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Jan Foitzik. Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand: Politische, militärische, soziale und nationale Dimension. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2001. 393 S. DM 98.00, gebunden, ISBN 978-3-506-72590-5.

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Martin Greschat, Jochen-Christoph Kaiser. Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2003. 303 S. , broschiert, ISBN 978-3-17-018348-3.

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Jochen Wolf, Hannes Hofmann, Gerald Praschl. Der Aufstand: Juni '53 - Augenzeugen berichten. Berlin: Das Neue Berlin, 2003. 192 S. , broschiert, ISBN 978-3-360-01229-6.

Reviewed by Jan C. Behrends

Published on H-Soz-u-Kult (June, 2004)

Der 17. Juni der Berliner Republik – Konjunk‐ von 1982 versuchte, dem Tag wieder etwas vom turen, Neuerscheinungen, Desiderate alten Pathos einzuhauchen, handelte es sich um Ein Literaturbericht ein tot geborenes Unterfangen. Das Gros der bun‐ desdeutschen Öfentlichkeit wünschte keine Re‐ Wie kaum ein anderes Datum symbolisiert animierung gesamtdeutscher Erinnerung. Für lin‐ der 17. Juni die doppelte deutsche Nachkriegsge‐ ke Westdeutsche blieb das Datum durch den Kal‐ schichte. In der DDR war er fast vierzig Jahre lang ten Krieg kontaminiert. In den Augen vieler war ein Anathema. Dort wurden die Juniereignisse es ein Gedenktag der Gestrigen. 1953 mit Floskeln wie „Tag X“ und „faschistische Provokation“ mehr umnebelt als umschrieben. In Wahrscheinlich hängt es mit der Tabuisie‐ der Bundesrepublik entfachte die niedergeschla‐ rung in der DDR und dem weit gehenden Bedeu‐ gene Revolte zunächst nationales Pathos – man tungsverlust im Westen zusammen, dass der 17. erhob den 17. Juni in den Rang eines westdeut‐ Juni im Zuge der deutschen Einheit ohne viel Fe‐ schen Nationalfeiertages. Wie diejenigen wissen, derlesen von dem Bundeskanzler, der ausgezogen die im Westen aufwuchsen, handelte es sich je‐ war, das Datum wieder aufzuwerten, zum Ar‐ doch seit den siebziger Jahren um einen der un‐ beitstag degradiert wurde. Erst die ofenen Archi‐ politischsten Tage des Jahres. Von wenigen Wür‐ ve Ostdeutschlands bescherten ihm ein Comeback denträgern abgesehen, die aus Staatsräson des Er‐ als geschichtswissenschaftlichem Forschungsge‐ eignisses gedachten, herrschte zwischen Cuxha‐ genstand. Dank des nun vorhandenen Quellenzu‐ ven und Feldberg bei Sommerwetter Ausfugs‐ gangs verwandelte sich der Nationalfeiertag a.D. stimmung. Im Zeitalter der Détente haftete die‐ in ein Stück Zeitgeschichte. Durch die historische sem Nationalfeiertag etwas Unzeitgemäßes an; DDR-Forschung erhielt die Debatte um den 17. und als Helmut Kohl nach seiner kleinen Wende Juni neue Impulse: Wechselweise sahen Histori‐

5 H-Net Reviews ker in ihm entweder den Beleg für das frühe Übersichtlichkeit zu gewährleisten, habe ich die Scheitern der SED, die „innere Staatsgründung Neuerscheinungen den Kategorien Monografen, der DDR“ oder beides zugleich. Lokalstudien, Quelleneditionen und Sammelbän‐ Einen neuen Höhepunkt erreichte die Auf‐ de zugeordnet. merksamkeit für dieses deutsche Datum aufgrund Monografen des 50. Jahrestages im letzten Sommer. Zu diesem Anlässlich des 50. Jahrestages erschienen Anlass begann die Öfentlichkeit der Berliner Re‐ mehrere Monografen, die den Anspruch erheben, publik wieder vom 17. Juni Notiz zu nehmen. Die übergreifende Darstellungen und Interpretatio‐ einstigen erinnerungspolitischen Pfichtübungen nen der Juniereignisse zu sein. Um es vorwegzu‐ waren längst selbst Geschichte; sie wichen einer nehmen: Dieses Versprechen wird am überzeu‐ neuen leidenschaftlichen Neuaneignung. Es gendsten von dem Potsdamer Militärhistoriker scheint, als habe die Öfentlichkeit den 17. Juni Torsten Diedrich eingelöst, der mit „Wafen gegen nun als Chance zur Identitätsstiftung der Berliner das Volk“ nun schon sein zweites Buch zur The‐ Republik entdeckt. Dieses neue erinnerungspoliti‐ matik vorlegt hat Torsten Diedrich: Wafen gegen sche Treiben spielte sich auf verschiedenen medi‐ das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München alen Schauplätzen ab. Die seriösen Feuilletons be‐ 2003. Siehe auch ders.: Der 17. Juni 1953 in der schlich plötzlich ein horror vacui – die Meinungs‐ DDR. Bewafnete Gewalt gegen das Volk, Berlin macher entdeckten, dass es der Berliner Republik 1991. . Diedrichs Darstellung überzeugt durch die an einem sinnstiftenden Nationalfeiertag mange‐ Verankerung der Ereignisse im Kontext des Kalten le. Im Vergleich mit dem 3. Oktober attestierte Krieges, durch ihren stringenten Aufbau, durch man dem 17. Juni revolutionäres Charisma – auch abgewogenes, aber deutliches Urteil und nicht zu‐ wenn der Sturm auf Ulbrichts Bastille seinerzeit letzt durch ihre gute Lesbarkeit. Der Bildteil und von sowjetischen Panzern gestoppt wurde. Der‐ Karten tragen zum besseren Verständnis bei. Zum weil strahlten die stets um eine Melange aus Bil‐ Einstieg in das Thema – etwa für Studierende – dung und Drama bemühten öfentlich-rechtlichen eignet sich die Studie vortrefich. Fernsehanstalten zwei Spielflme und ein „Doku‐ Ein weiterer Autor, der bereits zu Beginn der drama“ über die Ereignisse vor fünfzig Jahren neunziger Jahre mit Publikationen zum Juniauf‐ aus. Die zahlreichen Artikel, Sendungen und Fea‐ stand hervorgetreten ist, hat eine reich illustrierte tures verdichteten sich in den Wochen vor dem Darstellung vorgelegt Ilko-Sascha Kowalczuk: Jahrestag zu einem erinnerungspolitischen Trom‐ 17.6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – melfeuer, an dem sich alle Protagonisten des His‐ Abläufe – Folgen, Bremen 2003. . Ilko-Sascha Ko‐ totainment beteiligten. Doch auch die seriöse his‐ walczuks Buch besticht durch seine Anschaulich- torische Zunft beteiligte sich mit Tagungen und und Übersichtlichkeit. Den Vorgängen in den ein‐ Veröfentlichungen an diesem Hype. Ein erfreuli‐ zelnen Regionen der DDR gibt der Verfasser brei‐ ches Überbleibsel dieses Booms ist sicherlich die ten Raum und veranschaulicht diese durch inter‐ gelungene Website, die von der Bundeszentrale essante Fotos aus lokalen Kontexten. Ein besonde‐ für politische Bildung, dem Deutschlandradio und res Bonbon ist die im Buch enthaltende Audio-CD, dem Zentrum für Zeithistorische Forschung initi‐ auf der eine stürmische Betriebsversammlung do‐ iert wurde (www.17juni53.de) und eine Chronik, kumentiert ist, die am 18. Juni 1953 in Wernigero‐ Quellen und historische Tondokumente bietet. de stattfand. Hier kann man im O-Ton die Forde‐ An dieser Stelle soll ein knapper Blick auf den rungen der Belegschaft hören und die Stimmun‐ umfangreichen historiografschen Ertrag dieses gen und Erwartungen nachvollziehen. Fragwür‐ Jubiläums gewagt werden. Um ein Minimum an dig sind bei Kowalczuk allerdings sein großzügi‐

