Plenarprotokoll 15/72

Deutscher

Stenografischer Bericht

72. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 65. Geburtstag dige Reformmaßnahmen nicht auf des Abgeordneten Werner Lensing ...... 6127 A die lange Bank schieben (Drucksachen 15/1014, 15/1893) . . . . 6128 B Erweiterung der Tagesordnung ...... 6127 A Absetzung des Tagesordnungspunktes 20 . . . 6128 A in Verbindung mit Begrüßung des Parlamentspräsidenten der Tschechischen Republik und seiner Dele- Zusatztagesordnungspunkt 4: gation ...... 6151 A Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, , weiteren Abgeordneten und der Tagesordnungspunkt 3: Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der a) – Zweite und dritte Beratung des von Frühverrentung den Fraktionen der SPD und des (Drucksachen 15/1810, 15/1885, 15/1927) 6128 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Franz Müntefering SPD ...... 6128 D Zweiten Gesetzes zur Änderung Dr. CDU/CSU ...... 6130 D des Sechsten Buches Sozialge- setzbuch und anderer Gesetze Franz Müntefering SPD ...... 6131 C (Drucksachen 15/1830, 15/1893, CDU/CSU ...... 6132 B 15/1900) ...... 6128 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 6136 C – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 6139 A BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Helga Kühn-Mengel SPD ...... 6140 D eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Hildegard Müller CDU/CSU ...... 6142 A Sechsten Buches Sozialgesetz- Peter Dreßen SPD...... 6143 A buch und anderer Gesetze (Drucksachen 15/1831, 15/1893, Peter Dreßen SPD ...... 6144 C 15/1900) ...... 6128 A Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos...... 6145 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Erika Lotz SPD ...... 6146 C Ausschusses für Gesundheit und So- CDU/CSU ...... 6147 C ziale Sicherung zu dem Antrag der Ab- geordneten Andreas Storm, Annette Franz Thönnes SPD ...... 6148 D Widmann-Mauz, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU: Namentliche Abstimmungen ...... 61. . 5. 3. A, 6160 B Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen – Notwen- Ergebnisse ...... 61. . 5. 2. D, 6160 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Tagesordnungspunkt 4: Stand der Beratungen des EU- Verfassungsvertrages a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten , (Drucksachen 15/1212, 15/1207, 15/1898) 6152 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. FDP ...... 6155 B weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der FDP eingebrachten Entwurfs Michael Roth (Heringen) SPD ...... 6157 B eines Gesetzes zur Änderung des CDU/CSU ...... 6163 A Grundgesetzes (Art. 23) zur Einfüh- rung eines Volksentscheids über eine Dr. FDP ...... 6165 A europäische Verfassung Peter Hintze CDU/CSU ...... 6165 C (Drucksachen 15/1112, 15/1897) . . . . 6151 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 6165 C b) Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, weiterer Abgeordne- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP . . 6167 D ter und der Fraktion der CDU/CSU: Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ Für eine zügige Regierungskonfe- DIE GRÜNEN ...... 6168 B renz über die EU-Verfassung Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa 6169 A (Drucksache 15/1694) ...... 6152 A Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 6170 D c) Antrag der Abgeordneten Dr. , Klaus Hofbauer, weiterer Dr. Werner Hoyer FDP ...... 6172 A Abgeordneter und der Fraktion der Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ CDU/CSU: Gottesbezug im europäi- DIE GRÜNEN ...... 6173 B schen Verfassungsvertrag (Drucksache 15/1695) ...... 6152 B Dr. Guido Westerwelle FDP ...... 6174 A d) Antrag der Abgeordneten Dr. Werner CDU/CSU ...... 6174 D Hoyer, Rainer Brüderle, weiterer Ab- fraktionslos ...... 6176 A geordneter und der Fraktion der FDP: Daseinsvorsorge nicht gegen Wett- Dr. Georg Nüßlein CDU/CSU ...... 6177 A bewerb ausspielen Axel Schäfer (Bochum) SPD ...... 6178 B (Drucksache 15/1712) ...... 6152 B Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... 6179 C e) Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, weiterer Ab- Namentliche Abstimmung ...... 6185 A geordneter und der Fraktion der FDP: Preisstabilität als Ziel im EU-Verfas- Ergebnis ...... 6185 C sungsvertrag festschreiben – Unab- hängigkeit der Europäischen Zen- tralbank sichern Tagesordnungspunkt 22: (Drucksache 15/1801) ...... 6152 B a) Erste Beratung des von der Bundesre- f) Antrag der Fraktionen der SPD und gierung eingebrachten Entwurfs eines des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gesetzes zur Änderung des Ersten Die Errungenschaften des Konvents Gesetzes zur Änderung des Bundes- sichern – das europäische Verfas- grenzschutzgesetzes sungsprojekt erfolgreich vollenden (Drucksache 15/1861) ...... 6181 A (Drucksache 15/1878) ...... 6152 C b) Erste Beratung des von der Bundesre- g) Beschlussempfehlung und Bericht des gierung eingebrachten Entwurfs eines Ausschusses für die Angelegenheiten Gesetzes zur Umsetzung der Richt- der Europäischen Union linie 2002/47/EG vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur – zu dem Entschließungsantrag der Änderung des Hypothekenbankge- Fraktionen der SPD und des setzes und anderer Gesetze BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 15/1853) ...... 6181 A zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu c) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- den Ergebnissen des Europäi- gebrachten Entwurfs einesGesetzes schen Rates in Thessaloniki am zur Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von Wohnungsunter- 20./21. Juni 2003 nehmen und Wohnungsgenossen- – zu dem Antrag der Abgeordneten schaften in den neuen Ländern Peter Hintze, Michael Stübgen, (Drucksache 15/1407) ...... 6181 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zum in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 III

Zusatztagesordnungspunkt 5: nationale Patentübereinkommen (Drucksachen 15/1646, 15/1886) 6182 D Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- g) Zweite und dritte Beratung des von der derung des Sechsten Buches Sozial- Bundesregierung eingebrachten Ent- gesetzbuch wurfs eines Gesetzes zur Neuord- (Drucksache 15/1672) ...... 6181 B nung der Sicherheit von technischen Arbeitsmitteln und Verbraucher- produkten Tagesordnungspunkt 23: (Drucksachen 15/1620, 15/1805, 15/1892) ...... 6183 B a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- h) Zweite Beratung und Schlussabstim- wurfs eines Gesetzes zur Neure- mung des von der Bundesregierung gelung des Rechts der Verkehrs- eingebrachten Entwurfs einesGeset- statistik zes zu dem Protokoll vom 28. No- (Drucksachen 15/1666, 15/1706, vember 2002 zur Änderung des 15/1856) ...... 6181 B Europol-Übereinkommens und des b) Zweite Beratung und Schlussabstim- Protokolls über die Vorrechte und mung des von der Bundesregierung Immunitäten für Europol, die Mit- eingebrachten Entwurfs einesGeset- glieder der Organe, die stellvertre- zes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 7 tenden Direktoren und die Bediens- vom 27. November 2002 zu der Revi- teten von Europol dierten Rheinschifffahrtsakte vom (Drucksachen 15/1648, 15/1895) . . . . 6183 C 17. Oktober 1868 i) Zweite Beratung und Schlussabstim- (Drucksachen 15/1649, 15/1842) . . . . 6181 C mung des von der Bundesregierung c) Zweite und dritte Beratung des von der eingebrachten Entwurfs einesGeset- Bundesregierung eingebrachten Ent- zes zu dem Internationalen Überein- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- kommen der Vereinten Nationen derung des Saatgutverkehrsgesetzes vom 9. Dezember 1999 zur Bekämp- (Drucksachen 15/1645, 15/1839) . . . . 6181 D fung der Finanzierung des Terro- rismus d) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 15/1507, 15/1863) . . . . 6183 D Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Durchfüh- j) Zweite und dritte Beratung des von der rung gemeinschaftsrechtlicher Vor- Bundesregierung eingebrachten Ent- schriften über die Verarbeitung und wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- Beseitigung von nicht für den men vom 13. Januar 2003 zwischen menschlichen Verzehr bestimmten der Regierung der Bundesrepublik tierischen Nebenprodukten Deutschland und der Regierung der (Drucksachen 15/1667, 15/1894) . . . . 6182 A Sonderverwaltungsregion Hongkong der Volksrepublik China zur Ver- e) Zweite und dritte Beratung des von der meidung der Doppelbesteuerung Bundesregierung eingebrachten Ent- von Schifffahrtsunternehmen auf wurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- dem Gebiet der Steuern vom Ein- derung des Verfütterungverbotsge- kommen und vom Vermögen setzes (Drucksachen 15/1644, 15/1812) . . . . 6184 A (Drucksachen 15/1668, 15/1840) . . . . 6182 C f) – Zweite Beratung und Schlussab- k–n) Beschlussempfehlungen des Peti- stimmung des von der Bundesre- tionsausschusses: Sammelübersich- gierung eingebrachten Entwurfs ei- ten 70, 71, 72 und 73 zu Petitionen nes Gesetzes zu dem (Drucksachen 15/1794, 15/1795, Übereinkommen vom 17. Okto- 15/1796, 15/1797) ...... 6184 B ber 2000 über die Anwendung des Artikels 65 des Übereinkom- mens über die Erteilung europäi- Zusatztagesordnungspunkt 6: scher Patente (Drucksachen 15/1647, 15/1886) 6182 D – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- – Zweite und dritte Beratung des von wurfs eines Siebten Gesetzes zur Än- der Bundesregierung eingebrachten derung des Bundesverfassungsge- Entwurfs eines Gesetzes zur Än- richtsgesetzes derung des Gesetzes über inter- (Drucksachen 15/1848, 15/1887) . . . . 6184 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

– Zweite und dritte Beratung des von Zusatztagesordnungspunkt 2: den Fraktionen der SPD und des Aktuelle Stunde auf Verlangen der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- gebrachten Entwurfs einesSiebten SES 90/DIE GRÜNEN: Notwendigkeit Gesetzes zur Änderung des Bundes- der steuerlichen Entlastung für Fami- verfassungsgerichtsgesetzes lien, Arbeitnehmer und Unternehmen (Drucksachen 15/1686, 15/1887) . . . . 6184 D bereits zum 1. Januar 2004 zur Flankie- rung des sich abzeichnenden Wirt- schaftsaufschwungs Tagesordnungspunkt 5: , Bundesminister BMF ...... 6198 D a) Antrag der Fraktion der CDU/CSU: CDU/CSU ...... 6200 C Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ Fraktionen in der gemeinsamen DIE GRÜNEN ...... 6201 D Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 6203 A bundesstaatlichen Ordnung Christel Humme SPD ...... 6204 B (Drucksache 15/1692) ...... 6187 B Dr. CDU/CSU ...... 6205 C b) Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 6207 B und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜ- NEN: Wahl der Mitglieder der Kom- Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 6208 C mission zur Modernisierung der Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA . 6209 C bundesstaatlichen Ordnung (Drucksache 15/1867) ...... 6188 A CDU/CSU ...... 6212 A c) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/ SPD ...... 6213 A CSU: Wahl der Mitglieder der Kom- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 6214 B mission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Joachim Poß SPD ...... 6215 A (Drucksache 15/1868) ...... 6188 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU ...... 6216 C d) Wahlvorschlag der Fraktion der FDP: Wahl der Mitglieder der Kommis- Tagesordnungspunkt 7: sion zur Modernisierung der bun- desstaatlichen Ordnung Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 15/1869) ...... 6188 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung eines Nach- trags zum Bundeshaushaltsplan für das Tagesordnungspunkt 6: Haushaltsjahr 2003 (Nachtragshaus- haltsgesetz 2003) Beratung der Zweiten Beschlussempfeh- (Drucksache 15/1925) ...... 6217 D lung und des Berichts des Wahlprüfungs- Hans Eichel, Bundesminister BMF ...... 6217 D ausschusses: zu 57 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag CDU/CSU ...... 6220 B eingegangenen Wahleinsprüchen Hans Eichel SPD ...... 6220 D (Drucksache 15/1850) ...... 6188 B Antje Hermenau BÜNDNIS 90/ Erika Simm SPD ...... 6188 C DIE GRÜNEN ...... 6223 B (Heilbronn) CDU/CSU . . . . . 6190 C Jürgen Koppelin FDP ...... 6225 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6192 C Walter Schöler SPD ...... 6226 C Jürgen Koppelin FDP ...... 6228 A Thomas Strobl (Heilbronn) CDU/CSU . . 6193 C Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 6229 D Jörg van Essen FDP ...... 6194 B CDU/CSU ...... 6232 B Hans-Joachim Hacker SPD ...... 6195 B

Eckart von Klaeden CDU/CSU ...... 6196 B Tagesordnungspunkt 8: Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) a) Erste Beratung des von der Bundesre- CDU/CSU ...... 6196 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 V

Ersten Gesetzes zur Änderung des Rossmann, Jörg Tauss, weiterer Abgeord- Bundesschienenwegeausbaugesetzes neter und der Fraktion der SPD, der Abge- (Drucksachen 15/1656, 15/1804) . . . . 6233 B ordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion b) Erste Beratung des von der Bundesre- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- gierung eingebrachten Entwurfs eines wie der Abgeordneten Ulrike Flach, Fünften Gesetzes zur Änderung des (Homburg), weiterer Fernstraßenausbaugesetzes Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksachen 15/1657, 15/1803) . . . . 6233 C Für eine erfolgreiche Fortsetzung der c) Beschlussempfehlung und Bericht des gemeinsamen Bildungsplanung von Ausschusses für Verkehr, Bau- und Bund und Ländern im Rahmen der Wohnungswesen zu dem Antrag der Bund-Länder-Kommission für Bil- Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk dungsplanung und Forschungsförde- Fischer (Hamburg), weiterer Abgeord- rung (BLK) neter und der Fraktion der CDU/CSU: (Drucksachen 15/935, 15/1305) ...... 6255 D Verkehrsinfrastruktur auf EU-Ost- , Parl. Staatssekretär BMBF 6256 A erweiterung vorbereiten (Drucksachen 15/467, 15/1195) . . . . . 6233 C CDU/CSU ...... 6257 B Achim Großmann, Parl. Staatssekretär FDP ...... 6258 D BMVBW ...... 6233 D Dr. SPD ...... 6259 C CDU/CSU ...... 6236 A Jörg Tauss SPD ...... 6260 B Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ Dr. CDU/CSU ...... 6261 B DIE GRÜNEN ...... 6238 A (Bayreuth) FDP ...... 6239 D Tagesordnungspunkt 11: Heinz Paula SPD ...... 6241 A Beschlussempfehlung und Bericht des CDU/CSU ...... 6242 D Innenausschusses zu dem Antrag der Dr. SPD ...... 6244 B Abgeordneten , Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abge- CDU/CSU ...... 6246 A ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: (Zingst) CDU/CSU ...... 6246 D Wirksamen Zivil- und Katastrophen- schutz schaffen (Drucksachen 15/1097, 15/1852) ...... 6262 D Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Tagesordnungspunkt 12: Paziorek, Kristina Köhler (Wiesbaden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zweite und dritte Beratung des vom Bun- der CDU/CSU: Mehr Kosteneffizienz im desrat eingebrachten Entwurfs eines Klimaschutz durch verstärkte Nutzung Gesetzes zur Änderung des Straßenver- der projektbezogenen Kyoto-Mecha- kehrsgesetzes nismen (Drucksachen 15/1496, 15/1802) ...... 6263 A (Drucksache 15/1690) ...... 6248 A Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 6248 B Tagesordnungspunkt 13: SPD ...... 6249 C Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs einesGesetzes zur Birgit Homburger FDP ...... 6252 A Korrektur von Leistungsverschiebun- Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ gen bei häuslicher Krankenpflege zwi- DIE GRÜNEN ...... 6253 A schen gesetzlicher Krankenversiche- rung und sozialer Pflegeversicherung Dr. CDU/CSU ...... 6254 B (Pflege-Korrekturgesetz – PKG) Ulrich Kelber SPD ...... 6254 D (Drucksache 15/1493) ...... 6263 C SPD ...... 6263 C Tagesordnungspunkt 10: Christa Stewens, Staatsministerin (Bayern) . . 6265 B Beschlussempfehlung und Bericht des Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 6266 D Ausschusses für Bildung, Forschung und Wolfgang Zöller CDU/CSU ...... 6267 C Technikfolgenabschätzung zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter (Münster) FDP ...... 6268 A VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Tagesordnungspunkt 14: über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Ein- Erste Beratung des von der Bundes- führung eines Volksentscheids über eine regierung eingebrachten Entwurfs eines europäische Verfassung (Tagesordnungs- Gesetzes über die Feststellung des punkt 4 a) ...... 6272 B Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver- mögens für das Jahr 2004 (ERP-Wirt- schaftsplangesetz 2004) Anlage 6 (Drucksache 15/1468) ...... 6268 D Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Nächste Sitzung ...... 6269 C (CDU/CSU) zu den Ab- stimmungen über die Vorschläge zurWahl der Mitglieder der Kommission von Bun- Anlage 1 destag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Tagesord- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6271 A nungspunkt 5 b bis d) ...... 6272 C

Anlage 2 Anlage 7 Erklärung der Abgeordneten Christel Humme Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der (SPD) zur Abstimmung über den Entwurf Beschlussempfehlung und des Berichts:Für eines Dritten Gesetzes zur Änderung des eine erfolgreiche Fortsetzung der gemein- Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und ande- samen Bildungsplanung von Bund und rer Gesetze (Drucksachen 15/1831, 15/1893) Ländern im Rahmen der Bund-Länder- (Tagesordnungspunkt 3 a) ...... 6271 B Kommission für Bildungsplanung und For- schungsförderung (BKL) (Tagesordnungs- punkt 10) Anlage 3 Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 6272 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Rainder Steenblock, Anna Lührmann, Ulrike Höfken, (Berlin), Silke Stokar Anlage 8 von Neuforn, Margareta Wolf (Frankfurt), Ursula Sowa, Grietje Bettin, Michaele Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hustedt, Dr. Ludger Volmer, Hans-Josef Fell, der Beschlussempfehlung und des Berichts: , Undine Kurth (Quedlin- Wirksamen Zivil- und Katastrophen- burg), (), Winfried schutz schaffen (Tagesordnungspunkt 11) Hermann, Peter Hettlich, , Christine Scheel, Marianne Tritz, Gerold Reichenbach SPD ...... 6273 C Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. CDU/CSU ...... 6274 D und Christa Nickels (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Ent- BÜNDNIS 90/ wurf eines Gesetzes zur Änderung des DIE GRÜNEN ...... 6276 D Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung ei- nes Volksentscheids über eine europäische Gisela Piltz FDP ...... 6277 B Verfassung (Tagesordnungspunkt 4 a) . . . . . 6271 B Ute Voigt, Parl. Staatssekretärin BMI ...... 6278 A

Anlage 4 Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung GRÜNEN) zur Abstimmung über den Ent- des Straßenverkehrsgesetzes (Tagesord- wurf eines Gesetzes zur Änderung des nungspunkt 12) Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäi- Heidi Wright SPD ...... 6279 C sche Verfassung (Tagesordnungspunkt 4 a) . 6272 A CDU/CSU ...... 6280 B Peter Hettlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6281 C Anlage 5 Eberhard Otto (Godern) FDP ...... 6282 B Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Hubert Hüppe (CDU/CSU) zur Abstimmung Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW . 6282 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 VII

Anlage 10 Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD ...... 6283 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung CDU/CSU ...... 6285 C des Entwurfs eines Gesetzes über die Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ Feststellung des Wirtschaftsplans des DIE GRÜNEN ...... 6286 B ERP-Sondervermögens für das Jahr 2004 (Tagesordnungspunkt 14) Christoph Hartmann (Homburg) FDP . . . . . 6287 B

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(A) (C) Redetext

72. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozial- gesetzbuch Sitzung ist eröffnet. – Drucksache 15/1672 – Der Kollege Werner Lensing feierte am 30. Oktober Überweisungsvorschlag: seinen 65. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) ich ihm nachträglich sehr herzlich und wünsche alles Gute. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Beifall) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes führten Punkte zu erweitern: – Drucksache 15/1848 – ZP 1 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten (Erste Beratung 71. Sitzung) (B) Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundes- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und (D) verfassungsgerichtsgesetzes des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- – Drucksache 15/1848 – wurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesver- fassungsgerichtsgesetzes Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss – Drucksache 15/1686 – ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und (Erste Beratung 66. Sitzung) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses Notwendigkeit der steuerlichen Entlastung für Familien, Ar- (6. Ausschuss) beitnehmer und Unternehmen bereits zum 1. Januar 2004 zur – Drucksache 15/1887 – Flankierung des sich abzeichnenden Wirtschaftsaufschwungs Berichterstattung: ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Abgeordnete Hermann Bachmaier zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 Erika Simm und 15 auf Drucksache 15/1857 (siehe 71. Sitzung) Dr. Jürgen Gehb Jerzy Montag ZP 4 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), ZP 7 Beratung des Antrags derAbgeordneten Ernst Burgbacher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrach- Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter ten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühver- und der Fraktion der FDP:Arbeitserlaubnisregelung für rentung ausländische Saisonarbeitskräfte bis 2007 verlängern – Drucksache 15/1810 – – Drucksache 15/1713 – (Erste Beratung 70. Sitzung) Überweisungsvorschlag: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Innenausschuss – Drucksache 15/1885 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Berichterstattung: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Abgeordneter Wolfgang Grotthaus Ausschuss für Tourismus b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) ZP 8 Beratung des Antrags derAbgeordneten Ernst Burgbacher, gemäß § 96 der Geschäftsordnung Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter – Drucksache 15/1927 – und der Fraktion der FDP:Arbeitserlaubnis für ausländi- sche Saisonarbeitskräfte auf vier Monate ausweiten Berichterstattung: Abgeordnete Volker Kröning – Drucksache 15/1714 – Hans-Joachim Fuchtel Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Dr. Günter Rexrodt Innenausschuss 6128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Widmann-Mauz, Dr. , weiterer Abge- (C) Landwirtschaft ordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Klarheit über Rentenfinanzen und Alters- ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP sicherung schaffen – Notwendige Reformmaß- nahmen nicht auf die lange Bank schieben Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen der Bundesministerin der Justiz zum Embryonenschutz – Drucksachen 15/1014, 15/1893 – Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Berichterstattung: erforderlich, abgewichen werden. Abgeordnete Erika Lotz Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 20 – Strom- ZP 4 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- rechnungen transparent gestalten – abgesetzt werden. neten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie – Drucksache 15/1810 – den Zusatzpunkt 4 auf: (Erste Beratung 70. Sitzung) 3 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines – Drucksache 15/1885 – Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechs- ten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Berichterstattung: Gesetze Abgeordneter Wolfgang Grotthaus – Drucksache 15/1830 – b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Erste Beratung 70. Sitzung) – Drucksache 15/1927 – – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Berichterstattung: tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Abgeordnete Volker Kröning (B) DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Hans-Joachim Fuchtel (D) Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechs- Anja Hajduk ten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Dr. Günter Rexrodt Gesetze Über die Entwürfe eines Zweiten und eines Dritten – Drucksache 15/1831 – Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialge- setzbuch und anderer Gesetze werden wir später nament- (Erste Beratung 70. Sitzung) lich abstimmen. aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschusses für Gesundheit und Soziale die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Sicherung (13. Ausschuss) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Drucksache 15/1893 – Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort. Berichterstattung: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Abgeordnete Erika Lotz bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Franz Müntefering (SPD): schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung der Gesetzentwürfe zur Alterssiche- – Drucksache 15/1900 – rung im Jahre 2004 wird di e erste Phase der Agenda 2010 abgeschlossen. Wir haben seit dem 14. März, als der Berichterstattung: Bundeskanzler hier die Agenda 2010 vorgestellt hat, in Abgeordnete Dr. Michael Luther der Koalition, in unseren Parteien und in der politischen Öffentlichkeit in Deutschland eine ungewöhnlich inten- Waltraud Lehn sive Diskussion über die Situation im Lande und über die Anja Hajduk Zukunftsfähigkeit des Landes überhaupt geführt. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir haben eine Reihe von Reformen auf den Weg ge- richts des Ausschusses für Gesundheit und So- bracht: das Gesetz zur Reform des Arbeitsmarktes, die ziale Sicherung (13. Ausschuss) zu dem Antrag Reform der Handwerksordnung, die Modernisierung der Abgeordneten Andreas Storm, Annetteder Bundesanstalt für Arbeit, die Zusammenlegung von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6129

Franz Müntefering (A) Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die Gesundheitsre- „Die Union darf nicht nur blockieren, sie muss mit dazu (C) form – sie ist schon beschlossen –, die Gemeindefinanz- beitragen, dass das Land zu besseren Entscheidungen reform, zwei Gesetze zur Alterssicherung im Jahr 2004 kommt als bisher“ – Rüdiger von Voss usw. – wir behandeln sie heute in zweiter und dritter Lesung –, den Subventionsabbau und das Vorziehen der Steuer- Sie haben viele Male angedeutet, dass Sie sich bewe- reform von 2005 auf 2004. gen können. Jetzt aber stehen wir vor einer konkreten Entscheidung. Diese Koalition hat alle Gesetze, die wir Unsere Koalition hat in einer anstrengenden Zeit mit brauchen, auf den Tisch gelegt. Diese stehen jetzt zur heftigen Debatten und Demonstrationen in diesem Land, Beratung an. Eine der entscheidenden Fragen ist, ob wir mit denen wir uns auseinander zu setzen haben, das ge- es schaffen, dem Wachstum in Deutschland für das leistet, was wir versprochen haben: Wir haben uns Ge- nächste Jahr Rückenwind zu geben. Jeder Tag, der des- danken gemacht und Gesetze auf den Weg gebracht, die wegen verloren geht, weil Sie sich weigern, klar zu sa- den Sozialstaat in Deutschland in seiner Substanz dauer- gen: „Jawohl, wir wollen, dass die Dinge vorankom- haft sichern und Wohlstand in unserem Land heute, mor- men!“, geht auf Ihr Konto. gen und übermorgen ermöglichen. Das sind die Ziele dieser großen Anstrengungen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist der Gipfel! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben zwölf Monate verschlafen!) DIE GRÜNEN) Wenn es in Deutschland nicht vorangeht, geht das auf Als der Bundeskanzler am 14. März die Agenda 2010 Ihr Konto. Das muss heute hier auch noch einmal in aller vorgestellt hat, fragte die Opposition: Was mag dennDeutlichkeit unterstrichen werden. daraus werden? Wir sind sehr konkret geworden. Kon- kreter als mit Gesetzen kann man nicht vorgehen. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetze liegen dem Bundesrat nun vor. Heute werden DIE GRÜNEN) auch die Gesetze zur Alterssicherung dem Bundesrat zu- Meine dringende Bitte an Sie, Frau Merkel, lautet: Sor- geleitet; einiges davon wird später in den Vermittlungs- gen Sie dafür, dass in den nächsten Tagen geklärt wird, ausschuss gehen. was Sie wirklich wollen. Die Frage ist: Was hat die Opposition in der Zeit seit Wir alle haben heute Morgen wieder hören können, dem 14. März gemacht? Sie hat sich von Anfang an an irgendwann um Weihnachten bzw. Ende des Jahres falle den Diskussionen beteiligt, aber sie hat es verpasst, da- die Entscheidung. bei konkret zu werden. In SachenGesundheitsreform (B) haben wir es geschafft, zusammenzuarbeiten. Es werden (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wissen Sie eigent- (D) viele Dinge zu dem entsprechenden Gesetz, auch drau- lich, was auf der Tagesordnung steht?) ßen, gesagt. Ich bleibe dabei: Es war vernünftig, dass wir im Deutschen Bundestag dafür gesorgt haben, dass die- – Das hat ganz eng damit zu tun, Herr Kauder. – Wenn ses Gesetz zur Gesundheitsreform beschlossen wird. Sie wollen, dass es in diesem Lande vorangeht, wenn Sie wollen, dass die Menschen Vertrauen in unsere Alterssi- Die weiter gehende Frage an Sie, Frau Merkel, und an cherungssysteme und in die Zukunft unseres Landes ha- die Opposition überhaupt lautet: Was ist Ihre Position zu ben, dann müssen Sie den anderen Reformvorhaben, die ich hier eben noch einmal erwähnt habe? Was für eine Debatte haben Sie in (Volker Kauder [CDU/CSU]: Müssen Sie der Zeit seit dem 14. März eigentlich geführt? Weshalb weg!) sind Sie bis zum heutigen Tag nicht in der Lage, zu sa- mit uns dafür sorgen, dass dem aufkommenden Wachs- gen: Jawohl, das Vorziehen der Steuerreform ist sinnvoll tum – entsprechende Botschaften erreichen uns ja – Im- für dieses Land und wir, die Opposition, unterstützen es? pulse verliehen werden. Wir müssen hier für den not- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wendigen Rückenwind sorgen. Deshalb richte ich noch DIE GRÜNEN) einmal meine dringende Bitte an Sie, sowohl bei der Ge- meindefinanzreform als auch beim Vorziehen der Steu- Wieso muss eigentlich dieses Land darauf warten, bis erreform zu zeigen, dass Sie handlungsfähig sind. Sie Sie sich in den nächsten Wochen in der eigenen Fraktion, sind es bisher nicht. Sie haben die Wochen und die Mo- vielleicht sogar noch mit der FDP, darüber einig sind, ob nate seit dem 14. März verschlafen und vertan. Sie als Sie jetzt wirklich wollen oder vielleicht doch nicht soOpposition sind nicht handlungsfähig gewesen. sehr wollen, also sich für Ja oder Nein entscheiden. Dass Sie wollen, belegen eine ganze Reihe von Zitaten: „Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sagen genau wie andere auch Ja zu einem Vorziehen der DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Steuerreform“ – Angela Merkel am 16. Juli. „Wir halten Andreas Storm [CDU/CSU]: Da muss er sel- das Vorziehen der Steuerreform für eine gute Möglich- ber lachen!) keit, Impulse für die Wirtschaft zu setzen“ – Edmund Stoiber am 24. August. „Es wäre falsch, jetzt der Regie- – Dass Sie sich über sich selbst freuen, ist ja ganz in rung in den Arm zu fallen“ – wiederum Edmund Stoiber. Ordnung. Nur, die Opposition trägt über den Bundesrat Mitverantwortung für das, was in diesem Lande passiert, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Reden Sie mal und dafür, ob wir die Dinge voranbringen können, Ja zum Thema!) oder Nein. 6130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Franz Müntefering (A) Ich sage Ihnen noch einmal: Wir stehen heute vor Bei all dem, was wir heute zur Alterssicherung be-(C) dem Abschluss der ersten Phase der Gesetzgebung zur schließen, muss trotzdem klar sein: Der entscheidende Agenda 2010. Wir als Koalition haben alles, was ganz Impuls für Wachstum im nächsten Jahr wird sein, denen konkret erforderlich ist, auf den Weg gebracht. Sie haben in diesem Lande Mut zu machen, die die Chancen er- bisher keine Antworten gegeben. Sie sind nun an dergreifen wollen. Wir müssen im nächsten Jahr deutlich Reihe. Jeder Tag, der vorübergeht, ohne dass etwas ge- über die Zahlen dieses Jahres, des vergangenen und des schieht, geht zu Ihren Lasten. vorvergangenen Jahres hinauskommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Treten Sie zu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben Sie rück! Dann schaffen wir das!) damals auch gesagt!) Heute steht speziell das Thema Alterssicherung auf Wir müssen mit Anstrengungen auf nationaler, aber auch der Tagesordnung. Wir werden zu den beiden Gesetzen, auf internationaler Ebene das Wachstum verbessern und um die es hier geht, und die Auswirkungen, die sie im mit der wirtschaftlichen Entwicklung vorankommen. So nächsten Jahr haben werden, hier noch einiges im Ein- können wir dafür sorgen, dass die sozialen Sicherungs- zelnen ausführen. Ich will trotzdem dazu eine Vorbemer- systeme neue und zusätzliche Stabilität gewinnen. kung machen, weil ich glaube, dass wir alle in diesem Land bezüglich derdemographischen Entwicklung Noch einmal: Es kommt darauf an, dass wir jetzt eine Tatsachen zur Kenntnis nehmen sollten, die selten be- handlungsfähige Opposition in Deutschland haben, die nannt werden. die Entscheidungen nicht verschleppt. Wir behandeln in diesem Land das Thema demogra- (Zurufe von der CDU/CSU – Wolfgang Zöller phische Entwicklung ganz überwiegend so, als ob es da- [CDU/CSU]: Ihr regiert doch!) bei um irgendeine Krankheit ginge. Die Veränderungen – Es muss trotzdem gesagt werden. Sie werden es in den bei der demographischen Entwicklung aber, also die Tat- nächsten Tagen und Wochen noch öfter hören; denn wir sache, dass die Menschen länger leben, und zwar über- werden es jeden Tag wiederholen. wiegend in Gesundheit, sind Zeichen eines großen Fort- schritts in diesem Land. Deshalb sollten wir, wenn wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über diese Fragen sprechen, nicht so tun, als ob die Tat- DIE GRÜNEN) sache, dass wir sehr viel länger leben und Rente bekom- men, die Gesellschaft beschwere und uns Sorgen berei- Wir haben seit dem 14. März all das, was konkret ge- ten und Angst machen müsse. tan werden musste, getan. Die Gesetze sind beschlossen. Jetzt ist es an der Opposition, Frau Merkel, dafür zu sor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) gen, dass wir schnell zu Entscheidungen kommen, damit (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in Deutschland wieder Zuversicht in Bezug auf Wachs- tum und Wohlstandsmehrung einkehrt. Sie stehen dabei Ich glaube, dass diese Entwicklung, die mit Wohl- in der Mitverantwortung. stand, Hygiene und unserenmedizinischen Einrichtun- gen und Angeboten zusammenhängt, ein großer Segen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ist. Das sollte in unserer Politik auch zum Ausdruck ge- bracht werden. Die Menschen müssen sich, was die Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kunftsfähigkeit dieses Landes angeht, keine Sorgen ma- DIE GRÜNEN) chen. Das Vorgehen einiger, die in den Menschen Ängste Präsident Wolfgang Thierse: und Sorgen bezüglich der Zukunftsfähigkeit dieses Lan- Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- des wecken, grenzt manchmal an Unverantwortlichkeit. gin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion. Ich bin sicher, dass, wenn wir die Gesetze so oder so (Ute Kumpf [SPD]: Jetzt aber etwas Neues, ähnlich, wie wir sie auf den Tisch gelegt haben, be- etwas Nettes!) schließen, Deutschland auch weiterhin ein hohes Wohl- standsniveau haben wird und dass auch die älteren Menschen in Wohlstand leben werden. Wenn wir da- Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): rüber hinaus dafür sorgen, dass Wachstum und neue Im- Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering, man muss pulse kommen, können und dürfen wir und die kommen- schon ziemlich tief in der Patsche sitzen, um den Blick den Generationen davon ausgehen, dass unser Land wie für die Realität in dieser Weise zu verlieren. jetzt auch in Zukunft ein Wohlstandsland bleiben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass wir heute fünf, sechs oder sieben Jahre länger Erstens. Sie führen in der Rente zum wiederholten Rente beziehen als unsere Vätergeneration und dass wir Male eine Notoperation durch. Angesichts der Ein- – man muss sagen: leider – sehr viel früher aus dem Be- schnitte, die Sie heute machen, wissen die Menschen rufsleben ausscheiden, als das bei den Generationen da- überhaupt nicht mehr, was sie morgen erwartet. Sie len- vor der Fall gewesen ist, muss zu Konsequenzen führen. ken vom Thema ab und beschimpfen unsinnigerweise Über einen Teil dieser Konsequenzen für das Jahr 2004 eine Opposition, sprechen wir heute. Wir haben diese in unseren beiden Gesetzen berücksichtigt, die wir heute in zweiter und (Ute Kumpf [SPD]: Es beschimpft Sie dritter Lesung beraten. niemand!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6131

