Zahlen 87 Prozent geben an, Großbritannien 67,9 noch zur Miete wohnen. und Schätzungen zufriedengeben, die sich ihre Wohnung „gut Mit 45,8 Prozent wird in der Öffentlichkeit kursieren. Auf leisten“ zu können. Frankreich 63,1 nicht einmal die Hälfte rund 10 bis 15 Milliarden Dollar wird Das ergab eine repräsen- aller Immobilien von ih- der Wert der 2006 gegründeten Firma tative Umfrage unter Österreich 57,5 ren Besitzern bewohnt. taxiert; laut dem Branchendienst eMar- rund 1500 Mietern in Damit weist Deutsch- Deutschland 45,8 keter wird für dieses Jahr ein Umsatz Städten ab 100000 Ein- land in Europa die von rund 600 Millionen Dollar erwar- wohnern, die vom Bun- Quelle: IW Köln zweitniedrigste Wohn - tet. 2012 soll Twitter sogar Gewinn desverband deutscher eigentumsquote auf. gemacht haben. Das Unternehmen schweigt sich dazu aus. Sein Geld ver- dient Twitter mit Werbung, sogenann- ARBEIT ten Promoted Tweets. Dabei handelt es sich um Kurznachrichten, die gegen Bezahlung an ein größeres Publikum Schwarz-Gelb beschließt weiteren Mindestlohn gesendet werden. Daneben gibt es auch die Werbeformen Promoted Union und FDP wollen noch vor der für den Mai 2014 vorgesehen. Die For- Trends oder komplette Kanäle. Aller- Wahl ein Signal in der Sozialpolitik derung nach einem flächendeckenden dings hat Twitter in Deutschland setzen und planen, am Mittwoch im allgemeinen Mindestlohn ist ein Haupt- noch nicht einmal eine Vermarktungs- Kabinett einen weiteren Branchen- wahlkampfthema der SPD. abteilung. Deutlich vorn im Bereich Mindestlohn zu beschließen. Für 11000 der mobilen Werbung liegt Google mit Arbeitnehmer im Steinmetz- und einem weltweiten Marktanteil von Steinbildhauerhandwerk soll erstmals über 53 Prozent. Twitter ist mit 1,9 Pro- der Tariflohn nach dem Arbeitnehmer- zent trotz kleiner Steigerung weit ab- entsendegesetz für allgemeinverbind- geschlagen. Außerdem gilt Twitter in lich erklärt werden. Das wäre der vielen Märkten als Insider-Netzwerk siebte Mindestlohn, den die Koalition von Info-Eliten. Vor allem in Deutsch- verabschiedet. In den neuen Bundes- land konnte der Dienst bisher bei ländern beträgt der Mindestlohn ab

weitem nicht die Relevanz erreichen 1. Oktober zunächst 10,13 Euro, in UWE LEIN / DDP IMAGES wie in den USA. den alten 11 Euro. Eine Erhöhung ist Steinmetz

DEUTSCHE BANK die Bereiche zu trennen. Dadurch habe sie selbst einen Interessenkonflikt her- beigeführt. Die Bafin will die Urteilsbe- Im Visier der Bafin gründung genau prüfen. Sie hat bereits organisato rische Mängel moniert, ohne Die Deutsche Bank gerät in der Libor- jedoch Sanktionen gegen Manager zu Affäre um manipulierte Zinsen erneut verhängen. Die Bank hatte die Affäre ins Visier der Finanzaufsicht Bafin. stets als Werk einzelner Händler darge- Vergangene Woche hat das Arbeitsge- stellt. Die Kläger sagen, der Austausch richt Frankfurt den Kündigungsschutz- zwischen Händlern und Zinsermittlern klagen von vier Mitarbeitern der Bank sei von oben erwünscht gewesen, teils stattgegeben. Sie waren für die Über- erfüllte sogar eine Person beide Funk- mittlung von Referenzzinssätzen zu- tionen. Sie belasteten Alan Cloete, ständig. Die Bank hatte den Männern einen hochrangigen Vertrauten von Co- vorgeworfen, sich unzulässigerweise Chef Anshu Jain. Cloete habe 2012 intern mit Derivatehändlern unterhal- erklärt, er wolle das Libor-Thema mit ten und womöglich deren Wünsche bei einer Kürzung der Boni involvierter der Zinsfestsetzung berücksichtigt zu Händler schnell abschließen. „Ich will haben. Das Gericht urteilte jedoch, die kein Aufsehen erregen, Anshu wird Jain Bank habe damals weder über Regeln CEO“, soll er gesagt haben. Die Bank

CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL CHRISTIAN noch Kontrollinstanzen verfügt, um bestreitet die Äußerung.

78 DER SPIEGEL 38/2013 Steinkohlenabbau in Nordrhein-Westfalen

BERGBAU Bedroht Giftmüll das Grundwasser? THOMAS PFLAUM / VISUM PFLAUM THOMAS

Im Skandal um mehr als 500000 Ton- gab es damals in den Schachtanlagen den Gesteinsmassen nie an die Ober- nen Sondermüll, die in Steinkohlen- klare Hinweise auf Süßwasser. Norma- fläche gelangen. Süßwasser komme bergwerken gelagert werden, kommen lerweise, so Carls, sei das Wasser in nicht vor. Erste Zweifel an diesen Be- der Kohlekonzern RAG und die nord- Tiefen von bis zu 1000 Metern extrem hauptungen hatte kürzlich ein Land- rhein-westfälische Genehmigungs - salzhaltig. Dass in den Proben immer wirt in Berg kamen geäußert (SPIE- behörde durch ein neues Gutachten in wieder auch Süßwassermengen auftau- GEL 29/2013). Er hatte beobachtet, Erklärungsnot. Demnach wurden kurz chen, könne nur einen Grund haben: dass auf seinen Feldern aus Erdspalten vor der Genehmigung der Sondermüll- Durch bergbaubedingte Brüche und Wasser austritt. In der Umgebung ver- lagerung 1994 eindeutige Hinweise Senkungen bestünden Verbindungen dorrt die Erde, und es wachsen keine gefunden, dass der hochgiftige Müll zur Oberfläche und damit zu grund- Pflanzen. Bodenproben im Umkreis mit Grund- und Trinkwasser in Ver - wasserführenden Schichten. Genau ergaben hohe Salzgehalte, auch Dio- bindung kommen könnte. Dies geht das bestreiten RAG und die zuständi- xine und Schwermetalle wurden in aus einem noch unveröffentlichten ge Bergaufsicht bislang vehement. Sie geringen Konzentrationen gefunden. Gutachten des Geologen Peter Carls behaupten, dass der mit hochgiftigen Die NRW-Landesregierung will den hervor. Der Wissenschaftler hat Hun- Dioxinen und Schwermetallen ver- Vorgang am Mittwoch im Umwelt- derte Seiten Genehmigungsunterlagen seuchte Müll sicher eingeschlossen sei. ausschuss diskutieren. Umweltverbän- aus den neunziger Jahren geprüft Auswaschungen könnten wegen der de wie der BUND sprechen von einer und erstaunliche Funde gemacht. So Undurchlässigkeit der darüberliegen- „tickenden Zeitbombe“.

1,9 Litauen MOBILFUNKTARIFE Handy-Gespräche 2014 komplett abschaffen zu wollen. 2,2 Rumänien im Inland Die Telekommunikationsunternehmen sind gegen den Vorstoß, schließlich Polen 4,6 durchschnittlicher Angst vor Kostenanstieg würde er sie rund 1,6 Milliarden Euro Finnland 6,1 Minutenpreis in Cent, 2011 kosten. „Sollte Kroes ihre Pläne durch- Der Verbraucherzentrale Bundesver- Italien 6,9 kriegen, müssen die Regulierungsbe- band (VZBV) warnt davor, dass die hörden die Preisentwicklung am deut- Österreich 7,9 Quelle: EU-weite Abschaffung der Roaming- EU-Kommission schen Handymarkt sehr genau beob- Gebühren zu einem Anstieg der Deutschland 8,8 achten“, fordert Billen. „Sonst zahlen Mobilfunktarife in Deutschland führen EU-Schnitt 9,1 die Verbraucher am Ende das Gleiche könnte. „Unsere Sorge ist, dass die Großbritannien 9,7 – es wird nur anders verpackt.“ Die Konzerne sich dieses Geld wiederho- deutschen Mobilfunktarife liegen der- Tschechien 10,4 len, indem sie einfach die nationalen zeit mit durchschnittlich 8,8 Cent Tarife anheben“, sagt VZBV-Chef Frankreich 12,7 pro Minute europaweit im Mittelfeld. Gerd Billen. Die zuständige EU-Kom- Spanien 13,3 Am wenigsten zahlen die Kunden missarin Neelie Kroes hatte vergan - Belgien 13,8 mit 1,9 Cent in Litauen, am meisten gene Woche angekündigt, die teuren mit 14,7 Cent in den Niederlanden, Auslandstarife für Handys bis Mitte Niederlande 14,7 674 Prozent mehr als die Litauer.

DER SPIEGEL 38/2013 79 NSA-Präsentation 2010: „Transaktionsdaten wichtiger Kreditkartenbetreiber“

SPIONAGE „Folge dem Geld“ Der US-Geheimdienst NSA überwacht auch Banken und Kreditkarten - transaktionen. Die europäische Swift-Genossenschaft, die den internationalen Geldverkehr abwickelt, wird gleich mehrfach angezapft.

as Geld, das der Geschäftsmann „Follow the Money“ heißt der NSA- im Kern auf Regionen wie Afrika oder aus dem Nahen Osten in ein ande- Zweig, der sich darum kümmert. Sein den Mittleren Osten – und sie betreffen Dres Land der Region überweisen Name erinnert an den berühmten Satz oft Ziele, die ihrem gesetzlichen Spähauf- wollte, sollte nicht auffallen. Gut 50000 des ehemaligen FBI-Vizechefs Mark Felt, trag entsprechen. Doch wie in anderen Dollar wollte er transferieren – und er hat- der einst als Informant „Deep Throat“ Bereichen setzt die NSA auch im Finanz- te klare Vorstellungen, wie das zu gesche- den Reportern Bob Woodward und Carl sektor auf maximale Datenausbeute – hen habe. Die Aktion dürfe nicht über Bernstein bei der Aufklärung der Water- wodurch sie offenbar mit nationalen die Vereinigten Staaten von Amerika ab- gate-Affäre 1972 empfohlen hatte, immer Gesetzen und internationalen Abkom- gewickelt werden, und der Name seiner der Spur des Geldes zu folgen. men in Konflikt gerät. Bank müsse geheim gehalten werden – Finanztransfers seien die „Achillesfer- Selbst Geheimdienstler sehen die das waren die Bedingungen, die er stellte. se“ von Terroristen, schreiben die NSA- Schnüffeleien im Weltfinanzsystem jeden- Der Geldtransfer, abgewickelt im Som- Analysten in einem internen Bericht. Als falls mit einer gewissen Sorge, wie aus ei- mer 2010, fand genau so statt – und blieb Aufklärungsfelder für ihre „Financial In- nem Dokument des britischen Geheim- trotzdem nicht unbeobachtet. Er findet telligence“ nennen sie daneben das Auf- dienstes GCHQ hervorgeht, das sich aus sich in vertraulichen Unterlagen des US- spüren illegaler Waffenlieferungen sowie rechtlicher Sicht mit „Finanzdaten“ und Geheimdienstes NSA wieder, die der das prosperierende Feld der Cyber-Krimi - der eigenen Zusammenarbeit mit der NSA SPIEGEL einsehen konnte und die sich nalität. Das Ausspionieren internationa- in diesem Feld befasst. Das Sammeln, Spei- mit den Aktivitäten der Amerikaner im ler Geldflüsse könne auch dazu dienen, chern und Teilen der „politisch sensiblen“ internationalen Finanzsektor beschäfti- Staatsverbrechen und Genozide zu ent- Daten sei ein tiefer Eingriff, schließlich gen. Die Dokumente zeigen, wie umfas- hüllen oder zu überwachen, ob Sanktio- handle es sich um „Massendaten voller send und effektiv der Geheimdienst sogar nen eingehalten würden. persönlicher Informationen“, von denen globale Geldströme verfolgt und in einer „Geld ist die Wurzel allen Übels“, „viele nicht unsere Ziele betreffen“. eigens dafür entwickelten mächtigen Da- scherzen die Geheimdienstler. Ihre Ak- Tatsächlich enthielt allein die zentrale tenbank speichert. tivitäten zielen den Unterlagen zufolge NSA-Finanz-Datenbank namens Tracfin,

80 DER SPIEGEL 38/2013 Wirtschaft in der die „Follow the Money“-Ausspäh- laments. Einige Monate später wurde ein der Forderung nach Aussetzung des Ab- ergebnisse zu Überweisungen, Kreditkar- leicht entschärftes Swift-Abkommen un- kommens angeschlossen. tentransaktionen und Geldtransfers ge- terzeichnet – mit dem Segen der Berliner Der Konflikt ist auch deshalb so heikel, sammelt werden, geheimen Dokumenten Bundesregierung. weil aus den Dokumenten hervorgeht, zufolge 2011 bereits 180 Millionen Daten- Unterlagen der NSA, die aus dem Archiv wie eng das US-Finanzministerium bei sätze. 2008 waren es lediglich 20 Millio- des Whistleblowers Edward Snowden stam- der Auswahl der Ausspähziele für das nen gewesen. Die meisten Tracfin-Daten men, zeigen nun, dass die USA den mit Programm eingebunden ist. So gibt es würden fünf Jahre gespeichert, heißt es der EU erzielten Kompromiss offenbar un- den Unterlagen zufolge einen personellen darin. terlaufen. Ein Dokument aus dem Jahr 2011 Austausch, bei dem NSA-Analysten für Laut den internen Unterlagen hat der bezeichnet das Swift-Computernetzwerk jeweils mehrere Monate in die zuständige Geheimdienst sogar mehrere Zugänge klar als „Ziel“. Unter anderem beteiligt ist Abteilung des US-Finanzministeriums zum internen Datenverkehr der Swift-Ge- an den Spähaktionen die NSA-Abteilung wechseln. nossenschaft, über die mehr als 8000 Ban- für „maßgeschneiderte Operationen“. Ähnlich brisant ist das Ausspähen von ken weltweit ihren Zahlungsverkehr ab- Einer der verschiedenen Zugangswege Kreditkartentransaktionen. Unter dem wickeln. Andere Institute nimmt die NSA zu den Swift-Informationen besteht den Codenamen „Dishfire“ sammelt der gezielt und individuell ins Visier. Zudem Dokumenten zufolge seit 2006. Seither Nachrichtendienst beispielsweise Infor- hat der Dienst offenbar tiefe Einblicke in die internen Prozesse von Kreditkarten- firmen wie Visa und Mastercard. Und Die NSA scheint auch im Finanzsektor selbst neue, alternative Währungen und alles mitzunehmen, was sie kriegen kann. vermeintlich anonyme Zahlungsmittel wie die Internetwährung Bitcoin gehören zu den Zielen der amerikanischen Späher. könne man den „Swift-Druckerverkehr mationen über Kartentransaktionen von Die gesammelten Erkenntnisse liefern zahlreicher Banken“ auslesen. etwa 70 Banken weltweit, die meisten aus dabei oft ein komplettes Bild zu Indivi - Nach der Verwanzung der EU-Bot- Krisenstaaten. Betroffen sind aber auch duen, inklusive Reisebewegungen, Kon- schaften in New York und Washington Banken in Italien, Spanien und Griechen- taktpersonen und Kommunikationsver- könnte der NSA-Angriff auf Swift der land. Dabei machen sich die Amerikaner halten. Als Erfolgsbeispiele nennt der nächste große Stresstest für die Beziehun- zunutze, dass viele Banken ihre Kunden Geheimdienst unter anderem Vorgänge, gen zwischen amerikanischer Regierung per SMS über ihre Transaktionen unter- in denen Banken aus der arabischen Welt und Europäischer Union werden. Die richten. Das Programm läuft seit dem auf schwarze Listen des US-Finanzminis- NSA äußerte sich bis zum SPIEGEL-Re- Frühjahr 2009. teriums gesetzt wurden. daktionsschluss am Freitag vergangener Der Dienst nimmt den Unterlagen zu- In einem Fall hatte die NSA Belege für Woche nicht zu den jüngsten Vorwürfen. folge ebenfalls große Kreditkartenbetrei- deren Beteiligung an illegalem Waffenhan- EU-Innenkommissarin Cecilia Malm- ber selbst ins Visier – nach eigenen An- del geliefert, in einem anderen ging es um ström forderte Ende der Woche jedenfalls, gaben etwa den US-Konzern Visa. So be- die Unterstützung eines autoritären afri- die Amerikaner sollten „uns sofort und schrieben NSA-Analysten auf einer inter- kanischen Staats. Politisch brisant sind präzise sagen, was passiert ist, und alle nen Konferenz im Jahr 2010 ausführlich aber vor allem die heimlichen Zugriffe auf Karten auf den Tisch legen“. Wenn es und detailliert, wie sie im komplexen Swift-Netzwerke. Die EU hatte 2010 nach wahr sei, „dass sie die Informationen mit Netz, über das der US-Konzern seine langen Debatten das sogenannte Swift-Ab- anderen Behörden teilen, für andere Zwe- Transaktionen abwickelt, nach möglichen kommen mit den Vereinigten Staaten cke, als das Abkommen vorsieht … müs- Anzapfpunkten forschten – angeblich er- geschlossen. Swift sitzt in Belgien und wi- sen wir darüber nachdenken, das Abkom- folgreich. ckelt für Banken und andere Finanzinsti- men zu beenden“, drohte die Schwedin, Ziel seien die Transaktionen von tutionen deren internationalen Zahlungs- nachdem der brasilianische Sender TV Visa-Kunden in Europa, dem Nahen verkehr ab. Jahrelang hatten die USA nach Globo am vorvergangenen Wochenende Osten und in Afrika gewesen, heißt es in den Terroranschlägen vom 11. September erstmals über den Angriff auf Swift be- einer Präsentation. Es gehe darum, „die 2001 darauf gedrängt, Zugang zu diesen richtet hatte. Transaktionsdaten von führenden Kredit- internationalen Finanzdaten zu erhalten, Von einem „offenen Rechtsbruch“ kartenunternehmen zu sammeln, zu auf die Swift ein Quasi-Monopol besitzt. spricht der Grüne Jan Philipp Albrecht. speichern und zu analysieren“. Eine Folie Ein erstes Abkommen scheiterte An- Mittlerweile haben sich vier der sieben zeigt detailliert, wie der Autorisierungs- fang 2010 am Veto des Europäischen Par- Fraktionen im Europäischen Parlament prozess jeder Transaktion, ausgehend vom Kartenlesegerät in einem Laden, über die Bank und einen Datenver - arbeiter bis hinauf zur Kreditkartenfirma selbst abläuft. Eine weitere Darstellung führt dann mögliche „Sammelstellen“ auf. Auf Anfrage schloss eine Visa-Spreche- rin aus, dass Daten aus den vom Unter- nehmen selbst betriebenen Netzen ab- fließen könnten. „Visa Inc. besitzt keine Rechenzentren im Nahen Osten oder in Großbritannien.“ Im Übrigen sei es Poli- tik des Unternehmens, nur auf richter - lichen Beschluss oder gemäß den jeweils geltenden rechtlichen Grundlagen Infor- mationen an Behörden weiterzugeben. Visa-Daten aus dem Nahen Osten lan-

CHRISTIAN WEIDEMANN, RICARDO BOFILL TALLER DE ARQUITECTURA / AP DE ARQUITECTURA BOFILL TALLER WEIDEMANN, RICARDO CHRISTIAN den jedenfalls in der NSA-Datenbank – Swift-Zentrale bei Brüssel: „Die Wurzel allen Übels“ über das Spähprogramm XKeyscore wür-

DER SPIEGEL 38/2013 81 den regionale Daten aus dem Visa-Netz- werk abgeschöpft, heißt es in einem Do- kument. Die Schnüffel-Bemühungen betreffen indes nicht nur einen Anbieter. In die NSA-Finanzdatenbank Tracfin fließen einem weiteren Dokument zufolge Trans- aktionsdaten verschiedenster Kreditkar- tenfirmen ein. Unter anderem seien darin auch Daten aus den Zahlungsautorisie- rungsprozessen von Visa und Mastercard enthalten. Insgesamt machen „Kredit- Kartendaten“ und diesbezügliche SMS im September 2011 84 Prozent der Daten- sätze innerhalb von Tracfin aus. Mastercard äußerte sich bis zum Re- daktionsschluss dieser Ausgabe nicht. Um sich im Dschungel der Informatio- nen zurechtzufinden, gibt es für Tracfin- Analysten sogar einen eigenen Leitfaden für die „Kreditkarten-Suche“. Die Ge- heimdienstler verfügen obendrein über ein elektronisches Werkzeug, mit dem sie Emirates-Mitarbeiterinnen: Keine Steuern, aber leben wie im Schwesternwohnheim eigenständig und sehr schnell die Echtheit von Kreditkarten prüfen können. Die NSA scheint jedenfalls auch im LUFTFAHRT heiklen Finanzsektor alles mitzunehmen, was sie kriegen kann. So zumindest liest sich eine Präsentation aus dem April. Von wegen Saftschubse Aufgabenstellung der NSA sei es gewe- sen, den „Zugang zu einer großen Menge von Finanzdaten“ zu finden, um sie in Wie wird man Stewardess – und warum eigentlich noch? Die die Tracfin-Datenbank einzuspeisen, arabische Airline Emirates veranstaltet in Deutschland heißt es darin. Man sei durch Netzwerk- analysen und den Einsatz des Späh - Castings – und demütigt damit den Konkurrenten Lufthansa. programms XKeyscore auf den ver- schlüsselten Datenverkehr eines großen as Tor zur Welt ist an diesem Vorne steht dann oft Helena el-Haber, Finanz-Netzwerkbetreibers im Nahen Samstagmorgen der Eingang ei- 30, dunkle Locken und Zwölfzentimeter- Osten gestoßen. Dnes nüchternen Hotelkonferenz- absätze. Die gebürtige Libanesin ist so Früher habe man dort nur Zahlungs- raums am Stuttgarter Hauptbahnhof. etwas wie die Heidi Klum der Luftfahrt- verkehre von Bankkunden entschlüsseln 17 junge Frauen und 2 Männer warten branche und eine von 30 Talent scouts der können, nun habe man zudem Zugriff auf auf Einlass. Die Frauen tragen roten Lip- Airline. Auf einen PR-Film über die Me- die interne verschlüsselte Kommunikation penstift und schwarze Pumps. Sie sind tropole Dubai folgt eine Info-Runde über der Unternehmensniederlassungen. Das nicht zum Spaß hier, sondern wollen sich das Leben in dem arabischen Land. Dann sorge für „einen neuen Strom von Finanz- einen Traum erfüllen, den Traum vom warten diverse Tests. Nach jedem Schritt daten und möglicherweise auch verschlüs- Fliegen. wird ausgesiebt, bis sechs Stunden später selter interner Unternehmenskommuni- Und die arabische Fluggesellschaft Emi- noch fünf Kandidaten übrigbleiben: ein kation“ des Finanzdienstleisters, frohlo- rates will ihnen dabei helfen. Sie sucht Mann und vier Frauen. cken die Analysten. Die Bankdaten, die zurzeit nicht nur 500 Aushilfs-Stewardes- Der aufwendige Prozess zeigt, welche so auslesbar würden, kämen aus Ländern, sen wie die Lufthansa, sondern 3800 Flug- Faszination der Job offenbar noch immer die von „großem Interesse“ seien. Ganz begleiter und Flugbegleiterinnen, in Voll- ausübt. Zudem verdeutlicht er, wie sich nebenbei ist das Unternehmen einer der zeit. die Rangordnung in der internationalen vielen Servicepartner von Swift. Einen besseren Beweis für die fulmi- Zivilluftfahrt verändert hat – und damit Die Unterlagen zeigen allerdings auch, nante Expansionsfreude der Airline aus das Berufsbild des Flugbegleiters. wie kurzlebig die Zugänge der Geheim- dem arabischen Emirat Dubai könnte es Bis in die neunziger Jahre galt eine dienste in die Finanzwelt sein können – kaum geben – und wohl auch kaum eine Anstellung als Steward oder Stewardess und dass Verschlüsselung die Schnüffler bessere Möglichkeit, den deutschen Kon- bei der Lufthansa als Glamourjob. Die eben doch vor Probleme stellen kann, zu- kurrenten Lufthansa zu ärgern, der von blauen Uniformen hatten fast das Prestige mindest zeitweise. Lange habe man Zu- einem Sparprogramm ins nächste trudelt. eines Arztkittels. Niemand wäre auf die gang zu den Daten von Western Union Neue Stewardessen werden von den Idee gekommen, die Servierkräfte abfäl- gehabt, heißt es in einem Dokument. Das Deutschen derzeit allenfalls als befristete lig „Saftschubsen“ zu nennen. Unternehmen organisiert Geldtransfers Saisonkräfte eingestellt. Dass das Image gerade bei den etab- in mehr als 200 Ländern. Doch 2008 habe Emirates dagegen lässt es krachen – lierten Airlines mittlerweile aber arg lei- Western Union damit begonnen, seine mit international veranstalteten Casting- den musste, hat ausgerechnet mit jungen Daten hochgradig zu verschlüsseln. Der Events, die wellenweise auch in deut- Angreifern wie Emirates und Billigflie- Zugriff sei dadurch fast unmöglich gewor- schen Metropolen abgehalten werden. Sie gern wie Easyjet oder Ryanair zu tun. den, klagen Mitarbeiter der NSA in ei- dürften wohl alle ähnlich ablaufen wie Fliegen ist fast so gewöhnlich geworden nem der Papiere. LAURA POITRAS, die Auslese, die jüngst in Stuttgart zu wie Brötchenholen. Der Kostendruck ist MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK besichtigen war. gestiegen, die Privilegien der Beschäftig-

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erhalten, bringen es Emirates-Flugbeglei- ter schon mal auf 100 Stunden. Auch die Erholungszeit am Ziel ist bei Emirates in der Regel kürzer als bei der deutschen Airline und beträgt meist nur 24 Stunden. Die Unterbringung in den firmeneige- nen Apartmenthäusern von Emirates ist dagegen gratis, auch wenn die Hausord- nung den einen oder die andere an Schwesternwohnheime erinnert. Zwar hat dort jeder sein eigenes Schlafzimmer und Bad. Wohnzimmer und Küche wer- den dagegen mit Kollegen geteilt – streng getrennt nach Geschlechtern. Herren- oder Damenbesuche sind nach ein Uhr nachts verboten, es sei denn, es handelt sich um Emirates-Mitarbeiter oder Familienangehörige. „Sollte euer Freund trotzdem bei euch übernachten und euch gegenüber gewalttätig werden, braucht ihr gar nicht erst die Polizei ru-

MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN fen“, stellt el-Haber beim Casting klar, „die wird nichts unternehmen, weil ihr etwas Illegales getan habt.“ ten dagegen erodieren. Mit am stärksten deutlich länger, bis ein Neuling zur Ser- Der Austausch von Zärtlichkeiten in bekommen das die Bordangestellten zu vicekraft in der Business- und First-Class der Öffentlichkeit ist in dem arabischen spüren. Gerade bei der Lufthansa. oder zum Kabinenchef aufsteigen kann. Land ohnehin verboten, ebenso wie un- Wer dort bislang anheuerte, konnte Von der Trivialisierung des Berufsbilds verheiratet schwanger zu werden. Flugbe- sich darauf verlassen, dass sein Gehalt beim hiesigen Marktführer profitiert Emi- gleiter mit gleichgeschlechtlichem Partner von Jahr zu Jahr steigt – auf bis zu 7000 rates. Wer eine langfristige Karriere als stoßen in den Emiraten – vorsichtig aus- Euro pro Monat inklusive Zulagen für alt- Bordbegleiter anstrebt, schaut sich immer gedrückt – auf Akzeptanzprobleme. Die gediente Kabinenchefs. häufiger bei arabischen Airlines um, die Aspiranten in Stuttgart ließen sich durch Die alte Aufstiegsautomatik will das als ebenso streng wie anstrengend und all die Restriktionen nicht schrecken. Blie- Management nun bremsen. Selbst die zugleich erfolgreich gelten. be als letztes potentielles Hindernis noch Pensionsansprüche der Beschäftigten Emirates steuert schon heute allein die Vergütung. Doch auch die spricht möchte der Vorstand beschneiden (SPIE- über 30 Großraumjets vom Typ Airbus kaum gegen einen Umzug nach Dubai. GEL 36/2013). Und weil die Lufthansa A380 und erwartet in den kommenden Anfänger bringen es bei Lufthansa und kaum noch wächst, dauert es künftig auch Jahren nochmals rund 200 Maschinen. Emirates im Schnitt auf etwas weniger Dafür muss sie die Zahl ihrer heute 17000 als 2000 Euro im Monat plus Zulagen. In Flugbegleiter fast verdoppeln. Für die Deutschland muss der Verdienst aller- Beflügeltes Geschäft Beschäftigten ist das eine gute Nachricht, dings versteuert werden, außerdem wer- Emirates im weil man in einer derart schnell wachsen- den Renten- und Krankenversicherungs- Geschäftsjahr 2012/13 Veränderung gegenüber den Airline auch schnell aufsteigen kann. beiträge fällig. All das entfällt in Dubai. 2009/10* Da lassen sich auch die teils bizarr Das Emirates-Personal muss sich um eine wirkenden Fragen von Testerin el-Haber private Vorsorge selbst kümmern. ertragen: „Was kann man alles mit einer Wie viele der erfolgreichen Testteilneh- Tasse anstellen, außer Kaffee daraus zu mer aus Stuttgart am Ende tatsächlich für trinken?“, fragte sie in Stuttgart, oder: die arabische Airline arbeiten werden, „Sie stehen an der Rezeption eines Hotels, bleibt abzuwarten. Eines steht schon jetzt Umsatz 15,1 +84% und acht Gäste wollen ein Zimmer, Sie fest: Bis Ende des Jahres dürfte keiner in Milliarden Euro haben aber nur zwei frei. Wem geben Sie von ihnen in Dubai anfangen. die Zimmer?“ Von wegen Saftschubse – Grund: Das Emirates-Ausbildungszen- zum Vergleich: *Luft- hier wird Sozialkompetenz gesucht. trum am Persischen Golf ist zwar 24 Stun- 30,1 +35% hansa Die erste Ausscheidungsrunde ähnelt den am Tag in Betrieb. Es beherbergt 2012 2009 „Germany’s Next Topmodel“. Headhun- unter anderem Kabinen-Nachbauten, ein terin el-Haber verteilt zwei verschiedene Schmink- und Ankleidestudio sowie ei- Mitarbeiter 38067 +33% Briefchen: „Herzlichen Glückwunsch, Sie nen Riesen-Pool für Notwasserungsübun- sind in der nächsten Runde“ oder: „Es gen. Trotzdem können bis Schulungsbe- tut uns leid …“ Von 19 Bewerbern blei- ginn derzeit sieben Monate vergehen, ben in Stuttgart zunächst 8. Auf die letz- weil Emirates gar nicht so schnell neue 118368 +5% ten 5 warten schließlich die beiden fina- Flugbegleiter ausbilden kann, wie sie ge- len Hürden: Psychotest und Einzelge- braucht werden. Solche Probleme hätte spräch. die Lufthansa auch gern. geflogene % Die Schattenseiten ihres Traumjobs DINAH DECKSTEIN, ANN-KATHRIN NEZIK 180880 +53 verdrängen die Anwärter gern, obwohl Kilometer Video: Ann-Kathrin Nezik über in Millionen Talentscout el-Haber sie offen anspricht. Während Lufthansa-Bordbegleiter im ihr Undercover-Casting 136882 +16% Schnitt auf 80 Flugstunden pro Monat spiegel.de/app382013stewardessen kommen und ab der 71. Stunde Zuschläge oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 38/2013 83 Wirtschaft

dächtige Hartfaserplatten kleistern muss- auf, die „mangelhafte“ Ware nicht zu ver- REKLAME ten, schimpfen nun über die Qualität der wenden und die Rechnungen nicht zu Ware. Die Bundesgeschäftsführung der zahlen. Grünen fordert Schadensersatz. Einzelne Auch Kompla holt zur Gegenattacke Schlappe Pappe Kreisverbände, die ihre Plakate direkt bei aus: „Wir haben einwandfreie Ware ge- Pappwelle bestellten, wollen ihre Rech- liefert, aber unsere Plakate sind zum Grüne und SPD werben im nungen erst gar nicht bezahlen. Großteil nachlässig aufgehängt worden“, Wahlkampf mit Öko-Plakaten, die „Wir sind enttäuscht“, sagt Grünen- sagt Firmenchefin Silke Lahnstein. Auch Wind und Wetter allerdings Wahlkampfmanager Robert Heinrich. ihr Produkt müsse mit Kabelbindern be- „Die Firma Pappwelle hat mangelhafte festigt werden. Statt acht pro Plakat, wie nicht immer standhalten. Jetzt gibt Plakate geliefert, die nicht über die ver- in der Anleitung vorgeschrieben, seien es Zoff mit den Herstellern. traglich zugesicherte und getestete Wet- vielfach nur vier verwendet worden. terfestigkeit verfügen. Das ist ärgerlich.“ Die Nichte des ehemaligen Bundes- laubwürdigkeit ist ein hohes Gut Papperlapapp – Pappwelle will die Vor- finanzministers Manfred Lahnstein, die in der Politik. SPD-Chef Sigmar würfe nicht gelten lassen: Die Grünen selbst SPD-Mitglied ist, will sich den GGabriel zum Beispiel forderte im hätten die Plakate schlicht falsch aufge- Rechnungsbetrag in Höhe von knapp Mai ein generelles Tempolimit von 120 hängt. Hätte man sich an die mitgelieferte 400000 Euro nun mit Hilfe eines Anwalts Stundenkilometern. Vor zwei Wochen Anleitung gehalten, wäre das alles nicht erkämpfen. Die dazugehörigen SPD-Pa- bretterte er mit 180 über die Autobahn. passiert. rolen hat sie griffbereit: Die Partei gefähr- Wasser predigen und selbst Wein trinken, Nach den Anweisungen müssen die de mit ihrer Verzögerungstaktik Arbeits- das kommt beim Volk selten gut an. Doppelplakate, die wie ein Sandwich um plätze in einer zuliefernden Druckerei, Die Grünen nahmen es mit der Glaub- den Laternenpfahl geklappt werden sol- sagt Lahnstein. würdigkeit im Wahlkampf deshalb beson- len, oben und unten ordentlich mit Kabel- Und noch etwas anderes frustet die ders genau und ließen ihre Kandidaten- bindern befestigt und seitlich mit Klebe- Kompla-Chefin: In einer Telefonkonfe- porträts auf spezielle Öko-Pappe drucken. streifen geschlossen werden. „Ich habe renz Ende Juli soll SPD-Generalsekre - „Zu 100 Prozent recyclingfähig“ und da- in Charlottenburg, wo wir unser Büro ha- tärin Andrea Nahles, wütend über die bei „wetterbeständig bei Regen und ben, kein einziges korrekt gehängtes Pla- Probleme mit der Öko-Pappe, von Betrug Schnee“, wie der Anbieter, die Berliner kat gesehen“, wettert eine Unternehmens- gesprochen haben. „Das war Rufschädi- Firma Pappwelle, wirbt. Deren Chef An- sprecherin. Bis jetzt seien mehrere Rech- gung“, sagt Lahnstein. Parteifreunde hät- dré Stephan war einst Wahlkampfmana- nungen nicht bezahlt worden. „Wenn es ten sie deshalb angerufen. Auch ein Pro- ger von Renate Künast, bis er seinen Pos- keine friedliche Lösung gibt, gibt es eine tokoll der Konferenz habe sie gesehen. ten nach einer alkoholisierten Autofahrt juristische Lösung.“ Einzelne Kreisver- Die SPD will sich zu dem Plakat-Streit räumen musste. bände sind bereits gemahnt worden. nicht äußern. In ihrem letzten Brief habe Mit Pappwelle ist seine Resozialisie- Wie viele Plakate sie bei Pappwelle be- sich die Partei aber willens gezeigt, eine rung zwar längst abgeschlossen, aber das stellt haben, wollen die Grünen nicht ver- außergerichtliche Lösung zu finden, sagt Versprechen mit der Wetterbeständigkeit raten. Das gilt auch für die SPD, die sich Lahnstein. Wie die aussehen soll, will sie der Wahlplakate sorgt nun für Streit. momentan ebenfalls mit schlappen Pap- spätestens am Montag nach der Bundes- Denn schon nach den ersten Unwettern pen und deren Produzenten rumärgert. tagswahl erfahren. Anfang August hingen viele der anfangs 135000 Poster sollen die Genossen bei Diesen Wahlkrampf hat die Union be- faltenfrei lächelnden Gesichter schief und der Solinger Werbeagentur Kompla be- reits für sich entschieden: Sie setzte auf schlapp an den Laternenpfählen. stellt haben. Auf das Geld wartet die Fir- sogenannte Hohlkammerplakate. Öko - Die Wahlkämpfer, die ihre Hoffnungs- ma bis heute. In einer Rundmail rief der logisch zweifelhaft, weil aus Kunststoff. träger anschließend auf ökologisch ver- Parteivorstand die Wahlkämpfer dazu Aber wetterfest. KONRAD DAUBEK FOTOS: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL GRABKA THOMAS FOTOS: Nachhaltige Wahlplakate der Grünen: „Wenn es keine friedliche Lösung gibt, gibt es eine juristische“

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Veränderung 2012 2007=100 gegenüber 2007 11%

46% 65% 62%

2007 2012 2007 2012 2007 2012 2007 2012 7,4 2,6 Mrd.€ 3,2 1,7 1,4 0,5 2,2 2,0

Gewinn/Verlust* * vor außerordentlichen Posten; Quelle: Bloomberg

KONZERNE Abgeklemmt Große Stromversorger wie E.on und RWE kämpfen mit Absatz- und Gewinneinbrüchen. Ein überzeugendes Konzept für die Zukunft haben die Chefs nicht zu bieten. Dabei stehen die größten Herausforderungen noch bevor.

uf sein Kraftwerk im niedersäch- eines dramatischen Wandels in der tradi- Besonders heikle Zahlen muss RWE- sischen Lingen ist Heinz-Jürgen tionellen Energiewirtschaft geworden; Chef Peter Terium seinen Aufsichtsräten AWüllenweber „mächtig stolz“. aber auch für den Absturz der vier gro- am Montag dieser Woche verkünden. Bei Rund 700 Millionen Euro hat sein Ar- ßen, Deutschland bisher weitgehend un- ihm ist das für Banken und andere Kre- beitgeber, der Essener RWE-Konzern, in ter sich aufteilenden Stromversorger E.on, ditgeber besonders wichtige Verhältnis den vergangenen Jahren für die Anlage RWE, EnBW und Vattenfall. der Nettoschulden zum Eigenkapital nach ausgegeben. Entstanden ist eines der Dieses Quartett treffen die Energiewen- Berechnungen von Analysten auf nun- modernsten Gaskraftwerke Europas. Es de und der rapide steigende Anteil von mehr 253 Prozent emporgeschossen. Das braucht nur niemand. Ökostrom mit voller Wucht. Trotz massi- ist sogar noch mehr als beim pleitebe- Gewaltige Turbinen erzeugen Strom ver Sparprogramme und Verkäufen von drohten Ruhrgebiets-Nachbarn Thyssen- und Dampf mit großer Effizienz und in kompletten Unternehmensteilen brechen Krupp. Terium will deshalb eine Kappung extrem kurzer Zeit. „Normale Anlagen Gewinne und Aktienkurse ein (siehe Gra- der Dividende ankündigen. benötigen bis zu drei Stunden, um ihre fik). Dazu drückt eine immense Schul- Nächstes Jahr dürfte die Situation für Leistung ans Netz zu bringen, wir sind denlast aus teils überdimensionierten In- den Konzern noch prekärer werden. Denn dank ultramoderner Turbinen in nur zehn vestitionen der Vergangenheit. die RWE-Manager haben die Entwicklung Minuten so weit“, schwärmt Kraftwerks- Bei RWE und E.on sind es jeweils über des Strompreises im laufenden Jahr falsch leiter Wüllenweber. Damit könne man 30 Milliarden Euro. Wie solche Summen eingeschätzt. Mit rund 50 Euro pro verkauf- sehr flexibel auf den schwankenden angesichts des rapiden Wertverfalls zu- ter Megawattstunde ist er in den Bilanzen Wind- und Sonnenstrom reagieren. rückgezahlt werden sollen, ist offen. veranschlagt. Erlöst wurden an der Börse Tatsächlich steht die moderne Anlage in den vergangenen Monaten maximal 40 seit Monaten immer öfter still. Der mit Euro. Das nächste Jahresergebnis, heißt es Gas produzierte Strom ist viel zu teuer, in der Konzernzentrale vorbeugend, dürfte um ihn am Markt profitabel verkaufen entsprechend negativ ausfallen. zu können. Lediglich 70-mal sei das Kraft- Und dies gilt selbst dann, wenn Terium werk im laufenden Jahr überhaupt ans seine internen Planungen umsetzt und Netz gegangen, klagt Wüllenweber. mit massiven Unternehmensverkäufen Wegen der geringen Auslastung von und Personalabbau gegensteuert. Von nicht einmal 15 Prozent wurde seine knapp 70000 Beschäftigten, so das Sze- Mannschaft bereits von 103 auf 59 verrin- nario, könne die Belegschaft in wenigen gert. Doch auch diese Rumpftruppe ver- Jahren im schlimmsten Fall auf nur noch bringt einen Großteil ihrer Zeit mit reinen 50000 Mitarbeiter schrumpfen. Wartungs- und Pflegearbeiten. Eine ähnliche Rosskur hat der Düssel- „Wie lange RWE solche Anlagen noch dorfer RWE-Konkurrent E.on bereits hin- halten kann, ist offen“, sagt der zuständi- ter sich. Rund 12 000 Jobs hat dessen Chef ge Vorstand Roger Miesen. Denn längst Johannes Teyssen in den vergangenen schon ist Lingen kein Einzelfall mehr. In Monaten abgebaut. Nicht mehr benötigte der gesamten Republik stehen konventio- Unternehmensbereiche im Wert von in- nelle Kraftwerke still, weil ihr Strom sel- zwischen fast zehn Milliarden Euro wur-

tener gebraucht wird. TEICHMANN ANDREAS den veräußert. Ihre Kühltürme und hohen Schornstei- RWE-Manager Terium Noch radikaler als RWE und E.on geht ne sind zum weithin sichtbaren Mahnmal Kein Geld für den Neuanfang der in Berlin ansässige Versorger Vatten-

DER SPIEGEL 38/2013 85 Wirtschaft fall Europe vor. In einer Art Notaktion Schlecht aufgestellt? erbare Energien wurde wenig investiert. will sich das Unternehmen von seinem * Den Großteil der Milliardengewinne aus eigentlichen Kerngeschäft, den Braunkoh- Deutscher Kraftwerkspark der „Big Four“ besseren Zeiten steckten E.on-Boss Teys- lekraftwerken und dem gesamten Kohle- konventionell sen und sein damaliger RWE-Kollege Jür- abbau in der ostdeutschen Lausitz, tren- erneuerbare gen Großmann stattdessen in teils riskante nen. Geplant ist ein Börsengang oder ein Energien 23% Geschäfte mit Kohle- und Atomkraftwer- Verkauf. Damit bliebe dem vor einigen Quelle: Anteil erneuerbarer ke im Ausland; in Großbritannien etwa Umweltbundesamt Energien am Jahren mit viel Elan angetretenen schwe- *EnBW, E.on, oder in der Türkei und Brasilien. dischen Energieversorger nur noch ein RWE, Vattenfall deutschen Strom- Nun fehlt zu Hause auf dem Heimat- Rumpfgeschäft in Hamburg und Berlin. verbrauch 2012 markt das Geld für den milliardenteuren Noch schlimmer als der radikale Um- Quelle: AGEB Umbau der alten Systeme und einen bruch und die Sparprogramme sei der grundlegenden Neuanfang mit regenera- „Mangel an Perspektiven für das künftige tiven Energiesystemen. Noch absurder: Marktdesign“, sagt RWE-Vorstand Mie- Einige der hoffnungsvollen Projekte wer- sen. Konkret heißt das: Den einst so den gerade wieder eingestampft. mächtigen Stromversorgern fehlt ein So will RWE-Chef Terium die bislang tragfähiges Geschäftskonzept. Niemand eigenständige konzerninterne Öko- in der Branche weiß derzeit zu sagen, sparte Innogy kräftig stutzen. Die mil- wo die Milliarden herkommen sollen, lionenschweren Spezialschiffe sollen um die üppige Infrastruktur und Beleg- verkauft werden. Sein Vorgänger Groß- schaft künftig zu bezahlen. mann hatte sie erst vor wenigen Jahren Schuld daran ist zu einem guten Teil angeschafft, um Offshore-Windparks in die überstürzte und schlecht gemanagte Ost- und Nordsee aufzubauen. Gleichzei- Energiewende der Bundesregierung. Sie tig soll weniger Geld in den Bau der Parks führt dazu, dass über das Erneuerbare- fließen. Und wenn überhaupt, nur noch Energien-Gesetz (EEG) zunehmend sub- gemeinsam mit finanzkräftigen Partnern. ventionierter Ökostrom in die Netze ein- Die Branche setzt vielmehr auf die gespeist wird. Das wiederum drückt den Unterstützung der Politik. Mit Hilfe ihrer Preis an der Börse, weshalb klassische Verbände wollen die Stromversorger un- Kraftwerke nicht mehr wirtschaftlich ar- mittelbar nach der Bundestagswahl einen beiten können, obwohl sie zur Sicherung sogenannten Kapazitätsmarkt durchset- der Versorgung noch gebraucht werden. der Energie-Dinosaurier kaum ausge - zen. Das würde konkret bedeuten: Die Zugleich jedoch wird immer klarer, richtet. Stromverbraucher sollen für Kraftwerke dass die großen Energieversorger viel zu Statt Braunkohlemeiler oder Atom- bezahlen, die zur Netzsicherung bereit- lange an ihren überkommenen Produk - kraftwerke, die rund um die Uhr unter stehen, aber gar keinen Strom verkaufen. tionsstrukturen festgehalten haben. Selbst Dampf stehen, braucht eine solche „Immerhin stellen wir mit voll funk - wenn die teilweise absurd hohen Subven- Energieversorgung kleine, dezentrale Ein- tionsfähigen und kostenintensiven Kraft- tionen für Ökostrom von der Bundesre- heiten. Das sind moderne Gasturbinen, werken eine Leistung zur Verfügung, die gierung nach der Wahl weiter herunter- Blockheizkraftwerke und Speicheranla- jederzeit abrufbar ist und die Versor- gefahren werden, hilft das den Energie- gen. Sie können regionale Stromschwan- gungssicherheit auch dann gewährleistet, versorgern nicht wirklich. kungen durch zu viel oder zu wenig Wind wenn die Sonne nicht scheint und der „Der Anteil des Ökostroms liegt heute und Sonne im Netz abfedern und sich bei Wind nicht weht“, begründet Teyssen die bereits über 22 Prozent, und er wird Bedarf über intelligente Steuerungsme- Forderung. Ohne diese Gelder sieht sich aus ökologischen und ökonomischen chanismen auch zu großen Einheiten zu- die Branche gezwungen, unrentable An- Gründen auch weiter ansteigen. Die Men- sammenschalten lassen. lagen abzuschalten und dann auch end- schen wollen eine andere Energieversor- RWE, E.on und Co. haben das bislang gültig vom Netz zu nehmen. gung“, sagt der neue EnBW-Chef Frank kaum zu bieten. Jahrelang hielten sie an Bis zu vier Milliarden Euro pro Jahr Mastiaux. Doch darauf sind die Systeme ihrer alten Meiler-Ideologie fest. In erneu- sollen auf diesem Weg in die Konzern- kassen kommen. Kurzfristig könnte das helfen, sagt ein hochrangiger RWE-Ma- nager. Retten wird es die Konzerne nicht. Dazu wäre ein radikaler Systemwech- sel nötig. Und den hat sich bislang ledig- lich EnBW-Chef Mastiaux vorgenommen. Er plant, die klassische Energieerzeugung mit Kohle und Kernkraft in den kommen- den Jahren um 80 Prozent zu reduzieren. Gleichzeitig soll massiv in erneuerbare Energien, dezentrale Systeme und intelli- gente Netze investiert werden. Das sei ein langer, aber der einzig sinn- volle Weg, hat Mastiaux seiner Mann- schaft bei Betriebsversammlungen in Karlsruhe gesagt. Und es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn die größten Lasten kommen auf die Versorger noch zu: der Rückbau von 19 Atomkraftwerken.