6 H-Net Reviews ger Umgang mit dem Revolutionsbegrif und die ten vor, nicht energisch genug gegen das sowjeti‐ Verknüpfung der Ereignisse von 1953 und 1989. sche Vorgehen protestiert zu haben und im Ver‐ Insgesamt handelt es sich jedoch ebenfalls um bund mit der Bundesregierung die „Preisgabe der einen empfehlenswerten Überblick. Ostdeutschen an den Kommunismus“ betrieben Einen essayistischen Duktus wählte Volker zu haben. In diesem Fazit cum ira et studio kon‐ Koop für seine bei Siedler erschienene Monogra‐ struiert auch Knabe die Verbindung zwischen fe, die im Titel verspricht, „Legende und Wirk‐ 1953 und 1989; beide Ereignisse zeichnen sich sei‐ lichkeit“ zu kontrastieren Volker Koop: Der 17. ner Ansicht nach dadurch aus, dass „ohne Führer Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, Berlin 2003. und Organisation [...] das Volk überraschend in . Tatsächlich arbeitet sich der Autor in seinem mit den Ablauf der Geschichte“ eingrif. zahlreichen Fotos illustrierten Buch, das deutlich In der wissenschaftlichen Reihe der BStU ha‐ auf ein breites Publikum zielt, vornehmlich an ben Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann der Ereignisgeschichte ab. In seiner auf Polizei- gemeinsam eine Studie zur Reaktion der Staatssi‐ und Stasiquellen fußenden Darstellung interes‐ cherheit auf den 17. Juni 1953 vorgelegt Karl Wil‐ siert sich Koop besonders für die Stimmungslage helm Fricke/ Roger Engelmann: Der „Tag X“ und in der Bevölkerung. Im Schlussteil der umfangrei‐ die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen chen Monografe müht sich der Verfasser, die und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bre‐ DDR-Sprachregelung vom „faschistischen Putsch“ men 2003. . Eingangs rekapitulieren die Autoren zu widerlegen. Ofenkundig hat er sich dabei fünf Jahrzehnte Forschung zum Juniaufstand in nicht die Frage gestellt, wer dieser Version im Jah‐ der Bundesrepublik und die ebenso lange Ideolo‐ re 2003 überhaupt noch Glauben schenkt. Sie gieproduktion der DDR. Von der Situation in Ber‐ dürfte sich bereits 1953 als Mythos hinreichend lin ausgehend schildern die Autoren, wie sich die entlarvt haben. Erhebung über das Gebiet der DDR ausbreitete In der Aufmachung, in vielen Wertungen und und wo sie sich gegen Dienststellen des MfS im Duktus ähnelt Hubertus Knabes Darstellung wandte. Ihre Darstellung stützt sich zu weiten Tei‐ dem Buch von Volker Koop Hubertus Knabe: Der len auf Akten der BStU. Die Studie verdeutlicht, 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Berlin 2003. dass auch die Staatssicherheit – ähnlich wie die . Knabe verfolgt freilich noch ofensiver das Ziel, SED oder die Volkspolizei – vom Geschehen zu‐ den 17. Juni in den „historischen Erinnerungs‐ nächst überrascht und anschließend überrollt schatz“ der Berliner Republik aufzunehmen und wurde. Da sie ein besonders verhasstes Herr‐ damit dem oben beschriebenen Bedürfnis des schaftsinstrument der kommunistischen Diktatur Feuilleton und der politischen Klasse entgegenzu‐ war, ist es verständlich, dass sich die Gewalt der kommen. Sein Buch hat Knabe in drei Abschnitte Aufständischen oft gegen ihre Dienststellen oder unterteilt: Ursachen, Aufstand und Niederschla‐ Mitarbeiter richtete. In den entscheidenden Stun‐ gung. Er stützt sich auf diverse Archivquellen und den des Aufstandes agierte die Berliner MfS-Zen‐ als ausgewiesener DDR-Forscher auf die eigene trale planlos. Von einem koordinierten Vorgehen breite Literaturkenntnis. Auf 485 Seiten schildert der konnte keine Rede sein und die Kommu‐ er ausführlich das Geschehen in Berlin und in der nikation mit den Dienstellen brach ebenfalls zu‐ Provinz; außerdem fragt Knabe nach dem Verhal‐ sammen; sicher ein Grund dafür, warum der Ul‐ ten einzelner sozialer Gruppen und der Rolle von bricht-Widersacher Wilhelm Zaisser alsbald sei‐ Institutionen wie dem RIAS, der Kirche oder den nen Posten als Sicherheitsminister und seine Posi‐ DDR-Intellektuellen. In seinen Schlussbetrachtun‐ tion im Politbüro räumen musste. Die Studie zeigt, gen wirft Knabe den westlichen Besatzungsmäch‐ wie der Repressionsapparat angesichts der Wucht einer Volkserhebung die Grenzen seiner Macht

