DER 17. JUNI 1953 DER ANFANG VOM ENDE DES SOWJETISCHEN IMPERIUMS

DEUTSCHE TEIL-VERGANGENHEITEN - AUFARBEITUNG WEST:

DIE INNERDEUTSCHEN BEZIEHUNGEN UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DIE ENTWICKLUNG IN DER DDR

DOKUMENTATION

4. BAUTZEN-FORUM DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG 17. BIS 18. JUNI 1993 INHALTSVERZEICHNIS

5 Vorwort 75 Waleri Alexandrowitsch Wolin Rußland rehabilitiert die durch sowjetische 7 Dr. Joachim Kahlert Militärtribunale unschuldig Verurteilten Auf dem langen Weg zur Einheit die Orientie- rung verloren? 89 Prof. Dr. Jens Hacker Einsichten und Ansichten zur Deutschlandpolitik Die CDU - Vom Alleinvertretungsanspruch zur De-facto-Anerkennung der vormals 21 Winfried Schneider-Deters sogenannten DDR Begrüßung und Einführung 107 Dr. Johannes L. Kuppe 27 Heinder Sandig Die Deutschlandpolitik der SPD -Von der Politik Grußwort des Vizepräsidenten des der deutschen Einheit zur Politik des Status quo Sächsischen Landtages der deutschen Teilung

31 Dr. Karl-Heinz Kunckel 121 Ulrich Schacht Grußwort des Vorsitzenden der sozialdemokra- Der SED-Staat und seine intellektuellen tischen Fraktion im Sächsischen Landtag Kollaborateure in Westdeutschland

35 Karl Wilhelm Fricke 133 Dr. Hans-Hermann Hertle Der 17. Juni 1953 - Der erste Arbeiteraufstand Die Deutschlandpolitik des DGB in den 70er und gegen die kommunistische Diktatur im 80er Jahren - ost-westdeutscher Schulterschluß sowjetischen Imperium im „Kampf gegen das Kapital"?

45 Dr. Bernd Faulenbach 145 Podiumsdiskussion des Bautzen-Komitees Der 17. Juni im westdeutschen Bewußtsein 149 „-Poeme" - Gedichte aus DDR-Gefängnissen 55 Dr. Falco Werkentin von Dr. Wilhelm Koch Die strafrechtliche „Bewältigung" des 17. Juni 1953 in der DDR 153 Gedenkveranstaltung am Gedenkstein für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in 63 Dr. Armin Mitter den Bautzner Gefängnissen „... Gegen das Volk regieren" - Der Ausbau des Disziplinierungsapparates nach dem 157 Referenten und Teilnehmer an den 17. Juni 1953 Podiumsdiskussionen

69 Prof. Dr. Wolfgang Schuller Die sowjetische Militärjustiz und ihre Lager als Instrument der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ORWORT V

Winfried Schneider-Deters Aus Anlaß des 40. Jahrestages des Arbeiter- Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig aufstandes gegen die kommunistische Diktatur im Ostteil Deutschlands eröffnete die Friedrich-Ebert-Stiftung ihr diesjähriges Bautzen-Forum am 17. Juni. Es war die vierte Tagung in einer Reihe, die seit 1990 in der Stadt Bautzen veranstaltet wird, deren Ge- fängnisse zum Synonym für die kriminelle Herrschaftssicherung des kommunistischen Regimes in der DDR wurden. Themen dieses IV. Bautzen-Forums waren „Der 17. Juni 1953", „Die stalinistische Terrorjustiz in der sowjetisch besetzten Zone" und „Die Ein- beziehung Westdeutschlands in die Aufarbei- tung der deutschen Nachkriegsgeschichte".

Wie in den vorangegangenen Jahren nahmen wiederum rund 200 Personen aus dem Osten und Westen Deutschlands an dem Forum teil - in ihrer Mehrheit Opfer der Terrorjustiz der sowjetischen Besatzungs- macht und des totalitären Systems, das diese i n ihrer „Zone" etabliert hatte. Für diese ehemaligen politischen Häftlinge hatte das zweite Thema des Forums, das sich mit der „sowjetischen Militärjustiz" und ihren „Dezimierungs-Lagern" als Instrument zur Errichtung der kommunistischen Herrschaft i n Ostdeutschland befaßte, besondere Bedeutung.

Das erste Thema, „Der 17. Juni 1953", wird zumeist mit „historischem" Interesse diskutiert, während das dritte Thema des Forums mit der Aufarbeitung der deutschen Teil-Vergangenheit West von aktueller politischer Brisanz ist.

Der innere Zusammenhang zwischen diesen beiden Themen wird durch die Konsequen- zen hergestellt, die in der Bonner Deutschlandpolitik aus den Ereignissen am

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17. Juli 1953 gezogen wurden. Die militäri- bewegungen. Die gesellschaftliche Auseinan- sche Niederschlagung des Aufstandes und dersetzung um den westdeutschen Anteil an AUF DEM LANGEN WEG ZUR EINHEIT DIE die Rettung des Satrapen-Regimes in ihrem der - ungewollten - Stabilisierung der DDR ist Protektorat DDR durch die sowjetische unabdingbar; auch das gehört zur Gerechtig- ORIENTIERUNG VERLOREN? Besatzungsmacht sowie die Weigerung der keit gegenüber den Ostdeutschen. westlichen Alliierten, in die „inneren Angele- EINSICHTEN UND ANSICHTEN genheiten" des sowjetischen Imperiums Die Auseinandersetzung erfordert Mut der einzugreifen, konditionierten in den folgen- Beteiligten. Politiker, die sich der Kritik den Jahren die Deutschlandpolitik der stellen, werden bei den Bürgern Verständnis ZUR DEUTSCHLANDPOLITIK Parteien in Westdeutschland. finden für ihre Absichten - und auch für Irrtümer, denen sie unterlagen. So hat zum Die Deutschlandpolitik aller bundes- nischen Parteien und Regierungen Die Reaktion der Sowjetunion auf den Beispiel die Friedrich-Ebert-Stiftung hierzu Dr. Joachim Kahlert Universität Lüneburg republikanischen Parteien und Regierungen Aufstand vom 17. Juni 1953 und das 1 993 ein vielbeachtetes Symposium „Die hatte es mit einem sperrigen Gegenüber zu Verhalten der westlichen „Schutzmächte" Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der tun, der schwer zu kalkulieren war, dem man li eßen spätestens beim Bau der Mauer in Oppostion 1982-1989" durchgeführt. aber vieles zutrauen mußte. Nie ließ die Berlin im August 1961 westdeutsche Politiker erkennen, daß die Konfrontationspolitik Die vorliegende Broschüre dokumentiert die Partei- und Staatsführung der DDR einen gegenüber dem Regime im anderen deut- auf dem IV. Bautzen Forum vorgetragenen Zweifel daran, daß sie jederzeit bereit war, schen Staat die Lebensbedingungen der Referate. Die in diesen Referaten bezogenen i hre Herrschaft mit Willkür, Betrug, Lügen unterdrückten Bevölkerung nicht verbessern Positionen regten die teilnehmenden und brutaler Gewalt zu verteidigen. Partei- interne Säuberungen, Ausschaltung, ja und Deutschland seiner Wiedervereinigung Historiker, Politiker und Journalisten - sowie nicht näher bringen würde. das Auditorium - zu einer kontroversen Vernichtung Oppositioneller, Bespitzelung und Einschüchterung der Bevölkerung, Diskussion an. „Menschliche Erleichterungen" in der Mißbrauch der Justiz zur Verfolgung politi- scher Gegner zeigten von Anfang an, daß Gegenwart und staatliche Vereinigung in der Alle hier wiedergegebenen Referate sich die jeweils Herrschenden über Men- Zukunft schienen nur noch auf dem Wege reflektieren die persönlichen Auffassun- schenrechte, politische Spielregeln zivilisierter von Verhandlungen möglich. Willy Brandt gen ihrer Autoren; sie drücken nicht die Gesellschaften und eigene Versprechungen begann seine pragmatisch-patriotische Meinung der Friedrich-Ebert-Stiftung hinwegsetzten, wenn es ihnen opportun Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik. aus. schien. Der Staatsterror gegen die eigene Bevölkerung zieht sich von der Verfolgung Deutschlandpolitik war bis zum 3. Oktober Manche Aussagen mögen einseitig, einige jener Sozialdemokraten, die sich 1946 der 1990, als sie ihr eigentliches Ziel, nämlich die Wertungen ärgerlich sein. Ich meine, aber Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD Vereinigung der beiden Staaten auf deut- daß diese Auseinandersetzung nötig ist, widersetzten, über die Waldheimprozesse, schem Boden, erreicht hatte - und somit denn die Aufarbeitung der Geschichte der die Verhaftungen nach dem Aufstand am gegenstandslos wurde - ein Gebiet, auf dem deutschen Teilung ist eine der Voraussetzun- 17. Juni, den Mauerbau, die Verminung der die Einhaltung der ursprünglichen Richtung gen dafür, daß Deutschland seine innere nnerdeutschen Grenze und den Schieß- i m Laufe der Zeit immer schwieriger gewor- Einheit wiedergewinnt. i befehl bis zum Ende der kommunistischen den war. Der Wahrheit wegen ist die Einbeziehung Westdeutschlands, der Diktatur: Gegen die Bürgerrechts- offiziellen und inoffiziellen innerdeutschen demonstrationen zum 40. Jahrestages der Beziehungen und ihrer Protagonisten in die DDR-Gründung ging die Polizei mit brutaler Aufarbeitung der deutschen Nachkriegs- Härte vor. Und noch die Leipziger Montags- geschichte nötig. demonstranten im Herbst 1989 mußten fürchten, daß die Massenkundgebungen zusammengeschossen würden. I n der Podiumsdiskussion wurden die destabilisierenden Effekte, die „aufweichen- den" Wirkungen der Entspannungs- und Mit Willkür nach innen und Abriegelung nach außen nahmen die Machthaber der Sicherheitspolitik, den stabilisierenden Effekten gegenübergestellt: der Spekulation DDR einen Teil der Deutschen als Geisel zur auf Reformen in der DDR, der westlichen Absicherung eines absurden Gesellschafts- experiments, dessen Scheitern den Herr- Ohnmacht gegenüber Menschenrechts- verletzungen und der zu geringen Ermuti- schenden immer vor Augen stand: Bereits die gung der aufkommenden Bürgerrechts- Beschlüsse der 2. Parteikonferenz zum

6 7 Aufbau des Sozialismus gingen so weit an von Johnson weitergeführte Politik zur Aber diesen politisch-ideologischen Kosten ernsthaft behaupten, daß es vor dem den wirtschaftlichen und politischen Wahrung des Status quo rückte die Wieder- der neuen Deutschlandpolitik stand ein ökonomischen Zusammenbruch der Sowjet- Gegebenheiten der Gesellschaft vorbei, daß vereinigung weiter von der tagespolitischen wahrnehmbarer praktischer Nutzen entge- union im Rüstungswettlauf mit dem Westen die Partei- und Staatsführung im Juni 1953 Bühne fort. Und in der Bundesrepublik gen. Im Gefolge der Ostverträge 1970, des eine ernsthafte Chance zur Wieder- nach Moskau zitiert wurde, um dort Weisun- mußte man die Erfahrung machen, daß die Grundlagenvertrages 1972 und der KSZE- vereinigung Deutschlands gegeben hätte. gen für einen neuen Kurs abzuholen. Nach Politik der Konfrontation gegenüber den Schlußakte 1975 war das nach innen Und eine vom Westen vorangetriebene dem Juni-Aufstand mußte das Politbüro der kommunistischen Machthabern die Wieder- gerichtete Gewaltregime der kommunisti- ökonomische Destabilisierung der DDR hätte SED einräumen, völlig überrascht gewesen zu vereinigung Deutschlands keinen Schritt schen Diktatoren berechenbarer und wohl unkalkulierbare Risiken für die dort lebenden sein. Die in Propaganda, Illusion und Selbst- voran brachte - im Gegenteil: Die Einrichtung auch gezügelter. Im Laufe der folgenden Menschen mit sich gebracht, denn man betrug wurzelnde Desorientierung der von Sperrzonen an der Demarkationslinie Jahre konnte die Bundesregierung Taus- mußte immer damit rechnen, daß eine in die Herrschenden über den Zustand der Gesell- 1952, die Bewachung der Grenzen durch enden von politischen Gefangenen erbärmli- Enge getriebene Führung das Volk in ihrem schaft hielt bis zum Schluß an, wie die bewaffnete Organe der DDR ab Dezember che Haftjahre in DDR-Gefängnissen ersparen; letzten Gefecht aufs äußerste drangsalieren grotesk anmutende Begebenheit deutlich 1955, der Aufbau der Nationalen Volks- Familien wurden zusammengeführt, würde. macht, von der Karl Wilhelm Fricke berichtet. armee, die Visumpflicht für Westberliner ab Besuchserlaubnisse und Reiseerleichterungen Am 31. August 1989, wenige Wochen vor 1 960, der Mauerbau 1961, die Einführung durchgesetzt. Dies alles änderte nichts am Wie in der Politik in den allermeisten Fällen dem Ende der SED-Diktatur über die Ost- des Zwangsumtausches Ende 1964, die grundlegenden Charakter der Diktatur, aber üblich, gab es auch in der Deutschlandpolitik deutschen, fragte ein verunsicherter Erich Erklärung Berlins zur Hauptstadt der DDR es milderte für viele deren Härte. Und es keinen geraden Weg zum Ziel. Offensives Mielke seine versammelten Stasi-Oberen: „Ist 1965, die Blockade weiterer Passierscheinab- nährte die Hoffnung auf weitergehende Festhalten an der Forderung nach Wieder- es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht". kommen ab 1966 zeigten, daß man mit Änderungen. Zwar mochte die DDR-Führung vereinigung und der Versuch, die Folgen der Und der Chef des Ministeriums für Staats- einem Konfrontationskurs die Forderung darauf gesetzt haben, mit ihren internationa- Spaltung so erträglich wie möglich zu sicherheit mußte sich mit dem Zweck- nach Wiedervereinigung zwar beeindruckend len Verhandlungen und mit den Kontakten machen, ließen sich - so zumindest schien es optimismus eines seiner Offiziere begnügen, unterstreichen konnte. Doch faktisch zur Bundesregierung auch nach innen mehr für eine lange Zeit - nicht gleichsinnig der versicherte, der 17. Juni werde morgen erreichte man, daß die Partei- und Staats- Anerkennung zu erfahren, doch sie erreichte optimieren. Deutschlandpolitik mußte sich im nicht ausbrechen und der werde nie mehr führung der DDR die Spaltung vertiefte und das Gegenteil: Im März 1970 zeigten stattfinden. Dickicht aus internationalen Beziehungen, Kontakte zwischen den Menschen in beiden Zigtausende mit ihren Ovationen für Willy Machtkalkülen der Sowjetunion, Rücksicht- Teilen Deutschlands erschwerte. Brandt in Erfurt, auf wen sich ihre Hoffnun- nahmen auf die westlichen Verbündeten, Das waren die Gegenüber, mit denen gen richteten. Die völkerrechtlichen Ab- öffentlicher Meinung und Sorge um die Politiker der Bundesrepublik zu tun hatten: Der geringe praktische Nutzen und der hohe sprachen und Vereinbarungen schufen Lebensbedingungen der Menschen unter der Parteifunktionäre, die ihre Herrschaft ohne Preis der Konfrontationspolitik machten es Anknüpfungspunkte für Kritik, ermunterten kommunistischen Diktatur einen Weg Respekt vor Menschen- und Bürgerrechten notwendig, in der Deutschlandpolitik andere manche, auf Widersprüche zwischen der bahnen. Dabei war es sicherlich richtig, den ausübten, die nicht nur andere, sondern Wege zu gehen. Die von Egon Bahr 1963 Praxis im Staat und den Erklärungen nach auch sich selbst belogen und deren Macht unmittelbaren Gegner - die nach Anerken- vorgestellte, von der großen Koalition außen zu verweisen und gaben Anlaß für nung heischende Partei- und Staatsführung vom weltpolitischen Kalkül einer diktatorisch eingeleitete und von der sozial-liberalen Diskussionen. Schließlich machte die der DDR - so weit zu locken, daß er auf regierten Supermacht abhängig war. Bundesregierung offensiv betriebene neue Verständigung der Bundesrepublik mit Polen Sicht- und Rufweite blieb. Aber das hatte Deutschlandpolitik versuchte, die Herrschen- und der Sowjetunion das Feindbild der DDR- seinen Preis: Mancher verlor das Ziel der In dieser Lage gab es in der Bundesrepublik den in Verhandlungen einzubinden, sie damit Führung brüchig. Wiedervereinigung aus den Augen, andere keinen Königsweg für die Überwindung der kalkulierbarer zu machen, ihnen Zugeständ- machten sich vor, man könne mit dem deutsch-deutschen Spaltung. Bereits nisse abzuringen und ihren Handlungs- Sicherlich saß einer Illusion auf, wer glaubte, Gegner auch ein gutes Stück gemeinsam Adenauer hatte das Ziel der deutschen spielraum einzuengen. Auch dieser Weg war die Politik des Wandels durch Annäherung vorankommen. Und zu viele im Westen Einheit dem vorrangigen Ziel untergeordnet, nicht ohne Risiko: Wer mit Gegnern verhan- könnte die DDR eines Tages zu einem Staat lernten schließlich die Bequemlichkeit des Souveränität für die Bundesrepublik zu deln will, muß ihnen den Eindruck vermitteln, werden lassen, der Wiedervereinigung in Weges höher schätzen als das ursprüngliche erlangen und zu verhindern, daß der Westen sie seien als Gesprächspartner akzeptabel. Freiheit ermöglichen würde. Aber die Ziel. - Dieser Auffassung waren zumindest sich mit der UdSSR zu Lasten Deutschlands Und man muß ihnen glaubhaft machen, Verhandlungspolitik legte Keime für die viele Teilnehmer des am 17. und 18. Juni verständigt. Während die Sozialdemokraten auch für sie könne etwas bei den Verhand- Erosion der Macht, denn sie vergrößerte die stattgefundenen IV. Bautzen-Forums, das an Schumachers Politik festhielten, alles zu lungen herauskommen. So haben die Legitimationsnot der Herrschenden und sich diesmal auch mit dem Beitrag des unterlassen, was die deutsch-deutsche deutsch-deutschen Verhandlungen sicherlich verstrickte sie in weitere Widersprüche. Wem Westens zur Stabilisierung und Spaltung vertiefen würde, sahen viele dazu beigetragen, daß in der Bundesrepublik das gering erscheint, der sollte realistisch die Destabilisierung der kommunistischen Bundesbürger nach dem 17. Juni 1953 - die die Einschätzung an Boden gewinnen Alternativen abwägen: Die Konfrontations- Diktatur in der DDR beschäftigte. gegen ihre Landsleute aufgefahrenen konnte, das Provisorium sei der Normalzu- politik der fünfziger und frühen sechziger sowjetischen Panzer noch vor Augen - in stand; international dürfte sich der Eindruck Jahre war weder dem Ziel der deutschen I einer stärkeren Bindung an den Westen die n seiner Einführungsrede erinnert Winfried verstärkt haben, die Deutschen würde sich Einheit noch der Schaffung menschlicher Schneider-Deters, Leiter des Leipziger Büros einzige Garantie für die Sicherung ihrer mit der Spaltung abfinden. Erleichterungen im gespaltenen Deutschland der Friedrich-Ebert-Stiftung, daran, daß der Freiheit. Die von Kennedy eingeleitete und näher gekommen. Niemand kann heute 17. Juni 1953 die erste Rebellion im sowjeti-

8 9 schen Landtag, unterstreicht, daß der 36 Jahre nach der Juni-Erhebung, im Herbst Arbeiter- und Volksaufstand am 17. Juni 1989, die Menschen für freie Wahlen auf die 1953 die Willkürherrschaft des SED-Regimes Straße gingen, habe sich daraus wieder die überwinden wollte. Neben Trauer und Forderung nach Überwindung der Spaltung Respekt für die Opfer könne man daher auch Deutschlands ergeben. Nun habe der Stolz auf die vielen Menschen empfinden, die Wunsch Wirklichkeit werden können, weil damals den aufrechten Gang geprobt die sowjetischen Truppen in den Kasernen hätten. Wer heute über die Vergangenheit geblieben seien. Damit, so Fricke, bestätigte aufklären wolle, müsse beachten, daß die sich eine entscheidende Lehre, die man aus Anpassung in der DDR etliche Nuancen der Niederschlagung des Aufstandes im Juni gehabt habe. Zwischen jenen, die beinahe an 1953 habe ziehen müssen: Ein von der der Macht teilhatten, und jenen, die beinahe Bevölkerung im Widerstand gegen die Partei Widerstand geleistet hätten, habe es viele angestrebter Machtwechsel werde erst dann Varianten der Anpassung gegeben. Im erfolgreich sein, wenn die Sowjettruppen Westen würde man es sich bei der Beurtei- nicht intervenierten. l ung des Verhaltens der Ostdeutschen unter der Diktatur häufig zu einfach machen. Bernd Faulenbach, Vorsitzender der Histori- Wenn heute im Osten auf den Trümmern schen Kommission der Sozialdemokratischen des alten Regimes und befangen in den Partei Deutschlands, untersucht, welche Rolle früheren Verstrickungen eines ungeliebten der 17. Juni 1953 im Bewußtsein der Machtgeflechts eine neue Gesellschaft zu Westdeutschen gespielt hat. Der Aufstand errichten sei, dann müsse die nötige Kraft selbst habe sowohl die Öffentlichkeit als auch dafür auch aus der Erinnerung an den die Regierung und Parteien in der Bundesre- Widerstand kommen. publik zutiefst aufgewühlt. Eine Initiative Herbert Wehners habe schließlich erreicht, daß der 17. Juni Gedenktag wurde. Während Schwerpunktthema I: Der 17. Juni 1953 die Sozialdemokraten damals dafür eingetre- ten seien, die Integration der Bundesrepublik Daß der 17. Juni 1953 für das demokratische i n den Westen nicht auf Kosten der deut- Selbstbewußtsein der Deutschen eine große schen Einheit zu betreiben, hätten viele schen Imperium gegen die kommunistische öffentliche Meinung in der Bundesrepublik Bedeutung hat, arbeitet Karl Wilhelm Diktatur gewesen sei. Nach und nach hätte nach und nach von der Wiedervereinigung Fricke, Westdeutsche nach der Niederschlagung des als wichtiges Ziel der Deutschlandpolitik Deutschlandfunk, heraus. Damals habe sich Aufstandes durch sowjetische Truppen die man in der Bundesrepublik das Bewußtsein das von den Kommunisten unterdrückte Volk von Adenauer betriebene Politik der Westan- über den Anlaß des Gedenktages verküm- abgerückt. gegen die Diktatur erhoben. An allen bindung für richtig gehalten. Mit dem mern lassen. Wenn man die Ursachen für die Brennpunkten des Geschehens keimte rasch damit verbundene innere Abkehr vom Heiner Sandig, zweiter Vizepräsident des Mauerbau sei für viele Bundesbürger die Sächsischen Landtages, macht in seiner die Forderung nach freien Wahlen auf. Der Einheit Deutschlands in weite Ferne gerückt. Gedanken der Wiedervereinigung untersu- nach einer Reihe von wirtschafts- und Zwar habe die Politik versucht, das Ziel der che, dann werde man sich sicherlich auch mit Eröffnungsansprache mit Bezug zur eigenen sozialpolitischen Fehlentscheidungen durch der Rolle der Entspannungspolitik für die Vergangenheit in der DDR deutlich, wie Einheit nicht aus den Augen zu verlieren, schwer es der einzelne hatte, sich vor dem die Erhöhung der Arbeitsnormen ausgelöste doch die normative Kraft des Faktischen und Herausbildung eines westdeutschen Sonder- Streik Berliner Bauarbeiter entwickelte sich so der mit dem wachsenden Wohlstand bewußtseins beschäftigen. Die Politik der Selbstbetrug über den Zustand der Gesell- schaft, in der man zu leben gezwungen war, zum politischen Kampf gegen das System. einhergehende Wertewandel hätten den 17. Verhandlungen mit der Partei- und Staats- Binnen Stunden habe die Streik- und Juni für viele Westdeutsche von einem führung der DDR habe vorausgesetzt, daß zu schützen. Die Aufarbeitung der Vergan- Protestbewegung von Berlin aus in die man die Existenzberechtigung dieses Staates genheit müsse über die sozialen und Gedenktag zu einer sozialen Errungenschaft psychischen Bedingungen aufklären, die Provinz und in die anderen großen Städte werden lassen. Schließlich sei auch die faktisch, wenn auch nicht de jure, anerkann- übergegriffen und sich zu einem politischen Deutschlandpolitik der sozial-liberalen te. Nur so habe man hoffen können, jenen Anpassung, Mittun und Täterschaft gedeihe li eßen. Dabei dürfe jedoch nicht die Erinne- Aufbegehren gegen die Regierung, für freie Koalition mit ihren Erfolgen wie die Durchset- Wandel mit herbeizuführen, der schließlich - Wahlen und für die Wiedervereinigung des zung menschlicher Erleichterungen und die i n einer damals nicht näher bestimmbaren, rung an jene zu kurz kommen, die mutig geteilten Deutschlands entwickelt. Zwar sei aber gewiß fernen Zukunft - eine Wieder- i hren Beitrag zur Überwindung der Diktatur Überwindung des kalten Krieges mit dem geleistet hätten. der auf die nationale Einheit gerichtete Risiko verbunden gewesen, daß sich im vereinigung möglich machen sollte. Dieses Charakter des Aufstandes in den siebziger Bewußtsein, vor allem der nachwachsenden l angfristig angelegte Konzept habe die und achtziger Jahren in der Bundesrepublik Gefahr der Verselbständigung einzelner Teile Auch Karl-Heinz Kunckel, Vorsitzender der Generation, zur Normalität entwickelte, was sozialdemokratischen Fraktion im Sächsi- nach und nach aus der öffentlichen nur Provisorium sein konnte. Doch dieses mit sich gebracht. Und tatsächlich sei die Meinungsbildung verdrängt worden, aber als Risiko mußte die Politik eingehen, denn, so

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Faulenbach in Anlehnung an Michael Bevölkerung nicht zu bessern sein würde. Schwerpunktthema II: Referat von Waleri Wolin deutlich, der heute Stürmer, zur Politik der Verträge, zu einer Wo die Partei nach der Niederschlagung des Die stalinistische Terrorjustiz in der als Militäroberstaatsanwalt in Moskau die deutschen Realpolitik, habe es keine vernünf- Aufstandes eine offene Diskussion mit den sowjetischen Besatzungszone Rehabilitierung der unschuldig verurteilten tige Alternative gegeben. Während in den Werktätigen gesucht habe, hätten sich die Opfer der sowjetischen Gesinnungsjustiz achtziger Jahren in der Bundesrepublik die Arbeiter nicht mit Diskussionen über Der zweite Teil des Bautzen-Forums beschäf- betreibt. Unmittelbar nach der Machtergrei- Auffassung an Boden gewonnen habe, der betriebsspezifische Mißstände begnügt, tigte sich mit der Rolle der stalinistischen fung hätten die Sowjets Lager errichtet, um deutsche Nationalstaat sei nur eine Episode sondern klare politische Forderungen gestellt. Justiz in der SBZ. Wolfgang Schulter, Univer- Menschen, die die kommunistischen i n der Geschichte der Deutschen gewesen, Nach neuen Streiks im Juli 1953 habe die sität Konstanz, arbeitet die Bedeutung der Ansichten nicht teilten, von der Gesellschaft habe Erhard Eppler in seiner Rede vor dem Partei- und Staatsführung eine zentrale sowjetischen Militärjustiz und ihrer Straflager zu isolieren. Das NKWD, die sowjetische Bundestag am 17. Juni 1989 daran erinnert, Einsatzleitung und analoge Einrichtungen in für die Errichtung der kommunistischen Geheimpolizei, habe Vorgaben gemacht, die deutsche Frage sei offen, die Bedeutung Bezirken und Kreisen aufgebaut. Spätestens Herrschaft in Ostdeutschland heraus. Nach wieviel Menschen in einem Gebiet monatlich der Nation nicht zu unterschätzen. seitdem, so Mitter, habe die Parteileitung klar seiner Darstellung gab es auf dem Territori- als Volksfeinde zu „entlarven" und in die gewußt, daß sie gegen die Mehrheit der um der Sowjetischen Besatzungszone 10 Lager zu sperren seien. Heute fänden sich in Gestützt auf Auswertungen von Partei- und Bevölkerung regierte. Von nun an habe sie Lager. Die dort Einsitzenden seien von der den Archiven Beweise, daß in den Lagern Stasiakten zeichnet Fako Werkentin nach, jede lokale Unruhe als Auslöser für einen Besatzungsmacht „abgeholt' und -zum Teil gefoltert und mißhandelt wurde. Der KGB wie die SED zur Absicherung ihrer Macht Flächenbrand gefürchtet. Selbst die Berichte, ohne Prozeß, zum Teil nach Verurteilung habe in Moskau ein Geheimlabor betrieben nach der Niederschlagung des Aufstandes die dem ZK über den Zustand der eigenen durch ein sowjetisches Militärtribunal - und dort Versuche an Tausenden zum Tode vom 17. Juni die Justiz funktionalisierte. Partei vorlagen, hätten deutlich gemacht, eingesperrt worden. Die Prozesse hätten verurteilter Häftlinge durchgeführt. Wie Schon in den Jahren zuvor hätten Staatsan- daß allenfalls noch die hauptamtlichen ohne Verteidiger und zumeist auch ohne später in der DDR, so habe die Justiz Todes- wälte und Richter sich von der Partei Mitarbeiter die Politik des ZK und des Dolmetscher stattgefunden; Verurteilungen urteile im Auftrag der Partei gefällt, sich vereinnahmen lassen. So habe die Justiz mit Politbüros unterstützen würden. Mit stützten sich auf erpreßte oder unter der gefälschte Beweise für die angebliche Schuld konstruierten Anklagen und Urteilen zu Disziplinierungen der Parteibasis, der Folter abgelegte Geständnisse. Tausende der der Angeklagten beschafft und Geständnisse Beginn der fünfziger Jahre einen ergebenen Blockparteien sowie der Massen- i n der Regel zu 10 oder 25 Jahren Haft zur formalen Absicherung der Urteile Beitrag zur sozialen Liquidierung des organisationen sei erneuter Widerstand Verurteilten seien in den Lagern umgekom- erpressen lassen. Heute, so Wolin, würden gewerblichen Mittelstandes und der selbstän- unterbunden worden. Parallel dazu hätten men. Wenn heute die Geschichte der Lager diese erpreßten Geständnisse noch von digen Bauernschaft geleistet. Nach dem Juni- die Machthaber mit dem Ausbau der rekonstruiert werde, dann sei es ein wichti- manchem gläubigen Kommunisten unter Aufstand habe die Partei direkt in die Kasernierten Volkspolizei die innere Aufrü- ges Anliegen, die Rechtfertigungslegende zu den Staatsanwälten dafür mißbraucht, Verfahren gegen Beteiligte und Aktivisten stung betrieben und den Staatssicherheits- zerstören, Lager wie Buchenwald und Rehabilitierungsanträge mit dem Hinweis auf eingegriffen. Ein Operativstab unter der dienst ausgebaut. Dieser sei mit der neuen Sachsenhausen hätten vor allem der Bestra- die Schuld des Verurteilten zurückzuweisen. Leitung Hilde Benjamins habe den Direktoren Aufgabe betraut worden, Lageberichte für fung ehemaliger Nazis gedient. Damit würde Obwohl nach Inkrafttreten des Rehabili- der Bezirksgerichte für die Prozeßführung die Parteispitze zu erstellen. Seit dieser man sich vom kommunistischen Sprach- tierungsgesetzes von 1991 und dessen Anweisungen gegeben, deren Ausführungen Reorganisationsphase im August/September gebrauch täuschen lassen, der immer dann Erweiterung 1992 auch die Rehabilitierung von Instrukteuren überwachen lassen und 1953 sei die Staatssicherheit auf allen von „Antifaschismus" rede, wenn brutales jener Bürger rechtlich geregelt sei, die Druck auf nicht willfährige Richter ausgeübt. Ebenen strikt an die Partei gebunden Vorgehen gegen Andersdenke zu rechtferti- außerhalb der Sowjetunion von sowjetischen Hauptaufgabe des Operativstabes sei es gewesen, so daß man die heute oft zu gen sei. Außerdem sei die individuelle Schuld Gerichten und Militärtribunalen verurteilt gewesen, die anstehenden Gerichtsverhand- hörende These über ein Eigenleben der Stasi der Gefangenen nie festgestellt worden. wurden, gehe die Rehabilitierung heute noch l ungen so zu beeinflussen, daß die Partei mit als Legende zurückweisen müsse. Wenn Schuller führt aus, daß die Lager in der SBZ nicht mit der gebotenen Zügigkeit voran. den Prozessen ihre Legende von einem aus heute der Eindruck bestehe, in der DDR hätte ein Abbild der Lager in der Sowjetunion Noch immer werde der Zugang zu KGB- dem Westen gesteuerten Aufstand stützen Grabesstille geherrscht, dann sei das auf den gewesen und nicht als Antwort auf die Archiven behindert, es fehle an Schreib- konnte. Unterdrückungs- und Bespitzelungsapparat Greueltaten der Nazi-Verbrecher zu rechtfer- kräften und Kopierern. Während die zurückzuführen, der es mit brutaler Gewalt tigen seien. Um die verständliche Sorge Regierungen Japans und Polens mit prakti- Wie die SED die Ereignisse am 17. Juni 1953 und mit subtilen Methoden verstanden habe, ehemaliger NS-Opfer abzubauen, man scher Hilfe einen Beitrag zur rascheren zum Anlaß nahm, den Disziplinierungs- Widerstand einzudämmen. Doch, so Mitter, würde mit den Opfern der Sowjetlager Bewältigung der Rehabilitierungsarbeit apparat zur Sicherung ihrer Macht auszubau- die Auswertung der Materialien über die Erfüllungsgehilfen des Nazi-Terrors ehren, l eisteten und die Botschaften eng mit der en, kann Armin Mitter, Historiker an der Kleinarbeit des Repressionsapparates werde müßte nach Schuller deutlicher als bisher die Rehabilitierungsverwaltung zusammenarbei- Berliner Humboldt-Universität, nach dem zutage fördern, daß es im Land vielfältigen Parallele zu den in der Sowjetunion errichte- ten würden, hätten bundesrepublikanische Studium von SED- und Stasi-akten detailliert Widerstand im einzelnen, im kleinen gege- ten Lagern hergestellt werden, in denen Botschaftsangehörige im Jahre 1992 nur belegen. Er weist nach, daß eine kurze ben habe. Millionen willkürlich und mit absurden einmal die Militärstaatsanwaltschaft aufge- Periode der offenen Auseinandersetzung Beschuldigungen eingesperrt gewesen seien. sucht. über die Anlässe des Juni-Aufstandes schnell abgebrochen wurde. Die Parteiführung habe Daß Lager zur Verfolgung Andersdenkender erkennen müssen, daß allein mit wirtschaftli- von Anfang an die kommunistische Macht- chen Maßnahmen die Stimmung in der ausübung begleitet haben, macht das

12 13 Schwerpunktthema III: verantwortung 1982 aber die Vertragspolitik habe der Einsicht Rechnung getragen, daß und die deshalb von Schacht als intellektuelle Einbeziehung Westdeutschlands in die fortgesetzt. Wie ihre Vorgängerinnen, so die bis dahin von der Bundesregierung Kollaborateure des SED-Staates bezeichnet Aufarbeitung der deutschen Nachkriegs- hätten sich auch die CDU-geführten Regie- betriebene Konfrontationspolitik letztlich die werden. Dabei wirft Schacht wichtige Fragen geschichte rungen seit 1982 darum bemüht, auf der Spaltung Deutschlands gefestigt hätte. auf, so zum Beispiel: Was hat Intellektuelle i nternationalen Bühne dem Eindruck Während der Regierungsverantwortung der dazu getrieben, vor der Einheit zu warnen, Der dritte Teil des Bautzen-Forums hatte die entgegen zu arbeiten, die Bundesregierung SPD habe die Bundesregierung, sowohl aus statt deren Chancen zu begreifen? Warum Aufgabe, die deutsch-deutschen Beziehun- habe sich mit der Spaltung Deutschlands eigenem Antrieb als auch gedrängt vom waren gerade Intellektuelle anfällig dafür, die gen und ihre Auswirkungen auf die Entwick- abgefunden. Wenn seit der erneuten Westen, die Forderung nach Wieder- Spaltung Deutschlands hinzunehmen, wenn l ung in der DDR zu analysieren. Dazu Regierungsbeteiligung der CDU die Vier- vereinigung beziehungsweise freien Wahlen nicht sogar zu begrüßen? Wieso konnte beleuchtete zunächst Jens Hacker, Universität Mächte-Verantwortung für Deutschland in der DDR als Vorbedingung für eine staatsdiplomatisches Denken noch im Prozeß Regensburg, den deutschlandpolitischen sowie die Fortexistenz der deutschen Nation Verständigung fallengelassen. Die anfängli- gegen Honecker triumphieren und dazu Wandel der CDU vom Alleinvertretungsan- wieder stärker betont worden seien, dann chen Erfolge der neuen Ostpolitik seien nicht führen, daß dieser aus der Untersuchungs- spruch zur faktischen Anerkennung der DDR. habe dies auch das Urteil des Bundesverfas- fortsetzbar gewesen, als Mitte der siebziger haft entlassen wurde? Hacker hält es für einen entscheidenden sungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit Jahre deutlich geworden sei, daß die UdSSR Unterschied, ob man den früheren Status des am 21. Dezember 1972 unterzeichneten den Entspannungsprozeß in Europa für ihre Allerdings ist zu fragen, ob man so, wie quo in Europa aus macht- und militär- Grundlagenvertrages ermöglicht. Die Expansionspolitik nutzen würde. Die SED Schacht die Auseinandersetzung führt, zu politischen Erwägungen hingenommen habe damaligen Ausführungen des Gerichts habe zunehmend mit einer Verweigerungs- neuen Einsichten bei der Aufarbeitung der oder ob man ihn für gerecht und hätten wichtige deutschlandpolitische haltung gedroht und verstärkt versucht, die Vergangenheit beiträgt. So nützt es zum unantastbar hielt. Zunächst arbeitet Hacker Grundsätze wie das Wiedervereinigungs- völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch Beispiel wenig, mißlungene Aussagen von heraus, daß Adenauer bis zum Inkrafttreten gebot, die Kopplung des Selbstbestimmungs- die Bundesrepublik zu erreichen. Nach dem Günter Grass zur Einheit Deutschlands mit des Deutschlandvertrages das Ziel der rechts an das „deutsche Staatsvolk" und den Verlust der Regierungsmacht sei die Spekulationen über dessen Beweggründe deutschen Einheit hinter außenpolitische Vier-Mächte-Status für das ganze Deutsch- Deutschlandpolitik der SPD im wesentlichen wie „Selbsthaß" oder „Erfolgsneid" zu Ziele gestellt habe. In diesem Zusammenhang land festgeschrieben und nachgewiesen, daß darauf konzentriert gewesen, den sich erklären. Zwar kritisiert Schacht mit Recht, weist der Referent die verbreitete Annahme, es auch nach Unterzeichnung des Grund- verschärfenden Ost-West-Spannungen eine daß Grass Ende 1989 den Eindruck erweckt 1952 hätte Stalin eine ernsthafte Chance zur vertrags gerechtfertigt sei, von einem stärkere Sicherheitspolitik mit den Kommuni- hat, die möglich werdende deutsche Einheit Wiedervereinigung angeboten, als Legende besonderen Verhältnis und von internen sten des Ostens und damit auch mit der SED sei ein logischer Startpunkt für neue zurück. Die sowjetischen Vorstellungen in Beziehungen zwischen den beiden Staaten in entgegenzustellen. Dabei sei die SPD mit der Großmachtbestrebungen. Aber wenn den fünfziger Jahren seien zunehmend auf Deutschland zu sprechen. Hackers Resümee: Proklamation einer Sicherheitsgemeinschaft Schacht zum „Skandalon" erklärt, daß diese eine Festschreibung der Spaltung Deutsch- Seit der Konstituierung der Bundesrepublik über das Gebotene hinausgegangen. Zudem Rede auf dem Bundesparteitag der SPD 1989 l ands hinausgelaufen, so daß die Bundesre- 1949 habe es keine verpaßten Chancen für habe die Politik der SPD in dieser Phase zu i n Berlin gehalten wurde, dann rechnet er die gierung gut beraten gewesen sei, im engen die Einheit unter freiheitlichen Voraus- sehr auf die Hoffnung gesetzt, durch mißglückten Urteile, ja Zumutungen eines Bündnis mit dem Westen die Wieder- setzungen gegeben. Einwirkungen auf die Herrschenden Verän- Gastredners der Partei selbst zu. Hätte sich vereinigung an die europäische Sicherheit zu derungen in der DDR bewirken zu können. die SPD-Führung die Rede des Geladenen zur koppeln. Die von Kennedy eingeleitete und Johannes L. Kuppe, Bundeszentrale für Zwar würden die früheren Erfolge der Genehmigung vorlegen lassen sollen? von Johnson fortgeführte Status-quo-Politik politische Bildung, leitet seine Analyse der Verhandlungspolitik diese Fixierung auf die Gewiß, die Rede erhielt Beifall, und das wird der westlichen Alliierten habe in den Deutschlandpolitik der SPD mit dem Wunsch Partei- und Staatsführung der DDR verständ- - so ist zu hoffen - manchem Delegierten sechziger Jahren einen Modus vivendi mit ein, die zurückliegende Politik nicht allein lich machen, doch der Preis für die Orientie- später Anlaß gegeben haben, seine Motive den Ostblockstaaten gesucht. Die Lösung der vom Standpunkt heutigen Wissens zu rung auf Reformen „von oben" sei die zu prüfen. Aber maßt sich der Autor nicht deutschen Frage habe damals nicht mehr als bewerten, sondern die damaligen Vernachlässigung der Oppositionsgruppen in zuviel Gewißheit über diese Motive an, wenn Voraussetzung für Sicherheit und Entspan- Entscheidungslagen und Perspektiven mit zu der DDR gewesen. In der Bilanz der sozial- er den Beifall als logische Konsequenz einer nung in Europa gegolten. Schließlich habe berücksichtigen. Nach dem zweiten Welt- demokratischen Deutschlandpolitik sei der SPD unterstellten Entwicklung be- auch die große Koalition die Überwindung krieg habe in der SPD zunächst Schumachers allerdings festzuhalten, daß die SPD mit ihrer zeichnet, die Schumachers Kampf für die der Spaltung nicht mehr als Voraussetzung Auffassung dominiert, es müsse alles Ostpolitik einen entscheidenden Beitrag zur Würde der Deutschen und ihrer Nation in die für eine europäische Friedensordnung unterlassen werden, was die Chance für eine Überwindung der deutsch-deutschen Ecke „eines hysterischen Nationalismus und angesehen, sondern die Lösung der deut- Wiedervereinigung mindere. Damit sei die Spaltung geleistet habe. damit unter potentiellen Faschismus- schen Frage in den Rahmen einer europäi- SPD in Konflikt mit der Bundesregierung und verdacht" rückt? schen Verständigung gestellt. Als die sozial- deren Politik der Westanbindung geraten. Dies wiederum scheint Ulrich Schacht, Leiter li berale Koalition auf bilaterale Weise einen Mit dem Godesberger Programm habe sich der Kulturredaktion Welt am Sonntag, nicht Auch an anderen Stellen des vor allem gegen Modus vivendi mit den Oststaaten zu eine deutschlandpolitische Wende der SPD gelten lassen zu wollen. Er setzt sich in die Sozialdemokratie gerichteten Beitrags schaffen versuchte, habe die CDU zwar auf vollzogen, die nunmehr die Westintegration seinem Referat mit jenen in Westdeutschland hätte man sich mehr von jener Tugend der dem Recht der Deutschen auf nationale nicht mehr als Hindernis für die Wiederher- auseinander, die den Status quo der Spal- Aufklärung gewünscht, die Ungewißheit Selbstbestimmung beharrt, nach der erneu- stellung der staatlichen Einheit ansah. Die tung in der Öffentlichkeit als hinzunehmende zum Anlaß für vorsichtiges Urteilen nimmt. ten Übernahme der Regierungs- von Brandt und Bahr eingeleitete Ostpolitik Gegebenheit dargestellt, ja verteidigt hätten So erlaubt sich Schacht zum Beispiel das

14 15 Urteil, Äußerungen von Jürgen Schmude und politik (SPIEGEL Nr. 6/ 1992, 46f.) „beispiello- te zum DGB vorgegeben hat. Der DGB habe Parteimacht abzusichern. Heute sei es Egon Bahr, sie würden angesichts der in der se Arroganz" bescheinigt, und es werden zwar eine Zeitlang versucht, auch wichtig, den Spielraum der SED aufzuklären, Bilanz erfolgreichen Ostpolitik noch einmal „Nachsätze" angedeutet, die behaupten unkontrollierte Begegnungen zwischen DGB- denn ehemalige Parteifunktionäre würden so handeln, wären Ausdruck der würden, die Wiedervereinigung Deutsch- und FDGB-Mitgliedern zu ermöglichen, aber sich mit dem Argument aus der Verantwor- Uneinsichtigkeit von Männern, die von der lands auf der Basis des Zusammenbruchs des der FDGB habe schließlich die Beschränkung tung stehlen wollen, nur Befehle der Geschichte widerlegt worden seien. SED-Systems sei „exakt Ziel und Ergebnis" auf den Kontakt von Spitzenfunktionären Besatzer ausgeführt zu haben. Wie Falco der Entspannungspolitik gewesen. Wer durchsetzen können. Nachdem sich der DGB Werkentin darstellte, unterhielt die SED ein Hat die Geschichte widerlegt, daß er richtig diesen Abschnitt in Schachts Ausführungen 1969 bereit erklärt habe, die Bemühungen ausgefeiltes Berichtswesen an die sowjeti- war, die starren Fronten während der liest, kann den Eindruck gewinnen, der der Bundesregierung um eine Normalisierung schen Behörden, denen man Meldungen Deutschlandpolitik Adenauers und Erhards Artikel Jürgen Schmudes würde ein solches der Beziehungen zwischen der Bundesrepu- erstattete und deren Reaktionen man aufzuweichen und mit den Diktatoren des Ziel der Ostpolitik deutlich hervorheben. Liest blik und den ostdeutschen Staaten zu einholte, wenn man zum Beispiel Ostens Erleichterungen für die Menschen im man jedoch den SPIEGEL-Artikel noch einmal unterstützen, sei die DGB-Politik den Regimegegner anklagen wollte. gespaltenen Deutschland auszuhandeln? Die nach, dann wird man dort keine einzige Schwankungen in den innerdeutschen Ostverträge haben die Pflege des Feindbildes weitreichende Aussage dieser Art finden. Beziehungen gefolgt. Hertle zeigt, daß die In seiner Antwort auf zahlreiche Fragen nach Bundesrepublik erschwert, der Grundlagen- Eher bescheiden wird die Bedeutung der DGB-Spitze anfänglich noch deutliche Kritik dem Rehabilitierungsverfahren bat Waleri vertrag hat die Kontaktmöglichkeiten Verhandlungspolitik darin gesehen, daß sie an den Verhältnissen in der DDR geübt habe, Wolin darum, Anträge auf Rehabilitierung zwischen den Menschen im gespaltenen „die Not der Unfreiheit ein wenig linderte" doch in den achtziger Jahren hätte der DGB möglichst in russischer Sprache abzufassen, Deutschland erweitert, und die KSZE- (SPIEGEL Nr. 6, 1992, S. 47). eine klare, an gewerkschaftlichen Wertvor- da Dolmetscher für die Übersetzung fehlen Verträge gaben oppositionellen Kräften ein stellungen orientierte Gewerkschafts- und würden (siehe dazu S. 81). Zuhörer aus dem wenig mehr Spielraum. Auch heute ist keine Auch an anderen Stellen arbeitet Schacht mit Menschenrechtspolitik vermissen lassen. Die Publikum trugen ihre Erfahrungen aus der realistische Alternative zur damaligen einer nicht zur Aufklärung beitragenden FDGB-Spitze habe kaum mehr Anlaß gehabt, Lagerhaft vor, berichteten von Willkür und Ostpolitik in Sicht. Sicherlich kann man die Mischung aus angedeuteten Fakten, der Parteiführung, wie noch in den 70er Mißhandlungen sowie von Todesurteilen vermeintlichen und tatsächlichen Kosten der Wertungen und Meinungen. Da wird im Jahren, „Provokationen" und gegen Jugendliche, so zum Beispiel gegen Verhandlungspolitik zusammentragen, den Zusammenhang mit dem Vorwurf der „antikommunistische Störaktionen" der einen 16jährigen, der wegen der Mitglied- Preis für deren Erfolge analysieren und Arroganz anspielungsreich von dem gespro- DGB-Spitze zu melden. Vor allem die IG schaft in einer Untergrundorganisation darauf beharren, die Verhandlungen und chen, „was zwischen 1960 und 1990 gesagt Druck und Papier sei dem FDGB sehr angeklagt worden sei, die angeblich mit Gespräche hätten zu einer Aufwertung von und gedruckt wurde zum Thema deutsche entgegengekommen. Spitzenfunktionäre England und Amerika gegen Rußland Krieg Diktatoren geführt und dazu beigetragen, Frage und deutsche Einheit." hätten die Vorbildfunktion sowjetischer führen wollte. daß die breite Öffentlichkeit im Westen sich „Klinkenputzer" und „Provinzfürsten" seien Gewerkschaften gelobt, Regimekritiker aus nach und nach mit der Spaltung arrangiert es gewesen, die in Ostberlin Notizzettel mit dem Kreis oppositioneller DDR-Schriftsteller An der Podiumsdiskussion über den mögli- hat. Wohlfeil ist die Spekulation über Namen von Inhaftierten ausgetauscht haben, verunglimpft und der polnischen chen Beitrag Westdeutschlands zur Vertie- Beweggründe dessen, was man - immer so die Schimpfkanonade, die auch für Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc fung der deutsch-deutschen Spaltung griffig, aber meistens grob vereinfachend - Hartgesottene mit Lust an deutlichen Worten vorgeworfen, sie wolle den Sozialismus nahmen die Referenten sowie Markus als öffentliche Meinung ausmacht. Aber wer das Maß des Erträglichen überzieht, wenn zugunsten einer marktwirtschaftlichen Meckel, Sprecher der SPD-Fraktion des Fakten, Andeutungen und Unterstellungen behauptet wird, Manfred Stolpe habe der Ordnung überwinden. Deutschen Bundestages in der Enquete- so arrangiert, als sei von tatsächlichen oder Stasi beim Abhören geholfen. Der Leser Kommission zur „Aufarbeitung von Ge- vermeintlichen Kosten der Ostpolitik auf die möge entscheiden, ob Schacht sich um die In mehreren Podiumsdiskussion, geleitet von schichte und Folgen der SED-Diktatur in Gesinnung der Initiatoren und Träger dieser Aufhellung der noch verschwommenen Heidi Roth, Historikerin, und Dettmar Deutschland", Tilman Fichter, Referent für Politik zu schließen, der verlegt die notwendi- Grenze zwischen notwendiger Kooperation Cramer, Intendant des Deutschlandfunks, Schulung und Bildung beim Parteivorstand ge Auseinandersetzung über Kosten und und Kollaboration verdient gemacht hat. konnten die Referenten ihre Gedanken der SPD, und Wolfgang Templin, Nutzen politischer Wege unter die Gürtel- vertiefen und auf Stellungnahmen aus dem Bundestagsabgeordneter des Bündnis 90, linie, denn es wird der - absurde - Anschein Zum Abschluß der Auseinandersetzung mit Publikum eingehen. Karl Wilhelm Fricke teil. erweckt, die Initiatoren der Ostpolitik hätten der westdeutschen Politik gegenüber der betonte, daß die Parteileitung während des das, was man der Verhandlungspolitik heute, DDR beleuchtet Hans-Hermann Hertle, Aufstandes am 17. Juni konfus und Zunächst unterstrich Markus Meckel, der den mit Blick zurück, als Kosten zurechnen kann, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche uninformiert reagiert und die Macht in die Ostdeutschen 1953 noch klare Zusammen- nicht nur in Kauf genommen, sondern gar Forschung der Freien Universität Berlin, die Hände der Besatzer zurückgegeben habe. hang zwischen Einheit und Demokratie habe gewollt. Deutschlandpolitik des DGB in den 70er und Nach dem Aufstand, so Armin Mitter, sei die in den folgenden 36 Jahren nicht immer in 80er Jahren. Er führt aus, daß Teile des DGB sowjetische Besatzungsmacht bestrebt gleichem Maße aufrechterhalten werden Was immer den Zürnenden bewegen mag, ohne Not den Machtanspruch der SED gewesen, den Unterdrückungsapparat können. Daher sollte man niemandem heute er riskiert hin und wieder an Glaubwürdig- anerkannt hätten. Zunächst zeichnet Hertle weitgehend in die Hände der SED zu legen. vorhalten, er habe sich nicht für die Demo- keit: Da wird Jürgen Schmude im Zusam- nach, welche Ziele die SED dem FDGB, dem Zwar hätten die Besatzer die Oberhoheit kratie eingesetzt, wenn er sich nicht gleich- menhang mit einer Stellungnahme zur Kritik DDR-Gewerkschaftsbund, für die auf behalten, doch fortan wollten sie nur noch in zeitig auch für die Einheit Deutschlands an der sozialdemokratischen Deutschland- Spitzenfunktionärsebene gepflegten Kontak- äußersten Fällen aktiv werden, um die engagiert habe. Auch Wolfgang Templin

16 17 ging zunächst auf seine spezifischen Erfah- der DDR gestritten und am Begriff der wahrgenommene Haltung des Westens Neben der unmittelbar praktischen Aufgabe, rungen als Bürgerrechtler in der DDR ein und deutschen Nation festgehalten zu haben. gegenüber der DDR, doch es meldeten sich den Aufbau von Gedenkstätten sowohl mit berichtete von einer dort nach 1989 verbrei- Letzteres gelte auch für Helmut Schmidt. Von auch Stimmen mit der Einschätzung zu Wort, Materialien als auch mit finanziellen Mitteln teten Illusion, jene, die Schuld und Verant- Cramer direkt gefragt, ob man nicht aner- die Verhandlungspolitik habe mit dazu zu unterstützen, hat das IV. Bautzen-Forum wortung auf sich geladen hätten, würden in kennen müsse, daß die Ost- und beitragen, die zweite deutsche Diktatur folgende Aufgaben für die Zukunft deutlich der demokratischen Umgestaltung geläutert. Deutschlandpolitik der SPD bis hin zum aufzuweichen. gemacht: Heute zeige sich jedoch, daß viele ihre Schuld umstrittenen Strategiepapier von SPD und verdrängten und damit die Schaffung des SED in der DDR auch den Keim des Die Abschlußdiskussion des Bautzen-Forums - Aufarbeitung der Oppositionsbewegungen Neuen blockierten. Bernd Faulenbach Revisionismus gepflanzt und damit zur widmete sich der Einrichtung von Gedenk- in der DDR und in Osteuropa sowie des erinnerte daran, daß sich viele Menschen in Erosion der Macht im Ostblock beigetragen stätten für die Opfer der totalitären Gewalt- Verhältnisses bundesrepublikanischer Westdeutschland kaum für die DDR interes- habe, räumte Schacht ein, er habe die herrschaft in Sachsen. An dieser Debatte Parteien zu diesen Bewegungen: Die sierten. Heute, so Tilman Fichter, dürfe man Verhandlungspolitik zunächst begrüßt, nahmen Benno von Heynitz, Erster Vorsitzen- Diskussionen auf dem Forum zeigten, daß diese Geschichte der Spaltung nicht länger müsse aber heute, da die Verästelungen von der des Bautzen-Komitees, Ehrhard Göhl, die Beziehungen zwischen den demokrati- verharmlosen. Die Analyse des weltpolitischen Konstellationen, Biographien, Sprecher der Sachverständigengruppe schen Parteien im Westen und den westdeutschen Beitrags zur Vertiefung der Vorgaben aus Amerika und anderem Bautzen II, Eckhard Noak, Staatssekretär im Oppositionsbewegungen im realen Sozialis- Spaltung greife zu kurz, wenn sie lediglich bekannt seien, sehen, daß am Ende das Sächsischen Staatsministerium für Wissen- mus noch kaum aufgeklärt sind. Während die Politik der Parteien untersuche. So sei die Gegenteil vom Geplanten herausgekommen schaft und Kunst, Marco Schiemann, zum Beispiel Tilman Fichter die Kritik der SPD Kurt Schumachers die einzige ge- sei und ein nationaler Selbstverrat stattgefun- rechtspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion französischen Sozialisten unter Mitterand samtdeutsche Partei nach 1945 gewesen, die den habe. Dagegen unterstrich Markus im Sächsischen Landtag, und Benedikt und der italienischen Kommunisten an der die Einheit Deutschlands zum vorrangigen Meckel, daß es auch aus seiner Sicht als Dyrlich, SPD-Mitglied des Sächsischen zaudernden Haltung der Sozialdemokratie Ziel der Politik erklärt habe, doch damit habe ehemaliger DDR-Bürger keine Alternative zur Landtages, teil. Kritisiert wurde vor allem die gegenüber der polnischen Solidarnosc in die SPD sowohl 1953 als auch 1957 schwere Verhandlungspolitik gegeben habe. So wäre mangelnde Ausstattung der Initiative zur Erinnerung rief und Wolfgang Templin die Wahlniederlagen erlitten. Seit Mitte der zum Beispiel ohne die KSZE-Vereinbarungen Errichtung einer Gedenkstätte im früheren mangelnde Unterstützung für die fünfziger Jahre habe man in Deutschland mit von Helsinki die Solidarnosc-Bewegung, und Gefängnis Bautzen II. So würden im laufen- Oppositionsbewegungen in der DDR der Priorität auf Wiedervereinigung keine damit eine entscheidende Kraft für die den sächsischen Landeshaushalt zwar 1,8 beklagte, wies Markus Meckel darauf hin, Wahlen mehr gewinnen können. Nach Veränderungen in Osteuropa, zerschlagen Millionen DM für das Hannah-Arendt-Institut daß die Oppositionsbewegung in der DDR Fichter seien selbst Warnungen vor einem worden. Auch Jens Hacker hob hervor, die für Totalitarismusforschung ausgewiesen, Ende der achtziger Jahre noch nicht bereit BRD-Nationalbewußtsein, die er selbst mit KSZE-Schlußakte von 1975 habe eine doch die Initiative für die Einrichtung der war, die Systemfrage zu stellen. Selbst im vertreten habe, nur von einer kleinen außerordentlich langfristige Bedeutung Gedenkstätte könne nur mit 50 000 DM Herbst 1989 hätten noch sehr unterschiedli- Minderheit ernstgenommen worden. Dies gehabt. Johannes Kuppe ergänzte, man rechnen. Da insgesamt 5 bis 6 Millionen DM che Vorstellungen über die Zukunft der DDR gelte sowohl für die SPD als auch für die wisse heute aus sowjetischen Quellen, daß benötigt würden, habe Dyrlich den Bundes- bestanden. Daher stellt sich sicherlich als CDU. Die Sonderentwicklung hin zum BRD- die auch von der SPD mitgetragene KSZE- kanzler um Unterstützung der Gedenk- wichtige Aufgabe, detaillierter als bisher Nationalbewußtsein habe sich in den Politik Hemmschwellen aufgebaut habe, stätten-Initiative gebeten. Daraufhin sei ihm über die Oppositionsbewegungen in der siebziger und achtziger Jahren vollzogen und gegen die Solidarnosc in Polen so vorzuge- mitgeteilt worden, das Innenministerium DDR der achtziger Jahre zu informieren und würde heute dazu beitragen, daß im dritten hen wie 1956 in Ungarn und 1968 in Prag. arbeite an einem Gesamtkonzept für den zu untersuchen, welche Chancen zur Jahr nach der staatlichen Einheit das Volk Hacker legte außerdem dar, daß es ohne Mahn- und Gedenkstättenbau. Marco Unterstützung dieser Bewegungen der wahrscheinlich so zerrissen sei wie noch nie eine Auflösung des Ostblocks keine Schiemann warb dafür, bei aller Kritik nicht Westen ungenutzt ließ - und warum. Die zuvor. Liberalisierung in der DDR, geschweige denn zu übersehen, daß man die Landesregierung intensivere Beschäftigung mit den vielfälti- die deutsche Einheit gegeben hätte. Auch immerhin dazu gebracht habe, Bautzen II gen Formen der Opposition in der DDR Auf der Grundlage seiner langen journalisti- der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Templin nicht mehr als Untersuchungshaftanstalt zu würde auch dazu beitragen, der arroganten schen Erfahrungen, in denen er die sah keine Alternative zur Politik der kleinen nutzen. Wie dringend die Initiative auf Legende entgegen zu wirken, die Ostdeut- Deutschlandpolitik der siebziger Jahre aus Schritte, bemängelte aber, daß noch Mitte weitere Unterstützung angewiesen ist, wurde schen in der ehemaligen DDR hätten sich in der Nähe miterlebt hat, betonte Dettmar der achtziger Jahre, als die Opposition in der mit dem Beitrag Ehrhard Göhls deutlich, der der überwiegenden Mehrheit den Macht- Cramer, Egon Bahr sei ein deutscher Patriot DDR schon deutlich Konturen gewonnen den hohen persönlichen und finanziellen verhältnissen ergeben angepaßt. gewesen. Nach einer Phase der wirkungslo- hätte, die westdeutschen Politiker kaum Einsatz ehemaliger Häftlinge für den Bau sen verbalen Breitseiten gegen die DDR habe bereit gewesen wären, davon Notiz zu einer Gedenkstätte beschrieb. Staatssekretär - Ausleuchtung ungenutzter Spielräume für die von Brandt und Bahr eingeleitete nehmen. Statt Unterstützung zu erfahren, Noak plädierte dafür, die Aufarbeitung der die Kritik an den Herrschenden in der DDR: Verhandlungspolitik den Menschen im habe man sich in der ostdeutschen Oppositi- Vergangenheit zweigleisig zu betreiben: Die meisten Referenten auf dem Forum geteilten Deutschland wirkliche Erleichterun- on beschwichtigende, zögernde und Wissenschaftliche Forschung und die waren der Auffassung, die Politik der gen gebracht. Ulrich Schacht räumte ein, ängstliche Argumente aus dem Westen Mahnung mittels Gedenkstätten müßten sich Verhandlungen habe einen hohen Stellen- Egon Bahr sei anzurechnen, gegen eine anhören müssen. Die zahlreichen Beiträge ergänzen. wert gehabt und sei ohne grundsätzliche Veränderung der Staatszugehörigkeit und aus dem Publikum äußerten überwiegend Alternative gewesen. Doch, so Tilman gegen eine völkerrechtliche Anerkennung Enttäuschung über die als zu vorsichtig Fichter, es wäre sicherlich möglich und