ANDRE ZELCK FÜR MANAGER MAGAZIN (L.); STOCK4B (R.) (L.); MAGAZIN STOCK4B FÜR MANAGER ANDRE ZELCK Was das konkret bedeutet, ist derzeit Manager Teyssen, Mastiaux: Ohne tragfähiges Geschäftsmodell bei Obrigheim zu sehen. Dort wird ein

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Wirtschaft Doppeltes Spiel Die FDP prangert Auswüchse beim Ökostrom an – hilft aber auch gern der Solarlobby.

Rainer Brüderle, FDP-Spit- roten und grünen Politikern wohl nicht larpraxis AG in einem Berliner Hotel zenkandidat, war wieder billiger gekommen wäre. beschwichtigte er die aufgeregten bei einem seiner Lieblings- Wie das Doppelspiel der Liberalen Branchenvertreter. „Sie alle machen WAHL themen dieses Wahl- funktioniert, zeigte sich etwa im No- unter Schwarz-Gelb die besten Ge- 2013 kampfs angekommen: För- vember 2011. Die schwarz-gelbe Re- schäfte; der Kapazitätsausbau unter derirrsinn beim Ökostrom. gierung hatte schlechte Nachrichten Schwarz-Gelb ist so hoch wie nie zu- „Weg damit“, schmetterte er seinen zu verkünden. Die Subventionen vor vor“, sagte Kauch. „Ohne die FDP- Zuschauern vergangene Woche in allem für Solardächer waren schon Bundestagsfraktion hätten Sie längst Berlin entgegen. Früher habe es ge- wieder aus dem Ruder gelaufen; eine einen festen Deckel im EEG.“ heißen, die Energiewende koste den Strompreiserhöhung stand bevor. Auch der FDP-Naturschutzexperte Ver braucher nicht mehr als eine Kugel Wirtschaftsminister Rösler spielte Horst Meierhofer stand den Positio- Eis im Monat. „Heute könnten Sie sich als Radikalreformer auf. Er ver- nen der Umweltlobby aufgeschlossen von dem Geld die ganze Eis- gegenüber. Bereits vor der karte rauf- und runterbestel- Bundestagswahl 2009 kippte len“, rief Brüderle; es gab to- er die Forderung nach einer senden Applaus. Radikalreform der Ökostrom- Brüderle spricht ein zentra- förderung aus dem FDP-Pro- les Problem der Energiewen- gramm. Das bestehende Sys- de an. Irritierend ist nur, dass tem ermögliche „einen beson- es seine eigenen Leute waren, ders kostengünstigen Ausbau die das Problem mitverur- der erneuerbaren Energien“ sacht haben. Ausgerechnet und sei „international bei- Liberale sorgten in den ver- spielgebend“, behauptete er gangenen Jahren dafür, dass damals – eine Formulierung, die Grünstrombranche von die sich so ähnlich auch drastischen Einschnitten ver- in den Argumentationspapie- schont blieb. Dokumente der ren der Solarbranche wieder- Ökolobby belegen, wie er- fand. Im Fachblatt „Photon“ staunlich nahe sich Solarindu- wurde Meierhofer dafür als strie und Liberale waren. „grünes Gewissen der FDP“ Die FDP spielte ein doppel- vorgestellt. tes Spiel. Während sich Brü- In der Solarbranche genie- derle und Wirtschaftsminister ßen die beiden liberalen Um- Philipp Rösler in der Öffent- weltpolitiker einen guten Ruf. lichkeit als Kritiker der Öko- Das Unternehmen IBC Solar, energie präsentierten, stan- Betreiber großer Photovol- den die FDP-Fachleute für taikparks, spendete im Jahr Umwelt und Energie meist an 2010 jeweils 5000 Euro an der Seite der Lobby. Am zwei Kreisverbände der FDP: Ende war es dann so, dass die Dortmund und Regensburg. Kritiker die Schlagzeilen do- In Dortmund ist Michael

minierten – aber die Umwelt- ALLIANCE / DPA SCHUTT / PICTURE MARTIN Kauch Kreisvorsitzender. In leute der Fraktion entschie- Wirtschaftsminister Rösler: Erstaunliche Nähe Regensburg sitzt Horst Meier- den, was gemacht wird. hofer im Vorstand. So kommt es, dass die Betreiber von langte, die Solarstromförderung dras- Auch Außenminister Guido Wester- Solardächern, Windrädern und Biogas- tisch zu kürzen und nur noch eine welle pflegt Kontakte in die Solarbran- anlagen am Ende der schwarz-gelben begrenzte Zahl von Anlagen zuzulas- che. Mit Frank Asbeck, dem Chef des Legislaturperiode viel höhere Subven- sen. Von einem „Deckel“ für das größten deutschen Solarherstellers tionen einstreichen als zu deren Be- Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Solarworld in seinem Wahlkreis Bonn, ginn. Die Umlage zur Förderung der war die Rede, zum Schrecken der ist er gut bekannt. Vor vier Jahren erneuerbaren Energien stieg in den Solarbranche, die es gewohnt war, veranstaltete Asbeck ein Spenden - vergangenen vier Jahren von 1,13 Cent von einem Ausbaurekord zum nächs- dinner für Westerwelles Wahlkampf. pro Kilowattstunde auf 5,3 Cent. Ins- ten zu eilen. Auf einer nur für Mitglieder zugäng- gesamt 20 Milliarden Euro werden auf Umso größer war die Erleichterung, lichen Seite des Solarwirtschaftsver- diese Weise inzwischen umverteilt, als sich der FDP-Umweltpolitiker bands heißt es denn auch: Asbeck viermal so viel wie 2009, und es ist Michael Kauch einschaltete. Bei einer habe früh seine „guten FDP-Kontakte nur ein schwacher Trost, dass es mit Veranstaltung der Beratungsfirma So- genutzt“. ALEXANDER NEUBACHER

88 DER SPIEGEL 38/2013 komplettes Atomkraftwerk samt strahlen- dem Inventar in handliche Blöcke von maximal 1,65 Meter Breite und 1,20 Meter Höhe zerlegt. Dutzende Mitarbeiter neh- men das Werk mit Spezialgeräten ausein- ander, dekontaminieren die Altlasten, so weit es geht, und verpacken sie dann. Jede einzelne Kiste wird in Scannern auf Strahlung geprüft, erhält Kontroll- nummern und Lagerpapiere, bevor sie das streng überwachte Gelände verlässt. Laut EnBW-Kernkraftgeschäftsführer Jörg Michels sollen rund 10000 Tonnen potentiell kontaminiertes Material in Form dieser handlichen Kisten bis spätes- tens zum Jahr 2025 verpackt und entsorgt sein – wenn alles glattläuft. Von der ersten Genehmigung im Jahr 2004 wären dann mehr als 20 Jahre ver- gangen. Zu den genauen Kosten will sich der Konzern nicht äußern. Nur so viel: In heißen Phasen, mit vielen Fremdarbei- tern, kommen locker 1 bis 1,5 Millionen Euro Kosten zusammen – täglich. Rund 30 Milliarden Euro Rückstellun- gen haben die Konzerne für den Rückbau der Kernkraftwerke in ihren Bilanzen ge- bildet. Die jedoch sind nicht mit liquiden Mitteln hinterlegt, sondern zu großen Tei- len mit Kraftwerken und Anlagen, die weiter an Wert verlieren. Auch der Rückbau der Meiler selbst dürfte teurer werden als ursprünglich veranschlagt. Umweltorganisationen wie Greenpeace rechnen eher mit über 40 Milliarden Euro. Einer der Gründe: In den neunziger Jahren war der Rückbau so berechnet worden, dass die Anlagen unmittelbar nach der Abkühlphase abge- rissen werden könnten. Doch dazu fehlen die notwendigen Endlager für leicht- und hochradioaktive Abfälle. Wann die über- haupt zur Verfügung stehen, ist offen. Erst vor wenigen Wochen hat die Bun- desregierung beschlossen, eine Alterna- tive zum bisher geplanten Endlager in Gorleben erkunden zu lassen (SPIEGEL 26/2013). Das wird nicht nur den gesam- ten Prozess um Jahre verzögern. Die Kos- ten dürften ebenfalls um weitere dreistel- lige Millionenbeträge steigen. Bei EnBW will man aus der Not ein Geschäft machen. „Die wertvollen Er- fahrungen, die unsere Mannschaft beim Rückbau von Obrigheim gesammelt hat, kann das Unternehmen demnächst nicht nur beim Abriss eigener Kraftwerke einbringen“, sagt EnBW-Geschäftsführer Michels. Die Spezialisten sollen ihre Fähigkeiten auch anderen Unternehmen in Deutschland und Europa anbieten. Vorstandschef Mastiaux hofft, auf diese Weise zumindest einen kleinen Teil der Milliardenkosten wieder einspielen zu können. Retten werden die Summen den Konzern im Zweifelsfall nicht. Aber es ist deutlich mehr, als seine Kollegen in Essen und Düsseldorf derzeit zu bieten haben. FRANK DOHMEN

DER SPIEGEL 38/2013 89 Wirtschaft

lediglich: „Wir brauchen einen Techniker an der Spitze.“ MANAGER I Einem Finanzexperten könnten die Chefs der einzelnen Marken stets erklä- ren, dass sie für ihre Modelle eine ganz Der eine will noch bleiben … besondere Konstruktion benötigen und deshalb nicht auf die Gleichteile zurück- greifen. Ein Techniker dagegen sei nicht Frankfurter Aufmarsch: Ferdinand Piëch demonstriert auf der so leicht hinters Licht zu führen. Automobil-Ausstellung seinen Machtwillen. Als realistische Nachfolgekandidaten gelten die Entwicklungschefs der Kon- zernmarken Audi, Bentley, Seat, Škoda, r hat so seine eigene Art entwickelt, gen diese beiden Herrscher in der Zen- Scania und Volkswagen sowie Porsche- Menschen zu beruhigen. Nein, nein, trale wagt kein Provinzfürst den Auf- Chef Matthias Müller. Esagt Ferdinand Piëch, der Aufsichts- stand. Jedenfalls keiner, der nicht seinen Zwei Jahre soll es noch dauern, bis eine ratsvorsitzende des VW-Konzerns, er wer- Kopf riskieren will (SPIEGEL 34/2013). Entscheidung fällt. Es wird eine spannen- de jetzt nicht voreilig jemanden abstra- Aber ewig kann auch Winterkorn den de Zeit bis dahin. Die Kandidaten werden fen, der dieses böse Gerücht möglicher- Job nicht ausüben. Er ist 66, und sein Pen- versuchen, sich zu profilieren, auch ge- weise in Umlauf gesetzt hat. Piëch sagt: sum ist mörderisch. Der VW-Boss pendelt geneinander. Winterkorn muss sich darin „Guillotinieren werde ich erst, wenn ich ständig zwischen den USA, China und üben, Verantwortung abzugeben. Und sicher bin, wer es war.“ Europa. Er kontrolliert den Bau neuer Fa- Piëch wird weiter gegen einen Gegner So zornig wie zurzeit haben enge briken, testet künftige Automodelle und kämpfen, der kaum zu besiegen ist. Ge- Vertraute den Wolfsburger Autopatriar- kümmert sich auch noch um den Werks- gen das Gerücht, er sei gesundheitlich an- chen schon seit Jahren nicht mehr erlebt. club VfL Wolfsburg. Wenn Winterkorns geschlagen. Was soll er machen, ein ärzt- Das „Handelsblatt“ hatte am vorvergan- Woche mal wieder aus sieben Arbeits - liches Bulletin über seinen körperlichen genen Freitag geschrieben, VW-Chef Mar- tagen besteht, steckt er die Anstrengun- Zustand veröffentlichen? tin Winterkorn solle Piëch schon in weni- gen nicht mehr so leicht weg wie früher. Zur IAA erschien er leicht gebräunt, gen Monaten an der Spitze des Aufsichts- Winterkorn, Piëch und der Betriebs- er kam gerade aus einem Urlaub. Por- rats ablösen, und Finanzvorstand Hans ratsvorsitzende Bernd Osterloh bereiten sches Betriebsratschef Uwe Hück rief ihm Dieter Pötsch könnte dann Vorstandschef deshalb seit einiger Zeit die Nachfolge- zu: „Herr Piëch, Sie sehen saugut aus“, werden. regelung vor. Es wäre fahrlässig, dies und wiederholte: „Saugut!“ Vor allem hieß es: Piëch sei zu krank, nicht in Angriff zu nehmen. Eine Fest - Drei Tage lang besuchte der VW-Pa- um noch lange weiterzumachen. legung aber gibt es nicht. Osterloh sagt triarch zusammen mit seiner Frau Ursula Konzern, Betriebsrat und die Autoshow. Es sollte eine Piëch selbst haben dies heftig Demonstration seiner Stärke dementiert. „Ich bleibe Ihnen und seines ungebrochenen noch mindestens so lange Machtwillens werden. Und erhalten, wie mein Vertrag Piëch verheimlichte nicht, dass läuft“, sagte der 76-Jährige auf ihn dabei vor allem die Frage der Internationalen Automobil- beschäftigte, wer die Gerüchte Ausstellung (IAA) vergangene um seinen angeblich bevor- Woche. Das wäre 2017. Zorn stehenden Abschied in Umlauf scheint eine sehr vitalisierende gebracht haben könnte. Wirkung entfalten zu können. Wollte da jemand im Unter- Dennoch kehrt keine Ruhe nehmen von den schlechten ein in Europas größtem Auto- Finanzzahlen für das erste mobilkonzern, der mit seinen Halbjahr ablenken? Das Klima zwölf Marken vom Motorrad im VW-Konzern dürfte in den bis zum Lastwagen so ziemlich nächsten Wochen eisig werden. alles produziert, was Räder hat. Fast schon erleichtert nah- Die Frage, wer dieses Impe - men die Vorstände da zur rium einmal führen soll, wenn Kenntnis, dass ihr Aufsichts- Konzernchef Winterkorn und ratschef sich nicht nur um sein oberster Aufseher Piëch Intrigen kümmert, sondern nicht mehr im Amt sind, treibt weiterhin um jedes Detail der die Mitarbeiter seit längerem Autos. um. Und auch die Frage, ob der Als Piëch die Stände seiner VW-Konzern dann überhaupt Marken inspizierte, monierte noch zu steuern ist. er an einem Seat, dass die Es gibt keine innere Logik, Düsen für das Wischwasser die dieses Konglomerat zusam- der Scheibenwischer zu weit menhält. Die Marken kämpfen herausragten. In einem Audi lieber gegeneinander, als dass kritisierte er die Verarbeitung sie zusammenarbeiten, Audi der Ledersitze: „Die Nähte, gegen Porsche, Škoda gegen die habe ich bei Ferrari schon Volkswagen, MAN gegen Sca- schöner gesehen.“ nia. Noch zwingen Winterkorn Da will einer wirklich noch und Piëch sie, gemeinsame VW-Aufsichtsratschef Piëch nicht gehen. DIETMAR HAWRANEK, DIRK KURBJUWEIT Baukästen zu verwenden. Ge- / DPA BORIS ROESSLER

90 DER SPIEGEL 38/2013 und Fairnessfragen“, die zwischen ihm und Cromme bestehe – dessen Namen er MANAGER II nicht einmal nennt. Er werde emotional, wenn Menschen, auch Chefs, unfair be- handelt würden. Und unfair fand Acker- … der andere geht endgültig mann, wie Cromme Siemens-Chef Peter Löscher rauswarf. Ackermann sah in Löscher wohl so etwas wie einen Bruder Berliner Abgesang: Josef Ackermann markiert mit einer im Geiste. Wie Löscher bewegte er sich zornigen Rede das Ende seiner alten Macht. zunehmend lieber auf der politischen Weltbühne, als sich in den Niederungen des Unternehmensalltags abzumühen. anz zum Schluss hat Josef Acker- genommen hatte. Dessen Familie glaubte, „Die politischen Jahre sind die span- mann es eilig. Noch einmal lächelt Ackermann habe als Chefkontrolleur zu nendsten in meinem beruflichen Leben Ger das typische Ackermann-Lä- großen Druck auf Wauthier ausgeübt. gewesen“, sagte er in Berlin. Jene Jahre, cheln und zeigt die jungenhaften Grüb- In Berlin klang nun viel von dem an, in denen er als Wanderer zwischen Politik chen, dann verschwindet er durch die Sei- was Ackermann ausmacht: wie er sich ab- und Wirtschaft unterwegs war, um die – tentür aus dem festlichen Saal des Ber - gearbeitet hat an Deutschland; wie er im von ihm durchaus mitverschuldete – Fi- liner Regent-Hotels. Mannesmann-Prozess zur grinsenden nanzkrise einzudämmen. Zurück bleiben ein paar Dutzend Jour- Fratze des Finanzkapitalismus wurde und Bei Politikern hat er sich damit Respekt nalisten, Ackermanns langjähriger Spre- fortan um die Anerkennung der Deut- erworben. Zugleich verlor er jedoch das cher Stefan Baron und ein Stapel Acker- schen kämpfte; wie er sich zum politischen Gespür für die Unternehmen, die er führ- mann-Biografien mit dem Titel „Späte Akteur umdefinierte und sich darüber von te. Bei der Deutschen Bank verpatzte er Reue“, die wie das Echo aus einer ande- Bank und Managerkaste entfremdete. die Regelung seiner Nachfolge und klam- ren Zeit wirken, einer Zeit, in der Acker- „Am Ende hat Ackermann einen gewissen merte sich zu lange an die Macht, drängte mann einer der mächtigsten Wirtschafts- Ekel davor empfunden, wie Macht erwor- an die Spitze des Aufsichtsrats und schei- führer des Landes war. ben und erhalten wird“, glaubt ein Ver- terte damit. Auch bei Siemens agierte er Ackermanns eigene 23-minütige Ber- trauter. Doch es bleibt der Verdacht, dass unglücklich und unterlag. liner Rede beschrieb davor denn auch diese Distanzierung auch dazu dient, den Am Ende fehlte ihm wohl auch der un- weniger das Buch als seinen Abschied von Niederlagen in Ackermanns später Karrie- bedingte Machtwille, den er noch bei der der großen Bühne. Fast beiläufig kündigte re eine Erklärung hinterherzuschieben. Deutschen Bank hatte. 2011 spielte er dort er seinen Rücktritt als stellvertretender Den Rückzug bei Siemens begründet mit dem Gedanken, zurückzutreten, um Aufsichtsratschef beim Weltkonzern Sie- Ackermann mit der „Diskrepanz in Stil die Verantwortung für all die Skandale mens an, nur zwei Wochen in der Bank zu übernehmen. nachdem er bereits als Verwal- Doch er wollte lieber weiter tungsratsboss beim Schweizer „die Verantwortung für die Ge- Finanzkonzern Zurich Insu- samtbank sowie für Deutsch- rance Group aufgegeben hatte. land und Europa“ übernehmen, Zehn Jahre lang hatte der wie Baron es formuliert. Schweizer die Deutsche Bank Eine Nummer kleiner ging regiert und war qua Amt eine es für Ackermann nie. Doch Art inoffizieller Sprecher der ohne die mächtige Institution deutschen Wirtschaft gewor- Deutsche Bank im Rücken ist den. Nach seinem Abgang in auch Ackermanns Macht ver- Frankfurt waren es vor allem fallen, in atemberaubendem die Mandate bei Siemens und Tempo. „Es nimmt immer Zurich, die seinen Einfluss kon- mehr tragische Züge an“, sagt servieren sollten. Doch schnel- einer, der lange eng mit ihm ler als gedacht enden nun auch zusammengearbeitet hat. diese Kapitel seiner Karriere. Als der Banker in Berlin Zuletzt zeigte sich ein Acker- erklärt, weshalb er auch bei mann, der die Lust an den der Zurich-Gruppe aufgegeben Machtkämpfen verloren hat, hat, zeigt er noch einmal beide die er lebenslang ausfocht. An- Gesichter: die des gewinnen- gefangen von der Schweizeri- den Menschen und die des kalt- schen Kreditanstalt, wo er 1996 herzigen Managers. im Ringen um die Strategie Vom Selbstmord Wauthiers unterlag; über die 16 Jahre bei zeigt er sich ehrlich getroffen der Deutschen Bank, die er auf und weist den Vorwurf zurück, sich zuschnitt wie nie ein Chef er sei für den Freitod mitver- zuvor; bis hin zur Niederlage antwortlich. Doch Ackermann im Duell mit Siemens-Auf- sagt auch, er habe eben bei Zu- sichtsratschef Gerhard Crom- rich die Latte sehr hoch gelegt. me und dem Scheitern in Zü- Wie zuvor bei der Deutschen rich. In der Stadt, wo seine Kar- Bank, wo bis heute der Leit- riere begann, schmiss Acker- spruch gilt: „Leistung aus Lei- mann hin, nachdem Zurich-Fi- denschaft“. nanzvorstand Pierre Wauthier Banker Ackermann Da hat einer abgeschlossen.

sich Ende August das Leben / GETTY IMAGES ORLOWSKI RALPH MARTIN HESSE

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Trends Medien

DATENSCHUTZ Finger, fertig, los?

Fotos, E-Mails, Telefonnummern – auf iPhone-Oberfläche hergestellt wurden. einem Smartphone sind so viele private Doch verbesserte Technik, wie sie Kon- Informationen gespeichert, dass man kurrenten bereits in Notebooks nutzen, den Datenschatz generell vor fremdem soll nun quasi unter die Haut schauen Zugriff schützen sollte. Um den Nut- können und nur mit lebendigen Fin- zern das ständige Eintippen eines gern funktionieren. Fachleute gehen Codes abzunehmen, setzt Apple in sei- davon aus, dass sich auch dieses System nem neuesten iPhone auf eine Technik knacken lässt, dennoch bietet das neue namens „Touch ID“: Ein Sensor soll iPhone einen gewissen Schutz. Zumal den Fingerabdruck des Besitzers auto- die Nutzer selbst auf Sicherheit bislang matisch erkennen und den Bildschirm wenig Wert legen: Wie Apple-Manager freigeben. In der Vergangenheit ließen Phil Schiller bei der Präsentation des sich solche Sensoren schon mal mit neuen iPhones sagte, hat laut Untersu- Fingern aus Gelatine austricksen, die chungen die Hälfte von ihnen nicht ein- mit Hilfe der Spuren auf der blanken mal einen Sperrcode eingerichtet.

Johannes Caspar, 51, Hambur- ren, was Apps mit dem ger Datenschutz-Beauftragter, Handy machen, auf welche über das neue iPhone 5S Daten des Geräts sie zugrei- fen, welche Informationen SPIEGEL: Herr Caspar, kaufen sie auslesen. Technischen Sie sich ein iPhone mit Fin- Vorkehrungen zu trauen war gerabdrucksensor? schon vor Prism nicht ohne Caspar: Nein, das werde ich Risiko. Biometrische Merk- nicht tun. Biometrische Merk- male sind einzigartig, damit male kann man nicht löschen, sollte man extrem geizen. sie begleiten uns das Leben SPIEGEL: Haben US-Behörden lang. Fingerabdrücke sollte unsere Fingerabdrücke nicht man daher nicht für alltägliche ohnehin, wenn man ins Land THOMAS KRENZ / DDP IMAGES THOMAS Authentifizierungsverfahren einreist? abgeben, insbesondere wenn sie in ei- Caspar: Ja, aber es gibt ja auch Men- ner Datei gespeichert werden. Es kann schen, die dort noch nicht waren. Au- auch ein Gewöhnungseffekt eintreten, ßerdem gilt der Grundsatz der Daten- und wir scannen wie selbstverständlich sparsamkeit. Wo es nicht sein muss, unsere Iris oder unser Gesicht, um uns sollte man seine biometrischen Daten in ein soziales Netzwerk einzuloggen. auch nicht hinterlassen. Schon gar nicht Dann wären die Daten im Internet und aus Bequemlichkeit. somit noch weniger sicher. SPIEGEL: Auch in deutschen Pässen sind SPIEGEL: Apple versichert, dass die Fin- zwei Fingerabdrücke gespeichert. gerabdruck-Daten nur im Gerät und Caspar: Das ist durchaus kritisch zu nicht auf Servern abgelegt werden. sehen, die Abgabe ist aber unabding- Caspar: Der normale Nutzer ist gegen- bar, wenn man einen Pass braucht. Bei Apple-Manager Schiller wärtig kaum in der Lage zu kontrollie- einem Handy muss das nicht sein. / GETTY IMAGES SULLIVAN JUSTIN

TV-STARS Kommissar in Hamburg Verbrechen aufklärt. In der ersten Folge gerät Jessen selbst unter Mordverdacht. Noethen ermittelt Gedreht wird ab Anfang Oktober, Produzent ist die ZDF-Tochterfirma wieder fürs ZDF Network Movie. Ob der Krimi tatsäch- lich in Serie geht, wird von der Ein- Der Schauspieler Ulrich Noethen, 53, schaltquote der ersten Folge abhängen. soll zum Krimi-Star aufgebaut werden. Noethen hatte bereits 2009 fürs ZDF In der neuen ZDF-Reihe „Neben der ermittelt, nach zwei Folgen wurde die

DDP IMAGES Spur“ spielt Noethen den Psychiater Reihe „Kommissar Süden“ mangels Noethen in „Ein fliehendes Pferd“ (ZDF 2007) Joe Jessen, der gemeinsam mit einem Erfolg jedoch wieder eingestellt.

DER SPIEGEL 38/2013 93 Für jungeZuschaueristdasklassischeTV-Programm zu starr. Docheine enmee.Sesn ui und glaubendurchaus ansFernsehen. reanimieren. Siesindmutig– Riege von neuenGesichtern könnte dasMedium Die Besserwisser TV-NACHWUCHS Moderator Böhmermann

TOM WAGNER Medien

as hier soll die Rettung des deut- macht – und das mutlos gewordene deut- magazin. Er selbst nennt es „the next big schen Fernsehens sein? Ein nu- sche Fernsehprogramm wiederbelebt. Die Digitalsparten-Ding“. Im Vorspann reitet Dschelnder, grauhaariger Mann mit neuen Gesichter haben wenig Lust auf der Moderator auf einem dreihörnigen Kastenbrille? Zu sehen ist der Journalist etablierte Formate, die niemandem weh Dinosaurier ein, das Studio sieht aus wie Gerhard Löwenthal, wie er vor 30 Jahren tun, aber auch niemanden bewegen. Statt- das Raumschiff Enterprise. Böhmermann im ZDF den Deutschen die Welt erklärt. dessen trauen sie sich, Dinge auszuprobie- sitzt hinter einem bienenwabenförmigen Der Moderator und Komiker Jan Böh- ren. Und die Sender – ZDFneo, ZDFinfo, Schreibtisch und wirkt stellenweise wie mermann, 32, lässt ein Video von Löwen- Einsplus, Arte, 3Sat und Tele 5 – lassen ein irrer Diktator, der den Zuschauern thal auf seinem Laptop laufen, er sitzt in sie machen. seine Weltanschauung einhämmern will. einem Hinterhofbüro in Köln-Ehrenfeld, Dabei entstehen einige der interessan- Wie einst Löwenthal eben. den Räumen seiner Produktionsfirma. testen Formate, die das deutsche Fern - Das, was es als Ausschnitt aus der Pilot - Der Clip zeigt die skurrilsten Szenen sehen derzeit zu bieten hat: Reportage- folge zu sehen gibt, ist schnell und scharf. des „ZDF Magazins“, eines Polit-Maga- Perlen wie „Wild Germany“; die Polit- Die Autoren feuern ihre skurrilen Einfälle zins, moderiert von Löwenthal, das schon Talkshow „log in“, die Zuschauer zu Frage - aufs Publikum ab. Keiner von ihnen hat damals so progressiv war wie der Vatikan. stellern macht; das Netzkultur-Magazin vorher fürs Fernsehen geschrieben, das Löwenthal lässt keinen Zweifel dar an, „Elektrischer Reporter“; die Reisereihe sei Bedingung für ihr Engagement gewe- dass er jeden Linken ähnlich erfreulich „Auf 3 Sofas durch …“. sen, sagt Böhmermann. findet wie eine Nierenkolik. Zwischen- Noch werkelt die neue Generation Diese demonstrative Amateurhaftig- durch zieht er an einer Zigarre. überwiegend in der Nische, ihre Quoten keit lässt sich bei vielen jungen TV-For- Als Vorlage für seine neue Sendung sind nicht weiter der Rede wert. Aber das maten beobachten. Eine Dachgeschoss- auf dem Spartenkanal ZDFneo kann sich Nachwuchspublikum erreicht sie auch so. wohnung in München-Schwabing: Der Böhmermann niemand Besseren vorstel- Über „Roche & Böhmermann“ redeten Moderator Philipp Walulis, 33, fläzt sich len als Polit-Ajatollah Löwenthal. Böh- die jungen Zuschauer im vergangenen auf einem braunmelierten Sofa und liest mermann sagt: „Löwenthal hat Verkün- Jahr. Bis zu 300000 Nutzer schauten eine seinen Text vom Teleprompter ab. Um dungsfernsehen gemacht, die Form war Folge in der ZDF-Mediathek an – fünfmal ihn herum hocken: ein Kameramann, ihm total egal. Das hat großes komisches so viele wie im regulär ausgestrahlten eine Tonfrau, eine Praktikantin, der Pro- Potential.“ Programm. duzent. Walulis trägt Turnschuhe, die an- Schon die Talkshow, mit der Böhmer- Jan Böhmermann ist derjenige unter deren tragen Socken. Das Team dreht die mann im vergangenen Jahr bekanntwur- den Neuen, dem am meisten zuzutrauen Moderationen für die neue Staffel von de, sah aus, als hätten die Macher das ist, weil er die Entschlossenheit und den „Walulis sieht fern“, die ab dieser Woche Studio in die sechziger Jahre zurückge- Wahnsinn mitbringt, um die Fernseh- auf dem ARD-Digitalkanal Einsplus zu beamt: Die Gäste saßen an einem ovalen unterhaltung auf lange Sicht zu prägen. sehen ist. Die Wohnung gehört einem be- Tisch wie in Stanley Kubricks „Dr. Selt- Zentrum seines Kosmos ist die Kölner freundeten Paar. sam“, sie sprachen in Tischmikros und Produktionsfirma Bildundtonfabrik. Böh- Walulis parodiert die Grausamkeiten, tranken Whiskey. „Roche & Böhmer- mermann führt durch eine Halle quer die das Fernsehen hervorgebracht hat: mann“ gewann einen Deutschen Fernseh- über den Hof, wo er demnächst drehen Ordnungshüter-Dokus, Ranking-Shows, preis. Hätte das Team sich nicht mit Co- wird. Er trägt Shorts und Dreitagebart, Kochsendungen. Aber er macht sich nicht Moderatorin Charlotte Roche verkracht, hat X-Beine und kann sehr schnell ohne plump lustig, sondern seziert die Fernseh- wäre die Sendung wohl von ZDFkultur ein einziges „Äh“ reden. Sein Produzent genres mit der Haltung eines Kommuni- ins Hauptprogramm gewandert. Philipp Käßbohrer nennt ihn einen kationswissenschaftlers. Es ist schon kurios: Ausgerechnet Böh- „Nerd“. Tatsächlich hat er das Fach bis zu mermann, der das Fernsehen erneuern Böhmermanns neue Show, das „Neo Beginn seiner Fernsehkarriere studiert. will, hat ein Faible für Gerhard Löwen- Magazin“, die ab dem 31. Oktober jeden Das sieht dann so aus, dass der Verdäch- thal, Rudi Carrell und Hans-Joachim Ku- Donnerstagabend auf ZDFneo laufen soll, tige in einer „Tatort“-Parodie erklärt, er lenkampff, das Personal aus der Kreide- ist angekündigt als politisches Satire - könne den Mord gar nicht begangen zeit des deutschen TV. Er, der Zeitungen nur noch auf dem iPad liest, hängt einer Ära nach, in der die Zuschauer ehrfürch- tig auf den Bildschirm starrten. Tatsäch- lich ist das kein Widerspruch. Zu Hause hortet Böhmermann fest- plattenweise TV-Shows und -Serien, er mag das Fernsehen. Und das ist eine gute Nachricht für alle, denen etwas an dem Medium liegt. Wer halbwegs jung und flexibel ist, lässt sich nicht mehr von ei- nem Sender vorschreiben, wann er was zu gucken hat. Die jungen Zuschauer stel- len sich ihr Programm selbst zusammen – in der Mediathek, in Online-Portalen oder auf Festplattenrecordern. Von ir- gendwelchen TV-Managern programmier- tes Fernsehen interessiert sie nicht. Dazu wächst gerade eine Reihe Fern- sehmacher heran, die amerikanischen Serien und YouTube-Formaten im Kampf um die Gunst der Jungen Konkurrenz ERIK WEISS / TELE 5 * In der Sendung „Stuckrad-Barre“ im Oktober 2012. TV-Gastgeber Stuckrad-Barre, Politiker Johannes Ponader*: Aufgedrehter Animateur

DER SPIEGEL 38/2013 95 Medien

alles ist Fake, ein Spaß von Böhmermann und seiner Produktionsfirma. Über die ARD sagt Böhmermann: „Man bekommt Vertrauen für ein Jahr, aber danach geht es nicht weiter.“ Dann schiebt er hinterher: „Natürlich kann man bei der ARD auch etwas lernen: mit Scheitern umzugehen.“ Die Sparte ist ein Schutzraum für Böh- mermann und die anderen. Hier sind sie befreit vom Zwang, Kompromisse einge- hen zu müssen um der schieren Quoten- tauglichkeit willen. Was passieren kann, wenn dieser Schutz wegfällt, lässt sich aktuell beim Moderatorenduo Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf beobachten. Die beiden galten auch lange als größte Nach- wuchshoffnungen der deutschen Fernseh- unterhaltung, manche trauten ihnen „Wet- ten, dass ..?“ zu. Seit Anfang des Jahres führen sie ihren zuvor im Sparten-

ZDF fernsehen erprobten Jungswettkampf auf Reporter Möglich: Scheitern als große Show ProSieben auf. Die Quoten von „Circus Halligalli“ sind mäßig – und plötzlich ist haben, man sei ja erst in der Mitte des ist das nur selten der Fall. Trotzdem ra- das ein Problem. Films. ckert sich Stuckrad-Barre jedes Mal wie Das Lustigste an der Show ist immer Auch Walulis mag das Fernsehen. Das ein aufgedrehter Animateur ab. noch der pubertäre Wettstreit zwischen ist vielleicht die größte Gemeinsamkeit Früher war das Musikfernsehen so den beiden Gastgebern. Das ganze Drum- der neuen Köpfe: Man nimmt ihnen ab, etwas wie der offizielle Ausbildungsbe- herum – das Riesenstudio und die einge- dass sie nur machen, was sie selbst gut trieb für den hiesigen Fernsehnachwuchs. flogenen Bands – braucht es überhaupt finden. Aber sie haben auch keine Ehr- Stefan Raab, Oliver Pocher und Niels Ruf nicht. furcht mehr vor dem Fernsehen – gerade haben dort angefangen. Seit MTV im Pay- Auch das ist symptomatisch für das weil viele von ihnen wissen, wie eine TV verschwunden ist und Viva vor allem neue Fernsehen. Niemand aus der Riege Kamera und ein Schnittprogramm funk- amerikanische Reality-Shows zeigt, ist der Talente ist ein klassischer Entertainer. tionieren. Sie trauen sich, die etablierten eine Lücke entstanden, die ausgerechnet Thomas Gottschalk und Stefan Raab Genres zu zertrümmern und die Überres- von den Öffentlich-Rechtlichen gefüllt machen Fernsehen aus dem Bauch, die te dann neu zusammenzubauen. wird. Mit ihren Digitalkanälen haben sie Neuen mit dem Kopf. Aber vielleicht ist In der Reihe „Heimwärts mit …“, die eine Teststrecke für Jungmoderatoren es auch nicht so wichtig, ob der Un ter - Anfang September auf ZDFneo gestartet und Reporter ohne Quotendruck ge - haltungsnachwuchs den Sprung ins ist, besucht der Reporter Manuel Möglich schaffen. Hauptprogramm je schafft. Weil es so zusammen mit Prominenten die Orte Der Haken daran: Die öffentlich-recht- etwas wie das Hauptprogramm bald nicht ihrer Kindheit und Jugend. Möglich inter - liche Nachwuchsförderung ist schlecht mehr gibt. Für die jungen Fernsehmacher essiert sich für seine Gäste, gleichzeitig bezahlt. Das Moderationshonorar liegt wäre das eine Chance, ihren Platz zu nimmt er sich angenehm zurück. Darin bei manchen Formaten im Bereich eines sichern und gleichzeitig in friedlicher liegt die Stärke der Sendung, sie vertraut Minijob-Gehalts. Für die Macher ist das Koexistenz mit der massentauglichen ihren Protagonisten. Nur deshalb entste- frustrierend. Für die Zuschauer ist es aber Fernsehware zu leben. hen Szenen wie jene, in der der 60-jährige unerheblich, weil modernes Fernsehen Philipp Walulis, der Medienkritiker, Autor Harald Martenstein auf seine Mut- keine Showtreppe und kein Fernsehbal- glaubt, dass Fernsehen zukünftig so ähn- ter trifft und sie ihn als Erstes ausschimpft, lett braucht. lich funktionieren könnte wie die Musik- dass er nicht angerufen hat. Mitunter prallen die Vorstellungen des plattform Spotify: Jeder stellt sich sein Die neuen Moderatoren sind das Ge- Fernsehnachwuchses und das öffentlich- Programm selbst zusammen und be- genteil von Typen wie Jörg Pilawa oder rechtliche System heftig aufeinander. kommt vom Anbieter Sendungen emp- Kai Pflaume. Ihr Fernsehen wirkt unge- Kürzlich drehte die Komikerin Carolin fohlen, die ihm möglicherweise gefallen. schliffen, bisweilen zelebrieren sie ihre Kebekus für ihre Sendung „Kebekus!“ „Dann können die Fans von ,Um Him- Unperfektheit geradezu. Selbst Scheitern ein Musikvideo, in dem sie verkleidet als mels Willen‘ in Ruhe ihre Sendung schau- kann so große Show werden. Nonne an einem Kreuz leckte und Gott en, ohne dass die anderen Zuschauer ver- Seit Ende August zeigt Tele 5 wieder für Kondomverbot und Schwulenphobie grault werden“, sagt Walulis. das Polit-Format „Stuckrad-Barre“. Der pries. Das war dann doch zu viel für Jan Böhmermann formuliert es dras- Kern der Sendung besteht darin, dass der den verantwortlichen WDR. Der Sender tischer: „ARD und ZDF sollen einen Autor Benjamin von Stuckrad-Barre, 38, schnitt den Clip raus. Rentnerkanal machen, wohin sie alles und sein jeweiliger Politiker-Gast Spiele Jan Böhmermann testet derzeit die verfrachten, was nur Rentner gut finden: machen. Wenn FDP-Mann Martin Lind- Grenzen des Schleichwerbungsverbots Volksmusik, Sendungen mit Guido Knopp, ner Sätze von sich gibt wie: „Wer in der der Öffentlich-Rechtlichen aus. In einem Korrespondenten, die sich nicht die Haa- Küche ist, muss auch Hitze aushalten“, Trailer des „Neo Magazins“ erklärt er, re kämmen. Das nennen wir dann den versucht Stuckrad-Barre, ihn dazu zu brin- dass ihn ein Getränkehersteller namens ,Goldenen Herbst‘.“ gen, in eine Art Zelt-Sauna zu steigen. „Glump Alkoholcola“ mit 500 000 Euro Er meint es ernst, zumindest ein biss- Die Show funktioniert dann gut, wenn pro Sendung sponsern wird, den passen- chen: „Das ist kein Vorschlag. Da ist der die Politiker sich darauf einlassen. Leider den Werbespot liefert er gleich mit. Das Gesetzgeber gefragt.“ ANN-KATHRIN NEZIK

96 DER SPIEGEL 38/2013

Panorama

UKRAINE gegenüber dem Ausland hätten die Femen-Aktionen dem zunehmend autoritär regierten Land ein demokra- Femens Präsident tisches Image verpasst. Erst nachdem Femen bei einer umstrittenen Aktion Die Gerüchte über eine Instrumenta- in Kiew ein Kruzifix demoliert hatte, lisierung der Aktionsgruppe Femen soll der Präsident seine Unterstützung hören nicht auf: Angeblich sollen die eingestellt haben. Femen-Mitgründe- Frauen lange unter dem Schutz des rin Alexandra Schewtschenko, die in- ukrainischen Präsidenten Wiktor Janu- zwischen nach Paris geflohen ist, be- kowitsch gestanden haben. So verbrei- zeichnet die Vorwürfe als „vollkomme- tet nun die Fernsehjournalistin Jarosla- nen Unsinn“. Mehrere Aktivistinnen wa Koba, die sich vor fast zwei Jahren wurden jüngst von Unbekannten zu- für einige Wochen in die Gruppe ein- sammengeschlagen – für Schewtschen- geschlichen hat, dass Femen auch aus ko „ein Werk von Janukowitschs Ge- dem Umfeld der Regierung finanziert heimdienst“. Es scheint jedenfalls kein worden sei – allerdings kann sie dafür Zufall zu sein, dass die Vorwürfe ge- keine Belege vorweisen. Für ihre An- gen Femen gerade jetzt laut werden, schuldigung spricht, dass vor zwei Jah- nachdem sie beim Regierungschef in ren Janukowitschs Stabschef den Pro- Ungnade gefallen sind. Als Reaktion duzenten einer populären Talkshow darauf wollen die Frauen ihre Proteste anrufen ließ, um die Frauen als Studio- in der Ukraine nun verstärken. „Und gäste durchzusetzen. „Femen war in- zwar gegen die Regierung und die Op- nenpolitisch nützlich, um von den Pro- position“, so Schewtschenko. „Beide

SERGEY DOLZHENKO / DPA DOLZHENKO SERGEY blemen der Ukraine abzulenken“, sagt sind von mafiösen Gruppierungen un- Kruzifix-Aktion von Femen in Kiew der Politologe Leonard Lewizki. Und terwandert.“

EUROPA Grund für diese Nachlässigkeit ist vor dass Laptops und Smartphones der EU- allem fehlendes Geld; allein die Ver- Institutionen aus Geldmangel unver- schlüsselung für den Auswärtigen schlüsselt in Betrieb sind. Aber die IT- Jeder kann mithören Dienst würde rund 50 Millionen Euro Infrastruktur und Informationssysteme kosten. Seit Bekanntwerden der Späh- seien dennoch durch eine Reihe von Die EU schützt die Computer und aktionen durch den amerikanischen Maßnahmen wie Firewalls und abhörsi- Smartphones ihrer über 40000 Bediens- Geheimdienst NSA sind hochrangige chere Computerräume geschützt, heißt teten nicht ausreichend gegen Späh- Diplomaten besorgt über die Sicher- es in einer Stellungnahme. Es sei aber attacken. Selbst Generaldirektoren und heitslücken. Auch China steht im Ver- naiv zu glauben, dass durch eine gene- Generalsekretäre kommunizieren dacht, interne Vorgänge auszuspionie- relle Verschlüsselung die Gefahr der über Geräte, die nicht abhörsicher sind. ren. Die Kommission dementiert nicht, Cyberspionage gebannt werden könne.