7 H-Net Reviews aufgezeigt bekam. Abschließend untersuchen die – Hintergründe, Berlin 2003. . In Bentziens Werk Autoren die Machtkämpfe an der Spitze des MfS ist die Wandlitz-Pankower Welt noch in Ordnung. und die Rolle des Ministeriums bei der strafrecht‐ Bei ihm ist der Westen, insbesondere die USA, an lichen Verfolgung von Aufständischen. allem Elend schuld, bei den Sowjets handelt es Der Vollständigkeit halber sei noch auf drei sich hingegen um antifaschistische Idealisten weitere Publikationen verwiesen, die letztes Jahr (Ausnahme: Berija) und die LPG charakterisiert er erschienen sind. Thomas Fleming hat eine reich als „verblüfende Antwort auf ein Bündel Proble‐ bebilderte Überblicksdarstellung geschrieben, die me“. Aus diesem Intro ergibt sich dann das Urteil dem Leser auf knappen Raum das Wesentliche über den 17. Juni mit einer gewissen Zwangsläu‐ über den 17. Juni präsentiert Thomas Fleming: fgkeit. Nach Meinung des Verfassers wirkte im Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953, Ber‐ Hintergrund eine unheilige Allianz aus Lavrentij lin 2003. . Das Buch, das in Zusammenarbeit mit Berija und den westlichen Geheimdiensten. Vor der ARD entstand, bietet einen soliden und quel‐ dem Hintergrund dieser weltpolitischen Ver‐ lengesättigten Überblick. Als stark gerafte und schwörung erlebt der Leser einen abrupten Per‐ gut verständliche Darstellung wendet es sich an spektivwechsel: Unvermittelt avanciert der Ver‐ ein breites Publikum. Zwiespältiger muss das Ur‐ fasser zum Protagonisten seiner Erzählung und teil über zwei weitere Neuerscheinungen ausfal‐ schildert als Zeitzeuge „seinen“ 17. Juni. Am Ende len. Rolf Steiniger wärmt in seiner Kurzstudie „17. erfährt der Leser von der Koordination des Auf‐ Juni 1953. Der Anfang vom Ende der DDR“ die standes durch den RIAS und der Verschwörungs‐ These wieder auf, dass die Historie der DDR nur theoretiker Bentzien verkündet resigniert, dass es als lineare Verfallsgeschichte zu begreifen sei Rolf noch nicht an der Zeit sei, die Wahrheit zu erfah‐ Steiniger: 17. Juni 1953. Der Anfang vom langen ren: Die „entscheidenden Gründe für die Unru‐ Ende der DDR, München 2003. . Auf eine kurze hen“ schlummerten weiter „im Dunkel der Archi‐ Zusammenfassung der Juniereignisse folgt im ve.“ zweiten Teil des Buches ein Schnelldurchlauf Lokalstudien durch die DDR-Geschichte, der teleologisch auf Da der Aufstand des 17. Juni unter den Bauar‐ das Ende des Jahres 1989 zugeschrieben ist. In beitern der Stalinallee begann und aus Berlin die diesem Parforce-Ritt durch die ostdeutsche Nach‐ dramatischen Bilder stammen, die sich in das me‐ kriegsgeschichte versäumt es der Autor nicht, sei‐ dial vermittelte kollektive Gedächtnis eingebrannt ne Meinung zur DDR deutlich zu machen („grau haben – der Fahnenwechsel auf dem Brandenbur‐ und trist, mufg, kleinbürgerlich und braunkoh‐ ger Tor, das brennende Columbiahaus am Potsda‐ lenstinkig, repressiv und perspektivlos“) und reiht mer Platz, die sowjetischen Panzer in der Leipzi‐ sich abschließend in die Reihe derjenigen ein, die ger Straße – liegt bei zahlreichen Überblicksdar‐ aufgrund des Verschwindens des Nationalfeierta‐ stellung der Fokus auf dem dortigen Geschehen. ges am 17. Juni einen starken Phantomschmerz Dass die Ereignisse des 17. Juni aber mittlerweile verspüren. Im entgegengesetzten politischen als ein Aufstand gesehen werden, der die gesamte Spektrum verortet sich ein anderer Autor: Wer DDR erfasste, liegt sicher auch daran, dass eine dem deutschen „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ lie‐ Reihe vortreficher Regionalstudien erschienen ber mit Nachsicht gedenkt und wem bei der Ver‐ sind. Bereits 1999 legte Heidi Roth ihre voluminö‐ wendung seiner Begrifichkeiten („Tag X“, „Groß‐ se Dissertation zum Juniaufstand in Sachsen vor bourgeoisie“, „klassenbewußte Arbeiter“) warm Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln u.a. ums Herz wird, dem sei Hans Bentziens „Was ge‐ 1999. . Die Verfasserin behandelt nacheinander schah am 17. Juni?“ empfohlen Hans Bentzien: das Geschehen in den Bezirken Leipzig und Dres‐ Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte – Verlauf