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notwendig gewesen, daß die bundesdeut- wenn Beweise spekulative Andeutungen schen Politiker gegenüber den SED- ablösen können, dann müssen Schuld und BEGRÜSSUNG UND EINFÜHRUNG Funktionären den freiheitlichen Charakter Versäumnis deutlich benannt werden. Aber der Bundesrepublik stärker betont und wer seine moralische Verurteilung anderer auf selbstbewußter auf Wandel in der DDR Schuldzuschreibungen statt auf klare Fakten gedrängt hätten. Für die Aufarbeitung der stützt und wer politische Fehler geißelt, ohne Vergangenheit stellt sich damit die Aufgabe Alternativen wenigstens andeuten zu können, zu untersuchen, ob und wann es diese der läuft Gefahr, mit zu gefährden, was er zu verpaßten Chancen in der Deutschlandpoli- verteidigen beabsichtigt. Die heutige Politik- tik gegeben hat. Gegebenenfalls wird dann verdrossenheit mag ihre berechtigten Anlässe die weitergehende Frage zu klären sein, haben. Aber sie lebt auch von der bequemen Winfried Schneider-Deters Im Namen der Friedrich-Ebert-Stiftung warum diese Chancen nicht genutzt Neigung vieler, die in der Politik überall Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig begrüße ich Sie auf unserem IV. Bautzen- wurden. vorhandenen Anlässe für Kritik aufzugreifen, Forum. - Abbau falscher Fronten: Die Aufarbeitung ohne sich selbst mit Überlegungen, gar mit der Vergangenheit leidet daran, daß viele Taten für die Entwicklung von Alternativen zu Opfer der ersten deutschen Diktatur noch mühen. Ausgerechnet die Aufarbeitung der Wir haben das diesjährige Forum auf den 17. i mmer nicht wahrhaben wollen, daß auch Vergangenheit der deutsch-deutschen Juni gelegt - auf den Tag, an dem sich zum die Gefangenen in den sowjetischen Lagern Spaltung sollte dazu nun keinen Beitrag 40. Mal der spontane Aufstand deutscher i n erster Linie Opfer der Machtsicherung l eisten. Denn das wäre wahrlich eine zynische Arbeiter gegen das Regime jährt, das die eines diktatorischen Regimes waren. Daher Konsequenz des friedlichen Sieges der sowjetische Besatzungsmacht mit Hilfe ihrer sollte versucht werden, intensiver als bisher Demokratie über die Diktatur: Statt herauszu- deutschen Handlanger in ihrer Zone etabliert über die Rolle von Lagern als Instrumente arbeiten, welche ökonomische und politische hatte. Es war die erste Rebellion im sowjeti- kommunistischer Herrschaft aufzuklären. Magnetwirkung - im Sinne Kurt Schumachers - schen Imperium gegen die Diktatur einer - Praktische Unterstützung der von westlichen Demokratien ausgegangen ist, kommunistischen Partei. Vom Juni 1953 in Rehabilitierungsmaßnahmen in Rußland: statt zu zeigen, wie Mut, Opferbereitschaft Deutschland spannt sich ein Bogen über Die vielen Tausend anhängigen Verfahren, und Entschlossenheit zum Einsturz der Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen bis die ehemalige deutsche Gefangene kommunistischen Diktatur beigetragen haben, zum Herbst 1989 zurück nach Deutschland. beantragt haben, könnten schneller würde die Aufarbeitung der Vergangenheit Dieser revolutionäre Prozeß mit seiner Folge bewältigt werden, wenn die Politikverdrossenheit nähren, mit Spekulatio- von demokratischen und nationalen Rehabilitierungsverwaltung in Moskau auch nen darüber, wie alles hätte ganz anders Befreiungsversuchen fand schließlich im von Deutschland aus stärkere Unterstützung kommen können. Jahre 1991 seinen Abschluß mit dem Verbot erhielte, sei es durch Finanzierung von der kommunistischen Partei der Sowjetunion Arbeitskräften, sei es durch Bereitstellung und der Auflösung des sowjetischen von Kopierern und anderen Büro- I mperiums. Karl Wilhelm Fricke vom materialien. Deutschlandfunk wird in seinem Eröffnungs- vortrag diesen Gedanken entwickeln. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß in Zukunft detaillierter als bisher Kosten und I m Bewußtsein jenes Teils des deutschen Nutzen der verschiedenen deutschland- Volkes, der durch die Teilung Deutschlands politischen Strategien bilanziert und mitein- nach dem II. Weltkrieg zu „Westdeutschen" ander verglichen werden müssen. Die wurde, hat sich die Bedeutung des 17. Juni weitere Auswertung des schriftlichen i m Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit Nachlasses der zweiten deutschen Diktatur gewandelt: vom „Tag der deutschen wird dazu sicherlich einiges beitragen Einheit", einem nationalen Gedenktag, zu können. Dann wird sich auch zeigen, ob das, einer „sozialen Errungenschaft", wie Michael was manchem heute als Fehler, gar als böse Stürmer einst sagte, also zu einem arbeits- Absicht erscheint, vermeidbar gewesen wäre freien Tag, an dem kaum jemand mehr an - und um welchen Preis. Bis zu dieser den Anlaß für diesen Feiertag dachte. Dr. sicheren Urteilsgrundlage sollte man sich mit Bernd Faulenbach, der Vorsitzende der rigorosen Werturteilen zurückhalten. Dabei Historischen Kommission der Sozial- geht es nicht darum, unangenehme Wahr- demokratischen Partei Deutschlands, wird heiten möglichst lange zu verbergen. Wenn diesen nationalen Gedächtnisverlust erklären. sich Anzeichen zu Tatsachen verdichten,

20 21 Die Öffnung der Archive der DDR läßt nun an der sowjetischen Bevölkerung verübten würden in diplomatischen Kanälen verzögert; ostdeutscher Politiker und Bürgerrechtler - nicht nur die Ausbreitung des Aufstandes im Verbrechen handelte. Vielmehr ging es um es sei daher ratsam, sich direkt an die unter ihnen Angelika Barbe, Jürgen Fuchs, Juni 1953 erkennen, sondern auch das Ausweitung des stalinistischen Terrorsystems, russische Behörde zu wenden. Gerd Poppe und Katja Havemann - unter Ausmaß an Gewalt, mit dem er niederge- unter dem die sowjetische Bevölkerung Punkt 4 fest: schlagen wurde - und das terroristische schon Jahrzehnte litt, auf denjenigen Teil der Einzubeziehen in die „Aufarbeitung West" Strafmaß, mit dem er „rechtlich" bewältigt deutschen Bevölkerung, der der Sowjetunion der deutschen Nachkriegsgeschichte - mit „Die Bewertung der DDR-Vergangenheit wurde. Dr. Falco Werkentin wird darüber - als Kriegsbeute zugefallen war. der sich dieses Forum ebenfalls beschäftigen muß der Tatsache Rechnung tragen, daß die gestützt auf seine Forschungsarbeiten in wird - ist auch das Versäumnis der Regie- Diktatur den einzelnen in Situationen bringt, DDR-Archiven - berichten. Und Dr. Armin Heute rehabilitiert Rußland die unschuldig rung, die willkürliche Spruch-Praxis sowjeti- die dem Leben in einer Demokratie unbe- Mitter von der Humboldt Universität zu Berlin verurteilten Opfer der stalinistischen Terror- scher Militär-Gerichte historisch aufzuklären. kannt sind"... „Versuchung und Zwang, sich wird darlegen, wie das Regime den 17. Juni justiz - auf der Rechtsgrundlage eines Erlasses Hunderttausende von Deutschen fielen der Macht, die als unabänderlich gilt, zu 1953 zum Anlaß nahm, seinen von Michail Gorbatschow vom 13. August diesen Gerichten unschuldig zum Opfer. unterwerfen, sind ungleich größer". Disziplinierungsapparat auszubauen, um 1990. Ein Militär-Oberstaatsanwalt, der Dazu zählen auch jene Kriegsgefangene, die künftig gesicherter „gegen das Volk" Oberst der Justiz Waleri Alexandrowitsch Stalin 1949/50 kurzerhand zu Kriegsverbre- Die Ostdeutschen haben ein Recht darauf zu regieren zu können. Wolin von der „Verwaltungsstelle für chern erklären ließ, um ein Faustpfand für wissen, warum sich viele Westdeutsche Rehabilitation", die bei der General- die Verhandlungen mit Bonn zu behalten, dieser Macht freiwillig unterwarfen, obwohl Nach den Vorträgen zu den angesprochenen staatsanwaltschaft der Russischen Föderation nachdem sich die alliierten Siegermächte sie ihr nicht - wie die Ostdeutschen - auf Aspekten des Themas „17. Juni" werden die eingerichtet wurde, wird uns erläutern, wie darauf geeinigt hatten, bis 1948/49 alle Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Referenten auf dem Podium miteinander - seine Behörde verfährt, und wie die Betroffe- Kriegsgefangenen zu entlassen. Alle Bonner und mit den betroffenen Teilnehmern im nen vorgehen können, um ihre Reha- Regierungen haben dieses Thema tabuisiert. Dabei geht es gar nicht einmal so sehr um Auditorium - diskutieren. Wir bitten bilitation zügig zu erwirken. Herr Wolin letzt wollen wir wissen, warum sie nichts diejenigen, die für Geld in die Dienste der diejenigen unter Ihnen, die am 17. Juni 1953 hat einen persönlichen Grund für sein getan haben, um die Soldaten von dem Staatssicherheit traten. Im Mittelpunkt des beteiligt waren und deshalb von der DDR- Engagement: Sein eigener Vater wurde ein Stigma „Kriegsverbrecher" zu befreien. I nteresses vieler Ostdeutscher stehen Justiz strafrechtlich verfolgt wurden, an Opfer Stalins; er kam in einem GULAG zu vielmehr die Fragen: dieser Diskussion teilzunehmen. Frau Dr. Tode. Auf den ersten drei Bautzen-Foren ging es Heidi Roth von der Universität Leipzig wird um denjenigen Teil der deutschen Vergan- - warum die Menschenrechtsverletzungen die Diskussion moderieren. I ch danke Herrn Wolin für seine Bereitschaft, genheit, der nach dem II. Weltkrieg in der des DDR-Regimes von westdeutschen nach Bautzen zu kommen, um den betroffe- sowjetisch besetzten Zone und dann in dem Politikern verharmlost wurden; Nach dem Thema „17. Juni 1953" steht ein nen Teilnehmern dieses Forums Rat zu deutschen Teil-Staat stattgefunden hat, der - warum sich westdeutsche Politiker den spezielles Kapitel der „deutschen Teil- erteilen. Wir freuen uns, mit dem Beitrag von auf diesen Territorium etabliert wurde. Die ostdeutschen Gewaltherrschern - um des Vergangenheit Ost" auf der Agenda: Die Herrn Wolin den Opfern kommunistischer Entwicklung dieser „Deutschen Demokrati- lieben Friedens willen - nicht nur stalinistische Terrorjustiz in der sowjetisch Gewaltherrschaft einen praktischen Dienst schen Republik" wurde wesentlich von den „annäherten", sondern diese auch noch besetzten Zone Deutschlands und später in erweisen zu können - nachdem wir mit den Beziehungen zwischen ihr und dem anderen umarmten; dem separaten deutschen Staat, der auf dem ersten drei Foren die Aufmerksamkeit der deutschen Teil-Staat, der zuvor auf dem - warum westdeutsche Politiker den wach- sowjetischen Besatzungsgebiet gegründet breiten Öffentlichkeit auf die Ansprüche der Gebiet der westlichen Besatzungsmächte senden Widerstand gegen die kommunisti- wurde. Die sowjetische Besatzungsmacht Opfer lenken wollten. gegründet worden war, beeinflußt; ja, die sche Diktatur in der DDR, aber auch in benutzte die Militärtribunale und ihre ostdeutsche Republik definierte sich im Polen und anderswo ignorierten - anstatt Vollzugseinrichtungen, die „Dezimierungs- Öffentlicher Druck auf Politik und Bürokratie Kontrast zur westdeutschen Republik. Ich diese Opposition zu unterstützen - und Lager" - es ist an der Zeit, den verharmlosen- i st auch in dieser Sache nötig. Die russische meine deshalb, daß dieser andere Teil der ausschließlich mit den demokratisch nicht den Terminus „Internierungs-Lager" aufzu- Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet nicht deutschen Vergangenheit, die deutsche l egitimierten Regierungen und sogar mit geben - nicht in erster Linie, um Kriegsver- nur Rehabilitationsanträge von deutscher, „Teil-Vergangenheit West" in die Aufarbei- den totalitären Parteien, auf die diese sich brecher zu bestrafen; hauptsächlich dienten sondern auch von polnischer und japanischer tung der deutschen Nachkriegsgeschichte stützten, verhandelten? (Punkt 10 der „10 die Lager dazu, den kommunistischen Seite. Insbesondere Japans Diplomaten und einbezogen werden muß - nicht nur um der Thesen für den Umgang mit Stasi-Akten"). Machtanspruch, den die deutschen Satrapen Jorunalisten kümmern sich täglich um die Wahrheit willen, sondern auch um der der Sowjetunion unter Walter Ulbricht durch Rehabilitierung ihrer Landsleute - und leisten Gerechtigkeit willen, auf die die ostdeutsche Warum erkannten die westdeutschen „Real- die arglistige Täuschung der Bevölkerung der völlig unzureichend ausgerüsteten Bevölkerung Anspruch hat. Die Aufarbeitung Politiker" nur die Repräsentanten des „real- durchzusetzen versuchten, mittels Terror zu russischen Behörde zu diesem Zweck auch der deutschen Vergangenheit nach der existierenden Sozialismus" an und warum sichern. materielle Hilfe. Deutschlands Auswärtiges Niederlage Deutschlands im II. Weltkrieg darf nicht auch die ebenfalls „real existierende Amt und seine Botschaft in Moskau tun nicht allein den Deutschen im Ostteil unseres Opposition", wie es der Bürgerrechtler Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Universität wenig, um deutschen Bürgern schneller zu Landes aufgebürdet werden. Wolfgang Templin in einem Artikel in der Konstanz, wird zeigen, daß es sich dabei i hrem Recht zu verhelfen. Von betroffener ZEIT im März 1992 formulierte? nicht um einen Rachefeldzug der Sowjetuni- Seite wird sogar der Vorwurf erhoben, In ihren „10 Thesen zum Umgang mit Stasi- on gegen das besiegte Deutschland für die deutsche Anträge auf Rehabilitierung Akten" stellt eine überparteiliche Initiative

22 23 „Nichts... fände im Osten mehr Respekt, als „Annäherung" angestrebt wurde, und der wohl nie völlig ausgeräumt werden kann, ist - Markus Meckel, Mitglied des Deutschen die aufrichtige Erinnerung jener West- Voraussetzung für die Wiedervereinigung Kurt Schumachers Politik eindeutig. Seine Bundestages und Sprecher der SPD-Fraktion Politiker, die damals mit Honecker ... Fotos Deutschlands - also für die Auflösung der Befürwortung der Gründung der Bundesre- in der Enquete-Kommission zur Aufarbei- füllten", schrieb Christoph Dieckmann einige DDR - war: Ein widersprüchliches, langfristi- publik Deutschland steht zu seiner Politik der tung von Geschichte und Folgen der SED- Monate später, ebenfalls in der ZEIT. ges politisches Konzept, das leicht zur deutschen Einheit nicht im Widerspruch; Diktatur; Verselbständigung von Teilen des Konzeptes seine „Magnettheorie" hat sich letztlich als - Dr. Bernd Faulenbach, Vorsitzender der Kritisiert werden nicht die Verhandlungen führen konnte - so, wie das dann ja auch richtig erwiesen. Historischen Kommission der SPD; mit dem kommunistischen Regime in geschah. - Dr. Tilmann Fichter, Referent für Schulung Ostdeutschland. Auch mit ordinären krimi- Mit seiner „neuen Deutschlandpolitik" und Bildung beim Parteivorstand der SPD; nellen Geiselnehmern muß gesprochen I n den 80er Jahren verloren die meisten schlug Willy Brandt, bewegt von einem - Wolfgang Templin, Mitglied des Bundesta- werden, um die Geiseln zu schützen und zu Deutschlandpolitiker aller Parteien das pragmatischen Patriotismus, einen neuen ges, Bündnis 90/Die Grünen. befreien. Das kommunistische Regime der ursprüngliche Ziel der Deutschlandpolitik, die Kurs ein; das Ziel aber blieb unverändert: Die DDR hatte die gesamte ostdeutsche Bevölke- Wiedervereinigung, völlig aus den Augen. Einheit Deutschlands. Es ging ihm darum, Zur „Aufarbeitung West" der deutschen rung als Geisel genommen - und die Die faktische Stabilisierung der Existenz des durch die Entspannung des Verhältnisses Vergangenheit gehört auch die Art, wie in deutsch-deutschen Verhandlungen verfolg- anderen deutschen Staates wurde das Ziel zwischen den beiden deutschen Staaten die Westdeutschland mit den Opfern des in ten auch den Zweck, den Geiseln „menschli- einer Politik, die als Deutschlandpolitik nicht Grundlagen für eine in weite Ferne gerückte Ostdeutschland begangenen Unrechts che Erleichterungen" zu verschaffen. Aber es mehr bezeichnet werden kann - sondern Wiedervereinigung zu erhalten. umgegangen wurde. Viele dieser Opfer gab eben im Westen auch politische Kräfte, höchstens als „DDR-Politik". mußten jahrelang vor westdeutschen die die Menschenrechtsverletzungen des Dr. Johannes Kuppe von der Bundeszentrale Verwaltungsgerichten darum kämpfen, ihre Regimes verharmlosten, diesem System den Doch in dieser „DDR-Politik" waren auch für politische Bildung wird erklären, wie die Haftzeit für die Alterssicherung angerechnet Schein von Legitimation verliehen und es so - destabilisierende Faktoren angelegt, die - als Deutschlandpolitik der SPD das Fernziel zu bekommen. Ihren Wärtern in den ungewollt - stabilisierten. es die äußeren Umstände zuließen - den „deutsche Einheit" aus den Augen verlor. Vollzugsanstalten der DDR wurde nach dem Zusammenbruch der DDR und die Wieder- Die führenden SPD Politiker der jüngeren Zusammenbruch der kommunistischen Der Ausschluß von exponierten Repräsentan- vereinigung Deutschlands bewirkten. Die Generation - in den 80er Jahren vornehmlich Herrschaft die „Dienstzeit" dagegen sofort ten des kommunistischen Regimes aus dem westdeutschen Politiker, die die Teilung i n der Landespolitik engagiert - entwickelten angerechnet. Und viele Opfer mußten öffentlichen Dienst - die einzige Konsequenz Deutschlands hinnehmen wollten, erreichten ein provinzielles Verständnis von Deutsch- jahrelang vor Sozialgerichten klagen, um die übrigens, zu der sich das demokratische l etztlich das Gegenteil: die Einheit Deutsch- l and. Sie fielen von dem schwierigen, gegen Anerkennung von gesundheitlichen Schäden Gesamtdeutschland durchringen konnte - ist l ands. den Wind des Zeitgeistes gerichteten Kurs als Folge der Haft durchzusetzen. In gerichtli- der denkbar mildeste Umgang mit Tätern. auf die deutsche Einheit ab auf den beque- chen Verhandlungen wurden Schilderungen Hiervon „Vergeltung" zu reden, ist grotesk. Die Deutschlandpolitik der CDU/CSU, die mit meren Kurs des Status quo der deutschen der unmenschlichen Haftbedingungen in der dem Alleinvertretungsanspruch begann und Teilung. Dabei ist dies durchaus nachvollzieh- DDR von Ärzten und Anwälten der Die Bonner Deutschlandpolitik ist aber nicht die mit dem Empfang von Erich Honecker, bar - zweifelten doch selbst die Väter der Versorgungsämter als „unglaubwürdig" nur danach zu beurteilen, inwieweit sie eine dem Chef des anderen deutschen Staates, i nzwischen alt gewordenen „neuen bezeichnet - und mit dieser Begründung die problemadäquate Strategie verfolgt; auch der einst nur in Anführungszeichen zitiert Deutschlandpolitik" im Laufe der Zeit an Abweisusng der Klagen von Opfern bean- nicht nur danach, inwieweit sie im Umgang wurde, als Staatsgast in Bonn ihre endgültige i hrer eigenen Sache. tragt. mit der totalitären Diktatur Prinzipien der Fassung gefunden zu haben schien, wird von politischen Moral relativierte; sie ist auch Prof. Jens Hacker von der Universität Außerhalb der offiziellen, ambivalenten Zum Schluß der Veranstaltung möchten wir danach zu bewerten, inwieweit sie dem Regensburg erörtert werden. Ist der Deutschlandpolitik der beiden großen mit der öffentlichen Erörterung von eigentlichen Ziel von Deutschlandpolitik deutschlandpolitische Wandel in der CDU/ Parteien konnte das totalitäre Regime der Grundsatzfragen zur Einrichtung von diente: der Wiedervereinigung Deutschlands. CSU Ausdruck eines, wie Prof. Hacker DDR mit einer breiten Sympathisanten-Szene Gedenkstätten für die Opfer totalitärer formulierte, „historischen Fatalismus", der i n Westdeutschland rechnen: „Gutwillige Gewaltherrschaft dazu beitragen, daß Es wird nicht bestritten, daß die sich angesichts der scheinbar in immer Kräfte" hießen sie im Stasi-Jargon. Ulrich „Denk-Mäler" geschaffen werden, welche Konfrontationspolitik der 50er Jahre weitere Ferne rückenden Wiedervereinigung Schacht, Leiter der Kulturredaktion der diesen bösen Teil deutscher Vergangenheit Deutschland seiner Wiedervereinigung nicht ausbreitete? Oder war es die Konsequenz Wochenzeitung „Welt am Sonntag", wird vergegenwärtigen, um dessen Wiederholung näher brachte, sondern die Teilung eher aus Konrad Adenauers Politik der West- sich damit auseinandersetzen. zu verhindern. Vertreter der Opfer, der verfestigte. Es ist wohl auch kaum zu I ntegration der Bundesrepublik Deutschland, Sächsischen Staatsregierung sowie des bezweifeln, daß die „neue Deutschland- die von Anfang an den Verzicht auf die Um eine möglichst differenzierte Ein- Sächsischen Landtages werden daran politik" Willy Brandts letztlich zum Erfolg deutsche Einheit bedeutete? Oder ist darin schätzung der Deutschlandpolitik der teilnehmen. führte. Für diese Politik der Entspannung ein westdeutscher Separatismus erkennbar, Sozialdemokratischen Partei in den 80er zwischen den beiden deutschen Staaten war ein „groß-rheinischer" sozusagen? Jahren zu gewinnen, haben wir zur Dis- Zum Abschluß des diesjährigen Bautzen- die Anerkennung der Existenz des anderen kussion mit den Referenten weitere Forums wird wieder an dem Gedenkstein für deutschen Staates unabdingbar, um den Im Gegensatz zur Politik Konrad Adenauers, Diskutanten eingeladen, zwei aus West- die „Opfer der kommunistischen Gewalt- „Wandel" bewirken zu können, der durch bei der der Verdacht separatistischer Motive deutschland und zwei aus Ostdeutschland: herrschaft in Bautzener Gefängnissen" auf

24 25 dem sogenannten „Karnickelberg" eine ökumenische Andacht abgehalten, die dieses GRUSSWORT DES VIZEPRÄSIDENTEN DES Mal Pater Hubert Sarach und Pfarrer Rüdiger Laue gestalten werden. SÄCHSISCHEN LANDTAGES

Heiner Sandig Vor reichlich einem Jahr haben wir in Vizepräsident des Sächsischen Sachsen uns eine Verfassung gegeben, in Landtages, deren Präambel es heißt:

„...ausgehend von den leidvollen Erfahrun- gen nationalsozialistischer und kommunisti- scher Gewaltherrschaft, eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit ... hat sich das Volk im Freistaat Sachsen ... diese Verfassung gegeben".

Eingedenk eigener Schuld, ausgehend von den leidvollen Erfahrungen - wenn ich mich an meine eigenen Erfahrungen mit dem 17. Juni 1953 erinnere, dann sehe ich mich als Erstklässer in das Schulgebäude kommen. Nach einer Stunde wurden wir wieder nach Hause geschickt, niemand erklärte uns den Grund.

Dieses bewußte Schweigen, das bei uns in Ostdeutschland sehr lange angehalten hat, war typisch für unseren Alltag. Wirkte dabei Unsicherheit, Unkenntnis, oder war es eher so, daß man nicht wissen wollte? Alles finde i ch bei mir vor.

Wir haben kaum Fragen zum 17. Juni gestellt. Es war uns peinlich, mehr wissen zu wollen. lch und andere hatten oft Angst, durch unsere Fragen eingeordnet zu werden. Bei vielen von uns kam der ganz seltsame Wille dazu, den DDR-Kommunismus doch so schlecht nicht zu sehen, nicht zu Böses von i hm zu denken.

Viele, ja die meisten von uns müssen sich eingestehen, eine falsche Haltung eingenom- men zu haben. Müssen wir uns nicht schämen, nicht gefragt, nicht wissen gewollt zu haben?

26 27 Heute sind viele Fakten über den 17. Juni In einem kürzlich erschienenen Artikel bekannt: wie aus dem Arbeiteraufstand eine schrieb Brigitte Seebacher-Brandt zum 17. der Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, daß Forderung nach freien Wahlen, nach Juni: es sowohl 1989 als auch vor vierzig Jahren Demokratie, nach Freiheit wurde, wie dieses mutige Frauen und Männer gegeben hat. demokratische Begehren niedergeknüppelt „Wir kommen wieder, sagten Bauarbeiter wurde, wie es zu Toten kam. Deren genaue am 18. Juni und an den Tagen danach Zahl ist allerdings bis heute noch nicht traurig und voller Trotz. Sie kamen wieder, ermittelt. Auch die Umstände der vielen, als die Besatzer das Regime nicht noch vielen Verhaftungen müssen zum Teil wohl einmal retten wollten. Es waren nicht noch näher geklärt werden. Sie wissen das dieselben handelnden Personen, die wieder- alles viel besser als ich, denn es war Ihr kamen. Zuviel Zeit war ins geteilte Land Leben. gegangen". Wir müssen immer wieder auf diese Ereignis- se hinweisen und deutlich machen, daß auch Aber der Antrieb, freiheitlich und national, das, ja gerade das, zur DDR gehörte. Wider der 1953 gewirkt hatte, lebte 1989 noch alle DDR-Nostalgie, die sich heute ausbreitet: einmal auf - wer wollte daran Zweifel Das war die DDR! Sie, meine Damen und anmelden. Nun haben wir Freiheit und Herren, Sie wissen das durch Ihr Leben. Demokratie, aber diese Freiheit und diese Demokratie in Deutschland sind nicht ganz Wir denken an die Menschen des 17. Juni ungefährdet. Das merken wir alle. Uns fehlt und zuerst voller Trauer an die Toten. Wir in diesem Land so etwas wie ein minimaler denken an die Verhafteten, Geschundenen, Grundkonsens - bei aller Unterschiedlichkeit Gequälten, Entehrten, Verunglimpften sowie der Menschen und ihrer Überzeugungen. Zu an die gleichsam und tatsächlich aus der diesem Grundkonsens müßte gehören, Heimat Vertriebenen. Und als Vertreter des etwas Positives darin zu sehen, daß es Sächsischen Landtages, als Ostdeutscher, konkurrierende politische Parteien gibt, daß sage ich, es tut uns weh, daß das geschehen wir die Freiheit der Wahl haben und daß wir ist, und es tut uns weh, daß wir das als in der Politik bei aller Leidenschaft den tiefen Selbstverständlichkeit hingenommen haben. Respekt vor dem anderen nicht verlieren. Wir Jetzt wissen wir, Ihr Opfer, Ihr Menschen seid dürfen uns nicht von den Leidenschaften wichtig für unsere eigene Geschichte. übermannen lassen. Gewiß, nichts können wir wiedergutmachen, aber wir können Euch sagen, es war gut, daß Es war wohl Richard von Weizsäcker, der in es Euch gab. Doch ich will auch an die Täter der Mitte der 80er Jahre betonte, angesichts denken. Wer waren sie? Junge Soldaten der unserer Geschichte sollten wir unser Roten Armee wußten zum Teil gar nicht, was Deutschsein nicht als einen Zustand verste- da geschah. Man hatte ihnen einen Befehl hen, sondern als eine Aufgabe. Vielleicht gegeben. Auch die Volkspolizisten waren könnte darin ein Ansatz für einen minimalen überfordert. Viele von ihnen glaubten gewiß Grundkonsens liegen. Dabei könnte auch der an ihre eigene Sache und kamen doch zur 17. Juni wieder als ein Tag der Deutschen Brutalität. Und wie steht es um die Auftrag- Einheit einen Sinn bekommen. Um zu diesem geber für die Verbrechen? Das waren minimalen Grundkonsens zu kommen, Menschen, die von sich selber behaupteten, müssen wir unsere eigene Geschichte eine Ideologie zu vertreten, die für die erhellen. Die Geschichte mit dem mutigen Entrechteten eintrat, und die selber gegen Tun und mit den schlimmen Untaten, mit den Faschismus gekämpft hatten. Doch an dem feigen Schweigen und mit dem die Macht gekommen, agierten sie menschenverachtenden Desinteresse. menschenverachtend, angeblich aus Grün- Versuchen wir, die freiheitliche Demokratie den der Humanität. Schließlich sollten wir zu stärken durch persönlichen Einsatz und auch an die Beobachter denken, an jene, die durch Wachhalten des Schmerzes über die abwarteten und schwiegen. Opfer der Diktatur. Aber versuchen wir auch,

28 29 GRUSSWORT DES VORSITZENDEN DER SOZIALDEMOKRATISCHEN FRAKTION IM SÄCHSISCHEN LANDTAG

Dr. Karl-Heinz Kunckel Der Arbeiter- und Volksaufstand gegen das Vorsitzender der sozialdemokratischen SED-Regime am 17. Juni 1953 hatte ein auf Fraktion im Sächsischen Landtag Lügen, Betrug und Selbstbetrug gebautes Gesellschaftssystem öffentlich als fremd- bestimmte Willkürherrschaft entlarvt. Dies kann, ungeachtet der zahllosen Legenden in Ost und West, als gesicherte historische Wahrheit gelten. Es steht mir, dem Politiker, hier nicht zu, in die historische Debatte über die Juni-Ereignisse des Jahres 1953 einzugrei- fen. Aber ich will versuchen, die hier anwe- senden Verfolgten der stalinistischen Zwangsherrschaft zu ermuntern, ihr persönli- ches Erleben und ihre historischen Kenntnisse i n die politische Willensbildung der Gegen- wart einzubringen und so bei der Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands mitzuwir- ken.

So wie der 17. Juni 1953 unzweifelhaft Teil der gesamtdeutschen Geschichte ist, so ist dieses Datum auf besondere Weise für uns hier im Osten Deutschlands ein historisches Ereignis. Unser Leben wurde durch die DDR und das SED-Regime geprägt, und - machen wir uns da nichts vor - es wird immer noch von unseren Erfahrungen unter der Diktatur beeinflußt. Wir blicken auf den 17. Juni mit Trauer und Respekt für die Opfer, aber auch mit berechtigtem Stolz auf die, die diesen Aufstand getragen haben. Viele haben damals den aufrechten Gang geprobt. Einige haben später das Bewußtsein an die Kraft der Demokratie wachgehalten, und im Herbst 1989 waren es wieder viele, die im aufrechten Gang eben das nachholten, was 1953 nicht gelang, was allein wegen der sowjetischen Panzer nicht gelingen konnte. Für mich besteht ein Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen, zwischen den Juni-Tagen 1953 und dem Herbst 1989. Und

30 31 dies, gestatten Sie mir einen kurzen Blick in Mit Blick auf die Opfer sind wir gefordert, schen Erkenntnis, die Ossis müßten das Deshalb will ich nicht verhehlen, daß im die Geschichte, fordert uns, den 17. Juni angemessene Entschädigungsregelungen zu Arbeiten erst noch lernen. Oft wird mit Streit um das heute an der Universität in 1953 nicht nur als einen gescheiterten finden, sofern es für Haftjahre in stalinisti- Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse Dresden offiziell eröffnete Hannah-Arendt- Aufstand gegen das verhaßte Regime zu schen Kerkern überhaupt eine angemessene geurteilt. Institut für Totalitarismus-Forschung aus sehen. Wir müssen Fragen nach den Zielen Entschädigung geben kann. Aber wir müssen meiner Sicht noch Fragen zu stellen sind. der Demonstranten von damals stellen und uns auch davor hüten, daß in der berechtig- Die hier versammelten Historiker wissen um Den Protest des Bundes der stalinistisch beantworten. ten Auseinandersetzung zwischen Tätern die Tatsache, daß zu allen Zeiten Opposition Verfolgten müssen wir ernst nehmen. Ein aus und Opfern, einer Auseinandersetzung, die und Widerstand auch in der SED selbst Bonn ferngeleitetes Institut in Dresden würde Der Aufstand ging zunächst um klassische mit allen demokratischen Mitteln politisch, gewachsen sind. Dennoch gilt oft die kaum in der Lage sein, die notwendige Forderungen der Arbeitnehmer, um die juristisch, moralisch geführt werden muß, einfache Mitgliedschaft in dieser Partei heute Identifikation im Osten zu fördern. Das Rücknahme der Normerhöhungen, um allein vom Standpunkt des Opfers geurteilt beinahe ebenso als Makel für die berufliche Bautzen-Komitee und der Arbeitskreis bessere materielle Lebensbedingungen. Aber wird. Zwar sollten wir immer wieder darauf Karriere wie früher die Nichtmitgliedschaft. verfolgter Sozialdemokraten in Sachsen sind auch schon damals ertönte der Ruf, „wir hinweisen, daß es in der DDR Opposition und Oder um aus dem eigenen Erleben zu unverzichtbar, wenn es darum geht, hier vor wollen freie Menschen sein!" Und diese Widerstand gab, aber wir dürfen auch nicht berichten. Als Hochschullehrer und soge- Ort die Vergangenheit unter dem SED- Freiheit sollte schon 1953 in einem einheitli- darüber hinwegsehen, daß die DDR kein nannter Reisekader wurde ich als Parteiloser, Regime zu sichten. Deshalb müssen die chen Deutschland gestaltet werden. Sicher Volk von Widerstandskämpfern war. allein dies war suspekt, natürlich ebenfalls Mitglieder dieser Organisationen ihre erscholl der Ruf, „Wir sind ein Volk! ", nicht Anpassung, so hieß für die meisten von uns nach meinem gesellschaftlichen Engagement persönlichen Erfahrungen und ihre Interessen so lautstark wie im Herbst 1989, aber doch die Lebensform in der DDR. Und Anpassung für den Sozialismus befragt. Es galt, Engage- in die Arbeit des Hannah-Arendt-Instituts wohl nur deshalb, weil die sowjetischen hat unendlich viele Nuancen. Sie kann von ment für den real existierenden Sozialismus einbringen. Die sächsische Sozialdemokratie Panzer schneller waren und den Aufstand der beinahen Machtteilhabe bis zum beinah nachzuweisen, und zwar nicht allein mit dem wird sie nach Kräften unterstützen, zumal es niederwalzten. geleisteten Widerstand gehen. Wer heute Eintritt in die SED, sondern auch mit der hier auch um sozialdemokratische Geschichte über die Anpassungsbereitschaft des sogenannten gesellschaftlichen Arbeit. Wenn geht, die in der Gesamtpartei nicht immer Dort, wo der 17. Juni ausschließlich zum Tag Nachbarn den moralischen Zeigefinger hebt ich Zeugnisse über meine Studenten schrei- die gebührende Aufmerksamkeit fand. der Einheit erklärt worden ist, geriet die oder das Maß der Anpassungsfähigkeit zu ben mußte, habe ich auch und gerade Einheit selbst zunehmend aus dem Blickfeld Grabenkämpfen unter jenen nutzt, die 40 kritischen Geistern einen hervorragenden Wir hier im Osten müssen auf den Trümmern der handelnden Politiker. Ich glaube, auch Jahre in der DDR lebten und überleben sozialistischen Klassenstandpunkt beschei- des alten Regimes, vielfach befangen wegen daran muß man hier und heute erinnern. Wir mußten, schadet dem Wiederaufbau, an nigt. Ich möchte dies nicht verdrängen unserer Verstrickungen im ungeliebten hier im Osten, die wir DDR-Bürger sein dem doch alle teilhaben sollen. müssen. Sollte es Gründe dafür geben, Machtgeflecht, eine neue Gesellschaft mußten, beharrten instinktiv auf eine Art wären wir gut beraten, Abhilfe zu schaffen. errichten. Wir wissen, wie es ist, 40 Jahre gesamtdeutscher Gemeinsamkeit, selbst Um nicht mißverstanden zu werden: Ich Wir müssen unsere Vergangenheit anneh- gebückt worden zu sein; wir wissen aber wenn wir uns angepaßt in die Lebenswelt spreche nicht von den wirklichen Tätern, von men, wenn wir sie bewältigen wollen. auch, daß man aus eigener Kraft aufrecht der DDR eingefügt haben. Wir haben den den Protagonisten des Systems. Mir geht es gehen kann, auch wenn dabei anfangs das Traum von der Wiedervereinigung länger um die Frage, wie wir heute und jetzt mit Einige von uns sind schuldig geworden, Kreuz weh tut. Uns an unsere eigene Kraft und intensiver geträumt als unsere Brüder den Menschen umgehen, die in der Vergan- wenige von uns sind Helden gewesen, fast zu erinnern, scheint heute dringender denn und Schwestern im Westen. Wir waren dem genheit unter stalinistischen und alle von uns haben sich angepaßt. Ein Volk, je. Die Rekultivierung unserer Länder nach gemeinsamen Ganzen näher als sie. Es gibt poststalinistischen Verhältnissen nicht den das unter einer Diktatur lebt, wird immer aus dem Bild des Westens führt dazu, unser Sein also keinen Grund, unsere Vergangenheit zu Weg offener Opposition oder offenen einigen Schuldigen, wenigen Helden und nur aus der Sicht der heutigen Ordnung zu verdrängen. Widerstandes gingen. Um jene also, die ihr vielen Angepaßten bestehen. Wer uns beurteilen. Dies endet in einer Sackgasse. So Leben so zu leben versuchten, wie es die vorwirft, wir hätten der Diktatur heldenhafter werden wir weder der Vergangenheit Es gibt auch keinen Grund, und ich sage das Verhältnisse eben zuließen, und die in diesen widerstehen sollen, macht es sich selbst zu gerecht, noch können wir so die Fragen nach bewußt zu Ihnen, die Sie Opfer und Verhältnissen für sich selbst nach einem leicht, noch dazu, wenn er das Glück hatte, unserer Zukunft beantworten. Wir müssen Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime glücklichen und erfüllten Leben strebten. in einer Demokratie zu leben. Daher ist es uns zu unserer Vergangenheit bekennen, zu waren, die DDR-Geschichte allein auf Ihnen diese Anpassung vorzuwerfen, scheint notwendig, daß die Vergangenheit von uns unserer Geschichte, die auch immer eine Opposition und Widerstand zu reduzieren. mir ungerecht und dennoch werden wir mit aufgearbeitet wird, zusammen mit Ihnen, die Geschichte des Widerstandes gegen den Richtig ist, wir müssen Ihnen und allen, die solchen Vorwürfen konfrontiert. Ein Beispiel: Sie Opfer sind und Widerstand geleistet Totalitarismus war. Für uns Deutsche muß es offen gegen das SED-Regime aufgetreten Auch ordentliches Arbeiten war in gewisser haben, aber auch zusammen mit jenen, die ein besonderes Anliegen sein, trotz unserer sind, jetzt und hier neue Perspektiven Weise Anpassung. Wer sich beruflich angepaßt gelebt haben und von dieser Verstrickungen aufrecht zu gehen - ohne eröffnen. Wir sind auf Ihre Erfahrungen engagierte, wer mit den beschränkten Anpassung Zeugnis geben können. unsere Mitschuld zu leugnen. Nur so wird es angewiesen, wir brauchen Sie nicht in der Möglichkeiten ein möglichst vollkommenes gelingen, nicht wieder zu Tätern zu werden. letzten Reihe, sondern gestaltend mitten in Ergebnis seiner Arbeit erreichen wollte, der Bei dieser Aufarbeitung ist uns akademische unserem Gemeinwesen. Und wir dürfen Sie wird heute beschuldigt, er habe system- und auch sonstige publizistische Hilfe aus auch nicht als Alibi mißbrauchen. stabilisierend gewirkt. Wer hingegen schlecht dem Westen willkommen. Doch abnehmen gearbeitet hat, ist schuld an der westdeut- kann der Westen uns diese Arbeit nicht.

32 33 DER 17. JUNI 1953 - DER ERSTE ARBEITERAUFSTAND GEGEN DIE KOMMUNISTISCHE DIKTATUR IM SOWJETISCHEN IMPERIUM

Karl Wilhelm Fricke Welchen Sinn kann es haben, sich heute mit Deutschlandfunk der Geschichte des 17. Juni 1953 auseinan- derzusetzen? Wie kann, anders gefragt, für Gegenwart und Zukunft von Belang sein, was damals vor vierzig Jahren historisches Ereignis geworden ist? Wer wie ich davon überzeugt ist, daß ein Volk auf die Dauer nicht ohne Geschichtsbewußtsein leben kann, weil erst das Wissen um die eigene Vergangenheit sein Selbstverständnis begründet, der vermag auch die Bedeutung zu ermessen, die das Wissen um den 17. Juni 1953 für die Deutschen, zumal für die Deutschen in den fünf neuen Ländern, für die eigene Identität und für ihr demokrati- sches Selbstbewußtsein besitzt. Aus diesem Grunde halte ich es für unerläßlich, die Erinnerung an den Aufstand vor vierzig Jahren im Gedächtnis des Volkes wachzu- halten. Eine selbstverständliche Vorausset- zung dafür sind Kenntnisse und Erkenntnisse über Ursachen, Umfang und Verlauf, über Ziele und Folgen dieses Aufstandes - des ersten Arbeiteraufstandes gegen die kommu- nistische Diktatur im sowjetischen Imperium.

Legendenbildung der Partei Wie eminent politisch diese Aufgabe ist, läßt sich negativ an der Weigerung der SED und i hrer beamteten Historiker beweisen, jemals die Wahrheit über den 17. Juni zu tolerieren. Für die Herrschenden der DDR hatte die Juni- Erhebung nichts als eine „faschistische Provokation", ein „faschistischer" oder auch „konterrevolutionärer Putschversuch" zu sein, der vom Westen aus planmäßig vorbereitet und am Tage X - sprich: 17. Juni 1953 - ausgelöst wurde.

34 35 Die Putsch-Legende wurde noch am Tage die Geheimdienste, die westlichen wie die stisch' und 'proletarisch' aufgezwungen Ein Versuch, die historischen Ursachen des des Aufstands dekretiert. „Die Unruhen, zu östlichen, ihre Finger darin haben. Auch im wurden, die er aber nicht als 'proletarisch' 17. Juni auf eine generelle Formel zu denen es gekommen ist," - so ließ die DDR- Berlin des Jahres 1953 waren sie sicher nicht noch als'sozialistisch' anerkennt. Und gerade bringen, führt sie letztlich auf die tiefgreifen- Regierung am Nachmittag des 17. Juni fern. Aber es ist eine Naivität zu glauben, daß darin liegt die historische Bedeutung dieser den Strukturveränderungen zurück, die offiziell erklären - „sind das Werk von diese Finger die Weltgeschichte bewegen. Ereignisse." Herrschaft und Gesellschaft seit dem Provokateuren und faschistischen Agenten Der Ausbruch des Juni-Aufstandes kam Zusammenbruch der Nazi-Diktatur im ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer überraschend für alle". Die politische Signalwirkung, die vom 17. Machtbereich der SED erfahren hatten. Im aus deutschen kapitalistischen Monopolen". Juni nicht nur für die DDR, sondern für das wesentlichen lagen sie in der planmäßigen, I hre Fortsetzung erfuhr die Legende in Die Frage, warum die SED vier Jahrzehnte sozialistische Lager ausging, war damit zielbewußten Errichtung eines politischen Entschließungen des Zentralkomitees der SED lang auf ihrer Putsch-Legende beharrte, ist frühzeitig angesprochen. Die Geschichte Regimes begründet, das - dem Schein nach vom 21. Juni und vom 26. Juli 1953 - und durch Rudolf Herrnstadt beantwortet lieferte in den folgenden Jahrzehnten den ein Mehr-Parteien-System - frühzeitig auf Zeit ihrer Existenz hat sich die SED niemals worden - seinerzeit Chefredakteur des Beweis dafür. Hingegen belegt es die allen eine Diktatur der SED hinauslief und das alle von dieser Version zu lösen vermocht. Sie „Neuen Deutschland" -, der sich voller Ideologen eigene Realitätsblindheit der SED, politischen Freiheiten und Bürgerrechte blieb trotz ihrer Unglaubwürdigkeit verbindli- Empörung an dem freimütigen Wort eines daß sie jahrzehntelang auf ihrer Putsch- einschließlich des Rechts auf Selbst- ches Grundmuster in Agitation und Propa- Arbeiters rieb. „Ich bin stolz auf den 17. Legende beharren zu können glaubte, bestimmung durch freie Wahlen verweigerte. ganda, zumal in der Geschichtsschreibung. Juni", hatte dieser in einer Belegschafts- obwohl sie von Anfang an unglaubwürdig Seit Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 versammlung im VEB Siemens Plania Berlin war und von den Arbeitern in den Betrieben durfte das Volk vier Jahrzehnte lang niemals Selbst in dem 1988 von damals maßgeben- bekannt, denn er habe die Arbeiter gelehrt, auch offen verlacht wurde. Sie wußten es ein Votum abgeben, das diese Bezeichnung verdient hatte. Dieser Makel der DDR und die den Historikern der DDR-Akademie der „daß sie eine Kraft sind und einen Willen besser, schließlich hatten sie selber erlebt, Wissenschaften herausgebrachten aufwendi- haben", wenn sie gemeinsam handeln. wie ihre Streiks und Demonstrationen aus ihm folgende demokratische Illegitimität gen Werk „Deutsche Geschichte in 10 Genau dieses Bewußtwerden der eigenen zustande gekommen waren. der von den Herrschenden ausgeübten Kapiteln" kehrt diese Version wieder. Der 17. Kraft wollte die SED paralysieren und aus Macht provozierten am 17. Juni 1953 die Juni 1953 wird hier als „konterrevolutionärer dem gesellschaftlichen Bewußtsein tilgen, Forderung nach freien Wahlen, eine Losung, Putschversuch" charakterisiert. Zwar werden denn sie mußte darin eine tödliche Gefahr Beweggründe für den Aufstand die in allen Brennpunkten des Geschehens „ökonomische Schwierigkeiten" eingeräumt, für die Stabilität ihrer Herrschaft sehen. Zum erhoben wurde - wobei in diesem Zusam- „Maßnahmen, die sich als fehlerhaft ersten Mal hatten Hunderttausende von Es würde den Rahmen meines Referates menhang die Erinnerung daran nützlich ist, erwiesen", „insbesondere die administrativ Arbeitern in der DDR vor aller Welt den sprengen, wollte ich im einzelnen die daß die Forderung nach freien Wahlen veranlaßte Erhöhung der Arbeitsnormen um Beweis dafür erbracht, daß unter den vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und entscheidend auch die Demonstrationen mindestens zehn Prozent", aber: „Direkt Bedingungen einer kommunistischen sozialen Ursachen nachzeichnen, die am 17. geprägt hat, die im revolutionären Herbst angeleitet und unterstützt durch aus Diktatur eine revolutionäre Massenaktion, ein Juni 1953 das Aufbegehren gegen die 1 989 zum politischen Umbruch in der DDR Westberlin eingeschleuste Provokateure, spontaner Aufstand Realität werden konnte. Diktatur der SED ausgelöst hatten, aber was führten. dirigiert durch die Massenmedien der - Kein Geringerer als Edvard Kardelj, ein seinerzeit ein Arbeiter auf einer Betriebs- Frontstadt - Westberlin, tobte der damals führender Theoretiker des jugoslawi- versammlung im Hydrierwerk Zeitz auf die Zu dieser generellen Ursache kam speziell ein konterrevolutionäre Mob in einer Reihe von schen Kommunismus, qualifizierte den 17. ebenso schlichte wie überzeugende Formel Ursachenbündel, das aus den unmittelbaren Städten, drang in Parteibüros und andere Juni fünfzehn Tage danach in einem Leitarti- gebracht hatte: „Kollegen, was sich jetzt bei Auswirkungen der von der 2. Parteikonferenz Dienststellen ein, zerstörte dort Einrichtun- kel der Parteizeitung „Borba" seiner histori- uns tut, ist für uns Arbeiter beschämend. der SED beschlossenen Generallinie und gen, mißhandelte und ermordete Bürger, die schen Bedeutung für die Entwicklung des Siebzig Jahre nach dem Tode von Karl Marx Politik bestand. Die Parteikonferenz tagte sich ihm entgegenstellten". Allein die Sozialismus nach als „das wichtigste Ereignis müssen wir noch über die elementarsten vom 9. bis 12. Juli 1952 in Ost-Berlin. Mit Sprache sagt alles aus über die geistige nach dem jugoslawischen Widerstand vom Lebensbedingungen debattieren. Wenn Karl i hren rigiden Beschlüssen über den „Aufbau Verfassung ihrer Urheber. Von den Losun- Jahre 1948". Kardelj schrieb den Streiks und Marx dieses ahnte, würde er sich im Grabe des Sozialismus" beschwor sie für die DDR gen, die die Aufstandsbewegung beseelt Demonstrationen vorbehaltlos „den Charak- umdrehen" - das gab die Stimmung in den eine tiefe politische und ökonomische Krise hatten, ist in diesem - mit Verlaub - ter einer echten revolutionären Massenaktion Betrieben ungeschminkt wieder. „Offene herauf. In seiner konkreten Auswirkung „Geschichtswerk" nicht ein einziges Wort zu der Arbeiterklasse" zu - „und das gegen ein Provokationen gegen die Partei", empörte bedeutete „Aufbau des Sozialismus" in der l esen. System, das sich 'sozialistisch' und sich die „Freiheit", damals die Zeitung der DDR „verschärften Klassenkampf", 'proletarisch' nennt. Die Triebkraft dieser SED im Bezirk , als sie darüber berichte- Kriminalisierung jedweder Opposition, In der DDR blieb es übrigens Robert Ereignisse ist im Grunde nicht das nationale te. Und daß die SED ausgerechnet das Jahr Kirchenkampf und Verfolgung der „Jungen Havemann vorbehalten, die „Agenten- Moment; es ist also nicht nur ein Problem der 1953 zum Karl-Marx-Jahr erklärt hatte - aus Gemeinde", Ausbau der Schwerindustrie zu theorie" der SED vom „Tage X" ad absurd- Deutschen gegen eine fremde Besatzung. Anlaßvon Marxens 135. Geburtstag und Lasten des Konsums, Kollektivierung der um zu führen mit dem lakonischen Bemer- Nein, es handelt sich hier vor allem um den seines 70. Todestages -, das zählt zu jenen Landwirtschaft durch Gründung land- ken: Klassenprotest des deutschen Arbeiters Ironien, die die Geschichte schon mal wirtschaftlicher Produktions- gegen die staatskapitalistischen Verhältnisse, bereithält. genossenschaften und forcierte „Nirgends in der Welt geschieht irgend die ihm von der Besatzung im Namen eines Militarisierung. etwas auf der politischen Szene, ohne daß „sozialistischen Messianismus" als'soziali-

36 37 Nicht zuletzt ihre Aufrüstungspolitik trieb die normen um mindestens 10 Prozent" Lohneinbußen zwischen 20 und 40 Prozent Arbeitern, Bauern und der Intelligenz, ist eine DDR in die Krise. Für die Schaffung nationa- beschloß. Sie machte damit eine Weisung brachten, weil bis dahin die Löhne durch ernst zu nehmende Unzufriedenheit zu ler Streitkräfte hatte die DDR 1952/53 nicht des Zentralkomitees der SED allgemein- Übererfüllung der Normen über Prämien verzeichnen in bezug auf die politischen und weniger als 2,5 Milliarden Mark aufzuwen- verbindlich, das auf seiner XIII. Plenartagung hatten aufgebessert werden können, da wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der DDR den. Neben diesem finanziellen Aderlaß 1 4 Tage zuvor auf eine entsprechende wuchs die Unruhe auf Baustellen und in durchgeführt werden. Das kommt am hatte die DDR auch personelle Probleme. Normenerhöhung gedrungen hatte. Betrieben zusehends. Schon Monate vor dem deutlichsten in der massenhaften Flucht der I mmerhin belief sich die als „Kasernierte Arbeiteraufstand kam es in der DDR Einwohner der DDR nach Westdeutschland Volkspolizei" getarnte Armee Mitte 1953 Die administrativ verfügte Normenerhöhung punktuell zu Protesten in der Produktion und zum Ausdruck." bereits auf eine Ist-Stärke von 113.000 kam dem Eingeständnis der SED gleich, daß zu politischen Warnstreiks. Die latente Krise Mann. Die Belastungen für die DDR- i hre seit Monaten auf Baustellen und in reifte zum offenen Konflikt. Die sowjetischen Kommunisten redeten über Volkswirtschaft waren zwangsläufig katastro- Betrieben gemeinsam mit dem FDGB, ihrem die Ursachen der Krise nicht herum, bekann- phal. gewerkschaftlichen Erfüllungsgehilfen, in dieser Situation sind die Sowjets initiativ ten aber auch ihre Mitverantwortung. organisierte Kampagne zur Propagierung geworden. Walter Ulbricht, Generalsekretär Eine weitere Konsequenz dieser Politik „freiwilliger Normenerhöhungen" hoff- der SED, Ministerpräsident Otto Grotewohl „Als Hauptursache der entstandenen Lage ist bestand in einer bis dahin für undenkbar nungslos gescheitert war. und der Chefideologe der Partei, Fred anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen gehaltenen Fluchtbewegung, die allein im 0elßner, wurden zum Rapport nach Moskau der zweiten Parteikonferenz der SED, ersten Halbjahr 1953 über eine Viertelmillion Die Kampagne hatte scheitern müssen > zitiert, wo sie sich in streng geheimer Mission gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B), Menschen nach Westen trug, darunter angesichts der wirtschaftlichen und sozialen vom 2. bis 4. Juni 1953 aufhielten. Sie fälschlicherweise der Kurs auf einen be- Zehntausende von Bauern, die ihre Höfe in Bedingungen, unter denen die arbeitenden kehrten mit der Weisung nach Ost-Berlin schleunigten Aufbau des Sozialismus in der DDR verließen. Es gab damals Tage, an Menschen in der DDR damals leben mußten. :zurück, durch eine Politik des Neuen Kurses Ostdeutschland genommen worden war denen sich bis zu 3.000 Menschen als Als die SED den „Aufbau des Sozialismus" die Lage zu entschärfen. ohne Vorhandensein der dafür notwendigen Flüchtlinge in den Notaufnahmelagern West- proklamierte, belief sich das monatliche realen sowohl innen- als auch außen- Berlins meldeten. Durchschnittseinkommen eines Produktions- politischen Voraussetzungen". arbeiters auf 313,- Mark. Erbärmlich gerade- Neuer Kurs als Rettungsversuch Der Weg nach West-Berlin war noch nicht zu nahmen sich mit monatlich 65,- Mark die Das Resümee der Analyse: „Die politische blockiert - im Gegensatz zur Flucht über die Alters-, Invaliden- und Unfallrenten und mit Erlauben Sie mir, daß ich darauf näher und ideologische Arbeit, geführt unter der Zonengrenze, die Deutschland damals teilte. 55,- Mark die Witwenrenten aus. eingehe, weil sich daran das Zusammenspiel Lenkung der SED, entspricht nicht den Nach zwei Verordnungen des Ministerrates zwischen den deutschen und den sowjeti- Aufgaben der Stärkung der Deutschen vom 26. Mai und 9. Juni 1952 wurde sie Solche Löhne und Renten waren um so schen Kommunisten anschaulich machen Demokratischen Republik. Insbesondere hermetisch abgeriegelt. Damals entstanden drückender, als wichtige Grund- läßt. Die Krise im Staat der SED wurde im wurden ernste Fehler in bezug auf die eine Sperrzone entlang der Demarkationslinie nahrungsmittel in der DDR damals noch Kreml immerhin so ernst genommen, daß sie Geistlichen begangen, die in einer Unter- zur Bundesrepublik, ein zehn Meter breiter rationiert waren. Es gab noch Lebensmittel- Ende Mai 1953 Gegenstand einer Beratung schätzung des Einflusses der Kirche unter Kontrollstreifen und ein 500 Meter tiefer karten, während der Einkauf zusätzlicher im Politbüro der KPdSU gewesen war. Das den breiten Massen der Bevölkerung, in Schutzstreifen, ergänzt durch ein fünf Lebensmittel in den Läden der staatlichen Ergebnis war ein förmlicher Beschluß: „Über groben Administrierungsmaßnahmen und Kilometer tiefes Sperrgebiet im DDR- Handelsorganisation „HO" Arbeitern und Maßnahmen zur Gesundung der politischen Repressalien ihren Ausdruck fanden." Hinterland. Man kennt die todbringenden Rentnern wegen der für sie unzumutbar tage in der Deutschen Demokratischen Grenzsicherungsanlagen, die hernach an der hohen Preise keinen Ausgleich bieten Republik". Verständlich, daß die dreiköpfige Delegation Demarkationslinie nach und nach installiert konnte. der SED bedrückt und niedergeschlagen wurden. Dieses Dokument, das bis zur friedlichen nach Ost-Berlin zurückkehrte. Hier wurde Eine seit Herbst 1952 sich zuspitzende Revolution in der DDR strengster Geheim- unverzüglich das Politbüro der SED zu I n späteren Jahren der DDR ist diese dramati- Versorgungskrise verschärfte sich weiter, als baltung unterlag, wurde besagter Delegation Krisensitzungen einberufen. Es trat am 5. sche Entwicklung, eine „Abstimmung mit die Regierung am 20. April 1953 Preis- aus Ost-Berlin in Moskau übergeben und mit und 6. Juni zu vielstündigen Beratungen den Füßen", nur noch einmal übertroffen erhöhungen für Fleisch und Wurst, für ihr diskutiert. Die Einschätzung der deut- zusammen, in denen die Diskussionen in worden: 1989, als mit nahezu 350.000 Süßwaren und andere Lebensmittel anordne- schen Situation war nicht beschönigend. Die Moskau und der Beschluß des Politbüros der Menschen mehr Leute den ungeliebten Staat te. Elf Tage zuvor waren bestimmte sowjetischen Genossen entwarfen ein KPdSU ausgewertet und erörtert wurden. verlassen haben als in jedem anderen Jahr Bevölkerungsgruppen bereits vom Empfang ungeschminktes Bild: Botschafter Wladimir Semjonow, damals zuvor. von Lebensmittelkarten überhaupt ausge- sowjetischer Hochkommissar in Deutschland, schlossen: Kleinunternehmer, selbständige "Infolge der Durchführung einer fehlerhaften nahm aktiv daran teil. Im Ergebnis veröffent- Den letzten, in gewisser Weise durchaus Gewerbetreibende, Hausvermieter und politischen Linie ist in der Deutschen Demo- lichte das Politbüro der SED am 9. Juni ein entscheidenden Anstoß zum Aufstand vom andere „nicht in der Produktion Tätige". kratischen Republik eine äußerst unbefriedi- Kommuniqué, i n dem - gegen den ausdrück- 17. Juni lieferte die Regierung der DDR, als gende politische und wirtschaftliche Lage li chen Rat Walter Ulbrichts - die Politik der sie am 28. Mai 1953 „eine Erhöhung der für Als die SED in dieser Situation höhere entstanden Unter den breiten Massen der Partei öffentlich als fehlerhaft kritisiert und die Produktion entscheidenden Arbeits- Arbeitsnormen erzwingen wollte, die Bevöl kerung, darunter auch unter den ein Neuer Kurs proklamiert wurde.