ÖSTERREICH Herrscher in Zentralasien zu übermit- allerdings stellten die Behörden im Au- teln. Der Ex-Kanzler nennt diesen gust Daten sicher, mit deren Hilfe an- Verdacht „absurd“. Auch der ihm nahe- gebliche Lansky-Kontakte zum kasa- Akten für den Diktator stehende Wiener Staranwalt Gabriel chischen Geheimdienst KNB nachge- Lansky, gegen den gleichfalls ermittelt wiesen werden sollen. Gegen Lansky Gegen Österreichs früheren Regie- wird, bestreitet die Vorwürfe. Auf wird derzeit zudem wegen des Ver- rungschef Alfred Gusenbauer wird er- zwei in Luxemburg stehenden Servern dachts schwerer Nötigung ermittelt – mittelt. Der Fall trägt das Aktenzei- diese Anschuldigung weist chen 4 St 21/13b, es geht um den Vor- der Anwalt ebenfalls von sich. wurf nachrichtendienstlicher Tätigkeit Massive Vorwürfe erhebt zugunsten Kasachstans. Seit Jahren be- auch der nach Deutschland müht sich der Steppenstaat mit allen geflüchtete Dissident und Trä- Mitteln, Rachat Alijew, den in Ungna- ger der Goethe-Medaille, Bo- de gefallenen Ex-Schwiegersohn von lat Atabajew, in einem dem Alleinherrscher Nursultan Nasarbajew, SPIEGEL vorliegenden Brief aus seinem europäischen Exil zurück an Österreichs Regierungs- nach Kasachstan zu verfrachten, wo er chef Werner Faymann: 40 Jahre Haft absitzen müsste. Dabei „Lobby isten wie der ehemali- wurde auf die Justiz in Österreich, wo ge Bundeskanzler Gusenbau- Alijew sich jahrelang aufhielt, erhebli- er und Rechtsanwalt Lansky“ cher Druck ausgeübt. Gusenbauer, der trügen Mitschuld daran, dass seit 2010 für ein fürstliches Honorar als der „Diktator“ Nasarbajew

Nasarbajew-Berater tätig ist, soll ge- ALLIANCE / DPA IAN EHM / PICTURE und sein Regime weiter fol- holfen haben, Verschlussakten an die Ex-Kanzler Gusenbauer tern und morden könnten.

98 DER SPIEGEL 38/2013 Ausland NORIKO HAYASHI / PANOS PICTURES / PANOS HAYASHI NORIKO

Geraubte Braut Farida und Tychtybek kennen sich kaum, haben weniger Glück, sie willigen nach ihrer Entführung und doch er will sie heiraten – gegen ihren Willen. Angehörige Vergewaltigung in die Zwangsehe ein, zu groß ist die Schan- versuchen, die 20-jährige Studentin in die Familienjurte zu de. Schätzungen zufolge ist jede dritte kirgisische Frau mit zerren, um sie dort zur Ehe mit dem jungen Mann zu zwin- ihrem Entführer verheiratet. Der Brautraub ist keine Tradition, gen. Aber Farida wehrt sich, später gelingt es ihr, zu fliehen sondern ein Verbrechen, die Höchststrafe dafür wurde im und in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Die meisten Frauen Januar auf zehn Jahre heraufgesetzt. Doch die Praxis hält an.

CHINA netzeitalters in China. Bei fast 600 dieses Landes. Unsere Blogger haben Millionen Nutzern betrifft die neue zahlreiche Skandale aufgedeckt und Vorschrift so gut wie jeden, der einen korrupte Beamte zu Fall gebracht. Die „Ende der Freiheit“ kritischen Eintrag postet. Die ein- neue Regelung bedeutet das Ende schüchternde Wirkung ist verheerend. eines goldenen Zeitalters, das Ende Der Blogger Zhao SPIEGEL: Glaubt die Regierung wirklich, der relativen Freiheit im Internet. Jing, 38, bekannt un- dass sie Kritik so verhindern kann? SPIEGEL: Seit Wochen werden Blogger ter dem Pseudonym Anti: Das glaubt sie nicht nur, das kann festgenommen, einer wurde in Gefäng- Michael Anti, über sie auch. Alle Kurznachrichtendienste niskleidung im Fernsehen vorgeführt. die verschärfte Inter- werden über einen einzigen Server in Was ist das Ziel dieser Kampagne?

SOPHIA LEE netzensur Peking kontrolliert. Und schon jetzt, Anti: Diese Verhaftungen sind ideolo- kurz nach der Gesetzesverschärfung, gisch motiviert – vergleichbar den SPIEGEL: Wer ein „Gerücht“ in die Welt geht der Datenverkehr dort deutlich Kampagnen während der Kulturrevo- setzt, das mehr als 5000-mal gelesen zurück. Diese Maßnahme ist sehr lution. Chinas neue Regierung, die auf oder mehr als 500-mal weitergeleitet effektiv und wird von der obersten anderen Feldern fortschrittlich denkt, wird, kann in China künftig mit bis zu Führung unterstützt. betrachtet einflussreiche Internet- drei Jahren Haft bestraft werden. Was SPIEGEL: Welche politischen Folgen hat aktivisten als Gefahr. Deshalb lässt bedeutet das für Blogger wie Sie? die verschärfte Zensur? sie, in Umkehrung eines chinesischen Anti: Das ist der schwerwiegendste Ein- Anti: China braucht ein offenes Netz, Sprichworts, den Affen töten, um die griff des Staates seit Beginn des Inter- es ist das wichtigste öffentliche Forum Hühner zu erschrecken.

DER SPIEGEL 38/2013 99 Präsident Putin

NAHOST „Obamas bester Feind“ Die Weltpolitik schlägt abenteuerliche Volten: Bei der Uno-Vollversammlung in dieser Woche wird es um Putins Plan für eine friedliche Lösung des Giftgas-Konflikts mit Syrien gehen. Doch ist das Ganze nicht nur eine Finte der Russen und Syrer? Ausland

inmal im Jahr, meistens im Herbst, mit den USA, weil er den Moment ge- Den USA sei ein militärisches Eingrei- packt New York das Diplomaten- nutzt hat. Mögen selbst russische Politiker fen in interne Konflikte ausländischer Efieber. Auf den Straßen rund um über ihn sagen, er sei zu schlicht für eine Staaten zur Gewohnheit geworden, den East River herrscht Ausnahmezu- umfassendere Sicht auf die Welt – bau- schrieb Putin. Dabei sei es klar, wer das stand, Polizisten sperren Kreuzungen, ernschlau ist der Arbeitersohn aus St. Pe- Giftgas in Syrien verwendet habe, das sei- Geheimdienste verfeindeter Staaten bau- tersburg allemal. „Obamas besten Feind“ en ja wohl „oppositionelle Kräfte“ gewe- en Lauschposten auf, um einander aus- nennt ihn der britische Historiker Timo- sen – eine Ansicht, die wohl kaum etwas zuspähen. Es beginnt die Zeit der Uno- thy Garton Ash. mit den Tatsachen zu tun hat. Vollversammlung, in der die Staats- und Obama hatte den Massenmord von Aber Putin ging es weniger um Syrien, Regierungschefs zusammentreffen, um Damaskus in eine Reihe mit dem Giftgas- mit großem Pathos widmete er sich Oba- über die Geschicke der Erde zu verhan- Einsatz im Ersten Weltkrieg und dem ma und bezichtigte seinen Rivalen der deln. Viele New Yorker hassen diese Holocaust an den Juden gestellt und sein Überheblichkeit. Er finde es „sehr gefähr- Tage, weil sie nicht mehr Herr ihrer Stadt Wort gegeben, dass Diktator Assad nicht lich“, dass jener die Werte der USA über sind. ungestraft davonkommen werde. Er hatte alles stelle, dass er sein Land als Anker Wenn am Dienstag wieder einmal das als Commander-in-Chief gesprochen, als der globalen Sicherheit ansehe und seine Diplomatenfieber ausbricht, wird die Oberbefehlshaber der mächtigsten Ar- Nation als „außergewöhnlich“. Uno – eine Dekade nach dem Irak-Krieg – mee der Welt. Ein Interventionist. „Wir sind alle verschieden, aber wenn erneut zur Bühne für Entscheidungen Dann aber zermürbten ihn Umfragen, wir um den Segen des Herrn bitten“, über das Kämpfen und Sterben im Nahen nach denen nicht einmal ein Drittel der schwadronierte der frühere KGB-Oberst, Osten werden. Die Vereinten „dürfen wir nicht vergessen, Nationen haben zur 68. Voll- dass Gott uns alle gleich er- versammlung geladen, die schaffen hat.“ großen Themen der Welt - Ihm sei nach der Lektüre diplomatie sind das mörderi- „zum Kotzen“ gewesen, sagte sche Chemiewaffenarsenal der Demokrat Robert Menen- Syriens und die nuklearen dez, Chef des Auswärtigen Ambitionen Irans. Ausschusses im Senat. Und es geht nach zwei Wo- So entstand Ende voriger chen abenteuerlicher Volten Woche eine paradoxe Situa- der Diplomatie um ein Duell tion. Da ist einerseits die unter seltsamen Vorzeichen: Chance aufgetaucht, den sy- Der Friedensnobelpreisträger rischen Knoten friedlich zu Barack Obama tritt an als – lösen und möglicherweise wenn auch zaudernder – noch bei einem zweiten Kon- Kriegsherr. Und ausgerech- flikt voranzukommen, bei net Russlands harter Herr- dem Obama ebenfalls rote Li- scher Wladimir Putin gibt nien aufgezeichnet und mit sich als Friedensfürst. einem Militärschlag gedroht Nach dem Giftgas-Angriff hatte. Denn der Ausgang der bei Damaskus am 21. August, Syrien-Krise ist aufs engste bei dem mehr als 1400 Men- mit Iran verknüpft. schen umgekommen waren, Sollten Obamas Zerstörer hatte Obama dem syrischen Syrien angreifen, so hatten Diktator Baschar al-Assad die Iraner signalisiert, werde

mit einem Strafschlag ge- / AP DPA MONSIVAIS MARTINEZ PABLO es vorerst keine weiteren Ge- droht; vier Lenkwaffenzerstö- Oberbefehlshaber Obama: Zaudernder Kriegsherr spräche über das iranische rer gingen in Angriffsposition. Atomprogramm geben. Eine Doch während Obama noch mit sich Amerikaner bei einer Militäroperation friedliche Einigung in Syrien, mit Russ- selbst kämpfte, mit seinem Volk und dem hinter ihm stehen würde. Er bat den Kon- land als Vermittler, könnte hingegen als Kongress rang, kam plötzlich Putin mit gress um Unterstützung, eine Genehmi- Folie für die Gespräche mit Iran dienen. einem Vorschlag: Russland könne vermit- gung. Und wäre nicht Putin mit dem Vor- „Eine konstruktive Rolle Russlands in der teln, Assads Chemiewaffen ließen sich schlag gekommen, alle syrischen Chemie- Syrien-Krise könnte den Boden bereiten kontrollieren, gar vernichten, ohne dass waffen zu vernichten, dann hätte dieser für eine ähnlich konstruktive Rolle in Ver- Cruise Missiles flögen. Kongress Obama wohl die Gefolgschaft handlungen mit Iran“, sagt Zachary Gold- Ein toller Schachzug – aber: Kann man verweigert. Es wäre eine historische Nie- man, früher Berater des US-Generalstabs- Assad trauen? Will er nur Zeit schinden? derlage gewesen. chefs (siehe Seite 102). Und was treibt Putin? Wo will er in Wahr- Dass ausgerechnet der russische Präsi- Dann aber kam Putins Botschaft an die heit hin? Ist das Ganze nur eine Finte – dent nun Obama „eine Rettungsleine zu- Amerikaner, und sie ließ erkennen, wor - oder Anlass zur Hoffnung? geworfen hat“, wie die Russland-Expertin um es den Russen wirklich geht: aus Oba- Für die meisten Russen ist eines schon Fiona Hill von der Brookings Institution mas Schwäche den größtmöglichen Nut- mal klar: „Der Traum unserer außenpoli- spottete, ist die größte Überraschung. zen für Russland zu ziehen. In den Mos- tischen Strategen ist in Erfüllung gegan- Aber geht es Putin wirklich um einen kauer Staatsmedien wird das offenbar. gen“, schrieb der russische Militärexperte „Dialog über Syrien“, wie er ihn in einem Durchaus noch zu Recht meldete das Alexander Golz vergangene Woche: offenen Brief an das amerikanische Volk Fernsehen, dass Putins Coup weltweit un- „Eine russische Initiative steht im Zen- angeboten hat? Ebendieser Brief, ver- terstützt werde. Aber dann überdrehten trum der Weltpolitik.“ gangenen Donnerstag in der „New York die Kreml-Propagandisten. Der vom Nach der konfusen Reaktion des Wes- Times“ abgedruckt, nährt Zweifel an Pu- Energieriesen Gazprom kontrollierte re- tens auf die Giftgas-Attacke von Damas- tins hehren Absichten. Denn er war eher gierungsnahe Sender NTW verkündete,

LEHTIKUVA / ACTION PRESS / ACTION LEHTIKUVA kus gelangte Putin wieder auf Augenhöhe eine Geste des Triumphs. in Frankreich habe eine Unterschriften-

DER SPIEGEL 38/2013 101 Ausland

ter“ brandmarken, sollte es so weit kommen: Rohani, der in Ghom wie in Glasgow studiert hat, gilt ihnen als zu Auf schmalem Grat weltoffen und darum verdächtig. Rohani erfuhr wohl erst bei seinem Die Sanktionen zwingen Iran in die Knie – der neue Präsident Amtsantritt durch den Einblick in die Hassan Rohani will den Durchbruch im Atomstreit. Bücher von der katastrophalen ökono- mischen Lage seines Landes und sieht sich deshalb zum Handeln gezwungen. Die Wirtschaftsdaten sind nach Ge- heimdienstangaben weit schlimmer als bisher in Teheran zugegeben: Iran kön- ne einen Staatsbankrott wohl nur abwenden, wenn die internationalen Sanktionen aufgehoben werden und neues Geld ins Land strömt. Die Kauf- kraft der Landeswährung hat 2013 dras- tisch abgenommen, die Inflation ist al- lein im ersten Drittel 2013 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 40 Prozent gestiegen. Die Banken sind hochver- schuldet, Millionen Privathaushalte können ihre Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen. Auch die Industrie steckt tief in den roten Zahlen, die Autoproduktion hat sich halbiert. Rohani weiß um die miserablen Le- bensbedingungen der allermeisten sei-

POLARIS / LAIF ner Wähler und setzt auf ihre Unter- Präsident Rohani, Journalisten im August in Teheran: „Mutige Schritte“ stützung. Vor allem aber braucht er den Rückhalt Chameneis. Den wird er ichts anderes, nicht einmal das nen gegen die Islamische Republik auf- nur so lange behalten, wie es ihm ge- syrische Chemiewaffenarsenal, heben, die Ölexporte freigeben und lingt, die wirtschaftliche Situation ent- Nmacht dem Westen und Israel der Zentralbank wieder alle interna- scheidend zu verbessern und damit so große Sorgen wie die Nuklearanla- tionalen Geschäfte erlauben. auch eine politische Stabilisierung zu gen Irans, wie Natans, Isfahan oder Rohani wolle Details, so heißt es, erreichen. Rohani sprach in einem ira- Fordo. Letztere gilt als besonders ge- vielleicht schon bei seiner Rede vor nischen TV-Interview am vergangenen fährlich: Nahe der heiligen Stadt der Uno-Vollversammlung Ende des Dienstag schon einmal vorbeugend Ghom reichern Wissenschaftler unter Monats verkünden. Sein Außenminis- von der „Flexibilität und den mutigen der Erdoberfläche mit derzeit 696 Zen- ter Mohammed Dschawad Sarif wird Schritten, die sich auch der Führer trifugen Uran auf 20 Prozent an. Da- am nächsten Sonntag in New York wünscht“. nach ist es nur noch ein relativ kleiner die EU-Außenbeauftragte Catherine Geschickt hat der Präsident Vertrau- Schritt – bis zu dem Stoff, aus dem die Ashton treffen, er könnte ihr den Deal te in entscheidende Ämter gehoben. Bomben sind. Fordo, erst Ende 2011 in in groben Zügen erläutern. Präsident Allen voran seinen Mitstreiter Sarif, der Betrieb genommen, gilt als modernster Rohani würde mit einem derart weit- im amerikanischen Denver Internatio- Teil des iranischen Atomprogramms, reichenden Entgegenkommen einen nales Recht studiert hat, Uno-Botschaf- von dem die Welt trotz aller Dementis Verhandlungsprozess in Gang setzen, ter war und als pragmatisch gilt. Ihm aus Teheran annimmt, es diene der Be- an dessen Ende möglicherweise sogar hat er nicht nur das Außenministerium schaffung der ultimativen Waffe. Und die Wiederaufnahme der Beziehungen anvertraut, sondern auch die Atomver- Fordo gilt als fast unzerstörbar: Selbst mit Washington stehen könnte. handlungen. Sie lagen bisher in Verant- bunkerbrechende Bomben könnten Rohani, erst seit Anfang August im wortung einer Hardliner-Fraktion. die Anlage kaum ausschalten, die Kas- Amt, bewegt sich auf einem sehr Der Teufel bei einem möglichen kaden liegen in 70 Meter Tiefe. schmalen Grat – er muss intern für je- Deal steckt aber im Detail: Wer würde Der lange schwelende Atomstreit den seiner Kompromisse konkrete Ge- den Abbau der Zentrifugen überprü- mit Teheran steht nun möglicherweise genleistungen der anderen Seite vor- fen? Werden auch die bisher produzier- vor einer sensationellen Wende: Wie weisen können, sonst verliert er jeden ten 185 Kilogramm angereicherten der SPIEGEL aus Geheimdienstkreisen Rückhalt. Und er darf nicht das grund- Materials unter Aufsicht gestellt, drei erfuhr, soll Irans neuer Präsident Has- sätzliche Recht seines Landes auf die Viertel dessen, was man für die Bombe san Rohani angeblich bereit sein, die Urananreicherung in Frage stellen. braucht? Was passiert mit dem Schwer- Anreicherungsanlage Fordo stillzule- Denn darauf hat nicht nur der religiöse wasserreaktor von Arak, der wohl 2014 gen und die Beseitigung der Zentrifu- Führer Ali Chamenei, sondern auch er fertiggestellt werden soll und dann gen international überwachen zu las- selbst als früherer Atomunterhändler Plutonium liefert, aus dem man eben- sen. Im Gegenzug könnte er von den immer gepocht. Die mächtigen radika- falls Bomben bauen kann? Die Iraner, Amerikanern und Europäern fordern, len Revolutionswächter würden ihn da sind sich Freund und Feind einig, dass sie die wichtigsten ihrer Sanktio- wahrscheinlich dennoch als „Verrä- sind Meistertaktierer. ERICH FOLLATH

102 DER SPIEGEL 38/2013 RICARDO GARCIA VILANOVA / DER SPIEGEL VILANOVA GARCIA RICARDO Kämpfende Rebellen in Syrien: Vier Lenkwaffenzerstörer in Angriffsposition

sammlung begonnen, um Putin den Frie- Aber nun müssen die Außenminister schwer, wenn überhaupt machbar“. Ame- densnobelpreis zuzuerkennen – ganz so, Sergej Lawrow und John Kerry klären, rikanische Planungen veranschlagen als wäre dies eine Volksbewegung und wie genau sich Assads Giftgas-Arsenal in 70000 Mann an Bodentruppen, um As- nicht die Aktion einiger weniger. „Wenn den Griff bekommen lässt. Im Westen sads Giftarsenal sicherzustellen. „So ein keine Bomben auf Syrien fallen, wird er regt sich Misstrauen, ob Moskau dabei Vorhaben überfordert die Uno.“ mehr für den Frieden getan haben als der ehrlich spielt. Sollte eine Resolution zur Assad werde also wohl darauf ver- Friedensnobelpreisträger Obama“, hieß Vernichtung der Chemiewaffen es bis in pflichtet, seine Bestände selbst offenzu- es bei NTW. den Uno-Sicherheitsrat schaffen, besteht legen, mutmaßt Blix. „Nur ob er das voll- In Rom, so der Propagandasender, sei- Moskau darauf, dass darin kein Wörtchen ständig tut, ist die große Frage.“ Die In- en Plakate mit der Aufschrift „Ich bin für über ein Ultimatum an Assad und eine spektoren müssten deshalb, so wie er im Putin“ aufgetaucht. Das entsprach der mögliche Gewaltanwendung stehen dürfe. Irak, ganz Syrien durchsuchen dürfen. Wahrheit. Verschwiegen wurde nur, dass Das Drohpotential gegenüber Damas- Noch aber werde dort schwer gekämpft, es sich um Poster der Neofaschisten von kus wäre also gleich null. Assad hätte vor da sei eine solche Arbeit unmöglich. der Fronte Nazionale handelte, die Putins allem Zeit. Irgendwann würde er, wie Eine Übereinkunft müsse zudem, so Anti-Schwulen-Gesetze begrüßten. jetzt angekündigt, die internationale Che- Blix, die Rebellen einbeziehen. „Alles Das Thema Syrien kommt Putin schon miewaffenkonvention unterzeichnen. Da- deutet darauf hin, dass es das Regime deswegen zupass, weil mit dem über- nach können, so sind die Regeln der Kon- war, das die Waffen angewendet hat, raschenden Erfolg des Kreml-Kritikers vention, 30 Tage vergehen, bis er Daten doch ich halte es nicht für ausgeschlossen, Alexej Nawalny vorige Woche bei der über sein Kampfstoffarsenal offenlegt – dass auch die Rebellen so etwas tun, Oberbürgermeisterwahl in Moskau eine und frühestens dann würde das Aller- wenn auch in viel kleinerem Maßstab.“ neue Lage entstanden ist: Russlands Op- schwierigste beginnen: das Einsammeln Blix ist trotzdem optimistisch. „Sollte position hat plötzlich einen Kopf. Doch der Waffen. Assad den friedlichen Ausweg, den die der Kreml-Chef überspielte seine innen- So gut wie im Irak werden es Uno-Waf- internationale Gemeinschaft wohl an - politische Schlappe mit Syrien. feninspektoren in Syrien niemals haben, bieten wird, ausschlagen, hätte er eine Die Amerikaner empört an Putins Bot- fürchtet der erfahrenste Waffeninspek- wirklich breite Front gegen sich.“ Selbst schaft noch etwas anderes: dass ausge- teur der Welt, der schwedische Diplomat die Russen könnten ihn dann nicht länger rechnet er forderte, Amerika müsse sich Hans Blix. Er suchte 2002 im Auftrag der schützen. an Recht und Gesetz halten – „ob wir es Uno in Saddam Husseins Irak nach Mas- Denn Putin stünde ebenso dumm da, wollen oder nicht“. Dies schrieb jener Pu- senvernichtungswaffen. „Der russische falls Assad nur auf Zeitgewinn spielen tin, der seinen Soldaten sagte, sie sollten Vorschlag zur Kontrolle der syrischen würde. Welche Autorität hätte der Kreml- die Tschetschenen in deren Unabhängig- Chemiewaffen ist ein guter Anfang, weil Chef noch als internationaler Vermittler, keitskrieg sogar „auf dem Lokus kaltma- er einen Dialog eröffnet – mehr aber auch sollte die Führung in Damaskus nur trick- chen“, 1999 war das. Und 2008 schickte nicht“, so Blix. sen und täuschen? er zusammen mit seinem Kompagnon Dass Inspektoren in Syrien wirklich Wie wenig die Worte eines Regimes Dmitrij Medwedew Panzerkolonnen ins alle chemischen Kampfstoffe aufspüren gelten, das mit dem Rücken zur Wand kleine Georgien. und vernichten könnten, hält er für „sehr steht, musste Putin schon im Nuklear-

DER SPIEGEL 38/2013 103 Konflikt mit Teheran erfahren. Auch Iran sucht den Schulterschluss mit dem Kreml. Wie im Ringen um Syrien lehnte Putin in der Causa Iran scharfe Uno-Resolutio- nen ab, obwohl Teheran unter dem Ver- dacht steht, dass sein Nuklearprogramm keineswegs nur zivilen Zielen dient. Und wie heute in Sachen Giftgas ver- suchte sich Putin schon einmal als Ver- mittler im eskalierenden Nuklearkonflikt: Selbstbewusst präsentierte er Anfang 2006 als Lösung die Idee eines russisch- iranischen Gemeinschaftsunternehmens: Mit dessen Hilfe sollte Irans Versorgung mit Kernbrennstoffen sichergestellt wer- den, ohne Teheran den Zugang zur An- reicherungstechnologie zu gewähren. Putins Hoffnung auf eine diploma- tische Sensation, mit der sich Russland schon damals auf der weltpolitischen Büh- ne zurückmelden wollte, währte nicht lan- ge. Die Iraner ließen den Deal platzen. Sie wollten sich ihre Atomträume auch nicht von Putin nehmen lassen. Vier Monate später stimmte Russland im Sicherheitsrat der ersten Anti-Iran- Resolution zu. Aus Teheran verkündete der damalige Präsident Mahmud Ahma- dinedschad, eine Uno-Resolution sei nichts anderes als ein „Fetzen Papier“. Im Vorfeld der diesjährigen Uno-Voll- versammlung präsentiert sich Iran jedoch kompromissbereit – um diesen Eindruck bemüht sich Hassan Rohani, der im Juni mit überraschend großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde. Er ist kein Reformer, aber er gilt als Pragmatiker, der Iran aus der Isolation herausführen will. Bei seinem ersten Treffen mit Putin am vergangenen Freitag in Kirgisien ver- sprach Rohani „die schnellste Lösung“ des Konflikts und lobte ausdrücklich Russ- lands Vermittlungsbemühungen dazu „in der Vergangenheit“. In einer Geheimdepesche an das Berli- ner Kanzleramt beschreibt der Bundes- nachrichtendienst die Strategie des neuen Präsidenten. Danach wollen die Iraner unter keinen Umständen auf ihren politi- schen Einfluss in der Region verzichten. Sie würden sich, so die Geheimdienstler, inzwischen flexibel zeigen in der Frage, ob der syrische Präsident zu halten sei, wenn der Einsatz von Giftgas durch das Regime nicht mehr zu leugnen wäre. Ro- hani könnte den Syrer fallenlassen, um die Annäherung an den Westen nicht zu gefährden, spekuliert der BND. Sich in diesem Gestrüpp als Vermittler zu betätigen ist eine Herausforderung. Aber so unglaubwürdig ausgerechnet Putin als Friedensstifter wirkt: Zwischen Damaskus und Teheran kann er sich weit- aus besser bewegen als irgendjemand aus dem Westen. Zumindest solange Obamas Zerstörer dafür sorgen, dass die Sache dringlich wirkt. DIETER BEDNARZ, SUSANNE KOELBL, CHRISTIAN NEEF, JAN PUHL, MATTHIAS SCHEPP, HOLGER STARK

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Ex-Minister Rumsfeld DAVID HUME KENNERLY / DER SPIEGEL HUME KENNERLY DAVID

SPIEGEL-GESPRÄCH „Herr Putin ist sehr clever“ Der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld über Syriens Chemiewaffen, das diplomatische Tauziehen und Barack Obamas Schwäche

Republikaner Rumsfeld, 81, diente als Jahrzehnten im Öffentlichen Dienst ge- trachte, fällt mir eher eine andere Rums- Verteidigungsminister unter den Präsiden- sammelt und an Ihre Mitarbeiter und Weg- feld-Regel ein: „Glaube nie, dass dein Ge- ten Gerald Ford und George W. Bush. Er gefährten weitergegeben haben. Eine die- genspieler etwas nur deshalb nicht tun war federführend am Einmarsch in Af- ser Regeln lautet: „Die perfekte Schlacht würde, weil du es selbst nicht tun wür- ghanistan und an der Invasion im Irak ist diejenige, die man erst gar nicht dest.“ Ausgerechnet Russlands Präsident beteiligt. schlagen muss.“ So gesehen hat Präsident Wladimir Putin hält uns Amerikanern ge- Barack Obama doch genau das Richtige rade Vorträge über unser Selbstverständ- SPIEGEL: Mr. Secretary, Sie haben gerade getan, als er den geplanten Militärschlag nis als Nation und versucht uns gleich- Ihr Buch „Rumsfelds Regeln“ veröffent- gegen Syrien zunächst abgesagt hat. licht, das aus einer Reihe von kleineren Rumsfeld: Er hat auch das Richtige getan. Das Gespräch führten die Redakteure Marc Hujer und Weisheiten besteht, die Sie in Ihren fünf Wenn ich mir das Syrien-Spektakel be- Gregor Peter Schmitz in Washington.

DER SPIEGEL 38/2013 105 Ausland zeitig dazu zu bewegen, Syriens hochge- Und halten Sie es für eine falsche Ent- Kindern sagen, die allem Anschein nach fährliche Chemiewaffen unter die Auf- scheidung, den Kongress um Erlaubnis durch Assads Giftgas-Attacke ums Leben sicht der Vereinten Nationen zu stellen. zu fragen? gekommen sind? SPIEGEL: Hätten Sie jemals für möglich ge- Rumsfeld: Mehrere Präsidenten haben Rumsfeld: Es ist schrecklich, wenn so viele halten, dass Putin sich trauen würde, die nach dem Zweiten Weltkrieg Militärschlä- Syrer, unter ihnen Hunderte Kinder, ums amerikanische Nahostpolitik so zynisch ge ohne offizielle Kriegserklärung des Leben kommen. Aber warum genau soll- steuern zu wollen? Kongresses durchgeführt. Aber Obama te uns gerade dieser Zwischenfall in die- Rumsfeld: Herr Putin ist halt sehr clever, hat sich selbst in eine schwierige Lage sen hochkomplizierten Konflikt verstri- daran muss Obama immer denken. gebracht, indem er zum Losschlagen die cken? Die amerikanische Bevölkerung SPIEGEL: Wollen Sie sagen, Obama sei naiv, Unterstützung des Kongresses gesucht sagt durchaus zu Recht: Mal langsam, in wenn er den russischen Vorschlag für eine hat, obwohl die Zustimmung im Reprä- den vergangenen Jahren sind in Syrien realistische Lösung in der Syrien-Frage sentantenhaus eher unwahrscheinlich über 100000 Menschen durch Granaten, hält? schien und in Meinungsumfragen die Bomben und Raketen gestorben. Rumsfeld: Na, überlegen wir doch mal. So- Mehrheit der Amerikaner gegen ein Ein- SPIEGEL: Obama sagte aber ausdrücklich weit ich mich erinnere, haben die Russen greifen ist. in seiner Rede, Amerikas Größe zeige den Syrern ihre Chemiewaffentechnolo- SPIEGEL: Also war es ein Fehler, sich an sich gerade darin, dass die älteste Demo- gie geliefert. Zudem ist für mich nicht ein- den Kongress zu wenden? kratie der Welt nicht wegschaue, wenn mal klar, ob sich die Russen selbst an die Rumsfeld: Es ist dann keine kluge Ent- ein Diktator Kinder vergase. internationalen Standards für Chemiewaf- scheidung, wenn man wie Obama kei - Rumsfeld: Warum sollte das exklusiv eine fen halten. Deshalb würde ich die Gegen- nen klaren Plan präsentieren kann, für amerikanische Verantwortung sein und frage stellen: Soll man den Fuchs wirklich den man Unterstützung gewinnen möch- nicht genauso eine deutsche, französi- zum Aufpasser im Hühnerstall machen? te. Als Präsident tritt man schlicht nicht sche oder britische oder die jedes ande- SPIEGEL: Putins Vorschlag hat für Obama vor den Kongress und handelt sich eine ren Landes mit einem funktionierenden den Vorteil, dass sich die USA zumindest Ohrfeige ein, wenn es um Krieg und Militär? vorerst einen unpopulären, SPIEGEL: Weshalb hat Obama umstrittenen Militärschlag er- dann so große Probleme, an- sparen. Was ist so schlecht dere Länder für einen Militär- daran? schlag in Syrien zu gewinnen? Rumsfeld: Präsident Obama Rumsfeld: Obama tut sich so hat den Vorschlag ja nur an- schwer, weil er niemandem ge- genommen, weil es keine an- nau erklärt hat, was er zu tun deren guten Lösungen mehr hofft und was er eigentlich er- gab. Und meine Vermutung reichen will. Um Unterstüt- ist, dass er sich wünscht, es zung im Kongress und von wäre nie so weit gekommen. anderen Nationen zu erhalten, Wir Amerikaner würden jetzt muss er ein klares Kriegsziel besser dastehen, wenn wir formulieren. von Beginn an die nichtradi- SPIEGEL: Bush hat immer genau kalen Gruppierungen in der gesagt, was er wollte, doch syrischen Opposition unter- heute halten selbst viele Ame-

stützt hätten, nicht mit eige- CHIP SOMODEVILLA / GETTY IMAGES rikaner seine Kriege für falsch nen Soldaten, sondern mit Assad-Anhänger in Washington: „Keine guten Lösungen“ oder gar dumm. Das ist doch Waffenlieferungen, Geheim- der wahre Grund, warum in dienstinformationen und moralischer Un- Frieden geht. Das hat es in der ameri - den USA und im Rest der Welt die Be- terstützung. Weil wir das nicht getan ha- kanischen Geschichte noch nie gegeben. reitschaft so niedrig ist, etwas gegen die ben, haben Gruppierungen die Oberhand Und riskiert man ganz bewusst so eine Grausamkeiten in Syrien zu tun. gewonnen, die am besten organisiert und Ohrfeige, muss man sich nicht wundern, Rumsfeld: Ich bitte Sie, zumindest bei uns finanziert, am diszipliniertesten und hart- dass die Unterstützung im Rest der in den USA ist Kriegsmüdigkeit nichts näckigsten sind: radikale Islamisten, ob- Welt ebenfalls sehr zurückhaltend aus- Neues. Nach dem Ersten Weltkrieg gab wohl diese nicht einmal die Mehrheit im fällt. es eine große Kriegsmüdigkeit, und als Lande stellen. SPIEGEL: Aber ein demokratisch gewählter es dann darum ging, ob sich die USA in SPIEGEL: Gibt es in Syrien, unabhängig Präsident kann nicht einfach gegen sein den Zweiten Weltkrieg einmischen soll- von einem begrenzten Militärschlag, Volk regieren. Und die amerikanische Be- ten, sagten die Leute: Wir wollen nicht überhaupt noch gute Lösungen? völkerung hat unmissverständlich klarge- schon wieder kämpfen. Und genauso we- Rumsfeld: Ich glaube nicht. macht, dass sie der Kriege müde ist. nig gab es danach ein öffentliches Verlan- SPIEGEL: Der Militärschlag, den Obama in Rumsfeld: Natürlich sollte jedes Land gen, in den Korea-Krieg oder den Viet- Aussicht stellte, scheint Sie ja nicht zu kriegsmüde sein. Krieg ist etwas Schreck- nam-Krieg einzusteigen. überzeugen. Sie nannten den Plan in ei- liches. Aber deswegen muss man als SPIEGEL: Der Einsatz im Zweiten Welt- nem Interview „bloß einen Schuss vor den Präsident halt vorsichtig sein, wenn man krieg war aber aus amerikanischer Sicht Bug“ und „peinlich“ für das US-Militär. wie Obama rote Linien zieht. Säße ich ein nobles Engagement, das sich langfris- Rumsfeld: Ich habe die Syrien-Ansprache als Abgeordneter im Kongress, hätte ich tig ausgezahlt hat. Das sagen über die des Präsidenten am vergangenen Diens- bei einer Abstimmung über den ge- Einsätze im Irak und in Afghanistan nur tag zwar nicht selbst gesehen, aber nach planten Militärschlag wohl ebenfalls mit unverbesserliche Optimisten. all dem, was ich davon gehört habe, hat Nein gestimmt, sosehr ich auch die Ten- Rumsfeld: Gucken Sie mal genauer hin: Im er geredet wie ein Mann, in dessen Brust denz gehabt hätte, grundsätzlich meinen Irak wurden viele neue Schulen eröffnet, zwei Herzen schlagen. Präsidenten nicht im Stich lassen zu es gibt eine Börse, eine freie Presse. Und SPIEGEL: Immerhin versucht Obama, eine wollen. Afghanistan war nach zehn Jahren so- öffentliche Debatte voranzutreiben, statt SPIEGEL: Das würden Sie trotz der Bilder wjetischer Besatzung und der Herrschaft sich einfach in einen Krieg zu stürzen. und Videos von Männern, Frauen und der Taliban so gut wie am Ende. Doch

106 DER SPIEGEL 38/2013 die Menschen dort haben die Chance auf che Investitionen Amerikas Staatsausga- SPIEGEL: Weil ihnen nicht gesagt wurde, einen Neuanfang bekommen. Sie haben ben stiegen? Klar ist es das! Man hat den was inzwischen offensichtlich ist: Die Ge- sich eine Verfassung geschrieben. Und im Vorteil, und man hat den Nachteil. Das heimdienstinformationen waren zwar Irak ist Saddam Hussein, der Chemiewaf- muss er akzeptieren. vielleicht nicht komplett erfunden, aber fen gegen sein eigenes Volk einsetzte, nur SPIEGEL: Warum akzeptieren Sie nicht ein- doch so selektiv zusammengestellt, dass noch eine entfernte Erinnerung. fach, dass Obamas eingeschränkte Hand- sie nur einen Schluss zuließen. SPIEGEL: Eine Verfassung und eine Börse: lungsfähigkeit Ihr Fehler ist? Er kann Rumsfeld: Ich kann nachvollziehen, wenn Das meinen Sie doch nicht ernst? Das viele Amerikaner und Bündnispartner Leute heute sagen: Es hat sich herausge- klingt zynisch vor dem Hintergrund, dass nicht von der Notwendigkeit eines Mili- stellt, dass diese Informationen nicht zu- Zigtausende Menschen dafür ihr Leben tärschlags überzeugen, weil die Glaub- treffend waren. Aber damals hat sich das verloren und die Kriege Billionen Dollar würdigkeit Amerikas massiv beschädigt anders dargestellt. verschlungen haben. Und es ist alles an- wurde, als Sie mit der falschen Behaup- SPIEGEL: Verstehen Sie auch, warum die dere als sicher, dass diese Länder eine tung in den Irak-Krieg zogen, Saddam Europäer so erbost über das NSA-Über- bessere Zukunft vor sich haben. Aber da- Hussein besitze Massenvernichtungs- wachungsprogramm sind? mit lassen die USA Afghanen und Iraker waffen. Rumsfeld: Hier in den USA sind viele jetzt allein. Republikaner und Demokraten ebenfalls Rumsfeld: Wir können nicht einfach in ein ANZEIGE dar über besorgt. Und sollten sie das sein? anderes Land gehen und „nation buil- Aber natürlich sollten sie das! ding“ betreiben. Der Wiederaufbau liegt SPIEGEL: Sind Sie auch besorgt? in der Verantwortung des jeweiligen Lan- Rumsfeld: Klar. Niemand möchte, dass des. Das müssen sie selbst in die Hand alles, was er tut, sagt oder online treibt, nehmen. Im Gegensatz zu anderen glau- überwacht wird. be ich nicht, dass wir ihnen diese Verant- SPIEGEL: Glauben Sie, dass derlei umfas- wortung abnehmen können. Wir können sende Spähprogramme für die nationale ihnen höchstens helfen. Sicherheit nötig sind? SPIEGEL: Wenn Sie in einem Land wie dem Rumsfeld: Ich kann Ihnen nicht genau sa- Irak einen Regierungswechsel herbeifüh- gen, was das für Programme sind. Seit ren, um die Region zu demokratisieren, 2006 bin ich nicht mehr Mitglied der Re- ist es Ihre Pflicht, beim Wiederaufbau zu gierung. helfen. SPIEGEL: Wenn Obama in Syrien scheitert, Rumsfeld: Das war aber nie die offizielle ist seine Präsidentschaft dann schon so Begründung für unser Eingreifen in der gut wie vorbei? Sie selbst haben ihn kürz- Region. Es ging immer um Regimewech- lich als den führungsschwächsten Präsi- sel, nicht um Demokratieaufbau. Ich denten bezeichnet, den Sie erlebt haben. kann mich an niemanden im Pentagon Rumsfeld: Das ist wahrscheinlich wahr. oder im Weißen Haus erinnern, der das Aber es ist noch nicht zu spät, er hat ja Wort „Demokratie“ als Rechtfertigung noch drei Jahre, und seine Präsident- für den Irak-Krieg benutzt hat. Wahlen schaft dreht sich nicht allein um Syrien. allein schaffen noch keine Demokratie. Er muss sich zusammenreißen und Füh- Als Adolf Hitler ins Amt kam, wurde er rungsstärke zeigen und vielleicht ein biss- demokratisch gewählt. Die Muslimbru- chen weniger Golf spielen. derschaft wurde in Ägypten demokra- SPIEGEL: Obama als der schwächste Präsi- tisch gewählt. dent der Nachkriegszeit? Da fällt uns nur SPIEGEL: Sie haben wirklich ein ausgespro- der Satz ein, den Joschka Fischer Ihnen chen selektives Gedächtnis. Das größte im Vorfeld des Irak-Kriegs zu Saddam Problem im Irak war ja nicht, wann wel- Husseins angeblicher Gefährlichkeit ent- cher Begriff benutzt wurde. Das Problem gegenschleuderte: „I am not convinced!“ war, dass der Krieg unter völlig falschen Rumsfeld: Na ja, ich muss eine Sache an- Vorzeichen begonnen wurde. Und das ist erkennen: Es ist heute weitaus schwerer ganz klar der Grund, weshalb Obama die als früher, Präsident zu sein. Wir leben amerikanische Öffentlichkeit nicht für im Zeitalter des rasanten Informations- einen weiteren Militärschlag erwärmen austauschs. Vieles passiert so schnell, und kann. anders als früher hat der Präsident keine Rumsfeld: Nur eine Sache ist hier klar: Zeit mehr, über Dinge noch einmal nach- Obama kann nicht für alle Probleme, die Rumsfeld: Diese Geheimdienstinforma - zudenken. Alles, was er tut und sagt, wird er hat, George W. Bush die Schuld geben. tionen haben existiert, sie wurden vom benutzt, um ihn zu kritisieren. Jemand Jeder Präsident muss, wenn er neu ge- Präsidenten eingesehen, und er fand sie hat mir aufgeregt erzählt, dass Obama wählt wird, mit dem Vermächtnis seiner überzeugend. Saddam Hussein hat Che- bei seiner Pressekonferenz auf dem G- Vorgänger leben. Das aber hat eben nicht miewaffen gegen die eigene Bevölkerung 20-Gipfel in St. Petersburg vorvergangene nur Nachteile, sondern auch Vorteile. eingesetzt und sich 17 Uno-Resolutionen Woche 121-mal „äh“ gesagt habe. Jour- SPIEGEL: Was für Vorteile soll Obama widersetzt. Der hoch respektierte und nalisten hätten das gezählt. Mal ehrlich: denn, bitte schön, davon haben, Nachfol- bestimmt nicht kriegslüsterne Außen- Das kann doch nicht wahr sein. ger von Bush zu sein? minister Colin Powell hat sich die Ge- SPIEGEL: Mr. Secretary, wird danken Ihnen Rumsfeld: Er ist im Vorteil, weil wir viel heimdienstinformationen angeschaut, für dieses Gespräch. Geld für neue Waffensysteme wie das ebenso Demokraten wie Hillary Clinton Drohnenprogramm ausgegeben haben, und John Kerry. Die Deutschen haben Video: Donald Rumsfeld, der das Obama heute so begeistert im Kampf sie geprüft, die Franzosen, die Briten, ewige Verteidigungsminister gegen Terroristen einsetzt. Ist es gleich- und sie alle sind zum selben Schluss ge- spiegel.de/app382013rumsfeld zeitig ein Nachteil für ihn, dass durch sol- kommen. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 38/2013 107 Präsident Hollande, Minister Montebourg* Keine Lust auf Strukturreformen