Dr. Angela Merkel (A) die Sie im Bundesrat brauchen, damit wir in Deutsch- Präsident Wolfgang Thierse: (C) land vernünftige Regelungen bekommen. Kollege Müntefering, Sie haben die Gelegenheit zur Reaktion. Sie aber versuchen, vom Thema Rente abzulenken, weil Sie wissen, dass Millionen Rentner von dieser Bun- desregierung enttäuscht sind; denn sie haben nicht er- Franz Müntefering (SPD): wartet, dass sie Nullrunde auf Nullrunde hinnehmen Frau Merkel, in Bezug auf die Rentenpolitik und die müssen. Sie, Herr Müntefering, haben es nach fünf Jah- Rentenversicherungsbeiträge können wir gern einmal ren nicht geschafft, ein langfristig angelegtes und tragfä- zurückblicken: Als wir die Regierung übernommen higes Rentenkonzept vorzulegen. haben, lagen dieRentenversicherungsbeiträge bei 20,3 Prozent. Wir haben die Beiträge gesenkt, nicht Sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zweitens. Herr Müntefering, Sie sagen, Sie hätten al- DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU les vorgelegt, was wir in Deutschland brauchten. Da und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: kann man nur lachen. Ich bitte Sie eindringlich, sich klar Ökosteuer, Herr Müntefering! 18 Milliarden zu machen: Wenn Sie die jetzt anstehenden Verhandlun- !) gen im Vermittlungsausschuss in der Art und Weise füh- ren wollen, wie Sie es im Augenblick versuchen – Sie Senkung der Lohnnebenkosten, Impulse für die Wirt- wollen unsere weiter gehenden Vorschläge in Bezug auf schaft, Ökosteuer, die dabei eine wichtige Rolle gespielt den ersten Arbeitsmarkt nicht in die Diskussion aufneh- hat, gegen die Sie aber gekämpft haben – haben Sie das men; ich nenne zum Beispiel betriebliche Bündnisse für alles vergessen? Arbeit –, dann können Sie nicht erwarten, dass dies zu (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind einem konstruktiven Verhandlungsklima führt. 1,8 Beitragspunkte!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben die Rentenversicherungsbeiträge in den ver- Wir brauchen ein Klima, das von Gegenseitigkeit ge- gangenen Jahren systematisch gesenkt und entschieden, prägt ist. Gegenseitigkeit, Herr Müntefering, beruht da- dass sie – zum Zweck der Senkung der Lohnnebenkos- rauf – so haben Sie es beim Gesundheitskompromiss ge- ten in diesem Lande – auch im nächsten Jahr nicht an- macht –, dass Sie bereit nd, si auch für uns wichtige steigen. Themen, die Ihnen nicht passen, auf die Tagesordnung zu Alle, die so sprechen wie Sie, Frau Merkel, müssen setzen, und dass Sie uns ein Mitspracherecht einräumen. auch eine Alternative aufzeigen, was man angesichts der Bei der kleinen Handwerksnovelle weigern Sie sich seit Haushaltslage 2004 tun könnte: Entweder müssen die (B) vielen Wochen, einen vernünftigen Vorschlag von uns (D) Rentenversicherungsbeiträge angehoben werden – in aufzunehmen und eine Verbindung zur großen Hand- diesem Fall müssten die Arbeitnehmer und die Arbeitge- werksnovelle herzustellen. Das ist kein Zeichen von ber bezahlen, denn die Lohnnebenkosten würden stei- Kooperationsbereitschaft und schon gar kein Zeichen gen – oder Sie müssen zusätzliche Schulden machen. dafür, dass Sie vernünftig mit uns handeln wollen. Dieses Verhalten werden wir weiter anprangern. Sie dürfen sich Man kann den Rentnerinnen und Rentnern aber auch also nicht wundern, wenn das Klima vergiftet ist. klipp und klar sagen: Wir können in diesem Lande nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das ausgeben, was wir gemeinsam erwirtschaften. Das ist eine ehrliche Sprache. Sie ist nicht immer leicht zu Drittens. Eine Koalition, die sich so oft der Nachhal- vermitteln – dessen sind wir uns bewusst –, sie ist aber tigkeit und dem Wohl zukünftiger Generationen ver-ehrlicher als das, was Sie machen: schrieben hat, müsste doch wenigstens einen Ansatz von Schamgefühl zeigen angesichts der Tatsache, dass trotz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der mehr als verdoppeltenNeuverschuldung – inzwi- DIE GRÜNEN) schen hat sie eine Höhe von 44 Milliarden Euro er-Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, es gäbe eine reicht – die vorgezogene Steuerreform zu 90 Prozent auf andere Lösung, und lehnen alles ab. Auch Sie wollen na- Pump finanziert werden soll. Wie wollen Sie das vor un- türlich nicht, dass die Rentenversicherungsbeiträge stei- seren Kindern und den Enkeln verantworten? Ich kann gen oder dass zusätzliche Schulden gemacht werden. das so nicht verantworten. Deshalb werden wir einem Ebenso wollen Sie nicht, dass die Renten gekürzt wer- Vorziehen der Steuerreform auf Pump auf gar keinenden. Dies zu erklären und auf einen vernünftigen Nenner Fall zustimmen. Das werden die Menschen in Deutsch- zu bringen wird Ihnen nicht gelingen. Das wird die heu- land auch verstehen. tige Debatte zeigen. Das heißt nicht, dass wir uns nicht konstruktiv an den Zum Zweiten, zumVorziehen der Steuerreform, Verhandlungen beteiligen würden. Aber Ihr Nachhaltig- Frau Merkel: Wir sind uns alle einig, dass das Wachs- keitsanspruch passt mit neuen Schulden von tum, über das, auch in Bezug auf das nächste Jahr, zu gering 50 Milliarden Euro mit Sicherheit nicht zusammen. Das ist, zusätzliche Impulse braucht. Das kann durch eine wissen Sie und das werden wir Ihnen immer wieder sagen. deutliche Stärkung der Investitionskraft der Städte und Herzlichen Dank. Gemeinden geschehen, wie wir sie mit unserer Gemein- definanzreform beabsichtigen. Impulse können auch ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geben werden, wenn zusätzlich 23 Milliarden Euro in 6132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Franz Müntefering (A) die Taschen der Privaten sowie der kleinen und mittleren dass all diese Maßnahmen nicht ausreichen, dass Sie viel (C) Unternehmen fließen. Die kleinen und mittleren Unter- zu kurz springen und Sie nach einem Jahr wieder korri- nehmen – die Personengesellschaften, die Einkommen- gieren müssen. steuer zahlen – werden von dem Vorziehen der Steuerre- form mit 7 bis 8 Milliarden Euro profitieren. Wenn auch Ein Jahr davor haben Sie hier ein Jahrhundertwerk Sie das für richtig halten, warum sagen Sie dann nicht vorgestellt. Das Jahrhundert dauerte genau 24 Monate. klipp und klar heute hier oder in einem Spitzengespräch, Die Riester-Reform ist an Haupt und Gliedern geschei- das angeboten worden ist, Sie seien bereit mitzumachen? tert. Sie stehen vor einem Scherbenhaufen. Das wäre für das Land und die Wirtschaft eine wichtige Wiederum ein Jahr zuvor haben Sie die Rentner nicht Botschaft. an der allgemeinen Einkommensentwicklung beteiligt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und ihnen willkürlich nicht einmal einen Kaufkraftaus- DIE GRÜNEN) gleich gewährt. Wiederum ein Jahr zuvor haben Sie die zielführende Rentenreform der Kohl-Regierung zurück- Wenn auch Sie das im Prinzip wollen – Sie haben jagenommen, wofür sich der Bundeskanzler entschuldigt heute sowohl dafür als auch dagegen gesprochen –, dann hat. Vor wenigen Monaten hat er eingeräumt, dass diese geben Sie das zu Protokoll, damit die ganze Republik es Zurücknahme ein riesiger Fehler war. erfährt und alle, die Unternehmen und die Privaten, sich auf die Situation im nächsten Jahr einstellen können. Die Minister haben in diesen fünf Jahren gewechselt. Einer ist gleich geblieben: der Bundeskanzler. Er hat in Das wird in den Wochen bis zum Jahresende noch sehr den letzten fünf Jahren in der Rentenpolitik mehr Fehler wichtig sein. Wenn Sie jetzt nicht zustimmen, werden gemacht als viele Menschen in ihrem ganzen Leben. Das wir sechs bis acht Wochen verlieren, bevor wir Ende des ist das Ergebnis Ihrer Rentenpolitik. Jahres möglicherweise doch einen gemeinsamen Weg finden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Also noch einmal meine dringliche Bitte an Sie in der Nicht wir, nicht die Rentenversicherungsträger, nicht Opposition, sich zu bewegen und dafür zu sorgen, dass die Gewerkschaften, nicht die Sozialverbände lösen die, die noch gegen den Strich zu bürsten versuchen, ein- Angst und Verunsicherung aus. Angst und Verunsiche- geholt werden. Nehmen Sie das Kommando in dierung bei den Rentnern haben ausschließlich Sie durch Hand! Sie haben ja die Chance, das Kommando zu über- Ihre falsche Politik ausgelöst. Das ist die Wahrheit. nehmen. Sie haben schließlich sechs Mitglieder Ihrer Fraktion im Vermittlungsausschuss und brauchen nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf Ihre Ministerpräsidenten zu hören. Sie können das Die deutsche Rentenversicherung hat eine lange und (B) aus eigener Kraft aus Ihrer Fraktion heraus machen. Ver- wechselvolle Geschichte. Die moderne Rentenversiche- (D) suchen Sie es einmal! rung ist im Jahre 1957 lohnbezogen und dynamisch ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaffen worden. Das heißt, die Rente stellt kein Almo- sen dar, sondern ist die Gegenleistung im Alter für eine DIE GRÜNEN) lebenslange Arbeitsleistung. Die Rentner und Rentnerin- nen haben durch die von uns 1957 geschaffene umlagen- Präsident Wolfgang Thierse: finanzierte Rentenversicherung die Garantie, dass sie an Ich erteile das Wort Kollegen Horst Seehofer, CDU/ der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben. CSU-Fraktion. Die deutsche Rentenversicherung hat viele Umwäl- zungen und auch manche Krise überstanden. Ich erin- Horst Seehofer (CDU/CSU): nere daran, dass Millionen von Flüchtlingen und Vertrie- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undbenen in die Rentenversicherung aufgenommen wurden Herren! Herr Müntefering, das war gerade ein sehr er- und deren Lebensabend somit abgesichert wurde. Ich er- bärmlicher und durchsichtiger Versuch, von den eigentli- innere daran, dass Altersarmut in Deutschland weitge- chen Schwierigkeiten Ihrer Politik abzulenken. hend überwunden ist. Etwa 1,5 Prozent der älteren Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- völkerung sind auf Sozialhilfe angewiesen; das ist nicht neten der FDP) einmal die Hälfte derjenigen aus der aktiven Bevölke- rung, die Sozialhilfe erhalten. Ich erinnere an den se- Denn das, was Sie seit fünf Jahren in der Rentenpolitik, gensreichen Dienst der Rentenversicherung bei der um die es heute geht, abliefern, ist doch ein endlosesSchaffung der Sozialunion Deutschlands im Rahmen der Trauerspiel. deutschen Einheit. (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Viele Inflationen und Wirtschaftskrisen sind über- NEN]: Norbert Blüm!) wunden worden. Das zeigt, wie leistungsfähig und wie robust dieses System ist. Ihre falsche Politik hat nun zum Wir sprechen heute über eine Notoperation und zum ersten Mal dazu beigetragen, dass die Rentenfinanzen ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik total zerrüttet sind und dass das Vertrauen der Menschen Deutschland über reale Rentenkürzungen. Exakt vorin die Rentenversicherung zerstört worden ist. Das ist einem Jahr haben wir hier über Beitragserhöhungen in die Bilanz Ihrer Politik. der Rentenversicherung, über den Griff in die Rentenre- serve und über die Erhöhung der Beitragsbemessungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- grenze debattiert. Wir haben Ihnen schon damals gesagt, neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6133

Horst Seehofer (A) Meine Damen und Herren, ich möchte an einigenmehr glaubt. Sie haben eine ganz tiefe Glaubwürdig-(C) Punkten darstellen, was jetzt notwendig wäre, um aus keits- und Vertrauenskrise geschaffen. dieser ständigen Flickschusterei herauszukommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der erste Punkt: Wir sind seit Jahren nur damit be- Das Dritte: Reparieren Sie nicht immer nur! Sie schäftigt, die Fehler, die Sie von Jahr zu Jahr in der Ren- schließen immer nur Lücken und reparieren; aber Sie ge- tenpolitik begangen haben, zu korrigieren. Ich prophe- hen nicht an die eigentliche Ursachenbekämpfung heran. zeie Ihnen: Im November nächsten Jahres werden wir Es beginnt mit der Rentenformel. Seit fünf Jahren erle- wieder über ein Rentenloch, über das des Jahres 2005, ben wir das Spiel, dass Sie in jedem Jahr die Rentenan- sprechen. Die Rentenversicherungsträger haben passung nach einer anderen Rentenformel vornehmen. Recht: Wenn Sie Ihre Politik nicht fundamental ändern, Wer soll Ihnen noch glauben? wird die derzeitige Entwicklung zwei, drei Jahre so wei- tergehen. Das verunsichert die Leute. (Peter Dreßen [SPD]: Auch das stimmt nicht!) Deshalb fordere ich an erster Stelle: Sagen Sie der Die Rentenformel muss eine Vertrauensformel sein. Bevölkerung endlich die Wahrheit! Frau Ministerin, ich Machen Sie Schluss mit der Willkür, von Jahr zu Jahr zu fordere Sie auf: Stoppen Sie die Renteninformationen entscheiden, in welcher Form die Rentner an der allge- der Rentenversicherungsträger, die den Menschen ein meinen Einkommensentwicklung teilhaben! Sie müssen völlig falsches Bild davon geben, wie die Renten in der den Rentnern klipp und klar sagen, nach welchen Regeln Zukunft aussehen! die Renten an die allgemeine Einkommensentwicklung angepasst werden. Schluss mit der Willkür! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie beschließen hier Nullrunden, die aber in Wahrheit neten der FDP) Rentenkürzungen sind. Wir haben Mitte der 90er-Jahre einen Vorschlag ge- ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- macht – Herr Müntefering, Sie haben nach Alternativen NEN]: Das haben Sie nie gemacht?) gefragt – und ihn gegen Ihren erbitterten Widerstand ins Gleichzeitig erlauben Sie, dass die Rentenversicherungs- Gesetz geschrieben. Wir hätten heute zwar nicht alle, träger die Menschen darüber informieren, dass ihreaber viele Probleme der Rentenversicherung gelöst, Rente im Jahre 2020 oder 2030 auf eine Höhe ansteigen wenn Sie damals nicht wider besseres Wissen, nur um wird, die man nur als Fantasie oder Illusion bezeichnen Ihres parteipolitischen Vorteils willen und zum Schaden kann. Wie wollen Sie die Menschen in Deutschland zu des Landes den Demographiefaktor bekämpft und abge- schafft hätten. (B) mehr Vorsorge bewegen, wenn Sie ihnen gleichzeitig die (D) Auskunft geben: Alles istnicht so schlimm, es wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla keine Senkung des Rentenniveaus geben? Schmidt, Bundesministerin: 21,3 Prozent!) Das Erste und Wichtigste ist daher, dass diese Regie- Frau Ministerin, der erste Grundsatz muss sein und rung zu Wahrheit und Klarheit in der Rentenpolitik zu- bleiben, dass die Rentenanpassungen der allgemeinen rückkehrt und dass den Menschen reiner Wein einge-Einkommensentwicklung folgen. Der zweite Grundsatz schenkt wird. muss angesichts der veränderten demographischen Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wicklung sein, dass die Lasten dieser demographischen neten der FDP) Entwicklung auch von der älteren Bevölkerung und nicht nur von der jungen Generation getragen werden. Das Zweite ist: Kein Mensch weiß mehr, wo ihm in Das ist der Effekt des demographischen Faktors. der Rentenpolitik der Kopf steht. Es herrscht totale Ver- unsicherung. Heute verabschieden Sie zwei Gesetze und Sie haben darauf hingewiesen, dass dieRentenlauf- kündigen gleichzeitig die Rentenbesteuerung, die Or- zeit früher etwa zehn Jahre betrug. Jetzt beträgt sie im ganisationsreform der Rentenversicherung und mittel- Durchschnitt 16 Jahre; das sind 60 Prozent mehr. Das ist und langfristige Maßnahmen an. Trotzdem müssen Sie eine gewaltige Wertsteigerung in der gesetzlichen Ren- im nächsten Jahr wieder Notoperationen vornehmen. tenversicherung. Ich glaube, wir müssen den Menschen sagen: Wenn sich die Rentenlaufzeiten verlängern, dann (Peter Dreßen [SPD]: Sie übertreiben jetzt!) müssen wir das, was sich die Menschen in ihrem aktiven Arbeitsleben erarbeitet haben, auf eine längere Zeit ver- Und da wundern Sie sich, dass die Menschen nicht mehr teilen. Das hat zur Folge, dass die jährlichen Rentenan- durchblicken? passungen etwas schmaler ausfallen, Legen Sie endlich – wir fordern das seit Jahren – eine (Franz Müntefering [SPD]: Ah, ja!) ganzheitliche Rentenreform vor, die die aktuellen, aber auch die langfristigen Probleme löst, damit die Men-dass es aber nicht zu Rentenkürzungen, wie Sie sie vor- schen wissen, wohin die Reise geht! Die Menschen sind nehmen, kommt. Hätten Sie den demographischen Fak- zur Erneuerung und auch zu Opfern bereit. Aber wenn tor nicht abgeschafft, hätte es in den letzten Jahren eine sie jedes Jahr von Ihnen erneut überfallen werden und Rentenanpassung gegeben, die etwas flacher ausgefallen wenn ihnen jedes Jahr neues Geld aus der Tasche gezo- wäre; aber Sie hätten die Notoperation der Rentenkür- gen wird, obwohl Sie das Gegenteil versprechen, dann zung jetzt und in den nächsten Jahren vermieden. Das dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen kein Mensch wäre der Erfolg gewesen. 6134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Horst Seehofer (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das sage ich nur, damit nicht der Eindruck entsteht, dass (C) neten der FDP) die Anrechnung der Ausbildungszeiten von den Bei- tragszahlern finanziert wird. Dies wird aus Steuergeldern Wir brauchen so schnell wie möglich, am besten finanziert. heute, eine Rentenformel, die wieder Vertrauen und ver- lässliche Grundlagen für die jährlichen Rentenanpassun- (Ute Kumpf [SPD]: Auch mit der Ökosteuer, gen schafft und die die Lasten der längeren Lebenser- Herr Seehofer!) wartung und der veränderten Demographie gerecht auf Jung und Alt verteilt. Das war auch der Inhalt des Demo- Wenn Sie dem Gedanken näher treten, eine Änderung graphiefaktors. bei der Anrechnung derAusbildungszeiten vorzuneh- men, rate ich Ihnen dringend, bisher geschaffene Ver- Ein zweiter Punkt: Wir müssen dafür sorgen, dass die trauenstatbestände nicht außer Acht zu lassen. Die Strei- Lebensarbeitszeit nicht über das 65. Lebensjahr hinaus chung der Anrechnung n vo drei Ausbildungsjahren verlängert wird. Den Sinn dessen können Sie der Bevöl- bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Lebenspla- kerung angesichts der jetzigen Situation, dass die Men- nung der Menschen. schen, die über 50 Jahre alt sind und entlassen werden, kaum Wiederbeschäftigungschancen haben, schlecht er- (Peter Dreßen [SPD]: Das habt ihr auch schon klären. gemacht! Ihr habt von 13 auf drei Jahre ge- kürzt! Alles schon da gewesen!) (Franz Müntefering [SPD]: Welch Beifall bei der CDU/CSU-Fraktion, Herr Seehofer!) Die Menschen, die heute bereits älter sind, können sich auf eine solche Veränderung nicht mehr einstellen. Wenn Jetzt ist es angezeigt, die Beschäftigungschancen für drei Ausbildungsjahre nicht mehr angerechnet werden, die älteren Arbeitnehmer über 50 zu verbessern. Hierbedeutet das rund 5 Prozent weniger Rente. Deshalb könnten Sie einiges mehr tun. Es gab im Bundeskanzler- müssen solche Veränderungen so langfristig angelegt amt über viele Monate zahlreiche Gespräche über Bünd- werden, dass diejenigen, die davon betroffen sind, die nisse für Arbeit. Hier hätten Sie mit den Gewerkschaften Chance haben, sich durch eigene Vorsorge einen Aus- und Arbeitgebern darüber reden können, das tatsächliche gleich für diesen staatlichen Eingriff zu verschaffen. Das Renteneintrittsalter allmählich wieder an das gesetzliche ist ganz wichtig. Renteneintrittsalter heranzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erika Lotz [SPD]: So wie Sie das gemacht ha- Der dritte Punkt betrifft die Stärkung der Beitragsbe- ben!) zogenheit der Rente. Wir kämpfen seit Jahren für die (B) (D) These, dass jemand, der lange berufstätig gewesen ist Frau Schmidt, ich appelliere an Sie, diesen Punkt be- und Beiträge gezahlt hat, anders behandelt werden muss sonders mit Blick auf den Vertrauensschutz noch einmal zu überdenken. Man kann daran denken, dies in 20 oder (Ute Kumpf [SPD]: Was machen dann die 30 Jahren zu verändern und das heute den Menschen zu Frauen?) sagen, damit sie eine Chance haben, sich darauf einzu- als die Menschen mit kürzeren Beitragszeiten. Deshalb stellen. Sie können aber nicht überfallartig sagen: Die bleiben wir bei unserer Forderung, die Bedeutung der Bei- Anrechnung der Ausbildungszeiten wird in den nächsten tragszeit zu stärken. Wer 45 Jahre lang Beiträge in die ge- vier Jahren so verändert, dass die Anrechnung ab dem setzliche Rentenversicherung gezahlt hat, der sollte ohne Jahre 2009 nicht mehr gilt. Darauf können sich die Men- Abschläge in Rente gehen können. Wir müssen mehr nach schen nicht mehr entsprechend einstellen. der Beitragszeit als nach dem Lebensalter gehen. Der vierte Punkt: Ich halte es für ganz wichtig, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute wir mit dem Grundsatz Ernst machen, der nächsten Ge- Kumpf [SPD]: Wo bleiben denn dann die neration keine höheren Beitragslasten zuzumuten als der Frauen?) heutigen Generation. – Damit die Frauen nicht benachteiligt sind, müssen bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Berechnung der Beitragszeit auch Zeiten der Erzie- Wir können doch nicht heute darüber debattieren, dass hung von Kindern hinreichend berücksichtigt werden. die Rentenversicherungsbeiträge auf keinen Fall über (Erika Lotz [SPD]: Wo kommt das Geld her?) 20 Prozent steigen dürfen, aber mit einer Selbstverständ- lichkeit annehmen, dass die nächste Generation in 10 Man kann darüber reden, wie man beitragsfreie Zei- oder 20 Jahren Beitragssätze von 22 oder 23 Prozent tra- ten und Ausbildungszeiten behandelt. Man muss aber gen muss. der Öffentlichkeit sagen, Ich halte das auch aus einem weiteren Grund für un- (Erika Lotz [SPD]: Populismus pur!) geheuer wichtig: Je höher die Beiträge für die gesetzli- dass die Anrechnung beitragsfreier Zeiten nicht durch chen Sozialversicherungssysteme sind, desto geringer die Beitragszahler, sondern durch den Bundeszuschuss wird für weite Kreise der Bevölkerung die Möglichkeit, über Steuermittel von der gesamten Gesellschaft finan- private oder betriebliche Vorsorge zu treffen. ziert wird. (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Deshalb las- (Ute Kumpf [SPD]: Die Ökosteuer!) sen wir die Beiträge stabil!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6135

Horst Seehofer (A) Wenn die Beiträge auf 22, 23 oder 24 Prozent steigen, (Ute Kumpf [SPD]: Was haben Sie in (C) können wir doch von einem Durchschnittsverdiener oder 16 Jahren gemacht?) jemandem mit einem unterdurchschnittlichen Verdienst – Auch deshalb haben wir in den 80er-Jahren zum Bei- oder einer Familie nicht ernsthaft erwarten, dass sie dann spiel die Kindererziehungszeiten eingeführt. noch in der Lage sind, zusätzlich 4 Prozent ihres verfüg- baren Einkommens für den Aufbau einer Privatrente Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um für eine stabile aufzubringen. Alterssicherung zu sorgen: zum einen durch die Investi- tion in Humankapital – die Kinder von heute sind die Deshalb gilt: Wer es mit dem Aufbau einer privaten Beitragszahler von morgen – Vorsorge wirklich ernst meint, muss dafür sorgen, dass die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge in Schach (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE und Proportionen bleiben und dass mit dem Grundsatz GRÜNEN]: Kinderbetreuung in Ganztags- Ernst gemacht wird, schulen! – Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Wer hat denn die Riester-Rente eingeführt?) (Ute Kumpf [SPD]: Das machen wir doch! – Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Wir halten die und zum anderen durch die Investition in Realkapital; Beiträge stabil!) denn nur indem man heute spart und vorsorgt, bekommt man in der Zukunft ergänzend zur gesetzlichen Rente der nächsten Generation keine höheren Sozialversiche- eine Alterssicherung. rungsbeiträge zuzumuten als der jetzigen. Das ist auch für die Förderung der privaten Vorsorge ganz wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu einer modernen Sozialpolitik und Absicherung ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hört nicht, dass der Staat vorschreibt, wie sich die Men- Lassen Sie mich nun den aus meiner Sicht wichtigs- schen zu verhalten haben. Der Staat hat vielmehr die ten Punkt ansprechen, wie man die Ursachen bekämpfen Rahmenbedingungen so zu setzen, dass beides in der Zu- kann. kunft verstärkt gemacht wird. (Ute Kumpf [SPD]: Warum schauen Sie jetzt Die erste Säule, die notwendig ist, damit aus der zu uns?) Kombination von gesetzlicher Rente und privater Vor- sorge wieder der Lebensstandard der Menschen gesi- Wir müssen den Menschen klipp und klar sagen – das chert werden kann, ist dieprivate Vorsorge. Diese ha- haben wir bereits vor dem Bundestagswahlkampf 1998 ben Sie im Grundsatz ausgestaltet. Das haben Sie getan –: handwerklich aber so miserabel gemacht, dass Ihr Kon- (B) zept nach zwei Jahren gescheitert ist. Die private Vor-(D) (Zuruf von der SPD: Ein bisschen spät!) sorge muss dringend reformiert werden. Die gesetzliche Rente wird ihre Funktion, nämlich den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lebensstandard zu sichern – diese Funktion hat sie in der Vergangenheit erfüllt und erfüllt sie auch heute gegen- Sie muss vereinfacht und entbürokratisiert werden, die über den jetzigen Rentnern, was nicht infrage gestelltFörderung muss gerechter gestaltet werden. werden kann, weil diese sich darauf eingestellt haben –, Ich komme nun auf die zweite Säule zu sprechen, die in der Zukunft nicht mehr erfüllen, und zwar nicht des- wir genauso energisch angehen müssen. Hierzu hat das halb, weil die Politik etwas wegnehmen will, sondern Bundesverfassungsgericht gesagt, die Renten würden aufgrund der veränderten Demographie. nicht allein durch die Sozialversicherungsbeiträge be- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- zahlt, sondern die Menschen in Deutschland, die Kinder SES 90/DIE GRÜNEN) erziehen, leisteten einen konstitutiven Beitrag zur Si- cherheit der Renten in der Zukunft. In einem Punkt, Herr Müntefering, gebe ich Ihnen (Ute Kumpf [SPD]: Also die Frauen!) Recht: Wir haben in Deutschland mit Blick auf die De- mographie nicht das Problem, dass es zu viele alte Men- Deshalb ist jede Rentenreform, die auf der einen Seite schen gibt, sondern dass es zu wenig junge Menschen die private Vorsorge und auf der anderen Seite die gibt. Wir sollten aufhören, etwas anderes zu behaupten. Kindererziehung unzureichend berücksichtigt, nichts anderes als eine Konkursverschleppung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Franz Müntefering [SPD]) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Familien brauchen Kinderbetreu- Vor zwei Jahren waren weniger als 10 Prozent der Ren- ung, wenn sie jung sind! Ursache ist die feh- tenzugänge kinderlos, lende Kinderbetreuung!) (Ute Kumpf [SPD]: Woher kommt das, Herr Wir lösen nicht die Probleme, wenn wir nicht an die Ur- Seehofer?) sachen herangehen. in 20 bis 25 Jahren werden es bereits 35 Prozent sein. Es trägt wesentlich zum Ausbau der privaten Vor- Das ist die Entwicklung, die wir in Deutschland seit Jah- sorge bei – wir müssen uns alle anstrengen, um neue ren feststellen müssen. Die Schuld dafür ordne ich nie- Maßnahmen vorzuschlagen –, wenn wir die Kinder- mandem zu. erziehung stärker unterstützen. Es soll sich in unserer 6136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Horst Seehofer (A) Gesellschaft jeder entscheiden, wie er mag, aber es kann Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) in der Rentenversicherung nicht so bleiben, dass die Fa- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koali- milien mit Kindern die Zeche der privaten Entscheidun- tion hat ihre Vorhaben, ihre Agenda, in der Tat auf den gen zu zahlen haben. Weg gebracht. Natürlich wird es durch diese Vorhaben auch Veränderungen in Deutschland geben. Wir muten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Menschen aufgrund dieser Veränderungen auch zu, in einigen Punkten Verzicht zu üben. Ich glaube aber, Wir überlegen, wie man die Familien in der aktiven dass die Menschen zunehmend ein Gefühl dafür bekom- Familienphase beim Beitrag zur Rentenversicherung be- men, warum wir das tun, warum wir das tun müssen und rücksichtigen kann. Wir denken an einen Kinderbonus. dass in diesen Strukturreformen auch eine Chance liegt. Wir müssen beim Abschlag bei einem vorzeitigen Ren- Dass diese Chance ganz real ist, konnten wir gerade in teneintritt zwischen Kinderlosen und Personen, die Kin- den letzten Tagen verfolgen. der haben, unterscheiden. Wir müssen überlegen, wie man die Rentenhöhe, sei es über Kindererziehungszeiten Die entscheidende Frage ist doch, ob die Politik oder andere Instrumente, so gestalten kann, dass diejeni- – auch wenn es unbequem ist – das Nötige tut, um diese gen, die Kinder haben, eine höhere Rente bekommen als Chance wirklich zu ergreifen, oder ob sie opportunis- diejenigen, die keine Kinder haben. Wenn ich diesetisch reagiert, sich vor unbequemen Botschaften duckt Maßnahmen als Gesamtkonzept zusammennehme, dann und die Chance zulasten der Menschen verpasst. muss ich feststellen, dass man so weg von der Willkür kommt und eine saubere, klare Rentenformel bekommt. Wir sagen ganz klar: Es macht uns keinen Spaß, den Wir sagen Ja zur Wahrheit und kommen weg von derRentnerinnen und Rentnern mitzuteilen, dass ihre Ren- Flickschusterei. Wir kommen zu stärkerer Beitragsbezo- ten im nächsten Jahr nicht erhöht werden. genheit, gerade durch langjährige Beitragszahlungen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wäre ja und Kindererziehung. Wir müssen das tatsächliche Ren- noch schöner, wenn es Ihnen Spaß machen teneintrittsalter durch aktive politische Maßnahmen an würde! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Es ist das gesetzliche Eintrittsalter heranführen und in diesem ja heldenhaft, dass es Ihnen keinen Spaß Jahrzehnt eine große Offensive für eine von dermacht!) Menschheit verstandene private Vorsorge starten. Diese scheiterte bisher nämlich, weil sie so bürokratisch und Wir sagen den Rentnerinnen und Rentnern aber auch kompliziert ist, dass sie niemand mehr versteht. Dane- ganz klar: Seid bitte bereit, einen Beitrag dazu zu leisten, ben müssen die Zeiten der Kindererziehung als Bei-dass die jungen Menschen, eure Enkel, im nächsten Jahr träge zur Rentensicherheit in der Zukunft berücksich- eine Chance auf Arbeit und Ausbildung erhalten. Das ist (B) tigt werden. nicht nur für die jungen Leute, sondern auch für die(D) Rentnerinnen und Rentner und die Entwicklung unserer Ich möchte den Menschen sagen: Wenn die Politik sozialen Sicherungssysteme gut. hier die richtigen Weichen stellt – nicht irgendwann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern zeitnah –, dann haben wir die große Chance, und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb dass die Rentenversicherung aus der tiefsten Krise in ih- [FDP]: Dann muss man den Rentnerinnen und rer Geschichte herausgeführt wird. Ich glaube, es ist un- Rentnern aber auch sagen, wohin langfristig ser Auftrag, die Menschen nicht durch eine ständig fal- die Reise geht!) sche Politik zu verunsichern und sie in einem Lebensabschnitt, in dem sie bezogen auf die Alterssiche- In allen Gesprächen, die ich in letzter Zeit geführt rung ein Recht darauf haben, ein sorgenfreies Leben zu habe, habe ich gemerkt, dass die Menschen realisieren, führen, nicht mit Sorgen und Ängsten zu belasten. Ich dass wir vor großen neuen Herausforderungen stehen möchte den Menschen auch sagen: Wenn die richtigen und nicht einfach den Kopf in den Sand stecken können. politischen Entscheidungen getroffen werden – dazu ha- Insbesondere, wenn ich mit internationalen Gästen, be- ben wir unsere Gesamtgedanken vorgetragen –, dann ha- sonders mit unseren europäischen Nachbarn spreche, ben wir die riesige Chance, dass wir diese Rentenversi- merke ich, dass sie nicht nur mit großem Respekt, son- cherung aus dem Tal herausführen und wieder an diedern auch mit großer Hoffnung auf uns schauen, weil sie große Tradition der deutschen Rentenversicherung an- zu Recht die Erwartung haben, dass Deutschland, wenn knüpfen, die ihre Aufgaben in der Vergangenheit segens- es die Kraft hat, das Notwendige zu tun, auch die Kraft reich erfüllt hat. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, denhat, wieder die Zugmaschine für die europäische Ent- Menschen, die ein ganzes Leben lang geschuftet undwicklung zu sein. Kinder großgezogen haben, im Alter wieder ein sicheres (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sind auch auf und sorgenfreies Leben zu gewährleisten. Gedeih und Verderb mit uns verbunden!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- Das brauchen auch die anderen europäischen Länder und fall bei der FDP) unsere europäischen Nachbarn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Wolfgang Thierse: und bei der SPD) Ich erteile Kollegin Krista Sager, Fraktion Bünd- Wie ist denn die derzeitige Situation? Zurzeit zeigen nis 90/Die Grünen, das Wort. die Indikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6137