38 39 Zwei Tage später wurde durch Beschluß des Eindruck entschied sich das Politbüro für die Städte die Hochburgen der Arbeiter- Am 17. Juni 1953 und ih den Tagen danach Ministerrates der Neue Kurs offizielle Rücknahme der administrativen Normen- bewegung. In der Weimarer Republik hatten wurden insgesamt nahezu 600 Großbetriebe Regierungspolitik. Ein Mißerfolg war indes erhöhung. Immer wieder wurde der Beschluß KPD und SPD dort die größten Wahlerfolge i n Ost-Berlin und in der DDR bestreikt. Wo vorprogrammiert. Denn während durch den am Nachmittag und frühen Abend über den erzielt. Es waren dieselben Städte, wie eine die Arbeiter die Betriebe verließen und auf Neuen Kurs Bauern, Kleinunternehmern, Berliner Rundfunk verbreitet, aber er vergleichende Analyse ergibt, in denen es im die Straße gingen, rissen sie sofort Angehöri- Gewerbetreibenden und Handwerkern erreichte die Arbeiter nicht. Sie ließen sich revolutionären Herbst 1989 zu Groß- ge anderer Bevölkerungsschichten mit sich. Zugeständnisse gemacht wurden, sah sich nicht beschwichtigen. Überall und immer demonstrationen und Massenkundgebungen gerade die Arbeiterschaft, „die herrschende wieder wurde auf Plätzen und in den Straßen mit Teilnehmerzahlen in fünf- und Wie in Ost-Berlin, so folgte in der mittel- und Klasse", getrogen. Ausgerechnet die Ost-Berlins zum Generalstreik am nächsten sechsstelliger Größenordnung gekommen ist. ostdeutschen Provinz dem Streik die Demon- Erhöhung der Arbeitsnormen war nicht Tag aufgerufen. Das Drama des Aufstands Das war kein historischer Zufall. Die Erklä- stration. Die Forderungen der Massen zielten zurückgenommen worden. Als sie die DDR- hatte begonnen. rung dafür sehe ich in der politischen nun nicht mehr auf die Lockerung der Gewerkschaftszeitung „Tribüne" in ihrem Bewußtheit der Menschen in diesen Städten Normenschraube. Sie haben sich frühzeitig Leitartikel vom 16. Juni sogar ausdrücklich als „Schonungslos müssen wir feststellen: Die und Regionen. politisiert und lauteten zum Beispiel: „Rück- „in vollem Umfang richtig" bekräftigte und Provokationen am 17. Juni haben die Partei tritt der Regierung", „Nieder mit Ulbricht rechtfertigte, war der kritische Punkt erreicht. überrascht! " Ulbricht hat das später vor dem Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen und Grotewohl", „Freiheit den politischen Zentralkomitee der SED eingestanden. In den revolutionären Bewegungen 1953 und Gefangenen", „Freie Wahlen". Und für völliger Fehleinschätzung der Krise hatten die 1989. Ein wesentlicher Unterschied besteht Hunderttausende verband sich die Forderung Vom Protest der Bauarbeiter zum Sowjets wie die SED die Konfliktsituation mit darin, daß der Juni-Aufstand von Betrieben nach freien Wahlen mit der Hoffnung auf Massenaufstand dem Neuen Kurs und der Korrektur in der und Baustellen ausging, in denen die Wiedervereinigung Deutschlands. In Berlin Normenfrage bewältigt geglaubt. Nun Arbeiter streikten. Zu Streiks kam es 1989 symbolisierte sich dies in einem unüberseh- Nach einzelnen Streikaktionen in den Tagen mußten sie erleben, wie die Maurer und nicht. Die Arbeiter waren die treibende Kraft, baren Zeichen, als Demonstranten am späten zuvor legten die Bauarbeiter an den Berliner Zimmerleute nicht nur von der Stalinallee, sie gaben dem Aufstand vom 17. Juni Vormittag des 17. Juni das Brandenburger Großbaustellen Friedrichshain und Stalinallee sondern nahezu aller Großbaustellen im revolutionäre Dynamik. Der revolutionäre Tor erkletterten, die auf seiner Krone gehißte am 16. Juni die Arbeit nieder. Streik hieß die Osten Berlins in den Streik traten - und wie Prozeß 36 Jahre später ging nicht allein von rote Fahne herunterrissen, sie zerfetzten und Parole. Eine Resolution wurde verfaßt und sich die Arbeiter vieler Berliner Großbetriebe der Arbeiterschaft aus, obwohl sie ein- verbrannten und durch die Nationalflagge beschlossen, sie zum Gewerkschaftshaus in mit ihren Kollegen in der weißen Arbeitskluft gebunden war, sondern er wurde von Schwarz-Rot-Gold ersetzten. der Wallstraße zu bringen. Auf dem Marsch solidarisierten. vornherein von Menschen aus allen gesell- dorthin schwoll der Protestzug der Bauarbei- schaftlichen Schichten und Gruppen getra- Fatalerweise ist der nationale Aspekt des ter von der Stalinallee zu einer Und nicht nur das. Dank des RIAS, des gen. Juni-Aufstandes in den siebziger und vielhundertköpfigen Demonstration an. Die Rundfunks im amerikanischen Sektor von achtziger Jahren bis zur Endzeit der DDR Maurer und Zimmerleute anderer Baustellen Berlin, und anderer Westsender am Abend Nach Angaben des Ministerpräsidenten Otto weithin verdrängt worden aus dem öffentli- solidarisierten sich mit ihren streikenden des 16. Juni und in der Nacht zum 17. Juni Grotewohl wurde am 17. Juni 1953 in 272 chen Bewußtsein der Alt-Bundesrepublik - Kollegen. Als die Arbeiter die Ostberliner von dem Geschehen in Ost-Berlin wohl- Städten und Ortschaften der DDR gestreikt. oder jedenfalls aus der veröffentlichten Zentrale des FDGB verriegelt und verschlos- i nformiert, wurden Hunderttausende von Heute ist erwiesen, daß diese Zahl gefälscht Meinung. Dabei vollzog sich 1953 eine sen fanden, zogen sie weiter zum „Haus der Arbeitern auch in der Provinz von Streik- war. Nach heute zugänglichen Unterlagen ähnliche Dialektik wie 36 Jahre später: Die Ministerien" in der Leipziger Straße. stimmung ergriffen. Binnen Stunden breitete des DDR-Innenministeriums waren tatsäch- Forderungen nach freien Wahlen schlugen sich der Streik von Berlin auf die wichtigsten li ch 373 Städte und Ortschaften betroffen. um in das Verlangen nach nationaler Einheit. Um die Mittagszeit des 16. Juni sammelte I ndustriereviere der DDR aus - zunächst auf Gestreikt wurde in elf von vierzehn Bezirks- sich hier eine nach Tausenden zählende, die Industriestädte und Gemeinden rings um städten sowie in Ost-Berlin und in 113 von Auch Unruhen und Aufruhr blieben im aufgebrachte Menschenmenge. Reden Berlin, auf Brandenburg, Hennigsdorf, 181 Kreisstädten - Zahlen, die der Potsdamer Verlauf der Demonstrationen am 17. Juni wurden gehalten. Proteste wurden laut. Kirchmöser, Ludwigsfelde, Potsdam und Historiker Torsten Diedrich publik gemacht 1953 nicht aus. In Magdeburg, Halle und „Nieder mit den Normen" - das war die Rathenow, Cottbus, hernach auch auf hat. Leipzig, in Bitterfeld und Jena, in Niesky und ursprüngliche Losung. Und sodann: „Freie Rostock, auf Magdeburg, Halle und Görlitz besetzten aufgebrachte Demonstran- Wahlen". Ulbricht und Grotewohl, nach Merseburg, Bitterfeld und Leipzig, auf ten öffentliche Gebäude. Selbst Gefängnisse denen die Demonstranten verlangten, Dresden, Niesky, Görlitz, Erfurt, Gotha, Jena. Der soziale Protest wird zum Kampf für wurden erstürmt und mehr als 1.300 verweigerten sich. Sie berieten sich in diesen Die Zentren des Aufstands wenigstens sind die nationale Einheit Häftlinge befreit. In zwei Fällen kam es zu Stunden wie an jedem Dienstag im Politbüro beim Namen zu nennen. Lynchjustiz an Stasi-Mitarbeitern: in Jena und der SED, ohne den Ernst der Situation zu Bei aller Spontaneität und Vielfalt der i n Rathenow. begreifen. Die Namen einiger Städte erinnern daran, Geschehnisabläufe zeichnete sich während daß es zu den stärksten Demonstrationen, zu des Juni-Aufstandes ein- und dasselbe I m Laufe des 17. Juni, teilweise auch erst am Während der Demonstration vor dem „Haus den leidenschaftlichsten Kundgebungen in Grundmuster ab: Der soziale Protest gegen 18. Juni, verhängte die sowjetische Besat- der Ministerien" kam schließlich die Losung den Industriestädten mit hochqualifizierter die Erhöhung der Arbeitsnormen schlug zungsmacht über Ost-Berlin und weite Teile des Generalstreiks auf. Und erst unter diesem Facharbeiterschaft kam. Einst waren diese zumeist frühzeitig in politischen Protest um. der DDR den Ausnahmezustand. Alles in 40 41 allem kamen 13 der 14 Bezirkshauptstädte, ten konnte. Er blieb die Nummer eins der Kindern, in Dresden durch Enthauptung Eine solche Sicht mag heute als Versuch 51 Kreisstädte und darüber hinaus ganze Partei auch nach dem Aufstand, was zur exekutiert. erscheinen, nachträglich etwas in die Bezirke und Landkreise unter Kriegsrecht. Da Folge hatte, daß die Politik des Neuen Kurses historische Entwicklung hineinzudeuten, das dem Aufstand in seiner Spontaneität jede allmählich Schritt um Schritt auf wohl- ohne Beziehung zur Realität ist. Deshalb, um Planung und Leitung fehlte, jede über- kalkulierte Zugeständnisse verkürzt wurde. Die Signalwirkung des Aufstands diesen Verdacht auszuräumen, erlaube ich regionale Koordination und Organisation, Schon das 15. Plenum des ZK der SED, das mir zu zitieren, was ich schon 1978 geschrie- hatten die russischen Truppen, die mit nach dreitägiger Beratung am 26. Juli 1953 Vordergründig betrachtet war der Aufstand ben habe, ein Vierteljahrhundert nach dem Panzern, Schützenpanzerwagen und beendet wurde, ließ erkennen, daß nicht die vom 17. Juni also gescheitert. Armin Mitter Juni-Aufstand - nämlich dies: Mannschaftsfahrzeugen in die Zentren des Strategie, sondern nur die Taktik der SED und Stefan Wolle sprechen in ihrem jüngsten Aufstands einfuhren, keine Schwierigkeiten revidiert werden sollte: „Es war auch richtig, Buch, übrigens im Widerspruch zu seinem „Die letzthin entscheidende Lehre des 17. bei der Wiederherstellung einer „festen daß unsere Partei Deutschland auf den Weg Titel „Untergang auf Raten", von der Juni 1953 besteht darin, daß die Mächtigen öffentlichen Ordnung". des Sozialismus führte und in der Deutschen „gescheiterten Revolution des Jahres 1953" i n Moskau nicht zögerten, die Aufstands- Demokratischen Republik mit der Errichtung schlechthin. Aus historischer Perspektive bewegung in Ost-Berlin und der DDR mit der Grundlagen des Sozialismus begann", las gesehen muß ich dieser Einschätzung bewaffneter Gewalt niederzuschlagen. Ein Die Niederschlagung des Aufstands man in einer Entschließung. Und: „Diese widersprechen. Zwar hat der Aufstand und neuer Aufstand in der DDR könnte folglich Generallinie der Partei war und bleibt sein tragisches Ende der Arbeiterschaft wie nur zum Ziel eines Machtwechsels führen, Hinter der formalen Macht der SED war die richtig." Viel hatte die SED nicht hinzu- der gesamten Bevölkerung im Staat der SED wenn die dort stationierten Sowjettrupps reale Macht sowjetischer Waffen hervor- gelernt. bewußtgemacht, daß sie 1953 auf sich allein Gewehr bei Fuß bleiben. Dieser Fall ist nach getreten. Regional unterschiedlich dauerte gestellt blieben, als sich die „levée en masse" den Erfahrungen in Ungarn 1956 und der der Ausnahmezustand bis zu dreieinhalb Demgemäß wurde die DDR in den Wochen entfesselt hatte. Und gewiß hat diese Tschechoslowakei 1968 höchst unwahr- Wochen. Mindestens 18 Aufständische und Monaten nach dem Aufstand auch von Erfahrung in der Folgezeit die Anpassung in scheinlich, zugegebenermaßen, aber wurden standrechtlich erschossen. Auch gezielter politischer Verfolgung überzogen. der DDR, das Sich-Arrangieren mit dem undenkbar ist er nicht. Aus ihrer eigenen russische Offiziere und Soldaten, schätzungs- Tausende sogenannter „Provokateure" und Regime, nachhaltig begünstigt. Aber Interessenlage heraus könnten sich die weise zwanzig bis vierzig, wurden wegen „Rädelsführer" wurden festgenommen - zu gleichwohl war mit der Erhebung vom 17. Sowjets eines Tages zur Zurückhaltung Befehlsverweigerung am 17. Juni oder rund zwei Dritteln übrigens rekrutierten sie Juni aller Welt vor Augen geführt, daß ein entschlossen zeigen - sei es, um dem Risiko danach füsiliert. sich aus Arbeitern - und etwa 1.600 wurden revolutionärer Aufbruch im Stalinismus eines internationalen Konflikts auszuwei- von DDR-Gerichten zu teilweise hohen Realität geworden war. Das war ein chen, es es aus inneren Gründen, etwa Aufs Ganze gesehen bewiesen die Aufständi- Freiheitsstrafen, in mehreren Fällen zum Tode Politikum, mit dem alle Machthaber im i nfolge von Machtkämpfen im Kreml". schen ihren ursprünglichen Sinn für das verurteilt. Der Gärtner Ernst Jennrich aus Kreml, nicht nur in Ost-Berlin, fortan rechnen politisch Mögliche, als sie ihre Proteste und Magdeburg, der sich in der Elbestadt an mußten. Aus dieser Sicht war der Aufstand I n der DDR war es 1989 soweit. Anders als Demonstrationen, ihre Aktionen und Demonstrationen und an Tumulten vor dem vom 17. Juni - mit den Worten von Heinz 36 Jahre zuvor hielt die Westgruppe der Attacken nahezu ausschließlich gegen die Gefängnis Sudenburg beteiligt hatte, wurde Brandt - durchaus „ein erstes Fanal, etwas sowjetischen Streitkräfte in der DDR ihre SED richteten, gegen deren Macht- zunächst zu lebenslänglichem Zuchthaus noch nie Dagewesenes, Keimform des Truppen in den Kasernen, als die Menschen mißbrauch, gegen deren radikale Politik - verurteilt, weil - wie das Bezirksgericht in Neuen". in Leipzig, in Ost-Berlin und anderswo auf die nicht gegen „die Russen". Das wäre in der einem erstinstanzlichen Urteil feststellte - die Straße gingen. Das Schicksal der SED- Tat auch sinnlos gewesen. Umgekehrt i hm angelastete Tötung eines Volkspolizisten Der 17. Juni stellt sich, so betrachtet, als Diktatur war damit besiegelt. zeigten sich auch die sowjetischen Truppen nicht hatte nachgewiesen werden können. Wetterleuchten einer neuen Zeit dar, als i m Gebrauch der Waffe verhältnismäßig Nach Intervention Hilde Benjamins wurde das Menetekel eines Emanzipationsprozesses, Einleitend habe ich daran erinnert, welche zurückhaltend. Militärische Gewalt wurde Urteil durch Protest des Staatsanwaltes der Ost- und Südeuropa erfassen sollte, Schwierigkeiten mit der historischen Wahr- eher demonstriert als exekutiert. Ein Blutbad angefochten. In zweiter Instanz erkannte das zuletzt die Sowjetunion selbst. Streiks in den heit die Herrschenden der DDR hatten, wie wurde vermieden. Mindestens 24 Menschen Bezirksgericht - einer Weisung des Obersten Arbeitslagern von Workuta und Karaganda sie jahrzehntelang versucht haben, die kamen gleichwohl durch sowjetischen Gerichts folgend - auf Todesstrafe. In seinem i m Sommer 1953, Streiks und Unruhen in Erinnerung an den 17. Juni aus dem Ge- Waffeneinsatz bei Unruhen zum Tode - Protest argumentierte der Staatsanwalt unter Polen 1956, der Volksaufstand in Ungarn im dächtnis des Volkes zu verdrängen. Ihr weitere acht durch die Volkspolizei. anderem damit, eine lebenslängliche Herbst des gleichen Jahres, der „Prager Bedürfnis nach politisch-ideologischen Zuchthausstrafe sei nicht geeignet, „unserer Frühling" 1968, Streiks in Polen 1970, die Verfremdungen der Realität entsprang dem Binnen kurzer Zeit war der Aufstand nieder- Ordnung und unseren Staatsorganen den „Solidarnosc"-Bewegung der achtziger Trauma, zu dem der Juni-Aufstand für sie geworfen und zusammengebrochen. Unter erforderlichen Schutz zu geben, da bekannt- Jahre, die Umwälzung in Ungarn, der geworden war. Dieser Trauma hat ihre dem Schutz sowjetischer Waffen neu lich Verbrecher dieser Art eine Strafe auf Tschechoslowakei und zuletzt in allen Ängste bis zur Endzeit des Regimes be- ermutigt, ging die Führung der SED zur Lebenszeit als zeitlich begrenzt betrachten, Warschauer Pakt-Staaten erscheinen so als stimmt. Gegenoffensive über - eine Führung, in der weil sie stets mit Regimewechsel und verschiedene Etappen ein und desselben sich Walter Ulbricht nach einem Machtkampf Umsturz rechnen und hierdurch ihre Befrei- revolutionären Prozesses. In der DDR „Ist es so, das morgen der 17. Juni aus- mit der um Wilhelm Zaisser und Rudolf ung erwarten".- Am 20. März 1954 wurde mündete er in die Erhebung des Herbstes bricht?" - Erich Mielke fragte dies laut Herrnstadt gruppierten Opposition behaup- Ernst Jennrich, 42 Jahre alt, Vater von vier 1989. Wortprotokoll einer Dienstbesprechung im 42 43 Kreis seiner Obristen und Generale am 31. August 1989 in der Zentrale des Ministeri- ums für Staatssicherheit in Ost-Berlin. Was DER 17. JUNI IM WESTDEUTSCHEN BEWUSSTSEIN aber antwortete dem Minister für Staats sicherheit einer seiner Paladine?:

„Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da!" Sechs Wochen später war Erich Honecker als Staats- und Parteichef entmachtet, die Herrschaft der SED de facto zusammenge- Dr. Bernd Faulenbach Es ist keineswegs zufällig, welchen histori- brochen. Die Staatssicherheit hatte den Universität Bochum, Vorsitzender der schen Ereignissen in Gesellschaften und revolutionären Aufbruch in der DDR, die Historischen Kommission der Nationen hohe Symbolkraft beigemessen friedliche Revolution im Herbst 1989 so Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde wenig voraussehen oder gar verhindern wenige Wochen später bereits in der können, wie seinerzeit die Erhebung im Juni Bundesrepublik zum Staatsfeiertag erhoben. 1 953. Auch diese Erkenntnis gehört zur War das Ereignis „17. Juni" fortan für das Geschichte des ersten Arbeiteraufstandes politische Selbstverständnis der Westdeut- gegen die kommunistische Diktatur im schen zentral? Wie wurde es im Laufe der sowjetischen Imperium. Jahre gesehen, inwieweit veränderte sich sein Bild? Trat so etwas wie eine „Historisierung" des Ereignisses ein? Und in welcher Weise wurde das Geschehen des 17. Juni mit der jeweiligen Gegenwart in Beziehung gesetzt? Wie wurde in den Jahren zwischen 1953 und 1989 der „Gedenktag" begangen? Die Beantwortung dieser Fragen durch Untersuchung von Reden und publizistischen Beiträgen über den 17. Juni 1953 bis heute kann Aufschluß geben über

- Veränderungen des Geschichtsbewußtseins und politischer Grundorientierungen in Westdeutschland - das Verhältnis der Westdeutschen zu den Ostdeutschen - das gesamtdeutsche Bewußtsein und das Bewußtsein deutscher Identität - Veränderungen der politischen Kultur in der Bundesrepublik.

Die Beantwortung der Fragen führt hinein in eine Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte. Der 17. Juni, samt seiner Vor- und Nach- geschichte, stellt ein vielfältiges nicht nur in Berlin, sondern in zahlreichen Orten - Städten wie Dörfern - ablaufendes Gesche- hen dar, mit Versammlungen, Streiks, Demonstrationen, gewaltsamen Aktionen, der Niederschlagung der Bewegung durch sowjetische Truppen und beträchtlichen 44 45 Nachwirkungen. Charakteristisch ist die Opfer statt, bei denen der Bundespräsident, Ollenhauers und anderer führender Sozialde- an diesem Ziel konkret ausgerichtete Politik. Gleichzeitigkeit des Geschehens auf der der Minister für gesamtdeutsche Fragen und mokraten nicht auf der Basis der deutschen Die Wiedervereinigungsfrage wurde zur betrieblichen und der öffentlichen Ebene, der Berliner Regierende Bürgermeister Teilung erfolgen. bundesrepublikanischen Integrationsidee, die das Nebeneinander einer Vielzahl von sprachen. i nsbesondere am 17. Juni manifest wurde. So Losungen und die Unterschiedlichkeit in den Nach dem 17. Juni 1953 hoben Herbert gehört es zu den tragischen Folgen des 17. Formen der Auseinandersetzung. Dies alles Wenige Tage später war es Herbert Wehner, Wehner und Willy Brandt im Bundestag den Juni 1953, daß durch ihn de facto die macht es schwer, den „17. Juni" auf den der die Initiative ergriff, den Tag der blutigen proletarischen Charakter des Aufstandes deutsche Teilung vertieft wurde, obwohl der Begriff zu bringen, das Geschehen zeichnet Ereignisse zum Gedenktag zu erklären. Aus hervor, auch das nationale Engagement der Aufstand letztlich auf die Wiederherstellung sich durch Vieldeutigkeit aus. So wird bis der Sicht der Sozialdemokratie hatten die ostdeutschen Arbeiter und das Vertrauen, der deutschen Einheit gezielt hatte. Der heute von einem Arbeiteraufstand, einem Arbeiter für Freiheit und Einheit gestreikt und das die SPD in der ostdeutschen Arbeiter- Feiertag wurde zum Surrogat für die ausblei- Volksaufstand, einer Volkserhebung, einer waren dafür gestorben. Die Arbeiter bildeten klasse finde. Die Sozialdemokraten konnten bende Wiedervereinigung, die zu fordern für Revolte oder auch von einer gescheiterten gleichsam die nationale Klasse. Adenauer, gute Belege für ihre Interpretation beibrin- alle Parteien in den 50er Jahren selbstver- Revolution gesprochen. Der Aufstand, in die Bundesregierung und die sie tragenden gen. Erinnert sei an das Geschehen auf der ständlich war. dessen Zentrum die Arbeitermassen standen, Parteien konnten sich dem Vorschlag der SPD betrieblichen Ebene, an die Streiks und an enthielt eine Dynamik, die auf die Ablösung nicht entziehen, obgleich eine gewisse die auch nach dem 17. Juni anhaltenden In den 50er Jahren wurde bei „Feierstunden" der Regierung, auf die Abschaffung des Stoßrichtung gegen Adenauers West- Auseinandersetzungen. Natürlich ging es kommunistischen Systems und - mit der i ntegrationspolitik nicht zu verkennen war. dabei auch um die Legitimation sozial- zum 17. Juni vorrangig der Wille zur Wieder- Forderung nach freien Wahlen - auch auf die Am 2. Juli beschloß der Bundestag gegen die demokratischer Politik, die sowohl auf die vereinigung bekundet. Am 17. Juni 1955 Wiedervereinigung zielte. So kann der 17. Stimmen der Kommunisten ein Gesetz, das Wiedervereinigung zielte als auch pointiert i nterpretierte der Historiker Gerhard Ritter Juni den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag antikommunistisch orientiert war. den Aufstand von 1953 als Bestätigung, machte. In der Präambel heißt es: „ Am 17. „daß alle Volksgruppen, alle Schichten, alle - in die Geschichte der deutschen Arbeiterbe- Parteien des deutschen Volkes in einem wegung als Kampf für die Rechte der Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der Der Aufstand schien freilich aus der Sicht sowjetischen Besatzungszone und in Punkt sich vollkommen einig sind: in dem Arbeiter vieler Westdeutscher die Adenauersche Willen zur Wiedervereinigung in Freiheit und - in die „Volksgeschichte" als Freiheitskampf Ostberlin gegen die kommunistische Gewalt- Westintegrationspolitik zu bestätigen. herrschaft erhoben und unter schweren Jedenfalls gewann die CDU die Bundestags- Frieden". Ritter bejahte die - der Bundesre- - in die deutsche Nationalgeschichte als publik Recht und Freiheit garantierende - Manifestation des Einheitswillens Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. wahl 1953 und erreichte 1957 sogar die Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der absolute Mehrheit. Angesichts der sowjeti- Westintegrationspolitik, betonte aber - in die Reihe antistalinistischer Aufstände im zugleich: „Die deutsche Vaterlandsliebe ist sowjetischen Herrschaftsbereich deutschen Einheit und Freiheit geworden." schen Politik und der SED-Politik, deren Der Tag des Aufstands in der DDR wurde Gewaltcharakter in den Ereignissen des 17. unteilbar wie das deutsche Vaterland selbst. eingeordnet werden. damit zum Nationalfeiertag in der Bundesre- Juni besonders deutlich geworden war, Die Geschichte eines Jahrtausends, die uns publik, an dem alljährlich Gedenk- schien eine enge Anlehnung der Bundesre- zu einer Nation zusammengehämmert hat, Es ist interessant, die Verschiebung zwischen veranstaltungen stattfanden. publik an den Westen allzu begründet. Diese l äßt sich nicht mit Federstrichen der Diploma- den verschiedenen Komponenten, die in den Anlehnung entsprach dem Sicherheits- ten, wie es von Teheran bis Potsdam versucht Ereignissen enthalten sind, in der Interpretati- Die Beurteilung des 17. Juni differierte in den bedürfnis der Westdeutschen, ordnete wurde, einfach hinwegwischen." on des 17. Juni von 1953 bis heute zu 50er Jahren partiell zwischen Regierung und jedoch die Wiedervereinigungsfrage klar der beobachten. Opposition und entsprach dabei den Westintegration nach. Adenauer hielt die In den Reden vor dem Bundestag in jenen unterschiedlichen deutschlandpolitischen Westintegration - wie er 1955 Kirkpatrick, Jahren, bei denen häufig Historiker oder Positionen. So sah sich die Sozialdemokratie dem ranghöchsten Beamten des Foreign andere angesehene Gelehrte sprachen, war Die Bedeutung des 17. Juni in den als die Partei, die gegen die soziale Reaktion Office und früheren britischen Hoch- das Bemühen unverkennbar, die verschiede- fünfziger Jahren i m Westen und die Diktatur im Osten die kommissar in Deutschland, mitteilen ließ - für nen Ziele deutscher Politik und ihr Verhältnis Wiedervereinigung durchzusetzen hatte. ungleich wichtiger als die Wiedervereinigung, zueinander zu bestimmen: die Wiederher- Der 17. Juni 1953 ging - trotz erheblicher Herbert Wehner, seit 1949 Vorsitzender des da aus seiner Sicht nur auf diese Weise eine stellung der nationalen Einheit, die europäi- Unsicherheit in der Beurteilung - auch den Gesamtdeutschen Bundestagsausschusses, politische Neuorientierung der Deutschen sche Integration, die Realisierung des Westdeutschen unter die Haut. Zwar waren stellte schon 1950 fest, die SPD sei festgelegt möglich war. Selbstbestimmungsrechtes, die Bewahrung die Medien noch nicht wie heute all- „auf die heilige Verpflichtung, wenn es nicht von Freiheit und die Überwindung kommuni- gegenwärtig, doch berichteten Rundfunk anders ist, als die einzigen in der Welt, die Gewiß haben Adenauer und die Bundes- stischer Diktatur. Dabei wurde die Hoffnung und Zeitungen über die Geschehnisse. Dabei Wiedererringung der Vereinigung unseres regierungen die Wiedervereinigung ständig sichtbar, Freiheit und Einheit erreichen zu war der Blick vor allem auf Ost-Berlin Landes, mit unseren Schwestern und als zentrales Ziel westdeutscher Politik können. Eher selten wurde - wie von Hans gerichtet. Auch Regierung und Parteien Brüdern, zu unserer Hauptaufgabe zu betont. In den Gedenkfeiern am 17. Juni Rothfels 1958 in einer Tübinger Rede - offen waren tief aufgewühlt. Sie reagierten mehr machen." Zwar traten auch die - traditionell wurde dieses Ziel in den 50er Jahren stets festgestellt: „So sehr wir eine Entflechtung oder weniger hilflos und ohnmächtig. Am westlich orientierten - Sozialdemokraten für feierlich proklamiert, durch den Feiertag der Blöcke wünschen müssen, so sicher ist, 21. und 23. Juni fanden in Bonn und Berlin die europäische Vereinigung ein, doch geradezu die Wiedervereinigungsforderung daß wir auch und gerade um der Menschen Gedenk- und Trauerveranstaltungen für die konnte diese aus der Sicht Schumachers, ritualisiert. Doch entsprach dem Ritual keine willen, ein Opfer nicht bringen und einen

46 47 Preis nicht zahlen können, wir dürfen nicht Gerade die Unmöglichkeit der Wieder- I n den Reden zum 17. Juni in den 60er uns kommen, daß sie verstanden werden, Einheit für Freiheit kaufen." vereinigung in überschaubarer Zeit schien die Jahren wurde das Unbehagen am Gedenk- einmal als Ausdruck von Menschen, leben zu Bedeutung des 17. Juni als Gedenktag zu tag und an seinen Ritualen, die kaum mehr dürfen in Freiheit, wie sie im Zusammenleben Was das Bild des 17. Juni 1953 anbetrifft, so unterstreichen. Heinrich Lübke forderte zur konkreten Gestaltung des Tages durch von Menschen möglich ist, wenn man sich wurde der Aufstand häufig als Aufstand der 1963, den Tag so zu gestalten, „daß sich die Masse der Bundesbürger paßten, über die Ordnung verständigt, in der es Arbeiter dargestellt, wenn sich auch der unserem Volk und insbesondere unserer geradezu zu einem Topos der Gedenkreden. geschehen kann, und zum anderen als Begriff „Volksaufstand" durchsetzte. Jugend Ursprung und Sinn dieses Gedenk- So sprach Bundeskanzler Kurt Georg Ausdruck der Qual der Menschen, die, allein Ohnehin betrachtete die Sozialdemokratie tages in ganzem Umfang erschließt ... Jeder Kiesinger in seiner Rede zum 17. Juni 1967 gelassen, der Gewalt unterliegen." Auch „Arbeiter" und „Volk" traditionell nicht als einzelne muß spüren, daß er bereit sein muß, nicht nur von einer „Art Gleichgültigkeit, die Wehner hob hervor, daß der Tag zum Gegensatz. Allmählich trat jedoch die mit der ganzen Kraft des Verstandes und des an Gewissenlosigkeit grenzte", sondern auch politischen Handeln auffordere, verwies auf Betonung der Rolle der Arbeiter zurück, Herzens gegen die Teilung unseres Landes von „glatt eingespielten Denkgewohnheiten die Erklärungen der Westmächte, betonte i nsbesondere in politischen Reden kam das einzutreten." und einem bequemen Formelkult, der das das Selbstbestimmungsrecht und brandmark- Geschehen am 17. Juni 1953 nur klischiert in tönende Wort an die Stelle mühevollen te die DDR als Entspannungs- und Friedens- den Blick. Eindeutig war die antikommunisti- Gleichwohl geriet der Gedenktag - wie die Denkens und Handelns setzt". Und er fügte störer. Er warnte vor dem „folgenschweren sche Stoßrichtung. So beschäftigte sich etwa bisherige Deutschlandpolitik - in den 60er hinzu: „Keine Gelegenheit verführt die dafür I rrtum, dabei zu verharren, man könne in der Historiker Werner Conze in seiner Rede Jahren zunehmend in die Krise. Die Reden Anfälligen zu dieser Torheit eher als die Europa ruhig schlafen, solange Deutschland am 17. Juni 1960 mit dem Zusammenhang bekundeten auf hohem Niveau Ratlosigkeit. jährliche Wiederkehr dieses Gedenktages." geteilt bleibt." Zugleich forderte er von sowjetischem Imperialismus und Die Jahreszeit machte für die Bundesbürger „Zwischenlösungen" zur deutschen Frage. revolutionärer Ideologie. Und vielfach wurde den 17. Juni zu einem Tag der Ausflüge und Kiesinger, der Kanzler der großen Koalition, der Anspruch des „Arbeiterstaates" DDR mit des Vergnügens, nicht der Besinnung und skizzierte auf diesem Hintergrund die 1968 hat erstmals keine offizielle Feierstunde der am 17. Juni 1953 manifesten Ablehnung der Trauer. Zugleich ließ der - unter anderem Grundzüge einer - unter dem Einfluß der i m Bundeshaus mehr stattgefunden und durch die Arbeiter kontrastiert. durch die wirtschaftliche Entwicklung Sozialdemokratie formulierten - neuen Tendenzen verstärkten sich, den 17. Juni als geförderte - Wertewandel unter den Politik, die über Gewaltverzichtsabkommen Staatsfeiertag abzuschaffen. Unverkennbar I nsgesamt läßt sich für die Zeit von 1953 bis Westdeutschen die Idee der nationalen mit der Sowjetunion und den ost- verblaßte die Erinnerung an die Ereignisse 1961 konstatieren, daß die Veranstaltungen Einheit allmählich verblassen. Das wachsende europäischen Ländern langfristig „eine die des 17. Juni 1953; manchen Zeitgenossen zum 17. Juni vom Gedenken an die Opfer Bewußtsein über das Ausmaß der NS- politische Spaltung überwindende Friedens- erschien sie zunehmend unzeitgemäß, das gekennzeichnet waren sowie von Bekundun- Verbrechen verstärkte die Tendenz, sich von ordnung" erreichen könne, in der „auch die heißt, als ein Relikt des kalten Krieges. Der gen des Willens, am Ziel der Wieder- der Idee der Nation abzuwenden. Theodor deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden" Antikommunismus wurde - etwa von der vereinigung festzuhalten, obwohl der reale Schieder fragte 1964: „Haben wir vielleicht würde. Kiesinger korrigierte die bisherige Studentenbewegung - als konstitutives Prozeß in eine andere Richtung lief und sich durch eine unheilvolle Vergangenheit unsere Deutschlandpolitik, wenn er die in der Moment des restaurativen Klimas der 50er die Blockstrukturen verfestigten. ganze bisherige Geschichte, unser morali- Folgezeit häufig wiederholte Einschätzung Jahre betrachtet. Für viele war der Kommu- sches und politisches Recht, eine Nation zu formulierte: „Deutschland, ein wiederverein- nismus keine wirkliche Herausforderung Nach dem Mauerbau 1961 sein und in nationaler Selbstbestimmung igtes Deutschland, hat eine kritische Größen- mehr. Die Wiedervereinigung galt - auch auf unser politisches Leben zu führen, verwirkt?" ordnung. Es ist zu groß, um in der Balance der Ebene politischer Rhetorik - nicht mehr Der Bau der Mauer 1961 führte zwar Nicht zuletzt wirkte sich die normative Kraft der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu als Nahziel der Politik. zunächst zu einer Bekräftigung der bisheri- des Faktischen der Zweistaatlichkeit aus, die klein, um die Kräfte um sich herum selbst in gen politischen Bekundungen, doch länger- i m Westen - zunächst nur in der Publizistik - Einklang zu bringen." Dies aber bedeutete, fristig wirkten sich das Bewußtsein der die Frage entstehen ließ, ob die Behauptung daß bei Fortdauer der bisherigen Block- Die Zeit der sozialliberalen Koalition Ohnmacht und auch die Einsicht, daß die des nationalen Alleinvertretungsanspruches struktur ein vereinigtes Deutschland sich deutsche Frage kurzfristig keinesfalls lösbar der Bundesrepublik wirklich im Sinne der schwerlich nur einer Seite anschließen In der Zeit der sozialliberalen Koalition sei, auf die Manifestation zum 17. Juni aus. Menschen in der DDR war. Traf diese Politik konnte. Deutschlandpolitik war fortan bestimmten auf der politischen Ebene Reden So rief zum Beispiel Konrad Adenauer am 17. nicht nur das System, sondern auch die engstens mit einer Ostpolitik verbunden, die und Debatten zur Lage der Nation und zum Juni 1962 den Berlinern zu: „Stärker als alle Bürger des anderen deutschen Staates? auf die langfristige Überwindung der deutsch-deutschen Verhältnis den 17. Juni, Gewalt ist immer der Geist." Er empfahl, die europäischen Spaltung zielte. wobei insbesondere in den ersten Jahren die Polen zum Vorbild zu nehmen, die 150 Jahre Jedenfalls motivierte der Bau der Mauer und Auseinandersetzung um die „neue Ost- die Idee der Einheit bewahrt hätten, bis sie die Erfahrung der Untätigkeit des Westens Ähnlich wandte sich Herbert Wehner 1968 politik" im Vordergrund stand. Diese Politik die Einheit wiedergewannen. Adenauers die Suche nach Alternativen zur bisherigen auf einer Kundgebung zum Tag der Deut- versuchte durch Anerkennung des Status Beschwörung der Idee der Einheit war Deutschlandpolitik. Willy Brandt und Egon schen Einheit in Berlin, das in dieser Zeit einer quo einen Modus vivendi zwischen den Ausdruck der Tatsache, daß man der Bahr suchten mit ihrer „Politik der kleinen der Schauplätze der Studentenbewegung beiden deutschen Staaten zu erreichen, Wiedervereinigung nicht nur nicht näher Schritte" in Berlin nach Wegen einer neuen war, gegen eine Ritualisierung des Geden- menschliche Erleichterungen durchzusetzen, gekommen war, sondern sie vielmehr auf realistischen Deutschlandpolitik, die pro- kens der Ereignisse vom Juni 1953: „Die das Zusammengehörigkeitsbewußtsein der absehbare Zeit als unerreichbar ansehen grammatisch im Konzept „Wandel durch Ereignisse vom Juni 1953 verlangen von uns Deutschen zu stärken und langfristig den mußte. Annäherung" ihren Niederschlag fand. und werden von denen verlangen, die nach Status quo in einer europäischen Friedens-

48 49 ordnung zu überwinden. Die am 17. Juni Deutschland, nicht zuletzt in Berlin, zugute und der angestrengten Beschäftigung mit Episode gewesen. Auf einer Tagung im Juni gehaltenen Reden waren dezidiert politisch, kam. Sie wirkte de facto der Entfremdung der Freizeit". Anders als andere Freiheits- 1985 meinte Thomas Nipperdey: „Es ist das Geschehen von 1953 wurde meist nur zwischen den Deutschen Ost und West traditionen würden die Ereignisse des 17. durchaus möglich, daß sich die Deutschen in mit wenigen Worten erwähnt (was freilich entgegen. Mit ihr verbunden war eine Juni 1953 verdrängt. Inzwischen sei der Tag den Nachfolgestaaten des Reiches von 1871 nicht ausschloß, daß die historischen Rücknahme der ideologischen Auseinander- der Deutschen Einheit der Gesellschaft der so eingerichtet haben, freiwillig-unfreiwillig, Ereignisse in den Medien dokumentiert setzung. Dies förderte zwar - neben anderen Bundesrepublik „so fremd wie Kaisers daß sie den Status quo hinnehmen, und daß wurden). Faktoren - die Erosion der SED-Herrschaft, Geburtstag oder der Verfassungstag der es mit der deutschen Nation zu Ende geht. doch im Westen entstanden damit partiell Weimarer Republik". Dahinter stünden Aber einstweilen ist diese Frage dispensiert, In seiner Regierungserklärung vom 17. Juni auch Illusionen über die Realität der Verhält- Unwissenheit, intellektuelle Bequemlichkeit i n einer merkwürdigen Schwebelage". 1970 betonte Bundeskanzler Willy Brandt, nisse in der DDR - nicht in den Führungs- und politische Anpassung, abgesehen davon, Während Nipperdey als Folgen des Mangels die schmerzliche Erinnerung an den 17. Juni gruppen der sozialliberalen Koalition, wohl daß es mit nationalen Weihestunden ähnlich nationaler Identität eine Labilität der verdiene, wachgehalten zu werden. Es aber in Teilen der nachwachsenden politi- gehe wie mit christlichen Festtagen: „Der westdeutschen Kultur feststellen zu können bestehe keine Veranlassung, den Willen des schen Generation. In dieser wurde ein Anti- fromme Schauder hat sich verflüchtigt, es glaubte, sahen andere, insbesondere Jürgen Volkes zur Einheit und Freiheit nicht weiter- Antikommunismus, der gegen die blieb die soziale Errungenschaft." Habermas, die Westdeutschen im Prozeß der hin zu bekunden: „Die friedliche Zielsetzung, Totalitarismusthese gerichtet war, geradezu Herausbildung einer postnationalen Identität wie sie in der Präambel zum Grundgesetz vorherrschend. Bedeutsamer jedoch ist, daß Stürmer interpretierte, dem - unter anderem und eines Verfassungspatriotismus schon ein niedergelegt wurde, kann nicht zur Diskussi- auf dieser Politik der KSZE-Prozeß basierte, durch die Arbeit Arnulf Barings geprägten - gutes Stück vorangeschritten, ein Prozeß, der on stehen, noch kann sie zur Disposition der zu den wesentlichen Voraussetzungen Forschungsstand folgend, den 17. Juni als häufig ausgesprochen positiv bewertet gestellt werden." Doch Brandt erinnerte des Wandels in Osteuropa 1989/90 gehört. Arbeiteraufstand, bei dem es nicht nur um wurde. Zwar wurde über nationale Identität auch an das Gefühl der Ohnmacht, das der ein anständiges Leben, sondern auch um das oder postnationale Identität gestritten, die 17. Juni 1953 wie auch der 13. August 1961 „elementare Gefühl von Recht und Gerech- Frage der Wiederherstellung der deutschen bei vielen hinterlassen habe. Nur die allmähli- Nach dem Regierungswechsel 1982 tigkeit" gegangen sei. Aus Stürmers Sicht Einheit spielte jedoch in dieser che Veränderung des Ost-West-Verhältnisses bewies der 17. Juni 1953 nicht nur die westdeutschen Diskussion der 80er Jahre und die schrittweise Verwirklichung einer Nach dem Regierungswechsel 1982 wurden Legitimationsschwäche des SED-Systems, kaum mehr eine Rolle. Entsprechend wenig europäischen Friedensordnung enthalte eine zwar die Gedenkstunden im Deutschen ,sondern machte auch die Nachkriegs- konnte man mit dem „Tag der Deutschen Perspektive für die Deutschen. Die Grenzen Bundestag wieder eingeführt, doch veränder- konstellation bewußt. Er zeigte die Bedeu- Einheit" anfangen. Die politische Entwick- sollten ihre trennende Funktion verlieren, te sich die Sicht der deutschen Frage und tung der DDR als „Feldmacht am westlichen l ung seit den 60er Jahren hatte zu einer was freilich zur Voraussetzung habe, daß i hrer Lösbarkeit kaum. Kennzeichnend war, Rand des Sowjetimperiums", sie sei block- Selbstanerkennung der Bundesrepublik man die Grenzen erst einmal zur Kenntnis daß die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition politisch für die Sowjetunion unentbehrlich. geführt, teilweise auch zur Annahme, im nehme. durch die Regierung Kohl-Genscher weiter- Für den großen Teil Deutschlands aber habe Osten Deutschlands sei ein analoges DDR- geführt wurde. Der 17. Juni 1953 wurde - der 17. Juni die Unausweichlichkeit der Bewußtsein entstanden. Nicht wenigen Drei Jahre später - anläßlich der 20. Wieder- wobei sich eine Tendenz der 70er Jahre Entscheidung für den Westen unterstrichen; erschien die Überwindung des deutschen kehr des Aufstandes in der DDR - betonte verstärkte - vorrangig als Manifestation des für die Bundesrepublik bedeute der 17. Juni Nationalstaats durch die Entstehung und Willy Brandt in einer Rundfunk- und Fernseh- Freiheitswillens der Menschen in der DDR, die Bestätigung von Westbindung und Entwicklung zweier deutscher Staaten als ein ansprache, daß der 17. Juni, der in einem weniger des Einheitswillens gesehen. Der als Westpolitik. historisch notwendiger und sinnvoller „tragischen Fehlschlag" geendet habe, nicht sozialer Besitzstand verteidigte Tag der Stürmer betonte, daß es keine vernünftige Vorgang. „degradiert" werden dürfe „zum Anlaß fast Deutschen Einheit war vielen unverkennbar Alternative zur Politik der Verträge, zu einer beziehungsloser, gewissermaßen musealer ein „Tag der Verlegenheit", der auch deshalb deutschen Realpolitik gebe. Nur in langen Feierstunden". Der Tag bleibe „Ausweis des bestehen blieb, weil man sich scheute, auf Fristen und keinesfalls im Alleingang sei in 1986 meinte der Bielefelder Historiker Verlangens nach Selbstbestimmung und diese Weise die Idee der Einheit zu dementie- der deutschen Frage weiterzukommen. Die Christoph Kleßmann über den von ihm als nationaler Einheit". Brandt hob den ren und sich im übrigen auch nicht auf einen Überwindung der Teilung müsse „Symbol „sperrigen Gedenktag" charakterisierten 17. Aufforderungscharakter des Tages hervor. Es anderen Staatsfeiertag einigen konnte. europäischer Hoffnung werden." Stürmer Juni: „Jenseits der Suche nach einer proble- gelte, die „unnatürliche, gefährliche und formulierte die von allen maßgeblichen matisch gewordenen Identität gehört er (der menschenfeindliche Spannung zu überwin- I n einer Rede im Frankfurter Römer am 17. Kräften der Bundesrepublik in den 80er 17. Juni) in die Reihe von Aufstands - und den", möglichst normale und geordnete Juni 1983, 30 Jahre nach dem Aufstand, Jahren geteilte Annahme, daß nur im Freiheitsbewegungen, an denen die deutsche Verhältnisse in Deutschland zu erreichen, um sprach der Erlanger Historiker und Berater Rahmen einer Überwindung der europäi- Geschichte nicht eben reich ist." Ein Jahr die „Substanz unserer Nation in einem Bundeskanzler Kohls, Michael Stürmer, die schen Spaltung das Verhältnis zwischen den später interpretierte der deutsch- gesicherten Frieden zu bewahren". Problematik des Feiertages offen aus, um beiden deutschen Staaten grundlegend amerikanische Historiker Fritz Stern in der Gedenkveranstaltung des Deutschen dann Perspektiven der Deutschlandpolitik zu verändert werden könne. Bundestages den 17. Juni 1953 ganz ähnlich: Keine Frage: Diese Politik war erfolgreich, sie entwickeln. Stürmer kennzeichnete den 17. trug zur Entspannung in Deutschland und Juni als „Tag bitterer Erinnerung und Zunehmend wurde in der Öffentlichkeit die „Der damalige Aufstand muß in die deutsche Europa trotz vielfältiger Rückschläge bei, fortdauernder Beunruhigung", vor allem Ansicht vertreten, auf die deutsche Geschich- Geschichte eingereiht werden als einer jener einer Entspannung die den Menschen in aber als „Tag des betretenen Wegsehens te bezogen sei der Nationalstaat nur eine großen Momente, in denen Menschen sich

50 51 gegen Gewalt und Unmenschlichkeit Bevölkerung für eine Reform ihres Staates der Idee der Demokratie die deutsche gewehrt haben." Zugleich sei er einzuordnen einzutreten, doch hobe er hervor, die DDR Entwicklung belastet. Mit der Vereinigung i n die Serie der Aufstände gegen Stalinismus. könne nur überleben, wenn sie die Funktion haben die Deutschen endlich die Chance, Pointiert meinte Stern: „Der Aufstand gehört erfülle, die ihren eigenen Bürgerinnen und diesen Gegensatz zu überwinden. Es ist zu zu dem immer wiederkehrenden Verlangen Bürgern einleuchte. Pointiert fügte Eppler hoffen, daß diese Chance ergriffen wird. der Deutschen nach Freiheit." Stern skizzierte hinzu: „Keine Seite kann die andere daran deutsche Freiheitsbewegungen seit dem 19. hindern, sich selbst zugrunde zu richten." Jahrhundert. Der 17. Juni 1953 sei ein „Aufstand für ein besseres, für ein freieres I n der Tat zeigte sich 1989/90, daß die DDR Leben gewesen", kein Aufstand für die keine tragfähige Identität hatte ausbilden Wiedervereinigung. Der Bundesrepublik können. Die Legitimationsschwäche, die attestierte Stern, sie sei Erbin der freiheitli- schon 1953 offenkundig geworden war, chen Traditionen der deutschen Geschichte. wurde in dem Moment wieder sichtbar, als Er glaubte, daß die antidemokratisch - die Sowjetunion die DDR-Existenz nicht mehr antiwestlichen Affekte, „die früher so tief in garantierte. Nun rückte das Schicksal der der deutschen Seele und Politik genistet Menschen des anderen deutschen Staates haben", zum großen Teil verschwunden auch wieder in den Blick der Westdeutschen. seien. Mit der besonderen Akzentuierung des Teil der demokratischen Traditionen Strebens nach Freiheit als Charakteristikum der Bewegung des 17. Juni - bei teilweise Es ist ein bemerkenswerter Vorgang, daß mit expliziter Negation der Relevanz der Frage der deutschen Vereinigung 1990 der 17. der deutschen Einheit - war die Rede von Juni, der Staatsfeiertag der Bundesrepublik, Stern nicht untypisch für die Sicht des 17. der die Erinnerung an Ereignisse in dem Juni in den 80er Jahren. anderen deutschen Staat und das gesamt- deutsche Bewußtsein wachhalten sollte, Die Rede, die der SPD-Politiker Erhard Eppler ohne Diskussion abgeschafft wurde. Den am 17. Juni 1989 vor dem Bundestag hielt, Westdeutschen war er ein Tag der Verlegen- war ungleich stärker als Sterns Festrede eine heit geworden, die Ostdeutschen aber politische Rede, die - sich von Betrachtungen drängten nicht auf Beibehaltung dieses anderer deutlich unterscheidend - die Gedenktages. Dabei gehört der 17. Juni zu Konstellation des Jahres 1989 in bemerkens- den von den Ostdeutschen eingebrachten werter Weise reflektierte. Eppler kritisierte Traditionskomplexen der Demokratie im diejenigen, die die nationale Frage für vereinigten Deutschland. endgültig gelöst erklärten: die deutsche Frage sei offen wie alle Geschichte. Generell Man wird heute die auch durch Zeitklimata warnte er davor, die Bedeutung von Natio- und Verwertungsinteressen bedingten nen zu unterschätzen, und betonte das Recht Einseitigkeiten der Interpretationen in der Deutschen auf Selbstbestimmung, auch früheren Jahrzehnte transzendieren können - wenn er dem Frieden Priorität vor anderen i nsofern ist der Historisierungsprozeß Zielen einräumte und sich gegen einen vorangeschritten. Der 17. Juni gehört jedoch deutschen Sonderweg wandte. Eppler sah in zugleich zu den heutigen demokratischen der Deutschlandpolitik mehr Konsens als Traditionen, zu den Traditionen der Arbeiter- Trennendes zwischen den Parteien und bewegung ebenso wie zu Traditionen des kennzeichnete die Westpolitik Adenauers wie deutschen Volkes und zu den Traditionen die Ostpolitik Brandts in gleicher Weise als des Kampfes für Menschen und Bürgerrechte historisch begründet. Skeptisch beurteilte er und gegen den Totalitarismus. Der enge die Situation der DDR. Er forderte zum Zusammenhang von Freiheits- und Einheits- Nachdenken darüber auf, „was in Deutsch- forderungen, der sich schon 1953 andeutete, l and geschehen soll, wenn der eiserne i st 1989/90 den Deutschen Ost und West Vorhang rascher als erwartet durchrostet." erneut bewußt geworden. Lange hat der Noch schien ihm eine Mehrarbeit der DDR- Gegensatz zwischen der Idee der Nation und

52 53 DIE STRAFRECHTLICHE „BEWÄLTIGUNG" DES 17.JUNI 1953 IN DER DDR

Dr. Falco Werkentin Vor Personen zu sprechen, die jene Zeit, über Sozialwissenschaftler, Berlin die ich zu berichten habe, aus eigener Erfahrung kennen, schafft eine gewisse Beklemmung. Ich war in diesen Tagen im Juni 1953 gerade 13 Jahre alt. Daß es in der Stadt, in der ich damals aufgewachsen bin, in Tangermünde an der Elbe, auch zu Protest und Widerstand gekommen war, habe ich erst in den letzten Wochen aus MfS-Akten erfahren.

Die Akten, die ich in den letzten drei Jahren eingesehen habe, sind zum Teil ein so unglaubliches, von den Kommunisten produziertes Agitationsmaterial, so voller Zynismen, daß man selbst beim Akten- studium noch spürt, was den Menschen in dieser Zeit angetan worden ist. Gleichwohl muß man bei der historischen Arbeit Distanz entwickeln, wenn man über das Einzel- schicksal Betroffener hinaus die im Hinter- grund wirkenden Strukturen erkennen will. Soweit Sie Zeitzeugen des 17. Juni oder gar aktiv Handelnde gewesen sind, werden Sie uns viel Wichtiges mitteilen können, das nicht in den Archiven zu finden ist. Und mehr als die Archive werden Sie uns ein Gefühl vom politischen Klima der Zeit vermitteln können. Dies ist zumindest genauso wichtig wie jene historischen Erkenntnisse es sind, die man heute aus den Akten herausarbeiten und mit Dokumenten aus dem papierenen Nachlaß des SED- Staates belegen kann. Gleichwohl hoffe ich, in den Archiven auf einige für Sie interessante Funde zur Justiz- steuerung nach dem 17. Juni gestoßen zu sein. Es sind, wenn ich an frühere Arbeiten zur SED-Strafpolitik nach dem 17. Juni denke, wie z.B. an Karl Wilhelm Frickes „17.