Bei einer tiefgreifenderen Veränderung bestehe „das Risiko, dass viele Leute auf die Straße gehen, ohne dass wir sicher sein können, die Reform zu Ende zu füh- ren“, rechtfertigte sich Hollande gegen- über „Le Monde“. Der Präsident dreht ohnehin lieber an kleinen Schrauben. Das hatte sich schon im Frühjahr bei der Reform des Arbeits- rechts gezeigt. Nun sind zwar bei der Ren- te dennoch alle Seiten unzufrieden, ver- gangene Woche gab es in Paris Streiks und Demonstrationen, aber zu landeswei- ten Ausschreitungen wird es wohl nicht kommen. Allerdings ist auch die prekäre finanzielle Lage der Rentenkasse nach 2020 immer noch nicht gelöst. „Die Nicht-Reform der Renten ist eine Entscheidung von großer Tragweite“, schrieb der linke Ökonom Elie Cohen, ei-

CHARLES PLATIAU / AFP CHARLES PLATIAU gentlich ein Unterstützer Hollandes. „Sie bestätigt, dass der Präsident keine Lust keitszug TGV und das Überschallflugzeug auf Strukturreformen hat, sie markiert FRANKREICH Concorde. das Ende der Reformversuche bis zum Dass all dies schon eine Weile zurück- Ende seiner Amtszeit.“ liegt, verdeutlicht das eigentliche Problem Als der EU-Wirtschaftskommissar Olli Im Land des des Landes. Frankreichs Industrie hat in Rehn vergangene Woche das schleppende zehn Jahren mehr als 700000 Arbeitsplät- Tempo der Reformen kritisierte, kam eine ze eingebüßt; deshalb sollen 34 staatliche deutliche Antwort aus dem Pariser Finanz- Stillstands Aktionspläne nun ausgewählte Industrie- ministerium. Es gehe einfach nicht schnel- projekte vorantreiben und damit für eine ler, ließ Minister Pierre Moscovici wissen. Der heiße Herbst fällt aus, „dritte industrielle Revolution“ sorgen. Um bis 2015 die Maastricht-Kriterien zu die großen Reformpläne Der Staat aber hat kein Geld, weswe- erfüllen, sollen nun 15 Milliarden Euro bei werden vertagt. Stattdessen gen vor allem die Wirtschaft in die von den Staatsausgaben gestrichen werden. ihm ausgewählten Projekte investieren Einen grundlegenden, dringend not- setzt die Regierung auf soll. „Das neue industrielle Frankreich“ wendigen Umbau des aufgeblasenen fran- Wirtschaftspatriotismus. von Hollande und Montebourg ist des- zösischen Staates mit seinen verschach- halb kein staatliches Investitionspro- telten Verwaltungsebenen wird es auch s kommt in westlichen Demokra- gramm wie in früheren Jahren, dennoch weiterhin nicht geben. „François Hollande tien selten vor, dass ein Staatschef will Frankreich in der Industriepolitik beschleunigt den Niedergang Frankreichs Edie Wirtschaftsführer seines Landes wieder die Federführung übernehmen. auf tragische Weise, indem er entscheidet, antreten lässt, um ihnen Aufträge für die Erinnerungen an die glorreiche Vergan- nichts zu entscheiden“, schrieb das rechte Zukunft zu erteilen und gemeinsam mit genheit sollen dabei Mut für eine bessere Wochenmagazin „Le Point“. ihnen die Größe des eigenen Landes zu Zukunft machen. Denn gegenwärtig geht Den Bürgern hat die Regierung immer- beschwören. es dem Land unverändert schlecht. hin eine „Steuerpause“ versprochen – ein Doch genau das geschah vergangene Eigentlich sollten die Wochen nach der Wortbild, das so einiges verrät: Es klingt Woche im Elysée-Palast in Paris. Präsi- Sommerpause die Zeit der Weichenstel- nach einer kurzen Rast, nach der natur- dent François Hollande ließ sich das ge- lungen für François Hollande werden. Die gegeben neue Steuererhöhungen und Ab- genwärtige Schaffen der französischen In- angekündigte große Rentenreform sollte gaben folgen werden. Und so wurde ver- dustrie vorführen, nahm einen Roboter beweisen, dass der Präsident in der Lage gangene Woche auch bekannt, dass die in den Arm, schritt mit anerkennendem ist, ein grundlegendes Problem entschie- Verwaltung bereits neue Abgaben plant – Blick an 3-D-Druckern und elektrisch be- den anzugehen. Die Reform wurde mitt- auf Elektrozigaretten, Energy-Drinks und triebenen Gefährten vorbei, ließ sich über lerweile vorgestellt und hat vor allem ei- Süßstoffe. Und dass die Steuern wohl das Zwei-Liter-Auto und Elektroflugzeu- nes gezeigt: dass Hollande nicht an große auch weiter steigen werden. ge informieren. Reformen glaubt. Hollande hofft indessen immer noch Höhepunkt des Tages war ein Film, der Weder das gesetzliche Renteneintritts- darauf, dass das Wirtschaftswachstum in Anwesenheit des Präsidenten und sei- alter wurde angetastet noch die Spezial- endlich zurückkehrt – für 2014 ist aber nes Industrieministers Arnaud Monte- regelungen für Staatsangestellte. Stattdes- nicht einmal ein Prozent vorhergesagt. bourg gezeigt wurde. Unter dramatischen sen sollen Arbeitnehmer und Arbeitgeber So bleiben das Gefühl von Stillstand, Streicherklängen aus Vivaldis „Sommer“ noch mehr Abgaben zahlen und die Bei- eine schlechte Stimmung – und die große war da zu sehen, was Frankreich in der tragsjahre für eine Vollrente bis 2035 um Angst vor den anstehenden Kommunal- Vergangenheit alles erfunden und „der anderthalb auf 43 Jahre erhöht werden. und Europawahlen im nächsten Jahr. Welt gegeben“ habe: die Dampflokomo- Politiker und Umfrageinstitute befürchten tive, das Automobil, die Radioaktivität * Mit Industrieprodukt Roboter „Nao“ vergangene Rekordergebnisse für den rechtspopulisti- und schließlich der Hochgeschwindig- Woche im Elysée-Palast. schen Front national. MATHIEU VON ROHR

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Ehemalige Kindersklavin Durga Mala: „Die Frau zog mir meine Fingernägel einzeln aus“

INDIEN Ein Euro für ein Mädchen Millionen indische Kinder arbeiten als Sklaven in Fabriken, Bordellen oder bei Familien. Notleidende Eltern verkaufen ihre Töchter, Menschenhändler sammeln nach dem Monsun die Waisen in den Dörfern ein.

n dem Tag, als Durga Mala geret- Lippen vernarbt. „Einmal ließ ich ein angestellten in Indien Kinder sind – 90 tet wurde, lag sie weinend auf Glas fallen“, sagt Durga, „da wurde die Prozent davon Mädchen. Kinderarbeit ist Adem Steinfußboden und kühlte Frau böse und zog mir meine Fingernägel zwar ebenso verboten wie der Handel ihren Rücken. Sie war elf Jahre alt, und einzeln aus.“ Manchmal stach man ihr mit Kindern. Aber nur selten greift die ihre Haut schlug Blasen von den Schul- mit einer Nadel in den Mund. Durga soll- Polizei ein, noch seltener verurteilen die terblättern bis zum Po. Ihre Besitzer hat- te arbeiten, nicht reden. Gerichte Kinderhändler oder Sklaven- ten sie wenige Tage zuvor mit heißem Öl In Indien leben nach Schätzungen Mil- halter. übergossen, weil sie ihnen zu langsam lionen Kinder als moderne Sklaven. Sie Durga wuchs in Kalkutta auf. Als sie arbeitete. arbeiten auf den Feldern, in Fabriken, sieben war, starb ihr Vater, zwei Jahre Plötzlich hörte Durga Schreie, sie kau- Bordellen und in privaten Haushalten – später ihre Mutter. Die Großmutter nahm erte sich zusammen. Polizisten stürmten oft ohne Lohn und meistens ohne realis- Durga und ihre drei Schwestern bei sich nach einem Hinweis die Wohnung mitten tische Chance abzuhauen. Der Großteil auf, aber sie schaffte es nicht, die Waisen in Bangalore. Sie brachen die Tür auf, wird von der eigenen Familie verkauft zu ernähren. Ein Mädchen musste weg. Durga drückte ihre Arme vor die Brust oder verliehen. Also verkaufte sie die Jüngste. Die frem- und presste die Augen zu. Sie trug ja nur Die indische Regierung kam 2001 bei de Familie zahlte der Oma über eine Ver- eine Unterhose, mehr hatten ihre Besitzer der Zählung des Milliardenvolks auf ins- mittlerin 80 Rupien für Durga. Das ent- ihr nicht gelassen. Durga sagt: „Ich schäm- gesamt 12,6 Millionen Minderjährige zwi- spricht ungefähr einem Euro. te mich.“ schen 5 und 14 Jahren, die arbeiten. In Allein fuhr Durga mit dem Zug die fast Einer der Männer hüllte die Kleine in Wahrheit sind es wohl deutlich mehr, vie- 2000 Kilometer nach Bangalore. An ein Laken und brachte sie ins Kranken- le Kinder werden bei ihrer Geburt nicht die Fahrt kann sie sich nicht erinnern, haus. Mehrere Tage lang behandelten die offiziell registriert. Und natürlich ver- wohl aber an ihre Ankunft. „Die Frau Ärzte das Kind. Durga hatte nicht nur heimlichen die Besitzer von Kinderskla- holte mich am Bahnhof ab. Ich hatte Verbrennungen, sie war auch unterer- ven deren Existenz. Hilfsorganisationen Angst, aber sie sagte mir, ich würde es nährt, ihre Finger waren entzündet, ihre schätzen, dass allein drei Viertel der Haus- gut haben.“

116 DER SPIEGEL 38/2013 FOTOS: ANNE BACKHAUS / DER SPIEGEL ANNE BACKHAUS FOTOS: Mittagessen im „Rainbow Home“: Mädchen werden früh verkauft

Fortan putzte sie jeden Tag die Woh- Nebenan dürfen die Heimkinder fern- 80 Züge aus fast allen Teilen des Lan - nung des Ehepaars, kochte, wusch die sehen. Es läuft ein Bollywood-Film. Dur- des an, mit billigen Arbeitskräften zu- Kleider, spülte das Geschirr. Durga wurde ga sitzt mit den anderen auf dem Fuß- hauf, mit Armen, die eine Zukunft nie bezahlt, hatte nie frei und durfte das boden. Drei Freundinnen kuscheln sich suchen. „Hier ist das Umschlagzentrum Haus nicht verlassen. Oft schlug die Frau an sie, die Kleinste klettert auf ihren für Kinder in Südindien“, sagt Pater sie, seltener der Mann. Durga wehrte sich Schoß. Alle starren gebannt auf den George. nicht. „Oma hatte mir geraten, immer Fernseher. Ein Mann singt, die Mädchen Der Salesianer-Mönch ist knapp zwei nett zu sein“, sagt Durga. träumen. Meter groß, ziemlich schwer und trägt Inzwischen ist Durga zwölf. Sie hat wie- Durga will auch mal so einen Mann, gestärkte Jeans. Er schreitet durch das der Normalgewicht, große Augen und vol- der sie heiraten möchte und nicht schla- Gewimmel Tausender Menschen, unbe- le Lippen. Ihr schwarzes Haar trägt sie als gen wird. Sie denkt nach und streicht sich irrt von Lärm und den Gerüchen. Jeden Knoten am Hinterkopf. Wenn sie spricht, mit den Fingern über ihre vernarbten Lip- Tag durchquert George den Bahnhof, im- leuchten ihre weißen Zähne aus dem wei- pen. „Und ich wäre gern eine Rechtsan- mer auf dem Weg zu einer kleinen Bude chen Gesicht. Durga lebt im „Rainbow wältin“, sagt sie. mitten auf einem der Bahnsteige. Hierher Home“, einem der Kinderheime bringen seine Mitarbeiter Kinder, der katholischen Organisation Bos- die sie allein am Bahnhof gefunden co. 56 Mädchen hausen hier in zwei haben. „Sie sind extrem gefähr- leeren Räumen, Stühle und Tische det“, sagt George. „Wir versuchen, gibt es nicht. Die Kinder spielen, ihnen zu helfen, bevor sie in fal- schlafen und machen ihre Hausauf- sche Hände geraten.“ gaben auf dem Fußboden. Geges- In dem Häuschen warten zwei sen wird gemeinsam im Flur. Mädchen und ein Junge. Außer ei- Das Heim belegt ein Stockwerk ner halbvollen Plastiktüte haben eines Schulhauses. Die Wände in sie kein Gepäck. Sie sitzen auf dem alten Bau sind blau und rosa einer Bank am Fenster und lassen angemalt, die Betreuerinnen brin- ihre nackten Füße baumeln. Davor gen den Kindern bei, dass man sich Pater George: „Wir sind unterlegen“ ein schmaler Tisch. Dahinter ist ge- regelmäßig waschen sollte und dass rade genug Platz für eine Mitarbei- man sich nicht bei jedem Streit gleich Fast jedes Kind im Zimmer hat mehre- terin und George, den Leiter der Hilfs- schlägt. „Es ist harte Arbeit“, sagt die re Jahre seines Lebens gearbeitet. Die organisation Bosco. Nonne Anees. „Für viele Kinder ist dies Älteste ist 16 Jahre alt. Selbst mit einer Der Pater, in Südindien geboren, be- das erste Zuhause überhaupt. Sie kom- Schulausbildung werden sie es schwer herrscht neben Englisch fünf indische men alle aus sehr schlechten Familien haben. Bangalore ist mit mehr als acht Landessprachen. Die Kinder entspannen und haben schon zu viel erlebt.“ Millionen Einwohnern nach Mumbai sich, als er sie in ihrer Muttersprache Anees wohnt mit den Kindern im und Delhi die drittgrößte Metropole In- Kannada befragt. George scherzt und er- Heim. Ihr Tag beginnt um fünf Uhr mor- diens. Eine Boom-Stadt, glitzernd, aber zählt ihnen kleine Geschichten. So lange, gens und endet um elf in der Nacht. Sie brutal, ein Dschungel – und doch für vie- bis sie ihm antworten. Bhavani, Salthya schläft mit zwei anderen Frauen in einem le eine Hoffnung. Allein am City-Rail- und Ramesh kommen aus dem Norden kleinen Zimmer. way-Bahnhof kommen täglich mehr als Karnatakas, einem der ärmsten Gebiete

DER SPIEGEL 38/2013 117 DANIEL BEREHULAK / GETTYDANIEL IMAGES Kinder in Delhi: „Sie müssen täglich bis zu zwölf Stunden lang arbeiten“

Südindiens. George sagt: „Es sind Aus- ren werden meist noch am selben Tag an ten würden ihre Arbeit nicht so gut ma- reißer.“ Arbeitgeber vermittelt. chen wie er. „Ich weiß genau, welches Es gibt viele Ausreißer in Indien. Die Verlassen die Kinder den Bahnhof, sind Kind zu welchem Arbeitgeber passt“, sagt Kinder fliehen vor der Armut auf dem sie kaum mehr zu finden. „Sie werden Krishna stolz, „sie kommen her und Land oder der Brutalität in ihrer Familie, eingesperrt und müssen täglich bis zu wollen Arbeit, und ich besorge ihnen die sie hoffen auf ein besseres Leben in der zwölf Stunden lang arbeiten“, sagt richtige.“ Großstadt. Die Metropole Bangalore zieht George. Selten nur würden sie dann tat- Einige Passanten nicken Krishna zu. Er vorwiegend Kinder aus den Bundesstaa- sächlich für ihre Arbeit bezahlt, viele wür- nickt kaum merklich zurück. „Ich bin ein ten Tamil Nadu, Kerala, Andhra Pradesh den gehalten wie Durga, als Sklaven. guter Mann“, sagt Krishna, „die Leute und Karnataka an, einem Gebiet, zusam- Auf der gegenüberliegenden Straßen- mögen mich.“ Seit fünf Jahren ist er im men weitaus größer als Deutschland. seite liegt der Busbahnhof, zweitgrößter Geschäft. Er sehe sofort, ob ein Kind Sie sind leichte Beute für Umschlagplatz für Kinder stark genug sei. Jungen bringe er in Ho- Händler, die am Bahnhof Kinderarbeit in Bangalore. Hunderte Bus- tels und Werkstätten, Mädchen vorwie- auf sie warten. Die Männer in Indien se quetschen sich jede Stun- gend in Schneidereien oder zu einem versprechen eine Unter- de aneinander vorbei. Eine Kollegen, der private Käufer bediene. kunft und einen gutbezahl- Brücke führt in das Markt- Krishna trägt eine goldene Uhr. ten Job, bei Übergabe an viertel. In dem unüber- Leute wie Krishna sehen sich als Ar- einen Arbeitgeber verdie- schaubaren Areal aus Stra- beitsvermittler. Sie seien Kinderhändler, nen sie bis zu 1000 Rupien 12,6 ßen und Durchgängen wim- sagt George. „Sie machen sich keine Sor- Provision, das sind knapp melt es von Händlern, und gen um die Kinder, nur um ihr Einkom- 12 Euro pro Kind. Millionen manche verkaufen Kinder. men.“ Der Pater fährt in einem der drei Drei Bosco-Mitarbeiter Ein Mann, der sich Wagen, die täglich für Bosco im Einsatz stehen deshalb am Tag an Minderjährige zwischen Krishna nennt, hockt im sind. In den Minibussen bringen seine den Gleisen, zwei in der fünf und 14 Jahren stehen Schatten einer grünen Haus- Leute die Kinder vom Bahnhof in die Nacht. Kommt ein Zug an, nach der nationalen Volks- wand. Die Hitze drückt auf Zentrale der Hilfsorganisation. „Die meis- halten sie nach Kindern Aus- zählung 2001 in Indien in die Stadt, und in der Gasse ten haben Angst und wollen erst nicht schau. Es gibt zehn Bahnstei- einem Arbeitsverhältnis. hängt der Geruch des Mülls. gerettet werden“, sagt George. „Ohne die ge, jeweils fast einen Kilo- Der Mann hat ein schma - Minibusse würden sie uns davonlaufen.“ meter lang. Erreichen meh- Hilfsorganisationen les Gesicht und einen sehr George selbst ist normalerweise auf rere Züge gleichzeitig den schätzen, dass allein schmalen Körper. Er spuckt einem Motorroller unterwegs. Doch jetzt Bahnhof, haben die Bosco- in ein Rinnsal zu seinen muss er schnell zurück in sein Büro und Helfer keine Chance gegen Füßen. Krishna ist Kinder- vor allem telefonieren. Sein Handy klin- die Menschenmakler. „Wir händler. Er sagt: „Ich helfe gelt fast ununterbrochen. sind zahlenmäßig unter- den Kindern.“ Der Pater ist zu allen Anrufern gleich legen“, sagt Pater George: 3 von 4 Krishna zündet sich eine freundlich. „Alles ist gut“, das sind im- „Von täglich 50 bis 60 an- Zigarette an und erklärt, mer seine letzten Worte. Egal ob in ei- kommenden Kindern kön- Hausangestellten der Job sei schwierig gewor- nem der Heime der Strom ausgefallen nen wir mit Glück 15 in Si- in Indien Kinder seien, den, weil es zu viele Kon- ist oder das Geld nicht reicht. Der Pater, cherheit bringen.“ Die ande- davon 90% Mädchen. kurrenten gebe. Die meis- 38 Jahre alt, leitet über hundert Mitar-

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beiter. Mit Liebe, wie er sagt, denn viel in steter Gefahr leben, ebenfalls verkauft heit gab der Händler die Kleine weiter kann er nicht zahlen. oder sexuell missbraucht zu werden“, an einen Bordellbesitzer. „Ich wollte nur Das Büro des Paters liegt im Gebäude sagt Palavi. „Sie wachsen unter den Bet- noch sterben“, sagt sie. des Auffangzentrums. Hier werden die Kin- ten auf, in denen ihre Mütter ihrer Würde Sanjana musste ihren Einkaufspreis und der gewaschen und medizinisch untersucht, beraubt werden.“ ihre Unterkunft abarbeiten, so sagte ihr sie erhalten Schuhe, Hosen und Kleider. Prerana betreibt mehrere Heime, in de- der Bordellbesitzer. Und sie schaffte es „Sobald sie sich wohl fühlen, beginnen wir nen die Kinder von Prostituierten leben. angeblich nie, ihre Schulden zurückzuzah- mit der Beratung“, erklärt George. Sein Die Sozialarbeiterin Palavi seufzt. Der len. „Es waren mindestens 10 Männer am Arbeitsplatz ist im ersten Stock, sein Schlaf- Monsun hat Mumbai erreicht, die Straßen Tag, an Feiertagen 30“, sagt sie. Sanjana zimmer im zweiten. Neben Georges Com- füllen sich mit Wasser, und die Notizbü- war in einem Zimmer eingesperrt, die puter liegt ein Jesuskind aus Porzellan. cher in ihrem Büro schlagen Wellen. Preise verhandelte ihr Besitzer. Die meisten Ausreißer, die Bosco auf- In indischen Bordellen arbeiten nach „Ich hatte immer Angst“, sagt Sanjana, greift, werden von ihren Angehörigen ir- einer Schätzung der staatlichen Ermitt- „ich durfte keinen Mann ablehnen.“ Kon- gendwann wieder nach Hause dome gab es so gut wie nie. Pa- geholt. Der Rest findet in einem lavi sagt: „Viele der Prostituier- der sieben Heime der Organi- ten in Mumbai haben Aids.“ sation Obdach und bekommt Sanjana hatte Glück. Sie ent- einen Platz in einer Schule. Von kam nach drei Jahren Zwangs- zehn Kindern sind neun Jun- prostitution, als die Polizei das gen. Mädchen können seltener Bordell stürmte, in dem sie leb- weglaufen. „Sie werden schon te. In ihr Heimatdorf konnte früh verkauft“, sagt George, die Bengalin nicht zurück. meist von der eigenen Familie. „Meine Familie hatte ja einige Indien ist eine aufstrebende Jahre nichts von mir gehört, Wirtschaftsmacht. Aber die Ge- und so war ich keine ehrenvolle sellschaft ist nicht recht mit - Frau mehr“, erklärt Sanjana: gekommen, sie liegt zuweilen „Sie hätte mich niemals wieder-

Jahrzehnte zurück, vielleicht / DER SPIEGEL ANNE BACKHAUS aufgenommen.“ Jahrhunderte. Und in dieser Prostituierte in Mumbai: „10 Männer am Tag, an Feiertagen 30“ Sanjana ist jetzt 22, sie lebt Gesellschaft haben Mädchen als Näherin in Mumbai. Der keinen hohen Stellenwert, sie Bordellbesitzer wurde nie ver- kosten ihre Eltern Geld. Wird urteilt, ebenso wenig der Kin- eine junge Frau verheiratet, derhändler. muss die Hochzeit finanziert Durga Mala hingegen muss werden, und sie verlässt dann derzeit etwa alle zwei Monate das Elternhaus, um bei der Fa- vor Gericht erscheinen. Der milie ihres Ehemanns zu leben. Prozess gegen ihre ehemaligen Jungen hingegen bleiben bei Besitzer, angestrengt von einer ihrer Familie, sie sollen sich Hilfsorganisation, zieht sich seit später um die Alten kümmern drei Jahren hin. Durga mag das und sie finanziell unterstützen. Gericht nicht. Eigentlich möch- Es ist in Indien ökonomisch te sie nicht an die Zeit in dem sinnvoll, Mädchen früh zu ver- fremden Haus zurückdenken.

kaufen. / DER SPIEGEL ANNE BACKHAUS „Ich lebe jetzt“, sagt Durga. Hilfsorganisationen schätzen, Bosco-Helferin, Ausreißer: Leichte Beute Von ihrer Oma hat sie nie dass 20 bis 65 Millionen Inder wieder etwas gehört. Einmal schon einmal durch die Hände von Men- lungsbehörde drei Millionen Prostituierte. rief der Großvater aus einer Telefonzelle schenhändlern gegangen sind. 90 Prozent Etwa 40 Prozent von ihnen sind minder- an. Er erzählte, eine ihrer älteren Schwes- von ihnen bleiben innerhalb der Landes- jährig. Sobald sie zehn Jahre alt sind, wer- tern sei nun verheiratet, die andere als grenzen, ein Großteil ist weiblich und den Mädchen an Männer verkauft, die Haushälterin beschäftigt. Durga denkt minderjährig. sich als Heiratsvermittler ausgeben oder lange nach, aber an die Namen ihrer „Menschenhandel funktioniert, weil die einen Arbeitsplatz in der Stadt verspre- Schwestern kann sie sich nicht mehr er- Opfer Angst haben und sich nicht ver- chen. Spült der Monsun Ortschaften auf innern. Durga sagt: „Ich bin jetzt glück- ständigen können“, sagt die Sozialarbei- dem Land davon, fahren die Händler in lich.“ terin Palavi. „Indien ist so groß, dass es die Dörfer, sammeln Waisen ein oder kau- „Sorgen machen keinen Sinn“, glaubt nicht nötig ist, Frauen und Mädchen ins fen Bauern, die alles verloren haben, die George. Der große Pater sitzt gebeugt auf Ausland zu verkaufen. Wenn sie Benga- Kinder ab – für die es eh nichts mehr zu einem Plastikstuhl vor dem Kinderheim, len aus dem Nordosten des Landes sind, essen gibt. sein Handy liegt klein in seiner Hand. verstehen sie schon in Mumbai kein Wort „Erreichen die Mädchen Mumbai, wer- Das Rainbow Home feiert zweijähriges mehr.“ den sie erst mal für einige Wochen in Bestehen. Drinnen kochen die Schwes- Palavi arbeitet seit mehreren Jahren in Verliese gesperrt“, erklärt Palavi. „Sie be- tern Tee, die Kinder sollen sich die Hände Mumbais Rotlichtviertel Khetwadi, sicher- kommen kaum Nahrung und werden täg- waschen. Im ersten Stock beginnen Mäd- heitshalber möchte sie ihren Nachnamen lich vergewaltigt. So wird ihr Wille chen zu singen. George lächelt und geht nicht gedruckt sehen. Für die Hilfsorga- gebrochen, damit sie in den Bordellen nach oben. ANNE BACKHAUS nisation Prerana betreut Palavi Mädchen, keinen Ärger machen.“ die in drei Notfallzentren rund um die Sanjana war elf, als ihr Vater sie an Video: Durga, 12, für einen Uhr Unterschlupf finden können. „In In- einen Händler verkaufte. Der hatte ihm Euro als Sklavin verkauft dien werden junge Frauen wie Sklaven erzählt, das Mädchen könne in einer Sei- spiegel.de/app382013indien gehandelt. Viele bekommen Kinder, die denfabrik bei Kalkutta arbeiten. In Wahr- oder in der App DER SPIEGEL

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LONDON Der Sonderdiplomat GLOBAL VILLAGE: Im ältesten Korrespondenten-Club der Welt wird Großbritanniens Krise spürbar.

ährend Christopher Wyld noch Wie es aussieht, endet das Empire nun die mit Gehrock und Zylinder ins Außen- überlegt, weshalb das Vereinig- am Ärmelkanal. ministerium spazierten. Wte Königreich gerade die Lust Ausländische Korrespondenten malen Inzwischen zahlt das Foreign Office an der Welt verliert, tragen Männer Stüh- das Bild eines Landes für die Leser in ih- nicht einmal mehr die Miete des Vereins. le und Tische an ihm vorbei. Wyld ist rer Heimat, und was sie von Großbritan- Gleichzeitig erzählen Korrespondenten, Direktor der Foreign Press Association nien malen, ist derzeit ziemlich grau. es sei fast unmöglich geworden, zu Staats- in London, des ältesten Korresponden- Christopher Wyld versucht, die fremden sekretären vorzudringen, von Ministern ten-Vereins der Welt, und hat gerade die Reporter in London dennoch bei Laune nicht zu sprechen – was für Politiker zählt, letzte Pressekonferenz im Club beendet. zu halten. Neben ihm angelt sich die Kor- sind die Wahlkreise daheim, nicht China, Bis Ende September müssen er und seine respondentin der chinesischen „People’s Russland oder Belgien. „Man musste sich Leute die Räumlichkeiten nicht weit vom Daily Online“ ein Sandwich vom Tablett. immer irgendwie durchschlängeln, aber Trafalgar Square verlassen, weil der Kellner eilen mit Weinflaschen durch den so schwer war es nie“, sagt Masato Kimu- Hauptmieter auszieht und man allein Raum, auf dem Sofa erkundigt sich ein ra, freier Journalist aus Japan, Bierglas die Miete nicht bezahlen in der rechten Hand. An- kann. „Vielleicht landen ders als Tony Blair bittet wir auf der Straße“, sagt David Cameron nur briti- Wyld und versucht, das sche Journalisten regelmä- wie einen absurden Witz ßig in die Downing Street. klingen zu lassen. Christopher Wyld ver- Er ist ein Onkeltyp mit sucht deshalb mit dem der- einem Vorrat an Anekdo- zeitigen Vereinspräsiden- ten, wie man ihn halt in 18 ten Jürgen Krönig, einem Jahren als Redakteur und Deutschen, andere Ge- Auslandsreporter bei der sprächspartner zu organi- BBC sammeln kann. Seit sieren. Vor kurzem wurde er vor fünf Jahren die Lei- ein Demoskop eingeladen. tung des Korrespondenten- Zwei Dutzend Journalis- Clubs übernahm, hat er al- ten waren gekommen, un- lerdings den traurigen Job, ter anderem aus Kuwait, Geld zu sparen. Die Regie- Frankreich, Spanien und rung strich ihren Zuschuss Dänemark. Masato Kimu-

schon vor Jahren, und so FEARN DAVID ra aus Japan saß in der ers- ist Wylds Verein zu einem Journalist Wyld: „Vielleicht landen wir auf der Straße“ ten Reihe, wie immer. Ort geworden, an dem sich Der Demoskop berich- die Beziehungskrise zwi- tete vom Desinteresse der schen Großbritannien und Briten an der Politik. Die dem Ausland aus nächster Nähe beobach- französischer Kollege, ob der Gin eben- Arbeitslosigkeit sei hoch, deshalb richte- ten lässt. falls gratis sei. Eine Wirtschaftsreporterin ten die Menschen ihre Aufmerksamkeit Es regnet derzeit viel Häme auf das aus Finnland blickt sich hilfesuchend um; nach innen. Nach dem Vortrag sprang Land, aus allen Himmelsrichtungen, und ihr Glas ist leer. Wyld sagt, er habe eini- Christopher Wyld auf und rief: „Zum die Briten werden von Tag zu Tag unsi- gen Leuten beibringen müssen, dass sie Glück ist London toleranter, internatio- cherer, welche Rolle sie in der Welt über- nicht länger einer Zeit nachträumen kön- naler, vielfältiger.“ Manchmal kommt er haupt noch spielen wollen. Die Zeit der nen, in der Geld für den Club da war, sich vor wie ein Sonderdiplomat. Der letz- Großmacht ist lange schon vorüber; ge- weil London noch global dachte. te PR-Agent einer Insel, die sehr klein blieben sind die großen Sorgen. Die Foreign Press Association hat ge- geworden ist. Der Wohlstand schrumpft, die Aussich- rade ihr 125-jähriges Bestehen gefeiert, David Cameron besuchte seit seinem ten sind trübe. Also hat die Regierung das Fest wurde von einer chinesischen Amtsantritt ein einziges Mal die Foreign die Entwicklungshilfe gekürzt, und als Airline gesponsert. Die Machtverhältnis- Press Association, Anfang Juni. Sein Ende August Premierminister David Ca- se auf dem Globus verschieben sich. Als Gesicht glänzte wie frisch poliert, als er meron zusammen mit Barack Obama die der Verein gegründet wurde, war London auf Fragen von Journalisten, unter an - Syrer strafen wollte, sagten Volk und Par- das Zentrum der aufgeklärten Welt, es derem aus Frankreich, China, Russland, lament einfach nein. Ein Sprecher Wla- war eine nachrichtenschwangere Ära, blu- Ägypten und den USA, antwortete. Nach dimir Putins nannte Großbritannien eine tig, voll bunter Figuren. Zum ersten Ver- einer Dreiviertelstunde glitt sein Blick „kleine Insel, der niemand zuhört“. Der einspräsidenten wurde Gabriel de Wes- über die Stuhlreihen. „Habe ich irgend- Kreml dementierte, dass Putin so denke, selitsky erkoren, ein serbischstämmiger eine Weltregion vergessen?“ Dann ver- aber die Schockwellen zittern immer Russe, der 1860 im italienischen Unab- schwand er. Es war seine Art, Prioritäten noch durch London. Viele Briten fürch- hängigkeitskrieg gekämpft hatte. Er lei- zu setzen. 45 Minuten für den Rest der ten, dass das mit der kleinen Insel stimmt. tete einen Club der Gentleman-Reporter, Welt. CHRISTOPH SCHEUERMANN

120 DER SPIEGEL 38/2013 Szene Sport

Deutsche Frauenfußball- Nationalmannschaft beim Training THOMAS NIEDERMUELLER/BONGARTS/GETTY IMAGES NIEDERMUELLER/BONGARTS/GETTY THOMAS

SPIEGEL: FRAUENFUSSBALL haben, kam es sicherlich nicht aufs Welche Jungen-Altersklasse Spielresultat an. Das Spiel gegen die passt als Sparringspartner? Bayern-Jungs haben wir übrigens ge- Ballweg: Das muss man abschätzen, je wonnen. Seit Jahren schon nehmen nach Trainingsziel. Jungs sind mit Tests mit wir bei längeren Trainingslagern Jungs 16 Jahren unseren Frauen physisch hinzu, um bestimmte Situationen zu überlegen, vor allem bei der Schnellig- trainieren. Wir spielen nicht volle 90 Mi- keit. Gegen 14- und 15-Jährige spielen starken Jungs nuten, sondern je nach Belastung viel- wir gern, wenn sie aus den Leistungs- leicht viermal 20 Minuten oder zweimal zentren der Bundesligaclubs kommen. Ulrike Ballweg, 47, Co-Trai- 30. So können wir schnell testen, wie Die sind taktisch schon sehr gut aus- nerin der deutschen Frauen- taktisch Erlerntes umgesetzt wird. gebildet, trainieren ja fast unter Profi- fußball-Nationalmannschaft, SPIEGEL: Und das geht besser gegen jun- bedingungen. Das passt, wenn wir über besondere Übungs - ge Männer? etwa Forechecking trainieren oder Ge-

ESSLER/SVEN SIMON ESSLER/SVEN spiele gegen junge Männer Ballweg: Sie fordern uns. Wenn wir genpressing, also den Versuch, den gegen ein Frauen-Bundesligateam aus Ball gleich wieder dort zu erobern, wo SPIEGEL: Sie sind im Team von Bundes- der Region unseres Trainingslagers man ihn verloren hat. trainerin Silvia Neid unter anderem spielen, ist das schwierig. Die besten SPIEGEL: Sie passen sich bei Taktik und dafür zuständig, Gegner für Trainings- Spielerinnen wären ohnehin bei uns Spielsystemen wohl immer den Trends spiele auszusuchen. Stimmt es, dass im Kader. Der Unterschied zwischen im Männerfußball an? die deutschen Frauen neulich gegen nationalem und internationalem Stan- Ballweg: Nicht unbedingt. Das soge- 14-jährige Jungen von Bayern Mün- dard ist im Frauenfußball beträchtlich, nannte 4-2-3-1-System, das seit drei, chen gekickt und verloren haben? in Sachen Robustheit, Tempo, Hand- vier Jahren international als Nonplus- Ballweg: Wenn wir eine Trainingspartie lungsschnelligkeit wird bei uns mehr ultra bei den Männern gilt, spielen wir gegen eine männliche U14 bestritten verlangt als in der Bundesliga. seit zehn, zwölf Jahren.

STARS das unter anderem von Weltkonzernen wie Telefónica, Pepsi, Danone oder Adidas kam. Als die Vorwürfe im Juni gegen ihn publik geworden waren, hatte Messi noch behauptet: Leo in der Steuerfalle „Wir haben niemals Steuern hinterzogen.“ Inzwischen koope- rieren die Anwälte des argentinischen Fußball- Am Mittwoch beginnt der FC Barcelona die stars offensichtlich mit den Behörden – Messi hat Champions-League-Saison mit einem Heimspiel der spanischen Staatskasse die mutmaßlich hinter- gegen Ajax Amsterdam, ein vergleichsweise ange- zogenen Steuern samt Zinsen zurückgezahlt, nehmer Termin für Barças Superstar Lionel Messi, am 14. August überwies er fünf Millionen Euro. 26. Denn gut eine Woche später, am 27. Septem- Begleitet war die Überweisung von einem drei - ber, muss der beste Fußballer der Welt vor einer seitigen Schreiben seines Vaters an die Ermitt- Ermittlungsrichterin in seinem Wohnort bei Barce- lungsrichterin, in dem dieser einen Teil der Ver- lona erscheinen. Die spanischen Steuerbehörden antwortung für das inkriminierte Firmengeflecht beschuldigen Messi und seinen Vater Jorge Hora- übernimmt, die Hauptschuld indes einem frühe- cio, in den Jahren zwischen 2007 und 2009 über ren Geschäftspartner auflädt. Sein Sohn jedoch, Tarnfirmen in den Steuerparadiesen Belize und schreibt Vater Messi, sei komplett unschuldig – Uruguay Werbeerlöse in Höhe von 10,1 Millionen Lionel habe nicht die geringste „Ahnung“ von

Euro verschleiert und Steuern in Höhe von / IMAGO MARCA den Geldflüssen gehabt und sich „immer und aus- 4,1 Millionen Euro hinterzogen zu haben – Geld, Vater und Sohn Messi schließlich nur dem Fußballspielen gewidmet“.