Krista Sager (A) eindeutig wieder nach oben. Zum ersten Mal seit 1992 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) liegen wir im Export wieder vorne, noch vor den USA. und bei der SPD) Wir sehen, dass die Auftragszahlen bei den Unterneh- men steigen. Alle Umfragen zum Geschäftsklimaindex Sie haben nämlich alle Maßnahmen, die Rot-Grün in der zeigen: Es gibt wieder Hoffnung auf eine bessere wirt- Vergangenheit getroffen hat, um das Rentensystem zu schaftliche Entwicklung. stabilisieren, um den Beitragssatz herunterzuholen von der hohen Stufe, auf die Sie ihn überhaupt erst gebracht Aber was ist denn das Entscheidende für die Men-haben, abgelehnt. Deswegen wären wir mit Ihrer Politik schen in diesem Land? Entscheidend ist doch, ob aus ei- bei viel schlechteren Beitragssätzen als heute. ner besseren wirtschaftlichen Entwicklung auch ein Ef- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fekt auf dem Arbeitsmarkt entsteht, ob mehr Menschen und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ wieder in Arbeit kommen und ob die Arbeitsplätze si- CSU]: Sie haben doch die Gesetze aufgeho- cher bleiben. ben!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt sechs Sie haben die Ökosteuer abgelehnt. Mit der Öko- Jahre gebraucht, um das zu erkennen! – steuer ist es uns aber gerade möglich gewesen, bei den Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bisher ist die Ar- Kindererziehungszeiten etwas für die Frauen zu tun, was beitslosigkeit immer gestiegen!) seit langem nötig gewesen wäre. Es gibt heute eine ange- Wie war es denn bisher? Bisher brauchten wir messene in Berücksichtigung der Erziehungszeiten bei der Deutschland zwei Prozent Wachstum, um einen Effekt Rente und das hat Rot-Grün gemacht und nicht Sie. auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Jetzt bescheinigen uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Wirtschaftsinstitute, dass durch die Arbeitsmarktre- und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU – formen, die wir bereits gemacht haben, die Schwelle, ab Andreas Storm [CDU/CSU]: Das ist ein Trep- der Wachstum auch zu Beschäftigung führt, aufpenwitz! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ist 1,8 Prozent gesunken ist. Wenn wir den Beitragssatz in seit 1992 Rot-Grün dran?) der Rentenversicherung bei 19,5 Prozent stabil halten, wenn wir die letzte Stufe der Steuerreform vorziehen Herr Seehofer, jetzt noch ein Beitrag zur Wahrheit in und dafür sorgen, dass die Kommunen wieder Geld in diesem Lande. Wie stellt sich denn das Problem der die Hand bekommen, niedrigen Renten für Frauen dar? Das Problem ist doch, dass über Jahrzehnte eine Politik verfolgt wurde, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt es nach der eine Frau nur dann eine gute Rente hat, wenn ihnen doch weggenommen!) sie einen reichen Mann oder einen gut verdienenden (B) (D) dann haben wir bei einem Wachstum von 1,7 Mann bis heiratet. 1,75 Prozent im nächsten Jahr tatsächlich die Chance auf (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch in eine bessere Situation am Arbeitsmarkt. Meine Damen Bayern immer noch gang und gäbe!) und Herren von der Opposition, es ist ganz zentral auch Ihre Verantwortung, ob diese Chance genutzt wird oder Das ist doch Ihre Politik gewesen. ob wir nur eine wirtschaftliche Verbesserung ohne Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirkung auf den Arbeitsmarkt haben werden. Wir brau- und bei der SPD) chen diesen Effekt und wir müssen diese Chance nutzen. Etwas anderes können wir uns im Interesse der Men-Sie haben doch die Ideologie aufrechterhalten, dass schen in diesem Land nicht leisten. Frauen nicht das Recht haben sollen, Familie und Be- rufstätigkeit in Einklang zu bringen. Auch das werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir ändern, weil wir etwas für die Kinderbetreuung tun. und bei der SPD) (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Aber nicht Herr Seehofer, jetzt ganz konkret zur Rente. Wir ha- mit diesem Gesetz!) ben uns entschieden, den Beitragssatz im nächsten Jahr bei 19,5 Prozent zu halten. Dazu müssen alle einen Bei- Sie haben diese Diskussion in Ihren eigenen Reihen im trag leisten: Die Beitragszahler, die Steuerzahler, ja,Ernst doch gar nicht auf sich genommen. So sieht es auch die Rentnerinnen und Rentner werden an dem Pa- doch aus. ket beteiligt; das wissen wir. Aber welche Prioritätenent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheidung haben Sie denn getroffen? und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja, haben Sie CSU]: Das tut ja weh!) denn nicht zugehört? – Volker Kauder [CDU/ Nein, Sie ducken sich wirklich weg vor den Aufgaben, CSU]: Können Sie nicht lesen?) vor denen wir real stehen, auch vor der Entscheidung, ob Sie tun so, als hätten Sie nichts damit zu tun. Jetzt wie- wir 19,5 Prozent halten wollen oder nicht. derhole ich einmal etwas, was Sie nicht gerne hören, was (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war nicht aber leider die Wahrheit ist: Mit Ihremdemographi- die Alternative vor zwei Jahren!) schen Faktor wären wir heute bei einem Rentenbei- tragssatz von über 21 Prozent. Das ist die Wahrheit, die Sie ducken sich auch vor einer anderen Wahrheit weg. Sie nicht wahrhaben wollen. Die Wahrheit ist, dass wir längst ein Konzept für die 6138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Krista Sager (A) nachhaltige Stabilisierung des gesamten Rentensystems dass auch die Rentnerinnen und Rentner im Interesse ih- (C) für viele Jahre vorgelegt haben. rer Enkel bereit sind, einen Beitrag dafür zu leisten, dass es in diesem Land wiederaufwärts geht. Wir wissen, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo denn? –dass viele ältere Menschen ihre Kinder und Enkelkinder Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So etwas Reali- unterstützen. Warum tun sie das? Erstens. Sie denken tätsfernes habe ich schon lange nicht mehr ge- nicht nur an sich, sondern sind daran interessiert, dass es hört!) mit den nachfolgenden Generationen in Deutschland Die Vorschläge der Rürup-Kommission, die wir umset- weitergeht. Zweitens. Es liegt zum Teil auch daran – das zen, lagen viel früher als die Vorschläge Ihrer Herzog- hat das Statistische Bundesamt zu Recht festgestellt –, Kommission auf dem Tisch. dass das Risiko für Armut in Deutschland mit dem Alter nicht zunimmt, sondern sinkt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben über das Gesetz bisher noch kein Wort verloren!) Wenn Sie vor Jahren ein Konzept für die Nachhaltigkeit im Bereich der Rente gehabt haben, Das Armutsrisiko bei Familien mit Kindern ist heute größer als bei den Rentnerinnen und Rentnern. Das ist (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist doch ein Grund, warum die Alten die Jungen unterstützen beschlossen worden!) können. Das ist aber auch der Grund, warum wir dazu dann frage ich mich, warum Sie die Herzog-Kommis- auffordern, die Jungen auch dann zu unterstützen, wenn sion überhaupt eingesetzt haben. Die Vorschläge dieser es darum geht, die durchdie notwendigen Maßnahmen Kommission lagen nach denen der Rürup-Kommission entstehenden Lasten gerecht zu verteilen. Diesen Appell vor. möchten wir an die Menschen richten. Herr Seehofer, ich komme zu einer anderen bitteren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahrheit. Sie haben behauptet, Rot-Grün würde von sowie bei Abgeordneten der SPD) Schwierigkeiten ablenken. Frau Merkel, jetzt ein Wort zu Ihnen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie schafft (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sagen Sie sie! – [CDU/CSU]: Sie ist die doch etwas zum Gesetz!) Schwierigkeit!) Ich kann gut verstehen, dass Sie als Fraktionsvorsitzende Ich sage Ihnen: Rot-Grün stellt sich den Schwierigkei- im Deutschen Bundestag lieber den Kopf in den Sand ten, die wir in diesem Lande haben. Wir beschließen (B) stecken, wenn es darum geht, den Beitragssatz im nächs- (D) diese Reformen nicht nur, damit die Menschen im nächs- ten Jahr bei 19,5 Prozent stabil zu halten, indem den ten Jahr eine Chance haben, einen Ausbildungs- oder Rentnerinnen und Rentnern ein Teil der Lasten aufge- Arbeitsplatz zu bekommen. Wir machen gerade die lang- bürdet wird. fristigen Reformen noch aus einem anderen Grund: (Zurufe von der CDU/CSU: Ah!) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Welche denn? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir reden doch Die Rolle als Opposition verführt leicht dazu. Aber dort, heute über etwas ganz anderes!) wo Sie die Mehrheit haben, dort, wo Sie inzwischen eine Art Nebenregierung darstellen – über den Föderalismus Wir wollen, dass das Soziale an der Marktwirtschaft für haben wir bereits diskutiert –, nämlich imBundesrat, die jungen und die alten Menschen in diesem Land über sind Sie in der Tat gefordert. viele Jahre wieder berechenbar wird. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hat doch (Andreas Storm [CDU/CSU]: Sie wissen ja mit dem Bundesrat nichts zu tun!) gar nicht, was in Ihrem eigenen Gesetzentwurf steht!) Sie müssen wirklich Farbe bekennen, ob Sie bereit sind, die wirtschaftlichen Impulse zu unterstützen, und zwar Wir wollen das solidarische, umlagefinanzierte System bei der Gemeindefinanzreform, beim Vorziehen der letz- erhalten. ten Stufe der Steuerreform und auch bei den notwendi- Sie, Herr Seehofer, haben ganz andere Schwierigkei- gen Strukturreformen, um die Lohnnebenkosten stabil ten: Die Truppen in Ihrer eigenen Fraktion, die das So- zu halten. ziale an der sozialen Marktwirtschaft verteidigen wol- Ich erwarte von Ihnen, dass Sie etwas mehr Führungs- len, werden immer weniger. Sie werden doch hier als das stärke zeigen. Sie sind schließlich nicht nur Fraktions- sozialpolitische Auslaufmodell der CDU/CSU nachvorsitzende, sondern auch Parteivorsitzende. Es wäre vorne geschickt, während in Wirklichkeit ganz andere Zeit, dass Sie ein deutliches Signal setzen, wohin die Modelle angedacht werden. Reise gehen soll. Verschleppen – das sagen alle Exper- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten – können wir uns in diesem Land am allerwenigsten sowie bei Abgeordneten der SPD) leisten. Dafür würden Sie letztendlich die Verantwortung tragen. Wir sind durchaus zuversichtlich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir nicht!) und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6139

(A) Präsident Wolfgang Thierse: setzen alle Ihre Hoffnung auf ein Anziehen derKon- (C) Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP- junktur. Springt der Wirtschaftsmotor an, dann kann es Fraktion. vielleicht gelingen, gerade noch einmal die Kurve zu be- kommen. Kommt der Aufschwung aber nicht oder kommt er später, als wir alle hoffen, dann wird es spätes- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): tens im Jahr 2005 – das sage ich Ihnen voraus – Heulen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich und Zähneklappern im Bereich der gesamten Sozialver- möchte zunächst etwas zu diesem untauglichen Versuch sicherung, insbesondere aber bei der Rente geben. eines Ablenkungsmanövers sagen, den Herr Müntefering heute Morgen hier unternommen hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Müntefering, das können Sie doch nicht ernsthaft Denn auch bei günstigem Verlauf – das hat die Anhö- so gemeint haben. Sie stellen sich hin und melden selbst- rung im Ausschuss doch gezeigt – wird die Rentenkasse zufrieden den Vollzug der Agenda 2010, eine Stunde be- im Jahr 2004 ihre Zahlungen nicht mehr aus eigener vor in Nürnberg die neuen Arbeitslosenzahlen bekannt Kraft, sondern nur noch mit einer Liquiditätshilfe des gegeben werden und wir erfahren werden, dass die Ar- Bundes in Höhe von bis zu 3 Milliarden Euro aufrechter- beitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr um 220 000 ge- halten können und damit erstmalig in ihrer Geschichte stiegen ist. Das sind 220 000 Menschen, 220 000 Einzel- direkt am Tropf des Bundesfinanzministers hängen. schicksale. Da kann man doch nicht selbstzufrieden an (Zuruf von der FDP: Rentenpolitik nach dieses Pult treten. Kassenlage!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dadurch entsteht ein riesiger Vertrauensschaden und den Sie, Herr Müntefering, hätten sich hier hinstellen und sa- haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot- gen müssen: Wir haben es versucht, aber es reicht nicht; Grün, alleine zu verantworten. wir müssen uns mehr anstrengen, bei den Steuern, insbe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sondere auch bei den Reformen am Arbeitsmarkt. Das Andreas Storm [CDU/CSU]: Rente auf wäre der Situation angemessen gewesen, aber nicht das, Pump!) was Sie hier geboten haben. Die Probleme der Rentenfinanzen werden aber durch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Liquiditätshilfe, die den Charakter eines zinslosen der CDU/CSU) Darlehens hat, nicht auf Dauer gelöst. Im Gegenteil (B) Nein, Herr Müntefering, in diesem Lande gibt es 19 – auch das hat die Anhörung sehr deutlich gezeigt –:(D) Millionen Rentner. Die wollen wissen, wie es um die Si- Weil die Liquiditätshilfe spätestens 2005 von der Ren- cherheit ihrer Altersvorsorge bestellt ist. Man kann es tenversicherung an den Bund zurückgeführt werden drehen und wenden, wie man will: Für uns, für die FDP- muss, verschärft sich die Situation im Folgejahr zusätz- Fraktion im Deutschen Bundestag, steht fest, dass mit lich. Für mich steht heute schon fest, dass der Beitrags- dem, was Sie heute hier beschließen wollen, nämlich mit satz im Jahr 2005 auf mindestens 19,7 Prozent ansteigen dem zweiten und dritten Vorschaltgesetz zur Rentenver- wird. Das ist die Wahrheit über die Entwicklung in der sicherung, alle gängigen Stellschrauben des Rentensys- Rentenversicherung. tems bis zum Anschlag gedreht sind: Die Schwankungs- Über diese Risiken und die weitere Entwicklung offen reserve kann nicht mehr weiter gesenkt werden, dieaufzuklären, den Beschäftigten und den Rentnern die Beitragsbemessungsgrenze ist ausgereizt, mit der Null- volle Wahrheit über die Herausforderungen zu sagen, runde der Rentenanpassung und mit der Erhöhung des vor denen die Rentenversicherung aktuell und in den Pflegeversicherungsbeitrags der Rentner bewegen Sie nächsten Jahren und Jahrzehnten steht, die Menschen sich schon an der Grenze der Verfassungsmäßigkeit, was zur Eigenvorsorge aufzufordern, das gehört aus unserer Ihnen auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Sicht zwingend zu einer Rentenpolitik, die verlorenes ins Stammbuch geschrieben hat. Vertrauen zurückgewinnen will. Das sagen wir Ihnen, Beitragserhöhungen schließen Sie wie auch wir zuHerr Müntefering und Frau Sager, nicht erst seit heute, Recht aus; denn eines ist klar: Sie würden zusätzlich Be- sondern das hat die FDP im Deutschen Bundestag seit schäftigung kosten und die Wachstumskräfte schwächen. mindestens zehn Jahren immer wieder gesagt. (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Was machen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie denn?) der CDU/CSU) Wenn wir uns die Beratungen der letzten beiden Wo- Sie aber – das werfen wir Ihnen vor – spielen die Pro- chen ansehen, Frau Schaich-Walch, dann stellen wir fest, bleme herunter dass Sie es rein rechnerisch auf dem Papier geschafft ha- (Zuruf der Abg. Erika Lotz [SPD]) ben, den Ausgleich der vom Schätzerkreis identifizierten Lücke von etwa 8 Milliarden Euro bei den Rentenfinan- und erwecken vorsätzlich oder fahrlässig, Frau Kollegin zen zu leisten. Aber Sie fahren wie in den Vorjahren vol- Lotz, den Eindruck – er ist falsch –, Sie hätten bei der les Risiko, mit null Spielraum für alternative – sprich: Rente alles im Griff. Das erinnert mich in fataler Weise möglicherweise schlechtere – Wirtschaftsszenarien. Sie an die Musikkapelle auf der „Titanic“, die auch noch 6140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Heinrich L. Kolb (A) weiter gespielt hat, als das Schiff längst den Eisberg ge- macht, die für uns Liberale seit langem den Ausgangs-(C) rammt hatte und zu sinken begann. punkt unserer Sozialpolitik darstellt. Sie haben festgestellt: Es kann nur verteilt werden, was zuvor er- Weil Sie zur ganzen Wahrheit nicht bereit sind, son- wirtschaftet wurde. – Herzlich willkommen im Klub, dern immer erst dann scheibchenweise das Unbestreit- Frau Ministerin. bare einräumen, wenn Leugnen nichts mehr nützt, und weil Sie nicht ernsthaft bereit sind, Alternativen in Er- (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD) wägung zu ziehen, können Sie von uns keine Zustim- Ohne Wirtschaftswachstum und ohne Zuwachs bei der mung für Ihr Last-Minute-Rettungspaket bekommen,Beschäftigung gibt es keine Wende zum Besseren. Die auch wenn wir heute einer Einzelmaßnahme, nämlich Frage ist aber, ob Sie genug dafür tun. Die Antwort da- der Verschiebung der Rentenauszahlung an Neurentner rauf wird in diesen Minuten in Nürnberg gegeben: Es auf das Monatsende, zustimmen wollen. reicht nicht aus. Damit keine Zweifel offen bleiben, will ich eines fest- Wir müssen auch dafür sorgen, dassältere Arbeit- stellen: Es ist unverantwortlich, dass Sie – anders als von nehmer wieder eine Chance bekommen, länger zu ar- uns vorgeschlagen – angesichts der derzeitigen Situation beiten. Eine Bundesregierung, die 50-Jährigen keine der Rentenkasse die Praxis der Frühverrentung, die Perspektive am Arbeitsmarkt bieten kann, letztlich eine Subvention weniger zulasten aller Bei- tragszahler ist, uneingeschränkt fortführen wollen. (Beifall bei der FDP – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nur innerhalb der Regierung!) (Beifall bei der FDP) hat kein Recht, über die Erhöhung des gesetzlichen Ren- Die Anhörung hat gezeigt, dass mit einem sofortigenteneintrittsalters nachzudenken. Stopp der Frühverrentung die Liquidität der Rentenver- Zunächst einmal müssen denjenigen, die heute als sicherung schon kurzfristig deutlich verbessert werden 50- bis 60-Jährige einen Arbeitsplatz suchen, Chancen könnte. eröffnet werden. Dass das keine angenehme Aufgabe ist, Abgesehen von den finanziellen Auswirkungen kön- ist deutlich erkennbar. Denn dafür müssen gesetzliche nen wir uns das Abschieben in den vorzeitigen Ruhe-und auch tarifliche Rahmenbedingungen verändert und stand auch moralisch nicht länger leisten. Denn es ist ein gut gemeinte Schutzvorschriften neu justiert werden, Armutszeugnis für unser Land, dass ältere Arbeitnehme- weil sie letztlich dazu beitragen, dass sich die Chancen rinnen und Arbeitnehmer – insbesondere dann, wenn sie für Ältere auf Neueinstellung und Reintegration in den ihren Arbeitsplatz verloren haben – keine Chancen auf Arbeitsmarkt verschlechtern. dem Arbeitsmarkt mehr haben. (B) Alles in allem sind wir zur Mitarbeit an einer struk- (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten turellen Reform der Rente bereit. Wir sind auch dann der CDU/CSU) zur Mitarbeit bereit, wenn es um wenig populäre Ein- schnitte geht. Wir zeigen heute zumindest in einer Ab- Sie betreiben eine Vogel-Strauß-Politik. Das Schlimme stimmung, dass wir diese Bereitschaft haben. ist, dass die Menschen das zu spüren bekommen werden. Die Rentner werden – das ist bereits absehbar – bis 2007 Letztlich geht es aber darum, verloren gegangenes mit weiteren Nullrunden rechnen müssen. Den Arbeit- Vertrauen zurückzugewinnen, indem verlässliche Prog- nehmerinnen und Arbeitnehmern drohen, wie gesagt, be- nosen gestellt werden, die sich tatsächlich erfüllen, und reits ab 2005 steigende Beitragssätze. indem im Voraus auf Risiken hingewiesen wird, damit die Menschen erkennen, wie breit das Spektrum der Ent- Auch wenn es gelingen sollte, den konjunkturellen wicklungsmöglichkeiten ist. Das haben Sie, liebe Kolle- Plattfuß des Fahrzeugs Rente notdürftig zu flicken,ginnen und Kollegen von Rot-Grün, bisher nicht getan. bleibt die dringend notwendige Instandsetzung des Ge- Aber für einen Neubeginn ist es nie zu spät. Wir helfen triebes auf der Agenda. Die Strukturreform, zu der Sie Ihnen gerne dabei. die ersten Eckpunkte vorgestellt haben, steht nach wie vor aus. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Lassen Sie mich eines in aller Ruhe, aber sehr deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lich sagen, Frau Ministerin Schmidt: Bei dieser Struktur- reform kann es nicht darum gehen, erneut einen Gesetz- Präsident Wolfgang Thierse: entwurf im Rekordtempo durch den DeutschenIch erteile das Wort Kollegin Helga Kühn-Mengel, Bundestag zu jagen. Vielmehr hat Sorgfalt eindeutigSPD-Fraktion. Vorrang vor Geschwindigkeit. Denn einen erneuten Fehlschlag wie bei der als Jahrhundertwerk gefeierten Riester-Rentenreform, die keine zwei Jahre Bestand Helga Kühn-Mengel (SPD): hatte, kann sich die gesetzliche Rentenversicherung, Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- kann sich die Regierung wie auch die Politik insgesamt nen und Kollegen! Kollege Seehofer hat in der Tat kein – das gilt für Sie wie auch für uns – nicht mehr leisten. Reizwort ausgelassen. Er hat alle Zielgruppen populis- tisch bedient. Aber eine Antwort ist er schuldig geblie- Notwendig ist eine wirklich nachhaltige Reform. Eine ben. solche Reform setzt aber voraus, dass man sich über die Zusammenhänge klar wird. Dazu haben Sie, Frau Minis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terin, gestern im Ausschuss erstmals eine Aussage ge- DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6141

Helga Kühn-Mengel (A) Nehmen Sie das sofort zurück! – Andreas Zu dem ständig wiederholten Vorwurf, wir hätten den (C) Storm [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört!) Demographiefaktor nicht abschaffen sollen, möchte ich sagen: Mit dem Demographiefaktor stünden wir gerade Was plant denn die Opposition im Hinblick auf die Er- einmal um 1 Milliarde Euro besser da, müssten aber wei- werbstätigen? Wollen Sie den Beitragssatz nun erhöhen? tere Maßnahmen ergreifen, was wir auch tun werden. Welches Signal wollen Sie der Wirtschaft geben? IchWie wir ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer dastün- habe dazu nichts gehört. Sie schulden uns auch ein Ein- den, habe ich ja bereits gesagt. Wir jedenfalls handeln geständnis Ihrer verfehlten Politik. Wie war denn Ihre und tragen Verantwortung. Wir wollen der Wirtschaft ein Familienpolitik? wichtiges Signal geben und vor allem ein System erhal- (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Besser!) ten, das uns erhaltenswert erscheint. Wie war Ihre Arbeitnehmerpolitik? Die Frühverrentung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat doch in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit ein solches des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausmaß angenommen, dass der Arbeitsmarkt erodierte. Den Vorwurf von Herrn Dr. Kolb möchte ich aufgrei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fen. Herr Kolb, Gesetze können nicht wirken, wenn sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) noch nicht verabschiedet sind. Helfen Sie uns doch da- bei. Sie haben es außerdem nicht geschafft, die Erwerbstäti- genquote der Frauen anzuheben. Diese Quote ist im Ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie regieren seit gleich zum europäischen Durchschnitt nach wie vor viel fünf Jahren! Das sind 60 Monate, Frau Kühn- zu niedrig. Die beste Alterssicherung für Frauen ist, Mengel! Da hätte man viel machen können!) wenn sie genauso wie die Männer Familie und Beruf Nehmen Sie doch Einfluss auf die Ihnen nahe stehenden verbinden können. Gruppen in den Unternehmen. Kämpfen Sie doch dafür, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass Arbeitnehmer im besten Mannes- und Frauenalter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht in die Frühverrentung geschickt werden! Auch hier warte ich auf Ihren Beitrag. Sie haben hier des Weiteren ein gigantisches Ablen- kungsmanöver durchgeführt. Ich möchte nur Folgendes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deutlich machen: Am Ende Ihrer Regierungszeit lag der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 20,3 Pro- zent. Das stimmt, auch wenn Sie das nicht hören wollen. Mit dem Zweiten und Dritten Gesetz zur Änderung Erst wir haben ihn zurückgefahren, des SGB VI, deren zweite und dritte Lesung heute an- (B) steht, sorgen wir dafür, dass die Wirtschaft einen wich- (D) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Mit tigen Impuls erhält und dass die sich abzeichnende Ökosteuer!) konjunkturelle Erholung nicht durch steigende Lohn- nebenkosten bedroht wird. Wir wissen genau: Ohne mit den Einnahmen aus der Ökosteuer – das ist völlig neues Wachstum und ohne wieder steigende Beschäfti- richtig –, die Sie nicht gewollt haben. Ohne die Einnah- gung sind die Finanzierungsgrundlagen der sozialen Si- men aus der Ökosteuer läge der Beitragssatz heute bei cherungssysteme gefährdet. Wir werden diese Gesetze 21,5 statt bei 19,5 Prozent und 2005 bei 22,3 Prozent. heute verabschieden, um deutlich zu machen: Wir stabi- Auch das ist wahr. Wir haben das System stabilisiert. Sie lisieren. Gleichzeitig sagen wir damit der Wirtschaft: hätten das Ganze in 16 Jahren längst regeln können. Wir wollen die Lohnnebenkosten nicht erhöhen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dieses Maßnahmenpaket, dieser Mix – das ist uns be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – wusst – fordert Opfer von allen. Das ist teilweise unpo- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schade, dass das pulär. Es ist viel leichter, solche diffusen Reden zu hal- System davon nichts gemerkt hat!) ten, wie die Opposition das tut, ohne sich festzulegen. Es ist auch richtig, dasszwischen 1992 und 1998 die Eines aber haben uns bei der Anhörung alle Sachverstän- Rentenanhebung achtmal unter der Inflationsrate lag, da- digen – von der Bundesvereinigung der Deutschen Ar- von zweimal knapp darunter. So golden und rosig waren beitgeberverbände bis hin zu den Gewerkschaften – ein- Ihre Zeiten für die Rentnerinnen und Rentner also auch hellig bestätigt: Es gibt keine Alternativen zu diesem nicht. Maßnahmenpaket, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn man vor DIE GRÜNEN) der Wand steht, gibt es keine Alternative zum Rückwärtsgang! Das ist richtig!) Sie verunsichern und reden ein System herunter, das erhaltenswert ist und das wir auch erhalten wollen. Das weil die Zahl der Stellschrauben im Bereich der Renten- Volumen des Transfers von West nach Ost beträgtversicherung außerordentlich beschränkt ist. – Deswe- 20 Milliarden Euro. So schlecht, so wenig leistungsfähig gen hat es uns nicht überrascht, dass die Opposition bis kann das System also nicht sein. Auch das bedarf einmal zum heutigen Tag nicht einmal versucht hat, Alternati- der Erwähnung. ven aufzuzeigen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Auch was die mittel- und langfristige Finanzierung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Rentenversicherung angeht, schulden Sie uns 6142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Helga Kühn-Mengel (A) Antworten. Die von der Herzog-Kommission vorge-chen. Notoperationen gibt es übrigens meist dann, wenn (C) schlagene Reform oder, wie man eigentlich sagenman grundlegende Vorsorgemaßnahmen nicht durchge- müsste, die von ihr vorgeschlagenen Reformfragmente führt hat. Fünf Jahre haben Sie bei der Reform der sozia- würden die Menschen in die Altersarmut treiben. Be-len Sicherung, die den Namen auch verdient, verschwen- rechnungen zeigen ganz deutlich, dass das Bruttorenten- det. niveau auf 37,5 Prozent fallen würde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zusammengefasst: Solidarität zwischen Arbeitneh- neten der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: mern und Arbeitnehmerinnen sowie Rentnern und Rent- So ist das! Das ist die Wahrheit!) nerinnen prägt unsere Reformgesetze. Weil es nur we- nige finanzielle Stellschrauben gibt, stehen auch nur Ich bin nun fast genau einJahr lang Mitglied dieses beschränkt Alternativen zur Verfügung. Wir haben uns Hauses. Es scheint mir heute genauso zu sein wie nach für Beitragssatzstabilität entschieden, damit Konjunk- der Bundestagswahl: Trotz aller Versprechungen ändert tur, Beschäftigung und Ausbildung eine wirklichesich nichts am Chaos. Eine Notoperation nach der ande- Chance bekommen. Wer die Verantwortung nicht scheut, ren, egal an welchem Sozialversicherungsbereich wir ar- der begleitet uns auf diesem Weg. Ich bin auf Ihr Ab-beiten! stimmungsverhalten hier und im Bundesrat gespannt. Gut, der Herr Bundeskanzler hat an dieser Stelle mitt- Ich danke Ihnen. lerweile wenigstens zugegeben, dass Sie sich geirrt ha- ben. Ich erinnere aber noch einmal an die Rede des Bun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deskanzlers 2002 auf einer Konferenz des DGB in Dort- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mund, in der er meinen Kollegen Horst Seehofer beschimpft hat – Zitat –: Präsident Wolfgang Thierse: Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demo- Ich erteile der Kollegin Hildegard Müller, CDU/CSU- graphischen Faktors angekündigt. Das war vor vier Fraktion, das Wort. Jahren unanständig und das ist heute genauso unan- ständig. Hildegard Müller (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undDas ist das, was Sie den Menschen in diesem Land er- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie- zählt haben. rung, das Lesen können wir Ihnen nicht auch noch ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nehmen. Sie kritisieren die ganze Zeit, dass wir keine Vorschläge haben. Dabei werden Sie die Vorschläge, die An der Konzeptionslosigkeit hat sich nichts geändert. (B) (D) wir auf den Tisch gelegt haben, heute ablehnen. DaDie einzige Konstante ist das Dahinwursteln. Dabei grei- scheint mir etwas nicht konsistent zu sein. fen Sie auf ein altes Rezept zurück, das schon im vergan- genen Jahr und im Jahr davor für diese Notoperation her- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halten musste. Sie reduzieren die Schwankungsreserve, neten der FDP) nein, Sie schaffen sie sogar faktisch ab und damit brau- Man bereitet sich auf Reden im Deutschen Bundestag chen Sie alle liquiden Mittel auf. Das ist eine einmalige immer gut vor. Bei der Vorbereitung ist mir etwas in die Sonderaktion. Ich weiß auch nicht, wie Sie sich vorstel- Hände gefallen. Nach der letzten Rentenreform, die Sie len, die Schwankungsreserve wieder aufstocken zu kön- durchgeführt haben, haben Sie gesagt: Auf die gesetzli- nen. che Rentenversicherung ist Verlass für Jahrzehnte. – An- Einmalig dürfte sein, wie Sie das Vertrauen der Men- gesichts dessen frage ich mich natürlich schon, was wir schen in die Liquidität der Rentenversicherung be- heute machen. schädigen. Die Experten haben darauf hingewiesen, dass (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Denken die Rentenversicherer beim jetzt drohenden Einspringen Sie mal an Herrn Blüm!) der Bundesgarantie diesen Kredit des Bundes innerhalb eines Jahres zurückzahlen müssen. Ich frage die Bundes- Die Koalition steht vor einem großen Scherbenhaufen regierung: Wovon sollen sie das denn zurückzahlen? ihrer Rentenpolitik. Dafür müssen Sie, meine DamenEtwa von den mageren Früchtchen eines vage zu erwar- und Herren, schon selbst die Verantwortung überneh-tenden zarten Konjunkturpflänzchens, das Sie heraufbe- men. schwören, meine Damen und Herren? Das wird nicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hen. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Das Desaster halten nicht nur wir Ihnen vor; auch die In der Zwischenzeit verscherbeln Sie das Tafelsilber. Bevölkerung spricht davon. Die Schlagzeilen der Presse Sie verkaufen den Wohnungs- und Immobilienbestand lauten: „Nichts ist sicher“; „Hilflose Ministerin“; Rente der GAGFAH. Grundsätzlich ist dies nicht falsch, „nach Kassenlage“. Das sind die Überschriften, die die Tagespresse bestimmen; es ist nicht das, was Sie heute (Lachen bei der SPD – Peter Dreßen [SPD]: an Wunschdenken verkündet haben. Das habt ihr beschlossen!) In der Anhörung zu den vorliegenden Gesetzentwür- aber jeder potenzielle Käufer weiß angesichts des finan- fen haben alle Seiten nur von Notoperationen gespro- ziellen Drucks, unter dem wir jetzt stehen, die Lage aus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6143

Hildegard Müller (A) zunutzen und den Preis zu drücken. Wir werden für die Stunde und 10 Minuten lang angehört; Sie haben nichts (C) Wohnungen weniger erzielen, als sie wirklich wert sind. zum konkreten Entwurf gesagt, sondern nur Erklärungen Auch das haben Sie zu verantworten. zu möglichen Absichten vorgetragen. Nichts davon liegt vor; darüber entscheidet der Deutsche Bundestag nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Täuschen Sie doch nicht die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land! Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des Kollegen Dreßen? neten der FDP) Man darf also gespannt sein, was Sie diesbezüglich Hildegard Müller (CDU/CSU): vorschlagen werden. Ich habe gestern bei der Anhörung Gern, Herr Dreßen. im Ausschuss mit der Ministerin nicht den Eindruck ge- habt, dass das, was Sie hierzu vorschlagen, wirklich schon rund ist. Ich nehme nur das Beispiel der seit zwei (SPD): Peter Dreßen Wochen heiß diskutierten Ausbildungszeiten. In diesem Kollegin Müller, ist Ihnen bekannt, dass NorbertZusammenhang hat Frau Ministerin Schmidt am Freitag Blüm 1996 mit dem § 293 im SGB VI genau dies vorge- vor zwei Wochen meinem Kollegen Storm noch die Pri- schrieben hat, nämlich dass Grundstückseigentum zuvilegierung von Akademikern vorgeworfen und ihn der verkaufen ist – er fügte hinzu, dass dies natürlich unter reinen Klientelpolitik für Hochschulabsolventen bezich- wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu erfolgen habe –,tigt. – Jetzt nicken Sie schon wieder. und wir also nur das vollziehen, was im Gesetz steht? Diese Regierung scheint aber vergessen zu haben, Ich verstehe Ihre Intention nicht, wenn Sie das verur- dass zur schulischen Ausbildung auch die Fachschulen teilen, was Sie selber beschlossen haben. Wenn Siegehören. Davon ist in diesem Rentenreformentwurf schon kritisieren, dann sollten Sie Ihren eigenen Be-explizit die Rede. Wenn wir über Fachschulen sprechen, schluss von 1996 kritisieren. dann sprechen wir über Erzieherinnen, Masseure, Bade- (Beifall bei der SPD) meister, Ergotherapeuten und andere Heilberufe, eben nicht über den privilegierten Akademiker. Oder wollen Sie der Erzieherin in diesem Land etwas anderes erzäh- Hildegard Müller (CDU/CSU): len? Herr Kollege Dreßen, das scheint Ihr Problem zu sein: Sie können nicht dauerhaft zuhören. Ich habe gesagt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) grundsätzlich ist es nicht falsch, die Wohnungen zu ver- (B) Die Bundesanstalt für Arbeit verschickt in diesen Ta- (D) kaufen. gen mit Datum vom 21. Oktober eine Informationsbro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schüre über rentenwirksame Ausbildungssuche. Jugend- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber bei liche erhalten erste Bescheinigungen. Wer in dieser Zeit den Sozis ist es falsch!) beispielsweise weiterhin die Schulbank gedrückt hat und in einer vorbereitenden Maßnahme war, bekommt diese Ich habe kritisiert, unter welchem Zeitdruck Sie diesen Zeit der Ausbildungssuche angerechnet. Meine Damen Verkauf nun abwickeln. Jeder Käufer weiß, was dasund Herren, Sie müssen sich schon entscheiden. Was Sie heißt. wollen, haben Sie gestern im Ausschuss angedeutet. Im Referentenentwurf findet es sich nicht wieder. Ich hoffe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) also, dass dies noch geändert wird. Wenn Sie die Schwankungsreserve, wie mir Herr (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo- Staatssekretär Thönnes schrieb – wenn er da wäre, rüber reden wir hier eigentlich?) könnte er es auch hören –, grundsätzlich – Wir reden über das Gesetz, Herr Schmidt; ich tue das (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der ist jedenfalls im Gegensatz zu Ihren Rednern. übrigens da! Immer ein bisschen blind!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Entschuldigung, Herr Thönnes – für notwendig halten, neten der FDP) warum schreiben Sie dann nicht in den Gesetzentwurf hinein, dass Sie diese Reserve in Höhe von 1,5 statt von Lassen Sie mich an dieser Stelle noch beim Thema blei- 0,7 Monatsausgaben festlegen? Schreiben Sie hinein,ben. Die Kürzung der Anrechenbarkeit von Ausbil- dass Sie die Schwankungsreserve aufstocken wollen!dungszeiten wird ausdrücklich die Frauen treffen. Frau Damit verpflichteten Sie sich wenigstens, das anzustre- Sager, angesichts dessen ist es schon schamlos, wenn Sie ben, was Sie auch heute wieder dem Bürger zu verkün- hier von einer Besserstellung für Frauen sprechen. Im den versuchen. Übrigen hat die Regierung Kohl die Besserstellung für Frauen eingeführt, nicht Sie. Das bitte ich noch einmal Fakt ist: Ihnen fehlt wirklich die mittel- und langfris- zur Kenntnis zu nehmen. tige Perspektive. Das, was Sie nach Ihrer Rentenklausur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorgeschlagen haben, scheint auch völlig unabgestimmt neten der FDP) zu sein. Kritik daran ist auch in Ihren eigenen Reihen mehrfach zu hören. Frau Kollegin Sager und HerrDass es der Regierung trotz aller Vorschläge an lang- Müntefering, ich habe mir Ihre Ausführungen einefristigen Perspektiven fehlt, zeigt sich daran, wie viele 6144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Hildegard Müller (A) Verschiebebahnhöfe geschaffen werden. Die notwendige Präsident Wolfgang Thierse: (C) Reform der Pflegeversicherung wird schwierig – das Ich erteile dem Kollegen Peter Dreßen, SPD-Frak- haben auch Vertreter aus Ihren Reihen zugegeben –, da tion, das Wort. Sie dafür sorgen, dass die Rentnerinnen und Rentner den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen. Peter Dreßen (SPD): Damit verbauen Sie sich die Möglichkeit, die Pflegever- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich sicherung zu reformieren. Also ist auch das, was Sie dort unterstütze die Maßnahmen, die wir heute beschließen, machen, falsch. um die Auszahlung der Renten zu garantieren und die Ich halte fest: Es fehlt der Bundesregierung und der Beiträge zur Rentenversicherung zu stabilisieren. Koalition weiter an einem roten Faden, der sich durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ihre Politik zieht; die einzige Konstante sind das Chaos und die Verunsicherung. Sie haben das Vertrauen in die Keinem von uns sind diese Entschlüsse leicht gefal- Rente bei Jung und Alt nachhaltig zerstört. Sie schröpfen len. Auch ich bitte im Namen der SPD-Fraktion um Ver- die Alten und bieten den Jungen keine Perspektive. Viele ständnis bei den betroffenen Rentnerinnen und Rentnern sind überzeugt, dass mit ihnen bei der Alterssicherung und ich versichere ihnen, dass wir diese Kürzungen auch ein böses Spiel getrieben wird. Das Vertrauen in die Pro- auf Beamte und Abgeordnete übertragen, um die Lasten gnosen und in die Verlautbar ungen der Regierung und der gerecht zu verteilen. Rentenversicherungsträger geht mittlerweile gegen null. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte einmal eine Anregung geben, wie man die Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir angesichts der Glaubwürdigkeit vielleicht wieder herstellen kann.aktuellen wirtschaftlichen Lage jedoch alle dazu beitra- Wieso sollte es nicht möglich sein, zweimal pro Jahrgen, dass es in unserem Land wieder bergauf geht. Wenn – ähnlich wie beim Frühjahrs- und Herbstgutachten der ich die Krokodilstränen sehe, die einige Politiker der Wirtschaftsforschungsinstitute – einGutachten zur Opposition vergießen, weil 2004 auf dieRentenerhö- Lage der Sozialversicherung vorzustellen? Ich denke, hung verzichtet wird, so kann ich mir eine Anmerkung das würde die Glaubwürdigkeit wieder erhöhen, das nicht ganz verkneifen: Zwischen 1992 und 1998 – das würde Druck auf die politisch Handelnden ausüben und das würde den Bürgern Klarheit über die Finanzen ver- richtet sich insbesondere an Herrn Seehofer, weil er uns schaffen. kritisiert hat – sind die Renten langsamer als die Inflati- onsrate gestiegen, allerdings mit einer Ausnahme: Im Über das komplette Jahr hinweg haben wir von derWahljahr 1994 lag die Rentenerhöhung um 0,69 Prozent- Union Klarheit über die Rentenfi nanzen gefordert; deshalb punkte über der Preissteigerungsrate. Mit Wahlgeschen- (B) ist das, was Sie heute im Bundestag veranstaltet haben, ken ist allerdings keine langfristige Politik zu machen. (D) wirklich absurd. Man sieht es an unserem Entschließungs- antrag. Wir haben der Bundesregierung zahlreiche schrift- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) liche und mündliche Fragen gestellt; wir wurden immer Wären die Renten zwischen 1992 und 1998 dem Ni- wieder vertröstet, weil die Lage angeblich viel besser als veau der Preissteigerung angepasst worden, so hätten die von uns dargestellt ist. Man hat uns sogar beschimpft, dass Rentnerinnen und Rentner im Jahre 1998 rund 4,5 Pro- wir die Rentner in diesem Land verunsichern. zent mehr in der Tasche gehabt. Wir müssen jedoch ehr- licherweise zugeben, dass die Renten auch unter der rot- Heute stehen wir vor dem Ende der Schwankungsre- grünen Regierung nicht stark angestiegen sind. serve und damit vor einer Rente auf Pump. Machen Sie sich nichts vor! Die Fortsetzungstragödie der Irrungen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) und Wirrungen über die Einschnitte bei der Rente zeigt, dass Rot-Grün nur zwei Jahre nach der Verabschiedung Immerhin konnten wir seit Regierungsantritt dafür sor- der so genannten Riester-Jahrhundertreform – ich erin- gen, dass die Renten im letzten Jahr 7,05 Prozent höher nere an das, was ich gerade vorgelesen habe; Sie haben als 1998 waren. Damit lag die Rentenanpassung leicht behauptet, die Rente sei für Jahrzehnte sicher – trotz al- über der Preissteigerungsrate, Herr Kolb. ler gut gemeinten Kommissionsvorschläge – von ihnen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – liegt hier nichts zur Abstimmung vor – wieder vor einer Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dafür ist die Notoperation steht und kein langfristiges Konzept hat. Schwankungsreserve weg!) Das erforderliche Vertrauen der Menschen in das Sys- Im kommenden Jahr wird dies anders aussehen: Auf tem der gesetzlichen Rentenversicherung ist durch Ihre der Grundlage unserer heutigen Entscheidung wird es im wiederholte Flickschusterei endgültig verspielt. Es ist im nächsten Jahr zu einem Minus kommen. Bei den Rentne- Interesse aller Generationen, einen neuen Anfang zu ma- rinnen und Rentnern müssen wir dafür um Verständnis chen. Haben Sie den Mut, langfristige Maßnahmen zu bitten. Die Alternative zu dieser Entscheidung wäre ge- ergreifen, und speisen Sie die Bürgerinnen und Bürger wesen, die Beiträge auf 20,3 Prozent zu erhöhen. Über nicht dauerhaft mit solchen Kleinigkeiten ab, wie Sie es diese Möglichkeiten haben wir auch in unseren Reihen heute tun. lange debattiert. Letztendlich haben sich diejenigen Herzlichen Dank. durchgesetzt, die mit Recht darauf hingewiesen haben, dass die Arbeitnehmer schon in den letzten Jahren erheb- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- liche Einschnitte zu tragen hatten. Man denke nur an die neten der FDP) vielen Firmen, die Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6145