54 55 Juni und Justiz", keine völlig neuen Erkennt- 1953, die gefährliche Lage zu entschärfen. nen auf den Aufstand und auf die auch in zuvor, am 20. Juni, war bereits ein soge- nisse. Aber sie helfen, Kenntnisse zu Am 2. Juni 1953 mußten die SED-Politbüro- den folgenden Wochen noch erkennbare nannter Operativstab gebildet worden, um präzisieren und bisher von Zeitzeugen, wie mitglieder Ulbricht, Grotewohl und Oelßner Streik- und Kampfesbereitschaft, insbesonde- die 17. Juni-Strafverfahren gemäß eines geflüchteten Justizfunktionären, berichtete nach Moskau reisen. Dort hatten sie einen re in den Großbetrieben. Politbüroauftrages schnellstens durchführen Vorgänge innerhalb des SED- und Staats- vom Politbüro der KPdSU im Mai beschlosse- zu lassen und anzuleiten. apparates der DDR nun quellenmäßig zu nen Katalog von „Maßnahmen zur Gesun- Aus diesem Dilemma versuchte sich die belegen. dung der politischen Lage in der DDR" Partei i n den Monaten nach dem 17. Juni Auch die sowjetischen Freunde verzichteten entgegenzunehmen. Der Katalog enthielt durch eine strikt angeleitete und kontrollierte nicht darauf, dem Politbüro Anweisungen zu u.a. die Forderung: „Die Gerichtsunterlagen Strafpolitik herauszuwinden, die im geben, wie auf den 17. Juni strafpolitisch zu Justiz als Instrument der Partei der bestraften Bürger (sind) zu prüfen zwecks repressiven Zugriff zwischen den verschiede- reagieren sei. Ein „Merkblatt" - so der Begriff Befreiung der ohne genügende Gründe zur nen gesellschaftlichen Gruppen und politi- für schriftliche Belehrungen seitens der Seit der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 hatte Verantwortung gezogenen Personen." ' schen Strömungen stark zu differenzieren Besatzungsmacht - im Nachlaß Grotewohls die SED ihren Konfliktkurs mit nahezu der suchte. So wurde jener justizpolitische Kurs enthält unter anderem die Aufforderung: gesamten Gesellschaft rabiat verschärft. Die Das so nachdrücklich „angeleitete" Politbüro der „Beseitigung vorliegender Härten" bei politische Justiz sollte nicht mehr nur jedes der SED beschloß am 9. Juni 1953 den zuvor ausgesprochenen Strafurteilen „4. In den nächsten Tagen ist eine Reihe von Anzeichen von Opposition zerschlagen, „Neuen Kurs", mit dem unter anderem weiterverfolgt.3 Bis zum Abschluß der Gerichtsverhandlungen in Sachen der sondern verstärkt zum „Hebel der gesell- versprochen wurde: „Alle Verhaftungen, Überprüfung Ende Oktober 1953 kamen Anstifter und Anführer der Unruhen, vor schaftlichen Veränderung" werden - ganz im Strafverfahren und Urteile zur Beseitigung nahezu 24.000 Personen aus der Haft frei. allem aus der Reihe der Bewohner Sinne der auf der 2. Parteikonferenz für diese etwaiger Härten sind sofort zu überprüfen"? Zudem wurde im Januar 1954 verkündet, Westberlins, vorzubereiten und durchzufüh- „Revolution von oben" verkündeten Linie: rund 6.000 von sowjetischen ren." 6 Der Staat als Hauptinstrument für den Innerhalb von wenigen Tagen, bis zum 13. Militärtribunalen Verurteilte kämen frei. Aufbau der Grundlagen des Sozialismus. Juni, wurden bereits über 4.000 Häftlinge innerhalb von sieben Monaten verließen Offenbar noch bevor dieses Merkblatt das Konkret hieß das, daß die Justiz mit konstru- entlassen. Doch von der Bevölkerung wurde damit rund 30.000 Häftlinge vor Ablauf der Politbüro erreichte, war bereits am 20. Juni i erten Anklagen und Urteilen ihren Beitrag der „Neue Kurs" als das begriffen, was er Haftzeit die Strafanstalten. Doch nach dem jener Operativstab zur Anleitung der 17. zur sozialen Liquidierung des gewerblichen war: ein deutliches Eingeständnis der 17. Juni füllten sich die Haftanstalten Juni-Strafverfahren gebildet worden. Neue Mittelstandes und einer selbständigen Schwäche. So führte er nicht zur innen- umgehend mit neuen Verhafteten. Ein Aktenfunde bestätigen damit Aussagen, die Bauernschaft leisten sollte. So wurden politischen Entspannung, sondern weckte interner Bericht der Hauptverwaltung ein hochrangiger Mitarbeiter des Ministeri- Tausende solcher Strafverfahren geführt, die vielmehr die Hoffnung auf den gänzlichen Deutsche Volkspolizei nennt 6.057 Personen, ums der Justiz der DDR, Dr. Reinartz, nach nichts anderes waren als hinter Strafurteilen Zusammenbruch des Regimes. Es bedurfte die bis zum 22. Juni festgenommen worden seiner Flucht im Winter 1953 gegenüber nur schlecht versteckte Raubzüge des nur noch eines Signals. Die Bauarbeiter waren.4 Und auch in den folgenden Wochen dem „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Staates. Hinzu kamen, seit Oktober 1952, Berlins setzten es am 16. Juni mit ihrem und Monaten gingen die vorläufigen Juristen" gemacht hatte.' Tausende Urteile auch gegen Arbeiter, die Streikaufruf und dem Marsch durch Ost- Verhaftungen von Personen weiter, die in gegen das neue Gesetz zum Schutz des Berlin. Verdacht standen, sich an den Unruhen Der Operativstab stand unter der Leitung der Volkseigentums verstoßen hatten. Dieses beteiligt zu haben. soeben zur neuen Justizministerin ernannten Gesetz verlangte selbst beim Diebstahl von . Am Tage seiner Gründung zwei Kilogramm Zement zum damaligen Justizpolitik nach dem 17. Juni 1953 Der Parteiauftrag an die Justiz- erhielten alle Direktoren der Bezirksgerichte Zeitwert von 25 Pfennigen obligatorisch als funktionäre nach dem 17. Juni 1953 eine fernmündliche Anweisung, zu deren Mindeststrafe ein Jahr Zuchthaus. Die Justizpolitik der folgenden Monate ist vor Durchsetzung und Kontrolle gleichfalls noch diesem Hintergrund zu sehen. Sie stand im Wissend, daß der Volksaufstand vom 17. am 20. Juni Instrukteure an die Bezirks- Als Ergebnis dieser rabiaten Strafpolitik Schnittwinkel zweier kaum miteinander zu Juni nicht nur eine Reaktion auf die kurz gerichte geschickt wurden. Die Anweisung waren Mitte 1953 rund 60.000 Menschen in vereinbarender strafpolitischer Interessen: zuvor diktierten Normerhöhungen war, besagte: DDR-Haftanstalten gefangen - bei einer sondern gleichermaßen, wenn nicht Bevölkerungszahl von 18,3 Millionen. Zum Einerseits war den Genossen deutlich zuvörderst, eine Antwort auf die seit der 2. „1) Es sind sofort bei allen Bezirksgerichten Vergleich: In der Bundesrepublik saßen 1953 geworden, daß der seit der 2. Partei- Parteikonferenz vom Juli 1952 radikal Strafsenate einzurichten zur Aburteilung bei einer Bevölkerungsgröße von rund 52 konferenz radikal verschärfte „Klassenkampf verschärfte politische Repression und der Provokateure und Brandstifter der Millionen (noch ohne das Saarland) knapp von oben" nahezu gegen die gesamte Strafpolitik, gab das ZK der SED auf seinem l etzten Tage. (...) 40.000 Menschen in den Strafanstalten. Gesellschaft in den politischen Bankrott XIV. Plenum am 21. Juni 1953 den Justiz- 2) Diese Strafsachen sind sofort zu bearbei- geführt hatte. So blieb es im Interesse der funktionären als allgemeine strafpolitische ten, zuzustellen und ab Sonntag, dem Offenbar beunruhigter über die katastropha- Herrschaftssicherung geboten, sichtbare Wie vor, „... mit größter Sorgfalt zu unter- 21.6.1953, zu verhandeln. (...) l e ökonomische Situation und Stimmungs- Zeichen der innenpolitischen Entspannung zu scheiden zwischen den ehrlichen, um ihre 5) Der Vorsitz in diesen Senaten ist bewähr- l age in der DDR und weitsichtiger als die setzen. Andererseits verlangte der weiterhin Interessen besorgten Werktätigen, die ten Richtern zu übertragen. deutschen Genossen vor Ort, versuchte das erhobene Anspruch auf Fortbestand der SED- zeitweise den Provokateuren Gehör schenk- Politbüro der KPdSU in den ersten Juni-Tagen Herrschaft deutliche strafpolitische Reaktio- ten, und den Provokateuren selber."' Tags

56 57 6) Geeignete Schöffen sind aus der zu spielen. So führte Hilde Benjamin in einem 23. Juni 1953 erkennbar, die forderte, „daß Zu den ersten Verurteilten zählte der Schöffenliste auszuwählen in Zusammenar- Schreiben an Plenikowski von der ZK- i n den Fällen, in denen Angeklagte Arbeiter Westberliner Student Wolfgang Gottschling, beit mit der Bezirksleitung der SED. Abteilung Staatliche Verwaltung aus: aus Betrieben sind, der Urteilsspruch und gegen den am 22. Juni 1953 vom Stadt- gericht Groß-Berlin unter Vorsitz von Götz 7) Geeignete Pflichtverteidiger müssen „Festzustellen ist, daß sich beim Obersten eine kurze Darstellung des Sachverhaltes ebenfalls nach Rücksprache mit der Gericht gewisse Tendenzen der Unabhängig- dem Parteisekretär des Betriebes mitzuteilen Berger eine Zuchthausstrafe von acht Jahren Bezirksleitung der SED ausgewählt werden keit zeigen. Es sind schwere Diskussionen mit sind. Eine Durchschrift erhält die jeweilige „wegen Rädelsführerschaft" verhängt der Genossin K. notwendig, um die Empfeh- Kreisleitung der SED. Die Instrukteure sollten wurde. Er hatte am 17. Juni in Berlin 8) Das Strafmaß ist weitgehend zu differen- l ungen und Meinungen des Operativstabes ferner Informationen darüber einholen, wie Volkspolizisten beschimpft und gegenüber zieren. Nur in den schwersten Fällen wird durchzusetzen."" die jetzt durchgeführten Prozesse in den Herumstehenden erklärt, daß sich die die Staatsanwaltschaft Anklage nach Artikel Betrieben und in der Bevölkerung Verhältnisse bald ändern würden. 6 der Verfassung erheben (...). Schwerer noch als von solchen „Tendenzen wirken. "13 Gleichzeitig beauftragte Benjamin 10) Alle Todesurteile sind innerhalb von 24 der Unabhängigkeit" müssen Operativstab den Demokratischen Frauenbund, sich um Dem propagandistischen Nachweis Stunden dem Obersten Gericht durch und Partei von der Weigerung einiger SED- die Familien Verhafteter zu kümmern und sie faschistischer Rädelsführerschaft diente auch Richter getroffen worden seien, sich über- auch materiell zu unterstützen, damit sie das Todesurteil gegen Erna Dorn aus Halle, Sonderkurier zu übersenden, wenn .14 Berufung eingelegt wurde (mit Akten). haupt an 17. Juni-Verfahren zu beteiligen. So nicht „ins Lager der Gegner" wechseln das am 22. Juni vom Bezirksgericht ausge- 11) Über die Durchführung der Verhand- erklärte ein Genosse Richter aus Halle, er sei sprochen wurde. Diese ehemalige Wärterin l ungen am 21.6.53 ist mir auf dieser nicht gewillt, „seine Klassengenossen zu An dieser Politik eines differenzierten i m KZ Ravensbrück war im Mai 1953 vom Leitung am Montag früh, 9 Uhr, kurz zu verurteilen"." Vorgehens änderte auch die Verhaftung von selben Gericht wegen „Verbrechen gegen berichten." 8 Justizminister Fechner am 14. Juli 1953 und die Menschlichkeit' zu 15 Jahren Zuchthaus Nach Eingang der Meldungen aus den die Ernennung Benjamins zur neuen verurteilt worden. Dieses Urteil enthielt In den nächsten Tagen folgten weitere Bezirken informierte Benjamin täglich den Justizministerin nichts.15 I nnerhalb von 10 keinerlei Vorwürfe, daß Erna Dorn persönlich schriftliche Anweisungen für die Instrukteure. ZK-Genossen Plenikowski und forderte für Tagen, das heißt bis zum 30. Juni, wurden am Mord an Häftlingen beteiligt gewesen Dabei wurde immer wieder herausgehoben, größere Strafverfahren, so zum Beispiel in bereits 333 Personen verurteilt, darunter 273 sei. Beim Sturm auf das Gefängnis in Halle daß richtig zu differenzieren sei, da „der der Frage des Todesurteils gegen den Arbeiter. Die Propaganda zielte jedoch auf kam sie frei. Ihr „todeswürdiges" Verbrechen Eindruck von Repressalien unbedingt Magdeburger Gärtner Jennrich'z oder für etwas anderes. Es galt, den Nachweis zu am 17. Juni 1953 schildert ein Bericht für vermieden werden muß," wie es Benjamin in Verfahren, die ihr politisch besonders sensibel erbringen, daß Agenten aus der Bundesrepu- Benjamins Operativstab: einem vom 1. Juli datierten Berichtsentwurf erschienen, Entscheidungen des ZK-Appara- blik und faschistische Elemente den Putsch für die sowjetischen Freunde ausdrückte? tes an. Gleichzeitig gingen vom Operativstab vorbereitet und durchgeführt hätten. Der „Sachverhalt des gegenwärtigen Prozesses: telefonische und schriftliche Berichte auch an Öffentlichkeit sollten dementsprechend Aus dem Gefängnis befreit, begab sie sich zu Deutlich erkennbar ist der Versuch, einen Keil sowjetische Dienststellen - eine Praxis, die schnellstens entsprechende Fälle vorgeführt einem ihr bekanntgemachten Zufluchtsort zu treiben zwischen Arbeitern, die für allerdings bereits vor dem 17. Juni zu den werden. Daher erhielten die MfS-Bezirks- (christliches Heim mit Oberschwestern). Dort wirtschaftliche Interessen auf die Straße eingespielten Gepflogenheiten der DDR- verwaltungen am 23. Juni 1953 „Richtli- hat sie sich umgezogen und ist zum Hall- gegangen waren, und jenen Teilen der Justiz zählte. nien", in denen es unter anderem hieß: markt gegangen. Auf dem Wege hat sie VP- Bevölkerung, die in den Tagen des 17. Juni Angehörige beschimpft, die Menge aufge- 1953 die Chance sahen, das SED-Regime zu Aus den Akten wird unter anderem erkenn- „Unverzüglich sind den Bezirksleitungen der hetzt, VP-Angehörige anzugreifen. Auf dem stürzen. Insoweit entsprachen diese bar, daß auch im Falle Jennrichs das Politbüro Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Hallmarkt war ein Auflauf, hier hetzte sie über die Todesstrafe entschieden hat. Unterlagen über Ergebnisse geführter zum Sturz der Regierung. Auf dem Rückweg Direktiven auch dem Inhalt des im „Neuen hetzte sie in derselben Form die Menge auf. Deutschland" erschienenen Fechner- I nsgesamt wurden vom Politbüro in den 50er Untersuchungen zur Veröffentlichung zur Interviews vom 30. Juni 1953 und der und 60er Jahren an die 100 Todesurteile Verfügung zu stellen. Insbesondere solche Sie hat sich als Anführerin betätigt." 17 Nachbesserung vom 2. Juli 53. Fechner förmlich beschlossen. In den Protokollen Unterlagen, aus denen sich Tatbestände argumentierte damals ähnlich - wobei er steht das meistens am Rande versteckt. ergeben, die einwandfrei beweisen, daß Am 18. Juni wurde Erna Dorn wieder allerdings so unvorsichtig war, auf das in der Verhandelt wurden diese Urteile zwischen Provokateure im Auftrage Westberliner oder festgenommen. Das Gerichtsverfahren Verfassung von 1949 garantierte Streikrecht Tagesordnungspunkten wie Urlaub in der westdeutscher Dienststellen sowie verbreche- wurde am 22. Juni ab 18 Uhr unter Aus- zu verweisen. Sowjetunion für den Genossen Ulbricht und rischer Organisationen gehandelt und schluß der Öffentlichkeit geführt. Am 27. der Festlegung von Preisen für Fischstäbchen. Unruhen, Terrorakte, Brandstiftungen, Juni bestätigte das Oberste Gericht das Dem Operativstab war von den Staatsanwäl- Das Politbüro hat, so gewinnt man aus den Tätlichkeiten und Überfälle in den Bezirken Urteil, nachdem Benjamin zuvor Rücksprache Akten den Eindruck, manchmal in zwei oder durchgeführt haben. Erwägungen der Kon- mit dem ZK-Apparat genommen hatte. Im ten, den Bezirksgerichten und Instrukteuren selben Schreiben erklärte sie, daß sie es nicht täglich Bericht zu erstatten. Außerdem gab drei Minuten über Todesurteile entschieden. spiration sind in diesen Fällen zurückzustel- len, auch dann, wenn Gefahr besteht, daß für opportun hielte, der Presse Akteneinsicht der Operativstab Urteilsanweisungen aus. 16 Wie sehr die Partei in diesen Wochen darauf unbekannte Mittäter gewarnt werden." zu geben. Und dies aus für sie guten Das galt selbstverständlich auch für das Gründen, denn in der DDR-Propaganda Oberste Gericht. Hier weigerte sich offenbar bedacht war, mit ihrer Strafpraxis zwar wurde jener Erna Dorn die Biographie einer zunächst eine Richterin, nur Zeremonien- einzuschüchtern, jedoch nicht neues öl ins ängst - im Jahre 1948 - zu lebenslanger Haft meister für an anderer Stelle gefällte Urteile Feuer zu gießen, wird an einer Direktive vom l 58 59 verurteilten anderen KZ-Wärterin namens verfahren bis Ende Januar 1954 führten der Haft entlassen wurden. An der Logik (10) Bundesarchiv Potsdam, P - 1 - 1053, Brief Rabestein untergeschoben, die als Hunde- mithin kaum mehr als ein Viertel zu einer einer Justizpolitik, deren einzige Bezugs- vom 31.7.1953. führerin im KZ Ravensbrück gewütet hatte. Verurteilung. Zwar wurden noch bis in den punkte Machterhalt und unmittelbar (11) Bundesarchiv Potsdam, P- 1 - 1053 Sommer 1954 hinein Urteile in Zusammen- tagespolitisch rückgebundene (Sicherungserschließung), Berlin, den Es geht mir keineswegs darum, hier Erna hang mit dem 17. Juni gefällt. Zum Beispiel Zweckmäßigkeitskalküle waren, änderte sich 13.7.1953, Bericht über den Bezirk Halle; in Dorn moralisch zu rehabilitieren, sondern ich verurteilte das Berliner Stadtgericht am 26. nichts. Halle waren es am 7.7.1953 insgesamt 5 Mai 1954 die Berliner Bauarbeiter Karl Foth, Richter, die sich weigerten, sich an diesen wollte an einem Beispiel verdeutlichen, wie Verfahren zu beteiligen, unter ihnen 3 SED- die Justiz arbeitete. Weil Dorns Rolle im KZ Max Fettling, Otto Lemke und Berthold wenig für eine Begründung des Todesurteils Stanicke zu hohen Zuchthausstrafen. Die Genossen. hergab, wurden in der Propaganda der DDR Aktionen dieser Männer waren am 16. Juni (12) Vgl. K.W. Fricke, Todesstrafe für Magdebur- dieser Frau Dorn die Biographie einer 1953 zum Zeichen für den Aufstand gewor- ger „Provokateur", in: Deutschland-Archiv, anderen KZ-Wärterin angehängt. So ist Frau den. Und am 14. Juni 1954 sprach das Anmerkungen 5/1993. Dorn von der DDR-Propaganda mit einer Oberste Gericht nach einem mehrtägigen (13) Bericht über die Durchführung ...(vgl. falschen Identität ausgestattet und zu einem Schauprozeß gegen die sogenannten (1) Dokumentiert in „Beiträge zur Geschichte der Anmerkung 9). faschistischen Ungeheuer gestempelt Rädelsführer des 17. Juni - Hans Füldner, Arbeiterbewegung", 1990, H. 5, S. 651 - 654. (14) Bundesarchiv Potsdam, P - 1 - 1053, Brief worden, nur, um an ihr exemplarisch die Horst Gassa, Werner Mangelsdorf und Dr. (2) Vgl. den Ministerratsbeschluß vom 11. Juni Benjamins an den DFB. Todesstrafe vollziehen zu können. Wolfgang Silgradt - Zuchthausstrafen bis zu 1953, dokumentiert in K.W. Fricke/I. Spitt- (15) Siehe IfGA ZPA J IV 2/2/305, Politbürositzung 15 Jahren aus. Doch die Strafverfahren mann (Hrsg.): 17. Juni 1953 - Arbeiteraufstand vom 14. Juni: „Fechner wird seiner Funktion zwischen Februar und Juni 1954, die in der in der DDR, 2. erweiterte Auflage, Edition als Justizminister enthoben und in Die strafpolitische Bilanz Bilanz von Benjamin/Melsheimer nicht mehr Deutschland Archiv, Köln 1988, S. 203 - 205; Untersuchungsarrest genommen." erfaßt sind, dürften die quantitative Dimensi- vgl. zum Neuen Kurs und den Aufgaben der (16) MfS Abt. IX an alle Leiter der Bezirksver- Eine zusammenfassende Bilanz der Justiz- on der strafrechtlichen Reaktion auf den 17. Justiz die Rede der frisch zur Justizministerin waltungen, Verwaltung Groß-Berlin, Ver- politik nach dem 17. Juni 1953, für die Juni nicht mehr wesentlich verändert haben. ernannten H. Benjamin 1953: Die Hauptaufga- waltung „W" Karl-Marx-Stadt und alle Politbüro-Sitzung am 14. Juli 1954 von Diese war, verglichen mit der Justizpraxis vor ben der Justiz bei der Durchführung des Abteilungsleiter Abteilungen IX Justizminister Benjamin und General- dem 17. Juni und mit jener ab Mitte 1954 Neuen Kurses - Überarbeitetes und ergänztes Bezirksverwal-tungen 23.6.1953, ZN, AS, staatsanwalt Melsheimer erstellt, enthält sich wieder radikalisierenden Strafpolitik der Stenogramm einer Rede, gehalten vor 356/57 Bd. 3. Funktionären der Justiz am 29. August 1953, (17) Bundesarchiv Potsdam, P - 1 - 1053, Bericht folgende Angaben: SED, aus Gründen des inneren Machterhalts und aus außenpolitischen Erwägungen20 Berlin (0), VEB Deutscher Zentralverlag 1953. über den Prozeß gegen die KZ- Kommandeuse Erna Dorn in Halle, Berlin, den „Nach dem Stand von Ende Januar 1953' 8 sowohl der Zahl der Betroffenen wie der (3) Institut für die Geschichte der Arbeiter- sind bei der Staatsanwaltschaft Verfahren Härte der Urteile nach vergleichsweise bewegung, Zentrales Parteiarchiv NL 90/435 23.6.1953. gegen 3.449 Personen eingestellt, in 2.134 zurückhaltend. (heute: Stiftung Archiv der Parteien und (18) Hier liegt eindeutig ein Fehler im Original vor, Massenorganisationen der DDR im Bundes- denn es müßte 1954 heißen. Fällen Anklage erhoben. Die Gerichte haben (19) Vgl. zu den Prozessen nach dem 17. Juni i n 433 weiteren Fällen das Verfahren Zur Bilanz hinzuzurechnen sind allerdings die archiv), Zentrale Kommission für staatl. eingestellt und in 76 Fällen die Angeklagten von sowjetischen Militärtribunalen unmittel- Kontrolle, Berlin, den 17.7.53, 1 Blatt, gez. 1953: K.W. Fricke: Juni-Aufstand und Justiz. freigesprochen. Von den 1.526 Angeklagten, bar nach dem 17. Juni ausgesprochenen und Trotz. In: K.W. Fricke/ I. Spittmann, a.a.O., S. 70- die verurteilt wurden, erhielten 2 Angeklagte von sowjetischen Pelotons vollzogenen (4) Bundesarchiv Potsdam, Bestand Ministerium 86. die Todesstrafe, 3 Angeklagte lebenslänglich standrechtlichen Erschießungen von minde- des Innern 11/45, Blatt 82-83. (20) Vgl. Melsheimer an den Hohen Kommissar Zuchthaus, 13 Angeklagte Strafen von 10 - stens 17 DDR-Bürgern und einem Westberli- (5) „Über die Lage und die unmittelbaren der UdSSR, Bln, 28.11.53, betr.: Strafsache 15 Jahren, 99 Angeklagte Strafen von 5 - 10 ner. Aufgaben der Partei", hier zit. nach der Steinmetz u.a.. „Der Staatsanwalt von Jahren, 824 Angeklagte Strafen von 1 - 5 Dokumentation in K.W. Fricke/I. Spittmann Magdeburg hatte beabsichtigt, höhere Jahren und 546 Angeklagte Strafen bis zu I n der, an DDR-Maßstäben gemessen, (Hrsg.), a.a.0., S. 210 ff. Strafanträge zu beantragen ... Ich halte diese einem Jahr." 19 zeitweilig zurückhaltenden Strafpraxis mehr (6) Merkblatt (vom Juni '53) Institut für die Strafanträge in gegenwärtiger politischer als eine ausschließlich an außerrechtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung, Zentrales Situation für falsch, da ein Urteil mit 6 Die Differenz zwischen der Gesamtzahl der Zweckmäßigkeitskalkülen der Herrschafts- Parteiarchiv (s. Anmerkung 3) NL 90/699. Todesstrafen der Regierungserklärung der Verurteilten und der nach Strafhöhen sicherung orientierte Politik oder gar den (7) Vgl. Bundesministerium für gesamtdeutsche DDR vom 25.11.1953 und der neuen Note aufgeschlüsselten Ziffern dürfte sich daraus Beginn des sozialistischen Rechtsstaates Fragen (Hg.): Unrecht als System, Bd. 2, Bonn der Sowjetregierung vom 26.11.1953 erklären, daß auch Urteile mit Strafen hineinzulesen, wäre indes verfehlt. Innerhalb 1955,S.78. entgegenzuwirken geeignet ist." Bundes- unterhalb eines Jahres gefällt wurden, die weniger Jahre, bis zur kurzen Tauwetter- (8) Bundesarchiv Potsdam, P - 1 - 1053 archiv Potsdam, P - 1 - 1141 (Verwaltungs- von den nach der Strafhöhe Periode nach dem XX. Parteitag der KPdSU, (Sicherungserschließung). archiv). aufgeschlüsselten Ziffern nicht erfaßt sind. wuchs die Zahl der Strafgefangenen wieder (9) Bundesarchiv Potsdam, P - 1 - 1053, Operativ- auf rund 60.000, von denen 1956 - als ein Stab, Berlin, den 1. Juli 1953, betr.: Bericht Von ursprünglich insgesamt 5.583 weiterer Versuch zur innenpolitischen Ober die Durchführung der Strafverfahren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungs- Entspannung - etwa 25.000 vorzeitig aus gegen die Provokateure des 17. Juni 1953. 60 61 „... GEGEN DAS VOLK REGIEREN" - DER AUSBAU DES DISZIPLINIERUNGSAPPARATES NACH DEM 17. JUNI 1953

I hre Aufmerksamkeit möchte ich weniger auf die Ereignisse am 17. Juni 1953 richten, sondern auf die Zeit danach, vor allem auf die Maßnahmen von Partei und Regierung i m Juli, August und im September 1953. Am 25. Juni 1953 fand eine Sitzung des Demo- kratischen Blocks statt, in dem bekanntlich sämtliche Parteien und Massen- organisationen zusammengeschlossen waren. Überraschenderweise erklärte auf dieser Sitzung Ministerpräsident Grotewohl, die Aktionen am 17., 18. und 19. Juni seien zwar von Saboteuren und Agenten inszeniert worden, aber er macht auch deutlich, daß sich der Aufstand gegen objektive Mißstände richtete. Er erklärte sinngemäß, wenn eine Fackel auf Beton fällt, dann zündet sie nicht. Und diese Fackel ist nicht auf Beton gefallen, sondern das Stroh hat gebrannt.

Auf dieser Sitzung wurde eine Reihe von wirtschaftlichen Maßnahmen beschlossen, die die Lebenslage der DDR-Bevölkerung verbessern sollten. Unter anderem wurde den Bauern eingeräumt, weniger abzuliefern. Grotewohl führt aus, wenn zu wenig „Wurst und Eier" auf dem Tisch lägen, „dann ist das Volk rebellisch".

Neue Streiks nach den Ereignissen am 17. Juni Allerdings zeigte sich in den folgenden Tagen, daß diese Maßnahmen nicht den von der SED-Führung erhofften Widerhall in der Bevölkerung fanden. Bereits Anfang Juli 1 953 kam es zu einer zweiten Streikwelle, vor allem im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in den Bezirken Dresden und Rostock. Die Partei- und Staatsführung mußte erkennen, daß das gewachsene Selbstbe-

62 63 wußtsein der Bevölkerung und die gegen die Die Einsatzleitungen hatten die Aufgabe, bei Partei gerichtete Stimmung nicht allein mit erneuten inneren Unruhen lokal den Wider- Ulbrichts völlig versagt. So wurden in den Parteispitze und die Details der Pläne zur wirtschaftlichen Maßnahmen zu bewältigen stand einzudämmen. Die Partei- und Massenorganisationen viele hauptamtliche Zersetzung der jeweiligen oppositionellen sein würde. Mit einer ideologischen Offensi- Staatsführung fürchtete, daß selbst der Funktionäre ausgewechselt, nicht in der Gruppen erarbeitet. In einem Land, in dem es ve, die bereits auf dem 14. Plenum des ZK geringste Widerstand an irgendeinem Ort obersten Führung, aber in der mittleren und keine öffentliche Meinung gibt, müssen die der SED am 21. Juni eingeleitet wurde, einen Flächenbrand auslösen könnte. Und unteren Ebene. Herrschenden über die Stimmung in der versuchten die Genossen, offen mit den diese Furcht war sehr begründet, wußte Bevölkerung besonders gut orientiert sein. Werktätigen zu sprechen. Die Vertreter von doch die Parteiführung aus Lageberichten, Die Maßnahmen zeigten, daß die Partei- Der 17. Juni hatte sie begreifen lassen, daß Partei und Staat gingen in die Betriebe, um daß nur ein Teil der Parteimitglieder hinter führung gegen die Mehrheit der Bevölkerung man präzise und kontrollierbare Informatio- über wirtschaftliche Mißstände zu diskutie- der Politik des ZK der SED und des Politbüros regierte. Im Grunde wußte man von Anfang nen brauchte. ren, mußten aber erfahren, daß die Werktäti- stand. Man ging davon aus, lediglich die an, daß die Partei keinen Rückhalt in der gen politische Forderungen stellten. So hauptamtlichen Mitarbeiter würden diese Bevölkerungsmehrheit hatte, aber in den I m Zuge der Neuorganisation der Stasi wurde mußte zum Beispiel Fred Oelßner, der zu Politik noch tragen. Tagen um den 17. Juni ist dies deutlich die gesamte Staatssicherheit auf allen diesem Zeitpunkt Politbüro-Mitglied war, demonstriert worden. Ebenen der Partei unterstellt. In den Akten nach einer Rede vor Arbeitern in Schkopau Um ihre Macht zu verteidigen, griff die finden sich bereits im August 1953 klare erleben, wie eine vom zuständigen Partei- Parteiführung zu Disziplinierungs- Anweisungen, daß der erste Sekretär der sekretär verlesene Resolution, die die maßnahmen. So ist zum Beispiel das Vorge- Ausbau des Informationssystems SED-Bezirksleitung dem Chef der Bezirks- Ereignisse am 17. und 18. Juni als hen gegen die Gruppierung um Wilhelm verwaltung des MfS Aufträge zur Verhaftung konterrevolutionären Putsch bezeichnete, mit Zaisser und Rudolf Herrnstadt auf dem 15. Auch der staatliche Machtapparat, dazu und zu Aktionen geben kann. Die These vom großer Mehrheit abgelehnt wurde. Die ZK-Plenum Ende Juli 1953 meines Erachtens zählten das Ministerium für Staatssicherheit Eigenleben der Staatssicherheit, von dem Staatssicherheit vermerkte in einem Bericht, weniger auf unterschiedliche politische ( MfS), die Polizeieinheiten und natürlich die Staat im Staate, ist daher eine Legende. die Versammlung artete in eine wüste Konzeptionen zurückzuführen, sondern eher Kampfgruppen, wurde zur Sicherung der Provokation aus. ein Ergebnis interner Machtkämpfe, die nach Parteiherrschaft neu organisiert. Das Kern- Parallel zum Informationssystem der Staats- dem 9. Juli 1953 mit der Verkündung des stück dieses Unterdrückungsapparates, das sicherheit wurden auch das Informations- So etwas fand nicht nur am 26. Juni im neuen Kurses einsetzten und auf dem 15. MfS, wurde als Ergebnis der Auseinanderset- system innerhalb der SED sowie die Bericht- Buna-Werk in Schkopau, statt. Auch in vielen ZK-Plenum geklärt wurden. Daß Herrnstadt zung mit Zaisser, der damals Minister für systeme in den übrigen Blockparteien und in anderen Städten erlebten die Vertreter der und Zaisser der Gruppierung um Ulbricht Staatssicherheit war, zwar zum Staats- den Massenorganisationen reorganisiert. Partei- und Staatsführung ähnliche unterlagen, ist natürlich in Moskau entschie- sekretariat für Staatssicherheit im Innen- Alles dies sollte die Partei in die Lage verset- ministerium heruntergestuft. Aber faktisch zen, schon auf die geringsten Anzeichen von Mißfallensbekundungen. Immer deutlicher den worden. Man sollte sich daher davor zeigte sich, daß die mit dem 17. Juni hüten, bei Herrnstadt und Zaisser irgendein wuchs die Bedeutung der Stasi beträchtlich. Unruhe und Widerstand zu reagieren. Nach entstandene Stimmung sich mit Gesprächen Reformpotential zu sehen. So wurde zum einen das Netz der geheimen 1990 ist mir immer wieder von Mitarbeitern nicht entschärfen lassen würde. Zum ersten Informanten, so hießen damals die inoffiziel- der Staatssicherheit bestätigt worden, daß Höhepunkt weiterer Streiks kam es am 10. Die Aktivitäten gegen Herrnstadt und Zaisser len Mitarbeiter, ausgebaut. Zum anderen man stets befürchtete, ein lokaler Wider- und 11. Juli in Jena, wo rund 1.200 Beschäf- gründete man die sogenannte Informations- stand könne sich, wenn er publik würde, sind eng verbunden mit der Disziplinierung gruppe. tigte die Arbeit niederlegten und politische der gesamten Partei. Die SED-Führung nutzte zum Flächenbrand ausweiten. Aus dieser Forderungen stellten. Eine Zuspitzung fand Perspektive heraus wurde der gesamte das Vorgehen gegen diese beiden ehemali- Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Staats- diese zweite Streikwelle in den Ereignissen in gen Politbüromitglieder, um die Macht Unterdrückungs- und Disziplinierungsapparat Buna am 15. bis 17. Juli mit 5.000 Streiken- innerhalb der Partei zu festigen. Und das war sicherheit vor allem die Aufgabe, Saboteure aufgebaut, deren Grundlage präzise Informa- den, die freie Wahlen, ein vereintes Deutsch- aus der Sicht der SED-Führung unbedingt und Agenten in den Betrieben, auf der tionen waren. Und tatsächlich bleibt festzu- l and sowie die Entlassung der Inhaftierten notwendig, denn die Partei war nicht mehr Straße, in den Kneipen oder wo auch immer stellen, daß sich die Informationsgruppen um forderten. handlungsfähig; ohne die Präsenz der zu jagen. Um die politische Gesamtlage hatte zuverlässige Informationen bemühten. Legt sowjetischen Truppen wäre das gesamte sie sich bis dahin nicht zu kümmern. So gab man verschiedene Berichte über ein Ereignis Herrschaftssystem zusammengebrochen. es zum Beispiel bis zum 17. Juni 1953 keine nebeneinander, also einen Bericht der Disziplinierungen innerhalb der Partei Lageberichte, was auch die völlige Handlung- Staatssicherheit, einen von der SED und Parallel zum Vorgehen innerhalb der SED sunfähigkeit der Staatssicherheit während einen von der Gewerkschaft, dann ist in der Bereits Mitte Juli formulierte Otto Grotewohl wurden im August und September in den der Juni-Ereignisse erklärt. Regel der Bericht der Staatssicherheit eine als geheime Verschlußsache verschlüs- Blockparteien sowie in den Massen- derjenige, der die gehaltvollsten Informatio- selte Weisung, eine zentrale Einsatzleitung zu organisationen auf Anweisung des ZK der Die Informations- und Auswertungsgruppe, nen bietet. bilden. Dieser zentralen Einsatzleitung SED Disziplinierungen eingeleitet. Die Basis die im August 1953 gegründet wurde und gehörten zu diesem Zeitpunkt der General- der Blockparteien hatte deutliche Sympathien der ähnliche Einrichtungen in den jeweiligen sekretär der Partei, der Ministerpräsident und gegenüber der Protestbewegung gezeigt Bezirksverwaltungen des MfS folgten, wurde Ausbau des Gewaltapparates der Innenminister an. Ähnliche Einrichtungen und sie zum Teil sogar unterstützt. Vor allem meines Erachtens zum Herzstück der folgten in den Bezirken und Kreisen. die Gewerkschaft hatte in den Augen Staatssicherheit. Dort wurden die Befehle Begleitet wurde die Errichtung des und Weisungen, die Lageberichte für die I nformationssystems von einer massiven

64 65 inneren Aufrüstung, vor allem durch den Ausbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP). Die KVP hatte auch schon vor dem Sommer 1953 Waffen, aber es gab keine Munition, und viele Mitglieder der KVP hatten seit 1949 keinen Schuß abgegeben. Nun aber wurde die KVP mit Munition versorgt und völlig neu ausgerüstet. Man vergrößerte sie personell und stationierte Einheiten gezielt in jenen Bezirken und an jenen Industriestandorten, an denen am 17. Juni Unruhen stattgefun- den hatten. Zur Ausrüstung gehörten fortan auch Wasserwerfer und Granatwerfer. Es ist schon erstaunlich, welche gewaltige Ausrü- stung gerade diesen, um die Industriezentren gruppierten Verbänden zuteil wurde. Schließlich wurden im Herbst 1953 auch die Kampfgruppen gegründet. Dieser gesamte Macht- und Disziplinierungsapparat, der nach dem 17. Juni und vor allem im Juli/August 1953 organisiert wurde, ist im Grunde genommen i n den folgenden Jahren nur immer weiter verfeinert worden. Heute ich es wichtig, Aufbau sowie Arbeits- und Funktionsweise dieses Macht- und Unterdrückungsapparat in seinen Verästelungen zu untersuchen. Unsere Mitbewohner aus den alten Bundes- l ändern haben durch Presse und Rundfunk vor der Wende wohl den Eindruck gehabt, in der DDR gäbe es eine graue Masse, die angepaßt und still sei. Ich glaube, dieser Eindruck ist auch ein Ergebnis des Disziplinierungsapparates, der es verstanden hat, mit verschiedenen Methoden - nicht bloß mit Verhaftungen, nicht bloß mit psychischem Terror - den Eindruck zu erwecken, hier herrsche Grabesstille. Weitere Studien werden aber zeigen, daß auch in der DDR Widerstand verbreitet war und sich oft i m einzelnen, im kleinen äußerte. Allein schon aus diesem Grunde halte ich es für ausgesprochen wichtig, sich in der Forschung verstärkt mit der Arbeits- und Funktionsweise des Macht- und Disziplinierungsapparates zu beschäftigen.

66 67 DIE SOWJETISCHE MILITÄRJUSTIZ UND IHRE LAGER ALS INSTRUMENT DER KOMMUNISTISCHEN HERRSCHAFT IN DER SOWJETISCHEN BESATZUNGSZONE DEUTSCHLANDS

Prof. Dr. Wolfgang Schuller Unser Jahrhundert ist auch das Jahrhundert Universität Konstanz der Konzentrationslager, in denen Menschen gequält und getötet wurden; Menschen, die ein herrschendes diktatorisches Regime als seine wirklichen oder bloß möglichen Gegner betrachtete. Mit nur einer Art dieser Lager werden wir uns heute beschäftigen, mit den Sowjetlagern, die von 1945 bis 1950 in Deutschland bestanden. Nicht nur aus dem Titel meines Vortrages, sondern auch aus der Sache ergibt sich, daß noch von anderen Lagern die Rede sein muß.

Es wird für mich nicht leicht sein, den richtigen Ton zu finden. Ich selber gehöre der Generation an, die als Kind Krieg und Nationalsozialismus in ganz Deutschland erlebt hat und als Heranwachsende deren Ablösung durch den Kommunismus in einem Teil Deutschlands. Teils wegen meines Alters, teils weil ich im anderen Teil Deutschlands lebte, habe ich das nicht erleiden müssen, wovon heute die Rede sein wird. Ich rede also als einer, der durch den Zufall seines Geburtsdatums und seines Aufenthaltsortes nie in Gefahr geraten ist, und ich spreche zu Zuhörern, die entweder selbst oder deren Angehörige Schreckliches erlitten haben. In der Tatsache, daß ich verschont geblieben bin, habe ich immer eine Verpflichtung gesehen, nach meinen Möglichkeiten für diejenigen einzutreten, die dieses Glück nicht gehabt haben. Zu dieser Tätigkeit außerhalb meines eigentlichen Berufes gehört, daß ich bei der Vorbereitung einer Ausstellung mithelfe, die das Bundesjustizministerium über die DDR-Justiz veranstalten wird. Meine Schwerpunkte sind dabei - als eine Art Vorläufer der DDR-Justiz - die sowjetische Militärjustiz und die Sowjetlager auf deut- schem Boden. Ich bin sehr dankbar dafür, daß ich heute, an unserem eigentlichen

68 69 Nationalfeiertag des 17. Juni, zu Ihnen treffend, durch den Erlaß charakterisiert, den sozialistische Konzentrationslager, also nach Wenn es sich bei den Lagern wirklich um darüber sprechen darf. der damalige sowjetische Präsident Buchenwald und Sachsenhausen, gelegt hat. Maßnahmen gehandelt hätte, die der Sühne Gorbatschow am 13. August 1990 herausge- Zum anderen sind die Lager nach dem von - oder auch der Rache und Vergeltung - ben ließ und der die Rehabilitierung inner- den Nationalsozialisten angezettelten Krieg gedient hätten, oder wenn sie wirklich zu Abgeholt ins Lager sowjetischer Repressionen betraf: Verletzung auch mit der Begründung eingerichtet antinationalsozialistischen Zwecken einge- „elementarer Normen des Gerichtsverfah- worden, damit den Faschismus zu bekämp- richtet worden wären, dann wäre ihre Als erstes möchte ich einige Fakten skizzie- rens". Konkret sah das so aus, daß die fen. Daraus folgern leider nicht nur Existenz publik gemacht worden, und wenn ren. Nach meinem augenblicklichen Untersuchung durch die Geheimpolizei unbelehrbare Kommunisten, sondern auch schon das nicht, dann hätte man sie doch Kenntnisstand gab es auf dem Territorium willkürlich und unter Einsatz körperlicher und NS-Opferverbände, daß sich die Lager doch wenigstens nicht verschwiegen. Aber genau der sowjetischen Besatzungszone folgende seelischer Folter vor sich ging. Geständnisse irgendwie auch gegen ehemalige Nazis das geschah. Nichts drang aus den Lagern Lager (wobei nicht vergessen werden darf, wurden erpreßt. Es gab keinen Verteidiger, gerichtet hätten. heraus, die Entlassenen mußten schweigen daß auch in den an Polen gefallenen und nur in seltenen Fällen war ein Dolmet- und haben es großenteils auch getan. Das ist Gebieten Deutschlands Lager existierten): scher anwesend. Das Urteil erging in der Eine noch harmlose Ausformulierung dieser j a das Bewegende, daß diejenigen nun Hauptsache nach der berüchtigten General- oft zu lesenden Ansicht lautet, in den Lagern sprechen können, die jahrzehntelang - Bautzen, von Mai 1945 bis Februar 1950, klausel des Artikel 58 des sowjetischen hätten „auch Unschuldige" gesessen. Woher schweigen mußten - und manchmal können mit insgesamt 23.000 bis 30.000 Häftlin- Strafkodex und lautete normalerweise auf wissen die, die das gedankenlos dahersagen, sie es auch nicht mehr. gen Strafen mit runden Ziffern: 10 und 25 Jahre wie schuldig oder unschuldig die von dem - Berlin-Hohenschönhausen, von Mai 1945 Lager waren die Regel. NKWD (sowjetische politische Geheimpolizei) Buchenwald wirkt heute unter anderem auch bis Oktober 1946, mit 10.000 bis 12.500 „Abgeholten" sind? Bedrückender noch sind deshalb so grausig, weil es außer dem festen Häftlingen Die Lebensverhältnisse in den Lagern waren die Auffassungen jener, die generell meinen, Gebäude im Hintergrund, dem jetzt soge- - Buchenwald, von August 1945 bis Februar so, daß man sie, statt sie hier in ihren der Opfer des Kommunismus dürfe deshalb nannten Museum, nur eine einzige große 1950, mit 30.600 bis 32.000 Gefangenen grausigen Einzelheiten zu schildern, am nicht gedacht werden, weil sie ja nur eine öde Fläche darstellt, über die der Wind weht. - Fünfeichen, April 1945 bis Oktober 1948, besten durch die Folgen ausdrückt, die das Antwort auf den Nationalsozialismus Da hatten früher die Baracken gestanden, die mit 17.200 bis 20.000 Inhaftierten Lagerleben gehabt hat. Ein Teil der Häftlinge darstellten. von den Kommunisten abgerissen worden - Jamlitz, September 1945 bis April 1947, mit wurde entlassen (manche starben bald sind. Warum wohl wurden sie abgerissen? 1 0.000 bis 14.200 Häftlingen danach), ein anderer Teil wurde in die Daß es sich bei diesen Lagern um etwas ganz Doch wohl deshalb, weil anderenfalls - Ketschendorf, April 1945 bis Februar 1947, Sowjetunion deportiert, ein weiterer Teil kam anderes gehandelt hat als um sichtbar geworden wäre, daß sie noch mit 15.000 bis 20.000 Gefangenen i n die DDR-Zuchthäuser, aber im Lager antinationalsozialistische Maßnahmen, liegt jahrelang nach den Nationalsozialisten - Mühlberg, September 1945 bis Oktober umgekommen sind in Bautzen zwischen auf der Hand. Trotzdem werde ich jetzt weiterverwendet wurden. Hinzu kommt, daß 1948, insgesamt 22.000 Inhaftierte 4.100 und 16.700, in Hohenschönhausen Merkmale zusammenstellen, die dann man die Toten versteckt hat. Sagen schon - Sachsenhausen, August 1945 bis März zwischen 3.000 und 3.500, in Buchenwald gleichzeitig dazu verhelfen werden, ein allein die Zahlen, daß es sich hier um alles 1950, mit 50.000 bis 60.000 Häftlingen etwa 13.000, in Fünfeichen zwischen 3.000 zutreffenderes Bild von den Lagern herzustel- andere als um Sühnemaßnahmen gehandelt - Fort Zinna, September 1945 bis März 1947, und 8.700, in Jamlitz zwischen 4.000 und l en. Die Kennzeichnung „antifaschistisch" hat, so spricht es Bände, daß schon ihr mit 14.600 bis 15.600 Gefangenen 5.200, in Ketschendorf zwischen 5.300 und sagt gar nichts aus oder, besser, sie sagt bloßes Vorhandensein geleugnet worden ist. - Weesow, Mai bis August 1945, mit 6.000 7.600, in Mühlberg zwischen 7.000 und etwas aus, nur etwas anderes, als es der I mmer neue verheimlichte Massengräber I nhaftierten. 8.800, in Sachsenhausen zwischen 10.000 kommunistische Sprachgebrauch wollte. werden entdeckt, und selten hat mich in und 30.000, in Fort Zinna etwa 6.000 und in Antifaschismus war immer ein Kampfbegriff, letzter Zeit etwas so erschüttert wie das Die Lager selbst waren früher eine Strafan- Weesow ebenso viele Menschen. der nach Belieben ausgedehnt werden Photo, das das Bautzen-Komitee von der stalt, eine Großküche, zwei NS-Konzentrati- konnte und der sich im äußersten Fall gegen Suche nach Verscharrten am Karnickelberg onslager (darauf werde ich noch zurückkom- alle diejenigen richtete, die keine Kommuni- verschickt hat. Man konnte da an der men), zwei Kriegsgefangenenlager, zwei Legendenbildung über die Funktion der sten waren. Der antifaschistische Schutzwall Bodenverfärbung sehen, wo Menschen Kasernen, zwei Siedlungen, ein Straflager der Lager i st das beste Beispiel dafür: Er richtete sich eingegraben worden waren, so, als ob es SS sowie Bauernhöfe gewesen. gegen das eigene Volk, das damit als Ganzes sich um archäologische Ausgrabungen längst So abstoßend es sein kann, nackte Zahlen zu potentiellen Faschisten gestempelt wurde, vergangener Kulturen handele. Dabei sind es Wie kam man ins Lager und wer kam ins hintereinander aufzureihen, so notwendig ist und folgerichtig wurde die Volkserhebung Angehörige Ihrer Generation, nach denen Lager? Man wurde „abgeholt", wie der es doch, um den Charakter der Lager und des 17. Juni 1953 als faschistischer Putsch- man heute forschen muß wie nach einem treffende Ausdruck heißt, den unser der sogenannten Justiz, die sie mit hat füllen versuch bezeichnet. Gewiß saßen in den verschollenen Volk. Bautzen-Komitee für diese Art irregulärer helfen, zu kennzeichnen. Leider gibt es Lagern auch ehemalige Nazis, aber individu- Verhaftung verwendete. Ein Teil der nämlich Streit darüber, wie diese Lager und elle Schuld ist nie festgestellt worden. Völlig Es gibt einen Parallelfall, der ganz deutlich Häftlinge wurde einfach so ins Lager i hre Opfer zu bewerten sind. Diese Auseinan- verfehlt ist es, diese Schuld als charakteri- macht, worum es sich bei diesen Lagern in gesperrt, ein anderer Teil erst nach einer dersetzung geht zum einen darauf zurück, stisch für die Insassen anzusehen. Dagegen Wirklichkeit gehandelt hat. Das ist die Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtri- daß die Sowjetunion die beiden größten und spricht schon die Geheimhaltung der Lager: Verurteilung deutscher Kriegsgefangener in bunal. Dessen Verfahren wird, ebenfalls opferreichsten Lager in ehemalige national- der Sowjetunion. Nachdem alle vier Sieger-

70 71 mächte des Zweiten Weltkrieges übereinge- tribunale und über die Lager gesagt habe, ist Bezug zu den innersowjetischen Lagern Wagen geworfen wurden, der sie zu den kommen waren, die deutschen Kriegsgefan- ja millionenfach auch in Rußland und der hergestellt wird. Dabei könnte auch mit Massengräbern brachte." genen 1948/1949 zu entlassen, wurde in der UdSSR geschehen. Es gibt kaum eine Opferverbänden i n den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den Jahren 1949 und 1950 sowjetische Familie, die nicht Angehörige in Sowjetunion zusammengearbeitet werden. aus heiterem Himmel zahlreichen Kriegsge- den Lagern verloren hat. Abgesehen davon, daß sich dabei auch fangenen der Prozeß gemacht. In aller Regel Unterschiede ergeben dürften - zum Beispiel gab es die üblichen 25 Jahre Arbeitslager, Im Jahre 1922 - oder schon 1919 - wurden die erzwungene Arbeit in der UdSSR und die meist wegen angeblichen Verstoßes gegen die ersten Lager eingerichtet, die sich dann erzwungene Untätigkeit in Deutschland; die Generalklausel des Artikels 58 des zum Archipel Gulag entwickelten. Willkürli- Auflösung der deutschen Lager immerhin sowjetischen Strafgesetzbuches. Plötzlich che Verhaftungen unter absurden Beschuldi 1950, während sie in der UdSSR weiter- hatte Stalin zwar keine Kriegsgefangenen gungen waren zeitweise Massen- existierten -, könnte damit auch erreicht mehr, wohl aber eine große Anzahl - die erscheinungen. Über alles mußte geschwie- werden, daß die NS-Opfer das Gefühl Zahlenangaben schwanken zwischen 26.000 gen werden, und immer wieder werden verlieren, mit der Ehrung der Opfer des und 50.000 Verurteilten - Kriegsverbrecher, weitere Skelettberge von Umgekommenen Kommunismus würden gleichzeitig ihre die er als Pfand für künftige Verhandlungen oder Umgebrachten entdeckt. Auch dort gibt Peiniger geehrt. Das ist faktisch nicht der Fall, zurückhalten konnte. Sie haben tatsächlich es also diese schreckliche neue Form der und dieser Sachverhalt wird am besten bei Adenauers Moskau-Besuch 1955 als Archäologie. dadurch deutlich gemacht, daß man den Druckmittel gedient und dazu beigetragen, Bezug zu den innersowjetischen Opfern daß Westdeutschland sich zur Aufnahme Mit anderen Worten: Der Bezugspunkt unter herstellt. Auf jeden Fall sollte das hier in diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR dem die Sowjetlager in Deutschland gesehen Bautzen geschehen, und die Anwesenheit bereit fand. Die ergreifenden Szenen bei der werden müssen, sind die Lager innerhalb der von Oberst Waleri Wolin sowie seine Heimkehr dieser Gefangenen im Lager UdSSR selbst. Mit Antritt ihrer Herrschaft in Ausführungen sind ein eindrucksvoller Friedland sind noch in guter Erinnerung. Deutschland übertrug die KPdSU das System, Anfang in diese Richtung. Gleichwohl galten sie bis vor kurzem auf mit dem sie ihre Gegner im eigenen Land sowjetischer und russischer Seite als rechts- verfolgte, auf ihr deutsches Herrschafts- Jenseits aller kollektiver Relativierungen, kräftig verurteilte Kriegsverbrecher. gebiet. Der Antifaschismus war dabei gewiß Summierungen und Bilanzierungen bleibt die oft subjektiv ehrlich empfunden, und ebenso Würde des Leidens eines jeden einzelnen. gewiß ist es, daß auch wirkliche NS-Täter in Von dem, was vor 1945 in Buchenwald Die Lager in der SBZ als Abbild von die Lager kamen. Aber abgesehen von einer geschehen ist, gibt es eine unter die Haut Lagern in der Sowjetunion zivilisierten Schuldfeststellung im Einzelfall gehende Beschreibung in dem jetzt erschie- sind diese Insassen nicht das Charakteristi- nenen Erinnerungsbuch von Alexander Seit Oktober 1991 wurden nun die ersten sche der Lager. Das Charakteristikum ist Agafonow, der auch nach 1945 in Buchen- der damals verurteilten deutschen Kriegsge- vielmehr, daß sie einen Außenposten des wald war - zunächst als Aufseher, dann als fangenen durch förmliche Bescheide Archipel Gulag darstellten. I nsasse, schließlich viele Jahre im sowjeti- rehabilitiert. Aber das ist nicht alles. In einer schen Gulag. Von dem, was nach 1945 in gemeinsamen Erklärung von Präsident Jelzin Diese Eigenschaft der Lager sollte zukünftig Bautzen geschah, berichten die Einzel- und Bundeskanzler Kohl wird gesagt, daß deutlicher herausgestellt werden. Die Schicksale des Buches unseres Bautzen- generell die „zu Unrecht Verurteilten und Kommissionen, die sich mit der Neukonzept- Komitees „Das gelbe Elend". Und manchmal unschuldig Verfolgten" individuell rehabili- i on der Gedenkstätten von Buchenwald und prägen sich Formulierungen solcher einzel- tiert werden können, also auch die, die sonst Sachsenhausen beschäftigt haben, haben die nen Menschen ein, die in unvergeßlichen durch sowjetische Militärtribunale verurteilt Sowjetlager zwar angemessen berücksichtigt. Bildern das Leiden und die Qual aller worden waren. Warum rehabilitiert Rußland Das ist um so anerkennenswerter, als diese ausdrücken. Kurt Noack, als 15jähriger in die jetzt die durch die Sowjetunion Verurteilten? Berücksichtigung gegen einen manchmal Lager gekommen, berichtete im „Morgen" Zum einen selbstverständlich aus ethischen nicht mehr zu rechtfertigenden Widerstand von Ketschendorf: „Aus dem Lager kamen Gründen, weil es mit den Verbrechen der von Seiten der NS-Opfer durchzusetzen war. die Toten in einen Erdbunker, zu dem die Diktatur, die jetzt abgeschüttelt worden ist, Diese Opfer sehen die Sowjetlager teilweise Ratten ungehindert Zutritt hatten. Ich sah nichts mehr zu tun haben will. Zum anderen i mmer noch als eine Antwort auf die NS- Löcher in den Gliedmaßen der Toten, wenn doch wohl auch deshalb, weil das, was hier Greuel an. das Leichenkommando allmorgendlich am i n Deutschland durch die sowjetischen Jugendhaus vorbeikam und Arme oder Beine Kommunisten geschehen ist, genau dem Möglicherweise könnte dieser irrigen Ansicht von den Tragen hingen." Und: „In Jamlitz entspricht, was sie bei sich selber getan dadurch abgeholfen werden, daß bei der hörte ich den Klang, wenn die froststarren haben. Alles nämlich, was ich eben gerade Gestaltung der Gedenkstätten deutlicher, als Skelette der toten Körper entkleidet auf den über die Justiz der sowjetischen Militär- es bisher beabsichtigt zu sein scheint, der

72 73 RUSSLAND REHABILITIERT DIE DURCH SOWJETISCHE MILITÄRTRIBUNALE UNSCHULDIG VERURTEILTEN

Waleri Alexandrowitsch Wolin Wenn ich in meinem Vortrag über Repressio- Militäroberstaatsanwalt der nen spreche, dann wünsche ich mir, daß Sie Verwaltung für Rehabilitierung den Begriff der Repression nicht mit dem der Generalstaatsanwaltschaft Namen Stalins verbinden. Ob Stalin, Lenin, der Russischen Föderation, Ulbricht oder Breschnew - sie alle sind Oberst der Justiz Erzeugnisse des Systems der Kommunisten. Mein Vortrag enthält keine sensationellen Mitteilungen, zumindest habe ich mich darum nicht bemüht. Ich muß Ihnen aber sagen, daß ich in den Jahren meiner Arbeit in der Rehabilitierungsverwaltung Akten und Unterlagen gelesen habe, die so schlimm waren, daß ich davon schlaflose Nächte hatte. Mein ganzes bewußtes Leben lang, ich bin den größten Teil meines Lebens in I nternats-Schulen des Komsomol aufgewach- sen, wurde mir immer wieder der Haß gegen den Faschismus und gegen alles, was deutsch war, eingehämmert. Und nun, im reifen Alter stehend, erfahre ich, daß die Kommunisten keinen Deut besser waren als die Faschisten - und oft haben jene diese sogar übertroffen. I m Anschluß an meinen Vortrag gehe ich auf Fragen zum Verfahren der Rehabilitierung ein (siehe S. 81). Wenn hier und heute jemand einen Antrag auf Rehabilitierung stellen möchte, werde ich den Antrag offiziell zur Kenntnis nehmen und ihn zur Bearbeitung mitnehmen.

Konzentrationslager von Anbeginn der Sowjetherrschaft Der kommunistische Staatsstreich des Jahres 1917 in Rußland zerstörte die Anfänge der Demokratie und errichtete die Diktatur einer Partei. So kam die Kommunistische Partei zur Macht, und ihre Anführer - beginnend mit Lenin und Stalin und gefolgt von den

74 75 späteren kommunistischen Spitzen- Das ZK der KPdSU (B) ist der Auffassung, funktionären - etablierten ein totalitäres daß die Methode der physischen Einwirkung Vor meiner Abreise forderte ich im KGB- Vertreter der Seiten - ohne Verteidiger und System der Gesetzlosigkeit und der gegen offenkundige Volksfeinde, die ihre Archiv die Strafakte dieses Arztes zur Staatsanwälte -behandelt werden." Dies uneingeschränkten Macht der Partei der Waffen nicht niedergelegt haben, im Kenntnisnahme an, bekam sie jedoch nicht zeigt, daß es bei der Behandlung dieses Falles Kommunisten. Sie brachten das Volk dieses Ausnahmefall obligatorisch als völlig richtiges ausgehändigt. Die Verbrechen des Dr. nur eine Gesetzlichkeit, nämlich die sowjeti- großen Landes um Freiheit und Demokratie. und zweckmäßiges Verfahren anzuwenden Mengele kennt alle Welt, über ihn wurden sche gab, die nichts anderes als i st. " Fil me gedreht, Bücher geschrieben und Gesetzlosigkeit darstellt. Und mit Einem Millionenvolk wurden Begriffe wie Gerichtsprozesse abgehalten, doch das KGB Gesetzlosigkeit und Grausamkeit wurde das sowjetische Kultur, sowjetischer Realismus, Mich entsetzten sowohl die wird seine eigenen Geheimnisse noch lange sowjetische Volk von seinen Führern unter- hüten. Man muß wohl dem ehemaligen sowjetische Gesetzlichkeit, ja sogar sowjeti- Unmenschlichkeit und die ausgeklügelten drückt. Schon Lenin forderte: „Aufstände der sche Demokratie und Freiheit aufgedrängt. Methoden der Folter als auch deren Ausmaß. Minister für Sicherheit, Wadim Bakatin, mit der Sowjetmacht Unzufriedenen sind mit Bereits in den ersten Tagen der Beim Studium einer archivierten Strafsache zustimmen, der bemerkte: „Glauben Sie schonungsloser Entschlossenheit, mit Machtergreifung durch die Kommunisten über Mitarbeiter des NKWD im Gebiet keinem, der Ihnen sagt, er wüßte alles über Massenterror zu unterdrücken, alle Unzufrie- wurden Bürger, die die kommunistischen Winniza in der Ukraine erfuhr ich zum ersten das KGB. Nichts und niemand wird das KGB denen sind aufzuhängen, auf das es die Ansichten nicht teilten, von der übrigen Mal, daß der zentrale Apparat des NKWD in umkrempeln, solange Rußland keine anderen sehen und sich fürchten." Gesellschaft isoliert. Millionen Menschen Erfüllung des Willens der Partei der Kommu- demokratische bürgerliche Gesellschaft wurden seelischen und körperlichen Miß- nisten jeden Monat einen Plan zur geworden ist." Auf Lenins Verlangen wurde das bestehende handlungen unterworfen, viele von ihnen Enthüllung (Feststellung) einer bestimmten Gerichtssystem vernichtet - das Volk wurde vernichtet. Anzahl von „Volksfeinden" an die Gebiets- ohne Ermittlungsverfahren und Gericht verwaltung des NKWD schickte, und jeden Terror zur Machtabsicherung abgeurteilt. Lenins würdiger Nachfolger Zur gewaltsamen Einführung des unmensch- Monat erstatteten die NKWD-Leiter Bericht Stalin forderte: „Die Schuldigen sind in li chen Regimes der Kommunisten wurde ein an die Zentrale über die Erfüllung dieses Wiederholt habe ich versucht, über das Schnellverfahren abzuurteilen; das Urteil muß Archiv des KGB die genaue Zahl repressierter lauten: Erschießen." gewaltiger Unterdrückungsapparat geschaf- Planes. So konnte ich in einer Meldung lesen: fen, den die KPdSU mit uneingeschränkter (bestrafter) deutscher Bürger zu erfahren, Macht und allen nur denkbaren Möglichkei- „Infolge Erkrankung sowie Dienstreisen von aber die KGB-Mitarbeiter sagen, sie wüßten Die Straforgane henkten, erschossen und ten ausstattete. Wenn es darum ging, mit Untersuchungsführern und operativen selbst nicht, wie viele es sind. Das glaube ich folterten. Sie verkrüppelten das ganze Volk, Andersdenkenden abzurechnen, existierten Mitarbeitern haben wir i m Juni 1938 nur sogar, denn die fehlende Ordnung im raubten ihm jede Vorstellung von Demokra- weder Gesetze noch Moral. Bereits 1919 14.000 Volksfeinde inhaftiert. Ich bitte die gesamten Staate führte zu Unorganisiertheit tie und Kultur sowie seinen Glauben an Gott. haben die Kommunisten auf Lenins Drängen Leitung, die fehlenden 3.000 aus dem Gebiet und Chaos in allen staatlichen Strukturen, Um die Demokratie in Rußland wiederherzu- Konzentrationslager erdacht und errichtet. Dnepropetrowsk abzudecken. Das Kollektiv auch im KGB. Die sowjetischen Gerichte und stellen, werden viele Jahrzehnte notwendig Von 1935 bis 1939 und in der Folgezeit der Verwaltung verpflichtet sich, im nächsten die Staatsanwaltschaften konnten die Unzahl sein, und es ist ein Glücksfall, daß sich auch verwandelte sich das ganze Land in ein Monat den Plan mit 3.000 überzuerfüllen." von Repressionsfällen nicht bewältigen. die Friedrich-Ebert-Stiftung mit diesem einziges großes Straflager. Manche Lager Daher wurden zur schnelleren Erledigung wichtigen Problem Rußlands befaßt. erstreckten sich über Tausende von Kilome- Die Partei brauchte Millionen von Sklaven, Feldgerichte, „Sonderkonsilien", „Kollegi- tern, wie das von Karaganda mit seiner die die „lichte kommunistische Zukunft" en", „Zweiergremien" (Dwoiki), „Dreier- Ausdehnung von 1.400 Kilometern. Hier aufbauen sollten, und Straforgane wie das gremien" (Troiki) etabliert. Das heißt, zwei Willkürliche Anschuldigungen und wurden Millionen sowjetischer und ausländi- NKWD, die Gerichte und die oder drei Partei- bzw. Militärführer - ohne gefälschte Beweise scher Bürger als Sklaven gehalten. Beim Staatsanwaltschaften erfüllten gewissenhaft jede Ahnung von Gesetzlichkeit und geleitet Studium Hunderter von Strafsachen aus den Willen der Partei. nur von ihrem primitiven „revolutionären" I n den Jahren meiner Tätigkeit in der Archiven fand ich stets Hinweise auf unge- Bewußtsein - saßen über unschuldige Verwaltung für Rehabilitierung stellte ich setzliche Handlungen und Beweise für die Vor kurzem erst erfuhr ich bei meiner Arbeit Menschen zu Gericht, genauer: Sie rechne- fest, daß sich mit der Demokratisierung der Mißhandlung und Folterung von Bürgern im i n der Verwaltung für Rehabilitierung, daß in ten mit ihnen ab. Gesellschaft auch die Vorgehensweise der Verlauf des Ermittlungsverfahrens. Ich habe Moskau beim zentralen Apparat des KGB ein Staatsanwälte bei der Behandlung von sogar Ermittlungsakten über folternde KGB- Geheimlabor eingerichtet worden war, um Auch in späteren Jahren, als die Gesetzlich- Archivfällen ändert. Während der Vorberei- Mitarbeiter gelesen, niemals jedoch Versuche an zum Tode verurteilten keit scheinbar besser zum Tragen kam, sind tung zum Besuch des Bautzen-Forums lieh Ermittlungsunterlagen über die Initiatoren Häftlingen durchzuführen. In diesem Verletzungen von Menschenrechten und ich mir bei Mitarbeitern meiner Abteilung und Einpeitscher dieser Verbrechen: die Todeslabor unter Leitung des Doktors der demokratischen Prinzipien der Material über Rehabilitierungsfälle der letzten Führung der KPdSU. Dabei sandte doch das medizinischen Wissenschaften, Professor Rechtsprechung in jeder Strafsache zu 2 bis 3 Jahre aus und bemerkte ein völlig Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Grigori Mairanowski, wurden durch KGB- finden. So liest man zum Beispiel im Be- anderes Herangehen an die Probleme der 1 937 ein Geheimtelegramm an das NKWD Angehörige Tausende von Menschen schluß eines sowjetischen Tribunals vom Rehabilitierung repressierter deutscher (Volkskommissariat für Innere Angelegenhei- unterschiedlicher Nationalität umgebracht. Februar 1952 in der Strafsache Lothar-Arno Bürger. ten, sowjetische politische Geheimpolizei), in Gehring und sechs weiterer deutscher dem es hieß: Bürger: „Diese Strafsache muß in nicht- So wandten sich zum Beispiel Vertreter der Öffentlicher Gerichtsverhandlung ohne die Kurt-Schumacher-Gesellschaft über die 76 77 Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Untersuchungsführer unterscheidet, die das der UdSSR an den Generalstaatsanwalt mit harte Urteil über diese mutige Frau fällten. Zu dem Gesuch um Rehabilitierung von Frau Eva analogen Schlußfolgerungen kam eben Fischer, geboren 1929. Sie wurde am 23. dieser Jurist in weiteren fünf Archivstraf- Oktober 1946 nach Artikel 58-2 des Straf- sachen deutscher Bürger, die wegen Spiona- gesetzbuches der RSFSR „Bewaffneter ge verurteilt worden waren. Aufstand zur Machtergreifung" zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Tatsächlich Ein großer Teil der Strafsachen gegen wurde sie wegen ihrer sozialdemokratischen deutsche Bürger betrafen Beschuldigungen Überzeugung bestraft. Vom Gericht wurde wegen Spionage. Wollte man diesen Frau Fischer für schuldig befunden, in verlogenen Dokumenten glauben, so müßte feindseliger Einstellung gegen die man annehmen, daß ein erheblicher Teil aller Sowjetarmee vom Tage der Kapitulation Deutschen in den Nachkriegsjahren zu Deutschlands an bis August 1946 systema- Spionen geworden war. Das Schrecklichste tisch unter der deutschen Jugend Agitation aber ist: fast alle Beschuldigten gaben ihre zur Verherrlichung des ehemaligen Regimes Schuld im Verlauf des Ermittlungsverfahrens betrieben zu haben. Im Juli 1946 habe sie zur zu. Das war es schließlich, was die Zerstörung eines am 1. Mai 1946 zu Ehren Untersuchungsführer des KGB „mit großem der Sowjetarmee errichteten Denkmals eine fachlichen Können" von ihnen erreichen Gruppe von fünf jungen Männern (ehemali- wollten. gen Mitgliedern der Hitlerjugend) organisiert. Um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen, faßten die KGB-Mitarbeiter Außer den Aussagen eines Zeugen, der in Dokumente ab, worin sie Rechenschaft über dieser Sache verhört worden war, und dem ihre Opfer ablegten. Anhand eines Geheim- Geständnis der beschuldigten Frau Fischer dokuments gebe ich Ihnen dafür ein Beispiel: wurden im Verlaufe der Ermittlung keine weiteren Beweise beigebracht, die eine Die Repressionsmaßnahmen des kommunisti- verbrecherische Absicht Frau Fischers entlarvt schen Systems betrafen alle Schichten der hätten. In der Anklageschrift zu dieser Sache Bevölkerung Deutschlands und verschonten steht: „Zur Erreichung ihres verbrecherischen weder Hausfrauen noch Schüler, Greise, Zieles - der Sprengung des Denkmals - traf Angehörige der Intelligenz oder Kriegsgefan- sich die Untergrundgruppe heimlich in einem gene, die sich in Lagern der UdSSR befanden. Restaurant; sie konnte ihr Vorhaben jedoch So wurde am 15. November 1949 der Major Zu meiner Verwunderung konnten ihn die dieser Strafsache kam ich zu dem Schluß, nicht verwirklichen, weil sie dort verhaftet der Wehrmacht, Dr. jur. Paul-Heinz Herfurth, beiden Zeugen nach sieben Jahren nicht nur Herfurth sei unschuldig verurteilt worden. wurde." (Jahrgang 1898) verhaftet, der sich im auf der Fotografie wiedererkennen, sondern Daher rehabilitierte ich ihn am 18. Mai 1993. Kriegsgefangenenlager des Ministeriums des sie erinnerten sich sogar noch an den Vor- - Es hätte aber auch anders kommen Die Ermittlungen erbrachten keinerlei Innern Nr. 74 im Gebiet Gorki befand. Er und Familiennamen des deutschen Offiziers! können: konkrete Beweise in der Sache. Trotzdem wurde beschuldigt, Gewalttaten gegen die Bei Untersuchung dieser Strafsache wurde lehnte mein Abteilungskollege, ein sehr Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten mir klar, daß hier eine gewissenlose Fäl- Als ich am 14. Mai die deutsche Botschaft erfahrener Staatsanwalt, die Rehabilitierung Rußlands begangen zu haben. Der Anklage schung der Lagerverwaltung vorlag. Zu- aufsuchte, übergab mir Herr Ingo Herbert, von Frau Fischer ab und schrieb in seiner gegen Herfurth wurden Protokolle über seine nächst einmal kann das ein Mitarbeiter der Botschaft, eine Note mit Stellungnahme: „Nach Analyse des Materials Identifizierung anhand von Fotografien und Identifizierungsprotokoll schon deshalb keine dem Gesuch um Rehabilitierung Herfurths. der Strafsache komme ich zu dem Schluß, zwei primitiven oberflächlichen Verhören Beweiskraft haben, weil zur Identifizierung 3 Ich forderte umgehend die Akten aus dem daß Frau Eva Fischer wegen aktiver feindli- zweier Einwohner des Dorfes Wysokoje im Fotos von Personen männlichen Geschlechts Archiv an, erfuhr jedoch, die Sache sei bereits cher Tätigkeit gegen die Sowjetarmee und Gebiet Orlowka zugrunde gelegt, die vorgelegt wurden, von denen sich zwei im bei der Staatsanwaltschaft. Ich fand die der von ihr persönlich vorgenommenen erklärten, daß in den Kriegsjahren die in Aussehen wesentlich von Herfurth unter- Akten, und mein Kollege sagte mir, nachdem Gründung einer illegalen Gruppe mit ihrem Dorf befindlichen deutschen Truppen schieden, der zudem als einziger in Wehr- er sie gelesen hatte, er wolle einer konterrevolutionären Zielen im Jahre 1946 zu die jungen Leute deportiert, Plünderungen machtsuniform abgebildet war. Beide Rehabilitierung nicht stattgeben, weil Recht verurteilt wurde." begangen und friedliche Bürger umgebracht Zeugen konnten nicht angeben, nach Herfurth durch Dorfbewohner identifiziert hätten. Dies alles sei unter Leitung des welchen Merkmalen sie Herfurth identifiziert worden sei. Die ablehnende Stellungnahme Ich schäme mich heute für diesen Oberst, da Kommandanten, Major Paul-Heinz Herfurth, hatten. Zudem dauerte das Ermittlungs- hatte er bereits vorbereitet. Dabei verwies er sich seine Denkweise 50 Jahre nach jenen der auch persönlich Erschießungen vorge- verfahren nur ganze drei Tage! Nach Analyse auf den Umstand, daß die Leitung unserer Ereignissen nicht vom Denken jener KGB- nommen hätte, geschehen.