DER SPIEGEL 38/2013 121 Sport

AUTORENNEN Zwei Welten In der Formel 1 macht sich Unsicherheit breit: Viele Renn- teams finden kaum noch Sponsoren und bangen um ihre Existenz. Ausgerechnet jetzt neigt sich die Ära des allmächtigen Bernie Ecclestone dem Ende zu.

edes Jahr wird anlässlich des Grand die Formel 1. Im Oktober wird Ecclestone Prix von Italien in Monza der Bernie allerdings 83 Jahre alt, seine Ära im Renn- JEcclestone Award verliehen, diesmal sport neigt sich dem Ende zu. Womöglich erhält Niki Lauda die Auszeichnung, „für ist er noch zu Lebzeiten weg. Bald ent- seine sportlichen und unternehmerischen scheidet das Münchner Landgericht, ob Verdienste um die Geschichte der For- Ecclestone wegen Bestechung der Prozess mel 1“. Ecclestone überreicht den Preis gemacht wird. Das könnte ihn den Posten persönlich. Das klingt nach Ballsaal, Fan- als Formel-1-Geschäftsführer kosten, sein faren, Smoking, Festreden, Champagner. Ein und Alles auf dieser Welt. Die Realität sieht schlichter aus. Ausgerechnet in dieser Phase breitet Kurz vor Rennstart tritt der greise sich in der Formel 1 eine Finanzkrise aus. Ecclestone durch die verdunkelte Schie- Außer Spitzenteams wie Red Bull oder betür des Motorhome, seines unschein- Ferrari können die Rennställe kaum noch baren Domizils im Fahrerlager. Auf ihre Kosten decken. Ecclestone hat die einem Beistelltisch neben der Tür steht Serie oft durch schwierige Zeiten gelotst. die Trophäe, sie sieht aus, als hätte man Jetzt könnte es passieren, dass es eine sie im Ersatzteillager aufgetrieben: eine Krise ohne Krisenmanager wird. Bremsscheibe, aufrecht auf einem Sockel Falls Ecclestone bliebe: Würde er die aus Kunststoff. Lauda hat einen grauen Probleme überhaupt lösen? In den ver- Pulli und verwaschene Jeans an, seine gangenen Monaten hat er mit fast allen Hände stecken in den Hosentaschen. Rennställen jene Verträge verlängert, in Ecclestone wird aufgefordert, Lauda denen die Preisgelder geregelt werden. den Preis zu geben. „Geben? Ich bin kei- Ecclestone gewährt den Topteams für de- ner, der gibt“, sagt Ecclestone und grinst. ren Unterschrift hohe Bonuszahlungen Das löst Heiterkeit bei den Umstehenden und hat so den Konflikt zwischen Reich aus, jeder weiß, dass er es nicht durch und Arm verschärft. Red Bull kassiert al- Großzügigkeit zum Multimilliardär ge- lein fürs Zustimmen angeblich 60 Millio- bracht hat. Lauda zieht zum Dank seine nen Euro, kleine Rennställe bekommen Kappe vom vernarbten Schädel und deu- kaum etwas. Aber würden sie nicht un- tet eine Verbeugung an. Gemeinsam hal- terschreiben, wären sie von Ecclestones ten sie den Fotografen die Bremsscheibe Millionentopf ganz abgeschnitten. hin. Dann verschwinden die beiden, hin- Viele in der Formel 1 sind verunsichert. ter ihnen schließt sich die Schiebetür. Einige können sich eine Welt ohne Eccle- Bloß eine Viertelstunde dauert die Ze- stone schon deshalb nicht vorstellen, weil remonie. Aber die Zeit reicht aus, um sie diese Welt gar nicht anders kennen. vorgeführt zu bekommen, wie Ecclestone Andere fürchten, dass der greise Chefver- tickt. Er meidet pompöse Auftritte, agiert markter die Realität nicht mehr sieht und lieber hinter den Kulissen, lässt andere längst Teil des Problems ist, nicht der Lö- zu sich kommen und schlägt aus mög- sung. Wenn Ecclestone das Gegenteil des- lichst allem Profit. Der Preis, der nach sen sagt, was er wenige Stunden vorher ihm benannt ist, wird von einem Brem- von sich gegeben hat, galt das meist als senhersteller gestiftet, das erspart Eccle- List. Inzwischen glauben einige, darin An- stone die Kosten für den Pokal. Vermut- zeichen von Senilität zu erkennen. lich verdient er sogar daran, seinen Na- So oder so: Die Unruhe steigt. men herzugeben, denn es widerspräche Es geht ja nicht einfach um einen Sport, seinen Prinzipien, etwas umsonst zu ma- es geht um ein Milliardenunternehmen, chen. Seit 2011 gibt es den Bernie Eccle- das sich weltweit ausgebreitet hat, mit stone Award, und der erste Preisträger Rennen in Singapur, Texas und der süd- hieß damals: Bernie Ecclestone. koreanischen Provinz. Es hängen Aber- Kein anderer Sport auf der Welt hängt tausende Arbeitsplätze daran, vom Rei- so sehr von einer einzigen Person ab wie fenaufpumper bis zum CEO, sie arbeiten

122 DER SPIEGEL 38/2013 Formel-1-Autos in Monza „Man kann den Erfolg kaufen“

für Teams, deren Anteile unter anderem von Investoren aus der Finanzwelt oder von Königshäusern gehalten oder an der Börse gehandelt werden. Ecclestone hat den Grand-Prix-Sport stets mit Geld versorgt, abkassiert bei Fernsehsendern, Streckenbetreibern, Re- gierungen und Konzernen. Und weil da- bei so viel zusammenkam, hat er sich sel- ber die Taschen vollgestopft. Hob unter den Teams lautes Murren darüber an, gab er ein bisschen mehr ab. Was er aber nie abgab, war die Kontrolle. Sein System besteht aus Firmen, Unterfirmen und Un- terunterfirmen. Geschäfte werden gern über Offshore-Konten auf Briefkasten - inseln abgewickelt, der Geldfluss ist undurchschaubar und verästelt wie die Kanalisation von London, dem Sitz von Ecclestones Zentrale. Die Mehrheit der elf Teams leidet an akutem Sponsorenmangel, die schwierige Lage der Weltwirtschaft hat viele Werbe- budgets zusammenschrumpfen lassen. Und falls Konzerne ihre Logos auf For- mel-1-Autos platzieren möchten, dann tun sie es lieber klein bei den Siegern als groß bei den Verlierern. Parallel dazu sind die Kosten für Ent- wicklung und Renneinsatz der Autos enorm gestiegen. Um bei Boxenstopps Sekunden zu gewinnen, werden spezielle Wagenheber eingesetzt, Stückpreis 10000 Euro, und Radmuttern angeschraubt, die mit je 800 Euro zu Buche schlagen. An der Form von Bremsbelüftungen tüfteln manche Aerodynamikabteilungen eine ganze Saison hindurch. Unter 70 Millio- nen Euro im Jahr lässt sich kein Rennstall mehr betreiben, der kleinste unter ihnen, Marussia, hält mit diesem Etat gerade so durch. Ende vorigen Jahres ging der spa- nische HRT-Rennstall pleite. Es trifft sogar siegreiche und etablierte Teams. Lotus gilt als hoch verschuldet, eine Last von angeblich 120 Millionen Euro drückt den englischen Rennstall. Die Schweizer Sauber-Mannschaft, seit 20 Jahren am Start, hat dank dreier russi- scher Investoren einen Bankrott abgewen- det. Lieferanten warten vielerorts darauf, dass ihre Rechnungen beglichen werden. Piloten wie der finnische Ex-Weltmeister Kimi Räikkönen (Lotus) oder der Deut- sche Nico Hülkenberg (Sauber) fahren trotz Außenständen bei Gehalt und Prä- mien weiter, weil ihnen in der laufenden Saison nichts anderes übrigbleibt, wollen sie nicht ohne Cockpit dastehen und ihre Karriere unterbrechen. Wer sich in diesen Wochen in der For- mel 1 umhört und umschaut, der be- kommt schnell mit, dass da etwas schief- läuft im größten Rennzirkus der Welt. Das Motorhome von Marussia steht

HOCHZWEI / IMAGO weit hinten im Fahrerlager von Monza, 123 Sport fernab der palastartigen Hochglanzbau- In der Nähe von Woking, einem Vorort ten von Red Bull, Ferrari und McLaren Londons, ist ein Raumschiff gelandet, je- am anderen Ende. Es ist ein schmaler, denfalls hat es den Anschein. Silbergrau doppelstöckiger Gerüstbau, drinnen ste- schimmernd liegt es da, rund, flach und hen Tische und Stühle wie vom Bau- breit hat es sich in die Landschaft geduckt. markt. Auf einem der Stühle sitzt Graeme Es heißt: McLaren Technology Centre. Lowdon und schaut frustriert. Er ist Team- Um hineinzugelangen, begibt man sich präsident, Sportdirektor und Mitbesitzer, zu einem der vier Zugangspavillons, geht die Mehrheit gehört dem russischen auf einer Wendeltreppe unter die Erd- Sportwagenbauer Marussia. Bislang hat oberfläche, weiter durch einen langen sich Lowdons Investment nicht ausge- weißen Gang, bis zur nächsten Treppe. zahlt. Die beiden Autos von Marussia fah- Oben angelangt, schweift der Blick durch ren regelmäßig am Ende des Feldes her- eine Fensterfront über einen künstlichen um, auch hier in Monza. See. Schaut man zur Seite, sieht man auf- Als sie vor drei Jahren in die Formel 1 gereiht Rennwagen parken, auf denen Na- eingestiegen seien, sagt Lowdon, seien men von Champions zu lesen sind: Lauda, die Aussichten vielversprechend gewesen. Prost, Senna, Häkkinen. Damals sei die Rede davon gewesen, die Vor 50 Jahren war der neuseeländische Kosten für alle drastisch zu reduzieren, Rennfahrer Bruce McLaren auf die Idee SPORTDIPLOMATIE 45 Millionen Euro pro Saison sollten aus- gekommen, seine Autos selber zu bauen, reichen, um die Rennen zu fahren, „alle heute arbeiten hier viele hundert Leute. hatten zugestimmt“. Doch dann wurden Die futuristische Fabrik hat fast eine hal- Bachs Kokon Vorschläge zerredet, verwässert und hin- be Milliarde Euro gekostet, und als sie tertrieben. Es blieb bei einem Abkom- 2004 eröffnet wurde, übernahm das Den Inner Circle des neuen men, das kaum Kontrolle und Strafe zu- Queen Elizabeth. McLarens Erfolgsstory IOC-Präsidenten bildet eine Hand- lässt. Red Bull zum Beispiel interpretiert belegt den immensen Aufschwung der das Limit für die Betriebsstunden seines Formel 1. Aber an McLaren lässt sich voll langjähriger Vertrauter. Windkanals großzügig, um den Rennwa- auch der drohende Abschwung erkennen. Einige hoffen auf Beförderung gen aerodynamisch weiterzuentwickeln. Im ersten Stock sitzt Teamchef Martin an den olympischen Hof. Spitzenteams, die über die üppigsten Whitmarsh, 55, schlank, drahtiges Haar, Etats verfügen, haben das geringste Inter- Anzug, smartes Lächeln. McLaren gehört esse daran, sich maßregeln zu lassen. zu den Topteams, aber anders als Red Seitdem Lowdon in der Formel 1 dabei Bull, Ferrari und Mercedes, die erheblich in letzter Wangenkuss noch für den ist, hat Red Bull jede Saison die Weltmeis- von ihren Mutterkonzernen mitfinanziert argentinischen Multimillionär Ge- terschaft gewonnen, der Etat der Öster- werden, muss Whitmarsh sehen, wie er Erardo Werthein, der das Treffen des reicher liegt bei etwa 230 Millionen Euro, sein Budget zusammenbekommt. Er lä- Internationalen Olympischen Komitees kein anderes Team hat mehr in der Kasse. chelt selten während des Gesprächs. (IOC) im Hilton-Hotel in Buenos Aires Lowdon sagt: „Die Regeln sehen so aus, Ende dieser Saison verliert McLaren organisiert hatte, dann setzte sich die dass man den Erfolg kaufen kann. So ein- seinen Hauptsponsor, einen Mobilfunk- Fahrzeugkolonne des neuen IOC-Präsi- fach ist das. Ich kann Ihnen genau sagen, konzern, das reißt eine Lücke von etwa denten in Bewegung. Thomas Bach, 59, wie unser Auto zwei Sekunden pro Run- 50 Millionen Euro. Außerdem liefert Mer- Wirtschaftslobbyist aus dem baden-würt- cedes 2014 seine Motoren nicht mehr kos- tembergischen Tauberbischofsheim, seit tenlos – macht 15 bis 20 Millionen Euro, vorigem Dienstag neunter Präsident in Vorbei sind die Zeiten, die zusätzlich nötig sind. Die gute Nach- der Geschichte des IOC, wurde wie ein als McLaren es sich richt ist, dass der neue Sponsor bereits Staatschef eskortiert. feststeht. Wahrscheinlich kommt er aus Vier Motorräder der Polizei machten leistete, zwei Weltmeister Mexiko. Damit zahlt sich aus, dass Whit- mit Blaulicht den Weg frei zum Flughafen marsh den mexikanischen Fahrer Sergio Ezeiza. Der Tross des neuen IOC-Chefs ins Auto zu setzen. Pérez, 23, verpflichtet hatte. Vorbei sind und die Sicherheitskräfte verteilten sich die Zeiten, als McLaren es sich leistete, auf fünf schwere Karossen. Im zweiten de schneller werden könnte und was es zwei Weltmeister ins Auto zu setzen. Wagen, einem silbernen Audi Q 7: Tho- kosten würde. Aber das Geld haben wir „Wir haben einen Fehler gemacht“, sagt mas Bach und seine Frau Claudia. nicht.“ Whitmarsh und meint damit die ganze Die Protokollmaschine des IOC dik- Marussia ist darauf angewiesen, dass Formel 1. Die Kosten müssten dringend tiert ab sofort Bachs Leben. Der promo- seine Piloten Sponsorengelder mitbrin- reduziert werden, um ein Sterben von vierte Jurist hat sich drei Jahrzehnte lang gen. Für diese Saison hatte der Rennstall Rennställen zu verhindern. „Wir tun nicht nach diesem Job verzehrt, nun zieht er einen Neuling aus Brasilien verpflichtet, genug. Ich sage allen: Lasst uns nicht bis mit seiner Ehefrau, mit der er seit 1977 der Millionen versprach, doch als dessen zur nächsten Krise damit warten.“ verheiratet ist, nach Lausanne. Die Gym- Geldgeber die erste Rate schuldig blieben, Whitmarsh verhehlt nicht, dass die Top- nasiallehrerin wird ihre halbe Stelle wurde der Fahrer sofort gefeuert. Als Er- teams bei Ecclestone vergleichsweise viel aufgeben und sich auf den Job als olym- satz übernahm der Franzose Jules Bian- abbekämen, vor allem bei den einmali- pische First Lady konzentrieren – das chi, 24, das Cockpit. Bianchi bringt wenig gen Sonderzahlungen. Er habe, behaup- Damenprogramm am Genfer See ist als Geld mit, besitzt dafür einen anderen Vor- tet Whitmarsh, eine gerechtere Verteilung Stimmungs- und Gerüchtebörse nicht zu teil. Er gehört dem Talentkader von Fer- angemahnt und gezögert, das neue Ab- unterschätzen. rari an. Folge: Von 2014 an werden die kommen abzuschließen. Obwohl McLa- An diesem Dienstag ist symbolische Marussia-Boliden von Ferrari-Motoren ren darin einen zweistelligen Millionen- Schlüsselübergabe im IOC-Hauptquartier, angetrieben. Ein guter Deal für alle Be- bonus zugesichert bekam. dem Château de Vidy. Bach hat dem am- teiligten, aber er zeigt, nach welchen Ge- Aber unterschrieben hat er dann doch. tierenden Generaldirektor Christophe setzen der Überlebenskampf abläuft. DETLEF HACKE De Kepper, einem loyalen Gefolgsmann

124 DER SPIEGEL 38/2013 IOC-Präsident Bach (l.)* Netzwerken ist Bestandteil seiner DNA

Der ehemalige Chefredakteur des Sport- Informations-Dienstes betreute fast zwei Jahrzehnte lang für den Daimler-Konzern das IOC-Entwicklungshilfeprogramm und übergab in dieser Zeit rund 160 Kleinbus- se an Nationale Olympische Komitees. Er saß bei fast allen IOC-Mitgliedern im Wohnzimmer, man kennt ihn in der Bran- che als „Mr. Mercedes“. Bei zahlreichen Reisen hat ihn Bach begleitet, lange Zeit agierte Kühnle als eine Art Kommunikationsberater und Stimme seines Herrn. Im Frühjahr, kurz bevor er seine Kandidatur bekanntgab, hatte Bach seinen alten Buddy mal wie- der angerufen und um Rat gebeten: „Die- ter, was kann da noch kommen?“ Die beiden gingen die üblichen Themen durch, die Bachs Ruf als eiskalter Karrie- rist zementiert hatten: seine Lobbyisten- tätigkeit für Siemens und Holzmann; sei- ne Zeit bei Adidas als Adlatus von Horst Dassler, der den Weltsport über die Mar- ketingfirma ISL mit einem gigantischen Korruptionsnetz überzogen hatte; seine Geschäftsbeziehungen zu Kuwait über die Tauberbischofsheimer Maschinenbaufir-

ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES ALEXANDER HASSENSTEIN ma Weinig AG sowie die Investment - firmen Melius und K.S.C.; seine Präsident- des vorherigen IOC-Präsidenten Jacques auch in Lausanne still und wirkungsvoll schaft in der arabisch-deutschen Handels- Rogge, schon vor Wochen signalisiert, mit zu dienen. anbahnungsgesellschaft Ghorfa; und nicht ihm arbeiten zu wollen. Bis zu den von Eine seiner wichtigsten Kräfte nennt zuletzt die Frage, was Bach als Athleten- vielen Problemen überschatteten Olym- Bach manchmal „meine Sklaventreibe- sprecher denn wohl wusste von den pischen Winterspielen 2014 in Sotschi rin“. Ihr Name: Monika Scherer, seit Dopingpraktiken westdeutscher Sportler wird das Duo gewiss kooperieren. 1983 arbeitet sie in Tauberbischofsheim in den siebziger Jahren. Aber danach? Gut möglich, dass dann als Bachs Sekretärin. Scherer ist die Wenn Journalisten auf diesen Feldern einer von Bachs Getreuen diesen einfluss- Herrin über all seine Termine, in Sport, nachbohrten, schickte Bach den Berliner reichen Posten übernehmen wird. Einer Wirtschaft und Politik. In ihrem Zim- Anwalt Christian Schertz vor, der sich als aus seinem Kokon. mer 340 im Hilton-Hotel in Buenos Aires, Prätorianer gerierte und auch bei höflich Olympisches Netzwerken ist Bestand- einer Art Kampa, liefen die Fäden von formulierten Fragen schon mal mit „Straf- teil von Bachs DNA seit mehr als drei Bachs Stimmfangprojekt zusammen, hier anzeige wegen übler Nachrede und Ver- Jahrzehnten, da macht ihm niemand et- war der Bienenstock seines Teams. Das leumdung“ drohte. Bach erklärte diese was vor. Sein wichtigster Verbündeter im erste Treffen gab es täglich um 7.30 Uhr, Taktik vor seinem großen Auftritt von Machtzentrum des IOC ist zweifellos kurz darauf ein schnelles Frühstück – und Buenos Aires in einem für ihn typischen Scheich Ahmad al-Sabah aus Kuwait, der danach Dutzende eingefädelter Verabre- Schachtelsatz: „Man muss mir das Recht unverhohlen für den Deutschen warb. dungen. lassen, von rechtsstaatlichen Möglichkei- Doch auch das südafrikanische IOC- Zwei sprachenbegabte junge Frauen ten Gebrauch zu machen, um nicht an mei- Mitglied Sam Ramsamy, verheiratet mit vom Deutschen Olympischen Sport-Bund ner eigenen Diffamierung mitzuwirken.“ einer Ostdeutschen, trommelte ungeniert (DOSB) taten sich dabei besonders her- Dass die Welt sich trotzdem nicht au- für Bach. „Natürlich habe ich für Thomas vor: Katrin Grafarend, seit 2006 Ressort- tomatisch so dreht, wie sie es vielleicht gestimmt“, sagt Ramsamy, „ich habe auch leiterin Internationales und seither stän- erwarten würden, weil ihr Boss jetzt IOC- für ihn gearbeitet, und ich hoffe, das dig mit dem neuen IOC-Chef auf Reisen, Präsident ist, mussten einige von Bachs hat ihm weitere Stimmen gebracht. Tho- sowie Christiane Krauter von der Ver- Leuten allerdings gleich am Tag nach der mas ist seit langem einer meiner besten marktungsfirma Deutsche Sport-Marke- Wahl erkennen. Freunde.“ ting, einer Tochtergesellschaft des DOSB. Auf dem Hinflug nach Buenos Aires Dass Bach die Wahl gegen seine fünf Krauter vertrat Grafarend während einer am 31. August, Abflug 22 Uhr in Frank- Herausforderer klar gewann, ist nicht der Babypause, etwa bei den Olympischen furt, hatten sich vier von ihnen noch mit Arbeit von PR-Strategen und Spindokto- Sommerspielen 2012 in London, in die- ihren Lufthansa-Meilen in die Business ren zu verdanken. Der Deutsche hat bei sem Jahr kontakteten die beiden Frauen Class hochstufen lassen, Claudia und Tho- seiner Stimmenjagd auf die Ratschläge gemeinsam zum Wohle ihres Chefs. mas Bach flogen First Class. externer Einflüsterer verzichtet. Als Meister der Hinterzimmerdiploma- Beim Rückflug am vorigen Mittwoch aus Stattdessen setzte Bach auf ein ein- tie in Bachs Team gilt Dieter Kühnle, 68. Buenos Aires, LH 511 um 16.55 Uhr, musste gespieltes Team teilweise langjähriger die eingeschworene Bach-Truppe jedoch Vertrauter. Es ist eine Handvoll Mit- wieder in der Economy Platz nehmen. First * Nach seiner Wahl am vorigen Dienstag in Buenos arbeiter, die seinen Inner Circle bildet – Aires mit dem kuwaitischen IOC-Mitglied Scheich und Business Class waren ausgebucht mit und die nun hoffen darf, dem IOC-Chef Ahmad al-Sabah. IOC-Mitgliedern. JENS WEINREICH

DER SPIEGEL 38/2013 125 Prisma DEVEN STROSS

Wolken aus Eis Sogenannte Perlmutterwolken leuchten kristallen. Das eindrucksvolle Farbenspiel der irisierenden über der amerikanischen McMurdo-Forschungsstation in Wolken zeigt sich vor allem kurz nach Sonnenuntergang, der Antarktis. Sie bilden sich bei extrem niedrigen Tempera- wenn die kleinen und großen Kristalle das Sonnenlicht unter- turen in der Stratosphäre und bestehen aus Myriaden Eis- schiedlich stark brechen.

ANTHROPOLOGIE ckerei. Dagegen nahm der Testosteron- wert der Indiomänner durch Fußball- spielen nur um 30 Prozent zu. Offen- Treibstoff bar spiele das männliche Geschlechts- hormon beim körpereigenen Muskel- zum Draufhauen doping eine größere Rolle als bisher vermutet, schreiben die Forscher in Baumfällen kurbelt bei Männern die der Online-Ausgabe des Wissenschafts- Testosteronproduktion stärker an als blatts „Evolution and Human Beha- aggressionsgeladener Gruppensport. vior“. Statt nur Aggressions- und Bei einer Studie mit Tsimane-Urein- Konkurrenzverhalten anzustacheln, wohnern im bolivianischen Amazonas- sei Testosteron in der Entwicklungs- gebiet haben Anthropologen von der geschichte des Menschen offenbar der University of California in Santa Bar- Schlüssel gewesen, bei der Urbarma- bara festgestellt, dass Speichelproben chung der Natur aus vergleichsweise der indigenen Baumfäller nach einer wenig Muskelmasse ein Maximum an Stunde schweißtreibender Rodungs - Kraft und Ausdauer herauszuholen. arbeit fast 50 Prozent mehr Männlich-

keitshormon enthielten als vor der Pla- TRUMBLE C. BENJAMIN Tsimane-Indio beim Baumfällen

126 DER SPIEGEL 38/2013 Wissenschaft · Technik

RAUCHEN tig das Sonnensys- tem verlassen. 18,8 Milliarden Kilo- Verlorene Lebensjahre meter von der Erde entfernt, viermal Auch ältere Raucher müssen mit einer weiter als der ferns- deutlichen Verkürzung ihrer verblei- te Planet Neptun, benden Lebenszeit rechnen. Zu die- hat sie mittlerweile sem Ergebnis kommen britische Epi - den Randbereich demiologen, die in der sogenannten der Heliosphäre Whitehall-Studie die Gesundheits - durchflogen, wo der daten von 7000 ehemaligen Londoner Sonnenwind abebbt. Staatsbediensteten ausgewertet haben. Und da sie im inter- Die verbleibende Lebenserwartung 70- stellaren Raum Jähriger betrug demnach rund 18 Jah- nicht abgebremst re, wenn sie nie regelmäßig geraucht Raumsonde „Voyager 1“ wird, rast die Sonde

hatten, aber nur durchschnittlich 14 / AP DPA NASA immer weiter fort, Jahre, wenn sie auch im Alter noch 60-mal schneller als qualmten. „Welchen Nutzen es haben RAUMFAHRT ein Düsenflugzeug. Trotz des hohen könnte, auch spät im Leben noch mit Reisetempos wird es aber viele Gene- dem Rauchen aufzuhören, ist bisher rationen dauern, bis der Botschafter nur wenig erforscht worden“, erklärt Reise zur roten Sonne der Menschheit sein nächstes Ziel er- Teammitglied Jonathan Emberson. reicht: Erst in rund 40000 Jahren pas- Bekannt war aus früheren Untersu- Sie dringt in Räume vor, die nie ein siert „Voyager“ den roten Zwergstern chungen lediglich, dass jeder vierte Mensch zuvor gesehen hat: Die 1977 Gliese 445. Ob die fremde Sonne von langjährige Tabakkonsument seinen gestartete Forschungssonde „Voyager einem bewohnten Planeten umkreist 70. Geburtstag ohnehin nicht erlebt. 1“ hat nach Angaben der Nasa endgül- wird, ist nicht bekannt.

GENTECHNIK Tiefsee-Tintenfisch mit Tentakel-Köder (Pfeil) Feind der Bauern

Gegner gentechnisch veränderter Nutzpflanzen befürchten, dass das Erbgut der Designer-Gewächse auf Wildpflanzen übertragen werden kann und Resistenzen bei Schädlingen begünstigt. Zwei Untersuchungen scheinen die Sorgen der Kritiker nun zu bestätigen. Im US-Bundesstaat Illi- TIERE nois etwa werden gentechnisch ver - änderte Maispflanzen häufig vom Maiswurzelbohrer heimgesucht. Ge- Tintenfische nau gegen diesen Schädling sollten sie eigentlich gefeit sein. Die neuerstark- mit Angel ten Plagegeister seien ein „schreck- licher Feind“ für die Bauern, warnt Sogar in der nachtschwarzen Tiefe der der US-Pflanzenexperte Michael Gray. Ozeane wird getrickst und getäuscht. Mit Ökologen von der Fundan-Universität ferngesteuerten Tauchrobotern haben Biologen in Shanghai wiederum berichten, dass vom Monterey Bay Aquarium Research Institute in Reis, der mit einer Resistenz gegen das Kalifornien fast 2000 Meter unter der Meeresoberfläche Herbizid Glyphosat ausgerüstet ist, eine besonders ausgeklügelte Jagdtechnik beobachtet. Im diese Eigenschaft an Wildreis weiter - Atlantik und im Nordpazifik lebende Tintenfische ziehen dabei lan- gegeben hat. Die durch den Genreis ge, ungewöhnlich dünne Tentakel wie Angelleinen durchs Wasser, um veränderte Wildreisvariante erwies Beutetiere anzulocken. An den verdickten Enden der Tentakel vollführen sich im Labor sogar als besonders winzige Hautlappen Schwimmbewegungen, die denjenigen kleinerer fruchtbar und schnell wachsend. In der Fische zum Verwechseln ähneln. Beutetiere können diese ausgeworfenen Natur könnte sie andere Wildsorten „Köder“ in der stockdusteren Tiefsee zwar nicht sehen, aber sie nehmen daher verdrängen. „Dies ist ein Bei- offenbar die von den flatternden Membranen erzeugten Schwingungen wahr. spiel für einen negativen Effekt von Nur ein Rätsel haben die Zoologen einstweilen nicht gelöst: wie die ange- Genpflanzen auf die Umwelt“, kom- lockten Opfer schließlich von den Tintenfischen gefangen werden. mentiert der britische Pflanzen - genetiker Brian Ford-Lloyd im briti-

schen Magazin „Nature“. MBARI 2013

DER SPIEGEL 38/2013 127 TIERSCHUTZ Fleischmarkt des Grauens Ob Löwenwurst oder Gorillasteak – jedes Jahr werden Hunderte Tonnen Wildbret aus dem afrikanischen Dschungel nach Europa geschmuggelt. Mit Hilfe von Gentests wollen Forscher den illegalen Handel mit Buschfleisch stoppen.

uweilen haben die Zöllner am Flug- Die Einfuhr von sogenanntem Busch- Und wenn die rottenden Fundsachen hafen Zürich leichtes Spiel. Wenn fleisch ist zwar verboten. Doch weil tatsächlich einmal auf den Tischen des Zdie Schweizer Fahnder verschmor- der Nachweis so schwierig ist, werden Zolls landen, sind die Kontrolleure meist te Affenköpfe aus verdächtigem Gepäck nach Expertenschätzung jedes Jahr meh- hilflos; es fehlen die technischen Mittel, fischen, liegt es auf der Hand, dass das rere hundert Tonnen Fleisch von ge- um die stinkende Kost als Buschfleisch Fleisch von exotischen Tieren aus Afrika schützten Tierarten aus Afrika illegal zu identifizieren. So kommen die Täter stammt. nach Europa importiert. Nicht nur Ar- bislang meist ungestraft davon. Eine größere Herausforderung sind ge- tenschützer sind alarmiert. Veterinäre Welch aufwendige Detektivarbeit erfor- räucherte oder getrocknete Filetstücke, warnen vor Krankheitserregern, die mit derlich ist, zeigt eine Studie, die Forensi- die Zöllner im Zustand fortgeschrittener den Überresten ausgeweideter Schimpan- ker der Universität Zürich in Zusammen- Fäulnis in Koffern oder Taschen aufspü- sen, Elefanten oder Krokodile einge- arbeit mit Tierschützern in der Schweiz ren. „Diesen Gestank werde ich mein gan- schleppt werden. vor wenigen Wochen abgeschlossen ha- zes Leben lang nicht vergessen“, berich- Besonders die Flughäfen in Paris, Lon- ben. Der Aktivist Bruno Tenger und die tete der Zollbeamte Peter Kaufmann un- don und Brüssel gelten traditionell als Biologin Kathy Wood sind dem Schmug- längst dem Informationsmagazin des Einfallstore für die gruselige Fracht; dass gel mit Buschfleisch schon seit einiger Zeit Schweizer Zolls. Ob es sich bei den fauli- auch Zürich dazugehört, ist eine neue Er- auf der Spur. Bislang fehlten allerdings gen Funden um Kalbsschnitzel vom Metz- kenntnis. Begünstigt wird das Treiben, wissenschaftlich fundierte Daten, in wel- ger handelt oder um Antilopensteaks aus weil an diesen Großzentren des Flugver- chem Umfang filetierte Löwen oder Go- dem zentralafrikanischen Dschungel, kön- kehrs viele Gepäckstücke nicht gründlich rillas aus Afrika nach Europa gelangen. nen auch herbeigerufene Veterinärmedi- genug begutachtet werden können, um Bei großangelegten Stichproben konfis- ziner in den wenigsten Fällen sagen. Exotenfleisch aufzuspüren. zierten die Mitarbeiter des Zolls an den

128 DER SPIEGEL 38/2013 Wissenschaft

Jagdobjekt Löwe Flughäfen in Zürich und Genf nahezu 220 vor sich hin modert, bis sie schließlich Kilogramm Fleisch. Proben sämtlicher an ihren Bestimmungsort gelangt? Zu- Funde wurden der Biologin Nadja Morf mindest ein kleiner Teil des Buschflei- von der Universität Zürich übergeben. sches werde „als Erinnerung an zu Hau- Das Ergebnis der Untersuchungen im fo- se“ von Afrikanern gegessen, die in rensischen Labor, das nun vorliegt, über- Europa lebten, vermutet der Schweizer rascht auch die Forscherin: Über 90 Pro- Tierschutzaktivist Tenger. Diese Abneh- zent des beschlagnahmten Fleisches mer seien damit vertraut, Fleisch von stammten tatsächlich aus dem afrikani- zweifelhafter Güte in Suppen oder Ein- schen Dschungel. töpfen zu verarbeiten. Bei ihren Analysen konnte Morf min- Andere Kunden in Europa wiederum destens 36 verschiedene Tierarten iden- sehen in dem Fleisch wilder Tiere eine tifizieren – darunter Exoten wie die gesunde Alternative zu jenen Erzeugnis- Gabunviper, der Afrikanische Quasten - sen der hiesigen Fleischindustrie, die un- stachler oder die Stachelrand-Gelenk- ter intensiver Gabe von Antibiotika und schildkröte. Wachstumshormon produziert werden. Um die genetische Her- Die meisten Konsumen- kunft der Kadaverproben Fleisch exotischer Tiere ten von Buschfleisch indes zu klären, musste Morf erzielt sehr hohe Preise. suchen einfach nur den Ge- DNA-Material aus den häu- So kostet z.B. ein Kilo schmackskick des Außerge- fig vor Fäulnis suppenden Gorillafleisch bis zu wöhnlichen. So bezahlt auf Fleischproben extrahieren – Extravaganz abonnierte ein mühevoller Vorgang. Kundschaft laut Tenger bis Mitunter waren mehrere 32000 € zu 8000 Euro für 250 Fleischsorten zu einer Gramm des schwarzen, süß- Wurst verarbeitet worden, lich schmeckenden Flei- was ihre Bestimmung nahe- sches eines Gorillas. zu unmöglich machte. Die Ein Kilo Löwensteak Tierschützer wie Tenger brauchbaren DNA-Sequen- wird in Illinois, USA, für verfolgen indes nicht das zen speiste die Biologin in Ziel, den Abnehmern von eine Gen-Datenbank des Buschfleisch auf die Schli- amerikanischen National 58 $ che zu kommen. Die Fleisch- Center for Biotechnology angeboten. detektive wollen lieber die Information in Maryland Organisationsstrukturen des ein. Handels mit der vermeintli- Mit den Nachweisen der Ein Kilo Elefantenfleisch chen Delikatesse aufdecken. Zürcher Gendetektivin lie- kostet in Afrika bis zu „Mit großer Wahrschein- gen nun erstmals verlässli- lichkeit gibt es in der che Daten darüber vor, in Schweiz einen Hauptvertei- welchem Ausmaß kriminel- 13 $ ler“, glaubt Tenger. In le Händler das Fleisch ge- In Europa oder den USA Frankreich etwa gelang es, schützter Arten aus dem würde der Preis nach drei Frauen mittleren Alters Busch über die Grenze Expertenmeinung rund aufzuspüren, die in Paris schaffen. Doch bis sich die 20fach höher liegen. den Handel mit Buschfleisch genetischen Fingerabdrücke per Telefon und von der von Fleischproben routine- Straße aus aufgezogen hat-

HANNES LOCHNER / BARCROFT MEDIA / ANIMAL.PRESS / BARCROFT HANNES LOCHNER mäßig analysieren lassen, dürfte es noch ten. Die Händ lerinnen verfügten über ein eine Weile dauern. Bis dahin müssen sich großes Sortiment an Spezialitäten – dar- die Zöllner weiter mit herkömmlichen unter Geschnetzeltes von der Großen Methoden bemühen, den Schmugglern Rohrratte, Krokodilsteak und Stachel- auf die Spur zu kommen – wie jenem Ver- schweinschnitzel. dächtigen, der kürzlich sein Exotenfleisch Nach Einschätzung Tengers gleicht das in einem Sack mit Erdnüssen in die Geschäft mit Dschungelfleisch jenen Schweiz zu schleusen versuchte. Strukturen des organisierten Verbre- Ähnlich dreiste Versuche beobachten chens, wie sie vom internationalen Dro- immer wieder auch deutsche Zöllner. Im genhandel bekannt sind. US-Wissen- vorigen Jahr etwa fiel Beamten des Zolls schaftler haben in einer Studie zeigen am Frankfurter Flughafen ein Äthiopier können, wie exorbitant der Preis für die auf, der einen großen Koffer mit stark heikle Ware steigt, je weiter sie sich von riechendem Inhalt bei sich trug. Bei nä- ihrem Ursprungsort entfernt. Im New herer Prüfung zeigte sich, dass der Mann Yorker Stadtteil Brooklyn mit seiner aus- im Gepäck rund 45 Kilogramm Antilo- gefallenen Restaurantszene stießen die penfleisch transportierte – halb gefroren, Autoren etwa auf das Fleisch vom Rot- halb faulend. Die Fracht sei für afrikani- flankenducker – einer in West- und Zen- sche Restaurants im Großraum Frankfurt tralafrika beheimateten Antilopenart. bestimmt gewesen, beichtete der Fleisch- Auf seinem Weg von einem Dorf in

TENGWOOD.ORG schmuggler. Ghana in die gut 8000 Kilometer entfern- Beschlagnahmtes Buschfleisch Doch wer verzehrt allen Ernstes der- te Weltstadt an der amerikanischen Ost- Außen angekokelt, innen roh artige Ekelkost, die tagelang ungekühlt küste war der Preis des Tieres um das

DER SPIEGEL 38/2013 129 Wissenschaft IMAGO / AP DELAY JEROME Bedrohte Tierarten Elefant, Gorilla: Organisiertes Verbrechen wie beim Drogenhandel

25fache gestiegen. „Das Fleisch der ar- Die Zöllner in Paris widmeten sich dass es bei ihm teures Primatenfleisch men Leute auf dem Land wurde zur Mahl- dem illegalen Fleischhandel nicht mit zu kaufen gibt. zeit der Reichen in der Stadt“, resümieren der gebotenen Dringlichkeit, bemängeln „Eine Vielzahl von einst überaus leben- die Autoren. die Autoren der Studie. Denn die Suche digen Tiergemeinschaften ist durch den Die Spitzenpreise garantieren aber kei- nach dem Fleisch koste zu viel Zeit. Fleischhandel derart geplündert worden, ne hohe Qualität des Fleisches. Noch im Hinzu kommt: Der Umgang mit der dass sie vor der Ausrottung stehen“, be- Dschungel werden die Tierkadaver auf übelriechenden Schmuggelware ist ekel- klagt Brashares. Inzwischen zeigt sich recht primitive Weise für ihre etliche Tage haft und oft sogar gesundheitsgefähr- auch das Büro für Drogenkontrolle und dauernde Reise präpariert: Zunächst zie- dend. In der internen Fahndungshierar- Verbrechensbekämpfung der Vereinten hen die Jäger ihrer Beute das Fell ab. An- chie gilt das Aufspüren von Buschfleisch Nationen alarmiert und hat eine Resolu- schließend werden die Kadaver mit ei- denn auch als unattraktiv – ganz anders tion verabschiedet, die den Handel mit nem Gasbrenner geräuchert und auf diese als das Aufspüren von Drogen oder Buschfleisch als schweres Verbrechen Weise scheinbar haltbar gemacht. Falschgeld. einstuft. In Wahrheit wird die Haut des toten Dabei ist auch der Handel mit dem Den gemeinen Connaisseur von Tieres bei dieser fragwürdigen Konservie- Fleisch von Affen, Löwen und Alligato- Dschungelfleisch dürfte die Ächtung rungstechnik häufig nur angesengt; von ren ein weltweit florierendes Milliarden- durch die Uno wenig kümmern. Abschre- innen bleibt der Körper roh und beginnt geschäft. Der amerikanische Wildtieröko- ckender könnte wirken, was US-Veteri- alsbald zu faulen. Schon wenn die bizarr loge Justin Brashares von der University närmediziner herausgefunden haben. deformierten Tierleiber an den lokalen of California in Berkeley etwa stieß un- Die Wissenschaftler haben in Busch- Verkaufsständen feilgeboten werden, ist längst in der kanadischen Metropole To- fleisch-Proben diverse Arten von Her- die Ware nach westlichen Maßstäben ronto auf einen regen Handel mit den pesviren nachgewiesen. Zudem stießen kaum mehr genießbar – ein Fleischmarkt Geschöpfen aus der Wildnis. Der Wis- die Forscher auf Retroviren vom Typ SIV, des Grauens. senschaftler entzifferte sogar jene Ge- die als Vorläufer des Aids-Erregers in Kamerun gilt als Hauptumschlagplatz heimsprache, die die Händler mit ihren Verdacht stehen. In Bangladesch infizie- für den Handel mit Buschfleisch; in eingeweihten Kunden pflegen. Ein Ver- ren Makaken immer wieder Menschen Douala, der größten Stadt des Landes, käufer, der an einem leeren Tisch sitzt, mit SIV. Wie eine Reihe von Retroviren kommen Flugzeuge aus diversen afri- signalisiert Interessierten beispielsweise, können SI-Viren leicht ihre Gestalt ver- kanischen Staaten an. Von hier ändern – womöglich eines Tages gibt es auch Direktflüge nach mit tödlichen Folgen. Europa. In einer Studie beleuch- Hartgesottene Buschfleisch- teten Veterinäre und Zoologen Fans zeigen sich von derlei Risi- aus London, Toulouse und ken unbeeindruckt. So erkundig- Phnom Penh die Bedeutung des te sich im Feinschmeckerforum Flughafens Paris Charles de Chefkoch.de ein Teilnehmer Gaulle für das Geschäft mit der nach einem „Rezept für Affen- Dschungelware. gulasch“ und ergänzte wissbegie- Allein mit der Fluggesellschaft rig: „Mir würde auch schon rei- Air France werden pro Woche chen, wenn man mir sagt, wie ich demnach gut fünf Tonnen des il- das Fleisch zubereite.“ legalen Fleischs nach Europa im- Der Fragesteller traf jedoch portiert – über das Jahr kommen auf wenig Toleranz. Die Antwort so insgesamt 273 Tonnen Halb- eines Forumsmitglieds: „Wenn geräuchertes ins Land, darunter du wirklich einen Affen suchst, angekokelte Schimpansen und schneide doch einmal dein Spie- versengte Elefantenrüssel. Biologin Morf: Mühevolle Detektivarbeit im Genlabor gelbild aus.“ FRANK THADEUSZ

130 DER SPIEGEL 38/2013 zentrale für gesundheitliche Aufklärung untersucht, welche Frauen die Pille da- MEDIZIN nach nutzen. Das Ergebnis: Eine hohe Schulbildung macht es wahrscheinlicher, dass sie eingenommen wird. Genutzt „Je schneller, desto besser“ wird sie vor allem nach Kondomversa- gen. Und über 70 Prozent der jungen Mädchen, die die Pille danach genom- Julia Bartley kämpft gegen die Rezeptpflicht für die „Pille men haben, verhüten regelmäßig mit danach“: Durch eine Freigabe, sagt die Frauenärztin, Pille oder Kondom. SPIEGEL: Was muss eine Frau in Deutsch- ließen sich ungewollte Schwangerschaften leichter verhindern. land derzeit tun, um die Pille danach zu bekommen? Bartley, 47, leitet die Abteilung für landen sogar in Drogerien. Will man ein Bartley: Das hängt vom Wochentag und gynäkologische Endokrinologie an der Präparat rezeptfrei zugänglich machen, von der Uhrzeit ab. Während der Öff- Berliner Charité. gibt es gemeinhin zwei Voraussetzun- nungszeiten kann die betroffene Frau zu gen. Erstens: dass es keine Gefährdung einem niedergelassenen Frauenarzt ge- SPIEGEL: Frau Bartley, Sie fordern, die „Pil- bei bestimmungsgemäßem Gebrauch hen. Abends oder an den Wochenenden le danach“ rezeptfrei in Apotheken aus- gibt. Und zweitens: dass kein Miss- muss sie sich an eine Klinik mit Notfall - zugeben. Warum wäre das hilfreich? brauchs- und Abhängigkeitspotential be- ambulanz wenden, in der ihr das Rezept Bartley: In der Tat möchte ich, dass das steht. Beide Risiken gibt es bei der Pille ausgestellt wird. Medikament mit dem Wirkstoff Levonor- danach nicht. SPIEGEL: Was untersucht der Arzt? gestrel künftig ohne Rezept zu bekommen SPIEGEL: Kritiker fürchten, dass die Pille Bartley: Er fragt, in welchem Zeitraum des ist. Wir haben seit vielen Jahren Erfahrun- danach bei freiem Zugang als alleiniges Zyklus die Frau sich befindet, und führt gen mit dem Präparat. Die Freigabe würde Verhütungsmittel verwendet wird. eventuell einen Schwangerschaftstest es den Frauen leichtermachen, eine unge- Bartley: Wir kennen international 17 Stu- durch. Doch ob tatsächlich eine Schwan- wollte Schwangerschaft zu verhindern. dien, die sich mit dieser Frage befasst gerschaft eingetreten ist, kann niemand Der Zeitfaktor ist bei der Einnahme sehr haben. Eine Veränderung der Art und so früh nach einem ungeschützten Ge- wichtig: Je schneller die Pille danach ein- Weise, wie die Frauen verhüten, ist nach schlechtsverkehr feststellen. Um die Zy- genommen wird, desto wirksamer ist sie. einer Freigabe nirgendwo nachzuweisen. klusangaben der Frau zu überprüfen, SPIEGEL: Was ist mit Nebenwirkungen? Interessant für uns sind die Erfahrungen müsste der Arzt eine Hormonuntersu- Bartley: Viele Verbände und Organisatio- aus der Schweiz. Dort ist die Pille seit chung durchführen; die Ergebnisse erhiel- nen, unter anderem die WHO, plädieren 2001 rezeptfrei, und das Land hat, wie te er erst nach einigen Stunden. Darauf seit Jahren für eine Freigabe der Pille wir, eine medizinische Maximalver- zu warten wäre in fruchtbaren Phasen danach, die Levonorgestrel enthält. Es sorgung. In der Schweiz hat sich im Ver- fahrlässig, da man dadurch eventuell das gibt weltweite Studien, Daten von über hütungsverhalten nichts erkennbar ver - Fenster verpasst, in dem die Pille noch 13500 behandelten Frauen. Wir wissen ändert. Für Deutschland hat die Bundes- wirksam ist. Es gibt in der Praxis daher daher, dass die Einnahme nicht mit ge- sundheitlichen Risiken verbunden ist. SPIEGEL: Dennoch lehnen der Berufsver- band der Frauenärzte und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Ge- burtshilfe die Freigabe ab. Beide warnen vor Risiken. Haben Sie eine Erklärung für den deutschen Sonderweg? Bartley: Nein. Es widerspricht allen in - ternationalen Empfehlungen. Lediglich Frauen mit der seltenen Autoimmun - erkrankung Lupus erythematodes sollten Levonorgestrel nicht einnehmen; bei dieser Krankheit richten sich Antikörper gegen körpereigene Zellbestandteile, sie kann ein erhöhtes Thromboserisiko mit sich bringen. Doch bei den Betroffenen handelt es sich um schwerkranke Patien- tinnen, die von ihrer Krankheit wissen. Ansonsten gibt es auch keine Hinweise, dass Levonorgestrel eine bereits beste- hende Schwangerschaft gefährdet. Alles weist darauf hin, dass es allein durch Hemmung des Eisprungs wirkt. Das Bun- desinstitut für Arzneimittel und Medizin- produkte fordert seit zehn Jahren, dass die Pille danach rezeptfrei wird. SPIEGEL: Wie gehen andere Länder mit der Pille danach um? Bartley: In 28 europäischen Ländern ist

sie frei in Apotheken erhältlich – in / DER SPIEGEL GROSSMAN DJAMILA Norwegen, Schweden und den Nieder- Ärztin Bartley: „Nicht mehr zeitgemäße Kontrolle“