Peter Dreßen (A) übertarifliche Zulagen reduziert bzw. ganz abgeschafft Das heißt, wir hätten das einfach nicht finanzieren kön- (C) haben. Wir mussten also bei der Frage der gerechtennen. Sie sollten einmal so ehrlich sein und das zugeben Lastenverteilung abwägen. Natürlich wissen auch wir, und hier nicht immer so populistisch daherreden. dass die Rentnerinnen und Rentner durch das Gesund- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heitsmodernisierungsgesetz zusätzlich belastet werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber das trifft eben auch alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ferner haben wir eine Schieflage repariert, die Sie seit Jahren weiter verstärkt haben, indem Sie der Rentenver- Nun, Herr Seehofer, noch ein Wort zu dem, was Sie sicherung immer neue Zusatzleistungen aufgebürdet ha- vorhin gesagt haben. DerDemographiefaktor von ben. Damit haben Sie in die Taschen der Rentner und Blüm hätte ja zur Folge gehabt, dass die Renten niedri- Arbeitnehmer gegriffen. Mit der Ökosteuer haben wir ger geworden wären. dafür gesorgt, dass in Zukunft alle Fremdleistungen tat- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, langsamer sächlich durch Steuern finanziert werden. Das sollten gestiegen wären! Das ist ein Unterschied!) Sie auch einmal anerkennen. Sie haben sich ja selber nicht getraut, den Faktor in sei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner vollen Wirkung anzuwenden, sondern haben nur den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – halben Faktor wirken lassen, denn sonst wären die Ren- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war auch ten ja wirklich auf Sozialhilfeniveau abgesunken. Der vorher schon der Fall!) Unterschied zu Walter Riesters Reform liegt darin, dass Gebot der Stunde ist es un n aber nicht, über Fehler wir, nachdem wir gesehen haben, dass wir wahrschein- und Versäumnisse zu sprechen. Wir wollen die Notwen- lich die Renten auf dem bisherigen Niveau nicht halten digkeit der Mehrbelastung den Rentnerinnen und Rent- können, zusätzlich die privat finanzierte kapitalgedeckte nern verständlich machen. Ihre Vorgehensweise, die Altersvorsorge eingeführt haben, damit Arbeitnehmer Rentnerinnen und Rentner in diesem Land zu verunsi- weiterhin dieses Niveau erreichen können. Dass Sie und chern, halte ich für schäbig und verantwortungslos. andere das verteufelt haben, die heute am liebsten die Kritik, die sie damals geäußert haben, wieder zurückneh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des men würden, ist eine andere Sache. Immerhin – das darf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – ich einmal erwähnen – bekommt ein Arbeitnehmerhaus- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das machen Sie halt mit 30 000 Euro, früher also 60 000 DM, Einkom- doch!) men und zwei Kindern über 50 Prozent staatliche Zu- Wir werden alles tun – das sage ich den jungen Men- schüsse zu dieser privaten Versicherung im Zuge der schen –, dass es auch im Jahre 2040 Alterseinkommen (B) Riester-Reform. (D) gibt, mit denen man gut leben kann. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie ist denn die Die Renten sind bei der rot-grünen Bundesregierung Akzeptanz? Null!) in guten Händen. – Herr Kolb, 4 Millionen sind schon dabei. Wir wissen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass 58 Prozent in den alten Ländern durch betriebliche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- Altersvorsorge noch eine zusätzliche Versicherung ha- derspruch bei der CDU/CSU – Volker Kauder ben. Man sollte wirklich einmal aufpassen, was man da [CDU/CSU]: Da wird die Sau im Stall ver- von sich gibt. rückt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder man getrost vergessen! Unrichtiges wird durch [CDU/CSU]: Sehr richtig! Merken Sie sich Wiederholung nicht besser!) das mal Herr Dreßen!) Erst verteufelt man es und dann fragt man, warum es Präsident Wolfgang Thierse: nicht akzeptiert wird. Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Herr Seehofer, mich hat weiterhin gestört, dass Sie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- davon gesprochen haben, dass jemand, der 45 Versiche- ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. rungsjahre aufweist, ohne Abschlag in Rente gehen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hätte ich nicht sollte. Sie wissen es besser; wenn andere das sagen wür- gedacht!) den, könnte es sein, dass sie es nicht wissen. Aber Sie wissen doch, dass wir das noch oben und unten durchge- Mehr als 100 000 Menschen sind am 1. November in rechnet haben. Als Alternative, um das zu erreichen,Berlin auf die Straße gegangen. Sie haben gegen die Po- wäre doch nur übrig geblieben, entweder die Renten um litik der Bundesregierung protestiert. Sie haben gegen 10 Prozent abzusenken oder den Beitragssatz um 3 Pro- die Arbeitsmarktpolitik, gegen die Rentenpolitik, gegen zentpunkte anzuheben. Sie wissen doch, dass in dendie Gesundheitspolitik und gegen die Steuerpolitik von nächsten Jahren noch viele mit 59 Jahren diese Voraus- Rot-Grün protestiert. Man kann gar nicht alle Politikge- setzung von 45 Versicherungsjahren erfüllt haben wer- biete aufzählen, gegen die am vergangenen Sonnabend den. Auch ich gehöre ja zu der Generation, die mit 13,5 hier demonstriert wurde. Das würde mein Zeitbudget Jahren ihre Lehre begonnen hat. Das war damals üblich. von fünf Minuten übersteigen. Meine Damen und 6146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) Herren von Rot-Grün, vielleicht können Sie mir ein Poli- den ansonsten von Ihren eigenen Wählerinnen und(C) tikfeld nennen, wo Sie eine positive Resonanz aus der Wählern noch weitere Überraschungen erleben. Dass Bevölkerung erfahren. Ich kenne keines. die SPD in den Umfragen Woche für Woche tiefer stürzt – Sie sind bei einem historischen Tiefststand von Die Politiker der Regierung, aber auch der konservati- 23 Prozent angelangt –, sollte Ihnen zu denken geben. ven Opposition betreiben mit der Rente ein böses Spiel. Denn die Menschen in diesem Land haben einmal für Sie hetzen die Generationen gegeneinander auf, schüren Rot-Grün gestimmt, weil Sie versprochen hatten, eine Neid und Missgunst. Sie erklären, dass es den Rentnerin- Gerechtigkeitslücke in diesem Land zu schließen. Das nen und Rentnern zu gut geht. Aber in der Bundesrepu- Schließen dieser Gerechtigkeitslücke steht aus; im Au- blik leben circa 2,5 Millionen Frauen mit einer Rentegenblick tun Sie alles, um die Gerechtigkeitslücke grö- von unter 300 Euro pro Monat. Ich finde, das ist einßer zu machen. Sie beteiligen sich intensiv an einer Skandal für unser Land. Umverteilung von unten nach oben. Dafür sind Sie (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – nicht gewählt worden. Ändern Sie Ihre Politik! Zuruf von der SPD: Das stimmt doch gar (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) nicht!) Den Durchschnittsrentner gibt es nur in der Statistik. Präsident Wolfgang Thierse: Im wahren Leben treffen Sie ihn nicht. Ich sprach kürz- Ich erteile das Wort Kollegin Erika Lotz, SPD-Frak- lich in einem Seniorenheim in Mecklenburg mit demtion. Vorsitzenden des Heimbeirates, einem blinden Mann hoch in den Siebzigern. Er sagte mir: Ich habe 48 Jahre Erika Lotz (SPD): gearbeitet und werde demnächst meinen Heimplatz nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! mehr allein bezahlen können. Soll ich jetzt, nach Frau Müller hat eine wortgewaltige Rede gehalten 48 Arbeitsjahren, zum Sozialamt gehen und dort betteln, um ein Hemd oder um einen Wintermantel? (Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Sie bringen nicht nur die Generationen gegeneinander auf, Sie schüren auch den Konflikt zwischen Ost und und Noten verteilt. Das kennen wir mittlerweile. Aber West. Wenn über Ostrenten geredet wird, wird ver-Alternativen, Frau Müller? – Null. schwiegen, dass es hier nur um die gesetzliche Rente geht. Es wird nicht erwähnt, dass die meisten Ostdeut- (Beifall bei der SPD) schen keine Betriebsrente bekommen. Die Reichsbahner Mit Ihrem Antrag (B) zum Beispiel müssen auch 13 Jahre nach der staatlichen (D) Vereinigung immer noch um ihre Betriebsrenten kämp- (Tanja Gönner [CDU/CSU]: Lesen sollten Sie fen. ihn schon!) In Ostdeutschland wird fast jede dritte neue Rente– den habe ich gelesen – wollen Sie die Bundesregierung wegen Arbeitslosigkeit gezahlt – also vorzeitig. Diese auffordern, neuen Rentner erhalten bis zu 18 Prozent weniger Rente. … umgehend Auskunft über die kurz-, mittel- und Die neuen Renten der Jahre 2000 und 2001 liegen durch langfristige Entwicklung der Rentenfinanzen … zu diese Abschläge bereits spürbar unter denen aus der geben und... noch in diesem Jahr ein Konzept vor- Mitte der 90er-Jahre. Die eigentlichen Probleme kom- zulegen … men also noch auf uns zu. Liebe Frau Müller, das machen wir. Wenn Sie von Generationengerechtigkeit reden, dann verschweigen Sie, dass jede Rentensenkung heute auch (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb die Renten von morgen, also die Renten der zukünftigen [FDP]: Versprechen Sie nicht zu viel!) Rentnerinnen und Rentner senkt. Wenn Sie über Genera- Sie beklagen unsere Maßnahmen. Auf der heutigen tionengerechtigkeit reden, aber den Studierenden dieTagesordnung steht die Beratung von zwei Gesetzen, die Anrechnungszeiten für die Rente streichen, dann führen dazu beitragen sollen, dass der Rentenversicherungsbei- Sie Ihre eigenen Argumente selbst ad absurdum. trag bei 19,5 Prozent stabil bleibt. Wir sorgen dafür, dass Wir als PDS wollen eine Rente von allen für alle. Wir Arbeitnehmer und Unternehmer im nächsten Jahr keinen wollen, dass alle Einkommensarten zur Rente beitragen. höheren Beitrag zur Rentenversicherung zahlen müssen. Wir wollen, dass alle Erwerbstätigen – also auch Be-Dafür haben wir uns entschieden; denn Menschen in Ar- amte, Freiberufler und Selbstständige – in die gesetz-beit zu bringen hat für uns absoluten Vorrang. Steigende liche Rentenversicherung einzahlen und dass darüberLohnnebenkosten – dazu zählen die Beiträge zur Ren- hinaus Einkünfte aus Mieten und Zinsen für die Ren- tenversicherung – sind nun einmal für viele Unterneh- tenversicherung herangezogen werden. Wir von der PDS men ein Einstellungshindernis. Deshalb, Herr Seehofer, werden gegen die Rentenkürzung stimmen; das wird Sie könnte die CDU/CSU doch ruhig zustimmen. Vielleicht nicht überraschen. erinnern sich manche Rentner und Rentnerinnen noch daran, dass der Beitrag zur Rentenversicherung zwi- Sie von Rot-Grün sollten die Zeichen der Zeit erken- schen 1957 und 1967 bei 14 Prozent lag und bis 1980 nen, die am 1. November von über 100 000 Menschen 18 Prozent nicht überstieg. Deshalb werden sie auch ver- in Berlin bei ihren Protesten gesetzt wurden. Sie wer- stehen, dass der Beitrag jetzt nicht steigen darf, weil die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6147

Erika Lotz (A) Sicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen Vor- heute hier und im Bundesrat die Gesetze mitzutragen,(C) rang haben muss. Darum muss der Beitragssatz beidamit der Beitrag nicht steigen muss. Wir haben alles ge- 19,5 Prozent bleiben. Die Rentenanpassung zum Julitan, um den Rentenversicherungsbeitrag stabil zu halten. 2004 setzen wir dazu aus. Wir alle, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wissen, Wir entlasten die Rentenversicherung auch vom Pfle- dass die gesetzliche Rentenversicherung bei uns in geversicherungsbeitrag der Rentner. Diese müssen den Deutschland die wichtigste Säule der Alterssicherung Beitrag zukünftig alleine tragen, damit die Lohnneben- ist. Die Rentenversicherung braucht ein stabiles wirt- kosten nicht steigen. Nur so entstehen mehr Arbeits-schaftliches Fundament. Deshalb müssen wir vorrangig plätze; das liegt im Interesse von uns allen. die Beschäftigung im Auge haben, ohne dabei allerdings das verständliche Sicherungsbedürfnis der älteren Gene- Die Anhörung zu den Gesetzen in der letzten Woche ration zu vernachlässigen. hat gezeigt, dass auch die Experten – aus den Gewerk- schaften ebenso wie aus der Wirtschaft – keine Alterna- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tive zu unseren Vorschlägen sehen. Die Verschiebung der Rentenauszahlung für Neurentner auf das Mo-Diese Aufgabe müssen wir auch angesichts der demo- natsende – die einzige Maßnahme, über die der Bundes- graphischen Veränderungen in unserer Gesellschaft lö- rat mitentscheidet – hat die Bundesvereinigung der Ar- sen. Daran ernsthaft mitzuarbeiten ist die Opposition beitgeberverbände als „sachgerechte, sozialpolitischherzlich eingeladen. Wegen der demographischen Verän- vertretbare und die Betroffenen nicht überforderndederungen müssen wir auch dafür sorgen, dass die Kin- Maßnahme“ bezeichnet. Auch da könnte die CDU/CSU derbetreuung in unserem Land einen größeren Stellen- doch ruhig zustimmen. wert bekommt. Dazu hätten Sie, Herr Seehofer, in Bayern eine gute Gelegenheit. Auf Gegenvorschläge von Ihnen warte ich bis heute vergebens. Immer wieder nur zu sagen, wir hätten den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten demographischen Faktor nicht abschaffen dürfen, hilft des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht weiter. Zudem hätte dies alleine die Probleme nicht gelöst. Wir haben die Anpassungsformel 2001 geändert Präsident Wolfgang Thierse: – verschweigen Sie das doch nicht – und dadurch den Ich erteile das Wort Kollegen Jens Spahn, CDU/CSU- Anstieg der Renten gedämpft. Ihr demographischer Fak- Fraktion. tor hätte die Situation bei den Beiträgen bloß um 0,1 Prozentpunkte verbessert. Wäre es nach den Plänen Jens Spahn (CDU/CSU): Ihres Rentenreformgesetzes 1999 gegangen, hätten die (B) Beiträge höher gelegen und wir hätten ein Problem mehr Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am meis- (D) zu lösen gehabt. Die Diskussionen, die Sie, meine Da- ten stört mich – auch aus Sicht der jüngeren Generation – men und Herren von der CDU/CSU, öffentlich führen, an dieser Debatte, dass Sie durch Ihre Maßnahmen, die bewirken nur eines: Sie verunsichern die Rentnerinnen von Willkür, Unstetigkeit und Verschleierung geprägt und Rentner ebenso wie die Beitragszahler. sind, die Bereitschaft der Menschen zu wirklich grundle- genden und tief greifenden Reformen und damit auch das Es ist auch wenig hilfreich, die Arbeitnehmerinnen Vertrauen der Menschen in unser Rentensystem zerstö- und Arbeitnehmer dazu aufzufordern, sich ihrWeih- ren. nachtsgeld erst im Januar auszahlen zu lassen, wie das die Verbraucherschutzexpertin der CDU/CSU, Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Heinen, getan hat. Wer wie sie lange die Abteilung Sozi- Ich will das näher ausführen. Stichwort: Willkür. Die alpolitik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle geleitet hat, Rentenanpassung wird einfach einmal eben ausgesetzt. müsste doch wissen, dass sich dies bei den Einnahmen Es wird der volle Beitrag zur Pflegeversicherung erho- der Rentenversicherung bemerkbar macht. Außerdem ist ben. Das könnte man zwar systematisch begründen; aber es doch besser, wenn den Arbeitnehmerinnen und Ar- die Diskussion, die Sie geführt haben – das gilt auch für beitnehmern die Kaufkraft noch in diesem Jahr zufließt. die Krankenversicherungsbeiträge –, zeigt, dass Sie das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht aus systematischen Überlegungen tun, sondern deswegen, um am Ende Geld in die Kasse zu pumpen. Anschließend schreiben Sie dann wieder einen Antrag, Die Schwankungsreserve, also die Rücklage der Renten- mit dem Sie die Bundesregierung auffordern, Klarheit versicherung, wird einmal mehr gesenkt: erst von 0,8 auf über die Rentenfinanzierung zu schaffen. Das ist doch 0,5 und jetzt auf 0,2 Monatsausgaben. nicht solide. Es ist ein unfaires Verhalten und schadet der gesetzlichen Rentenversicherung. Ich frage mich natür- Damit bin ich beim nächsten Stichwort: Unstetigkeit. lich, ob wir Ihrer Aufforderung entnehmen können, dass Die Schwankungsreserve wird zwar jetzt einmal mehr es im Bundesrat doch zu einer Einigung über das Vorzie- gesenkt. Aber durch die Gänge schwirren schon erste hen der Steuerreform kommen wird. Das wäre immerhin Entwürfe, wonach sie wieder auf 1,5 Monatsausgaben eine positive Aussage. erhöht werden soll. Gleichzeitig wollen die Grünen sie ganz auflösen. Was denn nun? Sie sollten sich in dieser (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frage endlich einmal entscheiden. Wir leiten jetzt kurzfristige Reformmaßnahmen ein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich kann die Union nur noch einmal dazu auffordern, neten der FDP) 6148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Jens Spahn (A) Vor wenigen Wochen haben Sie im Haushaltsbegleit- ten muss, die sie überfordern. Es muss zu einer – fakti- (C) gesetz die Kürzung des Rentenzuschusses um 2 Milliar- schen und tatsächlichen – Erhöhung des Eintrittsalters in den Euro beschlossen. Nun machen Sie diese Kürzung die Rentenversicherung kommen. Die entsprechende wieder rückgängig. Eine kürzere Halbwertszeit hatte, so Anhörung hat gezeigt – das war eine der interessantesten glaube ich, ein hier beschlossenes Gesetz noch nie ge- Erkenntnisse –, dass uns die Erhöhung des faktischen habt. Es ist noch nicht einmal richtig in Kraft getreten, Renteneintrittsalters zwar kurzfristig Luft verschafft, sie da nehmen Sie es schon wieder zurück. Das macht doch aber aufgrund höherer Ansprüche am Ende nicht lang- die Unstetigkeit und Beliebigkeit Ihrer Politik in dieser fristig wirkt. Aber wenn es denn so ist, wie auch Herr Frage deutlich. Müntefering es dargestellt hat, dass die Menschen glück- licherweise länger leben, leuchtet es wohl jedem ein, Zum demographischen Faktor – die Kollegin hat es dass längere Lebensarbeitszeiten notwendig werden. gerade angesprochen –, 1998 von Ihnen noch als unan- ständig verdammt, sagt der Kanzler nun: Die Zurück- (Erika Lotz [SPD]: Was sagt denn der Herr nahme war ein Fehler. So ehrenhaft es ist, Mut einkehren Seehofer dazu?) zu lassen und endlich einmal einen Fehler zu gestehen: Dieser „Das war ein Fehler“-Fehler hat uns fünf Jahre Das Wichtigste ist die Stärkung der betrieblichen und gekostet. Die Menschen in diesem Land haben dadurch privaten Vorsorge. Es bleibt dabei: Das Wichtigste, was viel Geld und viel Vertrauen verloren! Sie, Frau Ministerin, zur Stärkung beitragen können, ist, den Menschen endlich ehrlich zu sagen, wie es um die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gesetzliche Rente bestellt ist, damit sie tatsächlich zu- neten der FDP) sätzlich privat vorsorgen. Stichwort: Verschleierung. Wer die Menschen, Frau Fazit: Ich bin sicher, Frau Sager, dass die Rentnerin- Ministerin, über die Wirkung der demographischen Ent- nen und Rentner, dass die Menschen in diesem Land zu wicklung auf die Rentenhöhe im Unklaren lässt, darfgrundlegenden Veränderungen und Reformen bereit sich am Ende nicht wundern, dass die Bereitschaft, pri- sind. Sie sind aber nicht bereit, eine Politik der kurzfris- vat und betrieblich vorzusorgen, derart unausgeprägt ist, tigen Maßnahmen mitzumachen. Sie werden grundle- wie es im Moment der Fall ist. Vor der Wahl war alles in gende Reformen und damit verbundene Einschnitte mit- Butter, obwohl wir Ihnen gesagt haben, dass Erhöhun- tragen, wenn sie wissen, dass diese ihren Kindern und gen drohen. Nach der Wahl musste eiligst ein Beitrags- Enkeln zugute kommen – nicht aber, wenn sie sehen, satzsicherungsgesetz beschlossen werden. dass wieder irgendwelche plötzlich auftretenden Löcher damit gestopft werden sollen. Wir sagen Ihnen seit Anfang des Jahres, dass weitere (B) Maßnahmen notwendig sind, um Rentenbeitragserhö- (Beifall bei der CDU/CSU) (D) hungen zu vermeiden. Bis jetzt gab es nur Beschwichti- gungen. Nun führen Sie wieder kurzfristige Hilfs-Wenn Sie nun abseits ehrenhafter Absichtserklärun- maßnahmen durch, ohne ein grundlegendes Konzept zu gen – mehr ist das, was bisher vorliegt, nicht; es gibt nur haben. einen Rentenentwurf, Es geht weiter: In den nächsten Jahren drohen auf- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Versuchs- grund der wirtschaftlichen und demographischen Ent- ballon ist aufgestiegen!) wicklung und weiterer von Ihnen geplanter Maßnahmen der durch die Gegend schwirrt, und einige Aussagen der wahrscheinlich – das ist eine Sache der Mathematik – Ministerin – den Mut zur Wahrheit und zur Klarheit den mehrere Nullrunden. Wir wie auch die Rentenversiche- Menschen gegenüber im Sinne langfristiger und grund- rungsträger weisen ehrlich darauf hin, damit sich dielegender Reformen nicht aus sich selbst heraus haben, Menschen darauf einstellen können. Die Frau Ministerin dann tun Sie es zumindest für meine, die junge Genera- aber zieht durch das Land und bezichtet jeden, der die tion. Wahrheit sagt, er betreibe Verunsicherung der Men- schen. Die Menschen verunsichert in Wahrheit Ihre Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schleierungs- und Salamitaktik. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Wolfgang Thierse: neten der FDP) Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Thönnes, Hören Sie mit dieser endlosen Verschleierung der Fakten SPD-Fraktion. auf und sagen Sie den Menschen endlich die Wahrheit über die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Redet er als Ab- geordneter? Will die Bundesregierung nichts Willkür, Unstetigkeit und Verschleierung – das sind damit zu tun haben?) keine guten Voraussetzungen, um die Menschen bei dem mitzunehmen, was eigentlich zu tun wäre, nämlich Franz Thönnes (SPD): grundlegende Reformen: zum Beispiel die Einführung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das eines wirklichen demographischen Faktors, der die Ren- ist das typische Bild: tenhöhe mit der Lebenserwartung und dem Verhältnis zwischen Rentenbeziehern und Erwerbstätigen ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Bundes- knüpft, damit in Zukunft keine Generation Beiträge leis- regierung kneift!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6149

Franz Thönnes (A) Herr Spahn erklärt den Beschluss des CDU-Bundesvor- man in der jetzigen Situation einverstanden; sie ist un-(C) stands, nach dem die Menschen in Zukunft bis zumverzichtbar. 67. Lebensjahr arbeiten sollen, während Herr Seehofer sagt, das alles sei gar nicht notwendig. Diese Fraktion ist Weil Sie das Rentenversicherungssystem als ein Sys- sich nicht einig und bietet damit kein geschlossenestem bezeichnet haben, das nicht politisch gestaltbar ist, Konzept zu einer dringend notwendigen Rentenreform möchte ich noch einmal deutlich in Erinnerung rufen: Es an. ist stabil und es ist gestaltungsfähig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 1986 hat Prognos in einem Gutachten vorausgesagt, dass Diese Bundesregierung findet gar nicht statt!) die Beiträge bis 2030 auf 36 Prozent steigen. Bei der So findet man auch keine Antworten auf die Zu-Rentenreform, die wir 1992 noch gemeinsam gemacht kunftsfragen. Notwendig ist eine Politik, welche diehaben, sind wir von einem Beitragssatzbis 2030 von Schritte geht, die wir in den letzten sechs Monaten ge- 26 Prozent ausgegangen. Bei der Rentenreform 2001, macht haben. Wir wollen auf den Wachstumspfad zu- die wir vorgenommen haben, konnten wir für das Jahr rück und Arbeitsplätze schaffen. Die Aussichten dafür 2030 schon einen Beitragssatz von 22 Prozent prognosti- haben sich erheblich gebessert. zieren. Es ist also durchaus gelungen – teilweise gemein- sam –, die Beiträge durch Leistungsausgrenzungen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anpassungsdämpfung bezahlbar zu halten und trotzdem den Rentnerinnen und Rentnern auf lange Sicht ein gutes Deswegen kann das Motto heute nur lauten:Lohn- Auskommen im Alter zu sichern. nebenkosten stabilisieren und senken, (Beifall bei der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo sinken sie denn? Eine Stabilisierung ist keine Senkung!) Sie haben denNachhaltigkeitsfaktor – bei Ihnen heißt er Demographiefaktor – angesprochen. Dazu damit alle Chancen für den konjunkturellen Aufschwung möchte ich Ihnen sagen: Er wird dazu beitragen, dass die und für mehr Beschäftigung genutzt werden können. demographische Entwicklung, das Verhältnis der Bei- (Beifall bei der SPD) tragszahlerinnen und Beitragszahler zu den Rentnerin- nen und Rentnern, in der Zukunft Auswirkungen auf die Die Chancen haben sich verbessert. Das DIW, dasRentenanpassungen haben wird. Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, sagt – so schreiben es die Zeitungen heute –, die deutsche Wirt- Uns hier, ohne seine eigene Geschichte zu reflektie- (B) schaft hat die Rezession überwunden. ren, den Vorwurf zu machen, die von uns vorgenomme- (D) nen Erhöhungen und Anpassungen seien nicht verläss- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gehen Sie in die lich gewesen, geht in die Leere. In den letzten vier Unternehmen und fragen Sie dort nach!) Jahren Ihrer Regierungsverantwortung sind den Rentne- Im dritten Quartal gibt esein Plus von 0,1 Prozent, im rinnen und Rentnern durch das ewige Hinterherlaufen vierten Quartal rechnen die Forscher mit plus 0,25 Pro- der Rentenanpassungen unterhalb der Inflationsrate gut zent. 38 Euro monatlich verloren gegangen. Das war Ihre Ver- lässlichkeit. Das waren Ihre Redlichkeit und Ihre Zuver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein kräf- lässigkeit. tiger Aufschwung!) (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Diese Daten bestätigen dieErholungssignale, die von [FDP]: Das schaffen Sie in einem Jahr!) den Frühindikatoren ausgehen, die der Ifo-Geschäfts- klima-Index seit Monaten ausweist. Die Deutsche Bank In den fünf Jahren, in denen diese Koalition regiert, geht sogar von 0,3 Prozent aus. ist es uns gelungen, das Rentenniveau zumindest zu wahren. Viermal erfolgte eine Rentenanpassung ober- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die überschla- halb der Inflationsrate; so viel zur Verlässlichkeit gen sich ja!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das heißt, wir können – wie das DIW sagt – mit steigen- der Produktion im nächsten Jahr rechnen. Dieser Trend und zur Teilhabe an der Entwicklung der Einkommen darf nicht gestört oder zerstört werden; er muss genutzt und zu dem Vorwurf, den Leuten werde ständig das Geld werden. aus der Tasche gezogen werden. Das ist bei Ihnen ge- schehen. (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Prinzip Hoffnung!) (Beifall der Abg. Helga Kühn-Mengel [SPD]) Sie haben hier auch die Bundesvereinigung der Ar- Nun zu dem Vorschlag von Herrn Seehofer, auf beitgeberverbände nicht auf Ihrer Seite. Auf die Frage, 45 Beitragsjahre abzustellen, um hier etwas Klarheit zu ob es Alternativen zu den jetzigen Entscheidungen gebe, schaffen. Dazu will ich festhalten: Zunächst gab es den sagte Herr Gunkel von der BDA bei der letzten Anhö- Beschluss des CDU-Bundesvorstandes, die Menschen rung, es sei unter Beschäftigungsgesichtspunkten sicher- sollen bis 67 Jahre arbeiten. Dann soll die Rente auf eine lich kontraproduktiv, nun die Arbeitskosten zu belasten. Basisrente reduziert werden, auf die ein 15-prozentiger Auch mit der Absenkung der Schwankungsreserve ist Aufschlag kommt – was nichts anderes wäre, als eine 6150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Franz Thönnes (A) Grundsicherung einzuführen. Und nun stellen Sie sich unterschrieben haben, ins Nichts fallen lässt. Was Sie(C) hierhin und wollen das Rentenniveau an 45 Versiche-vorschlagen, entspricht keiner verlässlichen Politik. rungsjahren festmachen. Warum sagen Sie den Men- schen nicht, was das kostet? Wenn die Menschen mit 60 (Beifall bei der SPD) in Rente gehen, verursacht das zusätzliche Kosten in Ebenso wenig verlässlich ist Ihr Verhalten in Sachen Höhe von 10 Milliarden Euro. GAGFAH. Sie, Frau Müller, werfen uns vor, dieses Wohnungsbauunternehmen werde nur verschleudert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 1997 hat man 2,3 Milliarden Euro dafür geboten – Ihr Sie sagen, Sie wollen dieKindererziehungszeiten Arbeits- und Sozialminister hat den Verkauf gestoppt! stärker anrechnen, Sie wollen sie verdoppeln. Das verur- Schon damals wäre es möglich gewesen, die GAGFAH sacht weitere Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro. zu verkaufen. Diese Bundesregierung kommt jetzt einem Außerdem wollen Sie einen Beitragssatz, der bei 20 Pro- Auftrag des Haushaltsausschusses und des Rechnungs- zent liegt. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet prüfungsausschusses nach. Einschnitte in die Leistungen um weitere 20 Milliarden (Peter Dreßen [SPD]: Des Gesetzes!) Euro. Das Bieterverfahren läuft und unterhalb des Buch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wertes in Höhe von 1,6 Milliarden Euro darf – das wis- Das ist nichts anderes als der Versuch, Ihre konfuse Ren- sen Sie – ein Verkauf auch nicht vollzogen werden. tenpolitik auch nach dem Regierungswechsel fortzuset- Wenn Sie nicht wollen, dass der Verkauf zu ungünstigen zen. Das ist kein Konzept,sondern das ist schlichtweg Konditionen erfolgen muss, dann – das gilt auch hier – konfus. reden Sie diesen Vorgang um die GAGFAH, die ein sta- biles und serviceorientiertes Wohnungsbauunternehmen (Beifall bei der SPD) ist, nicht schlecht. Wenn der Anteil der älteren Menschen in unserer Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sellschaft zunimmt und die Menschen gleichzeitig im sowie bei Abgeordneten der SPD) Durchschnitt immer älter werden, dazu die Erschwernis hoher Arbeitslosigkeit und geringerer Beitragseinnah- Präsident Wolfgang Thierse: men kommt, ist völlig klar, dass das die Gesellschaft et- Kollege Thönnes, kommen Sie bitte zum Ende! was kostet. Man muss den Menschen sagen, dass es da- rum geht, eine vernünftige Balance zwischen den Beitragszahlern, den Rentnerinnen und Rentnern und Franz Thönnes (SPD): (B) den Steuerzahlern zu wahren. Deswegen hat diese Re- Sie von der Opposition haben keine Antworten. Sie(D) gierung die Möglichkeiten derkapitalgedeckten Al- hätten sagen müssen, ob Sie die Steuern erhöhen wollen, tersvorsorge geschaffen, die wir mit 10 Milliarden Euro also einen höheren Staatszuschuss in Kauf nehmen, ob fördern. So können sich die Menschen eine ergänzende die Leistungen eingeschränkt werden sollen oder ob die Altersvorsorge aufbauen, damit sie im Alter ein ange- Beiträge heraufgesetzt werden sollen. Die Opposition messenes Auskommen haben. hat keine Alternative zu den Gesetzen, die hier vorlie- gen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Diese Gesetze werden mit dazu beitragen, dass die An dieser Stelle sage ich: Wir können darüber reden, Solidarität zwischen den Generationen das zentrale kon- wie wir den Zugang erleichtern, aber hören Sie endlich stitutive Element in unserem Rentenversicherungssys- auf, das alles schlechtzureden. So bekommen Sie jeden- tem bleibt. Auch in Zukunft müssen die Beiträge der falls keinen Zugang der Menschen zu dieser privaten Al- Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bezahlbar blei- tersvorsorge. ben und die Rentnerinnen und Rentner wissen, dass sie im Alter ein gutes Auskommen haben werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weil Sie, Herr Kolb, zuweilen etwas zum Thema DIE GRÜNEN) Frühverrentung dazwischenbrüllen, will ich zum Schluss sagen: Präsident Wolfgang Thierse: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich gebe Ihnen Ich schließe die Aussprache. eine Anregung!) Wir kommen zur Abstimmung über den von den Diese Regierung wird mit dem Gesetz zur Sicherung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Än- Rentenversicherung, dem so genannten Nachhaltigkeits- derung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und ande- gesetz, die Altersgrenze für die Frühverrentung von 60 rer Gesetze, Drucksache 15/1830. Der Ausschuss für auf 63 Jahre heraufsetzen. Das bedeutet Kalkulierbarkeit Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 1 für diejenigen, die aus der Altersteilzeit oder der Ar-seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1893, beitslosigkeit kommen und dies in Anspruch nehmen. den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Jeder kann sich darauf einstellen. Es erfolgt keine Voll- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der bremsung, die die Menschen, die entsprechende Verträge Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6151