78 79 Staatsanwaltschaft bereits früher wiederholt Komitees zur Rehabilitierung der Opfer Rehabilitierungsversuche von Verwandten politischer Repressionen ins Leben gerufen. des Herrn Herfurth abgelehnt habe. Durch I m KGB und bei den Staatsanwaltschaften Verschulden unserer Bürokraten war es wurden Rehabilitierungskommissionen Herrn Herfurth nicht vergönnt, den Triumph geschaffen. Der zentrale Apparat der der Gerechtigkeit noch zu erleben. Am 6. Staatsanwaltschaft der UdSSR richtete Juni 1993 übergab ich die Rehabilitierungs- Rehabilitierungsabteilungen ein, zu deren urkunde der Tochter des inzwischen Verstor- Aufgabenbereich die Behandlung der benen, Frau Elisabeth Schröder, und ihrem Anträge von Bürgern und gesellschaftlichen Gatten, Herrn Dr. Karl Schröder, in Braun- Organisationen zur Rehabilitierung politischer schweig. Sie berichteten mir, bisher zwei Gefangener gehört. Ähnliche Ablehnungen ihrer Rehabilitierungsgesuche Rehabilitierungsabteilungen erhielten die erhalten zu haben. Staatsanwaltschaften jedes Gebietes sowie die Staatsanwaltschaften der Wehrkreise. Erste Rehabilitierungen nach dem Tode In nur drei Jahren überprüften die Staatsan- Stalins wälte rund 1 Million Archivstrafsachen. Doch da es keine Gesetze über die Rehabilitierung Der Kampf gegen die juristische Willkür gab, wurde diese Arbeit behindert. Ihr fehlte begann in der ehemaligen UdSSR fast es an Effektivität, und sehr oft lehnten die zeitgleich mit dem Tode Stalins - im Jahre Staatsanwälte die Rehabilitierung unschuldig 1 954. Im Sommer dieses Jahres führten verurteilter politischer Gefangener ab. Hunderttausende Inhaftierter, die nicht von der Amnestie anläßlich Stalins Todes betrof- Strafsachen ausländischer Bürger sowie von fen waren, Aufstände in vielen Besserungs- Personen, die außerhalb der Grenzen der lagern der UdSSR durch. Alle diese Aufstände UdSSR verurteilt worden waren, bezog man wurden von den Truppenteilen der fast überhaupt nicht in die Bearbeitung ein. Sowjetarmee grausam niedergeschlagen. I ch erinnere mich daran, daß wir Hunderte Hunderte Menschen verloren dabei ihr von Strafsachen beiseite legten, um abzu- Leben. Erst nach dieser Tragödie wurde von warten, bis ein Gesetz über die der Parteiführung der KPdSU eine Amnestie Rehabilitierung verabschiedet werden würde. erlassen, wonach die Rehabilitierung der Erfolgte jedoch eine Bearbeitung, weil Opfer der politischen Repressions- ausländische Bürger durch Vermittlung ihrer maßnahmen begann. Als erste kamen die Botschaften in Moskau Beschwerden politischen Gefangenen frei. eingereicht hatten, wurde eine Rehabilitierung meistens abgelehnt. Während der Regierungszeit Chruschtschows verlief die Rehabilitierung recht zügig, und in Erst am 13. August 1990 veröffentlichte Sowjet der UdSSR behandelt werden sollte. und Propaganda verurteilt worden waren kurzer Zeit wurden mehr als 800.000 Präsident Michail Gorbatschow einen Erlaß Dieses Gesetz wurde jedoch nicht vorberei- und rehabilitierten sie. Strafsachen ausländi- unschuldig verurteilter Bürger der UdSSR und „Über die Wiederherstellung der Rechte aller tet, und ab August 1990 wurde die Rehabili- scher Bürger oder Personen, verurteilt von anderer Länder rehabilitiert, so aus Deutsch- Opfer politischer Repressionsmaßnahmen in tierung praktisch eingestellt. Ich arbeitete sowjetischen Militärtribunalen, bearbeiteten l and, Japan und Polen. Doch mit dem den 20er bis 50er Jahren". Gorbatschow damals in der Verwaltung für Rehabilitierung wir nicht. Staatsstreich 1964 gelangten kommunisti- erklärte die Repressionen für ungesetzlich und kann mich erinnern, wie sich die sche Kräfte stalinscher Prägung, mit und den grundlegenden zivilen und sozial- Schränke mit eingehenden Archivstrafsachen Hoffnung auf eine demokratische Um- Breschnew an der Spitze, zur Macht. Gegen ökonomischen Rechten widersprechend und füllten und wie wir die zahlreichen Anträge gestaltung in der UdSSR keimte nach dem 1 968 kam der Prozeß der Rehabilitierung forderte die Wiederherstellung der Rechte und Beschwerden der Bürger mit nichtssa- Umsturzversuch im August 1991 auf, als zum Erliegen. In der UdSSR begannen neue aller von Repressionsmaßnahmen betroffener genden Antworten erledigten. demokratischere Kräfte an die Macht politische Verfolgungen. Bürger. Zu diesem Zwecke erteilte er in gelangten. Als Sohn und Enkel von Bürgern, seinem Erlaß der Regierung der UdSSR und Um nicht untätig zu bleiben, nahmen wir, die die Repressionen ausgesetzt waren, konnte Erst nachdem Michail Gorbatschow die den Regierungen der Unionsrepubliken den Staatsanwälte, uns aus eigener Initiative i ch dem Prozeß der Rehabilitierung nicht Macht übernommen hatte, kam es im Lande Auftrag, bis zum 1. Oktober 1990 den Strafsachen von Bürgern vor, die ausschließ- gleichgültig gegenüberstehen und traf mich zu demokratischen Umgestaltungen. Im Entwurf eines Gesetzes über die Rehabilitie- li ch wegen konterrevolutionärer Agitation gleich nach dem Umsturzversuch mit dem Parlament und in der Regierung wurden rung vorzubereiten, das vom Obersten

80 81 Vizepräsidenten Alexander Ruzkoij, den ich Gerichten und anderen Organen, die mit Das Gesetz legt die überprüfung von Antrag auf Rehabilitierung unbegründet ist, ein wenig aus der Afghanistan-Zeit kannte. Gerichtsfunktion betraut waren, vollzogen Archivstrafsachen ausschließlich in die verfaßt er eine ablehnende Stellungnahme I ch trug ihm meine Vorschläge darüber vor, worden oder auf administrativem Wege Kompetenz der Staatsanwaltschaft. Die zur Rehabilitierung, gibt den Grund dafür an durch einen Erlaß alle sowjetischen und durch die Organe der Exekutivgewalt und Arbeit zur Rehabilitierung der Bürger wird und reicht die Unterlagen an das Gericht. ausländischen Bürger zu rehabilitieren, die durch Amtspersonen erfolgt sein. unter Hinzuziehung der Organe für Staats- Dieses kann den Beschluß des Staatsanwaltes gegen das totalitäre Regime der Kommunisti- sicherheit und Innere Angelegenheiten abändern und die Sache einstellen, das heißt, schen Partei der UdSSR gekämpft hatten. Zwar sah das Gesetz auch eine durchgeführt, in deren Archiven die Straf- den Betroffenen rehabilitieren. Ruzkoij riet mir, einen entsprechenden Rehabilitierungsordnung vor, die angegeben sachen liegen. Nach Artikel 3 des Gesetzes Gesetzentwurf vorzubereiten und versprach, sollte, wer zu rehabilitieren ist und wer nicht. sind alle Bürger zu rehabilitieren, die aus Der bei der Staatsanwaltschaft eingehende mich in den Stab aufzunehmen, um dort Doch dieses Dokument hatte seine Mängel, politischen Motiven wegen Staats- oder Antrag eines Bürgers oder einer gesellschaft- eines der Komitees zu leiten. Als ich nach da es, wie viele andere auch, hastig, ohne anderer Verbrechen verurteilt wurden, li chen Organisation auf Rehabilitierung wird zwei Wochen zur angegebenen Zeit er- Absprache mit uns, den Staatsanwälten, Strafmaßnahmen außergerichtlicher Organe einem der Staatsanwälte der Abteilung für schien, empfingen mich Ruzkoijs Mitarbeiter, ausgearbeitet wurde, und deshalb lückenhaft - wie NKWD, KGB und andere - ausgesetzt Rehabilitierung übergeben. Gegenwärtig ein Oberst des KGB und ein General. Zu i st. So heißt es etwa, daß dieses Gesetz nur waren sowie ohne ein Gerichtsverfahren arbeiten in unserer Militärverwaltung zwei Ruzkoij wurde ich nicht mehr vorgelassen. für Bürger gilt, die auf dem Territorium verbannt, ausgesiedelt, interniert, zur Staatsanwälte an der Rehabilitierung Zwei oder drei Monate später ernannte er Rußlands verurteilt wurden und Repressions- Zwangsarbeit herangezogen oder zur deutscher Bürger, und zwar Militär- Militärstaatsanwalt General Saika und andere maßnahmen ausgesetzt waren. Aber was Zwangsbehandlung in psychiatrische Kliniken staatsanwalt Oberst Nikolai Wlasenko sowie zu seinen Mitarbeitern. Diese Leute hatten sollte mit denen geschehen, die durch verbracht wurden. Oberst Jewgeni Panasjugin. Beide befassen ganz unverhohlen Krjutschkow, Jakowlew sowjetische Militärtribunale in den von der sich mit der Rehabilitierung von Bürgern, die und die anderen Gorbatschow-Gegner Sowjetarmee okkupierten Ländern verurteilt Artikel 4 des Gesetzes bestimmt, daß jene i m europäischen Raum Repressionen unterstützt, die sich jetzt vor Gericht verant- worden sind? Bürger nicht zu rehabilitieren sind, in deren ausgesetzt waren. Sie traten im Sommer worten müssen. Akten sich ausreichende Beweise für vergangenen Jahres zeitweilig an meine I n den letzten beiden Jahren wandten sich folgende Delikte befinden: Stelle. In dieser Zeit haben sie etwa 120 i mmer öfter ausländische Bürger mit der Bitte - Vaterlandsverrat, Spionage oder Diversion deutsche Bürger rehabilitiert. Das ist nicht Erstes Gesetz über die Rehabilitierung um ihre eigene Rehabilitierung oder die ihrer - Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung viel, doch sie haben außer Deutschen auch Angehörigen an die Staatsanwaltschaft der - Bandenbildung, Mord, Raub und andere Polen, Tschechen, Rumänen und Bürger Ein Jahr nach dem Amtsantritt des ersten auf Russischen Föderation. 1992 gingen rund Gewalttaten weiterer Länder rehabilitiert. demokratischem Wege gewählten Präsiden- 1500 solcher Anträge bei der Staatsanwalt- - Kriegsverbrechen. ten, Boris Jelzin, wurde das erste Gesetz über schaft ein. Nur ein geringer Teil davon wurde die Rehabilitierung der Opfer politischer erledigt. Dies liegt daran, daß das Gesetz Rehabilitierung noch immer behindert Repressionen vom 18. Oktober 1991 über die Rehabilitierung vom 18. Oktober Das Verfahren der Rehabilitierung verabschiedet. In diesem Gesetz wird 1991 nur die Rehabilitierung derjenigen I n der Generalstaatsanwaltschaft der erstmals eine Definition der politischen Personen vorsah, die auf dem Territorium Die vom Gesetz festgelegte Rehabilitierungs- Russischen Föderation befaßt sich Staats- Repressionen gegeben. Danach gelten als Rußlands Repressionsmaßnahmen ausgesetzt ordnung besagt in Artikel 6, daß anwältin Galina Nikolajewna Semjonowa mit politische Repressionen verschiedene waren. Deshalb wandte sich die General- Rehabilitierungsanträge entweder durch die der Rehabilitierung deutscher Bürger. Sie hat Zwangsmaßnahmen, die der Staat aus staatsanwaltschaft Rußlands mit dem Bürger, die unter Repressionen zu leiden l ange Jahre als Untersuchungsführerin, politischen Motiven anwendete. Dazu Vorschlag an den Obersten Sowjet, das hatten, oder durch gesellschaftliche Organi- später als Staatsanwältin gearbeitet und gehören Todesstrafe, Freiheitsentzug, Gesetz zu novellieren und dessen Geltung sationen bei der Staatsanwaltschaft Rußlands wurde bereits pensioniert. Trotzdem verrich- Verbringung in psychiatrische Einrichtungen auch auf ausländische Bürger auszudehnen, eingereicht werden müssen. So tritt für tet sie weiterhin gewissenhaft ihre Arbeit. Bei zur Zwangsbehandlung, Ausbürgerung und die außerhalb der Grenzen Rußlands unter deutsche Bürger oft die Kurt-Schumacher- mehreren Treffen mit ihr konnte ich mich Verlust der Staatsbürgerschaft, Aussiedlung Repressionen gelitten hatten. Gesellschaft oder die deutsche Botschaft in davon überzeugen, daß sie ihre Arbeit von Bevölkerungsgruppen aus ihren an- Moskau in Erscheinung. hochprofessionell organisiert hat; Studenten gestammten Wohngebieten, Verbannung, Am 22. Dezember 1992 brachte der Präsi- der juristischen Fakultät der Universität Verschickung in Sonderansiedlungen, dent der Russischen Föderation, Boris Jelzin, Dem Gesetz zufolge darf die Bearbeitungs- unterstützen sie. Heranziehung zur Zwangsarbeit unter Veränderungen und Ergänzungen in das dauer eines Antrages 3 Monate nicht Die Leiterin dieser Verwaltung für Rehabilitie- Bedingungen der Freiheitsbeschränkung bereits angenommene Rehabilitierungsgesetz überschreiten. Mit Hilfe der Organe des KGB sowie sonstige Verluste oder Einschränkun- ein. Dessen Geltungsbereich umfaßt nun und des Ministeriums des Innern sucht die rung, Galina Fjodorowna Wesnowskaja, teilte mir mit, daß die deutsche Botschaft in gen der Rechte und Freiheiten von Bürgern, auch jene ausländischen Bürger, die politi- Staatsanwaltschaft die Strafakte heraus und die aufgrund ihrer klassenmäßigen, sozialen, schen Repressionen durch sowjetische studiert sie. Ist der Antrag begründet, wird Moskau darauf drängt, die Rehabilitierung nationalen oder anderen Merkmale als sozial Gerichte und Verwaltungsorgane, durch eine befürwortende Stellungnahme zur deutscher Bürger voranzutreiben. Deshalb gefährlich für den Staat oder das politische Militärgerichte, das NKWD und die Rehabilitierung abgefaßt und eine Urkunde werden sich wohl schon bald fünf Staatsan- System eingeschätzt wurden. Die Staatsanwaltschaft ausgesetzt waren. über die Rehabilitierung ausgestellt. Gelangt wälte mit der Rehabilitierung deutscher Repressionen mußten auf Beschluß von der Staatsanwalt zu der Auffassung, daß der Bürger befassen. 82 83

Wie mir Galina Fjodorowna erzählte, habe deportiert worden waren. Ich habe einige etwa 500 deutschen Bürgern vor, doch Die Schuld der Eheleute Köhler hatte darin die Arbeit an der Rehabilitierung deutscher dieser Dokumente selbst gesehen und werden keinerlei Maßnahmen zu ihrer bestanden, daß ihre Tochter in den schweren Bürger, die von sowjetischen Militär- konnte mich davon überzeugen, daß Rehabilitierung ergriffen. Nachkriegsjahren ernsthaft erkrankte. Die tribunalen auf deutschem Territorium deutsche Bürger häufig nur deshalb nach Ärzte verschrieben ihr Medikamente, die verurteilt wurden, erst im Dezember 1992 Sibirien und an andere Orte Rußlands und Mangelware waren, sowie Lebertran, der in richtig begonnen, nachdem die Ergänzungen Kasachstans umgesiedelt worden sind, weil Frühere Fälschungen erschweren heute der sowjetischen Besatzungszone nicht zum Rehabilitierungsgesetz angenommen sie besser lebten als andere und über die Rehabilitierung erhältlich war. Frau Köhler fuhr mehrere worden waren. In jenem Jahr hat sie 50 Grundbesitz oder anderweitiges Eigentum Male nach Westberlin, wo sie durch Vermitt- deutsche Bürger rehabilitiert. Sie erwähnte verfügten. Vor Annahme des Rehabilitierungsgesetzes l ung von Bekannten die notwendigen auch, daß die Botschaft der Bundesrepublik l agen alle Beschlüsse im Ermessen des Medikamente erwarb, während ihr Mann Deutschland in Moskau bei der Staatsanwalt- Mittels solcher ungesetzlicher und un- Staatsanwaltes. Wenn ihm danach war, Erwin bei seinen Dienstreisen mit der Bahn schaft für jeden Antrag stellenden deutschen menschlicher Methoden setzte die KPdSU rehabilitierte er, war ihm nicht danach, ließ er von Potsdam nach Ostberlin durch den Bürger drei Exemplare eines Fragebogens mit Hilfe des Repressionsapparates des KGB es bleiben. Wir Staatsanwälte saßen häufig Westteil der Stadt fuhr. Im Ergebnis wurden einreicht; ein Exemplar davon schickt sie an unter Verletzung der Normen des internatio- zusammen im Arbeitszimmer und stritten sie und ihr Mann der Spionage beschuldigt, das Informationszentrum des Innen- nalen Rechts den Sozialismus auf deutschem darüber, ob zu rehabilitieren sei oder nicht. obwohl die Untersuchungsführer keinerlei ministeriums. Dort werden Hinweise über die Boden durch. Alle, die sich dem in den Weg Während man die Meinung eines Kollegen Beweise für eine Spionagetätigkeit besaßen. Verurteilung eingetragen: Wo, wann, durch stellten, alle nicht genehmen Bürger, im nicht zu akzeptieren braucht, sieht das in Während des Ermittlungsverfahren bekann- welches Gericht wurde der Bürger verurteilt? wesentlichen Angehörige der Intelligenz und bezug auf den Abteilungsleiter ganz anders ten sie sich schuldig, erklärten aber beide vor Wo wird die Strafakte aufbewahrt? standhafte Patrioten, wurden ohne aus. Sehr oft müssen die anderen Staatsan- Gericht mutig, sie seien mit den Maßnahmen Ermittlungsverfahren und Gerichtsverhand- wälte genau wie ich Rehabilitierungs- der Machthaber in der sowjetischen Strafakten ausländischer Bürger wurden bis l ung inhaftiert und nach Rußland deportiert. beschlüsse neu schreiben, um dem Antrag- Besatzungszone Deutschlands nicht einver- 1993 hauptsächlich im KGB-Archiv Wladimir I hnen ist gewiß nicht entgangen, daß sich in steller zu helfen, nach einem halben Jahrhun- standen, sondern hielten die von den sowie in den Archiven des Ministeriums des Rußland zivile und militärische dert wenigstens noch den Triumph der westlichen Besatzungsmächten in Deutsch- I nneren der Gebiete Gorki, Swerdlowsk, Rehabilitierungsverwaltungen der General- Gerechtigkeit erleben zu können. l and durchgeführte Politik für richtig; daher Kiew usw. aufbewahrt. Die anderen Staats- staatsanwaltschaft mit der Rehabilitierung hätten sie beide ihre Übersiedlung nach anwälte und ich selbst erhielten von dort in deutscher Bürger befassen. Die zivile Aber das ist nicht so einfach zu machen. Der Westberlin vorbereitet. Außerdem erklärten aller Regel die Strafakten, die wir anforder- Staatsanwaltschaft bearbeitete dabei Grund ist, daß die Untersuchungsführer des beide vor Gericht, sie seien während der ten. Oft kam allerdings die Antwort, es seien KGB die Strafsachen auf dem Niveau jener Verhöre gefoltert worden. Die Unterlagen über Personen, die wegen Jahre ziemlich gekonnt gefälscht haben. Alle Untersuchungsführer hätten sie jeweils sechs keine Angaben über die Verurteilung allgemeinkrimineller Verbrechen sowie vorhanden. Und die Archive des KGB und entsprechend dem Ukas des Präsidiums des Beschuldigten, die der elementaren Rechte Nächte nicht schlafen lassen und sie gezwun- des Innenministeriums teilten mit, sie hätten Obersten Sowjets vom 19. April 1943 der juristischen Verteidigung beraubt waren, gen, Protokolle mit Geständnissen zu keine Unterlagen über die deutschen Bürger, verurteilt worden waren. Im l etztgenannten legten in der Regel Geständnisse ab. Alle unterschreiben, die sie nicht gemacht hatten. für die wir uns interessierten. Fall handelt es sich um Verbrechen an der Ermittlungen wurden so geführt, daß die Zivilbevölkerung in den Jahren des Krieges. Beschuldigten möglichst die gewünschten I ch verfaßte einen ausführlich begründeten I m Januar 1993 verplapperte sich der Leiter Die militärische Rehabilitierungsverwaltung Ergebnisse bestätigten. Daher sind in diesen Rehabilitierungsbeschluß für die Eheleute der Archivverwaltung des Ministeriums für bearbeitet als wichtigste Kategorie Verurtei- Akten nur Schuldbeweise gesammelt Köhler, doch der Beschluß wurde von der Sicherheit Rußlands zufällig bei einem lungen nach Paragraph 58 des Strafgesetz- worden. Auf dieser Grundlage einen Leitung nicht bestätigt. Ich habe den Telefongespräch mit Frau Semjonowa buches der RSFSR, also Spionage und andere Rehabilitierungsbeschluß abzufassen, ist Beschluß noch dreimal umgeschrieben. dahingehend, daß entsprechende Informa- sogenannte konterrevolutionäre oder nicht so einfach. In den Akten müssen Meine Kollegen bekamen schon Mitleid mit tionen über Ausländer auch im KGB-Archiv politisch motivierte Verbrechen. Beweise gefunden werden, die die Beschul- mir und rieten, die Rehabilitierung doch des Gebietes Omsk liegen könnten. Auf digten rechtfertigen, oder man muß zu dem abzulehnen, was damals einfach gewesen Anfragen der Staatsanwaltschaft antwortete Schluß gelangen, daß es in der Angelegen- wäre. Schließlich habe ich erreicht, was ich Aus dem Außenministerium Rußlands erfuhr heit überhaupt keine Schuldbeweise für wollte: Alle in dieser Sache Verurteilten die Leitung des KGB des Gebietes Omsk ich, Bundeskanzler Kohl habe bei seinem wurden rehabilitiert. zunächst, es gäbe im Archiv keine Informa- Treffen mit Rußlands Präsidenten Jelzin i rgendein Verbrechen gibt. tionen und Akten über Ausländer. Erst einige darauf hingewiesen, man hätte der Lösung I Monate später bestätigte ein ehemaliger von Problemen im Zusammenhang mit Ein Beispiel: Beim Studium einer umfangrei- nzwischen bin ich durch die Analyse der KGB-Mitarbeiter, das Archiv enthalte Bürgern, die in die UdSSR deportiert worden chen dreibändigen Strafakte zur Beschuldi- Arbeiten zur Rehabilitierung unschuldig I nformationen über 128.500 deutsche seien, nicht die erforderliche Aufmerksamkeit gung des Bürgermeisters von Potsdam, Erwin Verurteilter zu dem Schluß gekommen, daß Bürger. Im Archiv werden keine Strafakten, gewidmet, so daß diese Bürger jetzt nicht in Köhler, seiner Frau, Charlotte Köhler, und dieser Prozeß unmittelbar mit der Demokrati- sondern operative Unterlagen aufbewahrt, den Geltungsbereich des zweier weiterer deutscher Bürger, spioniert sierung der Gesellschaft der Russischen also Dokumente über deutsche Bürger, die Rehabilitierungsgesetzes fielen. Gegenwärtig zu haben, gelangte ich zu dem Schluß, sie Föderation in Zusammenhang steht. Unsere aus den unterschiedlichsten erfundenen liegen bei der Russischen Staatsanwaltschaft seien unschuldig gewesen. Daraufhin stellte Militärstaatsanwälte sind ständig in den Gründen gesetzeswidrig verhaftet und Anträge (Listen) der deutschen Botschaft zu i ch den Rehabilitierungsbeschluß zusammen. Archiven des KGB tätig. Dort müßte man

84 85 des Charakters der von ihnen mutmaßlich gel" las, daß meine Ansichten bezüglich der begangenen Verbrechen Gegenstand eines Rehabilitierung deutscher Bürger völlig mit sorgfältigen Ermittlungsverfahrens sein und, der Meinung von Herrn Werner Kiesling falls die Ermittlungsergebnisse die Notwen- übereinstimmen, der Präsident Boris Jelzin digkeit einer Gerichtsverhandlung erkennen am 16. März 1992 einen Brief mit der l assen, dem Gericht als Verbrecher überge- Forderung nach einer Generalamnestie ben und bestraft werden müssen, falls sie für übersandte. Mag sein, daß die Mitarbeiter schuldig erkannt werden." der Botschaft mit ihrem Hinweis Recht haben, der Ton dieses Briefes an den Ich habe diese beiden Gesetze absichtlich Präsidenten sei nicht angemessen gewesen, angeführt, aber nicht, um sie kritisch zu und daß man den Brief in höflicherer Form analysieren, sondern um darauf aufmerksam hätte abfassen sollen, aber die Idee selbst zu machen, daß die sowjetische Besatzungs- halte ich für richtig und zur rechten Zeit macht, in erster Linie ihre Straforgane - das übermittelt. Ministerium für Staatssicherheit, die Leitung der operativen Sektoren, die Gerichte und Seit dem Ende des Krieges sind fast 50 Jahre die Staatsanwälte -, die für die Besatzungs- vergangen. Die Wunden sind verheilt, die zeit geltenden Gesetze gröblich verletzt Menschen haben sich verändert. Die haben. Sie verhafteten deutsche Bürger und Sowjetunion gibt es nicht mehr, das Deutsch- schickten sie ohne Gerichtsverhandlung und land, dessen Regierung aktiv zur Demokrati- Ermittlungsverfahren nur deshalb nach sierung der Gesellschaft in Rußland beiträgt, Sibirien, weil sie Land oder anderes Eigentum ist nicht mehr das Deutschland von einst. Das besaßen. Ich habe Dutzende von Strafakten gegenwärtige Tempo der Rehabilitierung deutscher Bürger gelesen und fand jedesmal kann die Tausende von überlebenden Verletzungen selbst der undemokratischen deutschen Repressionsopfer und ihre sowjetischen Gesetze, und wenn man die Angehörigen nicht befriedigen. Daher halte Arbeit der Untersuchungsorgane und des ich es für notwendig, die Rehabilitierungs- Gerichts vom Standpunkt der Normen des ordnung für deutsche Bürger zwecks i nternationalen Rechts beurteilt, schwinden beschleunigter Überprüfung der Strafsachen alle Zweifel über die baldige Rehabilitierung umgehend zu ändern. Dies müßte jedoch auf Hunderttausender repressierter deutscher Regierungsebene entschieden werden. Bürger. Große Aktivitäten, auch Beunruhigung, Ordnung schaffen und die Archive zugängli- bezüglich der Rehabilitierung ihrer Bürger verfahren repressiert worden sind, möchte Die Rehabilitierungen im Jahre 1992 lassen die Regierungen Japans und Polens cher machen. Die Verfahrensweise bei i ch zwei Dokumente anführen: Abfassung von Rehabilitierungsbeschlüssen erkennen. Deren Vertreter suchen die Damit Sie, meine sehr verehrten Damen und Militärstaatsanwaltschaft recht häufig auf, wurde bereits vereinfacht. Während die Vom Alliierten Kontrollrat wurde am 20. Herren, sich eine bessere Vorstellung vom interessieren sich für unsere Arbeit und Bescheide früher von drei Leitern bestätigt Dezember 1945 das Gesetz Nr. 10 „Über die Umfang der Arbeit der Verwaltung für helfen uns, etwa durch Bereitstellung von werden mußten, ist es heute nur noch einer, Bestrafung von Personen, die sich wegen Rehabilitierung der Militärstaatsanwaltschaft Büromaterial und Kopierern. Dabei wurden und bei verschiedenen Angelegenheiten faßt Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen machen können, nenne ich Ihnen hier einige etwa 60.000 japanische Bürger (oder eine der Staatsanwalt selbst den endgültigen den Frieden und die Menschlichkeit schuldig Daten über unsere Arbeit während der 12 etwas geringere Zahl) repressiert, während es Beschluß. Viele Probleme - besonders bei der gemacht hatten", unterzeichnet. In Artikel II- Auffindung der Strafakten in den Archiven - Monate des Jahres 1992 sowie während des bei den Deutschen einige Hunderttausend III dieses Gesetzes werden Handlungen ersten Quartals dieses Jahres. sind. Doch erstmals kamen deutsche bleiben jedoch ungelöst. Die Botschaft der aufgezählt, die als verbrecherisch gelten, und Botschaftsangehörige sowie Journalisten des Bundesrepublik Deutschland in Moskau die Verfahrensweise aufgezeigt, wie die schickt uns ganze Verzeichnisse von Im Laufe eines Jahres wurden insgesamt „Spiegel" im Jahre 1992 in die Militär- Schuldigen zur Verantwortung gezogen 6.100 Akten bearbeitet, die 8.500 Personen staatsanwaltschaft. Bei der Gelegenheit repressierten Bürgern, aber vielfach können werden können. warfen sie auch einen Blick in die Räume der nicht einmal Angaben über die Verurteilung betrafen. Davon wurden über 7.000 Perso- gefunden werden. nen rehabilitiert, unter diesen befanden sich zivilen Staatsanwaltschaft. Die Direktive 38 qualifiziert sämtlicher 947 Ausländer, aber nur 120 Deutsche. Verbrecher und sieht deren Verhaftung und I ch weiß sehr wohl, daß in Deutschland - wie Was die deutschen Bürger betrifft, die ohne Bestrafung vor. So findet sich in der Direktive auch in Rußland - die Meinung existiert, man Gerichtsverhandlung und Ermittlungs- Bei der Vorbereitung auf dieses Forum war ein „Verzeichnis der Personen, die wegen ich angenehm überrascht, als ich im „Spie- solle die tragischen Ereignisse längst vergan-

86 87 gener Jahre und - ganz konkret - die I nhaltes. Hier erfuhr ich zum ersten Mal in stalinschen Repressionen möglichst schnell meinem Leben, daß Bundeskanzler Adenauer DIE CDU - VOM ALLEINVERTRETUNGSANSPRUCH vergessen oder, wie man bei uns sagt, „nicht am 16. Juni, um 20.20 Uhr, im Fernsehen i n der Vergangenheit herumwühlen". Bei eine Rede gehalten hatte, die dem „Tag der ZUR DE-FACTO-ANERKENNUNG DER VORMALS uns in Rußland sind es die Kommunisten, die nationalen Unabhängigkeit Deutschlands", dieser Meinung anhängen. Was die Situation dem 17. Juni, gewidmet war. In seiner SOGENANNTEN DDR bei Ihnen hier in Deutschland betrifft, so Ansprache erwähnte Adenauer, der Juniauf- weiß ich nicht, wie ich diese Leute nennen stand der Bürger Ostdeutschlands gegen das sollte. Okkupationsregime sei im Jahre 1953 grausam niedergeschlagen worden: 560 Eines aber weiß ich gewiß: Wir dürfen die Tote, davon 141 Erschossene, 744 Verwun- Prof. Dr. Jens Hacker Zunächst danke ich den Veranstaltern für die Verbrechen des totalitären Systems der dete, 5143 Verhaftete; 1956 Militäran- Universität Regensburg Einladung, im Rahmen des IV. Bautzen- kommunistischen Diktatur an den Völkern gehörige gingen auf die Seite der Aufständi- vieler Länder, darunter auch am deutschen schen über. Der Aufstand hatte der ganzen Forums über die Deutschlandpolitik der CDU Welt gezeigt, daß 17 Millionen Deutsche sprechen zu dürfen. Mit meinem Buch Volk, nicht vergessen. Das Andenken von „Deutsche Irrtümer" hat sich die Zahl meiner Millionen unschuldiger Opfer, von Toten und nicht unter einem Regime leben wollten, das i Freunde in den wichtigen politischen Parteien Lebenden, ob sie hier im Saal sitzen oder hnen durch die UdSSR aufgezwungen nicht erhöht. Das gilt auch und gerade für i rgendwo in Deutschland leben, muß von worden war. die CDU, zu der mir in der Vergangenheit allem Makel befreit werden. i mmer eine besondere Nähe nachgesagt An das deutsche Volk gewandt, bat Adenau- worden ist. Doch ich bin stolz darauf, dem I n Rußland haben wir heute eine sehr er die Deutschen im Osten auszuharren, sich von Staatssekretär Ottfried Hennig, Bundes- angespannte Situation. Die Demokratie ist jedoch nicht mit dem kommunistischen ministerium für innerdeutsche Beziehungen, gerade im Entstehen begriffen, und die Regime abzufinden, und fügte hinzu, daß die geleiteten Fachausschuß angehört zu haben, Kommunisten drängen erneut zur Macht. Ich demokratischen Kräfte der USA, Englands, Frankreichs und der anderen Länder alle zur der im Frühjahr 1988 den am 18. Februar weiß, daß Ruzkoij, Wagoski und der KGB- von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler General Sterligow bereits im Sommer dieses Wiedervereinigung Deutschlands erforderli- vorgelegten Diskussionsentwurf einer vom Jahres Jelzin stürzen und selbst die Macht an chen Maßnahmen ergreifen würden. Früher Bundesvorstand eingesetzten Kommission sich reißen wollten. war mir und vielen Millionen Bürgern zum Thema „Unsere Verantwortung in der Rußlands diese Tragödie des deutschen Welt - Christlich-Demokratische Perspektiven Auch deshalb wende ich mich an die hier im Volkes, das nach dem Aufstand noch fast 40 zur Außen-, Sicherheits-, Europa- und Saal anwesenden Pressevertreter und die Jahre warten mußte, bis die Demokratie den Deutschlandpolitik" in zentralen Punkten Vertreter gesellschaftlicher Organisationen in Sieg errang, unbekannt. korrigiert und ergänzt hat. Deutschland, alles in ihrer Macht stehende zur raschen und vollständigen Rehabilitierung Auch wenn die SPD sehr viel mehr Anlaß als der unschuldigen deutschen Opfer beizutra- die CDU/CSU hat, über die Deutschland- gen. politik in den siebziger und achtziger Jahren selbstkritisch zu reflektieren, ist dazu auch I m April 1992 untersuchte ich die Strafsache die CDU aufgerufen. Dazu ist es gut zu über die Eröffnung des Feuers auf eine wissen, daß sich die von Rainer Eppelmann friedliche Demonstration von Arbeitern und umsichtig geleitete Enquete-Kommission des Studenten in Nowotscherkassk und arbeitete Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung dabei im Archiv des Generalstabs der der Geschichte und der Folgen der SED- Streitkräfte. Ich suchte dort nach Dokumen- Diktatur im Spätsommer dieses Jahres ten, die Aufklärung darüber geben sollten, i ntensiv mit der Deutschlandpolitik der wer den Truppen den Befehl gegeben hatte, Bundesregierung auseinandersetzen wird. auf die Menschen zu schießen. Beim Blättern i n geheimen Sammelbänden chiffrierter Telegramme bemerkte ich, daß im Mai und Der Westen war auf den Einigungs- Juni 1962 80 Prozent der Telegramme aus prozeß nicht vorbereitet Deutschland von Armeegeneral Jakubowski an den Verteidigungsminister, Marschall Malinowski, gerichtet waren. Eines dieser Da uns hier die „Bonner Deutschlandpolitik" Telegramme erschütterte mich wegen seines unter mehreren Aspekten beschäftigt,

88 89 erlauben Sie mir zunächst einige allgemeine die logischerweise darauf hinauslief, die Rechtfertigungsversuche für die Zwei- wenigstens, am Postulat der fort- Bemerkungen. Notwendig erscheint es mir, Deutschen in der DDR sich selbst zu überlas- staatlichkeit existierenden Nation im geteilten Deutsch- einigen Vorwürfen, Irritationen und Mißver- sen. land festhalten zu sollen, während die ständnissen zu begegnen. Der 3. Oktober Der zentralen Frage, warum der Zusammen- anderen Linie die These von der Existenz 1990 beendete die Zweistaatlichkeit Der eruptive Aufbruch in der DDR mußte vor bruch der DDR und der rasche Einigungs- zweier Staaten einer Nation mit dem Hinweis Deutschlands. Darüber hinaus markiert er allem jene westlichen Beobachter überra- prozeß die Bundesrepublik Deutschland so verwarf, damit würde man nur die DDR den Schlußpunkt der 45jährigen Nachkriegs- schen, die bis zum 3. Oktober 1990, dem unvorbereitet getroffen haben, müssen sich herausfordern und deren eigene Existenz in epoche und das weitgehende Ende des Ost- Tag der Wiederherstellung der staatlichen neben den Parteien auch die Medien und die Frage stellen. Gelegentlich wurde auch noch West-Konflikts. Wer ein Jahr zuvor, unmittel- Einheit Deutschlands, gemeint hatten, ein wissenschaftlichen Disziplinen stellen, die geäußert, das Pochen auf den Fortbestand bar vor dem 40jährigen Jubiläum der DDR guter Teil der Bevölkerung habe sich mit dem sich mit der staats- und völkerrechtlichen wie der deutschen Nation treibe die DDR- am 7. Oktober 1989, diese Perspektive Staat arrangiert und wisse die materiellen auch zeithistorischen Situation Deutschlands Führung mehr als nötig an die Seite der entwickelt hätte, wäre als politischer Träumer Vorteile der „entwickelten sozialistischen sowie den inneren Verhältnissen der DDR UdSSR. öder gar rückwärts gewandter Phantast Gesellschaft" - im Vergleich mit den „Bruder- befaßt haben. Zahlreiche prominente apostrophiert worden. Politik und Wissen- l ändern" - ebenso zu schätzen wie den vom Historiker und Politikwissenschaftler erachte- Unter rechtlichen und auch politischen schaft wird noch lange die Frage beschäfti- SED-Regime widerwillig tolerierten Rückzug ten aus unterschiedlichen Motiven heraus Aspekten verbarg sich hinter der Auseinan- gen müssen, wie es in so kurzer Zeit zur i n die Privatsphäre, in die „Nische". den Fortbestand der widernatürlichen dersetzung um die staatliche Wieder- Selbstaufgabe des zweiten Staates in Teilung Deutschlands als richtig und vereinigung Deutschlands „nichts anderes als Deutschland und zur Preisgabe nahezu aller Es geht nicht darum, sich in Politik, Wissen- unumstößlich und lehnten die Wiederher- ein Kampf um Menschenrechte und Selbst- überkommenen Dogmen der sowjetischen schaft und Publizistik gegenseitig vorzuwer- stellung oder Herstellung eines deutschen bestimmungsrecht. Der Durchsetzung dieser Deutschlandpolitik kommen konnte. fen, den Zusammenbruch des Ostblocks, den Nationalstaates ab. Einmal bezog man sich Rechte hätten sich alle Zeitgenossen und 9. November 1989 und den 3. Oktober 1990 dabei auf die jüngere deutsche Geschichte Teilnehmer an dieser Auseinandersetzung Genauso erforderlich - und mit Recht von sowie das Ende der UdSSR nicht vorhergese- und verwies darauf, daß die kurze Phase der verpflichtet fühlen müssen, wenn man schon den Bürgern der neuen Bundesländer hen zu haben. Zutreffend hat der Berliner nationalstaatlichen Existenz es nicht rechtfer- von sonstigen Verpflichtungen, etwa aus erwartet - ist die Prüfung der Frage: Wie kam Historiker Stefan Wolle kürzlich in einem tige, einen deutschen Nationalstaat, wenn dem Wiedervereinigungsgebot des Grundge- es zur weitgehenden Preisgabe des Gedan- Aufsatz mit dem Titel „Der Weg in den auch territorial wesentlich verkleinert, setzes oder aus beliebigen humanitären und kens der staatlichen Einheit im Westen und Zusammenbruch: Die DDR von Januar bis wiederzuerwecken. sozialen Gründen, absieht."3 de facto zum Verzicht auf ursprüngliche Oktober 1989" bemerkt, die Politiker und bundesdeutsche Dogmen zur Deutschland- Analytiker, die in der deutschen Teilung und Nach einer anderen Argumentationslinie war Um die militärische und sicherheitspolitische politik? der Unterdrückung der Völker Osteuropas die Teilung Deutschlands die richtige Komponente noch ein wenig zu einen annehmbaren Preis für den Frieden Antwort auf die verheerenden Folgen, die konkretisieren, möchte ich nur daran Die gewaltlose Revolution im Herbst 1989, und die politische Stabilität gesehen hätten, die Politik des Dritten Reiches gezeitigt hatte. erinnern, wie jene wenigen Analytiker vor die zum Zusammenbruch der Macht der SED „mußten einsehen, daß der wirkliche Eine dritte Position wertete die Besiegelung dem Herbst 1989 behandelt worden sind, und dann der DDR selbst geführt hat, ist in Geschichtsprozeß auf ein solches Kalkül der Zweistaatlichkeit Deutschlands als die nur leise Zweifel an der weitverbreiteten der deutschen Geschichte ohne Beispiel. Es keine Rücksicht nimmt. Die Rückkehr der Ergebnis des kalten Krieges und der Status- These hatten, die beiden Bündnissysteme der i st eine erstaunliche Tatsache, daß Politik und Geschichte, von der sich manche Theoretiker quo-Politik. Für diese Position war die NATO und des Warschauer Paktes seien Wissenschaft, Publizistik und Öffentlichkeit bereits zugunsten eines posthistorischen fortbestehende Teilung des Landes ein nicht nur die Garanten der Stabilität, sondern auf die „Wende" in der DDR und den Zeitalters verabschiedet hatten, war auch die entscheidender und stabilisierender Faktor auch des Friedens in Europa. Mit Recht hat raschen Kollaps des zweiten Staates in Rückkehr der Freiheit." für die Sicherheit Europas. Dabei machte man den Repräsentanten dieser These, die Deutschland 1989/90 so wenig vorbereitet man geltend, daß die übrigen europäischen vor allem Egon Bahr entwickelt hatte, waren. Hierfür gibt es zahlreiche Ursachen. In meiner Studie „Deutsche Irrtümer" ging es Staaten und Völker mehrheitlich einer entgegengehalten, daß „ein Frieden, der auf Zum einen hatte man sich mit dem mir darum darzulegen, daß es ein entschei- staatlichen Vereinigung Deutschlands der Stabilität einer freiheitsfeindlichen, seine territorialen und politischen Status quo in dender Unterschied war, ob man den lange ablehnend gegenüberstehen würden. Die eigenen Bürger drangsalierenden Herrschaft- Europa und damit auch der Teilung Deutsch- Zeit in Europa festgeschriebenen Status quo deutschen Politiker, Wissenschaftler und sordnung aufbaut, ... niemals ein wahrer, ein l ands weitgehend abgefunden; zum anderen nur aus macht- und militärpolitischen Publizisten, die so argumentierten, übersa- sicherer Frieden sein werde" . 4 Hier zeigt sich wurden der politische und ökonomische Erwägungen heraus hingenommen oder ob hen geflissentlich, daß nur einzelne westliche eindringlich, wie sehr der Begriff „Frieden" Zustand der DDR, die Stimmung und der man ihn für sakrosankt, gerecht und Politiker, nicht jedoch die Völker außerhalb dem Zeitgeist des Status quo geopfert Grad des Freiheitsbewußtseins der Bürger unrevidierbar gehalten hat. des Warschauer-Pakt-Bereiches mehrheitlich worden ist. Ebenso hat man bereits in den falsch eingeschätzt. Darüber hinaus sahen für die Aufrechterhaltung der Teilung siebziger Jahren weitgehend übersehen, daß prominente Wissenschaftler und Persönlich- Deutschlands plädierten. 2 zumindest bis Anfang der sechziger Jahre keiten aus dem politischen Leben der unter „Entspannung" die Überwindung der Bundesrepublik den westdeutschen Staat als Bei den Status-quo-Verfechtern sind wiede- Spannungen, also der Teilung Europas, eine Nation an und propagierten die These rum zwei Argumentationslinien voneinander verstanden wurde. von der „Bi-Nationalisierung Deutschlands", zu unterscheiden. Die eine konzedierte

90 91 Die seit 1989/90 in Politik, Wissenschaft und deutschlandpolitischen Positionen der CDU harte Auseinandersetzungen nicht nur Eine Analyse der offiziellen Deutschland- Medien teilweise kontrovers geführte (und CSU) zu differenzieren ist. zwischen der Bundesregierung und den sie politik seit 1949 führt zu dem Ergebnis, daß Diskussion darüber, warum der „real tragenden Parteien SPD und FDP auf der die Bundesregierungen unter den Bundes- existierende Sozialismus" so total zusammen- Darüber hinaus sind die deutschland- einen und der parlamentarischen Opposition kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger der gebrochen ist und sich die Wiederherstellung politischen Zielsetzungen der CDU (und CSU) auf der anderen Seite, sondern auch Wiederherstellung der staatlichen Einheit der staatlichen Einheit Deutschlands in einem i n der Zeit der parlamentarischen Opposition i nnerhalb der Staats- und Völkerrechts- Deutschlands einen hohen Rang eingeräumt so rasanten Tempo vollzogen hat, offenbart i n den Jahren von 1969 bis 1982 zu analysie- wissenschaft ausgetragen wurden. So hat haben. Erst mit dem Antritt der SPD/FDP- wenigstens teilweise ein gutes Maß an ren. Die CSU kann und will ich im folgenden man, um eine treffende Formel des Bonner Bundesregierung im Herbst 1969 differen- selbstkritischer Reflexion. Gleichzeitig sind nicht ausschließen, da es das unbestreitbare Politikwissenschaftlers und Zeithistorikers zierte man prononciert zwischen der aber auch selbstgerechte Töne nicht zu Verdienst von Franz Josef Strauß ist, 1973 Hans-Peter Schwarz zu gebrauchen, von dem staatlichen und nationalen Einheit. Die überhören. Hier sind - um es zu wiederholen den Mut gehabt zu haben, die bayerische „großen Kompromiß" gesprochen, den das Bundesregierung Kohl/Genscher, die bewußt - selbstverständlich zuerst jene Politiker, Staatsregierung mit Ministerpräsident Alfons Bundesverfassungsgericht rechtlich fest- die 1969 eingeleitete Deutschlandpolitik Wissenschaftler, Publizisten und Journalisten Goppel zu veranlassen, die Verfassungs- geschrieben und der zu einer weitgehend fortsetzte, betonte in stärkerem Maße die vor gefordert, die aus unterschiedlichen Erwä- mäßigkeit des am 21. Dezember 1972 in auch von der damaligen Opposition mit- allem vom Bundesverfassungsgericht gungen heraus den Status quo in Europa Bonn unterzeichneten Grundlagenvertrags getragenen Deutschland-Doktrin der festgeschriebenen juristischen Positionen und und damit auch in Deutschland für vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu Bundesrepublik Deutschland geführt hat. 6 hielt, wenn auch mit unterschiedlicher unumstößlich, ja sakrosankt gehalten haben. l assen. I ntensität, am Ziel der staatlichen Einheit Ihre weitverbreitete Vorstellung hat Oberhaupt verdient das höchste deutsche Deutschlands fest. maßgeblich dazu beigetragen, daß ein guter Gericht in Karlsruhe nicht Tadel, sondern Teil der so informierten Öffentlichkeit vom Bundesverfassungsgericht schreibt Lob, da es - gemeinsam mit den meisten „Wunderjahr" 1989 in dieser Weise über- deutschlandpolitische Positionen fest deutschen Staats- und Völkerrechtlern und Westintegration und Alleinvertretungs- rascht werden mußte. Damit verkehrt sich i m Gegensatz zu den deutschlandpolitischen anspruch - die Politik bis 1966 ein vor 1989 geradezu klassischer Vorwurf I n seinen „Erinnerungen" hat Strauß Positionen prominenter Historiker, heute in sein Gegenteil: nochmals bedauert, daß sich die Fraktion der Politologen und einem guten Teil der Medien Die Politik der Bundesrepublik Deutschland CDU/CSU im Deutschen Bundestag mit - über den genügenden historischen Atem in gegenüber der SBZ/DDR in der Regierungs- Ohne realistischen Bezug zur Geschichte, knapper Mehrheit gegen eine Anrufung des der „deutschen Frage" verfügt hat. Es war zeit der Bundeskanzler Adenauer (15. also ahistorisch, dachte, wer die wider- Verfassungsgerichtes entschieden habe, das Bundesverfassungsgericht, das frühzeitig September 1949 bis 11. Oktober 1963) und natürliche Teilung Deutschlands mit Hinweis obwohl sie die Aktivlegitimation zu einer das aus der Präambel abgeleitete Wieder- Erhard (16. Oktober 1963 bis 30. November auf die jüngere Geschichte oder auf Klage in Karlsruhe gehabt hätte. Unter vereinigungsgebot im Grundgesetz 1966) basierte auf den gleichen rechtlichen sicherheitspolitische Aspekte in Europa für Berufung auf eine Stellungnahme des spezifiziert, am Begriff des in beiden Staaten und politischen Prämissen, so daß diese gut oder gar gerecht, mithin wer eine damaligen Fraktionsvorsitzenden Karl Deutschlands lebenden „deutschen Staats- Phase im Zusammenhang behandelt werden Änderung weder für allgemein gewünscht Carstens schreibt Strauß, daß an der volkes" festgehalten, die DDR immer als kann. In der Zeit von der Konstituierung der noch für möglich gehalten hatte. Verfassungsmäßigkeit des Grundvertrages einen „Teil Deutschlands" bezeichnet und Bundesrepublik Deutschland bis zum Zweifel weit über die CSU hinaus verbreitet das Selbstbestimmungsrecht nicht an einem Frühjahr 1955, dem Inkrafttreten des gewesen seien. In Karlsruhe sei es auch Nach meinen etwas zu ausführlich geratenen allgemeinen Begriff der Nation, etwa im Deutschland-Vertrages, war nicht nur der Vorbemerkungen komme ich zum Thema. Es darum gegangen, ob „eine völlig neue Sinne einer Kulturnation, sondern am außen-, sondern auch der deutschland- versteht sich von selbst, daß ich die Deutung des Wiedervereinigungsgebotes des „deutschen Staatsvolk" festgemacht hat. politische Spielraum der Bundesrepublik Deutschlandpolitik der CDU von 1949 bis Grundgesetzes notwendig" sei. In seiner Auch war es gut beraten, stets auf den äußerst gering, da sie unter dem 1 989/90 hier nicht im einzelnen skizzieren Analyse des Urteils des höchsten deutschen fortbestehenden Vier-Mächte-Status für Besatzungsregime der drei Westmächte kann. Die vom Veranstalter den Referenten Gerichts vom 31. Juli 1973 gelangt Strauß zu Deutschland als Ganzes hinzuweisen.' stand und über keine Souveränität verfügte. beigegebenen „Stichworte für die Diskussi- dem richtigen Schluß, es habe Für Bundeskanzler Adenauer bildete die on" verraten, daß dieser Tag des IV. Bautzen- „unverrückbare Pflöcke eingeschlagen. Auch Schließlich bewies das Bundesverfassungsge- Herstellung der Souveränität der Bundesre- Forums wichtige Aspekte der Bonner die damals skeptisch und passiv abseits richt in einem weiteren zentralen Punkt mehr publik Deutschland daher eines der wichtig- Deutschlandpolitik in den vier Jahrzehnten stehende CDU beruft sich seither immer Realitätssinn als mancher prominente Staats- sten Ziele seiner Politik. Darüber hinaus ging seit 1949 behandeln soll. Angesichts der wieder auf dieses Urteil ... 1973 hatte man und Völkerrechtler, Historiker und Politologe es ihm darum zu verhindern, daß die drei vielen Fragestellungen und der Materialfülle mich ausgelacht, verspottet, allein gelas- sowie namhafte Politiker: Im Urteil vom 31. Westmächte gemeinsam mit der UdSSR zum kann ich nur punktuell einige Fragen sen".5 Juli 1973 hat es mit Präzision und Akribie alle Nachteil der Bundesrepublik und auch ansprechen. Das Thema ist umfangreich, weil Regelungen des Grundvertrages und seiner Gesamtdeutschlands Vereinbarungen treffen zwischen der Deutschlandpolitik der Bundes- Das Karlsruher Urteil hat eine starke Begleitdokumente zusammengestellt, die es könnten. Die Wiederherstellung der staatli- regierung unter den Bundeskanzlern Konrad I ntegrationskraft sowohl in der Politik als nach seiner Auffassung rechtfertigten, von chen Einheit Deutschlands mußte diesen Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg auch in der Wissenschaft entfaltet, da in den einem „besonderen Verhältnis", von beiden Zielen untergeordnet werden. Mit Kiesinger (1949-1969) und der Bundesregie- Jahren ab Ende 1969, also mit dem Beginn „internen-Beziehungen" zwischen den dem Deutschland-Vertrag, der am 5. Mai rung Helmut Kohl (ab 1982) sowie den der „neuen Ost- und Deutschlandpolitik", beiden Staaten in Deutschland, zu sprechen." 1955 in Kraft trat, hat Adenauer die ersten