8 H-Net Reviews den, in den Kreisen Görlitz und Niesky, im Bezirk mandeuse“ Erna Dorn, die nach Angaben der Karl-Marx-Stadt und in der SAG-Wismut. In zwei SED-Propaganda den Aufstand in Halle mit anzet‐ abschließenden Kapiteln untersucht sie die Reak‐ telte, und er kann zeigen, dass es sich hierbei um tionen der SED und der partei-staatlichen Justiz eine Fabrikation des Propagandastaates handelte; auf den Aufstand. Der Studie kommt deshalb be‐ allerdings gelingt es auch ihm nicht, die Identität sondere Bedeutung zu, weil sie mit dem bürger‐ der Person zu klären, die am 1. Oktober 1953 in lich geprägten Leipzig und insbesondere mit Gör‐ hingerichtet und vom Schriftsteller Ste‐ litz, wo die Aufständischen für einige Stunden die phan Hermlin in einer Erzählung post mortem Macht übernahmen, zwei Brennpunkte detailliert zum Symbol eines „faschistischen Putsches“ stili‐ untersucht. Die Darstellung fußt auf einer breiten siert wurde. Abschließend widmet sich auch diese Basis regionaler und Berliner Quellen, zu der Studie der Niederschlagung des Aufstandes und auch die Überlieferungen der Sicherheitsapparate der Verfolgung seiner Protagonisten durch die und der Universitäten zählen. Auf dieser soliden partei-staatlichen Apparate. Grundlage gelingt es der Autorin, sehr dicht und Ein von Hermann-Josef Rupieper verantwor‐ präzise die Entwicklungen zu beschreiben, die zu teter Sammelband beschäftigt sich ebenfalls mit unterschiedlichen Situationsdynamiken führten. dem Juni 1953 im mitteldeutschen Industrierevier Roth kann zeigen, dass die Arbeitsniederlegungen Hermann-Josef Rupieper (Hg.): „...und das Wich‐ in Sachsen teilweise eine stärkere Wucht und tigste ist doch die Einheit“. Der 17. Juni 1953 in einen höheren Organisationsgrad hatten als in den Bezirken Halle und Magdeburg, Münster u.a. Berlin – ein Befund, der die Bedeutung der Ereig‐ 2003. . Er präsentiert dem Leser 13 Aufsätze und nisse außerhalb der Hauptstadt eindrucksvoll be‐ drei Zeitzeugenberichte über diesen Brennpunkt stätigt. Außerdem wird deutlich, dass die Traditio‐ der Unruhen. Die Untersuchungen widmen sich nen der Arbeiterbewegung, die weit in die Zeit Unruheherden wie Magdeburg und Bitterfeld, vor 1933 zurückreichten, 1953 noch wirkungs‐ verschiedenen Institutionen und Betrieben wie mächtig waren. der Martin-Luther-Universität oder dem Komplex Eine weitere Monografe, die den mitteldeut‐ Leuna-Buna sowie den Schicksalen einzelner Ak‐ schen Raum behandelt, hat Hans-Peter Löhn zu teure, darunter wiederum dem Fall der „Kom‐ Halle vorgelegt Hans-Peter Löhn: Spitzbart, Bauch mandeuse Erna Dorn“. Die einzelnen Studien sind und Brille – sind nicht des Volkes Wille. Der Volks‐ durchweg quellengesättigt und lesenswert; sie tra‐ aufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale, gen dazu bei, neue Facetten des 17. Juni im Gebiet Bremen 2003. . Das Buch besticht durch seine prä‐ des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt be‐ zise Schilderung der Ereignisse in der Saalestadt. kannt zu machen. Dabei gelingt es dem Verfasser zu zeigen, wie die Quelleneditionen Situation dort in den Nachmittagsstunden des 17. Aus Anlass des 50. Jahrestages erschienen Juni eskalierte und die Menge gegen die SED-Be‐ mehrere Quelleneditionen zum Juniaufstand. Die zirksleitung und die Volkspolizei vorging. Plas‐ empfehlenswerteste Dokumentensammlung zur tisch werden die Geschehnisse rund um das Thematik entstand jedoch bereits im Jahr 2001 Zuchthaus „Roter Ochse“ geschildert, wo von der unter der Ägide von Christian F. Ostermann Chris‐ Staatsmacht Schusswafen eingesetzt wurden und tian F. Ostermann: Uprising in East Germany, Tote zu beklagen waren. Diese Tumulte und die 1953. The Cold War, the German Question and the Befreiung von Gefangenen aus der Untersu‐ First Major Upheaval Behind the Iron Curtain, Bu‐ chungshaft werden zusätzlich durch Bildmaterial dapest u.a. 2001. . Was zeichnet dieses Buch vor dokumentiert. Ebenso akribisch seziert Löhn die anderen aus? Zunächst sicher die gelungene Kon‐ Quellen zum Fall der vermeintlichen „SS-Kom‐