Präsident Wolfgang Thierse (A) chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) (C) setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Stimmen der anderen Abgeordneten des Hauses ange- Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine nommen. Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht Dritte Beratung der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich möchte jetzt gern die Abstimmungen fortsetzen – Sind alle Plätze besetzt? – Das ist der Fall. Dann er- und bitte Sie der Übersichtlichkeit wegen, Platz zu neh- öffne ich die Abstimmung. men. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer etwas ganz Dringendes zu besprechen hat, tue das bitte draußen, da- Ich frage: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das mit ich hier eine Übersicht über die Stimmenverhältnisse seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Ich hoffe,habe. jetzt haben alle Abgeordneten ihre Stimme abgegeben. – Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe- Ich fahre jetzt in den Abstimmungen fort. rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Siche- nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später rung empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung bekannt gegeben.1) auf Drucksache 15/1893 die Ablehnung des Antrags der Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die Ab- Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Klarheit über stimmungen fortsetzen, möchte ich einen lieben Gast be- Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen – Not- grüßen. Auf der Tribüne hat soeben der Parlamentspräsi- wendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank dent Dr. Zaoralek aus der Tschechischen Republik mit schieben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie Drucksache 15/1014 abzulehnen. Wer stimmt für diese alle sehr herzlich. Beschlussempfehlung des Ausschusses? Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist (Beifall) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Liebe tschechische Kolleginnen und Kollegen, gerade Stimmen der Opposition angenommen worden. heute debattieren wir über verschiedene Fragen der Re- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- gierungskonferenz und der zukünftigen europäischen wurf der Fraktion der FDP zur Beendigung der Frühver- Verfassung. Dazu wünschen wir Ihnen jetzt einen auf- (B) rentung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit emp- (D) schlussreichen, wenn auch kurzen Eindruck unserer par- fiehlt auf Drucksache 15/1885, den Gesetzentwurf lamentarischen Arbeit. Für Ihren Aufenthalt heute hier abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in unserem Hause und für Ihr weiteres parlamentarisches zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche. dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in (Beifall) zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition ab- Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. gelehnt worden. Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD (Dr. [CDU/CSU]: Das und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent- bezweifle ich!) wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksa- Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- che 15/1831. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale tere Beratung. Sicherung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 15/1893, den Gesetzentwurf in (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da haben der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, mehr mit Ja gestimmt als da drüben mit Nein! die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Die schlafen ja alle!) men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- – Ich kann Sie wegen des Lärmpegels nicht verstehen, gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Herr Ramsauer. zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das tut mir CDU/CSU angenommen. Leid! – Jörg Tauss [SPD]: Der Lärmpegel kommt von Herrn Ramsauer!) Dritte Beratung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 g auf: und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen eine nament- a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- liche Abstimmung. – Die Schriftführerinnen und Schrift- neten Ernst Burgbacher, Sabine Leutheusser- führer haben die vorgesehenen Plätze eingenommen. Ich Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), wei- eröffne die Abstimmung. teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP

1) Ergebnis Seite 6152 D 2) Ergebnis Seite 6160 C 6152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeord- (C) derung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Ein- neter und der Fraktion der FDP führung eines Volksentscheids über eine euro- päische Verfassung Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsver- trag festschreiben – Unabhängigkeit der Euro- – Drucksache 15/1112 – päischen Zentralbank sichern (Erste Beratung 53. Sitzung) – Drucksache 15/1801 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Überweisungsvorschlag: schusses (6. Ausschuss) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Finanzausschuss – Drucksache 15/1897 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier f) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Dr. Norbert Röttgen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Jerzy Montag Die Errungenschaften des Konvents sichern – Rainer Funke das Europäische Verfassungsprojekt erfolg- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter reich vollenden Hintze, Michael Stübgen, , weite- – Drucksache 15/1878 – rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: Für eine zügige Regierungskonferenz über die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union EU-Verfassung g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 15/1694 – richts des Ausschusses für die Angelegenheiten Überweisungsvorschlag: der Europäischen Union (20. Ausschuss) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss – zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen Innenausschuss der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Rechtsausschuss NEN Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zu der Abgabe einer Erklärung durch die Verteidigungsausschuss Bundesregierung zu den Ergebnissen des Ausschuss für Bildung, Forschung und Europäischen Rates in Thessaloniki am 20./ Technikfolgenabschätzung 21. Juni 2003 (B) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (D) Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Haushaltsausschuss Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Ab- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter geordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gauweiler, Klaus Hofbauer, Dr. Gerd Müller, Zum Stand der Beratungen des EU-Verfas- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der sungs-Vertrages CDU/CSU – Drucksachen 15/1212, 15/1207, 15/1898 – Gottesbezug im Europäischen Verfassungsver- trag Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth (Heringen) – Drucksache 15/1695 – Peter Altmaier Überweisungsvorschlag: Anna Lührmann Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuss für Kultur und Medien die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen, wobei d) Beratung des Antrags der Abgeordnetendie FDP zwölf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Daniel Bahr Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Münster), weiterer Abgeordneter und der Frak- Bevor ich den ersten Redner aufrufe, bitte ich um tion der FDP mehr Ruhe. Daseinsvorsorge nicht gegen Wettbewerb aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des spielen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/1712 – Bevor wir in die Debatte eintreten, möchte ich das Überweisungsvorschlag: von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Innenausschuss Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Rechtsausschuss Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung mitteilen. Abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) stimmt 302, mit Nein haben gestimmt 284. Es gab keine e) Beratung des Antrags der AbgeordnetenEnthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit angenom- Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Sabinemen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6153

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Endgültiges Ergebnis Angelika Graf (Rosenheim) Eckhart Lewering (C) Abgegebene Stimmen: 586; Dieter Grasedieck Götz-Peter Lohmann Gerhard Schröder davon Gabriele Lösekrug-Möller Gisela Schröter Erika Lotz ja: 302 Brigitte Schulte (Hameln) Gabriele Groneberg Dr. Reinhard Schultz nein: 284 Achim Großmann Dirk Manzewski (Everswinkel) Wolfgang Grotthaus Tobias Marhold (Spandau) Ja Karl-Hermann Haack Lothar Mark Dr. Angelica Schwall-Düren (Extertal) Dr. Martin Schwanholz SPD Hans-Joachim Hacker Christoph Matschie Hilde Mattheis Erika Simm Dr. Lale Akgün Klaus Hagemann Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Alfred Hartenbach Petra-Evelyne Merkel Dr. Cornelie Sonntag- Ingrid Arndt-Brauer Michael Hartmann Ulrike Merten Wolgast (Wackernheim) Wolfgang Spanier Hermann Bachmaier Anke Hartnagel Ursula Mogg Dr. Margrit Spielmann (Neuruppin) Nina Hauer Michael Müller (Düsseldorf) Jörg-Otto Spiller Christian Müller (Zittau) Dr. Ditmar Staffelt Dr. Hans-Peter Bartels Reinhold Hemker Gesine Multhaupt Ludwig Stiegler Eckhardt Barthel (Berlin) Rolf Hempelmann Franz Müntefering Rolf Stöckel (Starnberg) Dr. Barbara Hendricks Dr. Rolf Mützenich Sören Bartol Volker Neumann (Bramsche) Christoph Strässer Sabine Bätzing Petra Heß Rita Streb-Hesse Monika Heubaum Dr. Erika Ober Dr. Peter Struck Gabriele Hiller-Ohm Holger Ortel Joachim Stünker Dr. Stephan Hilsberg Heinz Paula Jörg Tauss Gerd Höfer Johannes Pflug Jella Teuchner Hans-Werner Bertl Jelena Hoffmann (Chemnitz) Joachim Poß Dr. Gerald Thalheim Walter Hoffmann Dr. Wilhelm Priesmeier Wolfgang Thierse (Darmstadt) Franz Thönnes (Heidelberg) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Hans-Jürgen Uhl Eike Hovermann Karin Rehbock-Zureich Rüdiger Veit Gerd Friedrich Bollmann Klaas Hübner Gerold Reichenbach Simone Violka Klaus Brandner Christel Humme Dr. Carola Reimann Jörg Vogelsänger (B) Lothar Ibrügger Christel Riemann- (Pforzheim) (D) Brunhilde Irber Hanewinckel Dr. Marlies Volkmer (Hildesheim) Renate Jäger Hans Georg Wagner Hans-Günter Bruckmann Jann-Peter Janssen Reinhold Robbe Hedi Wegener Klaus-Werner Jonas René Röspel Andreas Weigel Marco Bülow Johannes Kahrs Dr. Ernst Dieter Rossmann Reinhard Weis (Stendal) Ulrich Kasparick Karin Roth (Esslingen) Petra Weis Dr. Michael Bürsch Dr. h.c. Susanne Kastner Michael Roth (Heringen) Gunter Weißgerber Hans Martin Bury Ulrich Kelber Gerhard Rübenkönig Matthias Weisheit Hans Büttner (Ingolstadt) Hans-Peter Kemper Marion Caspers-Merk Klaus Kirschner Marlene Rupprecht (Wiesloch) Dr. Peter Danckert Hans-Ulrich Klose (Tuchenbach) Dr. Herta Däubler-Gmelin Dr. Ernst Ulrich von Astrid Klug Thomas Sauer Weizsäcker Dr. Heinz Köhler (Coburg) Anton Schaaf Jochen Welt Peter Dreßen Axel Schäfer (Bochum) Dr. Detlef Dzembritzki Fritz Rudolf Körper Gudrun Schaich-Walch Lydia Westrich Karin Kortmann Inge Wettig-Danielmeier Siegmund Ehrmann Rolf Kramer Bernd Scheelen Dr. Hans Eichel Dr. Marga Elser Ernst Kranz Siegfried Scheffler Andrea Wicklein Nicolette Kressl Horst Schild Jürgen Wieczorek (Böhlen) Petra Ernstberger Volker Kröning Horst Schmidbauer Heidemarie Wieczorek-Zeul Karin Evers-Meyer Angelika Krüger-Leißner (Nürnberg) Dr. Dieter Wiefelspütz Annette Faße Dr. Hans-Ulrich Krüger (Aachen) Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Elke Ferner Horst Kubatschka Silvia Schmidt (Eisleben) Engelbert Wistuba Ernst Küchler (Meschede) Barbara Wittig Rainer Fornahl Helga Kühn-Mengel Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dr. Gabriele Frechen Ute Kumpf Heinz Schmitt (Landau) Verena Wohlleben Dr. Uwe Küster Waltraud Wolff Lilo Friedrich (Mettmann) Walter Schöler (Wolmirstedt) Iris Gleicke Christian Lange (Backnang) Heidi Wright Günter Gloser Christine Lehder Karsten Schönfeld Uwe Göllner Waltraud Lehn Fritz Schösser Manfred Helmut Zöllmer Renate Gradistanac Dr. Elke Leonhard Wilfried Schreck Dr. Christoph Zöpel 6154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) BÜNDNIS 90/DIE Günter Baumann Josef Göppel (C) GRÜNEN Ernst-Reinhard Beck Peter Götz (Recklinghausen) (Reutlingen) Dr. Wolfgang Götzer (Altötting) Veronika Bellmann Conny Mayer (Baiersbronn) Marieluise Beck (Bremen) Dr. Christoph Bergner Dr. Martin Mayer Volker Beck (Köln) Otto Bernhardt Hermann Gröhe (Siegertsbrunn) Dr. Wolfgang Meckelburg Michael Grosse-Brömer Dr. Michael Meister Markus Grübel Renate Blank Dr. Angela Merkel Grietje Bettin Friedrich Merz Karl-Theodor Freiherr von Ekin Deligöz und zu Guttenberg (Hamm) Dr. Thea Dückert Dr. Maria Böhmer Doris Meyer (Tapfheim) Jutta Dümpe-Krüger Holger-Heinrich Haibach Franziska Eichstädt-Bohlig Wolfgang Börnsen Dr. Uschi Eid (Bönstrup) Klaus-Jürgen Hedrich Klaus Minkel Hans-Josef Fell Wolfgang Bosbach Joseph Fischer (Frankfurt) Dr. Wolfgang Bötsch Ursula Heinen Stefan Müller (Erlangen) Katrin Göring-Eckardt Klaus Brähmig Uda Carmen Freia Heller Bernward Müller (Gera) Anja Hajduk Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Gerd Müller Jürgen Herrmann Hildegard Müller Antje Hermenau Monika Brüning (Bremen) Peter Hettlich Ernst Hinsken Henry Nitzsche Ulrike Höfken Verena Butalikakis Peter Hintze Thilo Hoppe Hartmut Büttner Robert Hochbaum Günter Nooke Michaele Hustedt (Schönebeck) Klaus Hofbauer Dr. Georg Nüßlein Fritz Kuhn Cajus Caesar Franz Obermeier Renate Künast (Emstek) Joachim Hörster Undine Kurth (Quedlinburg) Peter H. Carstensen Hubert Hüppe Melanie Oßwald Markus Kurth (Nordstrand) Susanne Jaffke Rita Pawelski Dr. Reinhard Loske Dr. Dr. Peter Paziorek Anna Lührmann Dr. Egon Jüttner Ulrich Petzold Jerzy Montag Bartholomäus Kalb Dr. Kerstin Müller (Köln) Albert Deß Steffen Kampeter Sibylle Pfeiffer Winfried Nachtwei Irmgard Karwatzki Dr. Friedbert Pflüger (B) Christa Nickels Vera Dominke Bernhard Kaster Beatrix Philipp (D) Friedrich Ostendorff Thomas Dörflinger Siegfried Kauder (Bad Simone Probst Marie-Luise Dött Dürrheim) (Augsburg) Maria Eichhorn Volker Kauder Daniela Raab Krista Sager Gerlinde Kaupa Thomas Rachel Christine Scheel (Lübeck) Hans Raidel Irmingard Schewe-Gerigk Jürgen Klimke Dr. Peter Ramsauer Rezzo Schlauch Kristina Köhler (Wiesbaden) Helmut Rauber Albert Schmidt (Ingolstadt) Dr. Hans Georg Faust Manfred Kolbe Christa Reichard (Dresden) Werner Schulz (Berlin) Albrecht Feibel Norbert Königshofen Petra Selg Enak Ferlemann Hartmut Koschyk Hans-Peter Repnik Ursula Sowa Hartwig Fischer (Göttingen) Thomas Kossendey Rainder Steenblock Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Silke Stokar von Neuforn Axel E. Fischer (Karlsruhe- Günther Krichbaum Hannelore Roedel Hans-Christian Ströbele Land) Günter Krings Franz-Xaver Romer Jürgen Trittin Dr. Dr. Martina Krogmann Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Marianne Tritz Klaus-Peter Flosbach Dr. Hermann Kues Dr. Klaus Rose Hubert Ulrich Werner Kuhn (Zingst) Kurt J. Rossmanith Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Röttgen Dr. Antje Vollmer (Hof) (Heidelberg) Dr. Christian Ruck Dr. Ludger Volmer Erich G. Fritz Dr. Volker Rühe Josef Philip Winkler Jochen-Konrad Fromme (Weiden) Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Michael Fuchs Barbara Lanzinger Peter Rzepka Hans-Joachim Fuchtel Karl-Josef Laumann Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Peter Gauweiler Dr. Wolfgang Schäuble Nein Dr. Jürgen Gehb Werner Lensing Hartmut Schauerte Peter Letzgus CDU/CSU Ursula Lietz Norbert Schindler Walter Link (Diepholz) Georg Schirmbeck Ilse Aigner Georg Girisch Eduard Lintner Andreas Schmidt (Mülheim) Peter Altmaier Michael Glos Dr. Klaus W. Lippold Dr. Dietrich Austermann Ralf Göbel (Offenbach) Dr. Ole Schröder Dr. Reinhard Göhner Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Wolf Bauer Tanja Gönner Dr. Michael Luther Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6155

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wilhelm Josef Sebastian Andrea Astrid Voßhoff Jörg van Essen Markus Löning (C) Horst Seehofer Gerhard Wächter Ulrike Flach Dirk Niebel Kurt Segner Marko Wanderwitz Otto Fricke Günther Friedrich Nolting Matthias Sehling Peter Weiß (Emmendingen) Horst Friedrich (Bayreuth) Hans-Joachim Otto Marion Seib Gerald Weiß (Groß-Gerau) Rainer Funke (Frankfurt) Heinz Seiffert Dr. Eberhard Otto (Godern) Bernd Siebert Annette Widmann-Mauz Joachim Günther (Plauen) Detlef Parr Klaus-Peter Willsch Dr. Cornelia Pieper Willy Wimmer (Neuss) Dr. Christel Happach-Kasan Gisela Piltz Jens Spahn Christoph Hartmann Dr. Werner Wittlich (Homburg) Dr. Günter Rexrodt Dagmar Wöhrl Klaus Haupt Marita Sehn Gero Storjohann Elke Wülfing Ulrich Heinrich Dr. Andreas Storm Wolfgang Zeitlmann Birgit Homburger Dr. Wolfgang Zöller Dr. Rainer Stinner Matthäus Strebl Dr. Werner Hoyer Willi Zylajew Dr. Dieter Thomae Thomas Strobl (Heilbronn) Jürgen Türk Lena Strothmann Dr. Heinrich L. Kolb FDP Jürgen Koppelin Dr. Guido Westerwelle Michael Stübgen Dr. Claudia Winterstein Daniel Bahr (Münster) Edeltraut Töpfer Rainer Brüderle Harald Leibrecht Fraktionslose Abgeordnete Dr. Hans-Peter Uhl Ina Lenke Ernst Burgbacher Sabine Leutheusser- Dr. Gesine Lötzsch Volkmar Uwe Vogel Helga Daub Schnarrenberger Petra Pau

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des enger werdenden Integration der europäischen Völker, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) darin besteht, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dass Europa kein Nullsummenspiel ist, bei Das Ergebnis der anderen namentlichen Abstimmung dem der eine verliert und der andere gewinnt, sondern teile ich Ihnen mit, sobald es vorliegt. dass es auf den europäischen Mehrwert ankommt. Ge- In der Debatte erteile ich jetzt dem Abgeordnetengenwärtig erinnert das, was zurzeit geschieht, eher an einen Pferdehandel. (B) Dr. Werner Hoyer das Wort. (D) (Beifall bei der FDP) Dr. Werner Hoyer (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns hier im Bundestag, im Europäischen In nur fünf Wochen sollen und wollen die Staats- undParlament oder sonstwo hätte einen anderen ihm ideal Regierungschefs der Europäischen Union denVerfas- erscheinenden Verfassungstext geschrieben, als dies der sungsvertragsentwurf unter Dach und Fach bringen. Konvent getan hat. Ich hätte mir einen sehr viel schlan- Gegenwärtig befindet man sich in einer Art Hängepartie. keren und strafferen Verfassungstext gewünscht, in dem Es ist noch längst nicht klar, wie die noch existierenden die einzelnen Politikbereiche außerhalb der Verfassung Konflikte aufgelöst werden können. getrennt aufgeführt werden. Der Unterschied wird in diesen beiden Büchern deutlich: In meiner einen Hand Ich fürchte, auch diesmal werden viele der ganz wich- halte ich den Verfassungsteil des Vertragsentwurfs, in tigen Fragen bis zum Schluss offen bleiben. In einermeiner anderen die einzelnen Politikbereiche. Nacht der langen Messer werden die Staats- und Regie- rungschefs selber verhandeln müssen. Nach den Erfah- Ich als Liberaler hätte mir ein sehr viel klareres Be- rungen von Amsterdam und Nizza ist das nicht unbe-kenntnis zu Freiheit, Wettbewerb und Vielfalt ge- dingt der Königsweg, um zu sachgerechten Ergebnissen wünscht. Ich hätte mir die insgesamt gelungene Rege- zu kommen. lung für Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit noch stringenter vorstellen können, obwohl ich betonen muss, (Beifall bei der FDP) dass hier sehr viel erreicht worden ist. Ich hätte mir eine Ich fürchte, dass die nicht nur von uns zu Recht als er- klarere Prioritätensetzung für das geldpolitische Ziel der folgreich gelobte Konventsmethode nachträglich relati- Preisniveaustabilität gewünscht. Im Rat ist Gott sei viert werden könnte. Ich fürchte vor allem, dass der Ver- Dank dazu wohl ein Erfolg erzielt worden. tragsentwurf gegenüber dem Entwurf des Konvents Ich hätte mir darüber hinaus gewünscht, dass der unterm Strich nicht verbessert, sondern verschlimmbes- Europäischen Zentralbank nicht der Organcharakter sert werden könnte. zugeschrieben wird, sondern sie die Unabhängigkeit be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) hält, die ihr im Vertrag von Maastricht und Amsterdam zugewiesen ist, Ich fürchte darüber hinaus, dass sich am Ende diejeni- gen durchsetzen könnten, die nicht sehen wollen, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Grundgedanke der „ever closer union“, der immer der CDU/CSU) 6156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Werner Hoyer (A) ohne jede Form des Verdachtes der Relativierung durch Ich sehe das Prinzip der doppelten Mehrheit, das für (C) die Loyalitätsverpflichtung, die ein Organ gegenüberuns absolut nicht verhandelbar sein darf, zum Schluss den anderen Organen der Europäischen Union beachten doch noch gefährdet. Schließlich – das ist mir gestern muss. hammerhart klar geworden – sehe ich die Gefahr, dass das Europäische Parlament in der Schlussrunde entschei- Manche meiner Wünsche kann man vielleicht noch dend geschwächt wird, wenn das Recht des Europäi- durchsetzen, wenn man es denn will. Das gilt insbeson- schen Parlaments auf die Letztentscheidung über die dere für die Frage derGeldpolitik der Zentralbank. Ausgabenseite des Haushalts schließlich doch beim Eco- Ohne den Vertrag aufzuschnüren, ist es leicht möglich, fin-Rat landet, und nicht beim Europäischen Parlament das Maastricht-Protokoll eins zu eins in den Vertragstext bleibt. zu übernehmen. Ich hoffe, dass dies so verhandelt wird und dann auch gelingt. Das Problem besteht wahrschein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lich darin, dass diese Bundesregierung genau das nicht will. Kein Wunder, dass der Finanzminister heute nicht Das wäre die totale Bankrotterklärung der deutschen da ist. Verhandlungsstrategie. Ich hoffe, Sie werden nicht mit einem solchen Ergebnis aus Rom zurückkommen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er war aber schon da!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Was soll denn das?) Es geht um die Versuchung, denStabilitäts- und Wachstumspakt durch den Verfassungsvertrag auf kal- Wir Freien Demokraten wollen Ihnen vorschlagen, tem Wege möglichst lautlos zu Grabe zu tragen. das Volk in die Lage zu versetzen, dem Verfassungsver- trag ausdrücklich zuzustimmen. Wir wollen deshalb (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ein Anschlag heute auf Initiative unseres Freundes Ernst Burgbacher auf die Stabilität!) einen Grundgesetzänderungsantrag, mit dem die Mög- lichkeit des Referendums eröffnet wird, einbringen und Das ist Verrat am Euro. Das ist Verrat am Vertrauen der darüber abstimmen lassen. Wir sind keineswegs für Menschen in den Euro. Volksentscheide über alle möglichen Quisquilien. Aber (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn es um eine so wesentliche, weitgehende Weichen- der CDU/CSU) stellung für die Zukunft eines Volkes geht, dann muss das Volk die Möglichkeit haben, Ja oder Nein zu sagen. Das ist ein Vertrauensbruch gegenüber den Partnern, de- nen Deutsche bis vor kurzem noch meinten Vorträge (Beifall bei der FDP) über finanzpolitische Solidität halten zu müssen. (B) Die Kollegin Lührmann hat am 8. Mai ein flammen- (D) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Den Euro des Plädoyer für den Volksentscheid über die Verfassung würde es ohne den Stabilitätspakt nicht ge- gehalten. Ich gratuliere dazu. Ich bedanke mich bei ben!) Ministerpräsident Stoiber, der noch im Juli gesagt hat: „Ich sage schon lange, dass die Einführung des Euro die Zurück zu den Änderungswünschen. Ich sehe auch letzte EU-Entscheidung dieser Tragweite ohne Volksbe- die Änderungswünsche anderer Länder. Die Debatte in fragung gewesen sein muss.“ Ich könnte noch viele an- Frankreich ist spannend. Wenn man sich vorstellt, dass dere zitieren, zum Beispiel Herrn Singhammer oder in der Partei von François Mitterrand gegenwärtig eine Elmar Brok. Vor allen Dingen möchte ich mich bei unse- Debatte darüber stattfindet, ob dieser Vertrag nicht zu rem Bundestagsvertreter im Konvent, Professor Jürgen wettbewerbsorientiert und zu neoliberal ist, wie es dort Meyer, bedanken, der im März gemeinsam mit Kollegen heißt, dann fragt man sich, ob die Schöpfer dieses Kon- aus fast allen Ländern den Antrag einbrachte, der Kon- ventsentwurfs insgesamt nicht doch eine gute Balance vent solle allen Mitgliedstaaten verbindliche Referenden gefunden haben. empfehlen und da, wo es die nationale Verfassung nicht Deshalb warne auch ich davor, das Paket aufzuschnü- hergibt, zumindest Volksbefragungen empfehlen. ren. Dabei kann unter Umständen etwas sehr Schlechtes (Günter Gloser [SPD]: Sie zitieren heute Herrn herauskommen. Aber ich frage mich, ob sich die Bun- Stoiber!) desregierung nicht schon längst darauf eingerichtet hat, dass sie aufschnüren muss, und ich befürchte, dass das Wir von der FDP stehen mit unserer Forderung also kei- dann geschieht, ohne dass ein einziges wichtiges natio- neswegs alleine. Ich bin nur gespannt, wie die selbster- nales Anliegen Deutschlands noch einmal auf den Tisch nannten Mitglieder der Speerspitze direkter Demokratie der Verhandlungsrunde gebracht worden ist. nachher abstimmen werden. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!) (Joseph Fischer, Bundesminister: Ablehnen!) Ich sehe eine Fülle von Konzessionen, die schon jetzt in Referenden bergen Risiken; das wissen wir alle. Sie der Pipeline sind, beispielsweise dass es am Ende 31bergen vor allen Dingen das Risiko, dass über alles Kommissare und nicht 15 sein werden. Ich sehe mehr Mögliche diskutiert wird, über die Abtreibung in Irland, Abgeordnete Spaniens und Portugals im Europäischen über den Gottesbezug in der Verfassung Polens oder Parlament als im Konventsentwurf vorgesehen und da- über eine Regierung in Deutschland, die abgewirtschaf- mit eine Verschärfung des Problems der ungleichge-tet hat, nur nicht darüber, worum es eigentlich geht. wichtigen Verteilung der Parlamentsmandate. Diese Gefahr besteht. Aber man kann das, Herr Minister, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6157

Dr. Werner Hoyer (A) auch umkehren. Man kann nämlich sagen, dass ein Refe- Transparenz für die EU liegen in unserem ureigenen In- (C) rendum uns endlich als Politiker in die Pflicht nimmt, teresse. und zwar alle, für diese europäische Verfassung einzu- Dass wir unserer Vision einer europäischen Verfas- stehen und in unseren Wahlkreisen dafür zu kämpfen. sung so nahe gekommen sind, haben wir demVerfas- (Beifall bei der FDP) sungskonvent zu verdanken. Er war mehrheitlich mit Abgeordneten – Vertreterinnen und Vertretern der natio- Bei der Debatte über den Euro gab es doch einenalen Parlamente und des Europäischen Parlaments – schmerzliche Erfahrung. Viele, die mit ihrer Abstim-besetzt. Endlich ging es nicht länger um nationalstaatli- mung im Parlament große Verantwortung für Deutsch- che Egoismen; nun stand ein gesamteuropäisches Inte- land und Europa übernehmen, bleiben während der öf- resse im Mittelpunkt der Verhandlungen. Der Konvent fentlichen Debatte über Europa lieber mit angelegten hat ein eindrucksvolles Ergebnis vorgelegt. Ich denke, Löffeln in der Ackerfurche liegen und überlassen dasdass wir in diesem Hause darin im Großen und Ganzen Europageschäft den Spezialisten. Ist das nicht ein peinli- übereinstimmen. ches Zeichen vorauseilender Resignation, wenn wir hier im Deutschen Bundestag wahrscheinlich mit einer über- Nun sind die Regierungen gefordert. Sie stehen jetzt großen Mehrheit, fast einstimmig, dem Verfassungsver- in der Pflicht, den verfassunggebenden Prozess erfolg- trag zustimmen werden, reich fortzusetzen. Die Regierungskonferenz muss bis zum Jahresende ihre Arbeit abschließen. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So weit sind wir noch nicht!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Warum denn?) uns aber nicht zutrauen, die Mehrheit der Bürgerinnen Leider können wir dieser Regierungskonferenz kein gu- und Bürger davon zu überzeugen? tes Zwischenzeugnis ausstellen. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das liegt an (Beifall bei der FDP) Fischer!) Wir Freien Demokraten wollen als überzeugte Euro- Im Gegenteil: Eine große Anzahl von Mitgliedstaaten päerinnen und Europäer mitjahrzehntelanger Tradition will die Uhr noch einmal zurückdrehen. Sie scheinen liberaler Europapolitik den Bürgern die Möglichkeit ge- nichts aus dem weitgehenden Scheitern vergangener Re- ben, Ja zu sagen. Wir wollen ihnen auch die Empfehlung gierungskonferenzen gelernt zu haben. Der Verfassungs- geben, zu diesem Vertragsentwurf Ja zu sagen, wenn in konvent war doch kein generöses Geschenk der Regie- Rom auf den letzten Metern etwas wirklich Vertretbares rungen an die Parlamente. Vielmehr haben wir uns herauskommt. Geben Sie, meine Damen und Herren,dieses Stückchen Demokratie erstreiten müssen. (B) den Bürgerinnen und Bürgern diese Chance! Es geht um (D) eine der wichtigsten Weichenstellungen in der Ge-Ich setze nur begrenzt Vertrauen in ein Verfahren, das schichte unseres Landes. die europäische Verfassung wieder allein in die Hände von Regierungen und Diplomaten legt und sie den Parla- Danke schön. menten weitgehend und der Öffentlichkeit vollständig (Beifall bei der FDP) entzieht. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: GRÜNEN und der FDP – Dr. Gerd Müller Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Roth. [CDU/CSU]: Aber Sie können doch nicht die Bundesregierung in dieser Frage angreifen! Es (Beifall bei der SPD) ist unglaublich, was Sie machen!) – Zur Bundesregierung komme ich noch, lieber Kollege Michael Roth (Heringen) (SPD): Müller. Sie hat sich bislang glücklicherweise ganz an- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ders und sehr vorbildlich verhalten. Das wissen Sie ge- Europa lässt sich ohne Verfassung nicht in eine gute Zu- nauso gut wie ich. kunft führen. Wir brauchen eine Verfassung, die Europa auf einem starken Fundament von Werten und Grund- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten überzeugungen wachsen lässt, die eine tragfähige Brü- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – cke zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wen meinen Sie den politischen Institutionen andererseits bildet und die denn damit?) deutlich macht, wer in Europa für was zuständig ist. Wir Die Chancen des Bundestages, direkten Einfluss auf brauchen eine Verfassung, die Europa in einer globali- die Verhandlungen der Regierungskonferenz zu nehmen, sierten Welt handlungsfähiger macht und die vor allem sind mehr als begrenzt. Insofern müssen wir den Men- demokratische und transparente Entscheidungsprozesse schen reinen Wein einschenken. garantiert. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So werden Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nie Staatsminister!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das liegt leider in der Natur der Sache. Daher kann ich Deshalb ist die heutige Debatte im Deutschen Bundestag die Äußerungen von Mitgliedern des Bundesver- so wichtig. Mehr Demokratie, Handlungsfähigkeit und fassungsgerichts nicht nachvollziehen, die in der 6158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Michael Roth (Heringen) (A) Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei jetzt das (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (C) Parlament gefordert, sich einzubringen. So sehr ich mir GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- im Bundestag europapolitische Debatten vor vollem ten der CDU/CSU) Hause wünsche, so verfehlt wäre doch die Annahme, wir säßen mit am Verhandlungstisch der europäischenDass in einer Regierungskonferenz verhandelt und Staats- und Regierungschefs. auch gestritten werden muss, steht auch für die SPD- Bundestagsfraktion völlig außer Zweifel. Wir markieren Die historische Bedeutung des Konvents liegt doch jedoch klare rote Linien, die nicht überschritten werden gerade in der Mitwirkung und Mitentscheidung der Par- dürfen. Wir sind nicht bereit, jeden Rückschritt und je- lamente. Mehr Demokratie wurde im verfassunggeben- den Formelkompromiss zu akzeptieren. Für uns gibt es den Prozess Europas noch nie gewagt. Der Bundestag kein Zurück hinter die Errungenschaften des Konventes. hat keinen Grund, sich zu beschweren. Wir haben unsere Die EU ist nicht nur eine Union der Staaten, sondern Rechte im Rahmen unserer Möglichkeiten genutzt. Al- auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Das muss lein die Koalitionsfraktionen brachten zwei Anträge ein, sich in den Entscheidungsprozessen widerspiegeln. die eine Richtschnur für unsere Delegierten im Konvent waren. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Die derzeitigen Debatten in der Regierungskonferenz geben Anlass zu großer Sorge. Ich stimme darin aus-Daher ist für uns eine Abkehr von dem Prinzip der dop- drücklich mit dem Kollegen Hoyer überein. Einige Re- pelten Mehrheit im Rat inakzeptabel. gierungen tun so, als hätten sie mit dem Verfassungsent- Die EU braucht auch ein starkes Parlament als Partner wurf nichts zu tun, so als hätten sie nichtder nationalen am Parlamente. Daher ist für uns eine Schwä- Verhandlungstisch gesessen. chung des Europäischen Parlaments in allen Haus- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie meinen die haltsangelegenheiten, wie dies zum Teil Stimmen aus deutsche Regierung, oder?) dem Ecofin-Rat irrigerweise fordern, völlig inakzepta- bel. Ist der Entwurf etwa vom Himmel gefallen? (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Auch der deut- Die Bundesregierung – jetzt komme ich zu dem sche Finanzminister!) Punkt, den Sie sich sehnlichst gewünscht haben, Herr – Der deutsche Außenminister hat klar Stellung bezogen Kollege Müller – und darauf hingewiesen, dass er diese Auffassung nicht teile. Hier vertraue ich unserem Finanzminister genauso. (B) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Unsere Regie- (D) rung tut gar nichts! Sie schaut nur zu!) Guten Gewissens können wir nur dann Kompetenzen hat sich von Anfang an hinter den Konventsentwurf ge- an die EU abtreten, wenn die Aufgaben, die uns bislang stellt. als Bundestag zukommen, vom Europäischen Parlament wahrgenommen werden können. Die EU braucht auch (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und jetzt mehr Transparenz. Daher müssen die Räte öffentlich schläft sie seit drei Monaten!) beraten und entscheiden. Das ist ein Stück Demokratie, das man der europäischen Ebene nicht nehmen darf. Sie will das Kompromisspaket nicht noch einmal auf- Deswegen halten wir auch an unserer Forderung nach ei- schnüren. Sie ist – damit zitiere ich eine Äußerung von nem Legislativrat fest, der sich irgendwann einmal – das Staatssekretär Scharioth in der gestrigen Sitzung des Eu- ist ein Traum – zu einer Staatenkammer weiterentwi- ropaausschusses – der Gralshüter dieses Verfassungsent- ckeln könnte. wurfs. Für diesen mutigen Einsatz danken wir dem Bun- deskanzler und auch dem Außenminister. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die EU braucht mehr Handlungsfähigkeit, vor allem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in der Außen- und Sicherheitspolitik. Darüber haben wir im Bundestag häufig genug gestritten und waren meis- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht aber auch tens einer Meinung. Das Amt eines europäischen Au- Anlass zur Kritik. Wir sollten in diesem Zusammenhang ßenministers darf daher nicht noch einmal infrage ge- eine deutlichere Sprache sprechen als bislang. Vor allem stellt werden. Wir müssen endlich die Blockaden die mittelosteuropäischen Länder haben mit dem Weg überwinden und in möglichst vielen Politikfeldern im in die EU einen langen und steinigen Weg zurückgelegt. Rat mit Mehrheit und nicht länger einstimmig entschei- Ihnen wurde und wird eine Menge abverlangt. Bei allem den. Wer jetzt die Axt an zukunftsweisende Fortschritte Respekt für ihre schwierige Lage bin ich mehr als ent- ansetzt, auf die sich der Konvent verständigt hat, muss täuscht über manche Blockade. Wie man beispielsweise mit unserem Widerspruch und Widerstand rechnen. die komplizierte und wenig demokratische Stimmenge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wichtung im Rat, auf die man sich in Nizza mehr GRÜNEN und der FDP) schlecht als recht verständigen konnte, zu einer Frage der nationalen Ehre, sogar zu einer Frage über Leben Nun streiten wir auch in der heutigen Bundestagsde- und Tod aufbauschen kann, ist mir mehr als schleierhaft. batte darüber, wie wir uns gegenüber der Regierungs- So kommen wir in Europa nicht voran! konferenz politisch positionieren sollten und was wir der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6159