92 93 beiden Ziele seiner Politik erreicht: Gemäß rechtliche Anerkennung der DDR nicht in Artikel 1 erhielt die Bundesrepublik „die volle Betracht kam - ein Postulat, an dem bis zum Macht eines souveränen Staates über die Einigungsprozeß 1989/90 jede Bundesregie- i nneren und äußeren Angelegenheiten". rung festgehalten hat. Es war auch im Sinne der Bundesrepublik Einige wichtige Schlußfolgerungen über die Deutschland, daß sich die drei Westmächte Bonner Deutschlandpolitik in den Jahren ab i m Deutschland-Vertrag ihre Rechte und 1949 ergeben sich aus folgenden rechtlichen Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und und politischen Grundpositionen: aus der Deutschland als Ganzes einschließlich der rechtlichen Identität der Bundesrepublik Wiedervereinigung Deutschlands und einer Deutschland mit dem nicht untergegange- friedensverträglichen Regelung vorbehalten nen, aber handlungsunfähigen Deutschen haben (Artikel 2). Adenauers Sorge, die drei Reich; dem „Deutschland"-Begriff des Westmächte und die Sowjetunion könnten Grundgesetzes; der These, daß die Grenzen sich künftig unter Außerachtlassung der Deutschlands endgültig erst in einem I nteressen der Bundesrepublik über eine Friedensvertrag mit einer gesamtdeutschen Lösung der „deutschen Frage" einigen oder - Regierung festgelegt werden können; dem um den Bundeskanzler selbst zu zitieren - auf Alleinvertretungsanspruch und der mit ihm Kosten Deutschlands als „Tauschobjekt" eng verbundenen Politik der Nichtan- verständigen, hat der Deutschland-Vertrag erkennung der DDR sowie dem Mitsprache- endgültig ausgeräumt. recht der drei westlichen Alliierten in der „deutschen Frage" .9 Zu den Kernpunkten der Außen- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland gehörte seit ihrer Konstituierung Legende über Stalins der Alleinvertretungsanspruch. Als die allein Wiedervereinigungs-Angebot demokratisch legitimierte staatliche Organi- sation des deutschen Volkes nahm die Mit der friedlichen Revolution in der DDR Bundesrepublik Deutschland das Recht in und dem durch sie ausgelösten Einigungs- Anspruch, Deutschland (und das deutsche prozeß ist die Diskussion, warum die Teilung Volk) in internationalen Angelegenheiten Deutschlands 40 Jahre dauern mußte, in ein in Freiheit zu erreichen. Diese Auffassung deuten darauf hin, daß man weiterhin von allein zu vertreten. Die drei Westmächte neues Stadium getreten. Die zentrale Frage, hält jedoch einer realitätsnahen Interpretati- der „Legende der verpaßten Chance" im unterstützten diesen Anspruch erstmals in ob in diesem Zeitraum Chancen versäumt on der sowjetischen Deutschlandpolitik bis Jahre 1952 sprechen kann, wie es die seriöse der Erklärung der New Yorker Konferenz der worden sind, die staatliche Einheit Deutsch- Mitte Juni 1953 nicht stand. zeithistorische Forschung immer getan hat.'° Außenminister vom 19. September 1950. Die lands wiederherzustellen, läßt sich endgültig New Yorker Formel ging später auch in das erst beantworten, wenn alle sowjetischen Zur sowjetischen Deutschlandpolitik anläßlich Die inzwischen aufgetauchten Original- Pariser Vertragswerk von 1954 ein und Archive zugänglich gemacht worden sind. des Ost-West-Notenwechsels im Frühjahr dokumente aus russischen und ostdeutschen wurde damit Vertragsgrundlage für alle Bisher hat Moskau den Schleier über und Sommer 1952 haben sich 1990 mehrere Archiven sowie Erinnerungsberichte, die NATO-Partner. Der Alleinvertretungsanspruch bestimmte Phasen der sowjetischen sowjetische Deutschland-Experten geäußert keinesfalls vollständig über die unübersichtli- fand ab 1955 in der „Hallstein-Doktrin" Deutschlandpolitik nur selektiv gelüftet. Zu und Stalins damalige Absichten und Ziele che Phase der sowjetischen Deutschland- seinen Ausdruck und erlangte in dem den zählebigsten Legenden in der bundes- unterschiedlich interpretiert. Die in den politik zwischen Stalins Tod am 5. März und Augenblick praktische Bedeutung, in dem die deutschen zeithistorischen Forschung und letzten Monaten ausgewerteten Dokumente dem 17. Juni 1953, dem Tag der Volkserhe- Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Publizistik gehört die Behauptung, die des Zentralen Parteiarchives der SED, die bung in der DDR informieren, reichen nicht Vereinbarungen vom 13. September 1955 Sowjetunion sei 1952 bereit gewesen, ein über die Reaktionen der DDR-Führung auf aus, um die vor allem von den Sowjetologen diplomatische Beziehungen mit der Sowjetu- wiedervereinigtes neutralisiertes Deutschland die Initiative Moskaus 1952 informieren, Richard Löwenthal und Boris Meissner sowie nion aufnahm. Die Bundesregierung trug in zuzulassen und die sowjetisch besetzte Zone dürfte jene enttäuschen, die immer wieder einigen weiteren Beobachtern vertretene Moskau dafür Sorge, daß die Aufnahme der freizugeben, wenn die drei Westmächte auf Konrad Adenauer vorgeworfen haben, er These zu stützen, im Kreml sei im Frühjahr diplomatischen Beziehungen zur UdSSR nicht die Eingliederung der Bundesrepublik trage ein hohes Maß an Schuld daran, daß 1953 eine bestimmte Richtung mit Berija an als Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches Deutschland in das westliche Verteidigungs- die drei Westmächte 1952 Stalins „Offerten" der Spitze von einer „gesamtdeutschen gedeutet werden konnte. Die Politik der system verzichteten. Einige westliche nicht „ausgelotet" hätten. Die bis jetzt Orientierung" ausgegangen. Der „Kenntnis Alleinvertretung war notwendigerweise mit Beobachter meinen, daß auch 1953 eine vorliegenden Quellen und Äußerungen zahlreicher einschlägiger Dokumente der Konsequenz verbunden, daß für die Chance vertan worden sei, die Wiederher- sowjetischer Politiker und Wissenschaftler ungeachtet, kann die Forschung heute Bundesrepublik Deutschland eine völker- stellung der staatlichen Einheit Deutschlands 94 95 Vorgeschichte, Ausarbeitungsgrad und ten „Protokoll über die Beendigung des und sich auf den Verlauf der Genfer Außen- Mit diesem Plan machten die drei West- Sinngehalt der Vorstellungen Berijas über die Besatzungsregimes in der Bundesrepublik minister-Konferenz im Herbst 1955 nicht mächte noch einmal das Junktim zwischen weitere Entwicklung der DDR und eine Deutschland" wurde das Bonner Vertrags- positiv ausgewirkt. Die drei Westmächte der Wiedervereinigung Deutschlands und der eventuelle Vereinigung Deutschlands nicht werk vom 26. Mai 1952 über die Beziehun- hielten an ihrem 1954/55 entwickelten europäischen Sicherheit deutlich - ein vollständig und abschließend klären. gen der Bundesrepublik Deutschland zu den Junktim zwischen der „deutschen Frage" Konzept, das dann im Laufe der sechziger I nsbesondere ist nach wie vor unklar, ob drei Westmächten mit einigen Änderungen und der Problematik der Sicherheit in Europa Jahre allmählich verwässert und in einem Berija an die Eventualität einer ernstlichen i n Kraft gesetzt. fest. zentralen Punkt immer mehr den sowjeti- Veränderung des ostdeutschen Herrschafts- schen Vorstellungen angenähert worden ist: und Gesellschaftssystems dachte, ob er Während der vielbeschworene „Geist von Sicherheit und Entspannung in Europa setzen angesichts der Krise in der DDR eine Vereini- Zäsur in der Deutschlandfrage im Jahre Genf" schnell verflog, trat die „deutsche die Lösung der „deutschen Frage" nicht gung zwischen beiden deutschen Staaten 1955 Frage" erst Ende 1958 in ein neues Stadium, voraus. Hingegen ist es den Westmächten praktisch ins Auge faßte und inwieweit er als die sowjetische Führung die zweite Berlin- und der Bundesregierung in der ersten Hälfte überhaupt mit festen Vorstellungen an die Daß das Jahr 1955 die wichtigste Zäsur in Krise provozierte und den Versuch unter- der sechziger Jahre erfolgreich gelungen, Deutschlandpolitik heranging"." der Entwicklung der Deutschland-Frage bis nahm, den nach wie vor gültigen Vier- Chruschtschows gefährliche Berlin-Offensive 1961 bildete, manifestieren nicht nur das Mächte-Status für ganz Berlin aus den abzuwehren und den Kreml auch von dem Wie sehr die Vorstellungen der drei West- Inkrafttreten des Deutschland-Vertrages und Angeln zu heben. Als die Sowjetregierung Gedanken abzubringen, mit der DDR eine mächte und der UdSSR über eine Lösung der die Aufnahme der Bundesrepublik Deutsch- dann wenig später, am 10. Januar 1959, separate Friedensregelung zu treffen. Als „deutschen Frage" divergierten, verdeutlich- l and in die westliche Verteidigungsallianz i hren bisher letzten Entwurf für einen Ersatz für den von Walter Ulbricht so sehr te nicht nur der ost-westliche Notenwechsel (NATO) und die Westeuropäische Union Friedensvertrag mit Deutschland, der die ersehnten Friedensvertrag schlossen die 1952, sondern auch der Verlauf der Berliner (WEU) sowie der DDR in die am 14. Mai mehrfache Teilung des Landes fixieren und UdSSR und die DDR am 12. Juni 1964 zum Konferenz der Außenminister der drei 1955 errichtete multilaterale Militär- auch legalisieren sollte und für die Wieder- ersten Mal einen Bündnisvertrag, mit dem Westmächte und der Sowjetunion vom 25. organisation des Ostblocks, den Warschauer vereinigung überhaupt kein Verfahren mehr die DDR in das bilaterale Bündnissystem des Januar bis 18. Februar 1954. Während für Pakt, sondern auch der Verlauf der Genfer vorsah, mit dem Vorschlag verknüpfte, West- „sozialistischen Lagers" einbezogen wurde. die drei Westmächte die Wiederherstellung Gipfelkonferenz (18. bis 23. Juli 1955). Die Berlin die „Stellung einer entmilitarisierten der staatlichen Einheit Deutschlands die nach der Genfer Konferenz gehegten freien Stadt auf der Grundlage ihres beson- Voraussetzung für die Schaffung eines Hoffnungen, daß die um eine zumindest deren Status" zu verleihen, war vollends klar, Westliche Status-quo-Politik ab 1961 europäischen Sicherheitssystems bildete, partielle Entspannung in der Welt bemühten daß der Kreml nun seine Zwei- zur Drei- sollten nach den sowjetischen „Entwürfen Nachfolger Stalins in den von ihnen verbrei- Staaten-These erweitert hatte. Chruschtschows doppelter Verzicht, es in der eines Gesamteuropäischen Vertrags über die teten „Geist von Genf" auch die „deutsche Berlin-Frage nicht zum Äußersten zu treiben kollektive Sicherheit in Europa", die der Frage" einzubeziehen bereit wären, erwiesen Nikita S. Chruschtschow begnügte sich nicht und mit der DDR keinen separaten Friedens- sowjetische Außenminister Molotow am 10. sich rasch als trügerisch. mit dem Versuch, den Status Berlins einseitig vertrag zu schließen - der sehr komplizierte Februar 1954 auf der Berliner Konferenz und aufzuheben, sondern drohte auch noch, mit rechtliche und politische Fragen aufgeworfen Ministerpräsident Bulganin am 20. Juli 1955 Unmittelbar nach der Beendigung der Genfer der DDR einen separaten Friedensvertrag hätte - dürfte nicht zuletzt auf den Bau der auf der Genfer Gipfelkonferenz vorgelegt Gipfelkonferenz machte die sowjetische abzuschließen, falls die Westmächte zur Mauer in Berlin im August 1961 zurückzu- hatten, „bis zur Bildung eines einheitlichen, Führung unmißverständlich klar, was sie Unterzeichnung eines Friedensvertrages auf führen sein, mit dem den Deutschen in der friedliebenden, demokratischen deutschen unter den „nationalen Interessen des der Basis der Teilung Deutschlands nicht DDR und im Ostsektor Berlins der Fluchtweg Staates" beide Teile Deutschlands „gleichbe- deutschen Volkes und den Interessen der bereit seien. Angesichts dieser offensiven nach dem Westen abgeschnitten wurde. Die rechtigte Partner dieses Vertrages sein". europäischen Sicherheit" verstand. Von nun Deutschlandpolitik des Kreml stand von Tatsache, daß der 13. August 1961 eines der an legte sie größten Wert auf die Feststel- vornherein fest, daß die für über 30 Jahre wichtigsten Daten der deutschen Nachkriegs- Die Ergebnisse der gescheiterten Berliner lung, die „deutsche Frage" könne „nicht auf l etzte Konferenz der Außenminister der vier geschichte bildet, ist in zahlreichen Analysen Außenminister-Konferenz bestärkten die drei Kosten der Interessen der DDR gelöst" und Mächte im Frühjahr und Sommer 1959 in belegt worden. Der 13. August 1961 ist wie Westmächte und die Bundesregierung darin, die dortigen „politischen und sozialen Genf zu keiner Einigung über die „deutsche kein anderer Tag „zum Symbol der Teilung mit ihrer Politik der Eingliederung der Errungenschaften" dürften nicht in Frage Frage" führen konnte. Die drei westlichen Deutschlands" geworden. Dies hatte Bundesrepublik Deutschland in die westliche gestellt werden. Darüber hinaus ließ die Alliierten hatten in der Zwischenzeit ihr verständlicherweise am frühesten und sowjetische Seite keinen Zweifel mehr daran, Konzept noch einmal überprüft und legten klarsten die politische Führung in Berlin Völkergemeinschaft fortzufahren. Dies i geschah mit der Einladung der sechs daß sie auch auf der internationalen Ebene hren Friedensplan, den nach dem amerikani- erkannt, nämlich der Regierende Bürgermei- so weit wie möglich die von ihr proklamierte schen Außenminister benannten Herter-Plan, ster und Kanzlerkandidat der SPD von 1961 Vertragsstaaten der Montanunion und i Großbritanniens, der USA und Kanadas in Zwei-Staaten-These durchzusetzen bestrebt n Genf vor, der die „Grundzüge eines und 1965, Willy Brandt, und sein engster der Londoner Schlußakte vom 3. Oktober war. Die Aufnahme der diplomatischen Stufenplanes für die deutsche Wieder- Beraterkreis, zu dem auch Egon Bahr 1 954 an die Bundesrepublik, dem Brüsseler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik vereinigung, die europäische Sicherheit und gehörte. Auch wenn der Bau der Mauer Vertrag in revidierter Fassung und dem und der UdSSR im September 1955 hat die eine deutsche Friedensregelung" enthielt. keine der zuvor vom amerikanischen Nordatlantik-Vertrag beizutreten. Mit dem negative Entwicklung der deutschsowjeti- Präsidenten John F. Kennedy entwickelten am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichne- schen Beziehungen nicht verhindern können drei westlichen „essentials" - die militärische

96 97 Präsenz der drei Westmächte, Verbindungs- Die deutsche Frage wird Teil einer frühzeitig auf die Allein-Sprecher-Berechti- „Hallstein-Doktrin" festzuhalten. In beiden li nien zum Westen und die Lebensfähigkeit Perspektive für Europa gung reduzierten Alleinvertretungsanpruch zentralen Punkten bestand zwischen SPD Berlins (West) - bedrohte, waren mittelfristig hielt sie jedoch fest, auch wenn ab 1968 „im und FDP eine größere Übereinstimmung als die politischen und psychologischen Auswir- Die Bundesregierung der Großen Koalition nun praktizierten Verständnis der Hallstein- i n der Großen Koalition." kungen dieser in Berlin wie in West- unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, in Doktrin politische Entscheidungen an die deutschland mit größter öffentlicher Empö- der Willy Brandt als Vizekanzler und Außen- Stelle juristischer Systematik"' traten. In der Das neue Sicherheitskonzept, das unter rung ausgelösten und unerwarteten Maß- minister und Herbert Wehner als Bundes- Deutschlandpolitik der Großen Koalition Entspannung nicht mehr die Überwindung nahme erheblich. minister für gesamtdeutsche Fragen fungier- hatte die Forderung nach Wiederherstellung der Ursachen der Spannungen in Europa, ten, war sich von Anfang an der neuen der staatlichen Einheit Deutschlands ihren soweit sie in der Spaltung des Kontinents Der SPD ist zu bescheinigen, daß sie sich in Akzente in der US-Außenpolitik seit Beginn festen Platz. Ebenso wie ihre Vorgängerinnen bestanden, verstand, mündete schließlich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre leichter der sechziger Jahre bewußt. Kiesinger war sich die Bundesregierung unter Bundes- die von sowjetischer Seite jahrelang vorge- auf die neue internationale Konstellation betonte jedoch mehrfach den engen kanzler Kiesinger der fortbestehenden Vier- schlagene Konferenz über Sicherheit und einzustellen vermochte als die Bundesregie- Zusammenhang zwischen Entspannung und Mächte-Rechte und der besonderen Mit- Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf dieser rung unter den Kanzlern Adenauer und Wiedervereinigung. Hingegen bezog verantwortung der drei Westmächte bei der Grundlage leitete im Herbst 1969 die SPD/ Erhard. In der Phase der von Präsident Außenminister Brandt in einem weg- Überwindung der Teilung Deutschlands FDP-Bundesregierung ihre „neue Ost- und Kennedy Anfang 1961 eingeleiteten und von weisenden Aufsatz bereits im Sommer 1967 bewußt. Die Deutschlandpolitik der Großen Deutschlandpolitik" ein, indem sie von seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson ab eine davon abweichende Position: „Wir Koalition unterschied sich von derjenigen Anfang an ihre Bereitschaft erklärte, von der Ende 1963 fortgeführten Status-quo-Politik wissen ..., daß sich die deutschen Fragen nur ihrer Vorgängerinnen dadurch, daß der Respektierung der Teilung Deutschlands fehlten die Voraussetzungen, um die Lösung im Zusammenhang mit einer gesamt- Bundeskanzler den außenpolitischen Teil auszugehen. Die Bundesregierung attestierte des deutschen Problems, also die Überwin- europäischen Friedensregelung lösen lassen seiner ersten Regierungserklärung vom 13. der DDR zum ersten Mal die Staatsqualität dung der staatlichen Teilung des Landes, auf und nur in einem Zustand des Ausgleichs Dezember 1966 nicht mit der Forderung und gab den bereits zur Zeit der Großen die internationale Tagesordnung zu stellen. zwischen Ost und West gefördert werden nach Wiederherstellung der Einheit Deutsch- Koalition auf die Allein-Sprecher-Berechti- Überblickt man die Deutschlandpolitik unter können. Wir machen unsere Politik der lands, sondern mit dem Bekenntnis zum gung reduzierten Alleinvertretungsanspruch den Bundeskanzlern Adenauer und Erhard Entspannung nicht von Fortschritten in der Frieden einleitete. Damit wurde „an die Stelle auf. Nicht bereit war die Bundesregierung, und sieht man von Stellungnahmen von Deutschland-Frage abhängig."13 des bisherigen offiziellen Standpunkts, der immer wieder seitens Ost-Berlins wissenschaftlicher und publizistischer Seite Entspannung könne es nur geben, wenn die erhobenen Forderung zu entsprechen, die ab, dann steht außer Zweifel, daß bis zum Mit diesen Formulierungen hat Brandt das bis Ursache der Spannung, nämlich die Spaltung DDR völkerrechtlich anzuerkennen. In seiner Herbst 1966 keine der bis dahin gemeinsam - dahin für Bonn geltende Junktim, Sicherheit Deutschlands, beseitigt werde, ein neues ersten Regierungserklärung vom 28. Oktober auch seitens der sozialdemokratischen und Entspannung in Europa bedingten die Konzept gesetzt. Die Wiedervereinigung 1969 führte Bundeskanzler Brandt aus: Opposition - als gültig akzeptierten Rechts- Lösungen der „deutschen Frage", erstmals wurde nicht mehr mit einer direkt darauf „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland positionen aufgegeben wurde." ausdrücklich verneint. Dennoch darf nicht zielenden Politik angestrebt, sondern indirekt existieren, sind sie doch füreinander nicht übersehen werden, daß die westliche Seite auf dem Weg über eine gesamteuropäische Ausland; ihre Beziehungen zueinander Nachdem sich in der zweiten Hälfte der auch in der zweiten Hälfte der sechziger Friedensordnung. Nur wenn die Spaltung können nur von besonderer Art sein." sechziger Jahre bei den westlichen Alliierten, Jahre die „deutsche Frage" immer in einem Europas überwunden werde, könne auch die vor allem in der amerikanischen Führung, die engen Zusammenhang mit der Sicherheits- Spaltung Deutschlands ein Ende finden." 16 Die Bundesregierung war von Anfang an Vorstellung durchgesetzt hatte, die Schran- und Entspannungs-Problematik gesehen hat. auch bestrebt, auf bilaterale Weise zu einem ken zwischen Ost und West abzubauen und So heißt es im Harmel-Bericht der NATO vom Die Differenzen zwischen der CDU/CSU und Modus vivendi mit den Oststaaten zu dabei den territorialen und politischen Status 14. Dezember 1967, auf den sich die seit der SPD in der Deutschlandpolitik der Großen gelangen, wobei sie der UdSSR die Priorität quo in Europa weitgehend hinzunehmen, Herbst 1982 amtierende Bundesregierung Koalition, die von den Betroffenen selbst und einräumte. Diese Politik führte bereits 1970 wurde auch in der Bundesrepublik Deutsch- i mmer gern berufen hat: „Eine endgültige zeithistorischen Analytikern anschaulich zum Abschluß der Verträge mit der UdSSR l and intensiv die Frage geprüft, ob und in und stabile Regelung in Europa ist ... nicht beschrieben worden sind, können hier nicht und Polen. Mit diesen Ländern wurde ein welcher Weise man zu einem Modus vivendi möglich ohne eine Lösung der Deutschland- im einzelnen nachgezeichnet werden. qualifizierter Gewaltverzicht vereinbart, mit der UdSSR und den anderen Staaten des Frage, die den Kern der gegenwärtigen Festzuhalten gilt, daß Kiesinger, Brandt und postulierten die Verträge doch den Verzicht Ostblocks unter Einschluß der DDR gelangen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Wehner darin übereinstimmten, mit dem auf die Anwendung und Androhung von könnte, ohne auf dem früheren Konzept - Regelung muß die unnatürlichen Schranken Amtsantritt der Großen Koalition - im Gewalt, den Grundsatz der Unverletzlichkeit Sicherheit und Entspannung in Europa setzen zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, Gegensatz zur Kanzterschaft Erhards - die der Grenzen und den Verzicht auf territoriale die Lösung der „deutschen Frage" voraus - die sich in der Teilung Deutschlands am DDR in ihre Ost- und Deutschlandpolitik Ansprüche. Die CDU/CSU-Opposition hat zu beharren. deutlichsten und grausamsten offenbaren."14 einzubeziehen. Die Differenzen in der während der Verhandlungen über den Deutschlandpolitik der Großen Koalition deutsch-sowjetischen Vertrag nachdrücklich Ebenso wie ihre Vorgängerinnen lehnte die bezogen sich vornehmlich auf die Frage, ob und permanent darauf hingewiesen, daß er Bundesregierung der Großen Koalition den es richtig und opportun sei, der DDR auch das Recht des deutschen Volkes auf Selbst- Staatscharakter und eine völkerrechtliche weiterhin den Staatscharakter abzusprechen bestimmung mit der Möglichkeit der Anerkennung der DDR ab. An dem von ihr und an der inzwischen modifizierten staatlichen Vereinigung in keiner Weise 98 99 einschränken dürfe. Aus diesem Anlaß erstreckenden Deutschlandpolitik der Abkommen keine friedensvertragliche an bewußt die innerdeutsche Vertragspolitik mußte die sowjetische Regierung den „Brief Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Regelung für Deutschland vorwegnahmen i hrer Vorgängerinnen fortgeführt. Einige zur deutschen Einheit" vom 12. August 1970 DDR zu einem weitgehenden Abschluß"19 und damit auch nicht als endgültige Lösung neue Akzente hat sie insofern gesetzt, als sie akzeptieren, in dem die Bundesregierung „im gebracht hat. Mit dem Abschluß des der „deutschen Frage" gewertet werden - um es zu wiederholen - den Rechts- Zusammenhang mit der heutigen Unter- Grundlagenvertrages hatte die DDR das konnten. Das Deutschland in den Grenzen positionen in der Deutschland-Frage und zeichnung" des deutsch-sowjetischen zentrale Ziel ihrer Außenpolitik erreicht: die vom 31. Dezember 1937 war für die damit auch der fortbestehenden Vier- Westmächte „ein völkerrechtlich verbindli- Mächte-Verantwortung einen noch höheren Vertrages feststellte, daß dieser Vertrag Freigabe des internationalen Parketts durch Rang eingeräumt hat als ihre Vorgängerin- „nicht im Widerspruch zu dem politischen die Bundesrepublik Deutschland. Seit dem ches Ausgangsdatum, aber keine territoriale Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, 21. Dezember 1972 hat die DDR mit der Zielvorgabe" (Alois Mertes). Ergänzend sei nen seit Herbst 1969. auf einen Zustand des Friedens in Europa überwiegenden Mehrzahl der Staaten die darauf hingewiesen, daß auch die völker- hinzuwirken, indem das deutsche Volk in Aufnahme diplomatischer Beziehungen rechtlich nicht verbindliche KSZE-Schlußakte Die staatliche Spaltung Deutschlands hat freier Selbstbestimmung seine Einheit vereinbart. Hinzu kommt, daß am 18. vom 1. August 1975, die ausdrücklich auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung wiedererlangt". September 1973 die DDR und die Bundesre- festlegt, daß die Grenzen der Teilnehmer- der nationalen Problematik geführt. Der im publik Deutschland als 133. und 134. staaten „in Übereinstimmung mit dem Grundvertrag verankerte Konsens über den Auch wenn die UdSSR damit nicht die Mitglied in die Vereinten Nationen (UNO) Völkerrecht durch friedliche Mittel und durch Dissens in der nationalen Frage erlaubte es Verpflichtung übernahm, die Vorstellungen aufgenommen wurden. Vereinbarung verändert werden können", beiden Seiten, an ihren Positionen festzuhal- der Bundesrepublik Deutschland über die eine Nichtberührungsklausel enthält. ten: Die Bundesrepublik Deutschland hatte Die Frage, ob die Ende 1969 eingeleitete Ost- es hier sehr viel leichter, da für alle politisch Wiederherstellung der staatlichen Einheit Nach dem Abschluß der Ostverträge und des verantwortlichen Kräfte die Fortexistenz der Deutschlands gutzuheißen, konnte sie der und Deutschlandpolitik den Deutschland- begriff tangiert hat, läßt sich nur beantwor- Grundvertrages war es für die Sowjetunion deutschen Nation außer Frage stand. Das Bundesrepublik in der Folgezeit nicht nicht mehr so einfach - wenn es ihr opportun Bundesverfassungsgericht hat in seinem vorwerfen, sie verstoße gegen den Moskauer ten, wenn man dabei nicht nur die Verträge, Urteil über die Vereinbarkeit des Grund- Vertrag, wenn sie weiterhin für die Überwin- sondern auch das Grundlagenvertrags-Urteil erschien -, die Bundesrepublik Deutschland zum „Buhmann" zu machen. Andererseits vertrages mit dem Grundgesetz vom 31. Juli dung der staatlichen Teilung Deutschlands des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 dazu festgestellt: „Wenn heute von der eintrat.18 1973 und seinen Beschluß vom 7. Juli 1975 darf nicht übersehen werden, daß das über die Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland die Ergebnisse der Bonner Ost- und 'deutschen Nation' gesprochen wird, die eine Deutschlandpolitik überwiegend, wenn auch Klammer für Gesamtdeutschland sei, so ist Gesetze zu den Verträgen von Moskau und dagegen nichts einzuwenden, wenn Der Grundlagenvertrag mit der DDR Warschau, die Briefe zur deutschen Einheit nicht ausschließlich, als besiegelte Zwei- zum Moskauer Vertrag und Grundvertrag staatlichkeit Deutschlands gewertet hat. darunter auch ein Synonym für das 'deutsche sowie die nahezu einstimmig vom Deutschen Dazu trug die Tatsache bei, daß neben der Staatsvolk' verstanden wird ... „ Es war von vornherein klar, daß der von der Bundesrepublik Deutschland die DDR bis Bundesregierung mit der DDR angestrebte Bundestag am 17. Mai 1972 angenommene Hingegen hatte die DDR vor allem seit 1969/ vertragliche Modus vivendi am schwierigsten Entschließung zu den Ostverträgen in die zum 3. Oktober 1990, dem Tag der Herstel- l ung der staatlichen Einheit Deutschlands, 70 den untauglichen Versuch unternommen, zu erreichen sein würde, da er sich nicht nur Betrachtung einbezieht. Einen unter mit immer neuen Formeln und Parolen die auf den Gewaltverzicht und die Akzeptierung deutschlandrechtlichen und -politischen - mit der Mehrzahl aller Staaten diplomatische Spaltung der deutschen Nation nachzuwei- der innerdeutschen Demarkationslinie als Aspekten weitreichenden Beschluß faßte das Beziehungen unterhalten hat. Die Bundesre- Bundesverfassungsgericht am 21. Oktober gierung warf reilich bemüht, soweit wie sen. Nach Auffassung der SED-Führung Staatsgrenze beschränken, sondern vor allem möglich zu verhindern, daß die Mehrzahl der existierten bis zur politischen Wende im Erleichterungen für die Menschen im 1987. Herbst 1989 in den beiden Staaten Deutsch- gespaltenen Deutschland schaffen sollte. Staaten aus der Mitgliedschaft der Bundesre- Unstreitig war, daß „Deutschland" als publik und der DDR in der UNO den Schluß l ands auch zwei Staatsvölker, die nicht mehr alliierter Vorbehalt bis zur Unterzeichnung zog, die Bundesrepublik habe sich mit der Bestandteil der „deutschen Nation" seien. Von Anfang an hatte die Bundesregierung Teilung des Landes abgefunden. Während sich in der DDR nach der bis zum 9. die Regelung des innerdeutschen Verhältnis- des „Vertrags über die abschließende November 1989, dem Tag der Öffnung der ses eng mit dem Außenverhältnis beider Regelung in bezug auf Deutschland" vom Berliner Mauer, vertretenen offiziellen 12. September 1990 fortbestanden hat. Staaten verknüpft. Es gelang ihr auch, die Die Deutschlandpolitik seit 1982 Doktrin eine „sozialistische (deutsche) Nation Mehrzahl aller Staaten zu veranlassen, mit Durch die in den Verträgen von Moskau und entwickelt habe, habe in der Bundesrepublik der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR Warschau sowie im innerdeutschen Grund- vertrag verankerten Nichtberührungsklauseln Ebenso wie ihre Vorgängerinnen ließ auch Deutschland die „kapitalistische Nation" bis zur Unterzeichnung des Grundlagen- die seit Anfang Oktober 1982 amtierende, fortbestanden. Seit Ende der siebziger Jahre vertrages und seiner Begleitdokumente am und die Noten der drei Westmächte vom 11. konzedierte die DDR-Führung wenigstens, 21. Dezember 1972 zu warten. August zum Moskauer und vom 19. Novem- durch die Wahlen zum Bundestag am 6. März 1983 und 25. Januar 1987 bestätigte daß die sich dort herausbildende „sozialisti- ber 1970 zum Warschauer Vertrag wurde sche Nation" und die „kapitalistische Der Grundlagenvertrag markiert einen der sichergestellt, daß die Vorbehaltungsrechte und von CDU/CSU und FDP getragene Bundesregierung an dieser Grundposition Nation" in der Bundesrepublik „deutscher wichtigsten Einschnitte in der Geschichte der der Alliierten unberührt blieben. Die Nicht- Nationalität" seien. Die SED-Führung wußte Bundesrepublik Deutschland, da er „den berührungsklauseln in den Verträgen der keinen Zweifel. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenmini- nur zu gut, daß sich die weitaus meisten rechtlich und politisch komplizierten Prozeß Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR, Bürger der DDR immer als Deutsche und einer sich über mehr als zwei Jahrzehnte Polen und der DDR stellten sicher, daß diese ster Hans-Dietrich Genscher hat von Anfang

100 101 Angehörige der ungeteilten deutschen sofort entschied, den Beitritt der DDR zum Bundesrepublik Deutschland 1949 keine Anmerkungen Nation und nicht der von oben verordneten, Grundgesetz gemäß Artikel 23 zu vollziehen. Chancen verpaßt worden sind, die staatliche separaten „sozialistischen Nation der DDR" Großen Respekt verdienen darüber hinaus Einheit des Landes unter freiheitlichem (1) Stefan Wolle: Der Weg in den Zusammen- empfunden haben. die Verhandlungen, die auf der Zwei-plus- Vorzeichen zu erreichen.21 Voraussetzung für bruch. Die DDR vom Januar bis zum Oktober Vier-Ebene geführt wurden und Mitte die Überwindung der Teilung Deutschlands 1 989. In: Eckhard Jesse und Armin Mitter Nach der friedlichen Revolution in der DDR Februar 1990 in Ottawa ihren Ausgang war die Auflösung des Ostblocks, die sich in (Hrsg.): Die Gestaltung der deutschen Einheit i st die neue Führung zur alten These von der nahmen. Auf dem vierten Zwei-plus-Vier- einem Prozeß mit „innerer Logik" vollzog. Es Geschichte - Politik - Gesellschaft. Bonn/Berlin Existenz einer Nation in Deutschland zurück- Treffen der Außenminister konnte am 12. war ein Glück, daß Ungarn und Polen 1 992, S. 73-110 (75). Vgl. auch aus der dazu gekehrt. Mit dem 3. Oktober 1990 wurde September 1990 in Moskau der „Vertrag Vorreiter des Emanzipations-Prozesses i nzwischen vorliegenden umfangreichen die Diskussion um die Existenz zweier über die abschließende Regelung in bezug waren. Erst die Erkenntnis, daß Polen nicht Literatur Eckhard Jesse: Der innenpolitische Staatsvölker und Nationen in Deutschland auf Deutschland" unterzeichnet werden. Es mehr bereit war, die ihm lange Zeit von Weg zur.deutschen Einheit - Zäsuren einer endgültig beendet. war von vornherein klar, daß das vereinte Moskau diktierte Rolle im Sowjetblock zu atemberaubenden Entwicklung, ebenda, Deutschland die Gebiete der Deutschen spielen, veranlaßte den Kreml, vor allem S. 111-141 mit zahlreichen Nachweisen; ders: Demokratischen Republik, der Bundesrepu- Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow Der Umbruch in der DDR und die deutsche Keine Chance zur Wiedervereinigung blik Deutschland und ganz Berlins umfassen und Außenminister Eduard Schewardnadse, Vereinigung im Spiegel der Literatur, ebenda, vertan würde. Außerdem legt Artikel 1 des Vertra- die Freigabe der DDR ins Auge zu fassen und S. 399-420; Karl Wilhelm Fricke: Die Geschich- ges fest, daß das vereinte Deutschland und sie als „strategischen Verbündeten" aufzuge- te der DDR. Ein Staat ohne Legitimität, Alle politisch verantwortlichen Kräfte in der die Republik Polen die zwischen ihnen ben. Nach dem Ausscheren Polens aus der ebenda, S. 41-72; Jens Hacker: Deutsche Bundesrepublik Deutschland wußten, daß bestehende Grenze in einem völkerrechtlich einst „sozialistischen Gemeinschaft" hatte I rrtümer - Schönfärber und Helfershelfer der die „deutsche Frage" nicht isoliert gelöst verbindlichen Vertrag bestätigen. Dies die DDR auch die Funktion verloren, gemein- SED-Diktatur im Westen. Berlin/Frankfurt M. werden konnte, sondern in den fort- geschah mit dem am 14. November 1990 in sam mit der Sowjetunion die „Block"- 1992, Kap. 1. Sehr informativ dazu auch Peter bestehenden Ost-West-Konflikt eingebettet Warschau zwischen der Bundesrepublik Zugehörigkeit Polens zu sichern. Hübner: Von der friedlichen Herbst-Revolution war. Die Teilung Deutschlands war zugleich Deutschland und der Republik Polen unter- 1989 bis zur deutschen Einheit - Das Erbe. In: Bestandteil der Teilung Europas. zeichneten Vertrag über die Bestätigung der Alexander Fischer/Maria Haendcke-Hoppe- zwischen ihnen bestehenden Grenze. Arndt (Hrsg.): Auf dem Weg zur Realisierung Alle Überlegungen über eine Lösung der der Einheit Deutschlands. Jahrbuch 1991 der „deutschen Frage" hatten außerdem das Allen Beteiligten am Zwei-plus-Vier-Prozeß Gesellschaft für Deutschlandforschung. Berlin besondere Verhältnis der DDR gegenüber der war von Anfang an klar, daß die „deutsche 1992, S. 61-93. Sowjetunion und die Position der DDR im Frage" nur im europäischen Rahmen gelöst (2) Die Position der drei Westmächte, der UdSSR Ostblock zu beachten. Aufgrund ihrer werden konnte. Daher bleibt festzustellen, und wichtiger europäischer Staaten zur geographischen Lage am Schnittpunkt daß die „Charta von Paris für ein neues „deutschen Frage" ist wissenschaftlich noch zwischen Ost und West, ihrer Funktion als Europa", die Erklärung des Pariser KSZE- nicht umfassend aufgearbeitet worden. Einen westlicher Vorposten der engeren „sozialisti- Treffens der Staats- und Regierungschefs wichtigen Beitrag zur amerikanischen schen Gemeinschaft", ihres großen strategi- vom 21. November 1990, „mit großer Deutschlandpolitik hat Heinrich Bortfeldt schen Gewichts und darüber hinaus auf- Genugtuung Kenntnis von dem am 12. geliefert: Washington - Bonn - Berlin. Die USA grund ihres wirtschaftlichen Potentials besaß September 1990 in Moskau unterzeichneten und die deutsche Einheit, Bonn 1993. die DDR für die UdSSR eine außerordentliche Vertrag über die abschließende Regelung in Wichtige Hinweise auf die sowjetische Bedeutung. Daher war es nicht verwunder- bezug auf Deutschland" nimmt und aufrich- Deutschland-politik in der zweiten Hälfte der lich, daß die sowjetische Führung bis Anfang tig begrüßt, „daß das deutsche Volk sich in achtziger Jahre gibt Eduard Schewardnadse in 1990 gehofft hatte, die DDR nach der Übereinstimmung mit den Prinzipien der seiner Studie „Die Zukunft gehört der gewaltfreien Revolution und dem Sturz von Schlußakte der Konferenz über Sicherheit Freiheit'. Reinbek bei Hamburg 1991. Vgl. Staats- und Parteichef Erich Honecker als und Zusammenarbeit in Europa und in dazu auch J. Hacker, ebenda, S. 46-56, 342- „strategischen Verbündeten" weiterhin an vollem Einvernehmen mit seinen Nachbarn in 345. Vgl. zur britischen Sicht Günther i hrer Seite zu wissen. einem Staat vereinigt hat. Die Herstellung der Heydemann: Partner oder Konkurrent? Das staatlichen Einheit Deutschlands ist ein britische Deutschlandbild während des Erstaunlich bleibt nicht nur, in welchem bedeutsamer Beitrag zu einer dauerhaften Wiedervereinigungsprozesses 1989-1991. In: Tempo Bonn und Ost-Berlin die komplizier- und gerechten Friedensordnung für ein Franz Boßbach (Hrsg.): Feindbilder. Die ten inneren Aspekte der Wiedervereinigung geeintes demokratisches Europa, das sich Darstellung des Gegners in der politischen des Landes geregelt haben. Erleichtert wurde seiner Verantwortung für Stabilität, Frieden Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. dies insofern, als die aus den Wahlen zur und Zusammenarbeit bewußt ist.""' Köln/Weimar/Wien 1992, S. 203-234. Volkskammer am 18. März 1990 hervor- gegangene erste legitime Regierung der DDR Abschließend läßt sich feststellen, daß in den unter Ministerpräsident Lothar de Maizière vier Jahrzehnten seit der Konstituierung der

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(3) So Dietrich Frenzke in seiner Rezension der blik 1949-1955" (Frankfurt M. u.a. 1992) bisher umfassendste Darstellung des Studie von 1. Hacker: Deutsche Irrtümer. In: zeigt Markus Kiefer auf, wie die westdeut- diplomatischen Zwei-plus-Vier- Prozesses hat Osteuropa - Recht, Jg. 39/1993, S. 66f. (67). sche überregionale Publizistik damals die Horst Teltschik geliefert: 329 Tage - Innenein- (4) So der Berliner Politologe Hartmut Jäckel: Der „deutsche Frage", speziell die Problematik sichten der Einigung. Berlin 1991. Vgl. dazu Gegner als Partner. Egon Bahr und das der nationalen Identität und der Wiederher- auch Elizabeth Pond: Die Entstehung von Dilemma einer überzeugenden Friedens stellung der staatlichen Einheit des Landes, „Zwei-plus-Vier". In: Europa-Archiv, Jg. 47/ strategie. In: Die Zeit vom 21. Mai 1982 betrachtet und bewertet hat. 1 992, S. 619-630; Nicol C. Rae: Die amerika- (Rezension des Buches von Egon Bahr: Was (11) So Gerhard Wettig in seinem Beitrag „Zum nische und britische Reaktion auf die wird aus den Deutschen? Fragen und Ant Stand der Forschung über Berijas Wiedervereinigung Deutschlands. In: worten. Reinbek bei Hamburg 1982). Deutschlandpolitik im Frühjahr 1953". In: Zeitschrift für Politik, Jg. 39/1992, S. 24-33. (5) Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen. Berlin Deutschland Archiv, Jg. 26/1993, S. 674-682 Vgl. zur Moskauer Sicht Eduard 1 989, S. 455-458 (458). Vgl. dazu auch (681 f.); ders. Sowjetische Wieder- Schewardnadse: Die Zukunft gehört der Dieter Blumenwitz: Bayerns Beiträge zur vereinigungsbemühungen im ausgehenden Freiheit. Reinbek bei Hamburg 1991; Julij A. Deutschlandpolitik. In: Karl Carstens/Alfons Frühjahr 1953? Neue Aufschlüsse über ein Kwizinskij: Vor dem Sturm - Erinnerungen Goppel/Henry Kissinger/Golo Mann: Franz altes Problem, ebenda, Jg. 25/ 1992, S. 943- eines Diplomaten. Berlin 1993; J. Hacker, Josef Strauß - Erkenntnisse, Standpunkte, 958; Wilfriede Otto: Sowjetische ebenda; S. 46-56; ders.: Nationale Spaltung, Ausblicke. München 1985, S. 197-208. Vgl. Deutschlandpolitik 1952/53, ebenda, S. 948- Integrationspolitik und deutsche Einheit. In: zu den deutschlandpolitischen Positionen der 954; G. Wettig: Nochmals: Berijas Werner Conze und Volker Hentschel (Hrsg.): CSU und von Franz Josef Strauß 1. Hacker, Deutschlandpolitik, ebenda, S. 1089-1093; J. PLOETZ - Deutsche Geschichte. Epochen und a.a.O. (Anm. 1), S. 193-197, 232-236. Hacker, ebenda S. 115-118. Daten. Würzburg 1991, S. 346-371. Sehr (6) Hans-Peter Schwarz: Brauchen wir ein neues (12) Vgl. dazu mit Nachweisen J. Hacker, ebenda. aufschlußreich zur rechtlichen Problematik deutschlandpolitisches Konzept? In: Europa- S. 119-129. Wilfried Fiedler: Die Wiedererlangung der Archiv, Jg. 32/1977, S. 327-338 (329). (13) Willy Brandt: Entspannungspolitik mit langem Souveränität Deutschlands und die Einigung (7) Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 1), Atem. In: Außenpolitik, Jg. 18/1967, S. 449- Europas. Zum Zwei-plus-Vier-Vertrag vom Kap. 4; Wilfried Fiedler: Die staats- und 454(453). 1 2.9.1990. In: Juristenzeitung, Jg. 46/1991, völkerrechtliche Stellung der Bundesrepublik (14) Text des Harmel-Berichts. In: Europa-Archiv, S. 685-892. Vgl. dazu auch die Nachweise Deutschland. In: Juristenzeitung, Jg. 43/1988, Jg. 23/1968, S. D 75-77 (76). oben in Anm. 2. Soeben ist die erste S. 132-138. (15) So Klaus Hildebrand: Von Erhard zur Großen umfassende jur. Dissertation, die auch die (8) Vgl. dazu mit Nachweisen Jens Hacker: Koalition 1963-1969. Mit einem einleitenden politischen Aspekte behandelt, erschienen. Deutsche unter sich - Politik mit dem Grund- Essay von Karl Dietrich Bracher. Stuttgart/ Vgl. Christoph-Matthias Brand: Souveränität vertrag. Stuttgart 1977, S. 110-133. Wiesbaden 1984, S. 329. für Deutschland. Grundlagen, Entstehungs- (9) Vgl. dazu mit Nachweisen J. Hacker, a.a.0. (16) So Hans Buchheim: Deutschlandpolitik 1949- geschichte und Bedeutung des Zwei-Plus- (Anm. 1), S. 84-99. Vgl. speziell zur Deutsch 1972 - Der politisch-diplomatische Prozeß. Vier-Vertrages vom 12. September 1990, land-politik der Jahre 1963-1966 neuerdings Stuttgart 1984, S. 123; K. Hildebrand, Köln 1993. Horst Osterheld: Außenpolitik unter Bundes ebenda, S. 326 f. (21) Eine Herauslösung der SBZ/DDR aus dem kanzler Ludwig Ehrhard 1963-1966 - Ein (17) Vgl. dazu mit Nachweisen J. Hacker, a.a.0. Ostblock wäre seit 1949 auch nicht möglich dokumentarischer Bericht aus dem (Anm. 1), S. 129-136. gewesen, wenn die Bundesregierungen Bundeskanzleramt. Düsseldorf 1992. (18) Vgl. dazu mit Nachweisen J. Hacker, ebenda. bereit gewesen wären, schon vor 1966 mit (10) Vgl. dazu Gerhard Wettig: Die Stalin-Note S. 136-155. den Machthabern in Ost-Berlin zu sprechen. vom 10. März 1952 als (19) So Georg Ress: Die Rechtslage Deutschlands Das verkennt Peter Bender in seinem Beitrag geschichtswissenschaftliches Problem - Ein nach dem Grundlagenvertrag vom 21. „Adenauer, Erhard, Kiesinger und die DDR". gewandeltes Problemverständnis. In: Dezember 1972. Berlin/ Heidelberg/New York In: Die ZEIT vom 11. Juni 1993. Vgl. dazu Deutschland Archiv, Jg. 25/1992, S. 157-167; 1978, S. 1. Vgl. zur Deutschlandpolitik in den auch Jens Hacker: Die Haltung von CDU, ders.: Die Deutschland-Note vom 10. März Jahren 1982-1989 Matthias Zimmer: CSU, FDP und Grünen zur deutschen Frage. 1952 auf der Basis diplomatischer Akten des Nationales Interesse und Staatsräson. Zur In: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.): russischen Außenministeriums, ebd., Jg. 26/ Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982- Dem Zeitgeist geopfert - Die DDR in 1 993, S. 786-805; J. Hacker, ebenda, S. 94- 1989. Paderborn u.a. 1992; J. Hacker, Wissenschaft, Publizistik und politischer 1 02, 106-115. In seiner voluminösen, ebenda, S. 155-160. Bildung. Mainz 1992, S. 115-139. systematisch und flächendeckend angelegten (20) Text, in: Bulletin des Presse- und Information- Studie „Auf der Suche nach nationaler samtes der Bundesregierung, Nr. 137 vom I dentität und Wegen zur deutschen Einheit - 24. November 1990, S. 1409-1415 (1411) Die deutsche Frage in der überregionalen mit weiteren Dokumenten und in: Europa- Tages- und Wochenpresse der Bundesrepu- Archiv, Jg. 45/1990, S. D. 656-664 (658). Die

104 105 DIE DEUTSCHLANDPOLITIK DER SPD - VON DER POLITIK DER DEUTSCHEN EINHEIT ZUR POLITIK DES STATUS QUO DER DEUTSCHEN TEILUNG

Dr. Johannes L. Kuppe Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Bundeszentrale für politische Zeit wird wohl niemand erwarten, ich könne Bildung, Bonn hier einen halbwegs vollständigen und kritischen Diskurs über die Deutschlandpolitik der SPD der letzten 40 Jahre bis zur Wende i n der DDR anbieten. Ich muß mich auf den Versuch beschränken, einige Phasen dieser Deutschlandpolitik analytisch- i nterpretatorisch kurz zu beleuchten, wobei i ch in diesem Kreis die Kenntnis der Fakten voraussetze. Unmöglich scheint mir auch, hier das ganze Kaleidoskop kritischer Einwände gegen diese Deutschlandpolitik zu entfalten, zumal die Stichhaltigkeit dieser Einwände erst noch zu erörtern wäre. Ebensowenig können alle Argumente angeführt werden, die für eine bestimmte Handlungsalternative zu einem diskreten historischen Zeitpunkt gesprochen haben. Noch zwei weitere Vorbemerkungen, die zugleich ein Teil meines Urteils über einen historischen Ereignisraum deutlich machen und möglicherweise auf Widerspruch treffen werden. So, wie mein Thema formuliert ist, könnte es zu der irrigen Auffassung verleiten, die Deutschlandpolitik der SPD habe sich im Laufe der Zeit aus einer Bewegungspolitik, einer dynamischen Veränderungspolitik, in eine Beharrungspolitik, eine statische Gleichgewichtspolitik verwandelt. Während mir der erste Teil der Themenformulierung gefällt, weil er den Inhalt meiner Ausführun- gen zutreffend beschreibt, möchte ich den zweiten Teil der Überschrift so verstanden wissen, als ob er lautete: „...zu einer Politik, die den Status quo der deutschen Teilung mit der Absicht seiner graduellen Überwindung ernst nimmt."

Schließlich kann ich mich nur schwer dazu verstehen, die Deutschlandpolitik der SPD

106 107 ausschließlich aus heutiger, häufig besserwis- Figur der Partei werden. Er war national in überhaupt sprechen sollte, fehlt hier die Zeit.) Koreakrieges, auch der Europa- und serischer Perspektive zu bewerten. Ich dem Sinne, das alles unterlassen werden Eindrucksvoller Höhepunkt dieser Kluft Deutschlandpolitik des Kreml gegenüber wünschte mir, daß zumindest in einem mußte, was die Chancen der Wiederher- zwischen Intention/Ziel und Realisierungs- äußerste Skepsis angebracht schien. Die ersten Schritt stets geprüft wird, wie zu stellung eines deutschen Zentralstaates hätte kapazität und -chance war der Deutschland- „Was-Wäre-Wenn-Fragen" dienen nur der einem bestimmten Zeitpunkt, als Entschei- mindern können (und das war bis zu plan der SPD vom März 1959, vorgelegt Erhitzung der Gemüter, für die Beurteilung dungen nicht mit dem Wissen von heute Schumachers Tod 1952 nahezu alles, was die während der zweiten Berlin-Krise und vor der abgelaufener historischer Prozesse geben sie getroffen werden konnten, das gesamte Regierung Adenauer unternahm). Er war Genfer Viermächte-Außenministerkonferenz, fast nichts her. Umfeld der Entscheidungsträger ausgesehen antikapitalistisch (nicht antiwestlich) im Sinne ein Stufenplan zur Wiedervereinigung mit hat. Man muß das, was man damals schon der nicht zuletzt von der Kriegszeit gepräg- äußerlicher Ähnlichkeit zum Konföderations- Ich würde diese Phase der Deutschlandpolitik hätte wissen können, aber vielleicht ver- ten Programmatik der Partei und strebte ein plan Ulbrichts, wie er zweieinhalb Jahre der SPD als die erfolgloseste und die pro- drängt hat, von dem unterscheiden, was freiheitlich-sozialistisches Deutschland in zuvor von diesem angeboten worden war grammatisch hilfloseste bezeichnen. So man nicht wissen konnte. Fehler oder besser einem freiheitlich-sozialistischen Europa an und in der Deutschlandpolitik der SED noch wurden zum Beispiel aus dem Juni-Aufstand Fehleinschätzungen waren wohl unvermeid- („Sozialismus als Gegenwartsaufgabe"). bis Mitte der 60er Jahre eine wichtige Rolle 1953 in der DDR und den Aufständen in li ch. Für die nicht selbstverschuldeten Außerdem war Schumacher kompromißlos spielte. Der Hauptunterschied zur Politik Polen und Ungarn 1956 für die Deutschland- Fehleinschätzungen sollte gerade heute antikommunistisch, was auch keine taktisch- Ulbrichts war, daß der Deutschlandplan der politik der SPD keine grundsätzlichen besonderes Verständnis aufgebracht werden, diplomatischen Umwege in der Politik SPD tatsächlich die schrittweise Überwin- Konsequenzen gezogen. Zugleich war diese da wir die Erfahrung machen, erneut eine gegenüber den Sowjets und ihren zonalen dung der Spaltung zum Ziel hatte, während Phase jedoch eine politisch ehrliche und Entwicklung - nämlich die nach 1989 - nicht Handlangern zuließ. Ulbricht versuchte, durch Verhandlungen glaubwürdige, denn die Partei blieb ihrer ganz richtig eingeschätzt zu haben, um es über eine Konföderation als gleichberechtig- Wiedervereinigungspolitik treu. Die SPD als vorsichtig auszudrücken. Und nicht zuletzt ist Zugleich verstand Schumacher die ökonomi- ter Partner von Bonn anerkannt zu werden, politisch schwächere Kraft in der alten auch deutlich zu machen, welche Entschei- sche Prosperität des Westens als wirksames die „sozialistischen Errungenschaften der Bundesrepublik wollte auf dem Hintergrund dungen schon damals falsch waren, weil I nstrument zu Erlangung. der Deutschen DDR zu erhalten und damit letztlich die i hrer eigenen Erfahrungen und dem man wider besseres Wissen gehandelt hat, Einheit. Nach seiner „Magnet- Idee" würde - Eigenstaatlichkeit der DDR dauerhaft zu Wahrnehmungshorizont ihrer Führungsköpfe sei es aus Ängstlichkeit, Unsicherheit, allerdings langfristig - auch der Macht- sichern". etwas erreichen, die Wiedervereinigung, was mangelndem Mut oder aus welchen Grün- apparat der Kommunisten der wirtschaftli- gegen die Politik der politisch Stärkeren und den auch immer. chen Anziehungskraft des Westens nicht Wie ist nun diese Phase der Deutschland- gegen die Alliierten (drei davon gleichgültig, widerstehen können. Mit dieser Position ist politik der SPD zu bewerten? Die heute die Sowjetunion feindselig) nicht mehr (noch I m folgenden werde ich mich darauf die SPD in Konflikt mit nahezu allen beliebte Aussage, Adenauer habe mit seiner nicht) durchzusetzen war. konzentrieren, die grundlegenden Grundsatzentscheidungen der Bonner Politik der Westintegration schließlich Recht deutschlandpolitischen Vorstellungen der Regierung geraten, angefangen von der behalten und die SPD dann wohl Unrecht, SPD für die vier Phasen 1945-1959, 1960- Staatsgründung mit anschließend ständig halte ich für irrelevant, eine Entscheidung Deutschlandpolitik im Umbruch 1 966, 1966-1982 und 1982 bis zur Wende forcierter Westintegrationspolitik Adenauers darüber, was „richtig" oder „falsch" war, für zu skizzieren. Absichtlich spreche ich nicht bis hin zur Wiederbewaffnung. Deutschland- aporetisch. Ob etwa der Weg der SPD, keine Die nun zu behandelnde deutschland- von einem deutschlandpolitischen Konzept, politik und Sicherheitspolitik der SPD bildeten - wenigstens vorübergehend - spaltungs- politische Phase bis zum Regierungsantritt denn über so etwas hat keine der im i n dieser Phase eine unentwirrbare vertiefend wirkenden Schritte wie z.B. NATO- der großen Koalition 1966 ist für die SPD Bundestag vertretenen Parteien je verfügt. Gemengelage, in der Sicherheit für Deutsch- Beitritt und Wiederbewaffnung in der (aber auch für die Regierungsparteien) eine land nur durch einen weitgehend entmilitari- Deutschlandpolitik zu unternehmen, Umbruchphase, für die es distinkte Auslöse- sierten Status Deutschlands im Rahmen eines erfolgreich gewesen wäre, muß offen daten gibt und die einen schwierigen Die Nachkriegsphase 1945-1959 der UNO untergeordneten, von ihr getrage- bleiben, denn diese Handlungsalternative mit Lernprozeß erforderte, der mit vielen nen europäischen Sicherheitssystems hätte i hren zweifellos ebenfalls risikoreichen i nnerparteilichen „Umorientierungs-Schmerz- Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges war gewonnen werden können. Alle sicherheits- Faktoren ist nicht ausprobiert worden und en" verbunden war. Die Phase beginnt mit die Gedankenwelt der Sozialdemokratie und politischen Überlegungen der Partei waren kann somit nicht abschließend auf ihre dem Godesberger Programm vom November der Gewerkschaften von ihren Erfahrungen und wurden immer wieder den geforderten Folgen hin bewertet werden - so wie dies 1959 und der „einsamen" (weil mit der mit Nationalsozialismus und Stalinismus konkreten Schritten zur Überwindung der stets mit allen historisch gewordenen, nicht Partei nicht oder unzureichend abgestimm- bestimmt und von einigen wenigen Grund- Teilung untergeordnet. Die Tragik der SPD praktizierten Alternativen der Fall ist. Dies ten) Rede Herbert Wehners im Juli 1960 im vorstellungen geprägt. Diese lauteten: Nie war, daß sie zwar in dieser Phase unzweideu- wird am sinn- und endlosen Streit um die Bundestag und endet mit dem Eintritt der wieder Krieg, nie wieder Spaltung der tig die Partei der Wiedervereinigung, einer Erfolgsaussichten der berüchtigten Stalin- SPD in die große Koalition im Dezember Arbeiterklasse, nie wieder Kapitalismus, wie Wiedervereinigung ohne große Umwege Noten vom Frühjahr und Sommer 1952 1966. Der demonstrative Abschied der SPD man ihn erlebt hatte und wie er als Werk- und in absehbarer Zeit, gewesen war, doch besonders deutlich. Heutige Vorwürfe, hier von ihren marxistischen Wurzeln im Godes- zeug Hitlers in Erscheinung getreten war. gleichzeitig rückte diese Wiedervereinigung handele es sich um Versäumnisse des berger Programm und die Rücknahme des Dies gilt übrigens für die SPD in allen i n immer größere Ferne. (Für die Erörterung Westens und insbesondere Adenauers, Deutschlandplans der SPD durch Wehner in Besatzungszonen. In dieser Vorstellungswelt der Frage nach der historischen „Schuld" für übersehen allzu leicht, daß damals, auf dem seiner Bundestagsrede markierten konnte Kurt Schumacher zur dominierenden diese Entwicklung, sofern man von „Schuld" Höhepunkt des von Stalin angezettelten deutschlandpolitisch zugleich eine