DER SPIEGEL 38/2013 131 Wissenschaft kaum eine Situation, in der ein Arzt einer Frau die Pille danach verweigert. Allen- falls klärt er sie noch über eine langfristig GESCHICHTE wirksamere Verhütungsmethode auf. SPIEGEL: Vergibt man sich diese Chance nicht, wenn die Pille danach rezeptfrei Der Kreis des Kolumbus wird? Bartley: In der Frauenarztpraxis kann man eine umfassende Beratung erwarten. Mit der Entdeckung Amerikas begann die Globalisierung von Aber der Alltag in Krankenhäusern sieht Tieren, Pflanzen und Mikroben. Kartoffeln, Vogelkot anders aus. In der Charité zum Beispiel wird die Pille auch von fachfremden und Gummi aus Südamerika prägten das Schicksal Europas. Kollegen wie Internisten verschrieben. Sie decken ja die Erste Hilfe ab. Und er Tabak, die Kartoffel und die delt er die Landschaft: Er lockert das Erd- nachts um drei Uhr findet in den Kliniken Pute kamen aus Amerika. Im Ge- reich, zersetzt die Streuschicht, beschleu- wohl nur sehr selten eine empathische, Dgenzug brachten die Europäer den nigt die Erosion und den Umsatz von zugewandte Aufklärung statt. Im Gegen- Weizen, die Masern und das Pferd. Doch Nährstoffen. Einigen Pflanzen erleichtert teil – viele Frauen beschreiben das Pro- wer denkt schon an den Regenwurm? er damit das Wachsen, anderen raubt er cedere als demütigend. Eine Umfrage von Auch er siedelte nach Amerika über, den Lebensraum. Manch einem Käfer Pro Familia hat gezeigt, dass 60 Prozent und dies war kaum weniger folgenreich als nimmt er den Unterschlupf, manch ei- der Frauen angeben, dass sie es stressig bei den anderen, berühmteren Migranten. nem Vogel dient er als neue Nahrungs- fanden, die Pille zu besorgen. 30 Prozent Seit der Eiszeit in großen Teilen Nordame- quelle. fühlten sich abschätzig vom Arzt behan- rikas ausgestorben, breitet sich der Regen- Kurzum: Der Wald mit Wurm ist ein delt. Ich denke, dass es bei der Forderung wurm dort nach der Entdeckungsreise des anderer als der ohne. Der Regenwurm einer Pflichtberatung letztendlich nicht Christoph Kolumbus wieder aus. verwandelt Amerika. nur um Aufklärung geht, sondern auch Wo immer der Einwanderer in ameri- Diese verblüffende Anekdote ist nur um eine nicht mehr zeitgemäße Kontrolle kanischen Wäldern auftaucht, verwan- eine von vielen, die der Journalist Charles der Frau. Männer müssen sich ja auch keiner Beratung unterziehen, wenn sie Kondome kaufen. Globaler Austausch Was aus der Alten Welt nach Amerika gelangte... SPIEGEL: Die Berufsverbände sagen, die Diskussion um Levonorgestrel sei über- holt. Es gebe ein neues, wirksameres Prä- parat, das aber in jedem Fall verschrei- bungspflichtig bleiben müsse. Bartley: Die Diskussion ist überhaupt nicht überholt. Levonorgestrel ist ein Medikament, das wir gut kennen und das nach wie vor eingesetzt wird. Das neue Präparat Ulipristal unterdrückt den Ei- sprung auch noch zu einem späteren Zeit- punkt, wodurch sich die etwas bessere Regenwurm Sklaven Pferd klinische Wirksamkeit erklären lässt, Durch die Auflockerung des Aus Afrika verschleppte Nordamerikanische wenn es erst 72 bis 120 Stunden nach Erdreichs und die Umsetzung Schwarze müssen die Arbeit Prärie-Indianer werden dem Geschlechtsverkehr eingenommen von Pflanzenresten zu Humus auf den fieberverseuchten zu Reitervölkern. wird. Aber für einen so späten Einsatz wandeln sich Landschaft Baumwoll-, Tabak- und ist Levonorgestrel ohnehin nicht mehr und Ökologie Nordamerikas. Zuckerrohrfeldern leisten. zugelassen. Das heißt: Drei Tage nach dem Geschlechtsverkehr muss eine Frau erst in eine Notaufnahme gehen, um sich Ulipristal zu holen oder eine Notfall-Kup- ferspirale legen zu lassen. Ulipristal ist unter anderem verschreibungspflichtig, weil wir noch nicht wissen, ob es bei ei- ner bestehenden Schwangerschaft dem Embryo schadet. OKAPIA / DPA SPIEGEL: In den ersten 24 Stunden sind bei- SPL / AGENTUR FOCUS SPL / AGENTUR de Präparate gleich wirksam? Bartley: Aus den vorhandenen Studien lässt sich kein Unterschied bei der Ein- nahme in den ersten 72 Stunden heraus- lesen. Das könnte sich bei einer größeren Masern-Virus Malaria Fallzahl möglicherweise ändern. Aber Die Erreger von Masern, Einheimische Stechmücken ver- gäbe man Levonorgestrel ohne Rezept Grippe, Pocken und anderen breiten den Plasmodium-Erreger, aus, würde das den Zugang vor allem an Krankheiten löschen der im Blut schwarzer Sklaven Wochenenden und in den Abendstunden ganze Indianervölker aus. vorkommt. so sehr erleichtern, dass die rasche Ein- nahme ein deutlicher Vorteil sein kann. INTERVIEW: KERSTIN KULLMANN

132 DER SPIEGEL 38/2013 Mann zusammengetragen hat*. Hatte er tauscht: In Chinas Häfen liefen Galeonen 1619 ein holländisches Piratenschiff ver- sich in seinem letzten Bestseller „1491“ voller Silber ein – geschürft von Afrika- schlug. An Bord hatten die Seeräuber mit der vorkolumbischen Geschichte nern in Südamerika. Spanische Tuch- knapp zwei Dutzend Schwarze, die sie Amerikas befasst, so wendet er sich nun händler nahmen chinesische Seide in beim Entern eines portugiesischen Skla- dem Wandel zu, den die Ent deckung des Empfang – geliefert von Zwischenhänd- venschiffs erbeutet hatten. Da gerade neuen Kontinents mit sich brachte. lern aus Mexiko. Und wenn sie sich ent- Erntezeit war, griffen die Kolonisten in Kein zweiter Mensch, so Manns Bot- spannen wollten, entzündeten die Wohl- Jamestown zu. schaft, habe das Antlitz der Erde ähnlich habenden, ganz gleich ob in Madrid, Dieser Kauf besiegelte die amerikani- drastisch verändert wie Kolumbus. Nicht Mekka oder Manila, Tabakblätter aus sche Sklavenhaltung. Was die Tabakfar- nur für Amerika, sondern auch für Amerika. mer in Virginia nicht ahnten: Mit den Ar- Europa, Asien und Afrika habe mit seiner Mitreißend und voller Lust am erzäh- beitskräften aus Afrika erwarben sie auch Überquerung des Atlantiks ein neues lerischen Detail berichtet Mann von der jene Krankheit, die diese in ihrem Blute Zeitalter begonnen. Erschaffung der globalisierten Welt und trugen – Plasmodium falciparum fasste Die Ära des weltumspannenden Han- wartet dabei mit vielen Überraschungen Fuß in Nordamerika, der Erreger der Ma- dels brach an. Ozeane waren fortan kein auf: Wem ist schon bekannt, welchen An- laria tropica. Die Fieberschübe waren ein Hindernis mehr für Menschen, Waren, teil die Süßkartoffel an der chinesischen hoher Tribut, den die Farmer für die Aus- Tiere, Pflanzen und Mikroben. Es war, Bevölkerungsexplosion hatte? Wer weiß, beutung der Sklaven zahlen mussten. als wäre der Superkontinent Pangäa, der dass die Intensivierung der Landwirt- Dies hatte weitreichende Folgen, wie vor 150 Millionen Jahren auseinanderge- schaft mit Vogelkot aus Peru begann? Mann argumentiert: Im Norden, wo die brochen ist, in einem erdgeschichtlichen Und auch, wie sehr die Malariamücke das Kälte der Malariamücke zu schaffen Wimpernschlag wieder vereinigt worden. Schicksal der Vereinigten Staaten be- machte, seien Einwanderer aus Europa Ehe die Karavellen „Santa Maria“, stimmte, ist den wenigsten bekannt. eine wohlfeile Alternative zu schwarzen „Pinta“ und „Niña“ 1492 in See stachen, Der Autor nimmt den Leser mit auf Sklaven gewesen. Ganz anders dagegen war nicht nur die Existenz Amerikas un- eine Erkundungstour rund um den post- im Süden: Weiße hielten auf den mücken- bekannt, auch Chinesen und Europäer kolumbianischen Globus. Sie beginnt in verseuchten Baumwoll- und Tabakfeldern wussten nicht viel voneinander. Ein Jahr- der britischen Kolonie Jamestown im nicht lange durch. Nur Schwarze brachten hundert später war die Welt wie ausge- heutigen Virginia, wohin es im August aus ihrer afrikanischen Heimat eine ge- wisse Widerstandskraft gegen den Er- reger mit. ... und was von Amerika in die Alte Welt kam. Die Malaria zementierte auf diese Wei- se das Sklavenhaltersystem des Südens. Während sich die Großgrundbesitzer in ihre luftig gelegenen Villen zurückzogen, wo sie halbwegs geschützt waren vor der Seuche, ließen sie auf den Feldern die Schwarzen schuften. „Als ich das Verbreitungsgebiet der Malaria tropica sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen“, erzählt Au- tor Mann: Es erstreckt sich fast genau bis zur Mason-Dixon-Linie, entlang derer im Kartoffel, Süßkartoffel, Mais Silber Jahr 1861 der Bürgerkrieg zwischen den Der Anbau der neuen Feldfrüchte aus den Bergwerken von Sklavenhalterstaaten des Südens und den beschert Asien und Europa Potosí (Anden) vervielfacht Unionstruppen des Nordens entbrannte. ein enormes Bevölkerungs- die Kaufkraft der Spanier Als „Columbian Exchange“ bezeich- wachstum. im Handel mit China. Vorher nen die Experten den transkontinentalen nahezu unbezahlbare Güter Austausch von Mensch, Tier, Keim und Tabak wie Pflanze. Und nicht nur Amerika war da-

Das Rauchen der getrockneten von betroffen. In China etwa brach das und fermentierten Blätter neue Zeitalter an, als 1570 Seeleute be- verbreitet sich innerhalb richteten, auf den Philippinen seien plötz- weniger Generationen. lich Europäer aufgetaucht. Das Erstaun- liche daran: Sie waren von Osten her übers Meer gekommen. Porzellan Bis zu diesem Zeitpunkt war man im und Seide gelangen Reich der Mitte an Europa wenig interes- nun massenhaft nach siert. Was hätten die rückständigen Men- Europa. Durch den Boom entstehen neue schen dort der chinesischen Hochkultur Handelszentren. schon bieten können? Diesmal aber hat- ten die Ankömmlinge etwas aus Amerika mitgebracht, das auch Chinesen zu elek- Guano Kautschuk trisieren vermochte: Silber. Der hohe Stickstoff- und Der aus der Rinde des Gummi- Das Edelmetall war in der Zeit der Phosphorgehalt des Natur- baums gewonnene Saft wird Ming-Dynastie zur wichtigsten Währung düngers führt die Forschung zu einem der begehrtesten geworden, in der sämtliche Geschäfte zur modernen Agrarchemie. Rohstoffe des Industriezeitalters. * Charles C. Mann: „Kolumbus’ Erbe – Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen“. Rowohlt-Verlag, Reinbek; 816 Sei- ten; 34,95 Euro.

DER SPIEGEL 38/2013 133 Wissenschaft abgewickelt wurden. In den Augen der welt dort schien zuvor für Landwirtschaft boldt war der Erste, der sich für jene Ur- Chinesen hatten die Galeonen aus Süd- ungeeignet: Entweder waren die Böden einwohner interessierte, die an der pe- amerika mithin nichts anderes geladen ausgebeutet oder für Ackerbau zu karg. ruanischen Küste beißend stinkende Bro- als pures Geld. Die Pflanzen aus Amerika aber machten cken von nackten Vogelfelsen klopften. Was Wunder, dass sich nun ein reger aus dieser Ödnis plötzlich urbares Land. Der Chemiker Justus von Liebig erkannte transpazifischer Handel entfaltete. Zum Aggressiv trieb die chinesische Regierung dann, dass daraus gewonnenes Pulver Leidwesen der spanischen Krone wurde den Ackerbau voran. Millionen gründe- dank seines hohen Stickstoff- und Phos- ein großer Teil des in den Anden ge- ten eine neue Existenz als Kartoffel- oder phorgehalts exzellent als Dünger taugte. schürften Silbers nicht in die Heimat, son- Maisbauer in den Bergen. Bald wurde Guano, wie die Einheimi- dern ins ferne China geliefert. Im Aus- Heute tragen die Importfrüchte aus den schen den verhärteten Vogelkot nannten, tausch dafür wanderten Seide, Porzellan Anden einen guten Teil zur Ernährung zu einem der wichtigsten Importprodukte und andere chinesische Luxusgüter ost- des Milliardenvolks bei. China ist nach des aufstrebenden Europa. Auf insgesamt wärts in Richtung Mexiko. den USA größter Maisproduzent der 15 Milliarden heutige Dollar taxiert Mann Den Wandel, der nun die ganze Welt Welt, bei Kartoffeln steht es sogar mit den Gesamtwert der peruanischen Natur- erfasste, schildert Mann anhand zweier großem Abstand auf Platz eins. dünger-Exporte. Boomtowns des 17. Jahrhunderts. Prot- Doch die Agrarrevolution hatte auch Zu den Leidtragenden zählten diesmal zend, brodelnd, aggressiv stehen sie stell- Schattenseiten: Viele Bergwälder fielen auch Chinesen, die zur Fronarbeit im vertretend für den Geist der neuen Ära. den neuen Feldfrüchten zum Opfer, Ammoniakgestank gezwungen wurden. Die eine, die vielleicht verrückteste die gerodeten Hänge waren schutzlos Insgesamt rund 100 000 von ihnen wur- Stadt der Weltgeschichte, wurde in der dem Regen ausgesetzt, vielerorts gingen den unter falschen Versprechungen in Höhenluft der Anden gegrün- die südamerikanische Ferne det. Die Silberstadt Potosí, gelockt. umgeben nur von Schnee und Wie die Landwirtschaft, so nacktem Fels, schwoll binnen wurde auch die Industrie weniger Jahrzehnte zur Größe Europas abhängig von einem Londons an. Während sich die südamerikanischen Naturpro- Glücksritter aus Europa hier dukt: Ob als Autoreifen, Ka- in Edelbordells verwöhnen lie- belisolierung oder Dichtungs- ßen, mussten in der Finsternis ring ist Gummi unverzicht - der weltgrößten Silberminen barer Bestandteil moderner Zigtausende Indios um ihr Le- Technik. ben schuften. Gezapft aus der Rinde des Kaum weniger absurd er- Gummibaums, wurde Kau- scheint Parián, die erste Chi- tschuk in immer größeren natown der Welt. Direkt vor Mengen über den Atlantik den Toren Manilas gelegen, verschifft. So rasant die Gum- war sie bald bevölkerungsrei- miexporte Brasiliens auch stie- cher als die spanische Kolo - gen, die Nachfrage wuchs nialstadt selbst. Rund um ein schneller. Unaufhaltsam klet-

paar große Lagerhäuser wu- / INTERFOTO PHOTOAISA terte der Preis. cherte hier ein Labyrinth aus Entdeckerflotte des Kolumbus*: Antlitz der Erde verändert Erst die Südamerikanische Läden, Teehäusern und Re - Blattfallkrankheit setzte dem staurants. Hierher kamen die spanischen Schlammlawinen nieder. Fast jedes Jahr Boom ein abruptes Ende. Der Erreger Agenten, um ihre Deals einzufädeln. Für wurden fortan die Gebiete um Yangtze war ein Pilz, der die Kautschukplantagen gutes Silber aus Potosí war vom Leder- und Gelben Fluss von gewaltigen Über- Südamerikas fast vollständig vernichtete. stiefel über die Elfenbeinschatulle bis hin schwemmungen heimgesucht. Anstelle von Brasilien, Venezuela und zum Teeservice fast alles zu haben. Selbst Im zentralen meteorologischen Büro Surinam stiegen nun Thailand, Indone- kunstfertig gestaltete Jesuskinder aus in Peking konnte Charles Mann Karten sien und Malaysia zu Kautschuksuper- Marmor wurden feilgeboten. einsehen, die dokumentieren, wie sich mächten auf. Zu verdanken haben sie es Für Chinas Herrscher jedoch erwies Zahl und Größe der Fluten im Laufe der dem Briten Henry Wickham, der, gleich- sich die Silberflut als Fluch. Denn je mehr Jahrhunderte verändert haben. „Es war, sam als Sachwalter des Columbian Ex- Edelmetall die spanischen Galeonen nach als sähe ich den animierten Film eines change, im Jahr 1876 Samen des brasilia- Manila verfrachteten, desto mehr verfiel Öko-Kollapses“, berichtet er. nischen Gummibaums außer Landes ge- sein Wert. Inflation, Steuerausfälle, blu- Gewiss, das Zusammenwachsen der schmuggelt hatte. tige Unruhen – am Ende brach das Re- Kontinente beförderte den Fortschritt, Wie rasch sich ein zweiter Wickham gime zusammen. Auf die Ming-Kaiser aber es bedeutete auch Elend und Aus- finden könnte, der auch den Kau- folgten die Qing. beutung. „Es gab fast nichts, für das nicht tschukpilz in der Welt verbreitet, wurde Mehr noch als durch das Silber selbst auch Menschen schwitzen und sterben Mann auf einer seiner Recherchereisen wurde das Geschick des Landes jedoch mussten“, sagt Mann. Vor allem eines hät- klar: Eines Tages stand er inmitten einer von drei Feldfrüchten bestimmt, die im ten ihn seine Recherchen gelehrt: „Wenn asiatischen Plantage und trug dieselben Gefolge des Edelmetalls nach China ge- wir auf alles, an dem Blut klebt, verzich- Stiefel, mit denen er wenige Monate langten: die Kartoffel, die Süßkartoffel ten müssten, bliebe uns nicht vieles.“ zuvor noch durch den brasilianischen und der Mais. Diese genügsamen und un- Drastisch zeigt dies die Entstehung der Urwald gestapft war. Was, wenn noch gewöhnlich ertragreichen Importpflanzen modernen Landwirtschaft. Am Anfang ein paar Sporen des Pilzes daran haf- wuchsen auch auf Böden, bei denen an stand die Erkenntnis zweier Deutscher: teten? Reisanbau gar nicht zu denken war. Der Weltreisende Alexander von Hum- „Irgendwann wird sich der Kreis des Die Feldfrüchte aus Amerika sollten Kolumbus schließen“, meint Autor Mann. ganze Landstriche im Süden und Westen * Karavellen „Niña“, „Santa Maria“ und „Pinta“; Illu - „Und dann wird die Welt ein weiteres des Riesenreichs verwandeln. Die Berg- stration von 1892. Problem haben.“ JOHANN GROLLE

134 DER SPIEGEL 38/2013 AUTOMOBILE Ehrbares Alteisen Ein chinesischer Investor rettete das London Taxi vor dem Unter- gang. Nun will der neue Eigner die darbende Kultdroschke in ein Öko-Mobil verwandeln.

ie englische Automobilgeschichte als Erfolgsstory zu begreifen be- Ddarf einer weltoffenen Sichtweise. Urbritische Marken wie Jaguar, Land Ro- ver, Rolls-Royce und Bentley sind noch immer produktiv – alle jedoch im Besitz ausländischer Firmen. Als eines der letzten Kfz-Heiligtümer

des Vereinigten Königreichs strebt nun FACE TO JULIA WEHNER / FACE ein buckliges, meist schwarzlackiertes Transportklassiker London Taxi: Fahrkomfort eines Ackerschleppers Gefährt ein neues Dasein unter Fremd- regie an: Am vergangenen Mittwoch fei- Der museale Zauber ist eben dem Ver- ßen, für die Entwicklung einer neuen Wa- erte die London Taxi Company in Co- zicht auf technische Fortentwicklung ge- gengeneration, die er „Eco-Taxi“ nennt. ventry die Wiederaufnahme der Produk- schuldet, den sich der Hersteller dank In etwa vier Jahren soll sie fertig sein, tion nach fast einem Jahr Stillstand durch einer behördlich abgesicherten Monopol- ein völlig neues Auto, angetrieben von Insolvenz. Der neue Eigner richtete stellung lange leisten konnte. Die Londo- einem Elektromotor und einem Diesel freundliche Worte an die Belegschaft, die ner Stadtverwaltung erteilt nur Fahrzeu- oder Benziner, der Strom produzieren simultan übersetzt werden mussten; er gen die Erlaubnis, als Taxi betrieben zu soll, wenn die Batterie leer ist. Eine leich- sprach Chinesisch. werden, die zwischen zwei 28 Fuß (8,5 te Karosserie werde entwickelt, nur das Li Shufu, dienstlich „Chairman Li“ ge- Meter) auseinanderstehenden Hauswän- Design bleibe erhalten. Johansen zitiert nannt, ist einer jener unheimlichen Blitz- den drehen können, ohne zurückzuset- als Vorbilder die Wiedergeburt des Mini aufsteiger des neuen China. Sein erstes zen. Und das schafft fast kein Auto, nicht oder des Fiat 500 mit moderner Technik – Geld verdiente er nach eigenen Angaben mal der City-Zweisitzer Smart – wohl beides Riesenerfolge. mit Fotos für Touristen. Später gründete aber das London Taxi. Seine Kutschen- Johansen sieht neue Märkte für das er Geely, einen der aufstrebenden Auto- rahmen-Konstruktion erlaubt den Vorder- neue Taxi, Großstädte im Nahen Osten, produzenten Chinas. Geely kaufte vor rädern einen extremen Einschlagwinkel. in Indien und früheren Sowjetrepubliken. dreieinhalb Jahren Volvo und nun auch Über ein halbes Jahrhundert lang blieb Chairman Li, sagt er, verfüge über ein si- die London Taxi Company. das London Taxi, ein heute 38000 Euro cheres Gespür für die Autolegenden Bri- Letztere war eine vergleichbar billige teurer Oldtimer, deshalb von Wettbewerb tanniens. Zwei davon, habe Li ihm einmal Akquise. Für umgerechnet etwa 13 Millio- unbehelligt – bis vor wenigen Jahren der anvertraut, hätten weltweit den höchsten nen Euro (Volvo hatte 1,8 Milliarden Dol- erste Konkurrent auftauchte: Ein Ver- Wiedererkennungswert: Rolls-Royce und lar gekostet) stockte er im Februar seinen bund englischer Konstrukteure und Ta- das London Taxi. Anteil an der havarierten Eignerholding xenbetreiber rüstet Mercedes-Kleinbusse Die erste der beiden Marken konnte Li von 20 auf 100 Prozent auf. In der Branche vom Typ Vito mit Allradlenkungen aus, bisher nicht erwerben, sandte ihr aber be- löste das Manöver – anders als der Volvo- so dass auch diese die Kurve kriegen. reits eine delikate Grußadresse. Vor vier Deal – auch keinerlei Beklemmungen aus. Mehr als ein Drittel der Taxen-Neuzu- Jahren präsentierte er ein Rolls-Royce- Die Taxenfirma gilt als ehrbares Alteisen lassungen in der Hauptstadt entfielen Plagiat unter seinem Marken namen Gee- der britischen Fahrzeugbranche, nicht als bald auf den wendigen Daimler. Hinzu ly, musste jedoch feststellen, dass sich der relevanter Innovationsträger. kam die Finanzkrise, dann noch ein teu- Hersteller des Originals (der zum BMW- Die als London Taxi weltbekannten rer Rückruf wegen defekter Servolenkun- Konzern gehört) weder geehrt noch amü- und auch in anderen Städten Großbritan- gen – und die alte Taxenfirma aus Coven- siert fühlte. niens verbreiteten Vehikel basieren auf try stand vor der Pleite. Johansen, der nicht Chinesisch spricht, einer gut 60 Jahre alten Konstruktion des Mit dem Retter aus China soll nun erst- den Chairman aber exakt zu verstehen Herstellers Austin. Sie steht in unmittel- mals die Moderne einziehen in den alt- vorgibt, vermutet hier eher ein Kommu- barer Erbfolge der Pferdekutsche, ruht englischen Droschkenbau. Geschäftsfüh- nikationsproblem zwischen den Kulturen: auf einem wuchtigen Leiterrahmen und rer Peter Johansen, vor der Insolvenz „Li hat das nicht böse gemeint. Es war ist etwa zwei Tonnen schwer. London Ta- Finanzchef, ist ein Vertrauter von Chair- seine Art, Rolls-Royce zu danken.“ xis – die Karosserien kommen inzwischen man Li. Er sitzt in einem schmuck- und CHRISTIAN WÜST aus China – sind geräumige Nutzfahr- fensterlosen Büro und spricht von einer zeuge mit schluckstarken Diesel- oder „herrlichen Zukunft“ der London Taxi Video: Testfahrt mit dem Benzinmotoren, dem Fahrkomfort von Company. 150 Millionen Pfund und reich- London Taxi Ackerschleppern und der Magie eines gro- lich Know-how von Volvo würden in den spiegel.de/app382013londontaxi ßen, ver blichenen Imperiums. kommenden Jahren nach Coventry flie- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 38/2013 135 Bushido JENS KOCH / PICTURE PRESS / PICTURE JENS KOCH

INTEGRATION hung? Echtes Problem, die meisten Zu- wanderer wüssten zu wenig darüber. Bushido, der das Buch unter seinem richtigen Namen Anis Ferchichi heraus- Der Ausländer-Erklärer bringt, erzählt vor dem Hintergrund seines eigenen Lebens: seiner Kindheit Im Juli reicherte der Berliner Gangsta- erstaunlicherweise ist es das sogar ge- als Sohn einer Mutter, die der Provinz Rapper Bushido, 34, den (mittlerweile worden. Deutschland habe durch die entfloh und zwei Söhne mit nichtdeut- indizierten) Song „Stress ohne Grund“ Zuwanderung Zukunft, behauptet schen Männern hatte, und seiner seines Schützlings Shindy mit beleidi- Bushido. Die Mehrheit müsse nur ihre Freundschaft mit Mitgliedern einer li- genden Sex- und Mordphantasien über Vorurteile ablegen, und die Migranten banesisch-palästinensischen Berliner die Grünen-Politikerin Claudia Roth sollten aufhören, sich als ewige Opfer Großfamilie, die ihm kürzlich den Vor- und den Berliner Regierenden Bürger- zu fühlen. Bushido ist zum Ausländer- wurf eingetragen hat, Verbindungen meister Klaus Wowereit an und ver- Erklärer geworden. Großfamilien? Kri- zum organisierten Verbrechen zu ha- spielte damit ebenjene Glaubwürdig- minell seien die wenigsten. Homopho- ben. Um eine klare Aussage zu diesen keit, für die er jahrelang gekämpft hat. bie? Gebe es nicht nur bei Muslimen. Vorwürfen drückt sich Bushido. Bemer- Nun versucht er, sie mit einem Buch Islam? Sei auch nicht schlimmer als an- kenswert an seinem Buch ist etwas an- zurückzugewinnen: „Auch wir sind dere Religionen. Emanzipation? Die deres: Bushido hat als Autor all das, Deutschland“ (Riva Verlag) soll auch jungen Migrantinnen seien weit gekom- was ihm als Rapper fehlt. Einfühlungs- eine Antwort auf Thilo Sarrazins men. Hartz-IV-Betrug? Viel zu anstren- vermögen, die Gabe, Geschichten zu „Deutschland schafft sich ab“ sein. Und gend für das wenige Geld. Kindererzie- erzählen, und Subtilität.

FERNSEHEN von der DDR im Jahr 1980, von rivali- Herzsprung) sitzt im Gefängnis, ihre sierenden Brüdern, regimekritischen Mutter (Katrin Sass) säuft, Julias Ge- Künstlern und verbotener Liebe – eine liebter Martin (Florian Lukas) hat bei „Dallas“ in der DDR Mischung aus „Das Leben der Ande- der Volkspolizei gekündigt, Martins ren“, „Dallas“ und „Romeo und Julia“. Bruder Falk (großartig: Jörg Hart- Auch Stasi-Offiziere hatten Familie. Bereits 2011 begann Regisseur Friede- mann) treibt weiter seine Stasi-Karrie- Das war, stark verkürzt, die Ursprungs - mann Fromm sechs weitere Folgen zu re voran. Nebenbei geht es um Doping idee der ARD-Reihe „Weissensee“, die drehen, erst jetzt hat die ARD einen im Spitzensport und die Opposition vor drei Jahren viele Zuschauer be- Sendeplatz dafür gefunden: dienstags der Kirche. Besonders subtil ist die geisterte und mit dem Deutschen Fern- um 20.15 Uhr (ab 17. September). Die Fortsetzung nicht geraten: Dem Zu- sehpreis ausgezeichnet wurde. Nach neue Staffel, nur noch „nach einer schauer wird es zu leicht gemacht, die Drehbüchern der (westdeutschen) Au- Idee von Annette Hess“, spielt 1987 in Stasi-Leute zu verurteilen. Eine dritte torin Annette Hess erzählt die Serie Ost-Berlin. Stasi-Opfer Julia (Hannah Staffel ist bereits in Arbeit.

136 DER SPIEGEL 38/2013 Szene Kultur

LITERATUR Vernünftige Lösung? Ken Duken, Köhler in „Zwei Leben“

Der Insolvenzrechtler Philipp Fölsing, 36, gibt Nachhilfe zum Fall Suhrkamp.

SPIEGEL: Für Anfänger: Was ist der Kern des Konflikts? Fölsing: Die Auseinandersetzung der Ge- sellschafter Hans Barlach und der Fami - lienstiftung von Ulla Unseld-Berkéwicz. Barlach hatte ein ungewöhnlich umfang- reiches Mitspracherecht. Um sich dage- gen durchzusetzen, hat Unseld-Berké- wicz das neue Insolvenzrecht bemüht. SPIEGEL: Das Landgericht Frankfurt er- ließ nun eine einstweilige Verfügung, die es der Familienstiftung untersagt, für den Insolvenzplan zu stimmen. Fölsing: Problematischer als der Insol- venzplan ist aus meiner Sicht, dass wahr- scheinlich kein Insolvenzgrund vorlag,

möglicherweise war der sogar rechtsmiss- VERLEIH FARBFILM bräuchlich konstruiert. Die Forderung der Familienstiftung auf eine Gewinnaus- KINO IN KÜRZE Schauspieler Marie Bäumer und Sophie schüttung von fünf Millionen Euro halte Rois, Sylvester Groth und Mark Waschke ich für zweifelhaft. Verlag und Stiftung „Zwei Leben“ spielt kurz nach dem den Charme der deutschen Großstadt- hatten sich ursprünglich auf eine Re- Fall der Mauer und ist eine Rarität: ein Bourgeoisie ausspielen dürfen. Als 16- investierung von Gewinnen geeinigt. deutscher Spionagefilm. Er erzählt die jährige Schüler in Ostdeutschland geben SPIEGEL: Das Amtsgericht in Berlin ent- Geschichte einer Frau (Juliane Köhler), sich zwei Männer ein Liebestausch- scheidet über die Insolvenz, das Land - die einst von der Stasi nach Norwegen Versprechen, das 30 Jahre später einge- gericht Frankfurt klärt das Gesellschafts- geschickt wurde und nun damit rech- löst werden soll. Man bewegt sich in rechtliche. Wer hat das letzte Wort? nen muss, dass ihre Identität enthüllt Bankerbüros und einem Landhaus, hät- Fölsing: Durch die Novellierung des Insol- wird. Regisseur Georg Maas macht schelt die Kinder und geht auf Treibjagd. venzrechts ist es möglich, Entscheidun- daraus ein in vielen Rückblenden ver- Der französische Regisseur Denis Der- gen gegen einzelne Gesellschafter zu schachteltes Drama über tragische court hat sich schon in „Das Mädchen, treffen, damit sie eine Umstrukturierung familiäre und politische Verwicklungen. das die Seiten umblättert“ (2006) als nicht blockieren. Andererseits bestehen Der spannende und bisweilen bewe- Virtuose einer künstlichen Filmerzähl- auch im Insolvenzverfahren gesellschaft- gende Film, in dem Liv Ullmann eine kunst bewiesen, hier reden die Figuren liche Treuepflichten. Ein Gesellschafter Altersrolle spielt, wird für Deutschland zwar mitunter arg hochtrabend daher, darf nicht versuchen, den anderen aus ins Oscar-Nominierungsrennen ge- tolle atmosphärische Kraft aber gewinnt der Firma zu drängen, dessen Forderun- schickt. dieses Psychodrama aus gen oder Mitspracherechte zu entwerten. einem exquisit eingespielten SPIEGEL: Was passiert als Nächstes? „Zum Geburtstag“. Wie von Claude Streichquartett-Soundtrack Fölsing: Die Familienstiftung will in die Chabrol ausgedacht und möbliert ist und kühl komponierten nächste Instanz. Auch wenn da die einst- dieses Schockermärchen, in dem die Bildern. weilige Verfügung bestätigt wird, kann Barlach den Insolvenzplan dennoch nur schwer zu Fall bringen. Das Amtsgericht in Charlottenburg kann entscheiden, dass sein Stimmrecht unbeachtlich ist: Wird ein Gläubiger durch den Insolvenz- plan nicht schlechtergestellt als durch die Abwicklung des Unternehmens, darf er den Plan nicht zu Fall bringen. Man nennt das Obstruktionsverbot. SPIEGEL: Und eine vernünftige Lösung? Fölsing: Entweder Barlach verkauft seine Anteile zu einem angemessenen Betrag. Oder Vorstand und Aufsichtsrat der Suhrkamp AG werden mit fachkundigen Dritten ohne Eigeninteressen besetzt. Unseld-Berkéwicz und Jonathan Land- Rois in „Zum Geburtstag“

grebe müssten verzichten, um den Ver- X-VERLEIH lag zu befrieden.

DER SPIEGEL 38/2013 137 Kultur

BÜRGERRECHTE Die Würde ist antastbar Warum der Terrorismus über die Demokratie entscheidet Von Ferdinand von Schirach

aben Sie das „Kanzlerduell“ ge- Meer abgetrieben. Etwa 1600 Meilen vor te. Es gab Zeichnungen der furchtbaren sehen, das auf allen Kanälen zum dem Kap der Guten Hoffnung kenterte es Ereignisse auf den Titelseiten, alle Einzel- HHöhepunkt des Wahlkampfs er- und sank. Die Mannschaft bestand aus vier heiten wurde vor dem Publikum ausgebrei- klärt wurde? Stefan Raab fragte Peer Personen: dem Kapitän, zwei kräftigen Ma- tet. Die Stimmung in der Bevölkerung war Steinbrück dort immer wieder, ob die trosen und einem 17-jährigen mageren für die Seeleute, sie hätten schon genug Kanzlerin ihren Amtseid verletze, weil Schiffsjungen. Sie konnten sich auf ein Bei- durchgemacht. Die Staatsanwaltschaft ließ sie zu wenig gegen die Abhörangriffe der boot retten. Als das Meer sich beruhigt hat- sie trotzdem verhaften und stellte sie vor NSA unternehme. Versäumte sie es, Scha- te, überprüften sie ihre Vorräte. Es sah Gericht. Einer der beiden Matrosen hatte den vom deutschen Volk abzuwenden? schlecht aus: An Bord waren lediglich zwei sich als Zeuge zur Verfügung gestellt, er Steinbrücks Antwort blieb merkwürdig Dosen mit Rüben. Sie überlebten damit selbst wurde nicht angeklagt. Der Fall ging schwammig: „Frau Merkel hat ihren drei Tage. Am vierten Tag fingen sie eine unter dem Namen „Die Königin gegen Amtseid wahrzunehmen.“ Es war richtig, kleine Schildkröte, sie aßen davon bis zum Dudley und Stephens“, das waren die Na- die Frage zu stellen, sie streift die Ober- zwölften Tag. Wasser gab es nicht, nur men der beiden Seeleute, in die Rechts- fläche eines grundsätzlichen Problems: manchmal konnten sie ein paar Tropfen geschichte ein. Die einzige Frage des Pro- des Rechtsbruchs unserer eigenen Regie- Regen mit ihren Jacken auffangen. Am 18. zesses lautete: Durften die Seeleute den rungen. Unsere Freiheit wird im Namen Tag nach dem Sturm – inzwischen hatten Schiffsjungen töten, um ihr eigenes Leben der Sicherheit geopfert. Aber wir leben sie sieben Tage lang nichts gegessen und zu retten? Drei Leben gegen eines. Das in einer Demokratie, wir können das än- fünf Tage lang nichts getrunken – schlug Gericht sollte darüber urteilen, ob eine sol- dern. Die Frage ist, ob wir das wollen. der Kapitän vor, einen aus ihrem Kreis zu che Rechnung erlaubt ist. In der Nacht zum 2. Mai 2011 erschos- töten, um die anderen zu retten. Drei Tage Ich vermute, die meisten Menschen hät- sen amerikanische Soldaten den Terroris- später hatte der Kapitän die Idee, Lose zu ten bei einem Freispruch ein schlechtes ten Osama Bin Laden. Den Befehl dazu ziehen – wer verliere, solle getötet werden. Gefühl. Aber denken Sie einfach an ande- gab der Präsident der Vereinigten Staaten. re Zahlen. Was wäre, wenn durch den Tod Als der Tod des Terroristen verkündet des Jungen nicht 3 Seeleute überlebt hät- wurde, brach in Amerika Jubel aus, in Darf ein einzelner Mensch ten, sondern 300? Ändert sich etwas, wenn New York tanzten Menschen auf der Stra- als Ankläger, Verteidiger und es 30000 oder 300000 wären? Ist es tat- ße. Barack Obama verkündete stolz: sächlich eine Frage der Zahl? Das ist kein „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan.“ Richter entscheiden, theoretisches, sondern ein sehr aktuelles Kurz darauf sagte die deutsche Bundes- Problem: Stellen Sie sich vor, auf dem kanzlerin: „Ich freue mich darüber, dass wer lebt und wer stirbt? Flughafen Köln/Bonn ist eine Maschine es gelungen ist, Bin Laden zu töten.“ Und gestartet. Ein Mann verschafft sich Zugang damit wir uns nicht über Merkels Freude Aber dann fiel ihnen ein, dass sie selbst zum Cockpit, er tötet Pilot und Co-Pilot. wundern, erklärte Volker Kauder, die Familien hatten, der Junge aber nur ein Der Mann erklärt über Funk, er fliege die Kanzlerin habe sich natürlich ganz christ- Waisenkind sei. Sie verwarfen die Idee mit vollgetankte Maschine nach Berlin und lich gefreut: „Als Christ gibt es für mich den Losen wieder. Der Kapitän war der lasse sie auf den Potsdamer Platz abstür- das Böse in der Welt. Osama war böse. Ansicht, dass es besser sei, einfach nur den zen. Vier Abfangjäger der Bundeswehr Und man darf sich als Christ freuen, Jungen zu töten. Am nächsten Morgen – sind aufgestiegen. Sie fliegen dicht neben wenn es weniger Böses auf der Welt gibt.“ noch immer war keine Rettung in Sicht – der entführten Maschine. Die Bundeskanz- Aber vielleicht ist es doch nicht so ging der Kapitän zu dem Jungen. Er lag lerin ist evakuiert worden. Lässt die leicht. Darf ein einzelner Mann oder eine halb verrückt vor Durst in einer Ecke des Bundes regierung die Maschine abschießen, Regierung wirklich als Ankläger, Vertei- Bootes, er hatte Meerwasser getrunken, rettet sie Tausende unschuldige Menschen. diger und Richter in einer Person ent- sein Körper war dehydriert. Es war klar, Sie hat sich die Passagierliste geben lassen. scheiden, wer lebt und wer stirbt? Es gab dass er in den nächsten Stunden sterben 164 Reisende, Geschäftsleute auf dem Weg eine Fülle von Rechtfertigungsversuchen, würde. Der Kapitän sagte zu ihm, seine nach Berlin, zwei schwangere Frauen, aber die meisten Völkerrechtler verwar- Zeit sei gekommen. Dann stach er ein Mes- sechs Kinder, ein Hund. Die Regierung fen sie. Und wenn wir genau hinsehen, ser in seinen Hals. muss entscheiden: Was sind 164 gegen Tau- sind all die Gesetze und völkerrechtlichen In den folgenden Tagen aßen die See- sende? Und wenn das Flugzeug abstürzt, Regelungen, die wir gegen unser Bedürf- leute Teile des Körpers des Jungen und würden den Reisenden doch sowieso nur nis nach Rache errichtet haben, Ausdruck tranken sein Blut. Am zweiten Tag nach wenige Minuten bis zum sicheren Tod blei- für etwas anderes, etwas, was hinter ih- der Tat entdeckten Passagiere eines vor- ben. Was würden Sie selbst tun? nen steht und was größer ist als sie. beifahrenden Schiffes das Boot. Die drei Unser Grundgesetz beginnt mit dem Am 5. Juli 1884 geriet die „Mignonette“, Überlebenden wurden gerettet und nach Satz: „Die Würde des Menschen ist un- ein kleiner englischer Frachter, in einen England gebracht. Jede Zeitung des Landes antastbar.“ Das ist natürlich falsch, denn Sturm. Das Schiff wurde auf das offene und fast jede Europas brachte die Geschich- die Würde wird dauernd angetastet. Es

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Unsere Freiheit wird im Namen der Sicherheit geopfert. Aber wir leben in einer Demokratie, wir können das ändern, wenn wir wollen.