Michael Roth (Heringen) (A) Regierung mit auf den Weg geben sollten. Selbstver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) ständlich finden wir als Sozialdemokraten nicht alle un- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – sere Forderungen im Konventsentwurf wieder. Wir hät- Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nichts hat er ten uns in einigen Bereichen klarere Regelungen und gemacht!) größere Fortschritte gewünscht. Aber es wäre gefährlich, Er hat gesagt, er könne damit leben. wenn auch wir nun als „Gralshüter“ mit einem langen Wunschzettel die Regierungskonferenz traktierten. Die (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Er wehre sich Versuchung – ich kann das gut verstehen, Herr Kollege nicht gegen eine Aufnahme, hat er gesagt!) Müller – mag groß sein, in der Regierungskonferenz das – Schaum vor dem Mund bringt uns in dieser Frage durchzusetzen, was sich im Konvent nicht erreichen ließ. überhaupt nicht weiter. Wir sollten mit dieser Frage sehr Aber glaubt denn wirklich jemand, dass sich das Kon- sensibel umgehen. ventsergebnis durch eine Regierungskonferenz nachhal- tig verbessern ließe? – Mitnichten! Leider unterliegt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch die Union diesem Irrglauben. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es in Europa (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: 23 Mitglied- streng laizistisch organisierte oder verfasste Staaten gibt. staaten glauben das!) Für die wäre eine Bezugnahme auf Gott zumindest pro- blematisch. Auch diesen Staaten müssen wir Respekt Die CDU hat sich von der CSU aufs Glatteis führen las- entgegenbringen. Da hilft doch gar nichts. sen und sich den Schneid abkaufen lassen. Der bayeri- sche Ministerpräsident geht im Bundesrat sogar so weit, (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Schröder als dass er sich über die bekannte Liste der Union hinaus Atheist wehrt sich da nicht! – Günter Gloser weitere Forderungen vorbehält. Das ist unverantwort- [SPD]: Müller erzähl nicht solche Unwahrhei- lich. ten!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin vor allem deshalb für den Gottesbezug, weil er DIE GRÜNEN) keine Glaubensgemeinschaft ausschließt. Er dürfte also auch für Atheisten, für Agnostiker tolerabel sein. Wie wollen wir denn andere Mitgliedstaaten daran hindern, Errungenschaften im institutionellen Bereich (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Natürlich! anzutasten, wenn wir selbst den gefundenen Kompro- Auch für den Kanzler!) miss fortwährend infrage stellen? Die Regierungskonfe- Ein ausdrücklicher Hinweis allein auf das christliche renz sollte sich auf Präzisierungen und einige wenigeErbe jedoch ist für mich inakzeptabel. Die herausra- (B) Änderungen beschränken, die aber an der Substanz des gende Bedeutung des Christentums für Identität, Ent-(D) Konventsentwurfs nichts ändern. So stünde beispiels- wicklung, historische Höhen und Tiefen von Europas weise aus unserer Sicht und auch aus der Sicht desGeschichte steht völlig außer Zweifel. Aber waren das Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes – darüber haben antike Rom und Griechenland nicht ebenso wirkungs- wir schon auf der gestrigen Sitzung des Europaausschus- mächtig für Rechts- und Staatsordnung, Philosophie und ses gesprochen – eine klareren Hinweis auf den Schutz politische Ideengeschichte? Dürfen wir die Bedeutung nationaler Minderheiten, so wie dies die Ungarn fordern, des europäischen Judentums ignorieren oder den Jahr- nichts im Wege. hunderte währenden Einfluss desIslam auf Naturwis- senschaften, Kunst und Architektur, übrigens nicht nur Ebenso halte ich eine Debatte über denGottesbezug auf der Iberischen Halbinsel? für mehr als legitim. Aber, meine Damen und Herren von der Union, über so etwas kann und darf man doch (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nein, das nicht entlang von Fraktionslinien diskutieren. Es gibt dürfen wir nicht!) auch in meiner Fraktion nicht wenige, die eine Bezug- Sind nicht auch das wesentliche Quellen der Inspiration nahme auf Gott für hilfreich und unterstützungswürdig für und in Europa? halten. Ich persönlich setze mich sehr für eine entspre- chende Formulierung ein. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Natürlich! – Günter Gloser [SPD]: Müller ist begrenzt!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann unter- stützen Sie doch unseren Antrag!) Die FDP und manche Vertreter von Wissenschaft und Medien, die vom neoliberalen Zeitgeist umweht sind, Den Gläubigen, egal wo sie sitzen, bei der Union, bei haben ihren Frieden mit der sozialen Dimension Europas der SPD, bei der FDP oder auch bei den Grünen, tut es offensichtlich noch nicht geschlossen. Diese Auseinan- sicherlich gut, zu wissen, dass wir auch in Europas Ver- dersetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der fassung Begrenzungen unseres Handelns und das Einge- FDP, sind wir gern bereitzu führen. Freier Markt und bunden-Sein in unseren Glauben finden können. hemmungsloser Wettbewerb sind mit unserem europäi- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Der Kanzler schen Gesellschaftsmodell unvereinbar. hat in dieser Frage bisher nichts getan!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Sie hätten dem Kanzler einmal zuhören sollen. Der Kanzler hatte nämlich einen sehr guten Vorschlag unter- Europa definiert sich über soziale Grundrechte für breitet. alle Bürgerinnen und Bürger. Europa lebt von Solidarität 6160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Michael Roth (Heringen) (A) und Gerechtigkeit. Das sind Prinzipien, für die Sozialde- Bislang sind wir am Widerstand der Union gescheitert. (C) mokratinnen und Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Die Frage eines Referendums zur europäischen Verfas- viele Verbände und Organisationen während der Erarbei- sung muss in ein Gesamtkonzept eingebettet sein. tung der Grundrechtecharta und im Verfassungskonvent erfolgreich gestritten haben. Diese Errungenschaften las- Zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sen wir uns von niemandem nehmen. Wir werden dies steht viel auf dem Spiel. Bei der europäischen Verfas- auch im Rahmen des Europawahlkampfs deutlich zu ma- sung geht es nicht nur um Institutionen und Regularien, chen versuchen. auch wenn wir Europapolitiker manchmal ein bisschen zu viel darüber reden. Es geht um unserWertefunda- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ment. Es geht um unser Selbstverständnis von Europa, Die FDP fordert ein Referendum über die europäische das die Globalisierung nur demokratisch oder gar nicht Verfassung. Mein Kollege Axel Schäfer wird sich nach- aktiv zu gestalten vermag. Von diesem guten Geist wa- her noch eingehend dazu äußern. Sie stehen mit dieser ren die Beratungen des Konvents geprägt. Ich vermisse Forderung – das sage ich ganz offen – nicht allein. Es ihn leider bei der Regierungskonferenz. Aber es ist noch gibt aber ebenso viele Stimmen, die das aus vielerleinicht zu spät. Auch wir als Deutscher Bundestag sind ge- Gründen vehement ablehnen. Ich erinnere nur an denfordert. Lassen Sie uns heuteein klares Signal für den Präsidenten des Europäischen Parlaments,Pat Cox, Verfassungsentwurf des Konvents setzen! Er hat unser meines Wissens ein Liberaler. Er hat in der vergangenen aller Unterstützung mehr als verdient. Sitzung des Europaausschusses eindringlich vor den Ge- Vielen Dank. fahren eines Referendums gewarnt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Koalition streitet seit 1998 für die Verankerung von mehr direkter Demokratie in unserem Grundgesetz. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und SES 90/DIE GRÜNEN) Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten nament- lichen Abstimmung bekannt. Sie betraf den Entwurf ei- Wir müssen von der grundsätzlichen Notwendigkeit ple- nes Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches biszitärer Elemente also überhaupt nicht überzeugt wer- Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Abgegebene den. Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 341, mit Nein ha- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Angst vor dem ben gestimmt 240, Enthaltungen gab es keine. Der Ge- (B) Vo l k! ) setzentwurf ist damit angenommen worden. (D)

Endgültiges Ergebnis Rudolf Bindig Elke Ferner Rolf Hempelmann Abgegebene Stimmen: 584; Lothar Binding (Heidelberg) Gabriele Fograscher Dr. Barbara Hendricks davon Kurt Bodewig Rainer Fornahl Gustav Herzog Gerd Friedrich Bollmann Gabriele Frechen Petra Heß ja: 343 Klaus Brandner Dagmar Freitag Monika Heubaum nein: 241 Willi Brase Lilo Friedrich (Mettmann) Gabriele Hiller-Ohm Bernhard Brinkmann Iris Gleicke Stephan Hilsberg Ja (Hildesheim) Günter Gloser Gerd Höfer Hans-Günter Bruckmann Uwe Göllner Jelena Hoffmann (Chemnitz) SPD Edelgard Bulmahn Renate Gradistanac Walter Hoffmann Marco Bülow Angelika Graf (Rosenheim) (Darmstadt) Dr. Lale Akgün Ulla Burchardt Dieter Grasedieck Frank Hofmann (Volkach) Gerd Andres Dr. Michael Bürsch Monika Griefahn Eike Hovermann Ingrid Arndt-Brauer Hans Martin Bury Kerstin Griese Klaas Hübner Rainer Arnold Hans Büttner (Ingolstadt) Gabriele Groneberg Lothar Ibrügger Hermann Bachmaier Marion Caspers-Merk Achim Großmann Brunhilde Irber Ernst Bahr (Neuruppin) Dr. Peter Danckert Wolfgang Grotthaus Renate Jäger Doris Barnett Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl-Hermann Haack Jann-Peter Janssen Dr. Hans-Peter Bartels Karl Diller (Extertal) Klaus-Werner Jonas Eckhardt Barthel (Berlin) Peter Dreßen Hans-Joachim Hacker Johannes Kahrs Klaus Barthel (Starnberg) Detlef Dzembritzki Bettina Hagedorn Ulrich Kasparick Sören Bartol Sebastian Edathy Klaus Hagemann Dr. h.c. Susanne Kastner Sabine Bätzing Siegmund Ehrmann Alfred Hartenbach Ulrich Kelber Uwe Beckmeyer Hans Eichel Michael Hartmann Hans-Peter Kemper Klaus Uwe Benneter Marga Elser (Wackernheim) Klaus Kirschner Dr. Axel Berg Gernot Erler Anke Hartnagel Hans-Ulrich Klose Ute Berg Petra Ernstberger Nina Hauer Astrid Klug Hans-Werner Bertl Karin Evers-Meyer Hubertus Heil Dr. Heinz Köhler (Coburg) Petra Bierwirth Annette Faße Reinhold Hemker Walter Kolbow Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6161

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Fritz Rudolf Körper Rudolf Scharping Dr. Margrit Wetzel Dr. Antje Vogel-Sperl (C) Karin Kortmann Bernd Scheelen Andrea Wicklein Dr. Antje Vollmer Rolf Kramer Dr. Hermann Scheer Jürgen Wieczorek (Böhlen) Dr. Ludger Volmer Anette Kramme Siegfried Scheffler Heidemarie Wieczorek-Zeul Josef Philip Winkler Ernst Kranz Horst Schild Dr. Dieter Wiefelspütz Margareta Wolf (Frankfurt) Nicolette Kressl Horst Schmidbauer Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Volker Kröning (Nürnberg) Engelbert Wistuba FDP Angelika Krüger-Leißner Ulla Schmidt (Aachen) Barbara Wittig Daniel Bahr (Münster) Horst Kubatschka Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Wolfgang Wodarg Rainer Brüderle Ernst Küchler Dagmar Schmidt (Meschede) Verena Wohlleben Angelika Brunkhorst Helga Kühn-Mengel Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Waltraud Wolff Ernst Burgbacher (Wolmirstedt) Ute Kumpf Heinz Schmitt (Landau) Helga Daub Heidi Wright Dr. Uwe Küster Carsten Schneider Jörg van Essen Uta Zapf Christine Lambrecht Walter Schöler Ulrike Flach Manfred Helmut Zöllmer Christian Lange (Backnang) Olaf Scholz Otto Fricke Dr. Christoph Zöpel Christine Lehder Karsten Schönfeld Horst Friedrich (Bayreuth) Waltraud Lehn Fritz Schösser Rainer Funke BÜNDNIS 90/DIE Dr. Elke Leonhard Wilfried Schreck Dr. Wolfgang Gerhardt GRÜNEN Eckhart Lewering Ottmar Schreiner Joachim Günther (Plauen) Götz-Peter Lohmann Gerhard Schröder Kerstin Andreae Dr. Karlheinz Guttmacher Gabriele Lösekrug-Möller Gisela Schröter Marieluise Beck (Bremen) Dr. Christel Happach-Kasan Erika Lotz Brigitte Schulte (Hameln) Volker Beck (Köln) Christoph Hartmann Dr. Christine Lucyga Reinhard Schultz Cornelia Behm (Homburg) Dirk Manzewski (Everswinkel) Birgitt Bender Klaus Haupt Tobias Marhold Swen Schulz (Spandau) Matthias Berninger Ulrich Heinrich Lothar Mark Dr. Angelica Schwall-Düren Grietje Bettin Birgit Homburger Caren Marks Dr. Martin Schwanholz Alexander Bonde Dr. Werner Hoyer Christoph Matschie Rolf Schwanitz Ekin Deligöz Michael Kauch Hilde Mattheis Erika Simm Dr. Thea Dückert Dr. Heinrich L. Kolb Markus Meckel Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Jutta Dümpe-Krüger Jürgen Koppelin Petra-Evelyne Merkel Dr. Cornelie Sonntag- Franziska Eichstädt-Bohlig Sibylle Laurischk Ulrike Merten Wolgast Dr. Uschi Eid Harald Leibrecht Angelika Mertens Wolfgang Spanier Hans-Josef Fell Ina Lenke Ursula Mogg Dr. Margrit Spielmann Joseph Fischer (Frankfurt) Sabine Leutheusser- (B) Michael Müller (Düsseldorf) Jörg-Otto Spiller Katrin Göring-Eckardt Schnarrenberger (D) Christian Müller (Zittau) Dr. Ditmar Staffelt Anja Hajduk Markus Löning Gesine Multhaupt Ludwig Stiegler Winfried Hermann Dirk Niebel Franz Müntefering Rolf Stöckel Antje Hermenau Günther Friedrich Nolting Dr. Rolf Mützenich Christoph Strässer Peter Hettlich Hans-Joachim Otto Volker Neumann (Bramsche) Rita Streb-Hesse Ulrike Höfken (Frankfurt) Dietmar Nietan Dr. Peter Struck Thilo Hoppe Eberhard Otto (Godern) Dr. Erika Ober Joachim Stünker Michaele Hustedt Detlef Parr Holger Ortel Jörg Tauss Fritz Kuhn Cornelia Pieper Heinz Paula Jella Teuchner Renate Künast Gisela Piltz Johannes Pflug Dr. Gerald Thalheim Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Andreas Pinkwart Joachim Poß Wolfgang Thierse Markus Kurth Dr. Günter Rexrodt Dr. Wilhelm Priesmeier Franz Thönnes Dr. Reinhard Loske Marita Sehn Florian Pronold Hans-Jürgen Uhl Anna Lührmann Dr. Hermann Otto Solms Dr. Sascha Raabe Rüdiger Veit Jerzy Montag Dr. Max Stadler Karin Rehbock-Zureich Simone Violka Kerstin Müller (Köln) Dr. Rainer Stinner Gerold Reichenbach Jörg Vogelsänger Winfried Nachtwei Dr. Dieter Thomae Dr. Carola Reimann Ute Vogt (Pforzheim) Christa Nickels Jürgen Türk Christel Riemann- Dr. Marlies Volkmer Friedrich Ostendorff Dr. Guido Westerwelle Hanewinckel Hans Georg Wagner Simone Probst Dr. Claudia Winterstein Walter Riester Hedi Wegener Claudia Roth (Augsburg) Reinhold Robbe Andreas Weigel Krista Sager René Röspel Reinhard Weis (Stendal) Christine Scheel Nein Dr. Ernst Dieter Rossmann Petra Weis Irmingard Schewe-Gerigk CDU/CSU Karin Roth (Esslingen) Gunter Weißgerber Albert Schmidt (Ingolstadt) Michael Roth (Heringen) Matthias Weisheit Werner Schulz (Berlin) Ulrich Adam Gerhard Rübenkönig Gert Weisskirchen Petra Selg Ilse Aigner Ortwin Runde (Wiesloch) Ursula Sowa Peter Altmaier Marlene Rupprecht Dr. Ernst Ulrich von Rainder Steenblock Dietrich Austermann (Tuchenbach) Weizsäcker Silke Stokar von Neuforn Norbert Barthle Thomas Sauer Jochen Welt Hans-Christian Ströbele Dr. Wolf Bauer Anton Schaaf Dr. Rainer Wend Jürgen Trittin Günter Baumann Axel Schäfer (Bochum) Lydia Westrich Marianne Tritz Ernst-Reinhard Beck Gudrun Schaich-Walch Inge Wettig-Danielmeier Hubert Ulrich (Reutlingen) 6162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Veronika Bellmann Ralf Göbel Werner Lensing Dr. Norbert Röttgen (C) Dr. Christoph Bergner Dr. Reinhard Göhner Peter Letzgus Dr. Christian Ruck Otto Bernhardt Tanja Gönner Ursula Lietz Volker Rühe Dr. Rolf Bietmann Josef Göppel Walter Link (Diepholz) Albert Rupprecht (Weiden) Clemens Binninger Peter Götz Eduard Lintner Peter Rzepka Renate Blank Dr. Wolfgang Götzer Dr. Klaus W. Lippold Anita Schäfer (Saalstadt) Peter Bleser Ute Granold (Offenbach) Dr. Wolfgang Schäuble Antje Blumenthal Reinhard Grindel Patricia Lips Hartmut Schauerte Dr. Maria Böhmer Hermann Gröhe Dr. Michael Luther Andreas Scheuer Jochen Borchert Michael Grosse-Brömer Erwin Marschewski Norbert Schindler Wolfgang Börnsen Markus Grübel (Recklinghausen) Georg Schirmbeck (Bönstrup) Manfred Grund Stephan Mayer (Altötting) Andreas Schmidt (Mülheim) Wolfgang Bosbach Karl-Theodor Freiherr von Conny Mayer (Baiersbronn) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Wolfgang Bötsch und zu Guttenberg Dr. Martin Mayer Dr. Ole Schröder Klaus Brähmig Olav Gutting (Siegertsbrunn) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Ralf Brauksiepe Holger-Heinrich Haibach Wolfgang Meckelburg Uwe Schummer Helge Braun Gerda Hasselfeldt Dr. Michael Meister Wilhelm Josef Sebastian Dr. Angela Merkel Monika Brüning Klaus-Jürgen Hedrich Horst Seehofer Helmut Heiderich Friedrich Merz Georg Brunnhuber Kurt Segner Verena Butalikakis Ursula Heinen Laurenz Meyer (Hamm) Matthias Sehling Hartmut Büttner Uda Carmen Freia Heller Doris Meyer (Tapfheim) Marion Seib (Schönebeck) Michael Hennrich Maria Michalk Heinz Seiffert Cajus Caesar Jürgen Herrmann Hans Michelbach Bernd Siebert Manfred Carstens (Emstek) Bernd Heynemann Klaus Minkel Peter H. Carstensen Ernst Hinsken Marlene Mortler Thomas Silberhorn (Nordstrand) Peter Hintze Stefan Müller (Erlangen) Johannes Singhammer Gitta Connemann Robert Hochbaum Bernward Müller (Gera) Jens Spahn Leo Dautzenberg Klaus Hofbauer Dr. Gerd Müller Erika Steinbach Hubert Deittert Martin Hohmann Hildegard Müller Christian von Stetten Albert Deß Joachim Hörster Bernd Neumann (Bremen) Gero Storjohann Alexander Dobrindt Hubert Hüppe Henry Nitzsche Andreas Storm Vera Dominke Susanne Jaffke Michaela Noll Max Straubinger Thomas Dörflinger Dr. Peter Jahr Günter Nooke Matthäus Strebl Marie-Luise Dött Dr. Egon Jüttner Dr. Georg Nüßlein Thomas Strobl (Heilbronn) Franz Obermeier Lena Strothmann (B) Maria Eichhorn Bartholomäus Kalb (D) Rainer Eppelmann Steffen Kampeter Eduard Oswald Michael Stübgen Anke Eymer (Lübeck) Irmgard Karwatzki Melanie Oßwald Antje Tillmann Georg Fahrenschon Bernhard Kaster Rita Pawelski Edeltraut Töpfer Ilse Falk Siegfried Kauder (Bad Dr. Peter Paziorek Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Hans Georg Faust Dürrheim) Ulrich Petzold Arnold Vaatz Albrecht Feibel Volker Kauder Dr. Joachim Pfeiffer Volkmar Uwe Vogel Enak Ferlemann Eckart von Klaeden Sibylle Pfeiffer Andrea Astrid Voßhoff Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Dr. Friedbert Pflüger Gerhard Wächter Dirk Fischer (Hamburg) Julia Klöckner Beatrix Philipp Marko Wanderwitz Axel E. Fischer (Karlsruhe- Kristina Köhler (Wiesbaden) Ronald Pofalla Peter Weiß (Emmendingen) Land) Manfred Kolbe Ruprecht Polenz Gerald Weiß (Groß-Gerau) Dr. Maria Flachsbarth Norbert Königshofen Daniela Raab Ingo Wellenreuther Klaus-Peter Flosbach Hartmut Koschyk Thomas Rachel Annette Widmann-Mauz Herbert Frankenhauser Thomas Kossendey Hans Raidel Klaus-Peter Willsch Dr. Hans-Peter Friedrich Michael Kretschmer Dr. Peter Ramsauer Willy Wimmer (Neuss) (Hof) Günther Krichbaum Helmut Rauber Matthias Wissmann Erich G. Fritz Günter Krings Peter Rauen Werner Wittlich Jochen-Konrad Fromme Dr. Martina Krogmann Christa Reichard (Dresden) Dagmar Wöhrl Dr. Michael Fuchs Dr. Hermann Kues Katherina Reiche Elke Wülfing Hans-Joachim Fuchtel Werner Kuhn (Zingst) Hans-Peter Repnik Wolfgang Zeitlmann Dr. Peter Gauweiler Dr. Karl A. Lamers Klaus Riegert Wolfgang Zöller Dr. Jürgen Gehb (Heidelberg) Dr. Heinz Riesenhuber Willi Zylajew Norbert Geis Dr. Norbert Lammert Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Roland Gewalt Helmut Lamp Fraktionslose Abgeordnete Eberhard Gienger Barbara Lanzinger Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Georg Girisch Karl-Josef Laumann Dr. Klaus Rose Dr. Gesine Lötzsch Michael Glos Vera Lengsfeld Kurt J. Rossmanith Petra Pau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6163

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile dem Meine Damen und Herren, wenn wir unsere eigene(C) Abgeordneten Peter Hintze das Wort. Bundesregierung noch ein wenig in Schutz nehmen wol- len, die auf der europäischen Ebene eine Verpflichtung (Beifall bei der CDU/CSU) hat, lautet das wichtigste Argument: Eine solche Volks- abstimmung wäre mit Sicherheit einBlitzableiter für Peter Hintze (CDU/CSU): die Unzufriedenheit der Bevölkerung über eine Regie- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undrung, die eine derartig desaströse Politik macht, dass wir Herren! Uns liegt heute ein Antrag der FDP-Fraktion zur uns real und stimmungsmäßig in einem historischen Tief Änderung des Grundgesetzes vor, um einen Volksent- befinden. Wir können Europa nicht darunter leiden las- scheid über die zukünftige EU-Verfassung in Deutsch- sen, dass diese Regierung eine so schlechte Politik macht. land durchzuführen. Es war interessant, eben beim Kol- (Beifall bei der CDU/CSU) legen Roth ein wenig zu verfolgen, welchen Eiertanz die rot-grüne Gruppe hier im Deutschen Bundestag bei die- Mit wachsender Sorge, Herr Bundesaußenminister, sem Thema aufführt; verfolgen wir auch die Strategie der Bundesregierung in der Regierungskonferenz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist ehr- (Markus Löning [FDP]: Seit wann hat sie eine lich!) Strategie?) denn sie hat immer nach Plebisziten geschrien. MeinDas läuft im Moment nach dem Motto: Die anderen Kollege Vorredner hat in einem Punkt Recht: In dieser bringen die Verschlechterungen ein und die deutsche Frage gibt es in diesem Haus eine einzige Fraktion, die Bundesregierung weigert sich, als richtig erkannte Ver- kristallklar die Leitprinzipien derrepräsentativen besserungen vorzuschlagen. Demokratie vertritt, die uns in Deutschland und Europa (Zuruf von der CDU/CSU: Unverantwortlich! Stabilität gebracht haben, und das sind wir, liebe Kolle- Selbst Herr Roth sieht das anders!) ginnen und Kollegen. Diese Arbeitsteilung halte ich für unglücklich. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mit Beim Start der Regierungskonferenz – das betrifft den Ausnahme der CSU! – Wilhelm Schmidt gesamten Deutschen Bundestag – wurde direkt in der [Salzgitter] [SPD]: Lächerlich, Herr Hintze! – ersten Sitzung ein Kernelement der europäischen Verfas- Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sung eliminiert, nämlich der Legislativrat, der eindeutig NEN]: Karneval!) mehr Transparenz und mehr Demokratie in die europäi- (B) schen Entscheidungsprozesse gebracht hätte. Ich weiß, (D) – Verehrter Kollege Westerwelle, ich spreche für CDU der Bundesaußenminister hat mannhaft dagegen gefoch- und CSU. ten, aber mir kommt es auf Folgendes an: Es geht nicht (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir sind an, dass die anderen Salamischeibe für Salamischeibe hier nicht im Kabarett!) Elemente aus der Verfassung herausnehmen, während wir, da wir uns dem Entwurf verpflichtet fühlen, aus un- Ich halte es für einen fatalen Fehler, das Grundgesetz serer Sicht keine Verbesserungen an anderer Stelle vor- zu ändern. Der Kollege Hoyer hat uns in der intellektuel- schlagen, len Redlichkeit, die wir von ihm kennen, dafür auch die notwendigen Belege geliefert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die man, wenn man so etwas schon hinnimmt, vielleicht Eine Volksabstimmung über Europa wäre nichts an- auch als Gegenstück hineinbringen könnte. Ich erwarte deres als eine Bühne für Sektierer und Randalierer, also von unserer Bundesregierung, dass sie ihre hierbei (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verfolgte Strategie ändert. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Rainder auf der alle Kräfte, die eine europäische Verfassung Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: durchbringen müssen, Unverantwortlich!) (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist eine Als Nächstes droht eineBeschränkung des Haus- Beleidigung von Herrn Stoiber!) haltsrechts des Europäischen Parlaments. sich mit antieuropäischen Ressentiments herumschlagen (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Skandalös!) müssten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Haushaltsrecht ist (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich weise die das Kernrecht des Parlaments. Jedenfalls für unsere Anwürfe gegen Kollegen Stoiber zurück! Herr Fraktion sage ich hier: Die Kollegen im Europäischen Stoiber ist kein Sektierer!) Parlament haben unsere Solidarität und die Regierungs- konferenz hat mit unserem Widerstand zu rechnen, wenn – Das nehmen wir entgegen, Herr Westerwelle. auch diese Rechte des Parlaments im Verfassungsent- wurf zerstört werden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Herr Westerwelle ist ein Randalierer!) (Beifall bei der CDU/CSU) 6164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Peter Hintze (A) Ganz entscheidend wird sein, die Regelung derdop- Verfassungsreformen in der Türkei oftmals nur auf dem (C) pelten Mehrheit im Konventsentwurf zu verteidigen; Papier stehen. Was nach der Verfassung garantiert wird, Mehrheit der Staaten plus Mehrheit der Bürger, das ist wird durch viele Anwendungsvorschriften im Ansatz demokratisch. Ich halte es für gefährlich, die Diskussion eingeschränkt. Zentrale Probleme sind die Rolle des Mi- sämtlicher wichtiger Themen auf die letzte Nacht – so litärs, die weiterhin bedrückende Folterpraxis und die hat uns jedenfalls die Regierung unterrichtet – zu ver- Diskriminierung ethnischer Minderheiten, etwa im Hin- schieben. Kollege Hoyer, der in der Bundesregierungblick auf die Verwendung der eigenen Sprache. Nicht lange Verantwortung getragen hat, hat warnend auf die zuletzt vor diesem Hintergrund warne ich davor, den Konsequenzen hingewiesen: Prozess des Beitritts der Türkei zur EU wie einen Auto- matismus zu behandeln, sodass irgendwann keine Kor- Erstens. Die Parlamente werden im Vorfeld dieser rektur mehr möglich ist. Das wäre ein schwerer Fehler. Entscheidungen ausgeschaltet, weil keiner ihrer Vertre- ter in der letzten Nacht dabei ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Günter Gloser [SPD]: Es gibt ja kei- Zweitens. Es droht die Wiederholung vonNizza, wo nen Automatismus!) in der Erschöpfung der Schlussrunde nach langem Feil- schen schlechte und zum Teil ungerechte Ergebnisse er- Hier ist dazu aufgefordert worden, die Bevölkerung zielt wurden. zu fragen. Wir müssen auch uns fragen, ob die Europäi- sche Union nach dieser großen Erweiterung um zehn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Staaten und damit um 75 Millionen Menschen ange- Wir verlangen, dass die Kernfragen im Rahmen der sichts unseres heutigen Erkenntnisstands ein Hineinstür- Regierungskonferenz so behandelt werden, dass wir, das zen in die nächste bzw. übernächste Erweiterung verant- Parlament, diesen Prozess kritisch begleiten können. worten kann. Jeder, der in einem Wahlkreis arbeitet, jeder, der in der Kommunalpolitik Verantwortung trägt, Herr Bundesaußenminister, ich habe eine Bitte: Sie weiß, dass wir in Deutschland zurzeit zunehmende Inte- und der Herr Bundeskanzler sollten sich bei den Ver-grationsprobleme haben, gerade im Hinblick auf einen handlungen und Beratungen – in Ihrem Interesse – im- Teil unserer türkischen Mitbürger. mer vor Augen führen, dass Sie für die Ratifizierung der europäischen Verfassung im Bundestag eine Zweidrit- (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Wir disku- telmehrheit, also auch die Stimmen von CDU und CSU, tieren heute die europäische Verfassung!) brauchen. Mit anderen Worten: Ohne unsere Stimmen Wir wissen, dass die Europäische Union mit einem sind Sie mit diesem Projekt am Ende; in anderen Fragen solchen Beitritt – vorsichtig formuliert – sehr stark he- sind Sie es sowieso. Ich halte es deswegen für – vorsich- rausgefordert würde. Deswegen ist nach dem heutigen (B) tig gesagt – töricht, dass die Regierung die Forderungen, (D) Stand der politischen Erkenntnis klar, dass die Europäi- die die große Mehrheit der Opposition hier stellt, einfach sche Union eine solche Erweiterung nicht verkraften mit einer gewissen Nichtachtung straft. Ich erinnere an würde. Wir halten daher das Vorgehen der Bundesregie- die Vorschläge, die in unserem Antrag aufgeführt sind, rung in Helsinki für falsch, der Türkei den Status eines Stichworte „Daseinsvorsorge“, „Grundwerteveranke- offiziellen Kandidaten zu verleihen, ohne die Grundfra- rung in der Präambel“, „Bezug auf das christliche Erbe gen nach den Grenzen Europas, nach dem Ziel Europas Europas“ und „Verantwortung des Menschen vor Gott“. und nach der Handlungs- und Funktionsfähigkeit einer (Beifall bei der CDU/CSU) auf 450 Millionen Bürger erweiterten Gemeinschaft überhaupt zu prüfen. Wir werden im Bundestag darüber sprechen müssen, wie wir als nationales Parlament die europäische Ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser setzgebung in Zukunft begleiten können. Dazu müssen [SPD]: Sie haben 1997 in Luxemburg zuge- wir uns etwas einfallen lassen: Wir werden uns Art. 23 stimmt!) des Grundgesetzes vornehmen müssen, wir müssen un- – Ich will dem Kollegen Gloser auf seinen Zwischenruf sere Beteiligungsrechte ergänzen – sie sind unzurei- antworten. Er hat gefragt, was 1997 war. Verantwortli- chend beschrieben – und wir müssen, Frau Präsidentin, che Politik ist, dass jederzu jedem Zeitpunkt prüft, ob darüber nachdenken, wie wir die europäischen Gesetz- Entscheidungen oder Vorüberlegungen auch nach dem gebungsprojekte in jeder Sitzungswoche des Deutschen heutigen Kenntnisstand immer noch richtig sind. Wenn Bundestages behandeln und begleiten können. Nur wenn ich beschlossen habe, vom Dreimeterbrett zu springen, das geschieht, ist eine sinnvolle Kontrolle der Politik auf kann ich doch nicht sagen, wenn ich oben angekommen der europäischen Ebene durch den Deutschen Bundestag feststelle, dass kein Wasser drin ist, dass ich trotzdem möglich. springe, weil ich es einfach beschlossen habe, lieber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kollege Gloser. Der gestern veröffentlichte Fortschrittsbericht der Ich komme zum Schluss. EU-Kommission über die Beitrittskandidaten zeigt uns, (Franz Müntefering [SPD]: Das ist auch besser dass hier noch eine Menge Probleme zu schultern sind. so!) Interessant ist auch das, was die Kommission über den Beitrittskandidaten Türkei sagt. Wir nehmen mit Sorge Das Jahr 2004 wird als ein europäisches Jahr in die Ge- zur Kenntnis, dass die Kommission die Feststellung vie- schichte eingehen: Verfassung, Erweiterung und, nach- ler Menschenrechtsorganisationen bestätigt, wonach die dem es ja schon seit einem Vierteljahrhundert Direkt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6165