9 H-Net Reviews textualisierung der Ereignisse, die Einordnung monstrationen und – mit der Ausnahme von Hen‐ des Geschehens in die internationale Konfiktkon‐ nigsdorf – eine Solidarisierung des Umlandes mit stellation des Kalten Krieges. Man merkt dem den Berliner Streikenden weit gehend zu unter‐ Band deutlich seinen Entstehungskontext im re‐ binden. Dokumente aus der Zeit nach dem Auf‐ nommierten Washingtoner „Cold War Internatio‐ stand illustrieren, welche Probleme der Partei- nal History Project“ an. In drei Teile gegliedert Staat mit seiner Bewältigung hatte und wie die (Ursprünge der Krise, Der Aufstand, Konsequen‐ SED krampfhaft versuchte, Belege für die eigenen zen für die amerikanische Außenpolitik), enthält Verschwörungstheorien zu fnden. Insgesamt das Buch 95 kompetent kommentierte Dokumente stellt diese Sammlung eine Fundgrube für diejeni‐ aus amerikanischen, russischen, deutschen, polni‐ gen dar, die an der Geschichte Brandenburgs un‐ schen und tschechischen Archiven. Hier fndet ter der SED-Herrschaft interessiert sind. der interessierte Historiker ein Konvolut, das Zwei weitere Potsdamer Historiker – der be‐ einen multiperspektivischen Zugang und damit reits erwähnte Torsten Diedrich und Hans-Her‐ ein übergreifenderes Verständnis des Juniaufstan‐ mann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische des ermöglicht. Der einzige Wermutstropfen ist Forschung – haben anlässlich des 50. Jahrestages vielleicht eine allzu deutliche Fixierung auf die verdienstvollerweise eine wichtige Quelle aus Ebenen der „großen Politik“ und der Geheim‐ dem Fundus der Sicherheitsorgane der DDR dienste. Andererseits ermöglichen der amerikani‐ ediert Torsten Diedrich/ Hans-Hermann Hertle sche und sowjetische Blickwinkel es jedoch, den (Hg.): Alarmstufe „Hornisse“. Die geheimen Chef- internationalen Stellenwert der Ereignisse neu zu Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953, bestimmen. Selbst denjenigen, die meinen, schon Berlin 2003. . Es handelt sich um die „geheimen alles über den 17. Juni zu wissen, dürfte dieses in‐ Chef-Berichte der Volkspolizei“, d.h. um die Analy‐ ternationale Kompendium noch neue Einsichten sen der einzelnen Bezirke, die von der Hauptver‐ in eine internationale Krisensituation eröfnen. waltung der Deutschen Volkspolizei in Berlin be‐ Die von dem Potsdamer Historiker Burghard reits am 21. Juni 1953 angefordert wurden. Den Ciesla zusammengestellte Dokumentation zum 17. Berichten vorangestellt ist eine aufschlussreiche Juni in Brandenburg kann man aufgrund der vor‐ Rede des Vopo-Chefs Karl Maron, in der sich das züglichen Einleitung des Herausgebers auch als Selbstverständnis dieses bewafneten Arms der Regionalstudie über die Bezirke Potsdam, Cottbus SED-Herrschaft im Angesicht der Krise manifes‐ und Frankfurt an der Oder lesen Burghard Ciesla tiert. Diese Dokumente - sprachlich ein schwer er‐ (Hg.): Freiheit wollen wir! Der 17. Juni 1953 in trägliches Kompositum aus Dienstdeutsch und Brandenburg, Berlin 2003. . Ciesla präsentiert in stalinistischem ‚newspeak’ – erweisen sich als fas‐ chronologischer Reihenfolge Dokumente aus den zinierende Quelle zum Herrschafts- und Gewalt‐ Beständen der SED, der Volkspolizei und der verständnis der SED-Diktatur. In ihnen spiegelt Staatssicherheit. Diese Quellen verdeutlichen, wie sich die Volkspolizei als gespaltenes Herrschafts‐ sehr der Partei-Staat im Raum Brandenburg von instrument, das zwischen preußisch-deutschem der politischen Entwicklung überrascht wurde. Pfichtbewusstsein in der Breite, stalinistischem Burghard Ciesla vertritt die These, dass die Protes‐ Kaderethos an der Spitze und moralischen Skru‐ te in Brandenburg an der Havel eine ähnliche In‐ peln an der Basis in der Krise seine Funktionsfä‐ tensität erreichten wie in Halle oder Leipzig – die higkeit weit gehend einbüßte. Einen bedeutenden Stadt wäre damit zu den Brennpunkten der Erhe‐ Teil der Vopos beseelte zwar ofenkundig große bung zu zählen. Rund um die Hauptstadt gelang Einsatzbereitschaft und der urdeutsche Wille, es durch die Unterbrechung des Personenver‐ „Ruhe und Ordnung“ Geltung zu verschafen. kehrs jedoch frühzeitig, eine Ausweitung der De‐ Letztlich zeigte sich jedoch, dass der komplette