DER SPIEGEL 38/2013 139 Kultur soll heißen, dass die Würde nicht ange- wenn wir ein Leben gegen ein anderes auf- Guantanamo weiter rechtlose Menschen tastet werden darf. Der Satz steht nicht rechnen dürften: Drei Patienten sind ster- festgehalten, erniedrigt und gequält. zufällig am Anfang unserer Verfassung. benskrank. Dem einen fehlt eine Niere, das Auch in der Bundesrepublik gibt es seit Er ist ihre wichtigste Aussage. Dieser ers- Herz des zweiten bleibt gleich stehen, der Jahren eine solche Bewegung. Der te Artikel besitzt eine „Ewigkeitsgaran- dritte hat so viel Blut verloren, dass auch Rechtswissenschaftler Günther Jakobs tie“, das heißt, er kann nicht geändert er sterben wird. Ein völlig gesunder Mann, unterschied in einem Aufsatz 1985 zum werden, solange das Grundgesetz gilt. nur mit Schnupfen, sitzt im Wartezimmer ersten Mal zwischen Feindstrafrecht Aber was ist diese Würde, von der auch und liest Zeitung. Wenn wir Leben gegen und Bürgerstrafrecht. Er berief sich dabei die Politiker gern reden, eigentlich? Das Leben rechnen, muss der Arzt den Gesun- auf die Vertragstheorie von Thomas Bundesverfassungsgericht sagt, Würde be- den ausnehmen, um die anderen drei zu Hobbes: Ein Mensch, der die Gesellschaft deute, ein Mensch dürfe niemals zum blo- retten. Eins zu drei eben. In einer solchen verlasse, begebe sich in einen gesetzlosen ßen Objekt staatlichen Handelns gemacht Welt wäre es noch gefährlicher, zum Arzt Naturzustand und werde zum Feind. Und werden. Aber was soll das sein: „ein blo- zu gehen, als es ohnehin schon ist. als Feind müsse er bekämpft werden. Ter- ßes Objekt staatlichen Handelns“? „Im echten Leben“, im Fall des Flug- roristen, die den Staat und die Verfassung zeugentführers, zweifeln wir trotzdem, ob selbst angreifen, sind danach vogelfrei, ie Idee geht auf Kant zurück. Der die Wertung der Verfassung richtig ist. sie werden zu Rechtlosen. Nach dieser Mensch, sagte Kant, könne sich Wenn es gar nicht anders geht, dürfen und Theorie dürfen sie gefoltert oder getötet Dseine eigenen moralischen Geset- müssen wir den Mann töten, der kurz da- werden, wenn sie unsere Gesellschaft zer- ze geben und nach ihnen handeln, das vor ist, eine Bombe zu zünden. Niemand, stören wollen – ein Lager wie in Guanta- unterscheide ihn von allen anderen We- der vernünftig ist, kann das bestreiten. namo wäre auch in Deutschland legal. sen. Er erkenne die Welt, er könne über Aber wir dürfen niemals einen Unschuldi- Das ist nicht bloß eine abstrakte Diskus- sich selbst nachdenken. Deshalb sei er gen für unser eigenes Überleben opfern, sion – sie wird erbittert geführt, und es Subjekt und nicht, wie ein Tier oder ein wir können Leben nicht gegen Leben ab- gibt ernsthafte Leute, die einem sol- Stein, bloßes Objekt. Kant nennt ihn, den wägen – auch wenn das andere Leben chen Feindstrafrecht zugeneigt sind. Nach vernünftigen Menschen, „Person“, dem „nur“ ein magerer, halbtoter Schiffsjunge dem 11. September 2001 fragte Jakobs, allein Würde zukomme. ist oder wenn es „nur“ 164 Reisende in ob die Bindungen, die sich der Rechts- Schopenhauer warf Kant vor, er habe einem Flugzeug sind. Der Richter in dem staat gegenüber seinen Bürgern auferlegt, den Begriff nicht hinreichend bestimmt. Fall „Die Königin gegen Dudley und Ste- gegenüber Terroristen nicht vielleicht Ganz unrecht hat er damit wohl nicht: „schlechthin unangemessen“ seien. Weshalb ein Wesen, das sich seiner selbst Während aber Jakobs nur Terroristen bewusst ist, „Person“ sein soll und alle an- Auch nach dem Friedens - und Mafia-Mitglieder nach Feindstraf- deren Lebewesen nicht, erklärt Kant nicht. nobelpreis für Obama recht bekämpfen wollte, wurde bei dem Ich glaube, er brauchte keine weitere Be- Fall Magnus Gäfgen diskutiert, ob beson- gründung. Denn ob wir es wollen oder werden in Guantanamo Men- ders abscheuliche Verbrechen nicht auch nicht: Unser gesamtes Denken ist tief und durch Folter aufgeklärt werden dürfen – in jedem Bereich vom Christentum beein- schen gefangen gehalten. zumindest, wenn ein anderes Leben flusst. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob dadurch vielleicht gerettet werden kann. wir an einen Gott glauben oder nicht. Das phens“ brachte es auf den Punkt: „Wie Das Wort von der Rettungsfolter machte Neue dieser Religion war ja nicht die Er- schrecklich die Versuchung war, wie die Runde. Bei Gäfgen handelte es sich schaffung eines neuen Gottes. Das Neue schrecklich das Leiden (der Seeleute) … weder um einen Terroristen noch um war die kompromisslose Achtung des Mit- Aber wie soll der Wert von Leben vergli- einen Mafioso. Viele waren und sind den- menschen. Unsere Philosophie, unsere chen werden?“ Dann heißt es weiter: „Soll noch sofort bereit, ihm die Menschenwür- Kunst, unsere Kultur sind ohne diese Ach- es Kraft sein oder Intellekt oder etwas an- de abzusprechen. Sogar der damalige Vor- tung nicht vorstellbar. Die Achtung vor deres? … In dem Fall wurde das schwächs- sitzende des Deutschen Richterbundes dem anderen Menschen bedeutet nichts te, das jüngste, das widerstandsloseste hielt Folter nicht für ausgeschlossen, und anderes, als ihn zum Subjekt zu machen. Leben gewählt. War es richtiger, ihn zu es gab Professoren, die dem zustimmten. Die Verfassung geht daher auch weiter, töten, als einen der erwachsenen Männer? als Kant das tat: Bei Kant können nur ver- Die Antwort muss lauten: ‚Nein.‘“ ielleicht glauben Sie ja, in diesem nünftige Menschen Personen sein – ein Die Regierungen haben längst damit Land wären zumindest die bürger- Kind oder ein geistig Behinderter fällt begonnen, diese Grundsätze in Frage zu Vlichen Politiker zu vernünftig, um nicht darunter. Der Verfassung reicht es stellen. Mit immer komplizierteren Kon- Grundrechte wegen einer terroristischen hingegen, wenn der Mensch ein Mensch struktionen wird heute versucht, diese Gefahr tatsächlich zu beschneiden. Das ist. Schon dadurch ist er Subjekt und be- vollkommen klare Entscheidung für die Gegenteil ist der Fall: Erst 2007 stimmten sitzt Würde. Wenn nun über einen Men- Gleichwertigkeit der Menschen zu umge- CDU, CSU und SPD für die Vorratsdaten - schen bestimmt wird, ohne dass er darauf hen. Es gibt zahlreiche Beispiele: Barack speicherung. Jeder Bürger konnte damit Einfluss nehmen kann, wenn also über Obama erklärte kurz nach seinem Amts- überwacht werden. Das Gesetz folgte auf seinen Kopf hinweg entschieden wird, antritt, die USA würden den Kampf gegen die Anschläge in Madrid und London, wird er zum Objekt. Und damit ist klar: Gewalt und Terrorismus weiter verfolgen, nur so sei der Kampf gegen den Terror Der Staat kann ein Leben niemals gegen aber auf eine Weise, „die unsere Werte zu gewinnen. Später stellte das Bundes - ein anderes Leben aufwiegen. Keiner und unsere Ideale achtet“. Er sagte, er kriminalamt fest, dass sich die Aufklä- kann wertvoller sein als ein anderer, eben werde das Lager in Guantanamo schlie- rung durch die Vorratsdatenspeicherung weil Menschen keine Gegenstände sind. ßen, und bekam den Friedensnobelpreis. im besten Fall um 0,006 Prozentpunkte Und das gilt auch für große Zahlen. Endlich schien Amerika – dieses im letz- erhöhen würde. So wenig reichte also Ist das nur eine Idee der Professoren und ten Jahrhundert so strahlende Land, der aus, um unsere Grundrechte zu verlet- der Philosophen? Eine Forderung der Ver- Bürge der Welt für Freiheit, Fairness und zen. Es ist unwahrscheinlich, dass die fassungsrichter, die weit weg von den An- Anständigkeit – sich wieder auf seine Idea- Zahlen bei der NSA wesentlich höher strengungen unseres normalen Lebens ent- le zu besinnen. Es war ein glücklicher Mo- sind. Das Bundesverfassungsgericht hob scheiden? Nein, im Gegenteil: Stellen Sie ment. Die Erklärung des Präsidenten ist das Gesetz wieder auf. Und die Politiker? sich nur einmal vor, was passieren würde, nun vier Jahre her. Seitdem werden in Sie traten nicht zurück, sie entschuldig-

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Schiffbrüchige töteten im Jahr 1884 einen Schiffsjungen, um zu überleben. Ein berühmter Fall. Sie wurden verurteilt. Zu Recht. ten sich nicht, sie schämten sich noch aus, und das Recht verlangt von niemanden auf freien Fuß gesetzt. In der Urteilsbe- nicht einmal. etwas, was er nicht leisten kann. Natürlich gründung stehen die großartigen Sätze, an Die Anhänger des Feindstrafrechts, der kann die Kanzlerin Guantanamo nicht auf- die wir uns heute – 130 Jahre später – noch Polizist, der Folter androht, Barack Obama lösen oder die NSA abschaffen – ihren Eid halten sollten: „Wir werden häufig dazu mit seinem Tötungsbefehl und Angela Mer- hat sie also nicht gebrochen. Aber das allein gezwungen, Standards aufzustellen, die kel in ihrer Freude – sie alle irren sich. Mit reicht nicht, die Aufgabe der Regierung wir selbst nicht erreichen, und Regeln fest- den Rechten des Menschen ist es nämlich geht viel weiter. Wenn Politiker nicht mehr zulegen, die wir nicht selbst befriedigen in Wirklichkeit wie mit der Freundschaft. alles tun, um die Verfassung zu schützen, können … Es ist nicht notwendig, auf die Sie taugt nichts, wenn sie sich nicht auch wenn sie den fremden Rechtsbruch mittra- schreckliche Gefahr hinzuweisen, die es und gerade in den dunklen, in den schwie- gen und wenn er manchmal sogar Freude bedeutet, diese Grundsätze aufzugeben.“ rigen Tagen bewährt. Unser Konsens, dass in ihnen auslöst, stellt das uns selbst in Fra- unsere Regierungen niemals bewusst einen ge. Die westliche Welt, ihre Freiheit und Schirach, 1964 in München geboren, ist Rechtsbruch begehen dürfen, die Grund- ihr Selbstverständnis, wird nicht an Auto- Strafverteidiger und Schriftsteller. Gerade lage unserer Verfassungen also, wird jetzt bahnmaut, Steuererhöhung oder Pflegever- ist sein neuer Roman „Tabu“ im Piper Ver- dauernd verletzt: Kriegsdrohnen töten Zi- sicherung entschieden – sie entscheidet sich lag erschienen. vilisten, Terroristen werden gefoltert und am Umgang mit dem Recht. rechtlos gestellt, unsere E-Mails und SMS Der alte englische Richter verurteilte die Riccardo Vecchio, 1970 in Mailand geboren, werden von den Geheimdiensten gelesen, Seeleute wegen Mordes zum Tode, emp- ist Künstler und lebt in New York. Zuletzt weil wir unter Generalverdacht stehen. Das fahl aber ihre Begnadigung. Nach sechs hat er im SPIEGEL Botho Strauß’ Essay alles geht zwar nicht von unserer Regierung Monaten wurden sie von der Krone wieder „Der Plurimi-Faktor“ (31/2013) illustriert.

DER SPIEGEL 38/2013 141 Kultur

LITERATUR Das Glück, das vor ihm liegt Der Schriftsteller James Salter ist eine Legende der amerikanischen Literatur. Nun hat er im Alter von 88 Jahren und nach mehr als 30 Jahren Pause einen neuen Roman veröffentlicht. Von Volker Hage

berall Kartons mit Briefen und Manuskripten, im ganzen Haus Autor Salter Üverstreut. Auch oben unterm Dach, im Arbeitszimmer, zu dem eine Wendeltreppe führt. Auf dem Fußboden, auf dem Schreibtisch: lauter Stapel von Papier. James Salter räumt auf. Alles muss raus. „Das kommt ins Archiv nach Texas“, sagt er, und es schwingt ein gewisser Stolz mit. Im Harry Ransom Center an der Uni- versity of Texas in Austin werden Vor- und Nachlässe vornehmlich englischspra- chiger Schriftsteller gesammelt, darunter die von Faulkner, Steinbeck, von Mailer, Pynchon oder Graham Greene – und seit gut 13 Jahren die Handschriften, Briefe und Materialien von Salter. „Eine wun- derbare Einrichtung“, sagt er. „Das schafft Ordnung im Haus.“ Auch die Originalseiten und Fassungen seines neuen Romans „Alles, was ist“, der jetzt in deutscher Übersetzung er- schienen ist, sind bereits zusammen- gepackt*. Sie liegen draußen in Salters altem Mercedes, der in der Einfahrt parkt. „Interessiert Sie das? Wollen Sie sich das anschauen?“, fragt er und hat schon seine Baseballkappe aufgesetzt. Aus dem Kofferraum holt er einen großen Karton und trägt ihn an den Bauch gepresst durch den Regen zurück ins Haus. Ge- schickt weicht er dabei den Pfützen aus. Ein Mann von 88 Jahren? Kaum zu glauben. So bewegt er sich nicht, so sieht er nicht aus. Aber Salter ist tatsächlich 1925 in New York geboren, sein jüdischer Großvater kam aus Polen in die USA. Philip Bowman, die zentrale Figur des neuen Romans, ist vom selben Jahrgang wie der Autor. Und doch hat Salter es vermieden, seinen Helden als Alter Ego zu entwerfen. Das zeigt sich schon im ers- ten Kapitel von „Alles, was ist“, das in den letzten Monaten des Kampfes gegen Japan spielt, kurz vor der Invasion der Insel Okinawa: Bowman ist Marineoffi- zier, nicht Kampfpilot wie andere Roman-

* James Salter: „Alles, was ist“. Aus dem amerikani- schen Englisch von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, Ber- lin; 368 Seiten; 22,99 Euro. helden Salters – und wie es der Autor stühlen und hellem Sofa, Schlafzimmer, beschritt tapfer den einmal eingeschla- selbst einmal war. Küche. Viel Platz für Bücher ist nicht. genen Weg. Er ging zur Air Force und Der neue Roman ist ein Buch des Ab- Hier in Bridgehampton verbringt das wurde ein erfolgreicher Kampfpilot, schieds. Am Schluss, gegen Mitte der acht- Paar die Sommermonate, und hier schoss im Korea-Krieg eine russische ziger Jahre, ist Bowman zwar erst Anfang schreibt er auch am liebsten, oben in der MiG-15 ab, deren Pilot sich nicht mehr sechzig – doch ist der Gedanke an den Mansarde. retten konnte. Später führte er eine Kunst- Tod allgegenwärtig. „Er würde hingehen, Wir sitzen im Wintergarten. Der Regen flugstaffel an. wo alle hingegangen waren, und – es war rauscht. Salter spricht leise und bedächtig. Hatte er nie Angst, wenn die Jets dabei schwer zu glauben – alles, was er je ge- Ihm ist jedes Wort wichtig. Er ist kein Flügel an Flügel flogen? „Das ist doch kannt hatte, würde mit ihm gehen“, lässt ausufernder Erzähler. Weder mündlich nicht gefährlicher, als wenn man allein ihn Salter sinnieren. Verschwinden wür- noch schriftlich. Er würde gern einmal ei- in einer F-86 im Tiefflug über die Land- den mit ihm auch die Körper der Frauen, nen richtig umfangreichen Roman schrei- schaft jagt“, sagt er nur. „Ein kleiner Feh- an die er sich erinnert, überhaupt alle Er- ben, sagt er, aber über 400 Seiten sei er ler, und du bist tot.“ Über die Fliegerei innerungen, „Namen, Häuser, das Meer, einfach nie hinausgekommen. Mehr als möchte er eigentlich nicht reden. Das ist alles, was er gekannt hatte, und auch Din- 30 Jahre sind seit den letzten beiden Ro- vorbei. ge, die er nicht gekannt hatte, die aber manen vergangen: „Lichtjahre“, dem Ro- Es war ein schwerer Abschied damals. trotzdem da waren“. man einer Ehe, der ihn international be- Nach 15 Jahren in Uniform, zuletzt im Ein Abschied auch von der Literatur. kannt machte, und dem Bergsteigerepos Rang eines Majors, entschied er sich von Bowman jedenfalls, von Beruf Lektor in „In der Wand“. heute auf morgen, seine Karriere beim einem wichtigen literarischen Verlag, ist „Aber ich habe ja anderes geschrieben Militär abzubrechen. Es war der Tag, an überzeugt: „Die Bedeutung des Romans zwischendurch“, sagt er. So genau könne dem er 32 wurde, als er sich auf den Weg im kulturellen Verständnis des Landes er ohnehin nicht sagen, wie lange die Ar- nach Washington machte. „Als ich das hatte an Kraft verloren. Es war allmählich beit am Roman gedauert habe. Großarti- Pentagon betrat, hatte ich das Gefühl, passiert. Es war etwas, das jeder wusste, aber ignorierte.“ Salters Roman aber ist der le- bendige Gegenbeweis. Schon auf den ersten Seiten entsteht jene Sogwirkung, die so viele Roma- ne aus den USA auszeichnet. Die freien Lüfte der Fiktion erlauben eine intime Nähe zu den Figuren. „Alles, was ist“ erledigt im Hand- umdrehen die darin formulierte Befürchtung, es könnte vorbei sein mit dem Erzählen. Zieht man den Vergleich zu Salters ei- gener Autobiografie „Verbrannte Tage“, die er mit Anfang siebzig schrieb, offenbart sich auch dabei die Überlegenheit der Roman- form, die ihre eigenen Fakten schafft, mit Fakten spielt, sich über die Realität erhebt und ihr doch näherkommt als jeder Tat-

sachenbericht. PRESS (R.) OF COUNTERPOINT (L.); / DER SPIEGEL COURTESY FRANK JÜRGEN Von seinen Kollegen wird Sal- Kampfpilot Salter in Korea um 1951: Hinterher kamen ihm die Tränen ter, von dem kein Buch je in Bestsellernähe kam, verehrt und bewun- ge Erzählbände („Letzte Nacht“, „Däm- meinem Tod entgegenzugehen“, so be- dert wie kaum ein anderer lebender Au- merung“) sind erschienen und seine Er- schreibt er es in seiner Autobiografie. Hin- tor. Richard Ford und John Irving, John innerungen „Verbrannte Tage“. terher kamen ihm die Tränen. Banville und Julian Barnes, sie alle prei- In Salters Gesicht fällt eine Asymme- Er hatte inzwischen Familie, das zweite sen ihn in den höchsten Tönen. Und „All trie auf. Seine blauen Augen blicken un- Kind war unterwegs, und er hatte einen That Is“ wurde, als das Buch im Frühjahr terschiedlich auf sein Gegenüber. Bei Roman veröffentlicht. Noch während sei- in den USA erschien, in einer Weise ge- dem einen hängt das Lid ein wenig über ner Zeit in Korea waren die ersten Auf- feiert, wie es selbst für die durchweg die Iris, beim anderen ist der Blick klar zeichnungen entstanden. Als ein Auszug freundlich gesinnten amerikanischen Kri- und direkt. Jede Gesichtshälfte scheint in der Zeitschrift „Collier’s Weekly“ er- tiker ungewöhnlich ist. für einen Wesenszug zu stehen. Hier der schien, kam einer seiner Kameraden zu Salter wohnt mit seiner Frau Kay El- mütterlich geprägte Künstler, verträumt ihm und fragte, ob er diese tolle Geschich- dredge sowohl in Aspen, Colorado, wo und geduldig, dort der vom Vater er- te gelesen habe. „Gib mal her“, sagte Sal- er die Dramatikerin einst kennengelernt wünschte Kämpfer, soldatisch und ge- ter, ohne eine Miene zu verziehen. hatte, als auch hier in Bridgehampton, radeaus. Die Spannung zeigt sich noch James Salter ist ein Pseudonym, das er dem kleinen Ort zwischen den exklusiven heute in Ausdruck und Mimik des alten sich damals zulegte, um nicht erkannt zu Seebädern Southampton und East Hamp- Mannes. werden. Sein eigentlicher Name lautet ton auf Long Island. Das Haus ist nicht Mit 17 schickte ihn der Vater, der sich James Horowitz. Der erste Roman „The pompös, wie man es in den Hamptons sonst nicht viel um ihn kümmerte, auf Hunter“ („Der Jäger“, eine deutsche erwarten könnte, keine Villa am Strand, die Militärakademie in West Point. Der Übersetzung gibt es bisher nicht) erschien aber hübsch anzusehen mit vielen Spros- Junge ahnte nicht, was ihn erwartete an 1957 und war ein mäßiger Erfolg, wurde senfenstern. Ein großer Salon mit Korb- Drill, Willkür und Einsamkeit. Doch er aber immerhin unter dem Titel „Kampf-

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flieger“ verfilmt. Um Geld zu verdienen, Fiasko durch eine unfassbare Gemeinheit verlegte sich Salter zunächst auf das der Frau. Jahre später verführt er deren SONNTAG, 22. 9., 22.25 – 23.10 UHR | RTL Schreiben von Drehbüchern. Tochter, weckt in ihr die Lust – und ver- SPIEGEL TV MAGAZIN Sein Hauptinteresse gelte Flugzeugen schwindet über Nacht. Er rächt sich aus- und Frauen, ist ihm gelegentlich vorge- gerechnet an ihr, die nie auf Seiten ihrer Der Tag der Entscheidung – worfen worden. Das hört er nicht gern. Mutter stand, und lässt sie seelisch ver- Merkel oder Steinbrück Doch zumindest mit seinem 1967 publi- wundet in einer fremden Stadt zurück. zierten Roman „Ein Spiel und ein Zeit- Ein feiner Bursche ist dieser Bowman vertreib“ hat er sich den Ruf erworben, wahrlich nicht, und der Autor macht sich sexuelle Begegnungen detailliert zu schil- auch nicht mit ihm gemein. Er lässt an - dern. In diesem Roman erzählt er von dere Perspektiven zu, spielt den allwis- der Affäre mit einer jungen Französin im senden Erzähler, zitiert aus Tagebüchern Jahr 1961. Zur Zeit der Berlin-Krise war von Nebenfiguren, lässt Personen nach Salter noch einmal für ein Jahr einberu- hundert Seiten wieder auftauchen, die fen worden und in Frankreich stationiert. Bowman längst vergessen hat. Der Autor Körperliche Begierde und Leidenschaft nimmt sich alle Freiheiten des Erzählens. hätten damals, als er Mitte dreißig war, Er hält sich so wenig an Regeln wie das alles andere dominiert, räumt er ein. Er Leben selbst – und fängt es damit ein.

FABRIZIO BENSCH / REUTERS FABRIZIO war noch mit seiner ersten Frau verheira- Jetzt in seinem Wintergarten blättert Merkel, Steinbrück tet, als das Buch erschien. „Sie hat vorge- Salter zum ersten Mal ein Exemplar der zogen, es mit Schweigen zu übergehen.“ deutschen Ausgabe durch. Er möchte das Der Wettlauf zwischen Angela Rücksicht sei beim Schreiben schwer mög- Motto auf Deutsch vorgelesen bekom- Merkel und Peer Steinbrück ist erst lich, fügt er hinzu. Einige Jahre später men. Er höre gern diese Sprache, die er zum Ende des Wahlkampfs inter - ließ sich das Ehepaar scheiden. nicht verstehe, obwohl er in seiner Zeit essant geworden. Am Sonntagabend „Nein“, sagt Salter entschieden, „ich bei der Air Force auch auf deutschen ist alles vorbei: Deutschland finde nicht, dass Sex eine übergroße Rolle Militärbasen stationiert war. wählt – und die SPIEGEL-TV-Repor- in meinen Büchern spielt.“ Gerade im „Irgendwann wird einem klar, dass alles ter sind dabei. Eine Sondersendung Fall von „Alles, was ist“ komme ihm die ein Traum ist und nur geschriebene Dinge zur Bundestagswahl. die Möglichkeit haben, wirklich zu sein“, steht da. Ob das gut übersetzt sei, will er Liebesszenen von einer in wissen. Im Original heißt es: „Only those SONNTAG, 22. 9., 17.50 – 18.45 UHR | SKY der Literatur seltenen things preserved in writing have any pos- SPIEGEL GESCHICHTE sibility of being real.“ Nicht um „geschrie- Intensität, Intimität und bene Dinge“ geht es also, sondern um jene Marlene – ein Engel in der Dinge, die im Schreiben, in der Schrift auf- Dämmerung Stimmigkeit. gehoben, bewahrt sind – nur sie seien real. Als Marlene Dietrich am 6. Mai 1992 Er ist unglücklich über die Auskunft: stirbt, hat sie ihre Pariser Wohnung Frage danach aufgesetzt vor, „a made-up „Das ist mir so wichtig. Das ist doch ei- seit mehr als zehn Jahren nicht question“, wie er sagt. „Es gibt nicht Sex gentlich das Thema des Romans: dass im verlassen. Bis zuletzt widmet sie ihr im Buch, es gibt Leben im Buch!“ wahren Leben alles verschwindet, Men- Leben dem Erhalt einer Legende. Tatsächlich beweist Salter in diesem schen, Gedanken, Gefühle. Alles fließt.“ Die alternde Marlene soll niemand Alterswerk eine souveräne Meisterschaft Dann nimmt er zwei, drei Sammelmap- sehen. Nur wenigen Menschen ge- im Umgang mit dem Thema. Fein dosiert pen aus dem übervollen alten Karton, der sind die meist nur kurzen Liebesszenen einmal Weinflaschen aus Neuseeland ent- über den Roman verteilt, aber doch ins- hielt und in dem nun die Zeugnisse aus gesamt von einer in der Literatur seltenen der Entstehungszeit von „Alles, was ist“ Intensität, Intimität und Stimmigkeit. bewahrt werden. Er öffnet den ersten Als sein Held Philip Bowman das erste Pappdeckel: Typoskripte mit seinen Kor- Mal mit einer Frau schläft, mit Vivian, rekturen, zuoberst ein kleiner Zettel, auf die er bald danach heiratet, deutet Salter dem er handschriftlich die allerersten No- das Überwältigende dieser Erfahrung an: tizen für den Roman gemacht hat. Ein „Sie ging ins Badezimmer, und Bowman paar Zeilen sind es nur, kaum mehr als legte sich zurück, ehrfürchtig vor dem, 30 Wörter. „Navy – the war“ steht ganz was geschehen war, wie berauscht von ei- oben, „sailing in the great invasion of ner Welt, die sich ihm eröffnete und die Okinawa“. Notiert schon 1945. größten Freuden bereithielt, Freuden jen- Er hält den Zettel einen Augenblick in

ILLEGITIME DEFENSE, PARIS ILLEGITIME seits von allem, was er kannte. Er wusste seiner linken Hand, legt ihn dann zurück. Dietrich um 1932 nur von dem Glück, das vor ihm lag.“ Ist er nicht wehmütig, das alles jetzt aus Aber Glück allein taugt nicht für gute der Hand zu geben? „Nein, es ist dort in währt sie Zutritt zu ihrem Leben – Romane. Später lassen sich die beiden Texas gut aufgehoben“, sagt er. ihrer Tochter Maria Riva, ihrem Enkel scheiden, und es wird nicht die letzte Abschied von einem Schriftsteller - Peter und ihrem letzten Vertrauten schmerzhafte Trennung im Buch bleiben. leben? „Wer weiß“, sagt er. Aber wenn sein Louis Bozon: Mal kühl und distanziert, Es gibt Abschiede der grausamen Art, oft acht Jahre jüngerer Kollege Philip Roth mal sehr emotional und voller Liebe – auch für den Leser – völlig unerwartet, bekanntgibt, nicht mehr schreiben zu wol- erzählen sie in dieser Dokumentation ohne jede Vorankündigung. len, dann glaube er ihm das nur bedingt: von den letzten Jahren der Dietrich. Ein Kollege Bowmans verliert Frau und „Plötzlich gibt es dann doch wieder ein Seltene Filmaufnahmen und Aus- Kind, als ein Zug Feuer fängt und die bei- Buch von ihm.“ Er traue derartigen Ver- züge aus Telefongesprächen komplet- den im Schlafwagen ersticken. Bowman lautbarungen nicht, sagt James Salter und tieren dieses Porträt einer Diva. selbst erlebt bei einer großen Liebe ein schiebt den Karton beiseite. #

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ANNIE LEIBOVITZ / CONTACT PRESS IMAGES / AGENTUR FOCUS, ORIGINALLY FOR VANITY FAIR FOR VANITY FOCUS, ORIGINALLY / AGENTUR PRESS IMAGES / CONTACT ANNIE LEIBOVITZ „Sopranos“-Star Gandolfini mit Statistin, Produzent Chase: „Ich habe das Gefühl, das Beste ist vorbei“

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KINO Der Pate auf der Couch Der Autor David Chase erfand die „Sopranos“ und revolutionierte damit das Fernsehen. Jetzt gibt er sein Debüt als Kinoregisseur: „Not Fade Away“ ist eine Zeitreise in die eigene Jugend. Von Martin Wolf

avid Chase redet schon seit fast Bauch hatte, auf die Fernsehbranche, vor Chase, ein magerer Herr, führt durch einer Stunde, er spricht über seine allem auf sich selbst, denn er arbeitete den Flur und das Esszimmer in sein Büro. DMutter, „eine Verrückte“, über dort. „Ich habe das Fernsehen gehasst“, An der Wand hängt ein gerahmtes Foto, Hollywood, über seine Therapeutin; sagt er. Büffel in Schwarzweiß, ein kleines Porträt gerade erzählt er, dass er „nicht wirklich David Chase wurde am 22. August 1945 zeigt seine Frau Denise als junges Mäd- schockiert“ gewesen sei, als sein Freund geboren, gut zwei Wochen nach Abwurf chen. Auf einer Fensterbank stehen eini- James Gandolfini, der Star der „Sopra- der Atombombe auf Hiroshima, die Baby- ge der Auszeichnungen, die Chase für nos“, im Juni mit 51 an einem Herzinfarkt Boomer-Generation. Er wuchs in New seine Fernseharbeiten gewonnen hat, dar - starb. „Nicht schockiert“ im Sinne von: Jersey auf, seine Eltern waren Nachfah- unter sieben Emmy-Statuen, die wichtigs- nicht überrascht. ren italienischer Einwanderer, die Familie ten TV-Preise Amerikas. „Yeah“, sagt Aber plötzlich wundert sich Chase dar- hieß ursprünglich DeCesare. David war Chase, wenn man ihn darauf anspricht, über, dass ihn jetzt hier in New York aus- ein Einzelkind. Wenn die Eltern nicht „ganz nett.“ Er klingt nicht besonders gerechnet jemand aus Deutschland be- wollten, dass der Sohn sie versteht, spra- überzeugt. sucht. Es sei doch so: „Nobody saw that chen sie untereinander den Dialekt der In eine Folge der „Sopranos“ baute fucking movie“, sagt Chase, niemand hat Region Neapel. Der junge David merkte Chase einen Gag dazu ein, der vielleicht diesen verdammten Film gesehen. sich nur die Schimpfwörter. mehr über ihn verrät, als ihm recht sein That fucking movie. Damit meint Wenn er damals in die Zukunft sehen kann: Ein preisgekrönter TV-Autor hat Chase seinen eigenen Film, der vor ein wollte, in seine Zukunft, dann stieg Chase Schulden bei der Mafia; verzweifelt ver- paar Monaten in den amerikanischen mit seinen Freunden auf einen Hügel in sucht er, seinen Emmy in einem Leihhaus Kinos lief. der Nachbarschaft, den Garret Mountain. zu Geld zu machen. Man bietet ihm 15 Das Werk heißt „Not Fade Away“, Dollar, „wenn du einen Oscar hättest, James Gandolfini spielt darin eine seiner wäre das etwas anderes“. letzten Rollen, es ist zugleich der erste Als junger Mann wollte Chase hat noch keinen Oscar gewon- Spielfilm von David Chase. Für einen er Musiker werden, nach nen. Er ist ein Fernsehmacher, kein Kino- Debütanten ist er spät dran, Chase ist mann, ein Unterschied, der ihn einst in 68 Jahre alt, aber im Grunde hat er sich Möglichkeit Rockstar, Depressionen getrieben hat. An manchen 50 Jahre lang auf diesen Film vorbereitet. Tagen hält Chase seine gesamte Karriere In der Zwischenzeit hat er, eher aus Ver- schon wegen der Mädchen. für einen großen Irrtum. sehen, das Fernsehen revolutioniert. Als junger Mann wollte er Musiker wer- Chase hat die „Sopranos“ erfunden, er Bei klarem Wetter konnten sie von dort den, nach Möglichkeit Rockstar, schon ist der Produzent sowie der Autor der die Skyline New Yorks erkennen, 15 Ki- wegen der Mädchen. Es waren die frühen meisten Drehbücher jener legendären TV- lometer entfernt, das Empire State Buil- sechziger Jahre, „die Musik und ich, wir Serie über den Mafia-Boss in New Jersey, ding, das Chrysler Building, all die Hoch- sind gleichzeitig erwachsen geworden“, verkörpert von Gandolfini. Die „Sopra- häuser, die Glamour und Geist und Geld sagt Chase. Mit ein paar Freunden spielte nos“, 86 Folgen, in den USA ausgestrahlt ausstrahlten, den amerikanischen Traum er Songs von den Beatles und den Rolling von 1999 bis 2007 und immer noch auf auf der anderen Seite des Hudson River. Stones nach, sie legten ein paar hundert DVD und im Netz erhältlich, sind bis „Wir wollten alle raus aus New Jersey“, Dollar für ein Demo-Band zusammen. heute ein Massenphänomen der amerika- sagt Chase heute, „aber nicht irgendwo- „Uns eine Band zu nennen wäre zu viel nischen Popkultur. hin. Sondern nach Manhattan.“ der Ehre gewesen“, sagt Chase, „wir Die „Sopranos“ haben die Fernsehserie New Jersey, das war und ist Provinz, waren nur eine Gruppe.“ Nicht mal auf als Kunstform etabliert, als anspruchsvol- Maloche, Langeweile, das ewige Gefühl einen Namen konnten sie sich einigen. le Unterhaltung für Erwachsene, als ein der Zweitklassigkeit im Hinterhof von Die Musik bot Chase die Möglichkeit, Medium, in dem plötzlich alles möglich New York. Der Staat hat viele Stars her- ab und an seinem schwierigen Elternhaus ist und Themen wie Depressionen, Sucht, vorgebracht, Frank Sinatra, Bruce zu entkommen. Seine Mutter Norma war Krebs oder die Krise des Mannes verhan- Springsteen, Meryl Streep, Tom Cruise, passiv-aggressiv, dominant, unsicher, eine delt werden können, gern auch mit Hu- Jack Nicholson. Bis auf Springsteen sind Drama-Queen; um ihren Willen durchzu- mor. Durch die „Sopranos“ hat das ame- alle weggezogen. setzen, drohte sie gern mit Selbstmord. rikanische Fernsehen das Kino als Leit- Chase lebt seit Jahren in Manhattan, Chase’ Vater Henry, Besitzer eines Ladens medium abgelöst. „Mad Men“, „Breaking auf der Upper East Side in der Nähe des für Eisenwaren, beschwerte sich ständig Bad“, „Homeland“, „House of Cards“, Central Park, in einem denkmalgeschütz- über das Äußere seines Sohns, die langen all diese modernen Serien wären kaum ten Apartmenthaus von 1906. Das Gebäu- Haare, die Kleidung: „Du siehst aus, als vorstellbar ohne Chase’ Pionierarbeit. de hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag, ob du gerade vom Schiff kämst.“ Gemeint Möglich wurde das wohl auch, weil drei uniformierte Diener fangen Besucher war: Du siehst aus wie ein Immigrant, Chase über Jahre eine ungeheure Wut im in der Lobby ab. frisch aus Italien. Die Eltern selbst taten

DER SPIEGEL 38/2013 147 Kultur alles, um ihre eigene Einwanderer-Vergan- echter Italiener („La dolce vita“). Chase besuchten. Der Sohn zeigte ihnen sein genheit zu verwischen. studierte an der Stanford Film School, ur- Büro auf dem Gelände der Universal Stu- Wenn man Chase fragt, ob seine Eltern sprünglich wollte er Kameramann wer- dios, er fotografierte sie auf dem Park- ihn geliebt haben, erzählt er von seinem den oder Regisseur. Aber Chase ist far- platz von Clint Eastwood, im Fahrstuhl Schlagzeug: Sein Vater wollte ihm keines benblind, „ich habe Schwierigkeiten im standen sie plötzlich neben Charlton Hes- spendieren, zu teuer und überhaupt. Aber Rot-Grün-Bereich“, ein Makel, der ge- ton, dem Star aus „Ben Hur“. „Es war immerhin begleitete er seinen Sohn nach heim bleiben sollte. „Ich dachte, wenn wirklich Hollywood“, sagt Chase, „meine Newark, der größten Stadt von New Jersey. das jemand merkt, bin ich raus aus dem Eltern waren schwer beeindruckt und Dort hatte jemand ein gebrauchtes Schlag- Geschäft.“ Also ins Drehbuchseminar. sehr stolz auf mich.“ zeug zu verkaufen, für 200 Dollar, damals Nach dem Studium zog Chase mit sei- Am Abend aßen sie gemeinsam in ein Vermögen. Chase bezahlte mit seinen ner Frau nach Los Angeles. Er unternahm Chase’ Haus, auch eine Tante und ein On- Ersparnissen, verdient bei Ferienjobs. einen neuen Versuch, im Regiefach zu kel kamen dazu. Für die Verwandtschaft Während er auf dem College war, ver- landen, fiel aber durch die Aufnahmeprü- fasste Mutter Chase den Tag so zusam- kauften die Eltern das Schlagzeug, ohne fung des Berufsverbands. Er verfasste men: „Wir haben Davids Angeberbüro ihren Sohn vorher zu fragen. Den Erlös Drehbücher, ohne Auftrag, niemand woll- besichtigt.“ behielten sie. „Ich war damals ziemlich te sie verfilmen, „zu düster“. 1992 starb die Mutter, auch der Vater angepisst“, sagt Chase. Schließlich fand er Arbeit bei den Fern- war mittlerweile tot. Für Chase war es Er hat den Vorfall später in einer Epi- sehstudios. Anfangs schrieb er, nach ei- wie eine Befreiung, Auslöser für eine sode der „Sopranos“ verarbeitet: Da gener Einschätzung, mittelmäßige Bücher Drehbuch-Idee über eine sehr spezielle schenkt Tony Soprano seinem halbwüch- für schlechte Serien, später gute Bücher Mutter-Sohn-Beziehung, über eine Ma- fia-Familie in der Krise. Der erwachsene Sohn Tony will die Führung übernehmen, aber seine Mutter und ein Onkel bekämp- fen ihn, die beiden planen sogar seine Er- mordung. Nebenbei geht der Mafia-Boss, wie sein Erfinder, regelmäßig zur Thera- peutin, Beichtstunden, um seine Panik - attacken zu kurieren. Ein anderer Mafio- so träumt von einer Karriere im Filmge- schäft; ein echter Rockstar, Steven Van Zandt, der Gitarrist von Bruce Spring- steen, bekam die Rolle als Tonys Consi- gliere. Natürlich spielt das Ganze in New Jersey. Der Name der Familie: Soprano. Der Rest ist Geschichte. Der Kabelsen- der HBO beauftragte Chase, eine Serie zu entwickeln. Chase brach dabei lustvoll alle Regeln, die bislang im US-Fernsehen galten; er brachte all das unter, was ihm einst seine Vorgesetzten ausgetrieben hat- ten: Ironie, politische und literarische An- spielungen, Ambivalenz, Kraftausdrücke, surreale Sequenzen wie bei Fellini, einen

BARRY WETCHER / PARAMOUNT WETCHER BARRY Verbrecher als Helden. Chase sagt, er wis- „Not Fade Away“-Darsteller Magaro (M.): „Du siehst aus, als ob du gerade vom Schiff kämst“ se bis heute nicht, ob die „Sopranos“ eher Komödie oder Drama seien. Die „New sigen Sohn AJ ein nagelneues Schlagzeug, für mittelmäßige Serien. Die Schreiberei York Times“ verglich ihn mit Balzac, das für 5000 Dollar. Der Junge freut sich, der wie am Fließband wurde gut bezahlt, Museum of Modern Art nahm die Serie Vater ist glücklich, dass der Junge sich Chase konnte sich ein Haus in Santa Mo- in seine ständige Sammlung auf. freut. Tony verteidigt das Geschenk auch nica leisten, aber es kam ihm vor wie Tony Soprano ist „Der Pate“ für das gegenüber seiner Frau, AJs Mutter. Schmerzensgeld. Die Serien mit den rigi- 21. Jahrhundert, ein gemütlicher Psycho- Tony Soprano, das ist eine gängige Deu- den Vorgaben der Sender, die vorherseh- path, charmant und verfressen, aber auch tung, verkörpert den Traum fast aller Män- baren Plots, die simplen Dialoge, der impulsiv, ein notorischer Lügner, mani- ner, nämlich Egoismus ohne Reue. Als Ma- Druck der Werbeindustrie, ignorante Vor- pulativ und, wenn es die Situation erfor- fia-Boss bekommt er immer, was er will: gesetzte – die Arbeit machte ihn krank. dert, mörderisch brutal. Die „Sopranos“ den besten Tisch im Restaurant, den dicks- Chase suchte Hilfe bei einer Psycho- gelten heute als Parabel auf Amerika, ten Umschlag mit Schutzgeld, die schönste therapeutin, einer älteren Dame namens eine Nation im Niedergang. „Ich habe Frau, die man für Geld kaufen kann. Aber Lorraine Kaufman, die sich mit den Nö- das Gefühl, das Beste ist vorbei“, sagt manchmal wollte Chase mit der Serie wohl ten der Branche auskannte: Ihr Ehemann Tony gleich in der ersten Episode. einfach nur zeigen, dass ein Vater seinen Millard war ebenfalls Drehbuchautor. Nur für das Fernsehen gilt dies nicht: Sohn auch lieben kann. Lorraine Kaufman, „eine großartige, mit- Mit den „Sopranos“ begann das goldene Ende der sechziger Jahre heiratete fühlende Frau“, wurde „eine Art Ersatz- Zeitalter der TV-Unterhaltung. Einige ehe- Chase seine Highschool-Freundin Denise, mutter für mich“, sagt Chase. malige „Sopranos“-Autoren produzieren gemeinsam zogen sie nach Kalifornien. Seine richtige Mutter und sein Vater heute eigene Serien, Matthew Weiner Chase hatte die Rockstar-Phantasien auf- haben die ersten Erfolge ihres Sohns noch macht „Mad Men“, Terence Winter kre- gegeben, stattdessen verbrachte er viel erlebt. Chase war mittlerweile zum Pro- ierte „Boardwalk Empire“. Beide Reihen Zeit im Kino, er guckte Autorenfilme aus duzenten bei „Detektiv Rockford“ aufge- haben erstaunlich viele Gemeinsamkeiten Europa, von Godard oder Roman Polan- stiegen, der Krimi-Reihe mit James Gar- mit den „Sopranos“, aber Chase nimmt ski. Sein Vorbild war Federico Fellini, ein ner, als ihn seine Eltern in Los Angeles es gelassen, „wir reden noch miteinan-

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Kultur der“. Mit beiden Kollegen ist er befreun- det, „Stand heute Vormittag“. Was kommt nach einem Welterfolg, SPIEGEL-GESPRÄCH nach acht Jahren Dauerstress? „Egal, was ich als Nächstes gemacht hätte, ich konnte nur verlieren“, sagt Chase. „Weil man es „Auspuff, Brustwarze, mit den ‚Sopranos‘ verglichen hätte.“ Er nahm ein Jahr Auszeit und zog sich in sein Ferienhaus nach Frankreich zu- rück. Er holte seine alten unverfilmten Sehnsucht“ Drehbücher hervor, acht oder neun Stück, aber keines interessierte ihn mehr. Stattdessen schrieb er ein neues Dreh- Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, buch und führte auch selbst Regie bei über schönes Deutsch, guten Führungsstil, „Not Fade Away“, benannt nach einem das Ende der Pult-Diktatoren und den Sound von Berlin frühen Hit der Rolling Stones. In einer der ersten Szenen schwenkt die Kamera von der Skyline Manhattans am Horizont Seit seinem 25. Lebensjahr arbeitet Rattle SPIEGEL: Sir Simon, wie führt man einen auf das Schaufenster eines Musikgeschäfts als Chefdirigent. Er leitete von 1980 bis Haufen von 128 Individualisten, die welt- in einer Kleinstadt in New Jersey. Hinter 1998 das Birmingham Symphony Orchestra weit zu den Besten ihres Fachs gehören? der Scheibe funkelt ein Schlagzeug, davor und machte es zu einem international an- Rattle: Gegenfrage: Wie hütet man Kat- steht ein junger Mann und träumt. erkannten Ensemble. Seit 2002 ist der in zen? Ich denke, man schafft es am besten, Die halbe Jugend des David Chase Liverpool geborene Rattle Chef der Berli- wenn die Orchestermusiker das Gefühl ha- steckt in diesem Film – und sein ganzes ner Philharmoniker, die zu den drei besten ben, sie seien selbst auf jede Idee gekom- Herz. Der junge Mann, im Film heißt er Orchestern der Welt gezählt werden. Ratt- men. Die Aufgabe eines jeden Dirigenten, Douglas und wird gespielt von John Ma- le, 58, wird diesen Posten auf eigenen wie wahrscheinlich eines jeden Chefs, ist garo, wohnt noch zu Hause. Er hat eine Wunsch 2018 aufgeben. Der Dirigent ist in es, die Balance zwischen Führung und zänkische Mutter, die bei Konflikten dritter Ehe mit der tschechischen Mezzo- Konsens zu finden. Wir betreiben bei den droht, „ich schneide mir die Pulsadern sopranistin Magdalena Kožená verheira- Berliner Philharmonikern eher Koalitions- auf“. Der Vater, natürlich Italo-Amerika- tet, mit der er zwei Söhne hat. politik als Einparteienpolitik. ner, verkörpert von James Gandolfini, SPIEGEL: Und die Musiker sind dabei die spricht nicht viel. Wenn doch, dann hält FDP? er seinem Sohn vor, er sehe aus, „als ob Rattle: Sicherlich nicht. du gerade vom Schiff kämst“. SPIEGEL: Ihr Vorvorgänger Herbert von Es gibt viele Band-Proben im Film, ein Karajan hätte das weniger demokratisch paar Experimente mit Drogen, Streit über gesehen. Musik, über Mädchen. Eine große Liebe Rattle: Na ja. Trotz Herrn Putin leben wir entwickelt sich, der Soundtrack ist voll- nicht mehr in Zeiten von Diktatoren. Ein gepackt mit Songs der sechziger Jahre, solcher Führungsstil könnte bei einem James Brown, die Stones, Van Morrison. Orchester sogar über einen längeren Zeit- Und gegen Ende kommt eine Szene mit raum funktionieren. Aber wollen wir James Gandolfini, die heute wie eine Vor- das? ahnung wirkt, ein Abschied von einem SPIEGEL: Warum verlassen Sie Ihre vor- großartigen Schauspieler. bildliche Orchesterrepublik freiwillig im Am 26. September kommt „Not Fade Jahr 2018? Away“ in die deutschen Kinos. In den Rattle: Viele Dirigenten verbringen in- USA war der Film ein Flop. zwischen nur noch fünf Jahre am Stück „Nobody saw that fucking movie.“ mit einem Orchester. Ich bin seit elf Jah- Die böse Ironie der Geschichte besteht ren hier und werde noch fünf Jahre lang darin, dass die Zeit Chase überholt hat. bleiben. Das ist genug. 16 Jahre mit ei- Jahrzehntelang hat er sich gequält, um nem Orchester, das ist eine ungewöhn- sich den Status zu erarbeiten, von dem lich lange Zeit. Heute funktioniert es er immer geträumt hat: Kinoregisseur zu nicht mehr, ewig Chefdirigent zu sein. sein. Das ist er nun. Aber Geschichten, Es war hier zwar immer Tradition, in wie er sie ersinnt, kluge Unterhaltung für der geschlossenen Kiste rausgetragen zu Erwachsene, finden im zeitgenössischen werden … amerikanischen Kino praktisch nicht SPIEGEL: … aber das möchten Sie sich er- mehr statt. Die allermeisten US-Spiel - sparen? filme sind heute so berechenbar, wie es Rattle: Es geht ja nicht nur um mich. Die- Fernsehserien vor den „Sopranos“ waren. ses Orchester hat so viel Energie und ist David Chase zuckt mit den Schultern, so stark, dass es sich auch entscheiden er sagt, er sehe praktisch nie fern. Aber muss, wie seine Zukunft aussehen soll. „einmal pro Woche“, sagt er, gehe er in- Und das werde ich für meinen Teil auch zwischen wieder zum Therapeuten. tun. Und es ist vielleicht für beide Seiten an der Zeit, ein anderes Leben zu führen. Video: Martin Wolf über den Wir werden eng verbunden bleiben. Kinofilm „Not Fade Away“ SPIEGEL: Haben Sie in Berlin alles erreicht? Philharmoniker-Chef Rattle spiegel.de/app382013notfadeaway Rattle: Ich denke, dass man sich irgend-

oder in der App DER SPIEGEL / DER SPIEGEL FENDT SIBYLLE wann auch zu gut kennen kann. Es

150 DER SPIEGEL 38/2013 BIENERT / ULLSTEIN BILD Berliner Philharmoniker: „Dieses Orchester möchte, dass man im Konzert auch das hört, was es zu sagen hat“ ist doch herrlich, wenn jemand Neues SPIEGEL: Was müsste der- oder diejenige Rattle: Wie viel Zeit haben Sie? Für mich kommt, der etwas anderes mitbringt als mitbringen? war es das erste Mal, dass ich als Immi- ich. Für die Philharmoniker ist es gut, sich Rattle: Das Wunderbare ist, dass ich nichts grant gelebt habe, außerhalb meiner Mut- Farben anzueignen, die sie vorher nicht mehr mit der Wahl meines Nachfolgers tersprache, das war faszinierend. Mein hatten. zu tun haben werde. Das Beste, was man Deutsch ist immer noch schlecht. Aber SPIEGEL: Braucht das Orchester überhaupt sich wünschen würde, ist Neugierde. Ich ich kann inzwischen sogar einen Eltern- einen Chefdirigenten? habe großes Vertrauen in diese spezielle abend einigermaßen überstehen. Wenn Rattle: Natürlich, aber das sage ich nur, Demokratie, die das Orchester kultiviert. man die Sprache nicht richtig versteht, weil ich Dirigent bin. Im Ernst: Musik SPIEGEL: Was können Sie einem künftigen bekommt man die Feinheiten nicht mit, zu machen ist kein ständiges Auspacken Chef raten? man konzentriert sich dann auf die Kör- von Weihnachtsgeschenken. Da gibt es Rattle: Lassen Sie es mich so sagen: Ich persprache. Man beobachtet viel mehr. auch die täglichen Unannehmlichkeiten, kenne wunderbare Dirigenten, die über- Berlin ist eine Stadt der Immigranten. Je- so wie die lästige Mundhygiene mit der all auf der Welt unglaubliche Ergebnisse der von uns Zugezogenen radebrecht. Zahnseide, die auch keinen Spaß macht, erreichen. Die kommen dann zu diesem Aber ich kann mit jedem Immigranten aber sein muss. Natürlich ist es wunder- Orchester nach Berlin und scheitern, weil herrlich kommunizieren. bar, zu einem Orchester als Gast zu kom- sie es zwingen wollen, sich zu unterwer- SPIEGEL: Haben Sie deutsche Lieblings - men, aber einer muss die tägliche Arbeit fen. Und je mehr sie das versuchen, desto wörter? ja machen, einer, der das Zusammen- mehr zieht sich das Orchester zurück. Rattle: Zunächst das Wort „Auspuff“, weil spiel organisiert, die Termine, den Ein- SPIEGEL: Also müssen die Dirigenten die es das Lieblingswort meiner Kinder ist. klang. Philharmoniker überzeugen? Aber auch, weil es den wunderbaren SPIEGEL: Haben Sie keine Angst, dass Sie Rattle: Diese Musiker sagen auf der Probe Hang der Deutschen belegt, mehr Infor- in den Jahren, die noch bis zu Ihrem Ab- nicht: „Wir glauben zwar nicht, dass es mationen zu transportieren, als man wirk- schied bleiben, an Autorität einbüßen? funktioniert, aber wir machen es trotz- lich braucht. Und dann mag ich das Wort Rattle: Sie meinen, wie Politiker, die in dem.“ Dieses Orchester sagt: „Wir sind „Brustwartz“. einer ähnlichen Situation zur „lame nicht wirklich davon überzeugt.“ Es SPIEGEL: Sie meinen Brustwarze? duck“ werden? Ehrlich gesagt glaube ich, möchte, dass man im Konzert auch das Rattle: Sorry, ja. Das ist ein absolut wun- dass wir im Gegenteil miteinander freier hört, was es zu sagen hat. derbares Wort. Aber natürlich ist mein umgehen werden. Das Gefühl, nicht mehr SPIEGEL: Haben die Musiker Sie um Rat Lieblingswort „Sehnsucht“. Wir haben der Mittelpunkt zu sein, muss wunder - gefragt? im Englischen kein Pendant dafür. Und bar sein. Rattle: Wer mein Nachfolger werden soll? man kann mit diesem Wort ausdrücken, SPIEGEL: Wen sollte das Orchester wäh- Ich verwette mein ganzes Geld darauf, worum es bei unserer Kunst geht. Man len? dass das nie passieren wird. Das ist auch müsste vielleicht mal einen Satz finden, Rattle: Wenn ich ein Beispiel für kontra- gut so. in dem meine drei Wortfavoriten vor- produktives Verhalten abgeben wollte, SPIEGEL: Wie haben Sie sich in Berlin ver- kommen. Aber der wäre dann nichts für würde ich es Ihnen jetzt sagen. ändert? Ihr Blatt.