Peter Hintze (A) wahlen zum Europäischen Parlament gibt, Direktwahl Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) von nunmehr 450 Millionen Bürger in 25 Staaten. Wir Herr Kollege Hintze, bitte. sind uns der historischen Herausforderung bewusst und werden als Deutscher Bundestag unseren Beitrag dazu Peter Hintze (CDU/CSU): leisten. Herr Kollege Westerwelle, es hat mich stark beein- Herzlichen Dank. druckt, was Sie hier vom bayerischen Ministerpräsiden- ten Stoiber, von unserem Landesgruppenvorsitzenden (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser Glos und von anderen von mir hoch geschätzten und klu- [SPD]: Nur eingeschränkt!) gen Kolleginnen und Kollegen zitiert haben. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Einer muss es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ja tun!) Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege Westerwelle das Wort. Wenn Sie mir heute zusagen, in allen zentralen politi- schen Fragen immer der Linie von Herrn Stoiber und Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herrn Glos zu folgen, wäre ich bereit, Ihre Einwendun- gen noch einmal stärker zu bedenken. Frau Präsidentin! Herr Kollege Hintze, Sie haben am Anfang Ihrer Rede zu dem Antrag der Freien Demokra- (Beifall bei der CDU/CSU) ten gesagt, wenn man ihm zustimmte, würde eine Bühne für Sektierer und Randalierer geschaffen. Ich bin jetzt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: voller Sorge, denn einer muss ja den bayerischen Minis- Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka terpräsidenten verteidigen. Der hat nämlich gesagtFischer. – wörtliches Zitat –: Ich bin dafür, unser Grundgesetz so zu ändern, dass man über die europäische Verfassung per Referendum abstimmen kann. – Genau das beantragt Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: heute die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nur einen Satz zum Thema Volksabstimmung (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Von wann ist das sagen. Dieses Thema nehme ich sehr ernst. Ich will es Zitat?) mir deshalb nicht so einfach machen, zu sagen, dass das Einen weiteren Sektierer und Randalierer möchte ich Thema von der FDP während ihrer 29-jährigen Regie- hier noch benennen, das ist der Herr Kollege Glos. rungsbeteiligung niedriger gehängt wurde als heute. Wir haben folgendes große Problem: Wenn ernsthaft (B) (Günter Gloser [SPD]: Das wissen wir doch (D) schon! – Heiterkeit bei der SPD) über Europa abgestimmt werden soll, dann müsste die Entscheidungsalternative auch auf Europa zugespitzt – Ich habe das nicht gesagt. – Der Sektierer und Randa- sein. Das heißt: Solange die Alternative nicht lautet „Ja lierer Glos sagt also, eine europaweite Volksabstimmung zum europäischen Fortschritt oder Verlassen der Union über die Zukunft des Projekts Europa könne in der Tat und damit ein grundsätzliches Nein zum europäischen das europäische Bewusstsein stärken und zur erforderli- Projekt“, werden Sie aus der populistischen Falle und chen Klarheit über den weiteren Weg des Projekts Eu- damit aus einer Beschädigung des europäischen Projek- ropa über die künftigen Außengrenzen der EU beitragen. tes nur sehr schwer herauskommen. Wir können jetzt übrigens eine Reihe von weiteren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sektierern und Randalierern aus den Reihen der geschätz- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU hier zitie- CDU/CSU) ren. Herr Singhammer, ein weiterer Sektierer und Randa- Bei dieser Alternative „Ja zur Verfassung oder Aus- lierer, sagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass tritt aus der Union“ würden wir einen ganz anderen beispielsweise über eine europäische Verfassung in Wahlkampf im Rahmen eines solchen Referendums füh- Frankreich, Dänemark oder anderen europäischen Nach- ren und ganz andere Mehrheiten bekommen. barstaaten mit Volksentscheid abgestimmt wird und in Deutschland diese Möglichkeiten ausgeschlossen bleiben. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Man kann den Populisten auch entgegentreten!) Das kann man noch weiter fortführen: Noch im Som- mer dieses Jahres, Herr Kollege Hintze, plädierteIch würde das sehr unterstützen. Aber wir sollten die Er- Edmund Stoiber als Wahlkämpfer in einem langen und fahrungen, die die Iren mit zwei Referenden gemacht ha- bemerkenswerten Interview in der „Welt“ vom 9. Juli zu ben – Ihr liberaler Parteifreund, der von uns allen sehr Recht für ein Plebiszit über die europäische Verfassung. geschätzte Präsident des Europäischen Parlaments Cox, Ich glaube, es täte uns allen gut, meine sehr geehrten Da- hat sie uns mitgeteilt –, ernst nehmen. men und Herren, wenn das, was der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident im Sommer dieses Wenn man eine ernsthafte Debatte über Europa will, Jahres gesagt hat, nämlich dass das Volk über die Verfas- dann muss man diese Zuspitzung zur Diskussionsgrund- sung entscheiden soll, auch noch nach den bayerischen lage machen. Mit dieser Zuspitzung bekommen Sie eine Landtagswahlen beachtet würde. echte Mobilisierung und damit eine repräsentative Ent- scheidung der Bürgerinnen und Bürger über die Zukunft (Beifall bei der FDP) Europas. Solange das nicht der Fall ist, bekommen Sie 6166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Zufallsmehrheiten mit all den Fährnissen, die damit zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) sammenhängen. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mehrheitsregeln müssen aber verstanden werden. Das ist ein wesentlicher Punkt in der Demokratie; das ist die Vo- Ich weiß nicht, ob das gewollt ist. Ich möchte der De- raussetzung für Transparenz. batte nicht vorgreifen. Aber man sollte diesen Punkt be- denken. Zweitens. In der Entscheidung von Nizza ist ein sehr komplexer Faktor hinsichtlich der Mehrheit der Bevöl- Wir dürfen nicht vergessen, dass es zwei wesentliche kerung enthalten. Gründe für die jetzigeRegierungskonferenz über die Es liegt demgegenüber ein Konventsentwurf vor, den europäische Verfassung gibt. Der erste Grund ist ein ich unter allen Gesichtspunkten für fair und ausbalan- historischer. Es begann 1989 mit dem Fall der Mauer, ciert halte. Ich sage das nicht als deutscher Außenminis- dem Abbau von Stacheldraht, dem Untergang des War- ter, sondern als überzeugter Europäer: Das Prinzip der schauer Paktes und dem Verschwinden der Sowjetunion. doppelten Mehrheit ist kein Vorteil für die Großen, im Es geht schlicht und einfach darum, dass dieses Europa Gegenteil. Dass jeder Staat eine Stimme hat, hat zur als ganzes Europa zusammenfindet. Konsequenz, dass in einer Union aus 19 kleineren und Der 1. Mai des kommenden Jahres wird ein histori- sechs großen Mitgliedstaaten die kleinen Länder die sches Datum sein. Dann steht nämlich die Erweiterung Mehrheit haben. Wenn bei der doppelten Mehrheit auch der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten die Größe der Bevölkerung mitgewichtet wird, führt das an. Die meisten von ihnen lagen ehemals hinter dem Ei- zu einer Stärkung der Staaten mit einer großen Bevölke- sernen Vorhang, hinter Mauer und Stacheldraht. Dieses rung. Daran erkennt man auch das integrative Element Ereignis halte ich für überaus wichtig. Dieses Datumder doppelten Mehrheit. verdient wahrhaftig die Bezeichnung „historisch“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Union aus 25 Mitgliedstaaten wird komplizierter und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und es werden große Anstrengungen hinsichtlich der Re- FDP) form der Institutionen und Verfahrensweisen erforder- Das ist für mich sehr wichtig, auch in Bezug auf die Ko- lich sein. Wir versuchen, dass diese Union aus 25 Mit- härenz. Der Hauptwiderspruch im Konvent besteht nicht gliedstaaten nicht zu einer Union mit eingeschränkterzwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten, son- Handlungsfähigkeit, sondern zu einem starken europäi- dern er besteht zwischen den Interessen der großen und schen Akteur wird. Wir brauchen dafür die notwendige der kleinen Staaten. Das ist übrigens nicht nur in unserer (B) Sensibilität, aber auch die Reform der Institutionen und Union der Fall, sondern das war bereits 200 Jahre früher (D) der Verfahrensweisen. bei der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung so. Der zweite Grund für die jetzt anstehende Regie- Zu den anderen Punkten in aller Kürze. Zum Legisla- rungskonferenz ist, dass Nizza genau dieses nicht geleis- tivrat: Ich übermittle Ihnen lediglich als Bote, dass nur tet hat. Ich komme nun auf Ihre Bemerkung zu sprechen, Deutschland, ein wenig unterstützt von Portugal, sich Kollege Hintze, das Problem der letzten Nacht. Das ist in dafür ausgesprochen hat. Vertreter des Europäischen Nizza nicht der entscheidende Punkt gewesen. Man hätte Parlaments waren im Raum und machten nicht den Ein- auch lange vorher diskutieren können. Das große Pro- druck, als laute die Parole: Legislativrat oder Tod – um blem war, dass gegen den Widerstand eines wichtigen das etwas zugespitzt zu sagen. Das ist die Lage. Die Prä- Mitgliedstaates der Europäischen Union die doppeltesidentschaft wird in den kommenden Tagen oder Wo- Mehrheit nicht hinzubekommen war. chen entsprechend der Fortschritte der Diskussion einen weiteren Vorschlag machen. Wie die Umsetzung aus- Ich unterschreibe das, was Sie hinsichtlich der Bedeu- sieht, werden wir sehen. Es gilt der Grundsatz: Nichts ist tung der doppelten Mehrheit sagen. Ich appelliere beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist. Das ist ein nochmals an alle, zu begreifen, dass die Union in ihrem guter europäischer Verhandlungsgrundsatz. doppelten Charakter, nämlich Staatenunion und Bürger- union, sich in dem Prinzip der doppelten Mehrheit wi- Beim Thema Gottesbezug verstehe ich die Kontro- derspiegelt. Man kann darüber diskutieren, ob eineversen überhaupt nicht. Sowohl ich als auch der Bundes- Mehrheit von 50 Prozent der Staaten plus einem ausrei- kanzler haben nach Gesprächen mit denjenigen, die chend ist. Ich halte diese Grenze für richtig; daran gibt es meinten, sich für eine weiter gehende Formulierung ein- auch keine Kritik. Man kann auch darüber diskutieren, setzen zu müssen, alles Mögliche versucht. Wir haben ob eine Mehrheit von 60 Prozent der Bevölkerung aus- immer gesagt, dass wir mit der Formulierung im Grund- reichend ist. Das sind meines Erachtens Diskussionen, gesetz hervorragend leben können; sie ist Verfassungs- die man sehr pragmatisch führen kann. praxis für die unterschiedlichsten Orientierungen bei uns. Wir müssen aber akzeptieren, dass es Staaten selbst Ich unterstreiche nochmals: Festhalten am Prinzipmit einer starken christlichen Tradition gibt, in deren von Nizza bedeutet erstens Festhalten an Intransparenz. Verfassungen die Trennung von Staat und Religion an- Selbst eine Habilitation auf dem Gebiet des Völkerrechts ders festgeschrieben ist als bei uns. Solche Unterschiede und drei Aufbaulehrgänge in Europarecht reichen nicht sind Bestandteil der europäischen Realität. Ich sehe da aus, die Mehrheitsregel von Nizza so zu kommunizieren, aber keinen Dissens in der Substanz. Wir werden alles dass die Menschen sie verstehen. versuchen, um eine Einigung herbeizuführen. Im ur- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6167

Bundesminister Joseph Fischer (A) sprünglichen Konzept standen die griechisch-römische sönlich glaube, dass wir in den vor uns liegenden zwei(C) Tradition und der Humanismus und die Aufklärung. Da- Jahrzehnten kein besseres erzielen werden. zwischen klaffte eine große Lücke. Sie ist inzwischen geschlossen worden. Es war sehr mühselig, das zu errei- Deswegen meine ich – das ist auch die Haltung der chen. Und selbst jetzt gibt es noch Widerstand gegen die Bundesregierung –, dass die Verteidigung des Verfas- gewählte Formulierung. sungsentwurfs im europäischen Interesse liegt. Es würde überhaupt nichts bringen – das haben wir all denen, die das Ich will dem Parlament und der Öffentlichkeit nuranders sehen, so gesagt, Kollege Hintze –, wenn wir einen deutlich machen, vor welchen Problemen wir stehen.wesentlichen Teil des Ergebnisses von Nizza in den Ver- Am Ende müssen wir einen Konsens erzielen. Der Bun- fassungsentwurf einfügen würden. Dann wäre es besser, deskanzler weist völlig zu Recht immer darauf hin – das bei dem Ergebnis von Nizza zu bleiben, mit der Konse- ist keine Drohung, sondern zeigt, wessen es bedarf –,quenz, dass wir große Probleme bekämen. Ich halte nichts dass sich am Ende alle einigen müssen und das Vertrags- davon, den Entwurf zu verschlimmbessern. Ich bin dafür, werk ratifiziert werden muss. Diese beiden Hürden müs- ihn dort zu verbessern, wo neue Konsense existieren, so- sen genommen werden. Das ist die Voraussetzung für wie den notwendigen Feinschliff und Detailkorrekturen die Verfassung. vorzunehmen. Aber eine Mischung mit dem Ergebnis von Nizza, etwa die damals beschlossenen Abstimmungsre- Es ist im Übrigen ja nicht so, dass die Bundesregie- geln in den jetzt vorliegenden Entwurf einzufügen, würde rung alleine darauf hinwirken würde. Wir arbeiten aufs bedeuten, dass wir den Entwurf aufgeben. Engste und ganz hervorragend – das wissen Sie; Kollege Teufel war ja dabei – mit den Ländervertretern zusam- Ich sehe nicht, dass wir einen besseren Entwurf erhal- men. Dabei finden die Positionen, die die von Ihrer Par- ten. Der Konvent hat hier eine historische Leistung voll- tei geführten Länder einbringen, Berücksichtigung.bracht. Ihn zu verbessern unterstütze ich. Ihn zu verteidi- Auch bei der Daseinsvorsorge bemühen wir uns um die gen ist unser gemeinsames Interesse und unsere Aufgabe. entsprechende Klarstellung, damit bestehende Sorgen, Das ist die Linie der Bundesregierung in der Regierungs- vor allen Dingen der Bundesländer, ausgeräumt werden. konferenz. Ich bin optimistisch, dass wir uns am Ende auf einen sehr vernünftigen Konsens einigen werden. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ein sehr wichtiger Partner von uns das anders sieht – gar nicht Vielen Dank. einmal in der Substanz. Seine Sorge ist, dass, wenn nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alles genau festgehalten wird, etwas eintritt, was auch und bei der SPD) wir nicht wollen. Das ist das Problem. Aber Ihre Partei- vorsitzende hat Ihnen in diesem Zusammenhang ja (B) schon eigene Erfahrungen übermittelt. Ich nehme an, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) auch in einem Gespräch jenseits des Rheins haben Sie Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine selbst und andere Mitglieder des Ausschusses sich einen Leutheusser-Schnarrenberger. entsprechenden Eindruck verschaffen können. Die entscheidenden Punkte sind die Stärkung des Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Europäischen Parlaments, die Schaffung des Amts ei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nes europäischen Außenministers, die Neudefinition Uns ist es wirklich sehr ernst mit unserem Vorschlag, ei- der qualifizierten Mehrheit – für uns ein zentralernen Volksentscheid über die europäische Verfassung her- Punkt – und eine bessere Subsidiaritätskontrolle. beizuführen. Wir wollen uns damit einer offenen und ehrlichen Debatte stellen mit dem Ziel, die Bürgerinnen Natürlich wird es noch Anpassungen und einen Fein- und Bürger von dem Mehrwert einer europäischen Ver- schliff geben müssen. Ich halte aber nichts davon, das fassung für sie persönlich zu überzeugen. Paket jetzt wieder aufzuschnüren. Die wesentlichen Punkte, die für Sie wichtig sind, sind ja enthalten. Ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten denke, alles neu zu verhandeln würde sich als Rohrkre- der CDU/CSU) pierer erweisen. Ich glaube auch nicht, dass wir auf der Wir befinden uns in guter Gesellschaft. Denn schon Regierungskonferenz eine bessere Verfassung erreichen 1984 hat der italienische Europaabgeordnete Spinelli in könnten. seinem vom Europäischen Parlament verabschiedeten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verfassungsentwurf zur Gründung der Europäischen und bei der SPD) Union die Zustimmung der Bevölkerung in einem Refe- rendum zur Bedingung für die Annahme der Verfassung Bei den Themen Einwanderung und Asyl hat diese gemacht. Unser Vorschlag ist also kein Gedanke, der Bundesregierung, wie ich meine, vor allen Dingen was erstmals – vielleicht aus taktischen Überlegungen – vor- den Arbeitsmarkt betrifft, mehr erreicht, als wir gedacht gebracht wird. Nein, dies ist ein wirklich demokratiepo- haben. Wir haben hier die notwendige Flexibilität eben- litisches Anliegen. Es hat uns als diejenigen, die immer falls erreicht. sehr vorsichtig und sehr differenziert mit plebiszitären Elementen in unserer Verfassung umgehen, dazu ge- Alles in allem finde ich: Das ist ein gewaltiger Schritt bracht, einen Volksentscheid über diese grundlegende nach vorne. Der Konvent ist wirklich zu loben. Es ist ge- Frage einzufordern. lungen, nicht wie in Nizza einen Minimalkonsens, son- dern zu 28 ein Ergebnis zu erreichen, von dem ich per- (Beifall bei der FDP) 6168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Wir sind in guter Gesellschaft, wenn ich mir die Hal- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) tung überzeugter Europäer anschaue. Cohn-Bendit hat NEN) klar gefordert, gleichzeitig in allen europäischen Mit- Man kann auch Alternativen vorlegen, aber hierbei han- gliedstaaten ein Referendum über die europäische Ver- delt es sich um ein klassisches Element eines Volksent- fassung durchzuführen – und dies nicht verbunden mit scheids. der Alternative, ob man aus der Europäischen Union ausscheiden wolle, also ohne zu selektieren. Auch er Ich habe klar gesagt, dass wir angesichts unserer sagt: Wenn wir angesichts dieses Qualitätssprungs die Wertschätzung der repräsentativen Demokratie sehr dif- Bürgerinnen und Bürger nicht von dem überzeugen, was ferenziert und zurückhaltend mit plebiszitären Elemen- jetzt auf sie zukommt, was sie von Europa erwarten kön- ten umgegangen sind. Als es um die generelle Einfüh- nen und wie man mit diesem Europa leben kann, dann rung ging, hatten wir zwar eine einstimmige Haltung, werden wir sie auch für die Wertegemeinschaft Europa aber auch ein unterschiedliches Meinungsbild zur Volks- nicht begeistern können. initiative. Das ehrt uns und zeichnet die ehrliche Debatte und das Ringen um die Antwort auf die Frage aus, ob Darum geht es uns. Wir wollen doch nicht – das wür- wir inhaltlich unbegrenzt Volksentscheide und Volksab- den wir nicht unterstützen – Populisten Vorschub leisten. stimmungen in unser Grundgesetz aufnehmen wollen. Wir wollen vielmehr, dass möglichst viele gemeinsam Deshalb muss man auch die richtigen Gelegenheiten su- für Europa werben. Heute bestünde die Chance, Sonn- chen und nutzen, um schrittweise für dieses Element zu tagsreden aus den vergangenen Wochen und Monaten werben. Wir tun das jetzt mit unserem vorgelegten Ge- überzeugende, glaubwürdige Taten folgen zu lassen. setzentwurf. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich bedauere – ich hoffe, wir haben hier bald vollere Auch wenn die Abstimmung heute wider Erwarten Ränge –, dass das heute leider nicht der Fall sein wird. Das gilt gerade auch für diejenigen in der SPD und unter nicht die Zweidrittelmehrheit für unseren Gesetzentwurf den Grünen, die immer überzeugtere Vorkämpfer fürbringen sollte, werden wir nicht aufhören, dafür zu wer- ben. Vielleicht werden – so verstehe ich manche Äuße- plebiszitäre Elemente waren als manch andere in diesem rungen – Anfang nächsten Jahres, wenn der Entwurf ein Haus. Beschluss wird, die Verfassung von der Regierungskon- ferenz beschlossen worden ist, mit einem Mal viele sa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen, jetzt trauen wir uns doch, jetzt wollen wir uns die- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sem Vorhaben anschließen. Dann werden wir die Ersten Kollegen Winkler? sein, die mit Sicherheit damit argumentieren. Wir wollen (B) (D) dazu beitragen – dem dient auch die engagierte Debatte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): heute –, dass es dieses Mehr an Demokratie in Europa Gern. gibt. Wir sind in Sorge – diese Sorge teilen wir mit vielen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: in diesem Haus – über die Anzeichen in der Regierungs- Bitte. konferenz, die darauf hindeuten, dass das Europäische Parlament nicht so stark sein soll, wie es in diesem Ent- Josef Philip Winkler(BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurf vorgesehen ist; es sollen eher Abstriche gemacht NEN): werden. Die Debatte über den Legislativrat gibt ebenso Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie ha- Anlass zur Besorgnis. Die Finanzminister diskutieren ben uns gerade angesprochen. Sind Sie bereit anzuerken- nach dem Motto: Europäische Parlamentarier können nen, dass die FDP in der letzten Wahlperiode, wenn es nicht mit Geld umgehen, deswegen muss ihnen das Letzt- um Volksentscheide ging, keine geschlossene Auffas- entscheidungsrecht genommen werden. sung hatte? Im Gegenteil, viele Abgeordnete Ihrer Frak- Wir wollen keine Abstriche von dem, was für die Par- tion – Sie nicht – haben den Gesetzentwurf der Bundes- lamentarierinnen und Parlamentarier in Europa erreicht regierung abgelehnt. Damit haben Sie nicht dazuworden ist – es war Gott sei Dank mehr als in Nizza –, beigetragen, dass die direkte Demokratie, der Sie jetzt machen. Dafür kann man gut werben, und zwar erst das Wort reden, vorangebracht wurde. recht mit einem Volksentscheid. Ich gehe davon aus, Sind Sie weiterhin bereit, mir darin zuzustimmen,dass diese Essentials gerade auch von den Vertretern der dass der Sinn einer Volksabstimmung darin besteht, dass deutschen Regierung in der Regierungskonferenz nicht das Volk selbst entscheiden kann, worüber es abstimmen angetastet werden und letztendlich mit Sicherheit ein will, und nicht von Ihnen mütterlich vorgelegt bekom- Entwurf beschlossen wird – dafür plädieren wir –, der men will, über was es befinden und an welchen Ent-das Parlament stärkt, der nicht renationalisiert und den scheidungen es direkt beteiligt werden soll? Ministerrat mit den nationalen Egoismen, die dort vor- herrschen, nicht noch weiter stärkt, der aber dazu führen wird, das Vertrauen in die stabile Währung zu festigen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Zunächst einmal ist es Voraussetzung für eine Volks- Deshalb, Herr Minister, ist es ganz einfach – wenn abstimmung, dass etwas vorgelegt wird, worüber abge- auch nur technisch –, in den nächsten Sitzungen endlich stimmt werden soll. Anders geht es nicht. das Protokoll zum Stabilitätspakt an den Verfassungsent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6169

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) wurf anzuhängen, damit nicht das Misstrauen weiterkeit, die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit (C) wächst, man wolle auf kaltem Wege den Stabilitätspakt diesem Europa zu stärken, die demokratische Legitima- entsorgen; denn das wäre ein falsches Zeichen für Eu- tion ihrer Institutionen zu verbessern, die Transparenz ropa. der Entscheidungsprozesse zu erhöhen und damit die Bürgernähe, die Akzeptanz der EU bei den Bürgerinnen Vielen Dank. und Bürger zu stärken. (Beifall bei der FDP) Der Konvent zur Zukunft Europas – das ist in der De- batte deutlich geworden – hat mit seinemVerfassungs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: entwurf einen großen Integrationsfortschritt für Europa Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Hans Martin möglich gemacht. Ich finde – ich sage das auch an die Bury. Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU –, wir können selbstbewusst mit diesem Konvents- Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: ergebnis umgehen. Einige von Ihnen, der Kollege Teufel, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undder Kollege Altmaier, der Kollege Brok, haben neben an- Herren! Europa steht vor zwei zentralen Herausforde- deren dazu beigetragen, dass der Konvent zu diesem Er- rungen: Wir müssen vor dem Hintergrund der größten gebnis gekommen ist, dass es uns gelungen ist, wichtige Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union Forderungen dort konsensfähig zu machen. einen politischen Aufbruch schaffen, der die Handlungs- fähigkeit der EU stärkt und die Akzeptanz der europäi- Nun weiß ich auch um die Auseinandersetzungen in- schen Institutionen bei den Bürgerinnen und Bürger ver- nerhalb der Union. CSU und CDU haben für diese De- bessert. Wir müssen die ökonomische Stagnation inbatte einen Wunschzettel präsentiert. Vor Weihnachten Europa überwinden. darf man Wunschzettel schreiben. Aber wenn alle nur Wunschzettel präsentieren, fällt am Ende die Besche- Wir stehen unmittelbar vor der Wiedervereinigung rung aus. Europas. Um nicht weniger geht es mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zum 1. Mai des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nächsten Jahres. Es wäre schön, wenn dieses historische DIE GRÜNEN) Moment in dieser Debatte mitunter etwas spürbarer Die Summe von nationalen Interessen, die Summe würde. Ich sage das auchmit Blick auf die Delegation von Partikularinteressen ergibt noch kein Gemein- des tschechischen Parlaments, die uns diese Woche be- schaftsinteresse. Es zeigt sich im Verlauf der Beratungen sucht. der Regierungskonferenz, wie richtig und wichtig es ist, (B) Die mittel- und osteuropäischen Staaten bringen ihre das Paket zusammenzuhalten, an dem Prinzip festzuhal- (D) ganz eigenen Erfahrungen in das erweiterte Europa ein, ten, dass derjenige, der den Kompromiss infrage stellt, auch die Erfahrung, nationale Souveränität erst vor we- die Verantwortung dafür trägt, einen neuen Konsens her- nigen Jahren wiedererlangt zu haben. Das bedeutet, dass beizuführen. Wir müssen der Gefahr begegnen, die sich viele von ihnen schwerer damit tun, Souveränität Michael Roth beschrieben hat: dass Regierungskonfe- auf die europäische Ebene zu übertragen. Wir müssen renzen, wie wir es in der Vergangenheit schmerzhaft er- deutlich machen – auch aus unserer Erfahrung heraus –, lebt haben, in ihren Verhandlungsprozessen am Ende dass das Poolen von Souveränität, dass das Bündeln na- nicht viel mehr erzielen als den kleinsten gemeinsamen tionaler Souveränitäten ein Mehr an politischen Gestal- Nenner. Das wäre zu wenig angesichts der Herausforde- tungsmöglichkeiten bedeutet und nicht ein Weniger. rungen, vor denen wir stehen, und das wäre weit weniger als der gute Kompromiss, den der Konvent erzielt hat. Die EU der 25 mit 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts weltweit erwirtschaf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten, kann ein Global Player sein. Wir kommen gar nicht DIE GRÜNEN) umhin, unsere gewachsene Verantwortung wahrzuneh- men. Wir können dabei, auf ein sich bildendes europäi- Nun versucht sich die FDP mit der Forderung nach ei- sches Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger über alle nem Referendum in dieser Debatte zu profilieren. Liebe nationale Grenzen hinweg aufbauen. Voraussetzung da- Kolleginnen und Kollegen, Sozialdemokraten wissen in für, dass wir diese stärkere Rolle mit Erfolg wahrneh- diesen Tagen, dass es mitunter schwer ist, die notwendi- men, ist aber, dass wir jetzt die überfälligen institutionel- gen Entscheidungen zu treffen. Aber noch schwieriger len Reformen schaffen, ist es – das sehen wir an der FDP –, wenn man nichts zu sagen hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zurufe von der FDP: Oh!) dass mit der Erweiterung der EU die Vertiefung, weitere und dann auf die Idee kommt, das Volk zu fragen. Integrationsfortschritte vonstatten gehen; sonst liefe die Ich habe nichts dagegen, über Elemente direkter De- EU Gefahr, nicht viel mehr als ein erweiterter Binnen- mokratie zu diskutieren. Wir haben im Entwurf der euro- markt zu sein. päischen Verfassung, den der Konvent vorgelegt hat, im Dieses Europa, diese Europäische Union ist aber viel Übrigen nicht zuletzt dank des Engagements des Kolle- mehr als ein Markt: eine Gemeinschaft gemeinsamergen Jürgen Meyer ein solches Element der Volksinitia- Ziele und Werte. Die Verfassung gibt uns die Möglich- tive verankert. 6170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Staatsminister Hans Martin Bury (A) (Widerspruch bei der FDP) Denn wer nur das eine Ziel im Auge hat, der wird beide (C) Ziele verfehlen. SPD und Grüne haben in diesem Haus mehrfach Initiati- ven ergriffen, um Elemente direkter Demokratie auch in Nur wenn es uns gelingt, wieder Wachstum zu initiie- der deutschen Verfassung zu verankern. ren, werden wir an die erfolgreiche Konsolidierung zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode anknüpfen (Ernst Burgbacher [FDP]: Dann stimmt doch können. zu!) (Beifall bei der SPD) Das ist aber an der fehlenden Zweidrittelmehrheit ge- Deshalb müssen wir die erforderlichen Wachstumsim- scheitert, die uns die rechte Seite dieses Hauses verwei- pulse geben. Hierzu zählt zum Beispiel die Steuersen- gert hat. kung, die Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU Wer jetzt speziell bei der Einführung einer europäi- und FDP, den Bürgerinnen und Bürgern und dem Mittel- schen Verfassung ein Referendum fordert, der hat entwe- stand in Deutschland nicht länger verweigern sollten. der wenig hehre Absichten – das möchte ich Ihnen aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten drücklich nicht unterstellen – oder der verkennt, welche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wirkungen das auf die anderen europäischen Staaten Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Erst nehmen und damit auf die Verhandlungen in der Regierungskon- Sie den Kommunen das Geld weg und dann ferenz hätte. Wenn wir heute diese Entscheidung treffen fordern Sie, es ihnen zurückzugeben! Das ist würden, würde das nationale und Partikularinteressen eine Logik!) stärken, die Spielräume unserer Partner in der Regie- rungskonferenz enger machen und nicht dazu beitragen, Wir brauchen darüber hinaus eine europäische ein gutes europäisches Ergebnis zu erzielen. Wachstumsinitiative, für die wir gemeinsam mit unseren französischen Freunden Vorschläge gemacht haben. Pat Cox, der Präsident des Europäischen Parlaments, Diese zielen darauf ab, insbesondere in die Bereiche Bil- der in dieser Woche den Bundestag besucht hat, hatdung sowie Forschung und Entwicklung, also in Köpfe deutlich gemacht, dass die nächsten Wahlen zum Euro- und Können zu investierenund weniger in Beton und päischen Parlament die ersten wirklichen europäischen Boden, um die strukturellen Voraussetzungen dafür zu Wahlen sein könnten. Lassen Sie uns deshalb daran ar- schaffen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit Europas beiten, die europäische Verfassung rechtzeitig vor diesen verbessert, die Wachstumskräfte gestärkt werden und Wahlen fertig zu stellen und den Bürgerinnen und Bür- mehr Beschäftigung in Europa entsteht. gern vorzulegen! Lassen Sie uns mit europapolitischen Lassen Sie uns, meine sehr geehrten Damen und Her- (B) (D) Inhalten Wahlkampf machen, anstatt mit dem Guidomo- ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam daran bil durchs Land zu fahren! arbeiten! Lassen Sie uns unsere europäische Verantwor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des tung wahrnehmen! Lassen Sie uns für ein starkes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst Deutschland in einem einigen Europa aber auch die not- Burgbacher [FDP]: Herr Bury, ein gewisses wendigen Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen Niveau dürfte sein! – Dr. Guido Westerwelle und durchsetzen! [FDP]: Eine ganz starke Argumentation! Sie Vielen Dank. machen uns fertig!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Herr Westerwelle, dass Sie nicht gerne daran erinnert DIE GRÜNEN) werden wollen, kann ich verstehen. – Ich würde mich darauf freuen, wenn wir im Europawahlkampf argumen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tative Auseinandersetzungen miteinander führen könn- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen. ten. Ein weiterer Aspekt betrifft den dringend notwendi- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): gen ökonomischen Aufbruch. Deutschland als die größte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Volkswirtschaft in der Europäischen Union trägt dabei Herren! Ich möchte zu der Frage sprechen – das ist eine eine besondere Verantwortung. 1 Prozent mehrWirt- Verfassungsfrage –, ob wir das Grundgesetz ändern und schaftswachstum in Deutschland bedeutet angesichts die Möglichkeit, Volksentscheide durchzuführen, in das der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischenGrundgesetz aufnehmen sollen. Diese Frage ist keine 0,3 und 1,8 Prozent mehr Wachstum in den anderenEinzelfrage, sondern eine Grundsatzfrage. europäischen Mitgliedstaaten. Wir brauchen deshalb ei- Aus diesem Grund kann man Ihre Position nicht auf- nen Dreiklang von strukturellen Reformen auf dem Ar- rechterhalten. Sie sagen, im Allgemeinen seien Sie nicht beitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen, wie für Volksentscheide bzw. Sie hätten zumindest keine ge- wir sie mit der Agenda 2010 auf den Weg gebracht ha- schlossene Position in dieser Frage, aber an dieser Stelle ben. Wir müssen die Konsolidierung der öffentlichenbeliebe es der Politik, großzügig zu sein, und Sie wollten Haushalte mittelfristig fortsetzen. Dabei gilt es aller-die Bevölkerung fragen. So kann man es nicht machen. dings, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu beachten. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN]: Sehr richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6171

Dr. Norbert Röttgen (A) Man befürwortet Volksabstimmungen doch nicht, um gegen sind, um werben zu können. Das ist Ihre wahre(C) den Instrumentenkasten der Parteien um ein weiteresPosition. Das können wir nicht unterstützen. Element zu bereichern. Das sind doch Instrumente in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- den Händen der Bürger und nicht in denen der Parteien. wie des Abg. Rainder Steenblock [BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und NIS 90/DIE GRÜNEN]) der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte zur Grundsatzfrage kommen und an Sie NEN) appellieren und zumindest für Ihre Einsicht werben: Wir – Ich freue mich über Ihre Zustimmung. Daraus folgtalle – als Parteien und als Parlament – werden am Ende aber auch ein Widerspruch aufseiten der Koalition. Gewinner sein, wenn wir über die Grundsatzfrage, was die bessere Demokratie ist – die parlamentarisch-reprä- Erstens. Anders, als es der Bundesaußenminister eben sentative oder die parlamentarisch-repräsentative mit gesagt hat, können die Parteien nicht sagen, dass ihnen plebiszitären Elementen –, vernünftig debattieren und die Frage, die gestellt wird, zu dumm ist. Die Autonomie sie schließlich, egal wie, beantworten. Dagegen werden der Fragestellung wird dann bei den Bürgern liegen. wir alle Verlierer sein, wenn wir selbst über die Grund- Auch das ist eine Folge, wenn das Instrument in den satzfragen der Demokratie und unserer Verfassung im- Händen der Bürger liegt. mer mit parteitaktischer Motivation debattieren. Zweitens. So wenig man im Allgemeinen dagegen Was ist also unsere Position bei der Frage, was die und in einem Einzelfall dafür sein kann, ist es intellektu- bessere Demokratie ist? Ich sage in jeder Debatte und ell und politisch doch redlich, zu sagen, dass man zwar wiederhole es gerne, dass es Richard von Weizsäcker mit im Allgemeinen dafür ist, es einem aber an einer bestim- seiner Bewertung auf den Punkt gebracht hat: „Die Be- men Stelle nicht passt. völkerung ist zu groß und die Probleme sind zu kom- (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) plex.“ Das ist in einem Satz zusammengefasst die Be- wertung, dass die plebiszitäre Demokratie nicht nur Herr Kollege Hintze hat völlig Recht: Die einzige in nicht realistisch, sondern auch nicht die bessere Demo- der Sache konsequente, weil von Parteitaktik freie Posi- kratie ist. Dieparlamentarische Demokratie ist die tion in dieser Frage hat die CDU/CSU-Fraktion. bessere und überlegenere Form der Demokratie. Dafür (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der möchte ich drei Argumente vortragen. SPD) Erstens. Die plebiszitäre Demokratie reduziert die – Genauso ist es. – Ich bedauere daher Ihre Position. Fragestellung und die Politik auf eine Ja-Nein-Alterna- tive. Das parlamentarische Verfahren ist ein lernendes (B) (D) Ich gebe Herrn Bundesaußenminister Fischer Recht, Verfahren. Wir führen mehrere Lesungen durch. der sagt, dass es sich um eine sehr ernste Debatte handelt. Es geht nämlich um unsere Demokratie und um die Frage (Ute Kumpf [SPD]: Bei Ihnen nicht!) – über diese wird möglicherweise gerne gestritten –, was – Ich gebe zu, dass die Lernbereitschaft der jetzigen die bessere Demokratie ist. Die parteitaktische Motiva- Koalition nicht sehr ausgeprägt ist. – tion sowohl an dieser als auch an anderer Stelle belastet die Debatte über diese Fragen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Sie müssen einräumen, dass das Gesetzgebungsver- GRÜNEN]: Das ist keine Parteitaktik, sondern fahren diesen institutionellen Vorteil hat. Sie hätten mehr unsere Überzeugung.) Möglichkeiten, zu lernen; ich gebe es gerne zu. Daneben führen wir Sachverständigenanhörungen durch. – Ja, das ist wirklich keine parteitaktische Position; denn populär ist die andere Position. Unsere Position ist ver- (Günter Gloser [SPD]: Sie haben 16 Jahre lang antwortlich. Wir vertreten sie unter Inkaufnahme partei- nicht einmal die Grundlagen erreicht!) politischer Nachteile. Das ist die Position der CDU/ – Zum Verfahren gehört auch, zuhören zu können. – Das CSU. Verfahren ist auf Rationalität angelegt. Wir sind in der (Beifall bei der CDU/CSU) Lage, zu korrigieren. Die wenigsten Gesetze kommen im Bundestag am Ende so heraus, wie sie eingebracht wor- Ich bedauere darum ausdrücklich, gegenüber der FDP den sind. Das parlamentarische Verfahren ist also ein ler- feststellen zu müssen, dass der „Spiegel“ Recht hat. Er nendes Verfahren. schreibt in dieser Woche, der FDP und ihrem Vorsitzen- den Westerwelle gehe es darum, sich populär zu machen. Pat Cox, der schon viel zitierte liberale Präsident des Nach meiner Einschätzung kann man es auch anders for- Europäischen Parlaments, war in allen Fraktionen und mulieren: Die FDP will in Wahrheit gar keine Volksab- hat seine Ablehnung eines Volksentscheids nicht mit der stimmung, sondern ein Wahlkampfthema. Meine Wert- Verfassungstheorie, sondern mit seinen Erfahrungen be- schätzung für viele Kolleginnen und Kollegen Ihrergründet. Er hat gesagt, die Erfahrung zeigt, dass es bei Fraktion ist groß. Sie wären jedoch geradezu erschro- diesen Abstimmungen um alles geht, nur nicht um die cken, wenn Ihr Gesetzentwurf eine Mehrheit in diesem Frage, die gestellt worden ist. Darauf hat der Kollege Bundestag finden würde; denn Sie wollen im Ergebnis Hintze ebenfalls hingewiesen. Es würde über die aktu- gar keine Zustimmung, Sie wollen, dass die anderen da- elle Verdrussstimmung im Land gegen diese Regierung 6172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Norbert Röttgen (A) debattiert werden, es würde die Politikverdrossenheit dass eine solche Volksabstimmung eben nicht genutzt(C) zum Ausdruck kommen. Das können auch Sie nicht wol- wird, um eine Sachfrage rational, vernünftig abzuwägen len. Ich stelle wirklich die Frage: Was sagt Hans-und darüber zu diskutieren. Die Frage, wie ist das insti- Dietrich Genscher dazu, dass Sie die Europapolitik, die tutionelle Verhältnis zwischen Kommission, Parlament europäische Verfassung, die europäische Integration zur und Rat, war es nicht, was die Bevölkerung zur Ekstase Geisel parteipolitischer Überlegungen machen? getrieben hat, sondern es wurden ganz andere Themen bei dieser Volksabstimmung instrumentalisiert. Das hat (Zurufe von der FDP: Oh!) er uns berichtet und diese Erfahrung ist ein Grund dafür, Denn die Suppe von schlechter Regierungspolitik könnte warum wir gegen eine solche Volksabstimmung sind und Auswirkungen auf die europäische Integration haben. warum die europäische Integration der Leidtragende po- Das wollen wir nicht, weil wir für Europa sind. litischer Fehler der aktuellen Regierung wäre.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenGestatten Sie eine zweite Zwischenfrage? Hoyer? Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Sehr gern. Sehr gerne. (Günter Gloser [SPD]: Aber jetzt mal fragen!) Dr. Werner Hoyer (FDP): Die Zwischenfrage kann ich natürlich auch gleich mit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Antwort verbinden. Das ist dann aber die letzte.