108 109 Prioritätenverschiebung: An der Grund- aktiven Ostpolitik (die übrigens die Bundesre- bisher nicht erschüttern können. Gleichwohl deutschlandpolitischen Vorgaben. Sie position der Wiederherstellung der staatli- gierung seit der ersten Hälfte der 60er Jahre möchte ich hier die Frage stellen, ob nicht - wurden auf den Parteitagen 1967 und 1968 chen Einheit wird zwar nicht gerüttelt, aber durch Errichtung von Handelsmissionen in trotz aller unbestreitbaren Vorzüge des unter anderen von Willy Brandt und Helmut deutschlandpolitischen Tempowechsels in nun gilt Westintegration nicht mehr als einigen osteuropäischen Ländern schon Schmidt unmißverständlich formuliert. Da Hindernis auf diesem Weg. Eine gemeinsame selbst auch zu betreiben begann), die die dieser Phase und der zum Beispiel in der nach Meinung - übrigens nicht nur führender Deutschlandpolitik von Regierung und DDR nicht länger ausklammern wollte. Diese Tutzinger Rede von Bahr international SPD-Politiker - das Selbstbestimmungsrecht angezielten Überwindung des Status quo - in Opposition wird möglich, besser: kann Politik sollte rasch Früchte tragen, ohne für die Deutschen in der DDR auf absehbare langsam vorbereitet werden. Die bittere und freilich schon bald sichtbare Erfolge erzielen dieser Phase etwas angelegt war, was später Zeit als nicht durchsetzbar galt, mithin die zugleich unumstößliche Erfahrung des zu können. Ich erinnere hier an den Anfang als ein jedenfalls vorübergehendes „Sich- Wiedererlangung der staatlichen Einheit Mauerbaus in Berlin, daß nämlich die 1966 begonnenen Briefwechsel zwischen Abfinden" der SPD mit dem territorialen keine operative Aufgabe der Tagespolitik sein bisherige Deutschlandpolitik nur zu einer SPD und SED, der schließlich zu dem Status quo in Deutschland gedeutet werden konnte, rückte nun die Erhaltung der Nation, Vertiefung der Spaltung geführt hat, und die zunächst fest vereinbarten Redneraustausch kann. Offenbar löste die Notwendigkeit der die Förderung ihres Zusammenhalts, in den Erkenntnis, daß Kennedys Ostpolitik zwar die führte, der allerdings Mitte des Jahres von Friedenssicherung (nach den Erfahrungen in Vordergrund. Es blieb bei der „konsequenten Freiheit West-Berlins erhält, aber (Lehrstück der SED wegen der aufbrechenden, ihr zu der Kuba-Krise, in der die Welt millimeter- Ablehnung des Zwangsregimes in der SBZ Kuba-Krise) die Ost-West-Konfrontation risikoreich erscheinenden Wieder- scharf an einem Weltkonflikt vorbeige- und ebenso der völkerrechtlichen Anerken- durch Interessenausgleich mit Moskau zu vereinigungsdiskussion abgesagt wurde. schrammt war) in den Köpfen von SPD- nung der sogenannten DDR" (Helmut dämpfen suchte, ist der Auslöser für jene Politikern die Befürchtung aus, eine ständig Schmidt 1967), doch unterhalb dieser Überlegungen, die in der berühmt geworde- Diese Phase der Deutschlandpolitik der SPD wiederholte Bekräftigung der alten Forde- Schwelle war nun „das Nebeneinander und nen „Wandel-durch-Annäherung"-Rede war besonders schwierig, denn sie mußte rung nach staatlicher Wiedervereinigung, Miteinander der beiden Teile Deutschlands Egon Bahrs, damals Pressechef des Regieren- erst ihre Konturen finden. Wer wußte schon also nach einer drastischen Veränderung des zu organisieren" (Willy Brandt 1968). Unter den Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt genau, wie weit man gehen durfte oder Status quo in Deutschland, könne leicht diesen Prämissen wurde die SPD auch in der (der im Dezember des gleichen Jahres zum mußte? Zudem war diese neue Politik aus unter den Verdacht der Spannungs- großen Koalition zur deutschlandpolitisch Parteivorsitzenden gewählt wird), im Juli der Opposition heraus zu entwickeln. Sie traf verschärfung geraten. Die staatliche Wieder- treibenden Kraft, wobei sie allerdings 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing auf einen verbissenen, sich immer mehr vereinigung verschwand daher aus dem SPD- zeitweise von der oppositionellen FDP noch formuliert wurden. Der Grundgedanke war abschottenden Gegner (VI. Parteitag der Aufgabenkatalog für die Tagespolitik, ohne überholt wurde. einfach. Die bisherige Statik in der SED, Dezemberplenum 1965). Und schließ- daß allerdings programmatisch oder in der Deutschlandpolitik sollte dynamisch aufge- lich wurde sie in einer Zeit betrieben, in der Stimmungslage der Partei auf die staatliche Daß unter dem Einfluß des Außenministers Wiedervereinigung als Wunschziel verzichtet brochen werden. Unterhalb der Schwelle der alles, was aus Richtung Pankow kam, bei den Brandt auch immer größere Teile der Union Anerkennung sei im Interesse der Menschen Pförtnern des Kanzleramtes Endstation hatte, wurde. eine aktivere Ost- und Deutschlandpolitik eine begrenzte Zusammenarbeit auch mit geriet doch schon die mildeste Form der wollten, zeigt der Kiesinger-Stoph - Brief- dem kommunistischen SED-Regime zu Gesprächsbereitschaft mit der „Zone" rasch wechsel von Anfang 1967. Dieser Briefwech- suchen, weil an dessen Existenz auf absehba- i n den Verdacht von Verzichtsbereitschaft Entspannungspolitik in Regierungs- sel brachte zwar wegen der Maximal- re Zeit von außen nicht gerüttelt werden und von so etwas wie Hochverrat. verantwortung 1967-1982 forderung der SED nach völkerrechtlicher könne. Mit anderen Worten heißt das, der Anerkennung keine konkreten Ergebnisse, Status quo der Teilung wurde nicht (mehr) Unzweifelhaft war es eine Phase, in der die Die folgende Phase bis zur Wachablösung doch aus dem einst oft zitierten hin-, sondern als Herausforderung angenom- Deutschlandpolitik der SPD für die am Rhein 1982, in der die SPD erst in der Kiesingerschen „Phänomen" oder „Gebilde" men, seine Überwindung war durch aktive, Deutschlandpolitik der Bundesregierung den großen Koalition, dann ab 1969 in der DDR war immerhin schon ein Briefadressat nicht mehr nur durch reaktive Politik anzu- Anstoß lieferte, vom praktischen Koalition mit der FDP entscheidenden, nun geworden, mit dem man um menschliche streben. In diesem Aspekt der Tutzinger Rede I mmobilismus und von bloßen Reaktionen auch gestalterischen Einfluß auf die Erleichterungen zu ringen bereit war. Wer sehe ich den Kern und das bis heute nicht auf Verstöße der SED auf Bewegung und Implementierung der Deutschlandpolitik heute diesen Vorgang geringachten möchte, widerlegte strategische Potential der neuen Aktion umzuschalten. gewann, ist in der Zeitgeschichte und in der der hat wohl die Erinnerung an das Klima des Deutschlandpolitik, die sich unter Beibehal- politischen Diskussion weitgehend unumstrit- kalten Krieges gerade in Deutschland tung von Grundpositionen ändern mußte, Entsprach nun diese Deutschlandpolitik den ten. Befürwortern und damaligen Gegnern inzwischen verdrängt. damit es nicht noch schlimmer kommen damaligen Erkenntnissen und Möglichkei- der Deutschlandpolitik der SPD ist weder würde. ten? Die Literatur über diese Phase ist heute damals noch heute etwas noch Besseres oder Die Formel Willy Brandts in seiner Regierung- weitgehend einhellig der Meinung, daß in etwas ganz anderes, das damals Erfolgsaus- serklärung von 1969 „Zwei Staaten - eine Es ist eine Unterstellung, manchmal sogar dieser Zeit die neue Ostpolitik präformiert sichten gehabt hätte, eingefallen. Nation" markierte für 14 Jahre den eine böswillige, wenn Bahr im nachhinein ein wurde und daß damit diese Politik als Handlungsspielraum der sozialliberalen Programm der Annäherung der SPD an die förderlich für die spätere Entschärfung des I n diese Phase der Entspannungspolitik, Koalition Brandt-Genscher und, ab 1974, SED oder auch nur unrealistische Hoffnungen Ost-West-Konfliktes und den Beginn einer deren Beginn noch einmal durch die gewalt- Schmidt-Genscher. Diese Koalition entschloß auf einen raschen Wandel in der DDR substantiellen Entspannungspolitik anzuse- same Intervention der Warschauer-Pakt- sich aus eigenem Antrieb, aber auch ge- angesonnen wird. Es war nicht mehr aber hen sei. Auch die inzwischen geöffneten Truppen in der CSSR relativ kurz unterbro- drängt vom Westen, die Forderung nach auch nicht weniger als die Promotion einer Archive der SED/DDR haben dieses Urteil chen wurde, startet die SPD mit relativ klaren Wiedervereinigung und freien Wahlen in der

110 111 DDR als Vorbedingung für ein neues reichen Abschluß der KSZE in Helsinki 1975 Bundesregierung an einer neuen Aufrüstung Güstrow ungeniert fast das ganze Instrumen- Arrangement mit dem Osten fallen zu lassen. war die SPD treibende Kraft, gegen eine sich beteiligen würde. Deutschlandpolitik wurde tarium des Unterdrückungs- und I n der die Entwicklung vorwegnehmenden, noch immer weitgehend sperrende zunehmend in den Nischen einer sich Abschottungsapparates seiner Gastgeber richtigen Erkenntnis, daß die Sowjetunion Bundestagsopposition, die auch lange Zeit reaktivierenden, in den Vordergrund der vorgeführt. Gab es damals eine andere nach ihrem CSSR-Gewaltakt ihre internatio- nicht davon beeindruckt wurde, daß diese Tagespolitik rückenden Sicherheitspolitik Möglichkeit für die Deutschlandpolitiker der nale Isolation mit einer Entspannungs- Deutschlandpolitik die Unterstützung der getrieben, die ihrerseits wegen der drohen- SPD, als diese Unverfrorenheit der SED- offensive durchbrechen wollte, zielte die westlichen Alliierten, ganz zu schweigen von den und als bedrohlich empfundenen Führung zurückzuweisen und mehr oder sozialdemokratische Politik darauf ab, auf der den übrigen Verbündeten in NATO und EG, Nachrüstungskomponente weder in der weniger scharf zu kritisieren, was ja auch festen Grundlage ihrer westlichen Bindungen gefunden hatte. Partei noch in Teilen der Bevölkerung (siehe i mmer wieder geschehen ist? Oder hätte die einen eigenständigen Beitrag zur Entschär- die wachsende parteiferne Friedens- Verhandlungspolitik ab- oder, wenigstens fung des in Europa besonders gefährlichen Wenn sich die deutschlandpolitische Erfolgs- bewegung, die in SPD und Gewerkschaften kurzfristig, unterbrochen werden sollen? Die Ost-West-Konflikts zu leisten. story der SPD aus der ersten Hälfte der hineinwirkte) ungeteilte Zustimmung genoß. Entscheidung fiel damals zugunsten ihrer siebziger Jahre nicht mehr mit gleicher Ein bißchen wundert es eigentlich schon, daß Fortsetzung - im Interesse der Menschen und Die Implementierungsphase der neuen Berechtigung von der zweiten Hälfte diese unter diesen Umständen bis zu dem Zeit- eingedenk der schon erreichten und. noch Ostpolitik setzte zunächst einen innerparteili- Jahrzehnts erzählen läßt, so hatte das punkt, als die SPD die Regierungsbank erwarteten Fortschritte. Wenn damals auch chen Klärungsprozeß in der SPD voraus. Mit mehrere Ursachen. Bis 1974/75 konnte die verlassen mußte (freilich nicht aus i nnerhalb der SPD darüber diskutiert wurde, dem Beschluß des Parteivorstandes vom Deutschlandpolitik der Bundesregierung deutschlandpolitischen Gründen), einige auf welche Forderungen der SED ohne Dezember 1970, gerichtet vor allem gegen unter dem Dach der Entspannung zwischen Dutzend Verträge, Abkommen, Protokolle Verletzung des Wiedervereinigungsgebotes die Jungsozialisten und den Sozialistischen USA und UdSSR betrieben werden, und vertragliche Absprachen zwischen der Präambel des Grundgesetzes man Deutschen Studentenverband (SDS), wurde Deutschlandpolitik und Sicherheitspolitik beiden deutschen Staaten abgeschlossen eingehen könne (z.B. Auflösung der Zentra- jede Handlungsnähe, auch in der Friedens- waren damit weitgehend kongruent, werden konnten. l en Erfassungsstelle Salzgitter), so zeugt das und Abrüstungsfrage, zwischen Sozialdemo- zumindest aber auf das gleiche Ziel gerichtet zunächst von taktischer Unsicherheit. Man kraten und Kommunisten (in der Bundesre- und damit ohne konfligierende Streit- Das Ende dieser Phase wirft noch einmal die l ebte deutschlandpolitisch mehr oder publik) für unvereinbar mit der Partei- substanz. Dies änderte sich in dem Maße, Frage nach der damals möglichen Ziel- weniger „von der Hand in den Mund". Doch mitgliedschaft erklärt und damit verboten. wie deutlich wurde, daß der Kreml unter richtung dieser Deutschlandpolitik auf: Im gab es weder damals noch gibt es heute Die (relativ wenigen) Protagonisten einer dem Schutzschild der europäischen Entspan- Oktober 1980 stellte Honecker, wie schon jemanden mit einem plausiblen deutschland- solchen Zusammenarbeit wurden aus der nungspolitik weltweite Expansionspolitik einige Male zuvor, mit seinen vier Geraer politischen Alternativprogramm. SPD ausgeschlossen. Der Widerstand am betrieb und sogar in Europa mit einer Forderungen (Anerkennung der rechten Flügel der Partei brach zusammen, heimlichen Raketenaufrüstung einseitige und Staatsbürgerschaft der DDR, Umwandlung als dessen Wortführer Herbert Hupka, strategische Vorteile zu erreichen suchte. der Ständigen Vertretung in Bonn und Ost- Eigengesetzlichkeit einer Politik der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, Damit änderte sich auch für die Bundesrepu- Berlin in Botschaften, Markierung der kleinen Schritte im Januar 1972 zur CDU übertrat. Spätestens blik die sicherheitspolitische Lage, die i nnerdeutschen Grenze entlang dem Talweg zu diesem Zeitpunkt war die neue Ost- und vermehrte Aufmerksamkeit erforderte, was der Elbe, Auflösung der „Zentralen Er- Diese Überlegungen führen uns allerdings Deutschlandpolitik der SPD innerparteilich wiederum dazu führte, daß die Deutschland- fassungsstelle" der Bundesländer für die noch einmal zu der Frage, warum die völlig unumstritten, und die Bevölkerung politik mehr und mehr unter die Zwänge Registrierung von Unrechtsstaaten des DDR- deutschlandpolitische Erfolgsstory der unterstützte diese Politik mehrheitlich. Was einer mehr verwaltenden als vorwärts- Regimes in Salzgitter) und der drastischen sozialliberalen Koalition gegen Ende ihrer dann folgte, ist Ihnen, so denke ich, noch in treibenden Verhandlungsstrategie geriet. Der einseitigen Erhöhung des Mindestumtausch- Amtszeit ein wenig von ihrem Glanz verloren guter Erinnerung, so daß ich mir hier eine von Helmut Schmidt mitinitiierte und von satzes für Besuchsreisen in die DDR die hatte. Die innerdeutsche Entspannungspoli- vollständige Rekapitulation des Geschehens, seiner Regierung aus Überzeugung mit- Geschäftsgrundlage der innerdeutschen tik, bis zum Schluß der Amtszeit Schmidts vor allem des ganzen Szenariums des getragene Nato-Nachrüstungsbeschluß von Vertragspolitik geradezu brutal in Frage. Er auf den mühsamen, aber immer enger Ausbaus und der Normalisierung der 1979 hätte eigentlich eine neue konzeptio- machte damit überdeutlich, daß sich die werdenden Pfaden der Gesprächs- und i nnerdeutschen Beziehungen, sparen kann nelle Verzahnung von Sicherheits- und SED-Führung mit den Koordinaten des Verhandlungspolitik vorangetrieben, war und muß. Deutschlandpolitik erfordert, doch diese Grundlagenvertrages als eines für eine über alle Maßen erfolgreich, gemessen am Neuorientierung fand nicht statt. l ängere Zeit völkerrechtlich gültigen Modus Zustand der Teilung in Zeiten des kalten Gegen den hinhaltenden bis erbitterten Deutschlandpolitik hieß nun, ab Mitte der vivendi zwischen beiden deutschen Staaten Krieges. Sie brachte gravierende Verbesse- Widerstand der Union im Bundestag hat die 70er Jahre, mühsam die Folgeverträge zum keineswegs zufriedengibt, sondern das rungen vor allem für jene Westdeutschen, sozialliberale Koalition erst die Ostverträge, Grundlagenvertrag gegen eine sich immer deutschlandpolitische Diktum Bonns, „die die von der Teilung besonders betroffen dann die das Berlin-Abkommen ergänzenden stärker verweigernde SED auszuhandeln, die DDR ist kein Ausland für uns", mit Ziel- waren, und - wenn auch vergleichsweise sehr deutsch-deutschen Verträge und schließlich i hrerseits ganz unverhohlen mit dem richtung völkerrechtliche Anerkennung durch viel weniger - für die Ostdeutschen, wie zum das innerdeutsche Vertragswerk, vor allem deutschlandpolitischen Verweigerungs- die Bundesregierung auszuhebeln trachtete. Beispiel das nur mühsam sich verbreiternde den Grundlagenvertrag, ausgehandelt und in knüppel gegen die angestrebten menschli- Rinnsal der Ost-West-Reisenden und - Kraft gesetzt. Auch bei den mehrjährigen chen Erleichterungen in den innerdeutschen I m Dezember 1981 bekam Helmut Schmidt Ausreisenden bis zum Ende der DDR zeigte. Vorbereitungen und dem schließlich erfolg- Beziehungen zu drohen begann, falls sich die bei seinem Besuch am Werbellinsee und in Mit diesen Erfolgen gewann aber zugleich

112 113 diese „Politik der kleinen Schritte", zu der bis Verbund mit der innerdeutschen Entspan- men hat. Man kann nicht aus der mehr oder Moskaus schon in den siebziger und dann zum heutigen Tag niemand eine sinnvolle nungspolitik einen selbstbewußteren weniger gerechtfertigten Annahme, daß die weiter in den achtziger Jahren einem Alternative erfinden konnte, eine gewisse Umgang der Menschen mit den Funktionä- Wiedervereinigung von einem Politiker oder Verzicht der NATO auf ihre Nachrüstung in Eigengesetzlichkeit und Eigenmächtigkeit ren ermöglichte, ganz abgesehen von den einer Politikerin nicht gewollt wurde, nicht den Jahren 1982/83 das Wort redete, etwa i nsofern, als nicht mehr beharrlich genug Erleichterungen im täglichen und normaler darauf schließen, daß auch die Politik falsch mit der Begründung, nun werde die über das Ziel dieser Politik nachgedacht werdenden Begegnungsprozeß zwischen Ost war, die zwecks Milderung der Teilungs- Rüstungsschraube endlos weitergedreht und wurde und sich viele Praktiker wie Beobach- und West. folgen betrieben wurde. Auch eine Politik, vor allem die Deutschen in Ost und West ter, bis weit ins Oppositionslager hinein, mit die der Erringung der Freiheit für die Men- wären im Falle eines Falles in erster Linie die der Vorstellung begnügten, da werde ein War diese Politik also fragwürdig oder gar schen in der DDR Priorität einräumte und Leidtragenden, übertrieb meines Erachtens sehr langer Weg gepflastert, der irgendwann falsch geworden, weil die Bundesregierung „nur" der nationalen Einheit gedient hat, zwar nicht die neuen, mit einem solchen i m nächsten Jahrtausend zur Überwindung nicht mehr bei jeder sich bietenden Gelegen- wäre ethisch gerechtfertigt, zumal in einer Schritt verbundenen Gefahren, überschätzt der Spaltung führen werde oder könne (je heit die Offenheit der deutschen Frage Zeit, in der die staatliche Einheit in Freiheit aber wohl die Reagibilität von Bündnissen, nach Stimmungslage). (Es gab sicher auch beschwor? Oder wäre sie noch erfolgreicher nicht erreichbar schien. die zwar manchmal die Umsetzung ihrer Zeitgenossen, die hofften, daß mit dieser geworden, wenn in der westdeutschen Entscheidungen auf die lange Bank schieben, Politik niemals die Zweistaatlichkeit überwun- Öffentlichkeit Ziele wie Wiedervereinigung, Ich möchte abschließend ganz konkret einige sie aber niemals nur unter dem Eindruck der den werden kann, und das waren keines- freie Wahlen, Selbstbestimmung parallel zur deutschlandpolitische Themenfelder anspre- Unnachgiebigkeit des Gegners zurückneh- wegs nur jene, wie jetzt von interessierter Verhandlungspolitik stärker bekräftigt und chen und fragen, ob auf diesen Gebieten men. Die NATO wäre als Papiertiger erschie- Seite gelegentlich eingeflüstert wird, i mmer wieder unterstrichen worden wären? vielleicht damals schon korrigierbare Fehlein- nen, die Sowjets hätten triumphiert - so freischwebenden linksintellektuellen Gimpel, Wer heute beklagt, die Politik der kleinen schätzungen vorlagen, welche Umstände zu jedenfalls die damalige NATO-Philosophie. die von nichts anderem als einer sozialisti- Schritte habe ihre Ziele (etwa die eben dieser oder jener Politik geführt haben und Dagegen vermochte auch eine in erster Linie schen Alternative zum verhaßten Kapitalis- genannten) nicht laut genug herausgestellt i nwieweit erst aus heutiger Sicht Versäumnis- ethisch argumentierende Friedensbewegung mus träumen konnten.) und sei ohne langfristige, erfolgversprechen- se zu beklagen sind. Dabei geht es mir vor i n den NATO-Stäben nichts zu bewirken. de deutschlandpolitische Konzeption allem Wer wollte schon mit einem nuklearen GAU Die Politik der kleinen Schritte war, als sie betrieben worden, der hat wahrscheinlich gerade in Europa rechnen, wo doch die begonnen wurde und für die Dauer ihrer Recht. Doch ich warne vor der Vorstellung, - um die Frage des Wechselverhältnisses von Abschreckung - von mir aus: scheinbar - so Praxis, also bis 1989, zwangsläufig daß in jeder historischen Phase in der Politik Deutschlandpolitik und Sicherheitspolitik gut funktioniert hatte? ambivalent in ihrer Wirkung: Sie hat die DDR Ziele und Methoden immer einen engen der SPD, also um das Problem der viel gleichermaßen destabilisiert wie stabilisiert. Wirkungszusammenhang haben müssen. Es zitierten „Sicherheitspartnerschaft" oder „- Aber wachsende Teile der Bevölkerung und Sie war weder ein Nullsummenspiel aus- trifft viel häufiger zu, daß es für die gemeinschaft" der Parteimitglieder der SPD, dann auch der schließlich zugunsten des Ziels menschlicher Erreichung mehrerer Ziele gelegentlich keine - um die sogenannte Parteiaußenpolitik, also Bundestagsfraktion der SPD, mochten dieser Erleichterungen, noch konnte sie darauf adäquaten Methoden gibt, und noch um die Arbeitsgruppe Axen-Bahr und die NATO-Sicherheitspolitik, für die die Regie- angelegt sein, ein schnelles Ende der DDR häufiger geschieht es, daß Methoden Deutung ihrer Arbeit Ende der achtziger rung Schmidt-Genscher stand, nicht mehr herbei zu verhandeln. Schneller wäre uns bei praktiziert werden, die nicht unmittelbar zum Jahre folgen. Diese Regierung stürzte zwar wegen einer derartigen Strategie der Verhandlungs- angestrebten Ziel führen. Die Methoden der - um die Frage der Menschenrechte, also in wirtschafts- und vor allem haushalts- partner SED abhanden gekommen - einfach Politik der kleinen Schritte haben jedoch den diesem Fall um die Verankerung der politischer Differenzen mit dem Koalitions- durch noch mehr Verweigerung oder Zielen, auch wenn sie manchmal nur noch Deutschlandpolitik in ihren freiheitlich- partner, aber die innerparteiliche Kontroverse Verzögerung. ferne Wunschziele waren, keinesfalls demokratischen Wurzeln über die Sicherheitspolitik hat dabei ebenfalls geschadet. Einen direkten Weg zu diesen - schließlich um das Bild dieser Deutschland- eine vorbereitende Rolle gespielt. Doch durch diese Politik der kleinen Schritte Zielen gab es damals, und - wie wir heute politik angesichts der sich abzeichnenden wurde auch sehr wenig am inneren wissen - es gibt ihn auch aus gegenwärtiger raschen staatlichen Vereinigung. Während nun die Kohl-Genscher-Regierung Repressionssystem der SED verändert, ja es Perspektive nicht. die alte Deutschlandpolitik in der täglichen geriet zwangsläufig ein wenig aus dem Blick, Schon vor und erst recht in der Zeit des Praxis nahezu unverändert, allerdings wenn auch nicht für jene, die ständig in die I nterregnums in Moskau, also nach Bresch- verbunden mit einer lautstärkeren DDR reisten oder beruflich dort tätig waren. Deutschlandpolitik aus der Opposition news Tod im November 1982, war eigentlich Wiedervereinigungsrhetorik, fortsetzte und Das gilt, obwohl die SED zunehmend unter klar geworden, daß die Sowjetunion das mit zugleich die Nachrüstung gegen großen Druck geriet, dieses System wegen der Für meine kritischen Anmerkungen zu dieser dem NATO-Nachrüstungsbeschluß verbunde- i nnenpolitischen Widerstand in die Wege erzwungenen Öffnung nach außen und Phase gilt eine Voraussetzung: Ich persönlich ne Angebot des Verzichts auf westliche l eitete, wurde die Deutschlandpolitik und Westen zu rationalisieren. Freier wurde es, halte es für eine unsympathische Form der Nachrüstung für einen Abbau der europäi- Sicherheitspolitik unter dem neuen Fraktions- wie wir heute noch besser wissen, dadurch Arroganz, nein, schlimmer noch: ich halte es schen SS-20-Raketen nicht annehmen vorsitzenden Vogel und Willy Brandt in der nicht. Andererseits kann man aus Gesprä- für falsch, wenn die Bewertung dieser würde, daß also die Implementierung dieses Weise deckungsgleich definiert, als chen mit ehemaligen DDR-Bürgern auch Deutschlandpolitik davon abhängig gemacht Beschlusses auch in der Bundesrepublik Deutschlandpolitik Kern und Ausdruck von erfahren, daß damals die auch von Honecker wird, welche Haltung zur Wiedervereinigung unvermeidlich werden würde. Wer ange- Sicherheitspolitik wurde. Gemeinsam mit den unterschriebene KSZE-Schlußakte im der Politiker oder die Politikerin eingenom- sichts der brutalen Raketen-Aufrüstung Kommunisten des Ostens, also auch mit der

114 115 begrenzten atomaren Erstschlag im Rahmen Hier stehen nun keineswegs Einzelheiten der „flexible response", eine andere als die dieser Initiativen zur Debatte. In Frage steht Westeuropas, das angesichts des viel allein deren deutschlandpolitischer Stellen- größeren Zerstörungspotentials der SS-20- wert, der Nutzen für die Beteiligten und die Raketen des Kreml erpreßbar war.) Da hilft Deutschen insgesamt sowie die Wirkung auf auch nicht der stets schnelle Verweis auf den andere notwendige, aber vielleicht zu wenig nuklearen GAU, der allerdings die Deutschen bearbeitete deutschlandpolitische Aktions- zuerst und gleichermaßen in Ost und West felder. Gegner dieser Politik haben die SPD getroffen hätte, aber eben nicht die vor- der Würdelosigkeit bezichtigt, weil sie als dringlich zu bekämpfende, besonders demokratische Opposition mit einer immer wahrscheinliche Katastrophenvariante war. reformfeindlicher agierenden Staatspartei verhandelte, sowie der Illoyalität gegenüber Mit dem irreführenden Begriff der Sicherheit- der Bundesregierung, so als ob es ein Gebot spartnerschaft wurde der Vorstellung von der Loyalität im Sinne von Inaktivität für eine einer politischen Nähe auch zur SED Vor- Opposition gäbe. Und schließlich wurde der schub geleistet, die tatsächlich in der SPD auch Selbstüberschätzung vorgeworfen. praktischen Sicherheitspolitik nie bestand Doch warum sollte die Partei, die den Prozeß und auch nicht aus der Opposition heraus der Entspannungspolitik erfolgreich eingelei- herzustellen war. (Ich lasse hier mal beiseite, tet und gestaltet hat, gerade in einer Zeit, in wieviel Verwirrung dieser Begriff bei unseren der diese Entspannung in Gefahr geriet, Verbündeten geschaffen hat. Aber selbst, stillhalten, nur weil sie auf den Oppositions- wenn das zu vernachlässigen war, was hat es bänken saß? Warum nicht diesen eigentlich genützt? Hat er eigentlich die SED abrüstungs- und entspannungspolitischen auch deutschlandpolitisch kompromißberei- Faden mit denen, die dazu wenigstens auf ter gemacht?) einzelnen Gebieten bereit waren, weiter- spinnen, zumal die internationale Abrüstung- Was hier als Begriffsnörgelei erscheinen mag, sdebatte nicht vorankam und die Bundesre- ist keinesfalls belanglos. Hinter der Kritik an gierung in den Prozeß der außerordentlich einem falschen Begriff steckt nämlich auch langwierigen und schwerfälligen internatio- die Kritik an jener Philosophie, die tatsächlich nalen Abrüstungsdiskussion eingespannt war praktisch zur damaligen Absprache zwischen und daher mit eigenen Initiativen den dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Vogel, multilateralen Klärungsprozeß, etwa bei den SED, sollte die nukleare Gefahr gebannt, der ohne einen territorial Betroffenen auszu- und Honecker im Frühjahr 1984 führte. Genfer Chemiewaffenverhandlungen, eher Hunger in der Welt bekämpft, die Umwelt schließen oder ihm unerträgliche Sicherheits- Danach hatten gemeinsame Arbeitsgruppen gestört hätte? Rechtfertigte nicht die gerettet und - so manche Stimmen auch in risiken aufzubürden - so weit, so gut. Es gab der SPD-Bundestagsfraktion und des ZK der wachsende Bedrohung durch die ABC- der SPD - eine Auflösung der Militärblöcke also durchaus gemeinsame oder vergleichba- SED Initiativen zu erarbeiten, die in beiden Waffen jede Art von Gesprächskontakten? als Urheber allen Übels vorbereitet werden. re Sicherheitsinteressen - aber „Sicherheits- Bündnissen die sicherheits- und abrüstungs- Zudem wissen wir heute, daß die SED mit Spezifische deutschlandpolitische und partnerschaft"? War das nicht ein Begriff, politischen Debatten vorantreiben und den Ergebnissen der Bahr-Axen-Runden bei allgemeine, wegen der nuklearen Gefahr der politischen Freunden hätte vorbehalten beeinflussen sollten. Die Ergebnisse sind ihren eigenen Rüstungsfalken keineswegs scheinbar alles überragende sicherheits- werden müssen, weil er eben auch sugge- bekannt: Die Bahr-Axen-Gruppe legte im auf Begeisterung gestoßen ist. Dennoch politische Zielsetzungen waren auf diese riert, es gäbe identische Sicherheitsinteressen Sommer 1985 bereits einen Vorschlag für die bleibt die prinzipielle Frage offen, ob diese Weise nahezu ununterscheidbar geworden - Bonns und Ost-Berlins? Sie waren schon Bildung einer chemiewaffenfreien Zone in zur Sicherheitspolitik geronnene und bis zu einem gewissen Grad waren sie es deshalb nicht identisch, weil die Bundesrepu- Europa, im Herbst 1986 die Grundsätze für Deutschlandpolitik der SPD auf hoher Ebene ja auch. Mir scheint jedoch - und ich habe blik ihre spezifischen Sicherheitsinteressen im einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleu- wirklich die Diskussionen in den Bündnissen das auch damals gesagt -, daß die Proklama- Unterschied und teilweise auch im Wider- ropa und im Sommer 1988 den Vorschlag befördert hat - für die NATO scheint das tion des Begriffs der Sicherheitsgemeinschaft spruch zu denen der USA definieren konnte, für eine Zone des Vertrauens und der nicht der Fall gewesen zu sein. Es ist ebenso über das politische Gebotene hinausging und was der DDR-Führung gegenüber der Sicherheit in Zentraleuropa vor. Noch im zu erörtern, ob nicht die internationale zu zahlreichen Mißverständnissen Anlaß gab. Sowjetunion niemals möglich war. (Zum Herbst 1988 fanden weitere gemeinsame Abrüstungsposition der Bundesregierung Daß es gerade angesichts der Verhärtung an Beispiel war eben die reale Bedrohung des Erörterungen über Fragen der Herstellung geschwächt wurde, sah diese sich doch der der Rüstungsfront und den damit wachsen- Ostens und damit der DDR durch amerikani- einer Angriffsunfähigkeit und über den Frage gegenüber, ob sie in diesen zentralen den, für alle Europäer gleichen oder jeden- sche Nuklearwaffen, etwa nach einem durch Abbau von Rüstungsasymetrien statt. Politikfeldern wirklich nur die Hälfte der falls vergleichbaren Gefahren nur eine einen überlegenen konventionellen Angriff Bevölkerung hinter sich hat. Sicherheit für alle Bedrohten geben konnte, der Sowjets erzwungenen, zunächst aber

116 117 Ferner kann bei der Erörterung dieser Etwas überspitzt formuliert kann man die sicherheitspolitisch verweigern, hatte etwas Zusammenhalts der Nation, immer gestimmt Problematik nicht außer Betracht bleiben, Deutschlandpolitik der SPD gerade in der viel Bedrohlicheres, als der Vorwurf, die SPD hat. Nur wer viel macht, macht auch einige daß diese Parteiaußen- und Deutschland- zweiten Hälfte der achtziger Jahre so vernachlässige ein paar Oppositionelle Fehler. Insgesamt hat die Deutschlandpolitik politik eine Tendenz in der SPD und bei ihren charakterisieren: Ihre deutschland- und zugunsten möglichst ungestörter Kontakte der SPD der letzten 40 Jahre keinen Anlaß, führenden Köpfen förderte, die vielleicht in sicherheitspolitischen Initiativen fixierten sich zu den Herrschenden. i m Büßergewand daherzukommen. Die der damaligen Zeit verständlich, aber aus i n dem Maße auf ausschließliche oder Union mag den Kanzler der Einheit stellen, heutiger Sicht folgenschwer war: Man hatte überwiegende Kontakte mit den Herrschen- Der Zusammenbruch der DDR traf die SPD die SPD hat aber mit ihrer Deutschlandpolitik eineinhalb Jahrzehnte mit den Herrschenden den in der DDR, wie diese selbst immer unvorbereitet in dem Sinne, als die Konditio- ermöglicht, daß Helmut Kohl den Mantel der i n der DDR verhandelt und dabei Erfolge stärker Reformfeindlichkeit demonstrierten. nen der europäischen und internationalen Geschichte spüren durfte. erzielt. Diese Erfahrung führte zur Dies zeigte sich auch in einer geradezu Sicherheitspolitik das Verschwinden eines Habitualisierung der Vorstellung, Verände- ungebremsten Welle von Besuchen führen- oder mehrerer Mitspieler bis dahin nur als rungen in der DDR seien - wenn überhaupt - der Landes- und Bundespolitiker (nicht nur Katastrophenfall verstanden und daher nur über die Einwirkung auf eben diese der SPD) bei Honecker. Manche dieser eigentlich ausgeschlossen hatten. Auch eine Herrschenden möglich; Reformen werde es Besuche waren schon damals überflüssig und rasche Vereinigung vor der Schaffung einer nur mit einer in den internationalen Friedens- wirken jetzt, da aus den SED-Archiven die europäischen Friedensordnung hatte in den prozeß irreversibel eingespannten SED geben Gesprächsinhalte bekanntwerden, nur noch Koordinaten dieses Sicherheitsdenkens können, es würden also Reformen „von peinlich. Zudem muß man festhalten, daß keinen Platz. oben" sein müssen. Diese Vorstellung war, vor allem die SPD zum Beispiel offizielle so scheint mir, damals sicher richtig, muß Beziehungen zwischen Bundestag und So wundert es auch nicht, daß die SPD, trotz aber aus heutiger Sicht und mit den Erfah- Volkskammer anstrebte - was im Rahmen Willy Brandt, im Jahre 1990 als Bedenken- rungen der berühmten Montags- einer Politik zur Verdichtung von Gesprächs- träger erschien, der sich nicht recht freuen demonstrationen in der DDR im Herbst 1989 kontakten einen begrenzten Sinn gemacht konnte, der zwar viele Probleme richtig in Frage gestellt werden. hätte (von zahlreichen Beobachtern aber als voraussah, dem aber jedes nationale nutzlos bezeichnet wurde). Dabei gerieten Vereinigungspathos abzugehen schien und I n diesen Kontext gehört auch jenes gemein- die sich seit Anfang der achtziger Jahre der die Ostdeutschen mit weniger Über- same Papier „Der Streit der Ideologien und formierende Dissidentenbewegung, die schwenglichkeit im gemeinsamen Staat die gemeinsame Sicherheit', das von Menschenrechts-, Friedens- und Umwelt- aufzunehmen bereit war, als alle jene Mitgliedern der Akademie für Gesellschafts- gruppen, die das Regime grundsätzlich Zeitgenossen, die schon immer im Besitz des wissenschaften beim ZK der SED und einer reformieren, aber nicht abschaffen wollten, ganzen Wissens über das nahe Ende des Arbeitsgruppe der SPD nach einigen Hundert i mmer stärker aus dem Blick dieser Kommunismus und die Unvermeidlichkeit Stunden Diskussionen gemeinsam ausgear- Deutschlandpolitik - von wenigen Kontakt- der Wiedervereinigung waren. Mit diesem ihr beitet und, rechtzeitig vor dem Honecker- pflegern aus den Reihen der SPD- anhaftenden Erscheinungsbild konnte die Besuch in Bonn, im August 1987 der Bundestagsabgeordneten einmal abgesehen, SPD allerdings keine Wahlen mehr in Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Proble- die teilweise sogar aus der eigenen Partei Deutschland gewinnen. matik dieses Papiers kann hier nicht im heraus angefeindet wurden. Diese Gruppen einzelnen erörtert werden. In meinem i n der DDR und ihr demokratischer Impuls Die SPD, die im Gegensatz zu ihren bürgerli- Zusammenhang dazu nur folgende Bemer- wurden nicht nur übersehen und vielfach chen Konkurrenten immer eine theoretisie- kungen: Auch diese deutschlandpolitische übergangen, sie wurden gelegentlich auch rende Programmpartei war und ist und die in Aktion der SPD zeugte seiner ganzen Anlage direkt als Störenfriede der offiziellen, zeitweise Verwirrung gerät, wenn ihr nach von der, wie wir heute wissen, aber etatistischen Kontaktpolitik betrachtet. Die ausgeprägtes Verantwortungsgefühl auch damals schon wissen konnten, irrigen Deutschlandpolitik hatte damit, um es offen gegenüber der Aufgabe einer humanen Auffassung, die SED-Führung könne auch zu sagen, ein demokratisches Defizit; die Gestaltung der Praxis nicht mehr mit der zur Anerkennung einer innenpolitischen Gedanken von Freiheit und Demokratie, für Programmdiskussion Schritt halten kann, demokratischeren Streitkultur, also zu einem die diese Oppositionsgruppen einstanden, hatte in der ersten Vereinigungsphase ein demokratischeren Umgang mit ihrer eigenen wurden zugunsten einer Fixierung auf den programmatisches Strukturdefizit, denn es Opposition, veranlaßt werden. Erhard Eppler, sicherheitspolitisch als unabdingbar erachte- geschah etwas, was ganz anders vorgedacht der Spiritus rector des Papiers, hat in seiner ten Wert der Stabilität zurückgedrängt. Der war. Doch inzwischen hat der Tanker SPD bemerkenswerten Gedenkrede im deutschen Gedanke, eine von der eigenen diffusen wieder Fahrt aufgenommen, Kurs- Bundestag zum 17. Juni 1989 eingeräumt, Opposition, über deren Struktur man änderungen sind bei dieser Schiffsgattung wie sehr man sich in diesem Punkt geirrt zugegebenermaßen im Westen wenig wissen i mmer mit Zeitverlusten verbunden. Die hatte. konnte, in die Enge getriebene SED könnte Mannschaft muß sich nur wieder daran sich zum gewaltsamen Zurückschlagen erinnern, daß trotz einiger Navigationsfehler gezwungen fühlen und sich dann auch die Hauptfahrtrichtung, Förderung des

118 119 DER SED-STAAT UND SEINE INTELLEKTUELLEN KOLLABORATEURE IN WESTDEUTSCHLAND

Ulrich Schacht Am 9. März 1951 hielt der damalige Leitender Redakteur für Kultur- Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei politik der "Welt am Sonntag" Deutschlands, Kurt Schumacher, im Rahmen einer Debatte des Deutschen Bundestages über die deutsche Einheit eine Rede, die zu den Sternstunden des deutschen Parlamentarismus gerechnet werden muß. Sie begann mit dem Satz: „Die Frage der deutschen Einheit ist für unser Volk ein zentrales Problem."

Sie endete mit dem Aufruf: „Mit dem Kampf für die deutsche Einheit dienen wir unserem eigenen Volk. Mit dem Kampf für die deutsche Einheit dienen wir aber auch der Sache der Freiheit und der Menschlichkeit in der ganzen Welt."

Das war - mit wenigen anderen Worten - die Wiederholung seines zweiten und dritten Satzes gewesen, mit denen er den untrennbaren Zusammenhang herstellte zwischen der politischen Qualität der Lage in Deutschland und um Deutschland herum: „Alle europäischen Probleme und Projekte werden nicht europäisch behandelt, wenn man aus der Teilung Deutschlands Nutzen ziehen will. Die Kosten für eine solche Politik zahlt nicht Deutschland allein, die Kosten zahlt die Sache der Freiheit in der ganzen Welt." An dieser Stelle vermerkt das Protokoll des Bundestages: „(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den Regierungsparteien.)" Dieser Beifall verbreiterte sich dann, wie das Protokoll nach dem jenem Absatz folgenden Satz vermerkt: über die „Mitte" nach „rechts", denn der SPD-Vorsitzende hatte festgestellt, „jede Betrachtungsweise" im Zusammenhang mit der Teilung Deutsch-

12 0 121 lands hat „von der Tatsache auszugehen, Fehler des Westens, unser Volk gar zu sehr Mann, dem wir immerhin einige bitterste Dimension einer Entwicklung, die daß es Sowjetrußland gewesen ist, das seine als Materie zu betrachten, die von fremden literarästhetische Ereignisse in Romanform Kurt Schumachers Nachkriegsreden zur Zone separiert und isoliert hat". Willen geformt werden könnte." verdanken sowie das einzige literarisch deutschen Frage und zum Kommunismus, gültige Theaterstück über den 17. Juni - „Die diese analytischen und rhetorischen Glanzlei- Schumacher griff im Anschluß daran die Meine sehr verehrten Damen und Herren, Plebejer proben den Aufstand" -, ob dieser stungen eines Menschen, der die Würde der damals noch bestehende Einheitspropaganda der Konsens zwischen Kurt Schumacher und Mann nicht doch eher und aus dem Unterbe- Deutschen und ihrer Nation kompromißlos der Kommunisten als das an, was sie immer seinen Zuhörern im Bundestagsplenum des wußtsein seiner künstlerischen Fähigkeiten gegen Nationalsozialisten und Kommunisten war, nämlich Ausdruck der skrupellosen Frühjahres 1951 ist nicht nur bemerkenswert heraus mit seinen politischen Reden Frag- zu verteidigen wußte, in die verschattete Verlogenheit einer totalitären Bewegung, um als historisches Dokument, er ist auch mente zu einer literarischen Groteske liefern Ecke eines hysterischen Nationalismus und schließlich eine deutliche Warnung auszu- erinnerungswürdig, weil es mit ihm keinen wollte. damit unter potentiellen Faschismusverdacht sprechen: schärferen Kontrast geben kann zu all jenen rückte. antinationalstaatlichen Proklamationen, Doch Grass besteht darauf, politische Texte „Die Stärke der totalitären Position beruht selbstdenunziatorischen Einwänden, Letzte- gemacht zu haben. In ihnen lesen wir Undenkbar solche verleumderische Deutung weitgehend auf der Unkenntnis und der Stunde-Aufrufen und Einheits-Abgesängen, folgendes: i n jenen Anfangsjahren der zweiten deut- Unklarheit über das Wesen des Totalitarismus die über Deutschland hereingebrochen sind, schen Demokratie; aber unüberhörbar in bei den westlichen Demokratien und erst seit die Mauer zusammengebrochen ist und „Die Wortblase 'Wiedervereinigung' platzte, jenen Endsiebziger und achtziger Jahren recht bei großen Teilen des deutschen Deutschland wiedervereinigt wurde, und die weil niemand, der bei Verstand und geschla- hinter uns, in denen uns, die Anders- Volkes." nur verstärken, was zuvor schon in der gen mit Gedächtnis ist, zulassen kann, daß denkenden und Anderswollenden, weil deutschen geteilten Wirklichkeit an der es abermals zu einer Machtballung in der Anderswissenden, eine politisch und mora- Der Beifall, der dem politisch-moralisch Tagesordnung war. Dokumente von so Mitte Europas kommt: Die Großmächte, nun lisch völlig desorientierte Politiker-Nach- i ntegren Mann an der Spitze der deutschen ausgesuchter Würdelosigkeit, daß man sich wieder betont als Siegermächte, gewiß nicht, wuchs-Klasse und ihre intellektuellen Nachkriegssozialdemokratie entgegenschlug, manchmal weigert, sie zur Kenntnis zu die Polen nicht, die Franzosen nicht, nicht die Wegbereiter und Wegbegleiter bestenfalls als war wiederum einhellig. Und dies hat sich im nehmen, weil man nicht einem Volk an- Holländer, nicht die Dänen. Aber auch wir hoffnungslose Anachronisten denunzierten, weiteren Verlauf der Rede auch nicht gehören mag, in dem so etwas möglich ist. Deutsche nicht, denn jener Einheitsstaat, die deutsches Ansehen und den Weltfrieden geändert. Im Gegenteil: er steigerte sich, dessen wechselnde Vollstrecker während nur auf der Basis des Status quo, das heißt auf denn Schumacher war, was die Präzision knapp fünfundsiebzig Jahren anderen und der Geschäftsgrundlage der geteilten seiner Argumente für Deutschland und Geistige Kollaboration mit den Feinden uns Leid, Trümmer, Niederlagen, Millionen deutschen Nation und der unterdrückten gegen seine antidemokratischen Feinde der Demokratie Flüchtlinge, Millionen Tote und die Last nicht ostmitteleuropäischen Völker, angeblich betraf, unübertrefflich: „Das System von zu bewältigender Verbrechen ins Geschichts- zutiefst gefährdeten. Pankow ist die völlige Entdeutschung und die i ch spreche nicht so sehr, um ein aktuelles buch geschrieben haben, verlangt nach völlige Sowjetisierung der Politik". Beispiel zu geben, von den in Selbsthaß und keiner Neuauflage und sollte - so gutwillig Meine Damen und Herren, Texte, wie ich sie Erfolgsneid erstickten Texten des Schriftstel- wir uns mittlerweile zu geben verstehen - nie eben von Grass zitierte, sind in diesem Land Aber solche Kritik, daß Deutsche sich von lers Günter Grass, der in Auslands-Interviews wieder politischen Willen entzünden." Legion, und die Zeit würde nicht ausreichen, Fremdmächten zu Kollaborateuren gegen die und peinlichen Sonett-Kränzen seit dem 3. auch nur ein minimales Prozent hier zu eigene Nation machen ließen, solche Kritik Oktober 1990 behauptet, die „Einheit ist Nicht, daß Grass hier eine ebenso beliebte zitieren. Der nationale Selbstverrat war in galt nicht nur den Kommunisten in der mißglückt," und ein neues Auschwitz- wie dummdreiste Verkürzung deutscher Westdeutschland nach 1969 so etwas wie Sowjetischen Besatzungszone und ihrem Deutschland prophezeit - nur weil es ihm Nationalgeschichte als erratische Erkenntnis eine latent verpflichtende Staatsräson, um es verlängerten Arm in Westdeutschland, der schier den Verstand raubt, daß sein politi- formuliert, ist das Skandalon dieser Rede; schließlich immer weniger latent zu sein. sich KPD nannte und mit einigen Abgeordne- sches Haßobjekt Nummer 1, die CDU Helmut nicht, daß Grass sich - in ebenso beliebter ten in eben jenem Bundestag saß, in dem Kohls, die ersten und letzten freien Volks- Manier bei deutschen intellektuellen - die Kurt Schumacher sprach. Diese Kritik galt kammerwahlen der DDR im März 1990 Köpfe der Polen, Franzosen, Russen, Dänen, Die Versuche des ehemaligen Justizministers auch dem Westen: „Die Uneinheitlichkeit gewann und ein gutes halbes Jahr später die Holländer und Briten zusammen zerbricht Schmude, ein Mitglied der SPD und führen- und Unentschlossenheit der westlichen zweite deutsche Diktatur mitsamt ihres und deren Nationalinteressen mit dem der Mann innerhalb des Laienapparates der Demokratien in ihrer Deutschlandpolitik, die demokratischen Appendix im historischen eigenen verwechselt, ist das Skandalon. Das Evangelischen Kirche in Deutschland, dem vielen Vorbehalte und Unklarheiten in der Nichts verschwunden war. Skandalon sind Zeit und Ort dieser Rede, die 17. Juni mit fadenscheinigen Argumenten Behandlung und der Zusammenarbeit mit gehalten wurde am 18. Dezember 1989 vor den Feiertagsstatus zu rauben, sind ebenso den Deutschen schwächen die Front der Wenngleich es doch sinnvoll ist, auch diesen dem Bundesparteitag der Sozial- geschichtsnotorisch wie sein 1985 erfolgter Freiheit, nehmen ihr die Geschlossenheit und Spiritus rector der klassischen deutschen demokratischen Partei Deutschlands in Vorstoß, der Präambel des Grundgesetzes bedrohen ihre letzte Gemeinsamkeit... Die Selbsthaßbewegung intellektueller Machart Berlin. und ihrem Einheitsgebot manipulativ zu deutsche Frage kann nicht für sich allein beim Wort zu nehmen, ihn zu erinnern an Leibe zu rücken oder seine diversen Plädoyers betrachtet werden; sie kann aber auch nicht Wörter und Formulierungen, die in ihrer Für diese Rede gab es auf diesem Parteitag für die Abschaffung der Erfassungsstelle vom Westen her mit Deutschland als Objekt Verblendung und Arroganz so absurd sind, Beifall. Und daß man diesen Beifall für diese Salzgitter - was schließlich alle SPD-regierten gelöst werden ..." Und dann: „Es ist der alte daß man sich unwillkürlich fragt, ob der Rede auch noch logisch nennen muß, ist die Bundesländer durch Geldentzug symbolisier-

122 123 ten - oder wie seine ultimativen Absagen an totalitäres Unter-Faschismus-Verdacht-Stellen Einheitsvisionen, was er mit Egon Bahr, Peter Deutschlands ein für allemal ging einher mit Bender, Klaus Bölling, den Journalisten Theo der Hingabe an exotische kommunistische Sommer und Marion Dönhoff und zahllosen Diktaturen, denen Millionen Menschen zum anderen intellektuellen Wortführern West Opfer fielen und einer konsequenten deutschlands teilte. Aufwertung der zweiten deutschen Diktatur. Natürlich gab es in jenen Jahren auch So weit, so schlecht. Warum aber erfaßte Sozialdemokraten, die solchem friedfertig dieser entsetzliche Virus der geistigen scheinenden und zugleich freiheitsfeindlich Kollaboration mit dem zweiten Todfeind der seienden Ungeist deutlich widersprachen. deutschen Demokratie so massiv und Erinnern wir uns an die Reden zum 17. Juni unaufhaltsam gerade sozialdemokratisch 1 983 von Hamburgs Oberbürgermeister gestimmte oder geprägte Vordenker, Herbert Weichmann, dem Deutschen Politiker, Theologen und Journalisten? jüdischer Herkunft, der dem Tod durch die Warum wurde ein Egon Bahr, der Begründer Handlanger der ersten deutschen Diktatur der zu Beginn noch sibyllinischen Strategie nur durch eine Flucht ins Exil entkommen des „Wandels durch Annäherung", am Ende konnte, oder an Georg Leber 1985. zum bedingungslosen Apologeten des Status quo in Europa und damit zum Garanten der Weichmann ließ sich seine Fortexistenz des SED-Staates - wenigstens Totalitarismuserfahrungen nicht von jener theoretisch? neomarxistischen Linken innerhalb und außerhalb seiner Partei, nicht von jenem, der SED-Diktatoren profitierten von Wertebeliebigkeit frönenden Liberalismus Verständnishysterie im Westen i nnerhalb und außerhalb der FDP, nicht von jenen Rheinbundgeistern innerhalb und Was hat Erhard Eppler im letzten Grund außerhalb der Union ausreden - diesen motiviert, eines der desavouierendsten kollaborationistischen Strömungen, die es in Dokumente in der Geschichte des politischen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft Denkens in Deutschland und der Geschichte fast geschafft hätten, Deutschland in völliger der Sozialdemokratischen Partei zu Verblödung und Verblendung und damit auf fabrizieren? Ich spreche von dem 1987 selbstzerstörerische Weise bewegungs- kreierten SPD/SED-Papier „Der Streit der unfähig auf die Bewegungen der Geschichte Ideologien und die gemeinsame Sicherheit", starren zu lassen, die nichts anderes als mit und in dem auf „die Reformfähigkeit und Bewegungen der Freiheit und Menschen- damit auch die Lebensfähigkeit beider „ZEIT", in jenem September 1987, als die wahr, die einen guten, im antifaschistischen würde waren: auf den 17. Juni 1953, den Systeme" gesetzt wurde. Wo gründet die Kanaille im demokratisch verfaßten Teil der Mythos geborenen und badenden Kommu- ungarischen Herbst von 1956, Polens vollständige Verwirrung der politischen Nation empfangen wurde wie von gleich zu nisten brauchte, um die eigene Gesprächs- gleichzeitiges und 1968, 1970 und 1981 Urteilskraft angesichts der gleich. Empfangen im Ergebnis einer an politik mit ihm halbwegs legitimieren zu wiederholtes Aufbegehren, schließlich den Äquidistanzphilosophie, die diesen und Hysterie grenzenden Kampagne über Jahre können: grandiosen Prager Frühling, dem die deut- zahlreiche andere vergleichbare Texte hinweg: Wenn der mörderische Nachbar von sche neomarxistische Linke in denunziatori- durchzieht, so, als seien Demokratie und nebenan nicht endlich und als Friedens- Der Massenmörder wurde nach einem, was scher Verständnislosigkeit gegenüberstand, Diktatur an irgendeiner Stelle gleich und als freund, der doch auch gegen Mittelstrecken- die Justiz betrifft, provokatorisch weil man sich in Prag am westeuropäischen hätten wir Deutsche jemals noch das Recht, raketen sei, empfangen werde, gehe alles manipulativen Prozeßverlauf und einer auch Demokratiemodell orientierte und nicht, wie an exakt dieser Stelle zu faseln und zu den Bach runter, würden Erfolge verspielt, von Juristen stark in ihrer rechtsstaatlichen Hans Magnus Enzensberger - stellvertretend phantasieren? Wo gründet die irrsinnig kämen wir dem dritten Weltkrieg ein Stück Qualität bezweifelten Endentscheidung für die ganze Clique Tabus verletzender anmutende Fehleinschätzung eines im näher. durch das Berliner Verfassungsgericht unter Kleinbürgerkinder auf Mittelstandsniveau - kleinbürgerlichen Habitus daherkommenden seinem Präsidenten Finkelnburg, CDU, enttäuscht vermerkte: nicht am cubanischen Massenmörders namens Erich Honecker, der Noch am Lebensabend, als es endlich l aufengelassen - in fast derselben staats- oder chinesischen Modell. 1 987 als ein in der „Pflicht" sich fühlender daranging, dem blutbesudelten Greis den diplomatischen Weise, wie er 1987 gekom- Patriot charakterisiert wurde, „so wie er diese überfälligen Prozeß zu machen, profitierte er men war. Ja, man muß wissen: Die Absage großer Teile als ihm auferlegt empfindet". Dies schrieb von den Ausflüssen jener Mischung aus der Deutschen intellektuellen an die der ehemalige Bundeskanzler Helmut Verständnis- und Verständigungshysterie Die Verantwortlichen für diesen jedes Wiederherstellung der deutschen Einheit, ihr Schmidt in einem Begrüßungsartikel in der sowie weltpolitischem Resozialisierungs- Rechtsbewußtsein verhöhnenden Akt - vom

124 125 Hohn auf die Opfer des Täters, der in seinem befreien, waren letztendlich eben dieser Aber diese beispielhafte Selbstkorrektur eines Schumacher finden kann - die Rekonstrukti- ganzen Nachkriegsleben nichts anderes li beralistischen Halblinken auch noch die Willy Brandt, die mit dem nie aufgegebenen on einer vornehmlich unter Intellektuellen getan und zu verantworten hat, als eine mit letzten rechtspositivistischen Tricks aller jener Anspruch auf die deutsche Einheit eines und Politikern verbreiteten Kollaborations- größter krimineller Energie betriebene Juristerei und Juristen recht, die man ein Helmut Schmidt korrespondiert, der wiede- bewegung gegen die nationale Würde der Machtabsicherung für sich und seine gutes Jahrzehnt zuvor noch als „furchtbare rum in der praktischen Deutschlandpolitik Deutschen und damit gegen die demokrati- Politkumpane, von diesem Hohn spreche ich Juristen" zu apostrophieren pflegte, weil sie der achtziger Jahre eben jener vorhin schon sche Qualität und Verbindlichkeit ihres gar nicht -, die dafür Verantwortlichen sich - wie Honecker und seine Rechts- und erwähnten Verständigungshysterie wie kaum gesellschaftlichen und staatspolitischen werden dafür eines Tages zur Rechenschaft Links-Anwälte - auf die billigste aller politi- ein anderer mit seinem Güstrow-Besuch zum Organismus nach dem zweiten Weltkrieg im gezogen, dessen bin ich mir sicher. schen Mörder-Formeln aus Staatsmänner- Opfer gefallen ist, oder die diesbezüglichen Westen Deutschlands. mund beriefen: „Was damals Recht war, nationalpolitischen Positionen eines Klaus Es gab zu diesem Fall jedenfalls mehr kann heute nicht Unrecht sein!" von Dohnany, eines Walter Haak, die hier zu Und es ist zugleich die Rekonstruktion eines Intellektuellen- und Pressestimmen, die nennen sind - all diese beispielhaften gigantischen Verdrängungsprozesses: eines aufatmeten, daß der Berliner Justiz etwas Meine Damen und Herren, wir sind - und ich Selbstkorrekturen und Linienbehauptungen Prozesses des Verdrängens an konkretem eingefallen war, was Honecker schonte, als bitte dieses zu unterstreichen - beim Thema: sind doch zu sehen im Kontext der Selbst- Wissen und angemessener Einschätzung gegenteilige Texte und Erklärungen, was „Die westdeutschen Intellektuellen Kollabo- behauptungsarroganz von Entspannungs- dessen, was die zweite deutsche Diktatur andererseits den Hymnenserien anläßlich des rateure des SED-Staates"; aber es ist natür- i deologen wie Egon Bahr, Jürgen Schmude dauerhaft aus- und deshalb dauerhaft Besuchs von Honecker in Bonn entsprach. lich und zum Glück nicht so, daß es keine oder Peter Bender. unannehmbar machte. anderen Sozialdemokraten, keine anderen Schon im August 1992 brachte die ZEIT, in Juristen, keine anderen Schriftsteller, Im Februar 1992 antwortete Jürgen Noch 1958, im Echo jener Rede von Kurt i hrem politischen Teil über Jahrzehnte das Intellektuellen, Theologen und Journalisten Schmude seinen Kritikern im „Spiegel" mit Schumacher, mit der ich begann, war das Hauptorgan der Kollaboration mit dem SED- gab und gibt. Es gibt sie. Und sie stehen uns dem Satz: „Wir würden es wieder tun." Und Wissen um den Charakter des SED-Staates Staat, der Öffentlichkeit eine ganze Seite nahe. Sie nehmen unsere Erfahrungen ernst. auch Egon Bahr würde alles „noch einmal so ungebrochen klar: an Wahrheit und Wirklich- unter die Augen, auf der unter der Über- machen". keit orientiert, Zeugen und Zeugnisse schrift „Erich Honecker gehört nicht vor das Die heutige Veranstaltung ist so ein ernstzu- Nun könnte man darüber hinwegsehen und ernstnehmend. Da erschien von Ernst Richert Berliner Landgericht" sozusagen die juristi- nehmendes Ernstnehmen, das auszuschlie- sagen: Uneinsichtige Männer, die von der die Studie „Macht ohne Mandat" - genauer schen Konsequenzen des jahrzehntelangen ßen hat, daß wir uns selber in den Circulus Geschichte widerlegt wurden, was ihre konnte man den SED-Staat nicht charakteri- Anerkennungskampfes gegenüber der SED- vitiosus diverser Verfolgungshysterien, in die Uneinsichtigkeit der Lächerlichkeit preisgibt - sieren -, die sich, laut Untertitel, mit dem Diktatur am Beispiel ihres gefaßten Anfüh- Falle des Gefühls totalen Umstelltseins wenn da nicht jene Nachsätze wären, die „Staatsapparat in der SBZ Deutschland" rers, des bevorzugten Gesprächspartners begeben. Dokumente einer beispiellosen Arroganz beschäftigt. auch dieser Wochenzeitung, gezogen sind. Mit ihnen wird nichts Geringeres wurden: „Erich Honecker war kein Privat- Nein, die deutsche Einheit ist ja kein Traum behauptet, als daß die Wiedervereinigung Ein Kapitel, das siebente, setzt sich auf über mann, der seinen Nachbarn am Gartenzaun mehr und schon gar kein gemeingefährlicher Deutschlands auf der Basis des Zusammen- 20 engbedruckten Seiten mit der „Sicherung erschossen hat, sondern Chef eines souverä- Wahn. Sie existiert: mit der ganzen Fülle bruchs des SED-Systems exakt Ziel und und Demonstration der Macht" im Ulbricht- nen Staates. Weder waren seine Taten dort jener Glücks- und Lastmomente, von denen Ergebnis ihrer Politik, die sie Entspannungs- Staat auseinander. In ihm heißt es: strafbar, noch ist er ein Fall für die Justiz des wir gewußt haben, daß sie dazugehören politik nannten, gewesen sei. Nachbarlandes." (Im Jahre 1987 hatte sich werden, wenn sie kommt. Wir hatten keine „Das wichtigste der drei (Herrschafts- die ZEIT in der Woche, in der Honecker in der Ill usionen. Aber wir hatten Werte und Ziele - Solche Behauptungen setzen voraus, daß sicherungs-) Instrumente ist indes zweifellos Bundesrepublik Deutschland war, in einer und Erfahrungen mit den Feinden dieser kein Mensch sich mehr erinnert an das, was das MfS/SSD. Der SSD hat kein offizielles anbiederischen Glosse ausgemalt, in der DDR Werte und Ziele. zwischen 1960 und 1990 gesagt und Statut. Seine Tätigkeit vollzieht sich im legal vertrieben werden zu dürfen.) gedruckt wurde zum Thema Deutsche Frage Zwielicht ... Nach alldem kommt dem Ja, wir dürfen aufatmen, daß die Feinde und Deutsche Einheit. Und von wem. Staatssicherheitsapparat die Durchleuchtung Was soll man an dieser Sprache mehr Deutschlands in Deutschland verloren haben; der Gesamtgesellschaft auf republikfeindliche bewundern: ihren offenen Zynismus oder daß Männer wie Kurt Schumacher von der Aktion zu ... Mit alldem ist er das Abwehr- i hre latente Unmenschlichkeit oder ihre Geschichte selbst rehabilitiert wurden; daß Und wieder will man nichts gewußt organ der Staatsmacht schlechthin, eine wissende Dreistigkeit, daß man auch im ein Willy Brandt am Ende seines Lebens aus haben Aufgabe, die er mit rund 7000 haupt- wiedervereinigten Deutschland ungeniert die temporären Irrtümern, die eher der Verzweif- amtlichen Mitstreitern und einer von alte Spaltungs-Sau rauslassen darf? Die lung an der Lage der geteilten Nation Meine Damen und Herren, die Kennern auf rund 150.000 Personen Kollaboration mit der DDR feiert jedenfalls entstammen als einem gegen diese Nation Rekonstruktion dessen, was zu diesem geschätzten Zahl geheimer Informanten noch weit über ihren viel zu späten, aber gerichteten Kalkül, zurückgefunden hat zu Thema in jenem Zeitraum gesagt und erfüllt." hochverdienten Tod hinaus täglich Triumphe! sich und zu dieser Nation, der er nie auswei- gedruckt wurde, ist in zunehmendem Maße chen, sondern immer dienen wollte. natürlich nicht die Geschichte nationaler Um den Massenmörder Erich Honecker aus Selbstbehauptung, sondern - im Sinne jener rechtsstaatlicher Untersuchungshaft zu Kategorien und Kriterien. die man bei Kurt