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Neuaufbau der Polizei in der SBZ/DDR im Ange‐ hellende Schriftkultur der SED; das Stakkato‐ sicht der Herrschaftskrise seinen Tribut forderte. deutsch des Politbüroprotokolls ist hier für den Es handelte sich bei der Volkspolizei des Jahres Sommer 1953 dokumentiert. Bei der Lektüre ver‐ 1953 kaum um eine schlagkräftige Truppe, ge‐ festigt sich der Eindruck, dass die SED nicht nur schweige denn eine gut bewafnete oder taktisch nicht Herr der Lage, sondern insbesondere nicht ausgebildete Ordnungsmacht. Erst langsam ge‐ Herr über die Sprache war. So präsentiert sich auf lang es der Deutschen Volkspolizei, in die Mitte den Seiten dieser Edition die stalinistische Dikta‐ der Gesellschaft vorzustoßen und wenigstens par‐ tur als kommunikatives Desaster; die Permanenz tiell mit Hilfe der Abschnittsbevollmächtigten den der Phrase ist noch bedrückender als in jener be‐ intendierten „engen Kontakt zur Bevölkerung“ kannten Sonntagabend-Talkshow der Berliner Re‐ herzustellen Vgl. grundlegend: Thomas Linden‐ publik. berger: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öf‐ Wie unterschiedlich DDR-Bürger je nach ihrer fentliche Ordnung im SED-Staat, Köln u.a. 2003. . sozialen und politischen Stellung den Juniauf‐ Die Volkspolizei war am 17. Juni ein stumpfes stand erlebten, verdeutlicht ein unscheinbares, Schwert der Partei. populäres Bändchen, in dem kurze Ausschnitte Einen weiteren Blick auf den Aufstand mit aus Zeitzeugeninterviews wiedergegeben sind, den Augen des Partei-Staates bietet die von Wil‐ die einiges über die Atmosphäre der Zeit, aber friede Otto verantwortete Dokumentation über auch den 17. Juni als deutschen Erinnerungsort die SED im Juni 1953 Wilfriede Otto (Hg.): Die SED verraten Jochen Wolf (Hg.): Der Aufstand. Juni 53 im Juni 1953. Interne Dokumente, Berlin 2003. . – Augenzeugen berichten, Berlin 2003. . Der Band beinhaltet Quellen aus dem innersten Sammelbände Führungszirkel der SED – Notizen von Spitzenka‐ Schließlich hat das Aufstandsjubiläum auch dern wie Ulbricht, Grotewohl, Ebert, Herrnstadt auf dem Markt für Sammelbände seine Spuren oder Oelßner – sowie Protokolle von Führungs‐ hinterlassen. Doch bevor wir uns den Titeln des gremien, insbesondere des Politbüros. Alle Quel‐ Erscheinungsjahres 2003 zuwenden, sei noch auf len sind der Forschung seit der Wende von zwei ältere Publikationen verwiesen, die gleich‐ 1989/90 zugänglich und bekannt. Die Dokumenta‐ wohl Beachtung verdienen. Bereits 1999 erschien tion setzt mit der von Moskau dekretierten Ver‐ ein von den Potsdamer Historikern Christoph kündung des „Neuen Kurses“ und der Reise einer Kleßmann und Bernd Stöver herausgegebener SED-Delegation in die sowjetische Metropole ein Band, dessen Anliegen es ist, den Juniaufstand im und schließt mit einer Politbürositzung vom 23. Kontext des Jahres 1953 zu beleuchten Christoph Juli 1953. Der Vorteil des Bandes ist schnell ge‐ Kleßmann/ Bernd Stöver (Hg.): 1953 – Krisenjahr nannt: Forschende sparen sich den Gang ins Ar‐ des Kalten Krieges in Europa, Köln u.a. 1999. . chiv und die Sichtung der einschlägigen Akten Kleßmann und Stöver vertreten die These, dass und Nachlässe. Wie aus anderen Zusammenhän‐ 1953 ein „Krisenjahr“ für das sowjetische System gen bekannt, erweisen sich jedoch diese Quellen insgesamt gewesen sei – sowohl im Kreml, wo der obersten Führungsebene des SED-Staates als zwischen März und Juli die ungeklärte Machtfra‐ wenig ergiebig – insbesondere, wenn sie nicht im ge schwelte, als auch an den leicht entzündlichen historisch-politischen Kontext verortet werden. Peripherien des Imperiums. Die Beiträge des ers‐ Die Konzentration auf das Politbüro verstellt auch ten Teils rollen die Frage nach den deutschland‐ den Blick auf die interessante Frage, wie die SED politischen Konzepten Berijas wieder auf und in‐ als Hybrid aus Avantgarde und Massenpartei ins‐ formieren über die Auswirkungen des „Neuen gesamt auf den 17. Juni reagierte. Was im vorlie‐ Kurses“ in der ČSSR und in Ungarn. Der zweite genden Band bleibt, ist ein Blick auf die wenig er‐

