180 Otto Scholderer und spätere Schwager Victor Müller, der schon seit 1852 im 1834 – am Main – 1902 Atelier von Thomas Couture studierte, u.a. zusammen mit Manet. In diesen ersten Pariser Monaten lernte Scholderer bereits Henri Fantin-Latour kennen, mit dem ihm eine „Selbstbildnis des 24-jährigen Künstlers“. 1858 lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Öl auf Leinwand. Doubliert. 45,3 × 37,5 cm Zurück in der Heimat, malte der 24-Jährige unser (17 ⅞ × 14 ¾ in.). Rechts in der Mitte signiert und Selbstbildnis, das seine Familie bis heute bewahrt hat. Wie datiert: O. Scholderer. 1858. Werkverzeichnis: auf Fantin-Latours späterem Atelierbild trägt Scholderer Bagdahn 18. [3255] Gerahmt. einen braunen (Reise-)Mantel mit schwarzem Kragen vor Provenienz dunklem Grund. Sein Oberkörper ist nach rechts ausgerich- Aus dem Nachlass des Künstlers tet, sein leicht geneigter Kopf uns zugewandt. Er scheint zu sitzen. Haltung und Blick haben nichts Repräsentatives. Im EUR 15.000–20.000 Gegenteil. Unser Bild zeigt den Künstler vor seinem Spiegel USD 17,600–23,500 – einsam in einer Stunde der Wahrheit. Das selbstbefragen- de Moment wird durch das konzentrierte (Tages-)Licht ver- Ausstellung stärkt, das - wohl durch ein Fenster - von links auf seine Otto Scholderer, Gedächtnisausstellung. Frankfurt rechte Gesichtshälfte trifft, während seine linke leicht ver- a.M., Frankfurter Kunstverein, 1915 (o. Kat.) schattet bleibt. Materialität und Pinselauftrag der reduziert Literatur und Abbildung eingesetzten Farbe scheinen entscheidend für die aufrichti- S.: (Ausstellung von Werken des Malers Otto ge, überzeugende Charakterisierung seiner selbst. Scholderer). In: Kunstchronik, 1914/15, H. 29, 16. April Eine „eigenthümliche Markigkeit“, die „mehr realis- 1915, S. 371-373, hier S. 372 / Friedrich Herbst: Otto tisch“ sei und ihre „künstlerische Wirkung“ nicht verfehle, Scholderer, 1834–1902. Ein Beitrag zur Künstler- wie der Journalist Friedrich Rittweger bei einem Rundgang und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt durch die Frankfurter Ateliers 1858 vor Scholderers Porträts a.M., Diesterweg, 1934, Nr. 9 feststellte, erinnert an das bewunderte Vorbild Rembrandt - aber auch an frühe Selbstbildnisse von . Der unangepasste Franzose hatte sich nicht zuletzt mit sei- Es ist eines der berühmtesten Atelierbilder der Kunstge- nen ausdrucksstarken Selbstporträts im Pariser Kunstzirkus schichte: Henri Fantin-Latours „Atelier aux Batignolles“ der Jahrhundertmitte wirksam in Szene gesetzt. (Abb.) zeigt Edouard Manet an der Staffelei, umringt von den Wahrscheinlich war es wieder Victor Müller, der Cour- jungen Impressionisten Claude Monet, Auguste Renoir, bet kurz vor seiner Rückkehr im selben Jahr nach Frankfurt Frédéric Bazille und ihren intellektuellen Verteidigern eingeladen hatte. Und Courbet kam. Das Städel stellte ihm Zacharie Astruc, Emile Zola, Edmond Maître - sowie einem ein Atelier zur Verfügung. Der temperamentvolle Gast Künstler aus Frankfurt: Otto Scholderer. Er steht auf der lin- überwarf sich jedoch mit dem Instituts-Professor Jacob ken Bildhälfte und bildet zusammen mit Renoir (vor dem Bil- Becker - und zog Ende 1858 kurzerhand in den Kettenhof- derrahmen) und Astruc (sitzend) ein Dreigestirn, das Manet weg 44, Tür an Tür mit Victor Müller und Otto Scholderer. direkt über die Schulter blickt. Die drei traten in einen engen künstlerischen Austausch. 1857-58 reiste der Städelschüler erstmals für ein hal- Courbet wurde zur frühen Leitfigur, als Persönlichkeit wie bes Jahr nach . Als Initiator gilt sein Frankfurter Freund in der radikalen Malweise, die Scholderer bei ihm erlernte. In seinen Briefen an Fantin-Latour schwärmt Scholderer von dem nahen Austausch mit Courbet, der ihm so viel gezeigt habe. Als er den Pariser Freund darum bat, ihm ein paar französische Rahmen zu schicken, bestückte Fantin- Latour sie mit eigenen Leinwänden - da leere Rahmen damals höher verzollt wurden als solche mit Werken darin. Scholderer zeigte Fantin-Latours Bilder sogleich seinem berühmten Atelier-Nachbarn. Courbet lobte die maleri- sche Qualität seines französischen Kollegen: „es sei keine Malerei für Bourgeois; er fand die Lichtwirkung außeror- dentlich stark“, schrieb Scholderer seinem Freund nach Paris. Unter diesen Bildern war auch Fantin-Latours „Selbstbildnis an der Staffelei“. Es ist ebenfalls aus dem Jahr 1858. Scholderer bewahrte es zusammen mit den anderen drei Gemälden seines Freundes bis zu seinem Tod. 1906 gelangte Fantin-Latours frühes Selbstbildnis (Inv. Nr. A 1971) in die Berliner Nationalgalerie, wo es noch heute von Henri Fantin-Latour, Atelier aux Batignolles, 1870, einer außergewöhnlichen Künstlerfreundschaft zwischen Öl auf Lwd., Musée d´Orsay, Paris Frankfurt und Paris erzählt. Dr. Anna Ahrens

Grisebach — Herbst 2020 113 112