DER SPIEGEL 38/2013 151 und dessen Cello verliebt. Jetzt will er Cello spielen. SPIEGEL: Haben Sie in Ihrer Berliner Zeit einen deutschen Komponisten besonders schätzen gelernt? Rattle: Immer mehr und immer tiefer Robert Schumann. Von allen Kompo - nisten ist er der ehrlichste. Er weiß, dass er sich mit seiner Musik quasi selbst zerstören wird. Und er macht das gänzlich ohne Selbstmitleid. Er bittet Sie nicht, mit ihm zu weinen, wie Mahler das tut. Er will Sie auch nicht mit Brillanz und Groß artigkeit erdrücken wie Richard Wagner, übrigens zwei der wunder- barsten Komponisten, die man sich nur vorstellen kann. Schumann ist ehrlich, wahr und schonungslos. Schumann und Haydn sind von den großen Komponisten

SIEGFRIED LAUTERWASSER / KEYSTONE LAUTERWASSER SIEGFRIED / GETTY IMAGES ZEZULKA / ISIFA TOMAS diejenigen, die am meisten vernachlässigt Dirigenten Karajan 1966, Barenboim: „Es wird immer schwieriger“ werden. Joseph Haydn wäre derjenige, den ich am liebsten zum Essen einladen SPIEGEL: Sind Sie sich sicher? Haben Sie SPIEGEL: Die ist Ihnen als Briten vermut- würde. Ich glaube, er wäre der perfekte deutsche Freunde? lich eher fremd. Zieht es Sie jetzt zurück? Gast. Rattle: Ein oder zwei enge sind geblieben. Rattle: Ich kenne mich in meiner Heimat SPIEGEL: Warum? Die Freunde, die wir im Laufe der Zeit nicht mehr aus. Als ich mit Londoner Or- Rattle: Weil er Weisheit und Witz hat. kennengelernt haben, neigen nämlich chestern über Termine sprach, hieß es: Haydn wusste, was er konnte. Aber er dazu, von Berlin wegzuziehen. Wir Wir geben keine Konzerte am Samstag, hatte keine übertrieben hohe Meinung lieben diese Stadt inzwischen, und ich es sei denn, es handelt sich um sehr, sehr von sich. Er hat komponiert, was bestellt kann mir nicht vorstellen, woanders zu populäre oder um abgefahrene Musik für wurde. Und noch in den unbedeutends- leben. Hier spielt die Musik. Wenn ich das junge Publikum. Ein Großteil des ten Auftragsarbeiten versteckte er kleine bei den Philharmonikern aufhöre, wer- älteren Publikums fährt am Wochenende Wunder. Er war ein Künstler, Handwer- den meine Söhne Teenager sein und sich aufs Land. Und Freitag kommen auch ker und ein Genie. noch mehr über meine Sprachkenntnisse nicht viele, weil da Sabbat ist und London SPIEGEL: Inwiefern? lustig machen. eine große jüdische Gemeinschaft hat. Ich Rattle: Monteverdi hat die Oper erfunden, SPIEGEL: Sie sind ein ganz und gar anderer hatte das alles nicht mehr im Kopf. Ich aber Haydn hat die Symphonie und das Typ als Daniel Barenboim, der andere bin tatsächlich entwurzelt. Streichquartett geschaffen. Er hat viel zu große Dirigent der Stadt. Der hat den Bo- SPIEGEL: Selbst die besten Musiker Lon- sagen, aber er sagt nie zu viel. Er deutet gen raus, wie man mit dem Staatsminister dons spielen in verschiedenen Ensembles, in seiner Musik heikle Bereiche nur an, für Kultur oder mit Frau Merkel umgeht, um Geld zu verdienen. etwa eine latente Verzweiflung, weil er um Mittel für die Staatsoper Unter den Rattle: Ja, dadurch gibt es eine andere seine Zuhörer für intelligent genug hält Linden herauszuholen. Flexibilität und ein anderes Tempo. Wir zu verstehen, was er sagen will. Haydn Rattle: Ich würde Frau Merkel lieber ge- würden hier alles dafür geben, dieses erkundet kaum oder nur selten emotional mütlich – auch so ein schönes deutsches Tempo zu haben, das jedes gute britische gefährliches Terrain wie Mozart, das ist Wort – zu uns zum Dinner einladen, als Orchester hat, um musikalisch etwas auf wahr. Für mich gehört er aber zur Fami- Lobbyisten-Arbeit zu machen. Ich würde die Beine zu stellen. lie. Ich habe während meines letzten für sie kochen, und sie wüsste, dass sie SPIEGEL: Wie bringen Sie Ihre Söhne zur Sabbaticals nicht viel Musik gemacht, bei Leuten ist, die einmal nichts von ihr Musik? Nehmen Sie sie mit ins Konzert? aber ich habe jeden Morgen mit einer wollen. Übrigens hat sich die Politik alles Rattle: Nicht oft genug. In dieser Hinsicht Haydn-Sonate am Klavier begonnen. in allem gut um uns gekümmert. sind wir typische Musiker. Wir wollen Und das war eine Wohltat. SPIEGEL: Wie klingt Berlin? Welchen keine Eislaufeltern sein. Mein Achtjähri- SPIEGEL: Halten Sie sich eigentlich hin und Sound hat die Stadt? ger spielt Klavier – mit viel Charakter wieder für außergewöhnlich? Rattle: Gute Frage, aber es tut mir leid, und sehr laut. Der Fünfjährige hat sich Rattle: Jeder Musiker, der das von sich ich kann sie nicht wirklich beantworten, neulich in Salzburg in den Solocellisten denkt, hat ein Problem. Karajan hat mal in meinem Kopf streiten gerade Witold des venezolanischen Jugendorchesters sinngemäß gesagt: „Wenn man jung ist, Lutosławski, Leoš Janáček und Richard ist es leicht, wie ein Vogel zu singen. Aber Wagner um die klangliche Vorherrschaft. wenn man Enttäuschungen, Tod und SPIEGEL: Haben Sie sich denn an den Ber- Zorn erlebt hat, ist es manchmal harte liner Umgangston gewöhnt? Arbeit.“ Ich erinnere mich an eine Krise, Rattle: Die Menschen sind manchmal in der ich in meinen Dreißigern steckte, schon sehr direkt. Ich war mal in einem es ging um Selbstvertrauen. Und da habe Geschäft, und da kam ein Paar und sagte: ich mit meinem großen niederländischen „Wir wollten nur mal sagen, die ‚Pasto- Kollegen Bernard Haitink gesprochen, rale‘ letzte Woche war einfach wunder- und der sagte: „Weißt du, Simon, du bar. Beethovens achte Symphonie dage- musst einfach begreifen, dass es nicht gen war natürlich furchtbar.“ Ich mag die- leichter wird. Im Gegenteil: Es wird im-

se Offenheit. / DER SPIEGEL FENDT SIBYLLE mer schwieriger.“ Dirigent Rattle (M.), SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Sir Simon, wir danken Ihnen für * Joachim Kronsbein und Klaus Brinkbäumer. „Ich mag diese Offenheit in Berlin“ dieses Gespräch.

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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (3) Daniel Kehlmann 1 (1) Rüdiger Safranski F Goethe – Kunstwerk des Lebens Rowohlt; 22,95 Euro Hanser; 27,90 Euro 2 (2) Florian Illies 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro 3 (3) Bronnie Ware Ein Künstlerroman über 5 Dinge, die Sterbende am meisten drei sehr unterschied - bereuen Arkana; 19,99 Euro liche Brüder und ihren Schriftstellervater 4 (4) Rolf Dobelli Die Kunst des klaren Denkens 2 (1) Timur Vermes Hanser; 14,90 Euro Er ist wieder da 5 (7) Ruth Maria Kubitschek Eichborn; 19,33 Euro Anmutig älter werden 3 (2) Dan Brown Nymphenburger; 19,99 Euro Inferno 6 (6) Meike Winnemuth Bastei; 26 Euro Das große Los 4 (6) Nina George Knaus; 19,99 Euro Das Lavendelzimmer 7 (5) Gerd Ruge Knaur; 14,99 Euro Unterwegs – Politische Erinnerungen 5 (4) Karin Slaughter Hanser; 21,90 Euro Harter Schnitt 8 (9) Hannes Jaenicke Blanvalet; 19,99 Euro Die große Volksverarsche 6 (9) Uwe Timm Gütersloher Verlagshaus; 17,99 Euro Vogelweide 9 (11) Dieter Nuhr Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Das Geheimnis des perfekten Tages Bastei Lübbe; 14,99 Euro 7 (5) John Grisham Das Komplott Heyne; 22,99 Euro 10 (8) Eben Alexander 8 (7) Kerstin Gier Blick in die Ewigkeit Silber – Das erste Buch der Träume Ansata; 19,99 Euro Fischer JB; 18,99 Euro 11 (13) Andreas Platthaus 1813 – Die Völkerschlacht und 9 (10) Joël Dicker Die Wahrheit über den Fall Harry das Ende der alten Welt Quebert Piper; 22,99 Euro Rowohlt Berlin; 24,95 Euro 12 (–) Jürgen Todenhöfer 10 (8) Susanne Fröhlich Aufgebügelt Du sollst nicht töten C. Bertelsmann; 19,99 Euro Fischer Krüger; 16,99 Euro 13 (14) Dirk Müller 11 (–) Cassandra Clare City of Fallen Angels – Chroniken Showdown Droemer; 19,99 Euro der Unterwelt Arena; 19,99 Euro 14 (16) Daniel Meyer/Lars Amend Dieses bescheuerte Herz 12 (13) Sarah Lark Die Zeit der Feuerblüten Fischer Krüger; 18,99 Euro Bastei Lübbe; 18 Euro 15 (10) Rolf Dobelli Die Kunst des klugen Handelns 13 (–) Cassandra Clare City of Lost Souls – Chroniken Hanser; 14,90 Euro der Unterwelt Arena; 19,99 Euro 16 (15) Gabriel Markus Warum es die Welt nicht gibt 14 (15) Joachim Meyerhoff Wann wird es endlich wieder so, Ullstein; 18 Euro wie es nie war 17 (12) Henryk M. Broder Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Die letzten Tage Europas Knaus; 19,99 Euro 15 (–) Hans Pleschinski Königsallee 18 (–) Josef Kraus C. H. Beck; 19,95 Euro Helikopter-Eltern Rowohlt; 18,95 Euro 16 (11) Alex Capus Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer Hanser; 19,90 Euro 17 (–) Sven Regener Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt Galiani; 22,99 Euro Gesellschaftskritik statt 18 (12) Leon de Winter Eltern-Bashing: Streit- Ein gutes Herz schrift für klare Regeln in Diogenes; 22,90 Euro der Kindererziehung 19 (–) Elizabeth Strout 19 (18) Daniela Widmer/David Och Das Leben, natürlich Und morgen seid ihr tot Luchterhand; 19,99 Euro DuMont; 19,99 Euro 20 (14) T. C. Boyle 20 (–) Manfred Lütz San Miguel Bluff! Die Fälschung der Welt Hanser; 22,90 Euro Droemer; 16,99 Euro

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Gelobtes Gitarrenland KONZERTKRITIK: The Milk Carton Kids klingen, als wären sie ein halbes Jahrhundert zu spät geboren.

s pfiff der Wind des Kalten Krieges dener, also vermutlich entführter oder er- und ein paar prominente Fans, zu denen durch die Straßen Amerikas, die mordeter Kinder gedruckt. „Ich kann der Regisseur Gus Van Sant gehört. Zu Ejungen Männer trugen enge Be - mich nicht erinnern, dass dadurch ein ein- Van Sants Film „Promised Land“ hat das erdigungsanzüge und Frisuren nach Art ziges verschwundenes Kind wiedergefun- Duo ein Lied beigesteuert. Vordergründig frisch geschorener Schafböcke, die jungen den worden wäre“, sagt Ryan in Hamburg erzählt der Film von der umstrittenen Erd- Frauen hatten merkwürdig geschwunge- ins Mikrofon. „Die wichtigste Wirkung gas-Fördertechnik des Frackings, in Wahr- ne Brillen auf der Nase und Spaghetti- war: Eine ganze Generation von Ameri- heit aber zeigt er eine Zeitreise in ein uri- haare, als Anfang der sechziger Jahre in kanern hat beim Frühstück auf diese ges, scheinbar intaktes Amerika mit schra- New York die Zeit der Folksänger begann. Fotos gestarrt. Auf lauter unbesungene tigen Kerlen, grünen Wiesen, Traktoren, In ein paar Musikclubs im New Yorker Tragödien.“ Silos und verwitterten Sternenbannern. Stadtteil Greenwich Village schrummten Ein übermütiger, manchmal grober Nach und nach zeigt sich hinter der Nost - sie auf ihren Gitarren und sangen gegen Humor prägt die Ansagen der beiden Mu- algiefassade eine verstörende Gegenwart. die „Masters of War“ und die Kommu- siker. Er wirkt, als solle er die Schönheit Insofern funktionieren die Bilder im Film nistenjäger an, gegen die ähnlich wie die Songs der Ungerechtigkeit und die Milk Carton Kids. Traurigkeit der Welt – Ende September wer- einer „Welt, die wir heute den die beiden Musiker in als einen Irrtum der Ge- der New Yorker Town schichte ansehen“, wie es Hall zu einer Art Gene- der nie um große Worte rationentreffen bedeuten- verlegene amerikanische der Sänger und Songwri- Musikhistoriker Greil Mar- ter antreten. Joan Baez cus formulierte. gehört zu den angekün- Was reizt uns heute an digten Stars und Patti jungen Männern in Beerdi- Smith. Und daneben Ryan gungsanzügen und ver- und Pattengale, die in huschten Mädchen, die Hamburg von sich sagen: wie Bob Dylan, Joan Baez „Unsere ersten beiden Al- oder Simon & Garfunkel ben haben wir im Internet singen? Kenneth Patten - verschenkt. Unser neues gale and Joey Ryan sind verkaufen wir für Geld. ein Sängerduo, beide stam- Man kann sagen, dass wir men aus Eagle Rock, ei- langsam kapieren, wie

nem der besseren Viertel / INTERTOPICS BEHRENDT KERSTIN das Musikgeschäft funk- von Los Angeles. Ähnlich Musikerduo Ryan, Pattengale: Horror hinter Nostalgiefassaden tioniert.“ wie das Duo Kings of Con- Anlass für das ausver- venience, die Band Mum- kaufte New Yorker Kon- ford & Sons und Sänger zert ist ein neuer Film der wie Conor Oberst oder Gillian Welch zäh- und das Pathos ihrer Songs mildern. The Regisseurbrüder Joel und Ethan Coen. len sie zu den Stars der neuen Folkmusik. Milk Carton Kids singen sehnsüchtig Er heißt „Inside Llewyn Davis“ und Im Hamburger Club Uebel und Gefähr- schwingende Lieder, die ältere Musik hörer kommt im Dezember in die Kinos, ein lich spielen Ryan und Pattengale vor vol- vermutlich an die Everly Brothers oder sepiafarbenes Kolossalgemälde des Folk- lem Haus. Zwei Männer um die dreißig, eben an Simon & Garfunkel erinnern. musik-Aufbruchs der sechziger Jahre – die sich angeschrammte, aber wertvolle Stets aber berichten diese Songs in großer und eine Huldigung an die legendäre Akustikgitarren aus den fünfziger Jahren Lieblichkeit von schrecklichen Dingen. Er New Yorker Ära der Beerdigungsanzüge, um den Hals gehängt haben, knappe An- sei seinem Co-Sänger Pattengale zum ers- Spaghettihaarmädchen und Protestsongs. züge tragen und in klassischem Harmo- ten Mal begegnet, als der bei einem Live- Der fiktive Held stapft im Jahr 1961 durch niegesang klagen, dass sie in einer Zeit Auftritt gerade eine Ballade aus der Sicht die Gassen von Greenwich Village, singt leben, in der es schwer ist, „einen gerech- eines Hundes vortrug, schildert Joey Ryan und leidet und hat leider doch nicht das ten Kampf zu finden“. Weil man, wie es den Gründungsmythos der Zweimann- Zeug dazu, so berühmt zu werden wie in einem ihrer Lieder heißt, heutzutage band. Pattengales Song war der Lebens- Bob Dylan. vor lauter Scham über den Murks des bericht eines Straßenköters, der von einem Was solche Beinahe-Stars von den ech- eigenen Lebens kaum erkenne, wofür es Lastwagen angefahren worden war und ten unterscheidet? „Auf die Gefahr hin, sich zu kämpfen lohne. im Sterben lag. „Das war die Sorte von dass ihr uns für die arroganten Arsch - Pattengale und Ryan nennen sich The Aufmunterung“, sagt Ryan, „an der ich löcher haltet, die wir sind“, sagen The Milk Carton Kids. In den USA haben die unbedingt mitwirken wollte.“ Milk Carton Kids, „für uns ist in der Molkereikonzerne auf ihre Milchpackun- Mittlerweile haben The Milk Carton Musik Originalität die einzige Währung, gen jahrelang die Fotografien verschwun- Kids eine verschworene Anhängerschaft die zählt.“ WOLFGANG HÖBEL

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Redaktion: Lukas DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Axel Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Susmita Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Abonnementsbestellung SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, Annette Großbongardt Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Jo- (stellv.). 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Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt- ❏ Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, für € 4,00 pro Ausgabe SCHLUSSREDAKTION Anke Jensen; Christian Albrecht, Gesine Block, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, Malte ❏ Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula Junger, Sylke für € 3,80 pro digitale Ausgabe Nohrn, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos, Kruse, Maika Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, ❏ Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, für € 0,50 pro digitale Ausgabe zusätzlich zur Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Normallieferung. Eilbotenzustellung auf Anfrage. 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Register

GESTORBEN bart, der zum Beispiel als Ingenieur Sus- ler machten, dem man Quatsch-Ausflüge low in Steins Maxim-Gorki-Inszenierung zum Beispiel zur Fernsehserie „Das Otto Sander, 72. Es ist eine sehr deutsche „Sommergäste“ aus dem Jahr 1975 die Traumschiff“ locker verzieh und dessen und zutiefst romantische Idee, dass die Herzen der stolzesten Theaterverächter „Polizeiruf 110“-Folgen der neunziger Jah- Schauspielerei keine Arbeit ist, sondern brach. Sander war 1979 der Traumwand- re ein Millionenpublikum begeisterten. eine Begabung. Otto Sander verkörperte lerheld in der sofort legendären Schau- Mit seiner rauen, schön sonor knarzen- den Typus des von den Göttern schick- bühnen-Bildershow „Death, Destruction den Stimme sprach Sander viele bedeu- salhaft mit tollem Talent beschenkten & Detroit“, die den damals noch frischen tende und populäre Werke für Hörbuch- Darstellungskünstlers auf die denkbar läs- produktionen und wurde zu einem der sigste Art. Er schlenkerte mit den Glie- markantesten Vorleser überhaupt. „Ick dern und mit den Gesichtszügen, wenn bin Berufs-Berliner“, sagte der Schauspie- er die Bühne nicht betrat, sondern auf ler, als er 2004 in Bochum den „Haupt- sie schlenderte. Und er flirtete niemals mann von Köpenick“ in Carl Zuckmayers mit der Kamera, wenn er in Fernseh- und Theaterstück spielte, eine berlinerische Kinofilmen mitspielte, sondern er wartete Märchenfigur. In der hauptstädtischen zuversichtlich ab, dass die Kamera sich Künstlerwelt war Otto Sander viele Jahre in ihn verguckte. Sander wuchs im nie- lang ein Mann, der mit zotteliger Liebens- dersächsischen Peine auf. In München stu- würdigkeit über fast jeden roten Teppich dierte er ein bisschen herum, weil er Re- schlurfte und sein wundersam zerknitter- gisseur werden wollte, doch dann ließ er tes Gesicht herzeigte, ein leidenschaftli- sich an der Münchner Otto-Falckenberg- cher Trinker und formvollendeter Rau-

Schule zum Schauspieler ausbilden. Er / LAIF GERHARD WESTRICH cher, dem selten das Glas leer wurde oder kasperte auf Münchner Kabarett- und die Zigarette ausging. Seit 1973 lebte Otto Kleinkunstbühnen und spielte in Düssel- amerikanischen Theatermagier Robert Sander mit der Schauspielerin Monika dorf und Heidelberg Lehrlingsrollen, be- Wilson bekannt machte. 1987 spielte er Hansen zusammen, seinen Stiefkindern vor er als beinahe 30-Jähriger an der in Wim Wenders’ Kinofilm „Der Himmel Ben und Meret Becker war er ein lieben- Berliner Schaubühne endlich groß heraus- über Berlin“ den schönen, traurigen, der Übervater. In vielen Nächten aber kam. Unter Claus Peymann und Luc Bon- sanft gestrengen Engel Cassiel an der Sei- brillierte er in der Rolle des vielleicht be- dy, vor allem aber in Peter Steins Regie- te seines Schaubühnen-Kollegen Bruno rühmtesten Tresenstehers Deutschlands: arbeiten war er von Anfang der siebziger Ganz: Es war die Rolle seines Lebens. Am frontalen Trinkpult der Paris Bar in Jahre bis Mitte der Achtziger ein wun- Witz, Klugheit und Menschenfreundlich- der Berliner Kantstraße hielt ihm ein Mes- derbar komischer und melancholischer keit waren die Tugenden, die Sander in singschild einen Ehrenplatz frei. Otto San- Stenz; ein charmanter Luftikus mit roten den folgenden Jahren zu einem von vie- der starb am 12. September in Berlin an Haaren, Sommersprossen und Schnauz- len Menschen verehrten Volksschauspie- Krebs.

Erich Loest, 87. Sieben Jahre saß er in weida. Aber Leipzig war seine Stadt. Bautzen ein, dem berüchtigten Zucht- Dort studierte er am Literaturinstitut, haus für politische Häftlinge. Als er Ende dort spielen seine wichtigsten Bücher: 1957 verhaftet wurde, war er Anfang 30 der für das Fernsehen verfilmte Roman und hatte schon einige Erzählungen und „Nikolaikirche“ (1995) oder „Löwen- Romane veröffentlicht. Nun hockte er in stadt“ (2009), die umgearbeitete Fassung einer engen Zelle, hatte weder Stift noch seines erstmals 1984 publizierten Romans Papier und konnte zukünftige Werke al- „Völkerschlachtdenkmal“, die im März lenfalls im Kopf entwerfen. „Wenn man dieses Jahres in einer ergänzten Jubi- in eintöniger und einsamer Zelle auf und läumsausgabe erschien. Nach anhalten- ab geht, kann man sich lange Gedanken den Querelen mit der SED-Obrigkeit war

machen, Geschichten ersinnen und spin- Loest 1981 in die Bundesrepublik über- / GAFF LAIF MAECKE YORCK nen“, hat er vor wenigen Wochen in ei- gesiedelt, doch schon bald nach der Wen- nem Interview erzählt. Nach den Jahren de zog es ihn zurück nach Leipzig. 1990 gesehen hatte ich Glück. Den Magen der Haft wollte er denn auch nur noch wurde er – vom Obersten Gericht in Leip- schneidet man raus, dann hat sich’s.“ Ei- schreiben. „Es musste alles raus, der Stoff zig vollständig rehabilitiert – wieder Bür- gene Fehler hat er nie geleugnet, weder ist explodiert.“ Mehr als 50 Bücher sind ger der Stadt, 1996 Ehrenbürger. Seine dass er „HJ-Führer und Nazi-Soldat“ war, insgesamt entstanden. Anfang dieses Mo- Stasi-Akten umfassen mehr als 30 Ord- noch dass er zu lange ein „guter Genos- nats erst erschien im Steidl-Verlag seine ner, den Zuträgern schrieb er nach der se“ sein wollte und glaubte, die DDR wer- wohl letzte Erzählung „Lieber hundert- Einsicht ein paar fragende Zeilen und de die Träume von Menschlichkeit, Frie- mal irren“, eine zarte, zutiefst mensch- legte die entsprechenden Kopien bei. den und Sozialismus einlösen. Schon vor liche Rückkehr in die Jugendzeit, seinen Nur zwei von vielen, darunter auch einiger Zeit erklärte er, in seiner Geburts- damaligen Freunden gewidmet. Ein ers- Freunde, kamen und versuchten sich zu stadt begraben werden zu wollen. „Ich ter Teil seiner Aufzeichnungen erschien erklären. Die verlorenen Jahre in der habe auch schon den Musikanten be- 2011 unter dem Titel „Man ist ja keine Haft waren eine prägende Erfahrung, bre- stimmt und denjenigen, der den Cham- Achtzig mehr“. Bei der „Leipziger Volks- chen konnten sie ihn nicht. Verbitterung pagner besorgt.“ Nun hat er seinem Le- zeitung“ hatte er einst seine Laufbahn war ihm fremd, er kommentierte die ben selbst ein Ende gesetzt, durch einen begonnen, 1946 zunächst als Volontär, Schrecken eher sarkastisch. „Bei mir ist Sprung aus dem Fenster eines Kranken- später für kurze Zeit als Redakteur. Ge- der Magen draufgegangen, bei anderen hauses. Erich Loest starb am 12. Septem- boren wurde Loest im sächsischen Mitt- Herz oder Rückgrat“, sagte Loest. „So ber in Leipzig.

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Personalien

Alles muss raus durch verschiedene Phasen, und manchmal kommt man an den Das Leben eines Komikers ist nicht Punkt, an dem man sagen muss: immer lustig. Wie jeder andere Das war’s“, erklärte er jetzt einer Mensch erlebt er mitunter Nieder - britischen Zeitung. Cleese sprach lagen, Demütigungen, Trennungen. dabei jedoch nicht über seine Ex- So auch der britische Humor- Frauen, sondern über seine um- Veteran John Cleese, 73, ehemals fangreiche Kunstsammlung: Er Mitglied des Spaßkollektivs Monty kündigte an, einige seiner klassi- Python und Star der Komödie „Ein schen Ölgemälde verkaufen zu Fisch namens Wanda“. In den wollen. Nicht ganz freiwillig aller- vergangenen Jahren machte Cleese dings. Jennifer Wade, 42, seit vori- vor allem mit seinem Privatleben gem Jahr Cleese-Ehefrau Nummer Schlagzeilen. Die Scheidung von vier, hatte deutlich gemacht, dass seiner dritten Ehefrau soll ihn ihr die alten Bilder ihres Gatten zwölf Millionen Pfund gekostet nicht gefallen. „Sie wollte etwas haben. „In einigen Fällen stimmen Neues, und ich glaube, sie hat mich die Trennungen natürlich recht“, sagte Cleese. Es dürfte eine

traurig. Aber man geht im Leben / REX FEATURES RICHARD YOUNG glückliche Ehe werden.

Der Kinderstar los sie schon früh ihren Berufswunsch verfolgt habe. Als sie von der miesen Bezahlung der meisten Darsteller erfuhr, Dass sie unbedingt Schauspielerin werden wollte, wusste sagte die kleine Claire: „Ich werde Therapeutin und spiele Claire Danes, 34, schon als Kind. Kurz vor dem US-Start der nebenbei.“ Bereits als Zehnjährige hatte sie ihre Meinung ge- dritten Staffel der preisgekrönten Fernsehserie „Homeland“, ändert: „Das Geld ist mir egal, ich bleibe meiner Kunst treu. in der Danes eine manisch-depressive CIA-Agentin verkör- Ich gehe das Risiko ein.“ Es hat sich gelohnt: Ihre erste Film- pert, erzählte sie jetzt dem „New Yorker“, wie kompromiss- rolle bekam Danes mit elf. GIAN ANDREA DI STEFANO / CONTOUR BY GETTY IMAGES BY / CONTOUR GIAN ANDREA DI STEFANO

162 DER SPIEGEL 38/2013 Kurt Beck, 64, Ministerpräsident a.D. Trennung von ihrem Ehemann Rafael von Rheinland-Pfalz, feiert ein van der Vaart, der im Nebenberuf Fuß- Comeback als Romanfigur. Sein frü- ballprofi beim HSV ist, dann der Verrat herer politischer Widersacher, der durch die ehemals beste Freundin, die langjährige CDU-Landesvorsitzende sich nun ihrerseits den Fußballer ge- und Bundestagsabgeordnete Johan- angelt hat, schließlich die behaupteten nes Gerster, hat in seinem Krimi oder tatsächlichen Affären mit dem Pop- „Bombenstimmung am Rosenmon- star Robin Thicke und einem Bonvivant tag“ dem SPD-Mann Beck ein litera- aus Paris. Die vergangene Woche brach-

risches Denkmal gesetzt. In Gersters PRESS REETZ / STAR te wieder neueste Erkenntnisse aus dem Buch, das Ende September erscheint, sogenannten Umfeld von Frau van der droht der Rosenmontagszug in Gebürstet Vaart: Sylvies Mutter wurde in der Mainz nach einer Reihe von Bomben- „Bild“ zitiert („Ihre Augen strahlen gro- anschlägen zu scheitern. Minister - Die gute Nachricht der Woche lautet, ßes Leid aus“), und in der „Gala“ be- präsident „Kurt Speck“ macht das dass Zahnbürsten keine Interviews ge- hauptete ein angeblich „bester Freund“: Schicksal der Jecken zur Chefsache, ben, nicht mal, wenn sie elektrisch sind, „Sylvie geht nicht gerne aus.“ Jesus Zweifel über seine Zuständigkeit wo doch derzeit jeder Interviews gibt, Christus! Das Foto mit der Zahnbürste wischt Speck vom Kabinettstisch: der schon einmal mit Sylvie van der entstand übrigens auf der Internatio - „Jedes Mitglied meiner Regierung ist Vaart, 35, fotografiert worden ist. Die nalen Funkausstellung in Berlin, was in jeder Sach- und Lebenslage kom- niederländische Moderatorin mit Wohn- immer beide da auch zu suchen hatten. petent und für alles und jeden zu- sitz Hamburg und einer Vergangenheit Die Bürste soll speziell dafür geeignet ständig.“ Neben Beck karikiert der als „Sexiest Woman“ ihrer Heimat sein, die Zahnzwischenräume zu reini- Autor Gerster auch die derzeit (2003) ist seit Monaten schon die heißes- gen. Dafür sieht Frau van der Vaart regierende Ministerpräsidentin Malu te Geschichte des Boulevards: erst die ziemlich verliebt aus. Dreyer als „Madu Leyer“ und Justiz- minister Jochen Hartloff als Minister „Weichloff“, „der nach einer in den Sand gesetzten Justizreform eher Legende im Ruhestand geduldet als geschätzt“ werde. Gerster, Ex-Innenpolitiker und Anfang Oktober erscheint die Autobio- Ex-Generalfeldmarschall des Fast- grafie von Boris Becker, 45, Titel: „Das nachtsvereins „Mainzer Ranzen- Leben ist kein Spiel“. Ist es offenbar garde“, sieht sich als idealen Autor: doch, zumindest wenn eine Kamera läuft. „Ich bin Insider sowohl in der Für die Doku-Reihe „Durch die Nacht Fassenachtsszene als auch in Sicher- mit …“, die Arte am 5. Oktober sendet, heitskreisen.“ zog Becker jetzt mit dem britischen Star- musiker Jamie Cullum, 34, ein paar Stun-

Adam Fogelson, 46, hat unfreiwillig den lang durch London. Zu besichtigen / ARTE MEDIA / BORIS FROMAGEOT AVANTI Hollywood-Geschichte geschrieben: ist eine ehemalige Legende, die zur Lach- So brutal wie er wurde in der Unter- nummer wird. Mit schwerem Schritt, wie des Pokerspiels ein. Wirklich zufrieden haltungsbranche lange kein Manager ein Bauer auf dem Acker, stapft Becker wirkt Becker nur bei einer Whisky-Probe mehr gefeuert. Als Fogelson am Mon- über den Centre Court von Wimbledon, in einer Bar. Cullum tut die ganze Zeit tag vergangener Woche in Toronto wo er einst seine größten Erfolge feierte. so, als gäbe es nichts Schöneres, als einen ins Flugzeug stieg, war er noch Chef Bei einem Glas Champagner philoso- Abend mit Becker zu verbringen. Irgend- von Universal Pictures und damit phiert er über sein Beuteschema („Ich wann aber hält er es nicht mehr aus und einer der mächtigsten Männer der habe eine Vorliebe für schwarze Frauen“) macht das, was er wirklich kann und will: Filmindustrie. Am Abend zuvor hat- und führt seinen Begleiter in die Kunst Er setzt sich an ein Klavier und spielt. te er auf dem Filmfestival in Kanada die Premiere der hauseigenen Pro- duktion „Rush“ gefeiert, des neuen Spielfilms über den Formel-1-Fahrer Heldin bei den Hausaufgaben Und seit vergangener Woche präsentiert Niki Lauda. Fogelson hatte, berich- die Londoner National Portrait Gallery ten Augenzeugen, gute Laune, alles Sie ist die berühmteste 16-Jährige der in einer Ausstellung des britischen schien in bester Ordnung. Doch als Welt, mehrere Politiker haben sie für Künstlers Jonathan Yeo ein Porträt von er in Los Angeles landete, war er den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Malala Yousafzai. Der Maler zeigt die pa- arbeitslos. Während er sich in der kistanische Kinderrechtsaktivistin, die Luft befand, hatte NBC Universal, sich seit Jahren für Mädchenbildung ein- der Mutterkonzern von Universal setzt und deswegen im Oktober von Ta- Pictures, per Pressemitteilung seine liban angeschossen und schwer verletzt Nachfolgerin bekanntgegeben. Deren worden war, bei ihren Hausaufgaben. angebliche Qualitäten werden in der Malala lebt mittlerweile in Großbritan- Mitteilung ausführlich gefeiert. Dass nien. Künstler Yeo traf das Mädchen das Fogelson nach 15 Jahren bei Univer- erste Mal im April, als es gerade in sei- sal „sich entschieden hat, die Firma ner neuen Heimat begonnen hatte, eine zu verlassen“, teilte NBC Universal Schule zu besuchen. Yeo hat das Werk immerhin auch noch mit – im zehn- dem „Malala Fund“ gestiftet, der für das

ten Absatz. GALLERY PORTRAIT / NATIONAL YEO JONATHAN Recht von Mädchen auf Bildung kämpft. 163 Hohlspiegel Rückspiegel Aus den „Kieler Nachrichten“: „Drei von Zitate vier Deutschen können sich Polen heute als persönliche Nachbarn und Kollegen Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIE- vorstellen. Das ist toll nach dem Nazi- GEL-Bericht „Codename ,Apalachee‘“ Überfall von 1939 und Auschwitz.“ über die Ausspähung von EU, Uno sowie diversen Staaten durch den US-Geheim- dienst NSA (Nr. 35/2013):

Zur Aufklärung von Details der Späh - affäre des amerikanischen Geheimdiens- tes „National Security Agency“ (NSA) Aus der „Gießener Allgemeinen“ greifen auch die deutschen Sicherheitsbe- hörden zu – angeblich gar nicht seltenen – besonderen Aufklärungsmaßnahmen. Aus dem „Trierischen Volksfreund“ über Nach Informationen dieser Zeitung wur- eine Handballmannschaft: „Ob das aber de in der vergangenen Woche das ameri- zum Klassenerhalt reicht? ‚Es steigt nur kanische Generalkonsulat in Frankfurt eine Mannschaft ab, das sollten wir schaf- aus der Luft fotografiert, um dem Wahr- fen, ich bin sehr optimistisch‘, meint Trai- heitsgehalt einer Information nachzu- nerin Cabeza.“ gehen, die – unter Berufung auf die Un- terlagen des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden – in der Ausgabe des SPIEGEL von der vergangenen Woche präsentiert worden war. In dem Bericht hatte es geheißen, „in etwa 80 US-Bot- schaften und Konsulaten gibt es geheime Aus der „Rheinischen Post“ Lauschposten, die intern ,Special Collec - tion Service‘ (SCS) genannt und gemein- sam mit der CIA betrieben werden“. Aus einer Pressemitteilung von Gruner + Jahr: „G+J will über seine Inhalte und Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Essay Zusatzangebote – Commerce und Paid „Das Ende des kleineren Übels“ von Services – im Kontext seiner Inhalte zum Harald Welzer – der Sozialpsychologe unverzichtbaren Teil der Lebenswelten begründet darin, warum er nicht mehr der Nutzer in den definierten Communi- wählt (Nr. 22/2013): ties of Interest werden.“ Natürlich muss die Akademie der Künste vor der Bundestagswahl den Bürger auch an seine demokratische Pflicht erinnern. Vor allem, wenn nun schon Intellektuelle verkünden: Ich mach’s dieses Mal nicht! Aus der „Oberhessischen Presse“ Seit der Soziologe Harald Welzer in ei- nem SPIEGEL-Essay erklärte, warum er sich den Gang zur Wahlurne spare, geis- Aus der „Nordwest-Zeitung“: „Experten tert das Gespenst des gebildeten Salon- zum Thema betonen: Kritisierte müssen Nichtwählers durch die Presse. Aber ihr Gewicht wahren können.“ Nicht-Wählen, das geht natürlich nicht.

Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ Aus der Anzeige eines Modegeschäfts in zum SPIEGEL-Bericht „Angriff der der „Wochenzeitung Aalen“: „Das opti- Rauch-Melder“ über Lobbyarbeit der Zi- sche Relounge gelang mit angesagten, hel- garettenindustrie in Brüssel (Nr. 36/2013): len Dekoelementen und tollen Highlights wie zum Beispiel einem Leuchtring.“ Der SPIEGEL kommt an Herne nicht mehr vorbei. Nach dem großen (und recht positiven) Porträt von SPD-Bundes- tagskandidatin Michelle Müntefering vor fünf Wochen berichtet das Nachrichten- Magazin aktuell über die CDU-Europa- abgeordnete Renate Sommer … Sommer und Kollegen der konservativen EVP- Fraktion sehen sich darin dem Vorwurf ausgesetzt, Lobbyisten der Tabakkon - Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ zerne zu sein. Renate Sommer wird per- sönlich bescheinigt, „aufopferungsvoll für die Interessen der Tabakindustrie“ zu Aus der „Welt“: „Überall dort können sich kämpfen. Mal schauen, welcher Herner dann die Nutzer mit ihren Handys, Tablets Politiker als Nächstes im SPIEGEL zum oder Laptops ohne Passwort einlocken.“ Thema wird.

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