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Teil analysiert die amerikanische, englische, bun‐ das symbolisch aufgeladene Aufbauprojekt Stalin‐ desdeutsche und polnische Reaktion auf den Auf‐ allee zum Ausgangspunkt des Aufstandes werden stand. In einem gelungenen Resümee zieht Bernd konnte. Die Ergebnisse der hier vorgesellten Auf‐ Stöver eine Bilanz des Epochenjahres 1953. Einen sätze zu lokalen Brennpunkten korrespondieren noch breiteren Ansatz verfolgt ein von Jan Foitzik mit den Erkenntnissen der oben vorgestellten Re‐ (Berlin) herausgegebenes Buch, das die gesamte gionalstudien. Der zweite Teil, der den Titel „Men‐ „Entstalinisierungskrise“ der Jahre 1953-1956 in schen machen Geschichte“ trägt, stellt fünf Perso‐ den Blick nimmt Jan Foitzik (Hg.): Entstalinisie‐ nen vor, die sich in der Widerstandsbewegung ex‐ rungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. ponierten. Hier analysiert Friedhelm Bohl die Di‐ Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politi‐ mensionen des sozialdemokratischen Widerstan‐ sche, militärische und nationale Dimensionen, Pa‐ des gegen die kommunistische Diktatur in Ost‐ derborn u.a. 2001. . Wie im Band von Kleßmann deutschland. Diesen akteurszentrierten Abschnitt und Stöver zeigt sich auch hier, dass die Koopera‐ beschließt ein Zeitzeugenbericht des Berliner Bi‐ tion mit Kollegen aus Übersee und Ostmitteleuro‐ bliothekars und Osteuropaexperten Peter Bruhn, pa eine umfassende, vergleichende Perspektive der als Referendar an der Staatsbibliothek Unter ermöglicht. Auf der Grundlage lokaler und Mos‐ den Linden die Ereignisse aus der Nähe miterleb‐ kauer Quellen analysieren die Beiträger Desinte‐ te. Den Abschluss des gelungenen Bands bildet ein grationsentscheidungen im sowjetischen Macht‐ Aufsatz von Bernd Faulenbach, der die Geschichte bereich. Einzelne Studien beschäftigen sich mit der Erinnerung an den 17. Juni in beiden deut‐ der Ungarischen Revolution und dem „polnischen schen Staaten analysiert. Oktober“ 1956. Zwei Aufsätze beschäftigen sich Zwei weitere Veröfentlichungen richten sich mit der DDR; den Abschluss bilden russische Do‐ eher an ein Spezialpublikum. Der Band „Die Kir‐ kumente, die Licht auf die Rolle des KGB bei der chen im Umfeld des 17. Juni“ beschäftigt sich auf Etablierung des ungarischen Kadar-Regimes wer‐ einer allgemeinen Basis mit dem Verhältnis zwi‐ fen. Beide Bände glänzen aufgrund ihrer interna‐ schen evangelischer Kirche und kommunisti‐ tionalen Perspektive; hier bildet der Kalte Krieg schem Partei-Staat in den Jahren 1945-1956 Mar‐ nicht nur den Hintergrund für den 17. Juni, son‐ tin Greschat/ Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Die dern seine Akteure und Mechanismen werden in Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953, Stuttgart die Erklärung der Ereignisse mit einbezogen. Das 2003. . Ein Fokus liegt dabei auf den Repressionen, komplexe Beziehungsgefecht und die verschiede‐ die seit der 2. Parteikonferenz der SED und insbe‐ nen Interdependenzen zwischen Moskau und den sondere im Anschluss an Stalins Tod noch ver‐ „Volksdemokratien“ treten deutlich hervor. schärft wurden. Insgesamt betrachtet handelt es Doch konzentrieren wir uns im Folgenden auf sich um eine Publikation, die nur mittelbar die Er‐ das Erscheinungsjahr 2003. Der Berliner DDR-Ex‐ eignisse des Juniaufstandes analysiert und eigent‐ perte Ulrich Mählert hat einen Band vorgelegt, lich die Frage nach der Stellung der Kirche in der der die regionalen Dimensionen der Erhebung kommunistischen Diktatur aufwirft. Neben Auf‐ vorstellt und versucht, den Akteuren des Aufstan‐ sätzen, die u.a. die Reaktion der Kirche auf die Re‐ des ein Gesicht zu verleihen Ulrich Mählert (Hg.): pressionen, die Diskussion um den Begrif „Kir‐ Der 17. Juni 1953. Ein Aufstand für Einheit, Recht chenkampf“ oder die Stellung der theologischen und Freiheit, Bonn 2003. . Der erste Teil des Bu‐ Fakultäten an DDR-Universitäten behandeln, ent‐ ches bringt durchweg lesenswerte Aufsätze über hält der Band auch einzelne Dokumente und die das Geschehen in Berlin, Potsdam, Sachsen, Jena, Erinnerungen zweier Zeitzeugen. Schließlich ist Rostock und den Bezirk Halle. In einer interessan‐ am Breslauer Willy-Brandt-Zentrum im letzten ten Studie fragt Stefan Wolle, wie ausgerechnet Jahr ein Band erschienen, der Studien polnischer

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Kolleginnen und Kollegen zum 17. Juni enthält tet ist die Forschung – bei aller inneren Diferen‐ Krzysztof Ruchniewicz (Hg.): Powstanie czerwco‐ ziertheit – noch kaum theoriegeleitet. Es fehlt ein we w NRD w 1953 roku na tle innych wystąpień Anschluss an internationale Konzepte wie ‚crowd antykomunistycznych w krajach Europy Środko‐ research’, es fehlt eine Gesellschaftstheorie sowje‐ wo-Wschodniej, Breslau 2003. . Das Buch enthält tischer Systeme, auf die sich ein refektierter Kri‐ u.a. eine vortrefiche Mikrostudie der Warschau‐ senbegrif anwenden ließe Auf den fehlenden An‐ er Historikerin Małgorzata Mazurek zu den Berli‐ schluss der historischen DDR-Forschung an Kon‐ ner Stalinwerken und einen Aufsatz von Marcin zepte des angelsächsischen ‚crowd research’ ver‐ Lipnicki über die Ost-CDU im Sommer 1953. Vier weist jetzt auch: Thomas Lindenberger: „Gerechte Beiträge behandeln die Reaktionen auf den Auf‐ Gewalt?“ Der 17. Juni 1953 – ein weißer Fleck in stand in der Bundesrepublik, in den Vereinigten der historischen Protestforschung, in: Henrik Bi‐ Staaten, Polen und der Tschechoslowakei. Die spinck/ Jürgen Danyel/ Hans-Hermann Hertle/ letzten fünf Aufsätze sind einer vergleichenden Hermann Wentker (Hg.): Aufstände im Ostblock. Perspektive auf antikommunistische Aufstandsbe‐ Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Ber‐ wegungen in Ostmitteleuropa verpfichtet; sie fra‐ lin 2004, S. 13-127. Da dieser Band erst vor kurz‐ gen nach länderübergreifenden Ähnlichkeiten em erschienen ist, konnte er nicht mehr in diese und der heutigen Erinnerung an den antikommu‐ Betrachtungen einbezogen werden. . Vieles er‐ nistischen Widerstand. scheint doch sehr narrativ und nah an den Quel‐ Resümee len gebaut – was bei Regionalstudien ja auch durchaus ein Vorteil sein kann. Letztlich gleicht Der Blick in die Literatur hat verdeutlicht, die Forschung – von den markierten Ausnahmen wie umfangreich der historiografsche Ertrag des abgesehen – jedoch allzu sehr einer nun gesamt‐ Jahres 2003 war – und dieser Aufsatz erhebt kei‐ deutschen Nabelschau auf einen ostdeutschen nen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist daher ge‐ Aufstand. Auch für diesen Teil der DDR-Geschich‐ rechtfertigt festzustellen, dass die Forschung zum te gilt sicherlich die jüngst von Martin Sabrow 17. Juni 1953 damit einen neuen Stand erreicht und Thomas Lindenberger vehement geforderte hat. Die stets etwas artifziell anmutende Debatte, Europäisierung Vgl. Thomas Lindenberger/ Mar‐ ob es sich um einen Arbeiter- oder um einen tin Sabrow: Das Findelkind der Zeitgeschichte. Volksaufstand gehandelt habe, dürfte entschieden Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die sein Eine gelungene Zusammenschau der älteren Zukunft der DDR-Geschichte, Frankfurter Rund‐ Forschung fndet sich bei Beate Ihme-Tuchel: Die schau, 12.11.2003 [wiederabgedruckt in: Deutsch‐ DDR, Darmstadt 2002, S. 22-41. . Gerade die zahl‐ land Archiv 37 (2004), S. 123-127]. . In dieser Rich‐ reichen Regionalstudien veranschaulichen, dass tung wäre viel zu gewinnen. der Arbeiterschaft zwar eine tragende Rolle zu‐ kam, dass sich jedoch schnell breite Kreise der Be‐ Besonders problematisch erscheint vor die‐ völkerung mit der Erhebung solidarisierten. Ne‐ sem Hintergrund die Tendenz, den 17. Juni für ben dieser größeren Breite ist zu vermerken, dass eine neue nationale Meistererzählung zu verein‐ der 17. Juni langsam viele Gesichter bekommt. nahmen. Sie zeigt sich etwa dann, wenn versucht Durch zahlreiche Regional- und Fallstudien ken‐ wird, Kontinuitäten zwischen 1953 und 1989 zu nen wir heute viele der lokalen Protagonisten der konstruieren. Hier genügt ein Blick auf unsere Erhebung. ostmitteleuropäischen Nachbarländer, um zu ver‐ stehen, dass der 17. Juni eben keine Tradition des Neben diesen erfreulichen Tendenzen gilt es Widerstandes gegen den Kommunismus sowjeti‐ jedoch auch, auf einige problematische Entwick‐ scher Prägung begründete. Als traumatisches Da‐ lungen hinzuweisen. In der Gesamtschau betrach‐ tum war er tief im Bewusstsein des Regimes ver‐