126 127 Vierzehn Jahre später heißen Analysen über ihrer Nähe - ich rede von Westdeutschland - Instrument ist. Trotz der Existenz verschiede- Radbruch nach 1945 mahnend und verbind- die zweite deutsche Diktatur so: war die Fassungslosigkeit angesichts der ner Parteien herrscht in der Wirklichkeit der lich zu machen versuchte: Realitäten im November 1989, wo man doch 'DDR' ein Einparteiensystem unter Führung „Modell DDR. Die kalkulierte Emanzipation" diese Realitäten im Auge gehabt hatte wie der SED, in dem nicht einmal auf dem Boden „Das aber muß sich dem Bewußtsein des nichts anderes. Angeblich. des Sozialismus stehende Fraktionen zugelas- Volkes und der Juristen tief einprägen: es In dieser Studie von Rüdiger Thomas, die sen sind, die Abgeordneten keine Immunität kann Gesetze mit einem solchen Maß von 1 972 im Hanser Verlag, München, erschien, In solch einem Klima waren dann die genießen und in keiner Weise das Vertrauen Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit kommen Erich Mielke, der Minister für natürlich nicht so sehr wiedergefundenen, aller Schichten der Bevölkerung genießen." geben, daß ihnen die Geltung, ja der Staatssicherheit, nur in einer sondern nur wiedererinnerten Massengräber Rechtscharakter abgesprochen werden Nomenklaturliste sowie im biographischen von Bautzen oder Sachsenhausen, von Diese Einschätzung, meine Damen und muß." Teil, sein Ministerium und dessen Aufgaben Buchenwald oder Fünfeichen eine ungeheure Herren, war zu Zeiten der Entspannungspoli- gar nicht vor. Statt dessen finden sich Kapitel Sensation. tik nicht nur nicht überholt, sie war in einem Wer aber setzt dies heute durch? Der erste zu Themen wie „Die antifaschistisch- noch radikaleren Sinne korrekt als 1958, Schritt, selbst wenn es ein nachgeholter demokratische Umwälzung" oder „Die SED Die Wissenschaft war erschüttert wie die denn die kommunistisch-sozialistische wäre, wäre, das MfS und das Politbüro der als politische Führungsinstanz". Politik, und die Journaille eilte mit ihren Variante auf die nationalsozialistische SED zu kriminellen Organisationen zu schamlos verheuchelten Kameras vor die Krolloper unter Honecker war sozusagen das erklären. In der Einleitung des Buches wird unverhoh- Tore besagter Gefängnisse und Lager: auf perfekte Geisterparlament einer perfekt len Freude darüber geäußert, daß das der Suche nach ein paar gruseligen Hirn- gleichgeschalteten Funktionärsmasse. Ich komme da nicht in Schwierigkeiten; aber „politische Bewußtsein der BRD" mit seiner schalen und Beckenknochen aus prähistori- ich weiß, wer da in Schwierigkeiten mit sich Einschätzung der DDR als „Phänomen" schen Zeiten, die gerade ein paar Jahrzehnte Dennoch arbeiteten ab 1980 westdeutsche selbst kommt: All jene an inner- prinzipiell fehlgegangen sei, da die DDR zurücklagen. Politiker aller Parteien, aber besonders der westdeutschen Wahlerfolgen interessierte „vorwiegend in den Kategorien der Freund- ehemalige Kanzleramtsminister Horst Ehmke, und orientierte Klinkenputzer in Ostberlin, als Feind-Orientierung durch pauschalierende Dabei hätten dieselben Journalisten auf der verzweifelt daran, zwischen dem aus freien Hubertusstock noch für deutsch-deutsche Disqualifikation dingfest gemacht wurde und Basis der Studien und Dokumentationen von und geheimen Wahlen hervorgehenden Teekränzchen hergerichtet war, für Jagd- darin für die BRD zuerst eine Funktion der Karl Wilhelm Fricke, auf der Basis über- Deutschen Bundestag und Honeckers partien und Notizzettelaustausch mit Namen innenpolitischen Selbstbestätigung erfüllte." quellender Literatur aus den 50er Jahren und Abstimmungsmarionettentheater gleichbe- von Inhaftierten. Ich meine die westdeutsche Zugleich geriert sich der Text als Kampfansa- auf der Basis der Romane „Jahrestage" 1 - 4 rechtigte Beziehungen herzustellen. Provinzfürstenriege von Lafontaine bis ge an die bisherige „DDR-Forschung", was von Uwe Johnson ganze Serien drehen Strauß. verbunden sei „mit der Preisgabe eines können: ohne echte Knochenreste zwar, denunziatorisch gemeinten Totalitarismus- aber mit echten Zeugenaussagen, Dokumen- Die Frage 22 des erwähnten Buches lautet: konzepts und der Anwendung der Metho- ten und anderen Beweisen. Aber diese Aber zurück zu Weber und Pertinax und zu den moderner Sozialwissenschaften". Beweise waren zwischen 1970 und 1989 „Besteht in der Deutschen Demokratischen ihrer 23. Frage: „Welche Rolle spielt der nicht erwünscht. Entspannungspolitik war Republik Rechtssicherheit?" Staatssicherheitsdienst (SSD) trotz Entstalini- Was hier formuliert wurde, gilt, wissenschaft- immer auch eine inhumane und reaktionäre sierung?" sgeschichtlich, fast für die ganze herrschende Arbeit von Wissensverschüttung. Antwort: „Die Zonenjustiz ist noch immer ein Linie nach 1969 - und es gilt ebenso für eine Herrschaftsinstrument der stalinistischen Antwort: „Das Ministerium für Staats- sozial- und politikwissenschaftlich verheeren- Oder was wußten wir nicht über das MfS, Parteiführung, mit dem diese sich an der sicherheit ist ein selbständiger Apparat, der de Niederlage auf dieser ganzen Linie. Selten über Justiz und Parlament der DDR? Das Macht zu halten versucht. Die Zonenjustiz nur dem Politbüro der SED untersteht und ist in einem geisteswissenschaftlichen Bereich nicht, was Hermann Weber und Lothar dient nicht den Prinzipien der Rechts- Ulbricht direkt verantwortlich ist ... Das MfS in der deutschen Nachkriegszeit soviel Pertinax ebenfalls 1958 auf mehr als 300 sicherheit, sondern nur der Sicherung des besitzt in allen Bezirken, Kreisen und Orten Makulatur fabriziert worden wie in diesem; Seiten in einem Buch der Deutschen Verlags- Machtapparates. " der Sowjetzone Dienststellen, die das es war in großen Teilen nach 1969 nichts Anstalt ausbreiteten, indem sie Fragen gesamte politische, wirtschaftliche und anderes als ideologische Maulhurerei für die stellten und sie gewissenhaft, das heißt, mit Meine Damen und Herren, obwohl dies kulturelle Leben überwachen. Die Außen- herrschende Politik, die sich ihre fixen dem vorhandenen Wissen der Zeit, beant- exakt vom ersten bis zum letzten Tag der stellen, die mit hauptamtlichen Funktionären deutschlandpolitischen Ideen worteten? Existenz des SED-Staates so war, finden sich besetzt sind, unterhalten ein Heer von pseudoempirisch legitimieren ließ, um heute Juristen, Journalisten und Politiker, die Spitzeln, Agenten und Zuträgern, die sie mit schließlich daraus Friedens-, Abrüstungs- Ich zitiere aus „Schein und Wirklichkeit in der den furchtbaren Juristen der kommunisti- verschiedenen Methoden anwerben. Alle oder sonstwas für eine Politik machen zu DDR. 65 Fragen an die SED": schen deutschen Parteijustiz und ihren diese V-Leute müssen regelmäßig aus ihrem können - bloß keine verbindliche Wieder- Gesetzen einen Charakter zusprechen oder Wirkungsbereich Berichte über Stimmung vereinigungspolitik. „Frage 20 - Ist die Volkskammer der DDR ein wenigstens nicht absprechen, den sie gar und besondere Vorkommnisse machen und echtes Parlament? nicht hatten: Rechtscharakter nämlich, so werden von SSD-Agenten auf verdächtige Das Ergebnis dieser toll gewordenen Die Volkskammer wird solange eine Farce daß gelten würde, was der sozial- Leute angesetzt. Die Bespitzelung erstreckt Wissenschaft im Auftrage einer Partei oder in bleiben, wie sie ein von der SED abhängiges demokratische Rechtsphilosoph Gustav sich aber nicht nur auf den Beruf der

128 129 Betreffenden, sondern dringt bis in ihr deutschem Boden" sah (was ein bezeichnen- zusammengearbeitet haben, dies alles ist Die Liste ist nicht vollständig. Aber es genügt Privatleben ein." des Licht nicht nur auf seine kultur- wiederum nicht neu. mir." geschichtlichen Kenntnisse wirft), um in eben Meine Damen und Herren, dies wußten wir diesem letzten bürgerlichen Staat auf Die französische Philosophin und Schriftstel- Mir auch! 1958! Aber 1989 herrschte die große deutschem Boden den glücklichen Nischen- lerin Simone de Beauvoir schrieb im Novem- Überraschung: über die Größe des MfS, über Deutschen zu entdecken, sozusagen als ber 1945 angesichts der damaligen Situation Ich Danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Morde, über die Zahl der Häftlinge, der Beruhigungs-Phänomen angesichts beunru- der Abrechnung Frankreichs mit den Verurteilten, der Verfolgten, der Bespitzelten, higender Verpflichtungen aus der Verbind- französischen Kollaborateuren der deutschen über die SED und Polen und die SED in lichkeit des Grundgesetzes, entdeckte dieser Besatzungsmacht und ihrer NS-Organisatio- Sachen CSSR 1968, über Antiquitäten- Analytiker mit seinen kollaborationistischen nen: diebstahl, über Geldwegnahme aus Briefum- Kapriolen und Strategien zur selben Zeit im schlägen - über Desinformationskampagnen Westen so etwas wie eine „wachsende „Alle Kollaborateure haben sich damit gegen den Westen, über Abhörbänder und Geneigtheit zum Kriege". verteidigt, daß sie Frankreichs Wohl wollten; Berichte: vom Durchschnittsbürger in nur wurde jenes Frankreich, dessen Wohl sie Hamburg oder Dresden, vom Bundespräsi- Seine diesbezügliche Analyse untermauerte wollten, durch ihr Handeln so definiert, daß denten bis zum kleinen Angestellten irgend- er - expressis verbis - mit der marxistischen es nicht mehr unseres war. wo in Kiel; abgehört wurde mit Hilfe des „Einsicht", wie er das nannte, „wonach Sie verteidigten sich auch damit, daß sie dem Richtfunks und mit Hilfe Manfred Stolpes, handfeste Interessen, kombiniert mit Frieden, der Gerechtigkeit, der Ordnung mit Ehemännern und Geliebten, mit dem bestimmten gesellschaftlichen und ökonomi- dienen wollten; aber die wirkliche Frage ist Schriftsteller Anderson oder irgendwann schen Gegebenheiten, zum Krieg führen." doch, welcher Frieden, welche Gerechtigkeit, auch einmal mit Christa Wolf, bevor sie dann welche Ordnung gültig sind. selber abgehört wurde usw. usf. Im DDR- Die Kollaborateure können nur im Namen System erwies sich fast jeder irgendwo Besser kann heute nicht belegt werden, was der Werte verurteilt werden, die in diesen erpreßbar, und das System versuchte es. Mit „Wandel durch Annäherung" in den Köpfen Zeiten geschaffen und durchgesetzt wurden; Mauer, Mord und Totschlag; mit Aussicht auf zahlreicher ihrer theoretischen Architekten, oder genauer gesagt, ihre Verurteilung ist Aussichtslosigkeit oder eine Westreise, mit intellektuellen Verteidiger und praktizieren- eine jener Vorgänge, durch die sich diese einem Trabant oder einem Studienplatz oder den Politiker auslöste: eine, um in der Werte behaupten." einer Prämie oder mit Pralinen und einem 50- Gausschen Sprache zu bleiben, Geneigtheit Mark-Schein. zur Kollaboration mit einem weiteren Simone de Beauvoir bezog sich damit auf totalitären Regime in Deutschland. eine rechte Kollaboration. Wir hatten es in all Und genau diesem System, das niemals - zu den zurückliegenden Jahren mit einer keinem Zeitpunkt seiner Existenz - ein wie Kollaboration bedeutet sprachgeschichtlich linksliberalistischen zu tun. Aber auch diese auch immer geartetes Recht auf Existenz nichts anderes, zunächst jedenfalls, als Tatsache kann keinen überraschen, der ein gehabt hat, diesem System glaubte man, ein „Zusammenarbeit". Französisch tatsächlich souveräner Bekenner und Recht auf Existenz einräumen zu müssen: „collaboration", leitet es sich, so sagt es das Verteidiger der Freiheit des Menschen ist, Nichts anderes war gemeint, als Günter Gaus „Etymologische Wörterbuch des Deut- weil er nur in ihr seine Würde gewahrt sieht. zornig verlangte, daß der äußeren de-facto- schen", vom spätlateinischen „collaborare" Anerkennung der DDR endlich auch „die ab. Dies meinte nichts anderes als „mitarbei- Über diese linksliberalistische Kollaboration innere Anerkennung" folgen müsse, was ja ten" und bezog sich nicht zuletzt auf das hat Albert Camus bereits in seinem Jage- durchaus in der Logik dieser Politik lag. gemeinsame Tätigsein und Besitzen von buch 1951 - 1959" alles Nötige notiert: Erträgen. Erst in der Zeit nach 1945 bekam Während dieser Publizist - der auf verhäng- der Begriff, besonders in Frankreich, eine „Was die linken Kollaborateure gutheißen, nisvolle Weise auch in der Rolle des ersten gefährliche Wendung, indem Kollaborateure verschweigen oder für unvermeidlich halten: deutsch-deutschen Diplomaten seine Menschen sind, die man einer „landes- 1) Die Deportation von über zehntausend gefährlichen Irrtümer ausleben durfte, bis verräterischen Zusammenarbeit mit dem griechischen Kindern. 2) Die physische Helmut Schmidt ihn entließ -, während Feind" bezichtigt. Vernichtung der russischen Bauernklasse. 3) Günter Gaus, wenn es um die zweite Die Millionen Insassen von Konzentrationsla- deutsche Diktatur ging, zu differenzieren Die Diskussion, die wir heute führen, der gern. 4) Die politischen Entführungen. 5) Die empfahl - „Wir machen uns Angst vor der Kampf um die historische Wahrheit, der uns beinahe täglichen politischen Hinrichtungen DDR, indem wir in ihr nicht Land und Leute, aufgetragen ist angesichts der Versuche hinter dem eisernen Vorhang. 6) Den sondern nur ein Regime und dessen Scher- derjenigen, die mit unseren Feinden, ja Antisemitismus. 7) Die Dummheit. 8) Die gen und Opfer sehen" - und in ihr allen Todfeinden, die zugleich die Todfeinde der Grausamkeit. Ernstes „den letzten bürgerlichen Staat auf Demokratie waren, mehr als unbedingt nötig

130 131 DIE DEUTSCHLANDPOLITIK DES DGB IN DEN 70ER UND 80ER JAHREN - OST-WESTDEUTSCHER SCHULTERSCHLUSS IM „KAMPF GEGEN DAS KAPITAL"?

Dr. Hans-Hermann Hertle Die Beziehungen zwischen DGB und FDGB Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche sind ein bisher wenig beachteter Aspekt in Forschung der Freien Universiät Berlin der gesamtdeutschen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Folgen der SED Diktatur. Während der Handlungsspielraum der Menschen in der DDR durch den alle Bereiche des sozialen und privaten Lebens erfassenden Machtapparat des SED-Staates beschränkt war, wird in der öffentlichen Diskussion die westdeutsche Bereitschaft weitgehend ausgeblendet, ohne Not den Machtanspruch der SED anzuerkennen - wie es der DGB in Teilen getan hat. Als der DGB-Vorsitzende Ernst Breit im September 1989 ungerührt zur Kenntnis nahm, wie sein Gast Harry Tisch, Mitglied des Politbüros und Vorsitzender des FDGB, von westdeutschem Boden aus den demokrati- schen Oppositionskräften unnachsichtige Härte androhte („Wer da hofft, das trojanische Pferd in der DDR spielen zu können, der kriegt darauf auch eine Ant- wort"'), war der peinliche Höhepunkt der siebzehnjährigen offiziellen Spitzen- beziehungen zwischen DGB und FDGB erreicht. Irritiert und gelähmt stand der DGB in den folgenden Monaten der demokrati- schen Oppositionsbewegung gegenüber. In den entscheidenden Phasen des demokrati- schen Umbruchs in der DDR, als es im Kampf gegen die Monopolherrschaft der SED um die Durchsetzung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und freien Wahlen, also elementare demokrati- sche Grund- und Menschenrechte ging, nahmen die westdeutschen Gewerkschaften eine Abwartehaltung ein und betrieben eine Politik der Nichteinmischung. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur und die Rückkehr der nationalen Frage in die

132 133 deutsche Politik löste bei zahlreichen weiteren Veränderung des Kräfte- mit gemeinsamen Zielen sowie der ange- den osteuropäischen Staaten zu unterstützen Gewerkschaftsfunktionären eine Über- verhältnisses zugunsten des Sozialismus", strebten internationalen Anerkennung und die Aufnahme offizieller Kontakte zum raschungsstarre aus. Zunächst auf eine die Anerkennung der Existenz zweier erhofften sich die SED- und FDGB-Funktionä- FDGB einer Prüfung zu unterziehen ° - ein Vereinigung mit dem FDGB fixiert, erkannte souveräner deutscher Staaten und re zugleich, ihre mangelnde Legitimation vor Beschluß, der nicht unumstritten war. Wegen der DGB schließlich im Frühjahr 1990 die dadurch die Stärkung der „entwickelten dem Staatsvolk durch eine Bestätigung ihrer des Einmarsches von Truppen des Warschau- Nichtreformierbarkeit dieser Massenorgani- sozialistischen Gesellschaft" in der DDR Politik von außen kompensieren zu können. er Paktes in die Tschechoslowakei am 21. sation der SED und beendete die 2. Anerkennung der FDGB/DGB-Beziehungen August 1968 sprach sich die IG Metall als Kooperation. Bis heute jedoch schweigen als internationale Beziehungen durch Hauptmerkmal der offiziellen Beziehungen mitgliederstärkste Gewerkschaft auf dem sich die Gewerkschaften über ihren spezifi- Zurückweisung jeglicher Bestrebungen zwischen DGB und FDGB nach 1972 war ihr DGB-Bundeskongreß im Jahre 1969 für ein schen Anteil an der Stabilisierung der nach innerdeutschen Sonderbeziehungen Charakter als Spitzenfunktionärs-Diplomatie, vollständiges Einfrieren der im August 1968 kommunistischen Diktatur in der DDR und ihr 3. gegenseitige Achtung und Respektierung die in den 80er Jahren unter Ausschluß der bereits unterbrochenen Ostkontakte aus und Versagen im demokratischen Umbruch- des FDGB als gleichberechtigte „Ge- Gewerkschaftsmitgliedschaft und über deren knüpfte politische Bedingungen an deren prozeß aus. werkschaft" Köpfe hinweg immer reger entfaltet wurde. Wiederaufnahme: 4. Zurückstellung ideologischer Gegensätze Die Beschränkung der Kontakte auf zugunsten der Betonung „gewerk- Spitzenfunktionäre, ihre Quarantänisierung „Die Möglichkeit, die mit den Gewerkschaf- Das Interesse der SED an den West- schaftlicher" Gemeinsamkeiten und die Verhinderung von unkontrollierbaren ten der UdSSR, Polens, Ungarns und Bulgari- Kontakten des FDGB 5. Differenzierungspolitik zugunsten der Begegnungen zwischen FDGB-Mitgliedern ens vor dem August 1968 aufgenommenen „demokratischen, fortschrittlichen Kräfte" und Gewerkschaftsmitgliedern aus der Kontakte wieder aufzunehmen und fortzu- Seit 1972 unterhielt der DGB zum FDGB i n den westdeutschen Gewerkschaften Bundesrepublik gehörte zu den wichtigsten führen, hängt deshalb in erster Linie von dem offizielle Beziehungen auf Spitzen- 6. Erkundung und Weiterleitung von Beziehungs-Spielregeln des FDGB. Zwar Verhalten der Gewerkschaften und Staats- funktionärsebene, der seinerseits exakte Meinungsunterschieden in den Delega- versuchte der DGB zumindest anfänglich, führungen der Interventionsmächte und Vorstellungen über die mit den Kontakten tionen, von politischen und „klimatischen" diese Regeln zu durchbrechen, aber der i nsbesondere davon ab, welche Hindernisse verfolgten Ziele hatte. Der FDGB betrachtete Interna aus den Gewerkschaftsvorständen, FDGB setzte schließlich seine Vorstellungen sie den Reformbestrebungen und der seine Beziehungen zum DGB als „internatio- politischen Differenzen zwischen den durch. Reformpolitik in der CSSR weiterhin in den nale Beziehungen", die er als Ausführung Gewerkschaften sowie zwischen DGB und Weg legen. der Beschlüsse der jeweiligen Parteitage, der SPD und Nutzung dieser Kenntnisse für Erst wenn sich die Verhältnisse in der CSSR ZK-Tagungen, des Politbüros und des ZK- die eigenen Ziele Eingebettet in staatliche Entspannungs- so weit normalisiert haben, daß die Selb- Sekretariats der SED gestaltete. Jeder Schritt 7. „aktive Einwirkung und Einbeziehung von politik ständigkeit der Entscheidungen der tsche- der FDGB-Vorsitzenden erfolgte in Absprache „Teilen der Arbeiterklasse der BRD" in den choslowakischen Staats-, Partei- und mit Walter Ulbricht, später dann mit Erich Prozeß der Sicherung des Friedens, der Mit dem Beschluß zur Aufnahme von Gewerkschaftsführung gegenüber der UdSSR Honecker. Nicht im FDGB-Bundesvorstand, Entspannung und der Zusammenarbeit"; „Ostkontakten" leitete der DGB 1969 das als gewahrt angenommen werden kann, ist sondern im SED-Politbüro wurde über die dazu gehörte es, die Verurteilung der Ende der Phase der normativen Abgrenzung für die Gewerkschaften der Bundesrepublik Gesprächsinhalte und -ziele, über die Rüstungs- und Militärpolitik ausschließlich, zu den kommunistischen Diktaturen Ost- eine Grundlage für die Fortführung der Termine und die Programme der FDGB-DGB- mindestens aber primär der USA als europas ein. Die DGB-Satzung von 1949 unterbrochenen Kontakte gegeben". Treffen entschieden. Aus Sicht der SED- ursächlich für die Gefährdung des hatte die Gewerkschaften auf den aktiven Führung besaßen die westdeutschen Weltfriedens und der Entspannungspolitik Kampf gegen die Feinde der Demokratie von „Rein taktische Erwägungen", führte der IG Gewerkschaften einen hohen Stellenwert für i n gemeinsamen, öffentlichen Stellung- rechts festgelegt; dieser Satzungsauftrag war Metall-Vorsitzende Otto Brenner aus, dürften die zielgerichtete politische Einwirkung auf nahmen durchzusetzen 1 962 - ein Jahr nach dem Mauerbau - um nicht über „den Grundsatz der internationa- die Entwicklung der Bundesrepublik: Für die 8. Paralysierung des „negativen Einflusses" den Kampf gegen die Kommunisten l en Solidarität aller arbeitenden Menschen" SED war die umfassende „Klassen- des DGB auf europäischer Ebene („Diffe- erweitert worden.z Auch das Grundsatz- gestellt werden6. organisation der Arbeiterklasse" in der renzierung im EGB") sowie die Nutzung programm von 1963 war der normativen Bundesrepublik die „Einheitsgewerkschaft", der deutsch-deutschen bilateralen Abgrenzung verpflichtet geblieben, indem es Es sei nicht weniger gefährlich, „Politik durch in deren Reihen die „Aktionseinheit" Beziehungen als Vorstufe zur internationa- „die Verwirklichung des Rechtes auf Selbst- Moral zu ersetzen, als beim politischen zwischen Sozialdemokraten und Kommuni- l en Anerkennung durch den Aufbau bestimmung, auch für das deutsche Volk" Handeln auf moralische Legitimation zu sten artikuliert und durchgesetzt werden multilateraler Beziehungen (Forderungen einforderte und die „Wiedervereinigung verzichten", konterte demgegenüber der sollte. Im einzelnen verfolgte die SED mit der nach einer „europäischen Gewerk- Deutschlands" als „Voraussetzung für eine ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker. Die FDGB-Westarbeit die Durchsetzung folgen- schaftskonferenz" und einer „Aktions- friedliche Ordnung Europas" betrachtete'. Gewerkschaften sollten als „Botschafter des der Ziele: einheitspolitik" in der internationalen guten Willens eine realistische Entspannungs- Gewerkschaftsbewegung). Der achte Bundeskongreß des DGB beschloß politik unterstützen" und sich dafür auch 1. Unterstützung der Außenpolitik der KPdSU m Mai 1969 auf Antrag der IG Druck und i aktiv einsetzen. Es wäre ein Armutszeugnis, sowie der Deutschlandpolitik der SED, Papier, die Bemühungen der Bundesregie- Von der Anerkennung durch die westdeut- „wenn wir vor der Auseinandersetzung mit i nsbesondere zur „Durchsetzung der rung um eine Normalisierung der Bezie- schen Gewerkschaften und der Präsentation den Kommunisten kneifen würden". Man Prinzipien der friedlichen Koexistenz zur gemeinsamer Erklärungen und Dokumente hunqen zwischen der Bundesrepublik und

134 135 müsse trotz aller Meinungsverschiedenheiten dem Irrtum bewahrt werden, als könnten sie die Feinde der Entspannungspolitik aus gewerkschaftlichen Grundorganisationen" auch jetzt miteinander reden, denn: „Wie die die Träger gewerkschaftlicher und politischer durchsichtigen Motiven gegen die DDR und zu entfalten.17 Erfahrungen zweier Weltkriege belegen, Verantwortung in der Bundesrepublik die Normalisierung der Beziehungen DDR- müssen in erster Linie die Arbeitnehmer Deutschland gegeneinander ausspielen. 4. BRD verwenden. Unserem Anliegen sollte politische Unterlassungen und Fehl- I m Jahre 1980 forderte der DGB die Zu- Europäische Konferenzen auf staatlicher und jede Einmischung in die Angelegenheiten des rücknahme der neuerlichen Erhöhung des entscheidungen ausbaden. In Konzentrati- auf anderer (nicht nur gewerkschaftlicher) anderen fremd sein."14 onslagern, in Schützengräben, in Zwangsumtausches. Wegen der Verhängung Ebene dürfen wegen der völlig unterschiedli- des Kriegsrechts in Polen und der Kriegsgefangenenlagern oder im Luftschutz- chen Voraussetzungen nicht in einen Topf Wegen diverser Spionagefälle, unter ande- bunker ist es zu spät, über politische Ver- I nhaftierung tausender Gewerkschafter im geworfen werden." 10 rem dem des Kanzleramtsspions Guillaume, Dezember 1981, vom FDGB säumnisse und über die Mitverantwortung und des Verdachtes nachrichtendienstlicher propagandistisch massiv unterstützt, sagte für politische Fehlentscheidungen zu Die Ostkontakte, so Brandt weiter, müßten Tätigkeit zugunsten der DDR im Falle des sprechen"'. Der DGB-Kongreß entschied Vetter eine für März 1982 geplante jedoch unter Kontrolle der Gewerkschafts- Leiters der DGB-Abteilung „Wieder- Delegationsreise des DGB in die DDR sowie gegen Otto Brenner und die IG Metall und führungen bleiben; bei Kontakten auf den vereinigung", Wilhelm Gronau1 5, sowie des folgte Klunckers Plädoyer für den Antrag der die Teilnahme eines DGB-Vorstandsmit- unteren Ebenen müsse „der Gefahr der I G Metall-Vorstandsmitgliedes Heinz .18 Ein I G Druck und Papier, die Ostkontakte trotz I gliedes am 10. FDGB-Kongreß ab nfiltration begegnet werden"11. Dürrbeck, blieben die Kontakte drei Jahre Vermerk über ein Gespräch des ÖTV- der Besetzung der CSSR weiter auszubauen unterbrochen. 1976 besuchte Vetter Harry und die Aufnahme offizieller Kontakte zum Vorsitzenden Kluncker mit dem Ersten Eingebettet in die staatliche Entspannungs- Tisch, 1977 Tisch Vetter, 1978 nahm Tisch Sekretär der Ständigen Vertretung der DDR FDGB einer Prüfung zu unterziehen8. Diese politik der SPD-geführten sozialliberalen als Gast am 11. Ordentlichen Bundeskongreß Linie wurde auf dem 9. DGB-Bundeskongreß in Bonn zeigte, daß Vetter kurz vor seinem Koalition, folgte das Beziehungsklima des DGB teil. Bis Vetter 1982 erneut bei Tisch Ausscheiden aus dem Amt des DGB- 1972 bestätigt und der Bundesvorstand des zwischen DGB und FDGB in den 70er Jahren zu Gast war, herrschte eine vierjährige DGB auf Antrag der IG Chemie-Papier- Vorsitzenden selbst für diese Politik jedoch den Temperaturschwankungen der Frostperiode. Vetter hatte 1978 schriftlich kaum noch Unterstützung bei seinen Keramik aufgefordert, die mittlerweile i nnerdeutschen Beziehungen. Nach der beim Politbüro-Mitglied Harry Tisch gegen „angebahnten Kontakte zum FDGB aus dem Vorstandskollegen fand: „Kluncker führte Verdoppelung der Zwangsumtauschsätze die Einführung des Wehrkundeunterrichts unter anderem aus, er habe erfahren, daß Stadium der technischen Gespräche heraus- beschloß der DGB-Bundesausschuß im protestiert: „Ohne mich de jure in die zuführen" 9 Vetter seinen vorgesehenen Besuch in der Dies geschah mit der ersten Dezember 1973 im Anschluß an eine i nneren Angelegenheiten der DDR mischen DDR abgesagt habe. Er, Kluncker, habe dafür Begegnungsrunde in den Jahren 1972/73 entsprechende Forderung der Bundesregie- zu wollen, kann ich nicht verhehlen, daß und wurde 1976/77 fortgeführt. kein Verständnis, da er den Dialog immer rung an die DDR, seinerseits den FDGB mich bereits die Gründung der GST (Gesell- noch für einen gangbaren Weg halte, um die aufzufordern, „auf die Regierung der DDR schaft für Sport und Technik, d.V.) mit ohnehin schwierige internationale Lage nicht Mit dieser Politik waren die Gewerkschaften einzuwirken mit dem Ziel, die Umtausch- großer Sorge erfüllt hat. Wenn jetzt sogar die einem dringenden - aber, wie Brenner auch noch zusätzlich zu belasten. (...) Vetter quoten auf den früheren Stand zu reduzie- Absicht besteht, den Wehrkundeunterricht in handele angesichts seines bevorstehenden meinte, „rein taktischen" - Wunsch des ren ".12 In einem entsprechenden Brief an den Lehrplan der Schulen der DDR einzube- ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers unrühmlichen Abganges zunehmend Herbert Warnke verurteilte Vetter zugleich ziehen, dann kann ich das nur so verstehen, konfuser und lasse sich nicht von seinen nachgekommen. Auf einer Sitzung des SPD- die Aufrechterhaltung des Schießbefehls an daß die Militarisierung schon während des Kollegen beraten.'Bis zum Kongreß im Mai Gewerkschaftsrates, einem Gremium zur den Grenzen der DDR und der Berliner Prozesses der Bewußtwerdung junger Koordinierung von Parteispitze und den wird es noch gehen, dann werden wir ihn Mauer; beide Gewerkschaftsbünde sollten Menschen eine zielbewußte und damit politisch begraben'."19 sozialdemokratischen darauf hinwirken, „daß die Grenze zwischen unaufhebbare Verankerung erfahren soll."16 Gewerkschaftsvorsitzenden, hatte Willy der DDR und der BRD so menschlich wie Auch hier spielte Vetter auf das Auseinander- Brandt im Januar 1970 zu Beginn seiner möglich gestaltet wird. Nur so kann die klaffen von Wort und Tat in der FDGB- I m Zusammenhang mit der Entspannungspo- ersten Amtsperiode von den Gewerkschaften friedliche Koexistenz gesichert werden. Friedenspolitik an, denn der FDGB beteiligte litik hatte der DGB bereits 1971 den Auftrag, eine „Rückendeckung nach innen und Worte und Taten müssen übereinstimmen, sich auch in der Folgezeit entgegen seiner den kommunistischen Einfluß zu bekämpfen, außen" für seine Ostpolitik gefordert und als wenn das gelingen soll. "'13 Eine schroffe Friedensarien tatkräftig an der Militarisierung aus der Satzung gestrichen; im Grundsatz „besondere Aufgaben" der Gewerkschaften Reaktion des FDGB-Vorsitzenden Warnke, der SED-Diktatur: Ende 1978 räumte der programm von 1981 verzichtete er auf die unter anderem umrissen: zugleich Politbüro-Mitglied, blieb nicht aus: FDGB in einer Vereinbarung mit dem Forderung nach Wiedervereinigung. Die „Die in Deinem Schreiben aufgeworfenen Ministerium für Nationale Verteidigung der ersten zehn Jahre der Beziehungen zwischen „1. Die Gewerkschaften helfen der Bundes- Fragen widersprechen dem Geist der „Wehrerziehung" einen „wichtigen Platz in DGB und FDGB bewegten sich generell im regierung, indem sie ihr gegenüber veralte- Beratungen von Berlin und Düsseldorf, der politischen Arbeit der Gewerkschaften" Rahmen der vom Grundlagenvertrag ten Vorstellungen und feindseligen Angriffen komplizieren die Anfänge der Normalisierung ein und verpflichtete sich trotz aller zwischen den beiden Staaten von 1972 den Rücken freihalten. 2. Die Gewerkschaf- der Beziehungen zwischen unseren Organi- Friedensbekundungen nach außen, „die festgelegten wechselseitigen Nicht-Ein- ten wirken auch an der internationalen sationen und können deshalb von uns nicht Bereitschaft und die Fähigkeit der Werktäti- mischung, was gelegentliche verbale Absicherung der deutschen Friedenspolitik akzeptiert werden," schrieb Warnke und gen zum militärischen Schutz des Sozialismus politische Attacken nicht ausschloß. Die mit. Wo unsere Freunde sitzen, muß für fuhr fort: „Es kann der Weiterführung planmäßig und differenziert" zu fördern und DGB-Spitzendiplomatie gegenüber dem jedermann klar sein und bleiben. 3. Die unserer Beziehungen nicht dienlich sein, eine „vielfältige und anschauliche militär- FDGB stimmte in dieser Zeit grundsätzlich mit potentiellen östlichen Partner müssen vor wenn Parolen ins Feld geführt werden, die politische Agitation und Propaganda in den der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik

136 137 überein und muß inhaltlich als deren bereits das bloße Stattfinden von Begegnun- Verletzung in der DDR in den Hintergrund abgesehen 24, konnte Harry Tisch in seinen Bestandteil gewertet werden. gen, Kontakten und Meinungsaustausch auf gedrängt. Berichten an das Politbüro über all die Jahre Spitzenfunktionärsebene als sinnvollen die Unterlassung dessen vermelden, was Aber seit 1982 regierte in Bonn eine konser- Beitrag zur Entspannungspolitik und als „Grob provokatorische und nach SED-Auffassung „die sachliche Atmo- vativ-liberale Bundesregierung, die im Jahre Beitrag zur Entkrampfung des antikommunistische Störaktionen der DGB- sphäre" hätte stören können. Darunter 1983 die Wahlen zum Deutschen Bundestag innerdeutschen Verhäitnisses20. Kontakte Spitze" wie in den 70er Jahren brauchte verstand die SED insbesondere das Anspre- gewann und den politisch stark umstrittenen sollten keine Zustimmung zu der in der DDR Tisch seinem Vorgesetzten Honecker in den chen des Menschenrechts-Korbes 3 der Beschluß durchsetzte, auf deutschem betriebenen Gewerkschafts- oder Regierung- 80er Jahren nicht mehr zu melden. Im Schlußakte von Helsinki, Fragen der Grenz- Territorium neue amerikanische Mit- spolitik bedeuten, hieß es darin. Sie sollten Gegenteil: „Der gesamte Verlauf hat sicherung und der Staatsbürgerschaft sowie telstreckenraketen und erstmals auch vielmehr „die Möglichkeit einschließen, demonstriert", berichtete Tisch dem Zweifel an der historischen Endgültigkeit der Marschflugkörper stationieren zu lassen. unterschiedliche politische Auffassungen in Politbüro über seinen Besuch in der Bundes- DDR. Nach einem Gespräch mit Ernst Breit Freilich setzte die Regierung Kohl/Genscher der Bundesrepublik und der DDR öffentlich republik 1985, „daß auch die DGB-Seite an teilte Harry Tisch im April 1989 Erich damit nur den NATO-Nachrüstungsbeschluß sichtbar zu machen". Art und Umfang der einer guten Arbeitsatmosphäre und positiven Honecker beruhigt mit, daß sich der Bun- i hrer Amtsvorgänger Schmidt/Genscher von DGB-FDGB-Kontakte und der Kontakte Ergebnissen interessiert war. Es wurde alles desvorstand des DGB im Unterschied zur 1979 um, nachdem die Verhandlungen zwischen den Einzelgewerkschaften sollten vermieden, was zur Belastung geführt hätte. BRD-Regierung und zur SPD „bislang nicht in zwischen den USA und der Sowjetunion über i m DGB-Bundesvorstand abgestimmt Im Gegensatz zu früheren Begegnungen die inneren Angelegenheiten der DDR den Abbau der sowjetischen SS 20- werden. Geplante Kontaktaufnahmen aller wurden kontroverse Themen nicht gestellt einzumischen versucht bzw. Forderungen Raketenvorrüstung gescheitert waren. Durch Gewerkschaftsebenen wurden, wie Brandt (Polen, Afghanistan, sogenannte humanitäre nach Veränderungen an die Gewerkschaft den Koalitionswechsel der FDP entstand für seinerzeit geraten hatte, einer Melde- und Fragen usw.). (...) Der gesamte Verlauf der der DDR" stelle.25 den DGB in seiner Ost- und Deutschland- Genehmigungspflicht der jeweils zuständigen Begegnung hat deutlich gemacht, daß es in politik eine neue Lage. Nach 1982 konnte er Vorstände unterstellt. Die gleichzeitig wichtigen Fragen weitergehende Überein- seine Politik nur noch bedingt mit der verabschiedeten, streng vertraulichen stimmungen mit dem DGB gab als bei Großes Entgegenkommen der IG Druck Bundesregierung abstimmen, obwohl jedoch „Internen Richtlinien für Kontakte mit dem vorangegangenen Begegnungen"". Eine und Papier gegenüber der SED das faktische Handeln dieser neuen Regie- FDGB" enthielten für die DDR-Reisekader des nochmalige Steigerung der Zufriedenheit rung Kontinuität in der gemeinsamen DGB unter anderem zwei zu beachtende enthielt der Bericht Tischs über die FDGB/ Den größten Erfolg bei ihrer Politik, „den Einschätzung der deutsch-deutschen Gesichtspunkte: Sie sollten „zeitlichen DGB-Begegnung im Jahr 1987. Tisch Differenzierungsprozeß im DGB und in Beziehungen verhieß. Gleichwohl bedeutete Spielraum für unkontrollierte und schilderte seinen Politbüro-Genossen den seinen Einzelgewerkschaften im Sinne der der Wechsel der SPD von der Bonner unbegleitete persönliche Kontakte verabre- DDR-Besuch der DGB-Delegation als „das Stärkung klassenmäßiger Gewerkschaftsposi- Regierungsbank auf die Plätze der Oppositi- den" und „Kontakte auch mit Arbeitneh- bisher konstruktivste und von den Ergebnis- tionen voranzutreiben"26, verzeichneten SED on eine Zäsur für die DGB-Ostpolitik. mern sicherstellen, die keine Funktionen sen her wichtigste Treffen von Spitzen- und FDGB in den Beziehungen zur IG Druck Thematisch blieb der DGB mit den haben". Trotz der schriftlichen Erinnerung in delegationen des FDGB und DGB. Seitens der und Papier, heute IG Medien, einer zwar deutschland- und sicherheitspolitischen den „internen Richtlinien" des DGB wurden - DGB-Delegation wurde alles vermieden, was kleinen DGB-Gewerkschaft, der aber wegen Positionen der SPD verbunden - und spiegelt von zwei Ausnahmen in den Jahren 1975 diesen positiven Verlauf hätte stören i hres Organisationsbereiches - Presse und deren Degenerierung von der Konzeption und 1988 abgesehen - Versuche zu können.(...) Es ist erkennbar, der DGB hat Massenmedien - besondere gesell- des „Wandels durch Annäherung" zu einer unkontrollierten Kontaktaufnahmen öffent- heute ein anderes Verhältnis zur DDR und schaftspolitische Bedeutung beigemessen Politik des im Status quo befangenen lich nicht registriert. ihrer Politik als noch vor wenigen Jahren.(...) wurde. Die IG Druck wurde schon 1971 zu „ Wandels durch Anbiederung", wenn nicht Ausgehend vom Verständnis der Sicherheits- den Gewerkschaften gezählt, „bei denen in Verbrüderung, wider. Weder in die staatliche fragen für das Überleben der Menschheit wichtigen innen- und außenpolitischen Entspannungspolitik des „ökonomischen" Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre wurde mit der Delegation die bisher weitest- Fragen Elemente einer konstruktiven, Gebens und „humanitären" Nehmens wurde zugunsten der Betonung von Gemein- gehende Übereinstimmung erreicht"23. eigenständigen Gewerkschaftspolitik am eingebunden noch an eigenständigen samkeiten darauf verzichtet, in der Öffent- sichtbarsten werden."27 Allein ihre Ostpolitik Wertvorstellungen zur Durchsetzung der lichkeit unterschiedliche politische Auffas- Wenn einzelne Gewerkschaften ihrer i n den siebziger und achtziger Jahren läßt es Gewerkschafts- und Menschenrechte im sungen zu verdeutlichen." Die Kontakte zum Sympathie für die polnische gerechtfertigt erscheinen, sie als Speerspitze Ostblock orientiert, irrlichterte die DGB- FDGB dienten dem DGB über die Friedens- Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc" der SED-FDGB-Politik im DGB zu betrachten. Deutschlandpolitik durch die achtziger Jahre. frage hinaus nicht zur Durchsetzung eines Ausdruck verliehen, gegen die politische Nachdem der Vorstand der IG Druck und eigenständigen gewerkschaftspolitischen Unterdrückung der allmählich sich verbrei- Papier sich zu Beginn der siebziger Jahre Was der DGB und seine Gewerkschaften Akzentes. Wo es um nicht weniger als die ternden politischen Opposition in der DDR entschieden hatte, seine Beziehungspolitik eigentlich mit den Spitzentreffen im Schilde Erhaltung des Weltfriedens und das Überle- Stellung bezogen oder die Ge- nicht von „zufälligen politischen Ereignissen" führen wollten, wurde 1977 vom Bundesvor- ben der Menschheit ging, wurde die „Solida- werkschaftsjugend gegen die Verhaftung und „Provokationen" stören zu lassen, hielt stand in vertraulichen „Leitlinien für die rität mit den arbeitenden Menschen" „Andersdenkender" in der DDR protestierte, er diese Linie eisern durch. Beschlossen der Beziehung zum FDGB" niedergeschrieben. (Brenner) und den Oppositionsgruppen, das blieben das Ausnahmen, die für die Stabilität DGB oder andere Einzelgewerkschaften Diesem programmatischen Papier zufolge Einklagen fundamentaler Menschenrechte der Kontakte auch vom DGB als störend wegen des Spionagefalls Guillaume, der MfS- betrachteten die Gewerkschaftsfunktionäre und der Protest gegen ihre fortwährende empfunden wurden. Von einer Ausnahme Tätigkeit von Gronau im DGB oder wegen 138 139 Kolonne", für deren Untergrund- und besuch seiner Gewerkschaft in der DDR die - Wühlarbeit die IG Druck nicht zur Verfügung heute von ihm bestrittene - Äußerung stehe29. Auch in der Auseinandersetzung überliefert, daß die Mitbestimmung in der zwischen dem polnischen Militärregime und DDR „das Optimalste" sei, was möglich ist: der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung „Dagegen ist die Mitbestimmung in der BRD Solidarnosc zu Beginn der achtziger Jahre schmalbrüstig. "3" In einem Bericht über seine bezog Mahlein Position - für die kommunisti- Reise bestätigte Hensche jedoch selbst seine schen Militärs und gegen die demokratische positiven Eindrücke vom Umfang der Volksbewegung, deren Führer verfolgt Gewerkschaftsrechte in den DDR-Betrieben. wurden und zum Teil interniert worden Wie „schon früher Kommunisten und waren. Gegenüber Solidarnosc, „deren Sozialisten", so Hensches politischer Gesamt- Hauptziel der Kampf gegen das sozialistische eindruck damals, würden nun die Politiker Volkspolen ist", und die eine markt- und die Regierung der DDR verfolgt. Ständig wirtschaftliche Ordnung einzuführen werde die „normale Grenze" zwischen zwei beabsichtige, so Mahlein, könne er seine selbständigen und souveränen Staaten als Solidarität nicht erklären?30 Das sahen SED sogenannte innerdeutsche Grenze und die und FDGB nicht anders. gesellschaftliche und staatliche Existenz der DDR immer und immer wieder in Frage gestellt. Keine Frage für Hensche, daß sein Von Detlef Hensche schließlich, dem heuti- Verständnis nicht den Opfern, sondern dem gen Vorsitzenden der IG Medien, wurde in schwierigen Dienst der Grenztruppen und einem FDGB-Bericht über einen Delegations- Mauerschützen galt: „Und wundert es, wenn

der Verhängung des Kriegsrechts in Polen i deologischen Gemeinsamkeiten mit führen- 1981 nicht in die DDR zu reisen, fuhr die IG den sozialdemokratischen Spitzenfunktio- Druck erst recht. Blockierten der Internatio- nären dieser Gewerkschaft. Der frühere nale Freie Gewerkschaftsbund und der Vorsitzende Mahlein war von der Vorbild- Europäische Gewerkschaftsbund aus funktion der sowjetischen Gewerkschaften Solidarität mit Solidarnosc internationale auf den Feldern des Arbeits- und Gesund- Gewerkschafts-Veranstaltungen mit den heitsschutzes, der Sozialpolitik und der nach dem Solidarnosc-Verbot von Staats Gewerkschaftsrechte in Betrieb, Staat und wegen gegründeten polnischen Branchen- Wirtschaft überzeugt28 . Daß dem FDGB auf gewerkschaften, führte die IG Druck erst dem Papier, nämlich in der DDR-Verfassung, recht eine gemeinsame Konferenz der nach seiner Meinung mehr Rechte zugespro- I nternationale der Graphischen Föderation chen wurden als in der Bundesrepublik dem mit dem kommunistischen Ständigen DGB, war Mahlein Beweis genug für ein Bild Komitee der Gewerkschaften der Grafischen freier Gewerkschaftstätigkeit in der DDR auf I ndustrie durch - unter Beteiligung der allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens polnischen Branchengewerkschaft (Wiener - von der Realität ließ er sich in dieser Konferenz 1985). i deologischen Befangenheit nicht stören. Sorgfältig vermied Mahlein die öffentliche Diese guten Beziehungen gründeten nicht Solidarisierung mit verfolgten Regimekriti- nur auf der operativ angeleiteten Tätigkeit kern aus dem Kreis der oppositionellen DDR- der mit der SED „befreundeten Kräfte" in Schriftsteller. Sein Nachfolger Ferlemann der IG Druck und Papier, sondern auch auf diffamierte sie gar im SED-Jargon als „fünfte

140 141 Grenzbehörden dann auf Mißachtung der Angelegenheit einzelner Staaten degra- 1 Harry Tisch, zit. nach: Die Welt, 16.9.1989 sozialistischen Wehrerziehung der Arbei- terklasse und aller Werktätigen der DDR, in: Grenze gereizt und hysterisch reagieren?"' diert" 3s. 1986 forderte der DGB-Bundes- 2 FDGB-Bundesvorstand, Beschluß des Sekreta kongreß die Bundesregierung auf, ihr riats vom 27.10.1976, S 725/76, „Internatio Autorenkollektiv, Gewerkschaften und Als sich die DDR im Oktober 1989 an- politisches Handeln an den Normen der nale Arbeit des FDGB nach der BRD", S. 1. sozialistische Wehrerziehung. Anregungen schickte, ihren vierzigsten Geburtstag zu Menschen- und Gewerkschaftsrechte zu 3 Die DGB-Satzung verlangte nun von den und Erfahrungen, Berlin (Ost) 1985, S. 41 f. 19 feiern, konnten sich IG Druck und Papier orientieren. Gewerkschaften, „faschistische, kommunisti Schreiben von Heinz Oskar Vetter an Harry West und Ost anläßlich eines Delegations- sche, nationalistische, militaristische und alle Tisch, 8.3.1982. 20 besuches der West-Gewerkschafter zum Die eigenen Wertvorstellungen und Ziele, wie sonstigen antidemokratischen Einflüsse" zu AV Bonn/Abt IAP, Vermerk über ein Gespräch letzten Mal vor dem Zusammenbruch der sie der DGB für sich und seine Mit- bekämpfen (Satzung des DGB, zit. nach des Genossen Schröder mit dem Vorsitzenden SED-Diktatur über die erfolgreiche vierzigjäh- gliedsgewerkschaften im Grundsatz- Bundesvorstand des DGB 1962, S. 992). der Gewerkschaft ÖTV der BRD, Heinz rige Geschichte und Entwicklung der DDR in programm und den Kongreßbeschlüssen 4 Protokoll 6. ordentlicher DGB-Bundeskongreß Kluncker, am 24.3.1982 in Bonn, Bonn, der Überzeugung austauschen, daß sich „die niedergelegt hat, sind die Kriterien, die für 1963, S. 453. 24.3.1982. 21 Beziehungen zwischen dem FDGB und dem eine kritische Reflexion der DGB- s So der Antrag 63 (Ostpolitik), in: Protokoll B. Leitlinien für die Beziehungen des DGB zum DGB auf der Grundlage der jüngsten Deutschlandpolitik zu gelten haben. Wenn ordentlicher DGB-Bundeskongreß 1969, FDGB, o.0., o.J. (1977). 22 Verhandlungen der Kollegen Tisch und Breit die Verletzung dieser Wertvorstellungen in Anträge und Entschließungen, S. 82. Vgl. dazu auch die hohlen, leerformelhaften i n der BRD auch in Zukunft positiv entwickeln den Gewerkschaften nicht zum Thema wird, 6 Antrag 65 der IG Metall (Gewerkschaftliche gemeinsamen Presseerklärungen anläßlich der müssen und einen stabilisierenden Faktor in stellen sie ihre Glaubwürdigkeit selbst zur Ostkontakte), in: Protokoll B. ordentlicher Spitzentreffen. Eine Notiz von Prof. H. der bewegten ideologischen Auseinanderset- Disposition. „Alle politische Aktion", so DGB-Bundeskongreß 1969, Anträge und Deutschland, Leiter der Forschungsgruppe zung unserer Zeit darstellen. "33 befand Ferdinand Lasalle, „besteht in dem Entschließungen, S. 83. Geschichte an der Gewerkschaftshochschule Aussprechen dessen, was ist und beginnt 7 Ebd., S. 462. „Fritz Heckert" in Bernau und Autor der SED- damit. Alle politische Kleingeisterei besteht 8 Ebd., S. 464 ff. orientierten Hof- „Geschichte des FDGB", Die eigenen gewerkschaftspolitischen aus dem Verschweigen und Bemänteln 9 Antrag 67 der Industriegewerkschaft Druck über ein Gespräch mit dem damaligen Leiter Grundsätze mißachtet dessen, was ist." Die kommunistischen und Papier (Ostkontakte), in: Ebd., Anträge der Abteilung Bildung beim DGB-Bundesvor- Herrschaftssysteme in der DDR und in Europa und Entschließungen, S. 85. stand, zeigt die Richtung an, in die die Die Forderung nach uneingeschränkter sind zerfallen; die Frage des 10 Antrag 58 der Industriegewerkschaft Chemie- Funktionäre die Gestaltung der weiteren Verwirklichung und Einhaltung der Men- gewerkschaftlichen Umgangs mit Diktaturen, Papier-Keramik (Gewerkschaftliche Ostkon- Beziehungen vordachten: „Kollege Hans schen- und Gewerkschaftsrechte zählte zu die demokratische Grund- und Menschen- takte/Ostpolitik), in: Protokoll 9. ordentlicher Brauser vom DGB-Bundesvorstand äußerte in den festen Programmpunkten aller DGB- rechte mit Füßen treten, bleibt aktuell. DGB-Bundeskongreß 1972, Anträge und einem Gespräch: 'Es würde sich lohnen Bundeskongresse der Nachkriegszeit. Zu den Entschließungen, S. 56. darüber nachzudenken, ob FDGB und DGB Gewerkschaftsrechten zählte der DGB vor 11 Kurzprotokoll über die Sitzung des nicht an einem gemeinsamen Papier über allem Gewerkschaftsrates beim Parteivorstand am Zukunftsaufgaben der Gewerkschaften 29.1.1970 in Bonn (DGB-Archiv 24/1287). arbeiten sollten. Die Arbeit der damit beauftragten Experten sollte, wie bei SED und - das Recht der Arbeitnehmer, Gewerkschaf- 12 Ebd. SPD, langfristig angelegt werden und, bis ten zu bilden und ihnen beizutreten 13 Protokoll über die 6. Sitzung des Bundesaus- - das Recht der Gewerkschaften, internatio- schusses am Mittwoch, dem 5. Dezember greifbare Ergebnisse vorliegen, unter Aus- schluß der Öffentlichkeit stattfinden". (Heinz nalen Gewerkschaftsverbänden nach 1 973,S. 12. Deutschland, Bericht über die Teilnahme einer eigenem Entschluß beizutreten 14 Schreiben von Heinz Oskar Vetter an Herbert Delegation des FDGB am Hattinger Forum des - das Recht, sich im Rahmen dieser Gewerk- Warnke, 25.1.1974 (Abschrift). DGB-Bildungswerkes, 22.11.1988, ZGA FDGB schaften ohne Behinderungen durch 15 Schreiben von Herbert Warnke an Heinz Oskar Regierungen, Parteien und Arbeitgeber für Vetter, 18.3.1974 (Abschrift). 13499). 23 die Interessen der Arbeitnehmerschaft zu 16 I m September 1972 wurde der Sekretär der Harry Tisch, Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheits- betätigen DGB-Vorstandsverwaltung Wilhelm Gronau partei Deutschlands. Betrifft: Bericht über den - das Recht, mit den Arbeitgebern Tarifverträ- wegen des Verdachtes nachrichtendienstlicher Besuch einer Delegation des Bundesvor- ge abzuschließen und Tätigkeit für die DDR verhaftet. Gronau hatte für den DGB die technischen Vorgespräche standes des FDGB beim DGB vom 28. - 31. - für die Durchsetzung ihrer Forderungen Mai 1985, 2. Juni 1985 (ZGA FDGB 12870). zur Kontaktaufnahme mit dem FDGB geführt. unter Einsetzung ihres uneingeschränkten 24 17 Harry Tisch, Vorlage für das Politbüro des ZK Streikrechtes zu kämpfen. 34 7 Schreiben1 von Heinz Oskar Vetter an Harry der SED. Betr.: Information über den Besuch Tisch, 31.7.1978. einer DGB-Delegation vom 25. bis 29.5.1987 I n einer Entschließung der IG Metall hatte der 18 Vereinbarung zwischen dem Bundesvorstand i n der DDR, Berlin, 30.5.1987. (Als Präsidiums- DGB-Bundeskongreß 1982 alle Versuche des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes vorlage in: ZGA FDGB 13494). zurückgewiesen, „die allgemeinen Men- und dem Ministerium für Nationale Verteidi schen- und Gewerkschaftsrechte dadurch zu gung über die Zusammenarbeit bei der relativieren, daß man sie zur internen

142 143 25 Reise einer Delegation der Abteilung Jugend des DGB im Februar 1988 in die DDR. PODIUMSDISKUSSION DES BAUTZEN-KOMITEES 26 Schreiben Harry Tisch an Erich Honecker, 4. April 1989 (ZGA FDGB 13252). 27 FDGB-Bundesvorstand, Beschluß des Sekretari- ats vom 23.1.1974, S 60/74, „Konzeption für die Westarbeit des FDGB im Jahre 1974", S. 5. 28 FDGB-Bundesvorstand, Beschluß des Präsidi- ums, P 151/71, „Lage und Entwicklungs tendenzen im DGB Ende 1971 ", S. 28. 29 Leonhard Mahlein, Gewerkschaften interna Leitung: tional. Im Spannungsfeld zwischen Ost und Dettmar Cramer West, Frankfurt 1984, S. 202. 30 Vgl. Erwin Ferlemann, Ohne Medien- gewerkschaft dividieren sie uns auseinander. Teilnehmer. Interview mit Friedrich Hitzer, in: Kürbiskern 2/ 1984, S. 12 ff. Benno v. Heynitz 31 Leonhard Mahlein, Gewerkschaften interna- Erster Vorsitzender des Bautzen Komitees tional..., a.a.0., S. 150. 32 IG Druck und Papier/Zentralvorstand, Bericht Ehrhard Göhl über den Aufenthalt der Delegation des Sprecher der Sachverständigen-Gruppe Hauptvorstandes der IG Druck und Papier im Bautzen II DGB in der Zeit vom 23. bis 28.8.1976, Berlin, den 2. September 1976. Marco Schiemann 33 Detlef Hensche, Besuch in der DDR - Wir Rechtspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion brauchen keine Dolmetscher, in: Druck und im Sächsischen Landtag Papier 21/1976, S. B. 34 IG Druck und Papier/Zentralvorstand, Eckhard Noak Gewerkschaft Kunst/Zentralvorstand, Über die Staatssekretär Ergebnisse des Besuches einer Leitungs- Sächsisches Staatsministerium für Wissen- delegation der IG Medien - Druck und Papier, schaft und Kunst Publizistik und Kunst im DGB vom 4. bis 6. Dresden Oktober 1989 in der DDR, Berlin, 9. Oktober 1989. Benedikt Dyrlich 35 „Menschen- und Gewerkschaftsrechte", Mitglied des Sächsischen Landtages, Antrag 60 des 13. ordentlichen DGB- Bautzen Bundeskongresses 1986. 36 „Betr.: Menschen- und Gewerkschaftsrechte", Antrag 64 des 12. ordentlichen DGB- Bundeskongresses 1982.

145 144 REFERENTEN UND TEILNEHMER AN DEN PODIUMSDISKUSSIONEN

Benedikt Dyriich Dr. Armin Mitter Mitglied des Sächsischen Landtages, Bautzen Humboldt-Universität zu Berlin

Dr. Bernd Faulenbach Eckhard Noak Universität Bochum., Vorsitzender der Staatssekretär, Sächsisches Staatsministerium Historischen Kommission der Sozialdemokra- für Wissenschaft und Kunst, Dresden tischen Partei Deutschlands Heiner Sandig Dr. Tilman Fichter Vizepräsident des Sächsischen Landtages Referent für Schulung und Bildung beim Parteivorstand der SPD, Bonn Ulrich Schacht Leitender Redakteur für Kulturpolitik der Karl Wilhelm Fricke " Welt am Sonntag", Hamburg Deutschlandfunk, Köln Marco Schiemann Rechtspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion Ehrhard Göhl im Sächsischen Landtag Sprecher der Sachverständigen-Gruppe Bautzen 11 Prof. Dr. Wolfgang Schuller Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte Prof. Dr. Jens Hacker Universität Regensburg Wolfgang Templin Mitglied des Bundestages, Bündnis 90 Dr. Hans-Hermann Hertle Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Dr. Falco Werkentin Forschung an der Freien Universität Berlin Sozialwissenschaftler, Berlin Benno von Heynitz Waleri Alexandrowitsch Wolin Erster Vorsitzender des Bautzen-Komitees Militäroberstaatsanwalt der Verwaltung für Rehabilitierung der Generalstaatsanwalt- Dr. Wilhelm Koch schaft der Russischen Föderation, Oberst der Justiz, Moskau Dr. Karl-Heinz Kunckel Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Sächsischen Landtag, Dresden Moderatoren: Dr. Johannes Kuppe Dettmar Cramer Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Intendant des Deutschlandfunks, Köln Markus Meckel Mitglied des Bundestages, Sprecher der SPD- Dr. Heidi Roth Historikerin, Universität Leipzig Fraktion des Deutschen Bundestages in der Enquete-Kommission zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Dieter Rieke SozialdemokratischerArbeitskreis ehemaliger Deutschland" politischer Häftlinge der SBZ/DDR

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