13 H-Net Reviews ankert; für die neue Oppositionsbewegung der achtziger Jahre hingegen bildete er kaum einen positiven Bezugspunkt. Im Gegenteil: Ihre Parole lautete bekanntlich „Keine Gewalt!“ Deshalb ist es historisch verfehlt, den 17. Juni 1953 zum Ur‐ sprung des friedlichen Umbruchs von 1989 zu er‐ klären, wie dies nicht nur im Trubel der Jubilä‐ umsfeierlichkeiten, sondern auch in Teilen der Geschichtsschreibung geschehen ist. Im europäi‐ schen Kontext betrachtet verbietet sich dann auch die Verwendung des Begrifes „Revolution“ für den Juniaufstand. Dies würde den Begrif voll‐ ständig überdehnen und entwerten; schließlich hatte der 17. Juni nicht das Ausmaß der Ereignis‐ se, die 1956 Ungarn erschütterten. Letztlich kann man festhalten, dass man über den Charakter des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in Zukunft we‐ niger streiten wird – über seine Funktion als nati‐ onalen Erinnerungsort der Berliner Republik wird jedoch weiter debattiert werden.

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Citation: Jan C. Behrends. Review of Bentzien, Hans. Was geschah am 17. Juni?: Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe. ; Ciesla, Burghard. Freiheit wollen wir!: Der 17. Juni 1953 in Brandenburg. ; Diedrich, Torsten. Wafen gegen das Volk: Der Aufstand vom 17. Juni 1953. ; Diedrich, Torsten; Hertle, Hans Hermann. Alarmstufe "Hornisse": Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953. ; Flemming, Thomas. Kein Tag der deutschen Einheit: 17. Juni 1953. ; Foitzik, Jan. Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand: Politische, militärische, soziale und nationale Dimension. ; Fricke, Karl W.; Engelmann, Roger. Der "Tag X" und die Staatssicherheit: 17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR- Machtapparat. ; Greschat, Martin; Kaiser, Jochen-Christoph. Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953. ; Kleßmann, Christoph; Stöver, Bernd. 1953 - Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa. ; Knabe, Hubertus. 17. Juni 1953: Ein deutscher Aufstand. ; Koop, Volker. Der 17. Juni 1953: Legende und Wirklichkeit. ; Kowalczuk, Ilko-Sascha. 17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR: Ursachen - Abläufe - Folgen. ; Lindenberger, Thomas. Volkspolizei: Herrschaftspraxis und öfentliche Ordnung im SED-Staat 1952-1968. ; Löhn, Hans P. Spitzbart, Bauch und Brille - sind nicht des Volkes Wille!: Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale. ; Mählert, Ulrich. Der 17. Juni 1953: Ein Aufstand für Einheit, Recht und Freiheit. ; Ostermann, Christian F. Uprising in East Germany 1953: The Cold War, the German Question, and the First Major Upheaval Behind the Iron Curtain. ; Otto, Wilfriede. Die SED im Juni 1953: Interne Dokumente. ; Roth, Heidi. Der 17. Juni 1953 in Sachsen. ; Rupieper, Hermann-Josef; in Verbindung mit

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Daniel Bohse und Inga Grebe. "... und das Wichtigste ist doch die Einheit.": Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg. ; Steininger, Rolf. 17. Juni 1953: Der Anfang vom langen Ende der DDR. ; Wolf, Jochen; Hofmann, Hannes; Praschl, Gerald. Der Aufstand: Juni '53 - Augenzeugen berichten. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. June, 2004.

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