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Dr. Werner Hoyer (FDP): Ich würde das bevorzugen. Ich mache es wirklich kurz. Ist es dann nicht gerade die Chance der verantwortlichen Parlamentarier und Po- Dr. Werner Hoyer (FDP): litiker, den Populisten offen und entschlossen entgegen- Hans-Dietrich Genscher würde es niemals zulassen, zutreten und gegen solche Werbung anzutreten, statt diesen Vorwurf der parteipolitischen Instrumentalisie- schlicht diesen populistischen Sturm über die Parlamen- rung unkommentiert zu lassen, weil er ihn für abwegig tarier und die Politik hinwegfegen zu lassen? (B) halten würde und weil er sehr genau zu differenzieren (Beifall bei der FDP) (D) weiß zwischen einer Legitimation durch das Volk für die konstitutionelle Grundlegung all dessen, was wir an- schließend in der repräsentativen Demokratie in Parla- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): menten entscheiden, und einer Vorstellung, nach der wir Da wir uns ein bisschen kennen, hoffe ich, dass Sie alles und jedes nach dem Belieben der Parteien, wie Sie mir abnehmen, wenn ich sage: Es ist genau die ethische gesagt haben, dem Volksentscheid unterwerfen. Herausforderung der Politik, dass wir dies tun, gerade auch in schwierigen Zeiten; übrigens nicht nur an dieser Gemeldet habe ich mich aber wegen des Bezuges auf Stelle. Das ist unsere Aufgabe als Parlamentarier, als Pat Cox. Er hat seine Erfahrungen in der Tat sehr wort- Parlament insgesamt. Vielleicht werden wir ihr insge- reich dargestellt. Aber ist Ihnen möglicherweise auchsamt nicht gerecht. Das mag auch ein Grund dafür sein, aufgefallen, dass Herr Cox gesagt hat: Das erste Refe- dass die Themen, über die wir tagaus, tagein reden, alle rendum in Irland ist in 42 von 44 Counties schief gegan- älter als zehn Jahre sind. Vielleicht gehört diese man- gen, weil die politische Klasse es für selbstverständlich gelnde Bereitschaft auch zum Versagen aktueller Politik. gehalten hat, dass das Volk wieder einmal Ja sagt! Als man dann die Quittung für diese Untätigkeit bekommen Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Parla- und sich beim zweiten Mal richtig reingehängt hat – wie ment diese Mängel nicht durch plebiszitäre Instrumente wir das auch endlich tun müssten –, ist eine klare Mehr- gutmachen können. Vielmehr müssen wir als Parlament heit auch für die Verfassung zustande gekommen, wie- besser werden und unsere Aufgabe ernster nehmen, Po- derum in 42 von 44 Counties. pulismus entgegenzutreten, statt geradezu Einladungen für Populisten auszusprechen. Das ist Ihr Vorschlag im (Beifall bei der FDP – Günter Gloser [SPD]: Ergebnis, meine Damen und Herren, Fragezeichen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Es wäre eine Einladung für die Populisten und nicht ein Ich hoffe, dass Pat Cox auch in Ihrer Fraktion über Eintreten gegen Populismus. das Plakat berichtet hat, das er gesehen und als Beispiel dafür verwendet hat, wie Stimmung gemacht worden ist Zweitens. Ich will noch kurz die Grundsatzbedenken zu einem ganz anderen, in der Bevölkerung virulenten, auflisten, warum wir gegen plebiszitäre Elemente sind. heiß diskutierten Thema, das aber überhaupt nichts mit der Abstimmung über Europa zu tun hatte, sondern gera- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dezu ein erschütterndes Beispiel für die Erfahrung war, Sie wissen, dass Sie sich ganz kurz fassen müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6173

(A) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): um Einführung von direkter Demokratie in Deutschland (C) Ich habe noch 30 Sekunden Redezeit. Besten Dank zu tun, sondern dies ist ein Showantrag, mit dem auf un- für den präventiven Hinweis! Ich werde mich kurz fas- ernste Weise Wahlkampf gemacht werden soll. Mit die- sen. – Ein Plebiszit ist kein Instrument des kleinen Man- sem Thema darf man jedoch nicht nachlässig umgehen. nes. Der hat nämlich nicht die Möglichkeiten – damitDies gilt besonders vor dem Hintergrund Ihrer Vergan- wird ja geworben –, so etwas durchzuführen. Es ist viel- genheit in dieser Frage. mehr das Verhinderungsinstrument großer finanzstarker Organisationen. Plebiszite sind in aller Regel keine Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN staltungsinstrumente, sondern Verhinderungsinstru- sowie bei Abgeordneten der SPD) mente. Einen solchen Umgang werden wir nicht mitmachen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Das Thema direkte Demokratie ist für uns viel zu ernst- GRÜNEN]: Das ist falsch!) haft, als dass wir es in dieser Debatte von Ihnen zerreden lassen würden. Zwischen dem Kollegen Hintze und mir Außerdem bedeutet plebiszitäre Demokratie besteht im ein großer Dissens. Er hat sich zum Teil darüber Grunde Minderheitendemokratie. Es ist ein Quorum lustig gemacht, dass mit direkter Demokratie eine Platt- von 25 Prozent vorgesehen. Bei der Bundestagswahlform für Sektierer und Randalierer geschaffen wird. Wer kann sich das Parlament auf eine Legitimation vonso mit den Rechten der Menschen in diesem Lande um- 80 Prozent stützen. geht, die wir in unseren Sonntagsreden so häufig als (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE mündige Bürger darstellen, GRÜNEN]: Bei der Bundestagswahl gibt es (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wieder eine überhaupt kein Quorum!) Sonntagsrede!) Ein Plebiszit ist der typische Fall einer Minderheitenbe- der sollte darauf vertrauen, dass die Bürger in der Lage teiligung. Diese haben Sie sogar rechtlich durch einsind, sich zu solchen Sachverhalten in Abstimmungen zu Quorum von nur 25 Prozent aufgegriffen. Das ist eine äußern. Das verstehen wir unter direkter Demokratie. geringere Form von Legitimation, als wir sie in der Breite der parlamentarischen Legitimation bei den Bun- Auch wir wollen den Menschen dieses Recht geben. destagswahlen von 80 Prozent haben. (Zuruf von der FDP: Dann stimmen Sie doch (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu!) NEN]: Aber doch nicht als Quorum!) Wir wollen die repräsentative Demokratie dadurch nicht Mein Schlusssatz – damit bin ich am Ende meinerablösen, aber wir wollen diese Instrumente der direkten (B) (D) Rede – ist: Wir als CDU/CSU stehen zur parlamentari- Mitwirkung von Menschen in diesem Land stärken. Ich schen Demokratie als der bewährten und überlegenen glaube, dass wir der Demokratie und der Akzeptanz Form der Demokratie. Unsere Bitte an alle anderenauch dieses Parlamentes einen großen Gefallen tun, Fraktionen ist, dieses Thema in Zukunft seriös und sach- wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes lich zu debattieren und es nicht parteipolitisch zu instru- dahin gehend vertrauen, dass sie rationalen Argumenten mentalisieren. Damit täten wir uns allen einen großen zugänglich sind. Gefallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herzlichen Dank. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, man Westerwelle [FDP]: Das sagen Sie jetzt Herrn muss sich einmal den politischen und strategischen Hin- Stoiber!) tergrund ansehen, vor dem diese Europadebatte von Ih- nen geführt wird. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- – Das sage ich auch Herrn Stoiber. tagszeitung“ vom 19. Oktober stand – ich zitiere –, dass die FDP gegen den vorliegenden EU-Verfassungsent- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wurf mobilisieren werde, weil er wirtschafts- und fi- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Raindernanzpolitisch zu weit von den Maastricht-Kriterien ent- Steenblock. fernt sei. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Dieses Zitat ist Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- falsch!) NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aussage ist nicht nur in der Sache falsch. Ver- Ich bin dem Kollegen Dr. Röttgen sehr dankbar dafür, knüpft mit einer anderen Aussage aus diesem Artikel dass er hier eine sehr klare Analyse des Problems der di- wird manches deutlich. Weiterhin heißt es hier, dass die rekten Demokratie vorgenommen hat, der ich in weiten FDP mit dem Thema Korruptionsvorwürfe gegen EU- Teilen zustimme. Wir ziehen daraus jedoch völlig unter- Politiker in denWahlkampf ziehen wolle. Ich frage schiedliche Konsequenzen; denn ich komme zu völlig mich, welcher Geist bzw. welcher Ungeist eigentlich in anderen Ergebnissen. die Köpfe der Liberalen eingezogen ist. Ein Ergebnis steht aber schon heute fest: Der Antrag, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den die FDP vorgelegt hat, hat nichts mit dem Bemühen sowie bei Abgeordneten der SPD) 6174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dass die Annahme dieser Verfassung und die Qualität(C) Herr Kollege Steenblock, gestatten Sie eine Zwi-dieser Verfassung auch etwas mit der Erweiterung Eu- schenfrage des Kollegen Westerwelle? ropas zu tun hat, die wir alle wollen. Deshalb bin ich zu- tiefst davon überzeugt, dass alles vermieden werden Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss, was diesen Prozess schwächt, was auch nur im NEN): Ansatz an Populismus erinnert und was die Auseinan- Ja. dersetzung um Inhalte in diesem Prozess, in dem die Bundesregierung sehr verantwortlich agiert, stört.

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wir haben eine ganze Reihe von Forderungen. Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- Michael Roth hat das amAnfang schon deutlich ge- men, dass das Zitat, das Sie vorgelesen haben, falsch ist macht. Es ist nicht das Problem, dass auch wir Forderun- und dass dies nicht die Haltung der Freien Demokraten gen stellen könnten. Wir müssen den Laden zusammen- als Partei oder Fraktion ist? Vielmehr ist unsere Haltung halten, um das einmal ein bisschen lax auszudrücken, so, wie sie der Kollege Hoyer und Frau Kolleginwenn wir Erfolg haben wollen. Mit der Neueröffnung Schnarrenberger hier wiedergegeben haben. dieser Diskussion würde es Ihnen ergehen wie Goethes Zauberlehrling. Wenn Sie das Paket aufschnüren, wer- den Sie von einer Flut von Änderungsanträgen überspült Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden, der Sie sich nicht mehr erwehren können. NEN): Lieber Kollege Westerwelle, wenn Sie das hier so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – darstellen, nehme ich das als die Position Ihrer Fraktion Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Warum machen mit freudiger Erregung zur Kenntnis. 23 Staaten das anders, Herr Oberlehrer?) (Heiterkeit im ganzen Hause – Claudia Roth Sie sagen, Sie wollen das nicht, aber Sie werden errei- [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chen, dass wir eine Regierungskonferenz in der Qualität Das sieht man Dir an! – Dr. Guidoderjenigen von Nizza haben. Darauf werden wir uns Westerwelle [FDP]: Ich möchte festhalten: Ich nicht einlassen. Wir werden die Detaildebatten nicht füh- möchte Sie nicht in Erregung versetzen! Damit ren, und zwar mit dem Argument, dass wir uns das Kon- keine Gerüchte aufkommen!) ventsergebnis, das Ergebnis, das Parlamentarier aus ganz Europa in ihrer Verantwortung erzielt haben und für das – Lieber Kollege Westerwelle, in freudige Erregung dür- wir kämpfen, nicht zerreden lassen. Verantwortung über- fen Sie mich gerne versetzen. nehmen heißt an dieser Stelle, den Laden zusammenzu- (B) Was in dieser Zeitung dargestellt wurde, war nicht die halten. Dazu wünsche ich mir Ihre Unterstützung und(D) Meinung der Fraktion, sondern die Meinung der FDP. nicht Querschüsse aus Ihren Reihen, um dieses Projekt, Wenn Sie das heute korrigieren, dann werden wir diesen das so wichtig für unsere Zukunft ist, nicht zu gefährden. Prozess weiterhin sehr genau beobachten. Denn wir ha- Vielen Dank. ben bei vielen liberalen Parteien in Europa diesen Trend zum Rechtspopulismus gesehen. Wir kennen das aus ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ner Reihe von Wahlkämpfen. Sie haben ja einen nicht DIE GRÜNEN) besonders inhaltlichen und erfolgreichen hinter sich. Wenn wir die FDP aus ihrer innenpolitischen Bedeu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tungslosigkeit auf dem Weg zum Rechtspopulismus erle- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunther ben, dann werden wir massiv dagegenhalten. Das wer- Krichbaum. den wir Ihnen nicht durchgehen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Unglaublich!) Gunther Krichbaum (CDU/CSU): All das, was wir heute gehört haben, zeugt davon, dass Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen Sie eine populistische Auseinandersetzung anstrebenund Kollegen! Lieber Herr Steenblock, wenn es heute und keine in der Sache. noch eines Beweises bedurft hätte, wie widersprüchlich diese grüne Partei in sich ist, dann musste man nur Ihren (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Können Sie mir da Ausführungen zuhören. einen Satz nennen, den ich gesagt habe? Un- verschämtheit!) (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Auch Herr Kollege Röttgen hat von der Gefahr des Po- haben Sie nicht richtig zugehört!) pulismus gesprochen. Lassen Sie mich aber ein anderes Thema aufgreifen. Ich würde gerne noch einmal zur europäischen Ver- Wenn man die Ausführungen der Minister Fischer und fassung zurückkommen. Lieber Kollege Hintze, Sie wis- Bury heute Morgen hörte, dann könnte man der Mei- sen genauso gut wie ich, dass wir in einem sehr verant- nung sein, dass alles in bester Ordnung ist. Doch das wortungsvollen Prozess sind, um die Mehrheit in Europa krasse Gegenteil ist der Fall. Insbesondere was die Ein- für einen Verfassungsentwurf zusammenzubekommen, haltung und die Pflege desStabilitätspaktes angeht, der sich am Konvent orientiert. Sie wissen sehr genau, bietet die Bundesregierung ein Bild, das verheerend ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6175

Gunther Krichbaum (A) Vorgestern tagten die EU-Finanzminister und berieten Eine traurige rot-grüne Realität ist aber, dass allein in (C) über den Vorschlag der Kommission, gegen Frankreich diesem Jahr mit einer Nettoneuverschuldung von wegen des hohen Haushaltsdefizites entsprechende43,4 Milliarden Euro ein Rekord erreicht wird. Bei einer Maßnahmen einzuleiten. Nach dem Regelwerk des Sta- Bevölkerung von 82 Millionen bedeuten diese 43 Mil- bilitätspakts wäre dies unumgänglich. liarden für jeden einzelnen Menschen – vom Säugling bis zum Greis – 522 Euro oder in alter Währung über Der eigentliche Testfall für den Stabilitätspakt wurde 1 000 DM. Dieses Geld ziehen Sie den Bürgerinnen und aber für Finanzminister Eichel zum Sündenfall. Statt Bürgern aus der Tasche; denn sie sind es, die eines Tages sich wenigstens vornehm zurückzuhalten, übernahm er diese Zeche zahlen müssen. die Anführerschaft, stellte die Prinzipien des Stabilitäts- paktes infrage und setzte alles daran, ein Einschreiten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gegen Frankreich zu verhindern. Ich hätte mir ge- wünscht, dass mit demselben Einsatz für die Veranke- Das Wachstum stellt sich dennoch nicht ein. Heute sind rung des Gottesbezugs in der Verfassung und die Beibe- wir sozusagen der kranke Mann in Europa und stehen haltung des Legislativrates gekämpft worden wäre. Aber beim Wirtschaftswachstum am Tabellenende. nichts von alldem ist erfolgt; im Gegenteil. Deutschland selbst, allen voran der damalige Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kanzler und der frühere Finanzminister , hatte alles darangesetzt, denEuro zu Minister Eichel übersieht, dass dieses Gebaren leicht schützen und stark zu halten. Sie haben damit für diesen durchschaubar ist. Am Beispiel Frankreichs soll ein Prä- Stabilitätspakt gesorgt. Wir selbst haben diese Spielre- zedenzfall geschaffen werden, auf den sich die Bundes- geln aufgestellt. Für Deutschland ist das Verhalten, das regierung nachher berufen kann, der Bundesfinanzminister an den Tag legt, deswegen (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Weil sie selber peinlich und blamabel. auf der Anklagebank sitzt!) Besinnen Sie sich endlich auf das, was Wachstum wenn sie selbst Gegenstand des Verfahrens wird. schafft! Das ist eben kein weiterer Anstieg der Verschul- dung. Sie spüren gar nicht, wie Sie mit Ihrer Politik da- Die Bundesregierung wird zum dritten Mal in Folge durch den Motor abwürgen, dass Sie mit Ihren Ausgaben den Stabilitätspakt brechen. Nach einerNeuverschul- noch im vierten Gang fahren, während unsere Konjunk- dung von 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die- tur nur noch Schrittgeschwindigkeit aufweist. Das macht sem Jahr werden es nächstes Jahr 3,9 Prozent und damit der beste Motor nicht lange mit. abermals deutlich mehr als die gerade noch erlaubten 3 Prozent sein. (Peter Dreßen [SPD]: Sagen Sie das Ihren (B) (D) Landwirtschaftskollegen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass es mit der Glaubwürdigkeit unseres Finanz- Heute werden die neuen Arbeitsmarktzahlen präsen- ministers hierzulande nicht mehr weit her ist, ist dastiert: von einer Trendwende keine Spur. eine. Das andere aber ist, dass dieser Finanzminister (Peter Dreßen [SPD]: Doch!) auch international die Glaubwürdigkeit Deutschlands massiv beschädigt. Sorgen Sie endlich für eine konsequente Deregulierung des Arbeitsmarktes! Deutschland benötigt einen europa- (Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!) tauglichen Kündigungsschutz. So sind beispielsweise Hinsichtlich der Bevölkerungszahlen kleinere Staaten die Abfindungszahlungen in unserem Land völlig über- wie Österreich, die Niederlande oder Finnland stehenzogen. Deutschland nur noch kopfschüttelnd gegenüber. (Widerspruch bei der SPD) Bei all dem Gezerre unseres Finanzministers scheint dieser den tieferen Sinn des Stabilitätspaktes aus den Verabschieden Sie sich von den Flächentarifverträgen Augen verloren zu haben. Das gilt offenbar auch für den und ermöglichen Sie betriebliche Bündnisse! Sorgen Sie Bundeskanzler, wenn er ohne Unterlass betont, dass es für ein einfaches und transparentes Steuersystem! Wir sich um einen Stabilitäts- und Wachstumspakt handle. haben unlängst Vorschläge dazu vorgelegt. Befreien Sie Verehrter Herr Bury, wie ich aus Ihren Ausführungenden Mittelstand von unsinnigen bürokratischen Lasten! folgern durfte, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das waren Zurufe von der SPD: Thema!) doch keine Ausführungen!) – Mir ist klar, dass Sie diese Themen nicht schätzen. – gehen Sie dem gleichermaßen auf den Leim. Erst dann werden wir in Deutschland wieder jene Wachstumsraten von 2,5 Prozent, 3 Prozent und mehr (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Der Euro-Eid generieren, die notwendig sind, um positive Impulse für wird gebrochen!) den Arbeitsmarkt zu schaffen. Ich kann dazu nur sagen: Eben! Die anderen Länder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europas haben nämlich ihren Haushalt im Griff. Sie sor- gen dadurch für Stabilität und Wachstum. Damit ist eben In diesem Augenblick wird die Stabilität im Rahmen des nicht Stabilität oder Wachstum gemeint. Stabilitäts- und Wachstumspaktes gewährleistet sein. 6176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Gunther Krichbaum (A) Das, was Sie hier heute vollführen, wird eines Tages gleich zum zweiten Widerspruch: In Teil III steht das ge- (C) als Bumerang zurückkommen und wir werden am Ende naue Gegenteil. Dort ist von einer „offenen Marktwirt- einen hohen Preis zu zahlen haben, nämlich den derschaft“ und einer bestenfalls „hohen Beschäftigung“ die Glaubwürdigkeit und der Stabilität unserer Währung. Es Rede. Kurzum: Die Wirtschafts- und Finanzunion wird kein Halten mehr geben, wenn in Zukunft auch an- schreitet voran, die Sozialunion bleibt aber zurück. Die dere Länder gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen. Prioritäten sind falsch und deshalb ist die PDS dagegen. Es wird dann nichts mehr geben, was wir diesen Ländern entgegensetzen können. Halten Sie endlich die Ver- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch pflichtungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein! [fraktionslos]) Nur dann kann der Euro auf Dauer stabil bleiben.Umstritten ist, ob die EU-Verfassung einen Bezug auf Schließlich haben wir nur diese Währung. Das Vertrauen Gott haben soll oder nicht. Ich sage für mich: natürlich der Bürger in ihre Währung ist ohnehin das Kostbarste, nicht! Mit der vorliegenden Grundrechte-Charta wird die was es hier zu verspielen gibt. Religionsfreiheit durch die Europäische Union gewähr- Vielen Dank. leistet. Dabei sollte es bleiben. Nun komme ich zu den wirklich üblen Teilen im Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wurf der EU-Verfassung, jedenfalls so wie er bisher vor- neten der FDP) liegt. Demnach sollen die EU-Staaten verpflichtet wer- den, ihre militärische Stärke auszubauen, und sie sollen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bereit sein, weltweit Kriege zu führen. Damit würde sich Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. die EU an die fatale US-Strategie anhängen, anstatt sich als Friedensunion zu emanzipieren. Das ist ein Kardinal- Petra Pau (fraktionslos): fehler. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Zuruf von der SPD: Wo steht das?) Der EU-Konvent hat eine Verfassung entworfen. Damit – Wo das steht? Schauen Sie sich nur die gemeinsame wird Neuland beschritten. Die PDS im Bundestag war Verpflichtung zur Erhöhung der Rüstungsausgaben an! und ist grundsätzlich dafür. Immerhin geht es um das Zu- Auch darüber können wir debattieren. Wir sind selbst- sammenleben von Millionen Menschen in verständlich über dagegen, die Europäische Union so zu mili- 25 Staaten im 21. Jahrhundert. Dafür ist der vorliegende tarisieren. Entwurf eine gute Grundlage, allerdings aus unserer Sicht keine ausreichende. In manchen Teilen ist er wider- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch sprüchlich, in anderen sogar widersinnig bis gefährlich. [fraktionslos]) (B) (D) Ich beginne mit der ersten guten Nachricht. DieZur militanten Außenpolitik gesellt sich dann noch Union wird insgesamt demokratischer. Die Gewaltentei- eine restriktive EU-Innenpolitik mit ebenso fragwürdi- lung kommt voran. Das EU-Parlament erhält mehrgen Mitteln. Bürgerrechte werden abgebaut und humani- Rechte. Bürgerbegehren sollen eingeführt werden. Dafür täre Normen unterlaufen. Geheimdienste feiern Urständ hat sich die PDS auch im Europaparlament immer enga- und Menschen in Not werden ausgegrenzt. Bezeichnend giert und das wird auch so bleiben. ist, dass die Bundesrepublik hier Vorreiter ist, wenn es um die viel zitierte Festung Europa geht. Die miserab- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch len Innenarchitekten der Union tragen Namen wie [fraktionslos]) Schily, Beckstein und Berlusconi. Damit bin ich schon beim ersten Widerspruch. Man (Zuruf von der SPD: Na! Na! Na! Was soll das kann nicht eine Demokratisierung der EU feiern und denn?) zugleich daheim mehr Demokratie verweigern. Die PDS Das ist dann, finde ich, eine unheilige Allianz. fordert seit langem eineVolksabstimmung über die künftige EU-Verfassung. Doch hier im Bundestag gibt es (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch eine merkwürdige Koalition dagegen: der Bundeskanz- [fraktionslos]) ler, der Bundesaußenminister, wie wir heute vernehmen Zusammengefasst: Die PDS will, dass sich die EU- durften, und die CDU/CSU. Alle anderen – SPD, Grüne, Verfassung ganz klar zu einer sozialen EU bekennt. Die FDP, PDS und der Präsident des Bundestages, HerrPDS will, dass die EU-Verfassung eine Friedensunion Thierse, wie wir am vergangenen Wochenende wieder vorschreibt. lesen durften – stehen aber im Wort. Deshalb wiederhole ich: Die Volksabstimmung über die EU-Verfassung ist (Zuruf von der SPD: Das sind wir doch!) ein akuter Anlass, aber auch eine Nagelprobe für dieDie PDS will, dass sich die EU-Verfassung einer Volks- deutsche Demokratie. abstimmung stellt. Das sind drei simple Forderungen, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch die draußen, im wahren Leben, mehrheitsfähig sind. [fraktionslos]) Diese Forderungen, finde ich, sollten auch im Bundestag mehrheitsfähig sein. Nun zur zweiten guten Botschaft: Die Union soll sozia- Danke schön. ler werden. Das ist Teil I des Verfassungsentwurfs zu entnehmen. Dort finden sich Wörter wie „soziale Markt- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch wirtschaft“ und Ziele wie „Vollbeschäftigung“. Nun aber [fraktionslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6177

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Bundesregierung täte gut daran, meine ich, die(C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein. Forderungen der Opposition bei der italienischen Rats- präsidentschaft anzumelden. Wir dürfen uns doch nicht immer darauf verlassen, dass andere in Europa dies Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): schon richten werden, auch wenn es momentan gar nicht Die Füße tragbarer Leitern ruhen auf einem standsi- so schlecht aussieht. cheren, festen, ausreichend bemessenen und unbe- Man darf sich auch nicht darauf verlassen, dass die weglichen Untergrund, sodass die Leitersprossen in Opposition in Europafragen immer nur den Mund spitzt horizontaler Position verbleiben. Leitern müssen so und am Ende nicht pfeift. Damit bin ich bei der Ratifika- benutzt werden, dass die Arbeitnehmer jederzeit si- tion und dem Gesetzentwurf der FDP zum Volksent- cher stehen und sich sicher festhalten können. scheid. Ich finde es zumindest spannend, dass die Libe- ralen jetzt plötzlich dieBasisdemokratie entdeckt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist nicht etwa ein Auszug aus haben, die und die Grünen offenbar auf- der Bedienungsanleitung für eine Leiter, wie sie ein be- gegeben haben. sonders eifriger Jurist verfasst haben könnte; das ist Teil (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Er traut dem des Entwurfs für eine Richtlinie zur zweiten Änderung Volk nicht mehr!) der Richtlinie 89/655/EWGüber Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Benutzung Ich nehme nicht an, dass die FDP künftig alle Prinzipien von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit. aufsammelt, die die Grünen fallen lassen; sonst hätte sie Das ist so kürzlich im „Spiegel“ abgedruckt worden.keine Zeit, mit der CDU/CSU die Regierungsgeschäfte Schon der Titel dieser EU-Richtlinie übertrifft das, was zu übernehmen. unsere Regierung sonst an höchst kreativen Gesetzesti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – teln vorlegt. Das ist eine besondere Leistung. Lachen bei der FDP – Josef Philip Winkler „Die in Brüssel“ ist zum Synonym fürBürokratie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran haben und Regelungswut geworden. Wer für die Europäische Sie aber lange gefeilt!) Union und ihre Akzeptanz etwas tun möchte, sollte ge- Meine Damen und Herren, die Väter des Grundgeset- nau daran etwas ändern. zes haben mit ihrer Entscheidung für dieparlamenta- Nun könnte man auch über Umfang und Sprache des risch-repräsentative Demokratie die Konsequenzen vom Konvent vorgelegten Entwurfs des Verfassungsver- aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen. Das (B) trags reden. Ich will uns das ersparen. Es wäre, so meine hat sich bewährt. Bewährtes aber soll man nicht aufge- (D) ich, auch unangemessen; denn als Parlamentarier tun wir ben, auch nicht im so genannten Sonderfall. Einen sol- gut daran, uns für das Konventsverfahren einzusetzen chen kann ich an dieser Stelle aber auch gar nicht sehen, und uns nicht einer Exekutivdiktatur zu unterwerfen. es sei denn, Sie gingen davon aus, dass mit dem europäi- schen Verfassungsvertrag die Staatlichkeit der Bundesre- Dauerhaft akzeptiert und getragen werden Union und publik Deutschland zugunsten der Europäischen Union Verfassungsvertrag nur, wenn derSubsidiaritätsgedanke aufgehoben werde. Das kann und darf nicht unser Ziel nicht nur verankert, sondern auch umgesetzt wird. Den sein. Bleiben wir also bei dem „Europa der Vaterländer“, Zweck einer Leiter, den Krümmungsgrad einer Gurke wie es Charles de Gaulle bezeichnet hat, und messen wir oder – das Beispiel ist noch berühmter – die Größe eines dem Verfassungsvertrag bitte nicht eine Bedeutung bei, Traktorsitzes müssen nicht einmal die Nationalstaaten, die er nicht hat. geschweige denn Europa regeln. Nun könnte ich alles aufzählen, was in Normalfällen (Beifall bei der CDU/CSU) gegen einen Volksentscheid spricht: die Manipulier- barkeit – Bundesminister Fischer hat bereits eine Frage- Der Konventsentwurf sieht deshalb einKlagerecht stellung vorgeschlagen, von der ich meine, dass mit ihr der nationalen Parlamente bei Verstößen gegen den programmiert wäre, wie die Entscheidung ausginge –, Subsidiaritätsgrundsatz vor. Das ist, so meine ich, aus- geringe Stimmbeteiligung, Abhängigkeit von Stimmun- drücklich zu begrüßen. Dieser Grundsatz macht umso gen und all das, was wir heute schon gehört haben. mehr Sinn, je mehr Kompetenzen bei den Nationalstaa- ten bleiben. Darum sind wir von der CDU/CSU gegen Aber mindestens die Hälfte aller Gesetze, die wir ver- eine Kompetenz der EU in Fragen der Daseinsvorsorge, abschieden, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, be- ruhen auf bindenden Vorgaben aus Brüssel. Die Regie- (Beifall bei der CDU/CSU) rungsfraktionen haben zudem ihre Sacharbeit auf Kommissionen verlagert, getreu dem Motto: „Wenn du gegen eine Koordinierungskompetenz in der Wirt-nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.“ schafts-, Sozial- und Energiepolitik, für eine Beschrän- kung der Binnenmarktklausel auf ihren Kern und für (Günter Gloser [SPD]: Herzog-Kommission!) größere Spielräume der Mitgliedstaaten in der Struktur- politik; die werden wir insbesondere im Hinblick auf die Angesichts dessen sollten wir nicht auch noch die Ent- Osterweiterung dringend brauchen. scheidungskompetenz zurück an die Bürger delegieren und uns ins Plebiszit flüchten. Wir müssen entscheiden; (Beifall bei der CDU/CSU) wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen. 6178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Georg Nüßlein (A) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Probleme, die wir in Europa gemeinsam lösen wollen.(C) Kastner) Aber sie eignen sich nichtfür diese Form von billiger Polemik. Für die Christsozialen ist dies gerade eineVerantwor- tung vor Gott. Deshalb treten wir für die „invocatio (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dei“ in der Präambel des Verfassungsvertrages ein. DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Leiterhaft!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme nun auf das Thema Gottesbezug zu spre- Bundeskanzler Schröder verkündet dazu: chen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in der Dis- An Deutschland würde die Hereinnahme eines ex- kussion im Europaausschuss sehr deutlich gemacht, wie pliziten Gottesbezuges nicht scheitern. er als niedersächsischer Ministerpräsident mit dieser Frage im Rahmen der Verfassungsdebatte erfolgreich Allein diese Formulierung unseres „Kanzlers der Belie- umgegangen ist. Dazu nehmen Sie aber leider nicht Stel- bigkeit“ halte ich schon für eine Provokation, lung. Sie wollen eben immer nur das bestätigt bekom- (Günter Gloser [SPD]: Vorsicht!) men, was Ihren Klischees entspricht. in etwa nach dem Motto: kein Problem, mir egal. Identi- Um in dieser Debatte glaubwürdig zu sein, müssten tätsstiftend für die Wertegemeinschaft Europa war und CDU und CSU zum Thema Konvent sagen: Wir loben bleibt demgegenüber das christlich-jüdische Erbe. Die die Regierung ausdrücklich für das, was sie europapoli- jetzige Formulierung in der Präambel ist unkonkret, un- tisch vorangebracht hat. korrekt und unehrlich. Vor allem dasChristentum (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des macht die Identität Europas aus. Das ist ein Grund, wa- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rum ich gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei bin; las- sen Sie mich das als ceterum censeo abschließend anfü- Insbesondere müssten CDU und CSU loben, dass die gen. Bundesregierung dafür eintritt, das im Konvent ausge- Vielen herzlichen Dank. handelte Kompromisspaket nicht mehr aufzuschnüren. Dafür treten nicht nur die Bundesregierung, sondern (Beifall bei der CDU/CSU) Christdemokraten – darunter deutsche – und Konserva- tive in der Fraktion der EVP im Europäischen Parlament Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ein; sie unterstützen die Position der rot-grünen Bundes- Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD- regierung ausdrücklich. Wir sind dankbar, dass der Prä- Fraktion. sident des Europäischen Parlaments – Pat Cox ist hier (B) zitiert worden – Gerhard Schröder, Joschka Fischer,(D) diese Regierung und den gesamten Bundestag ausdrück- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): lich darin unterstützt hat, dafür zu kämpfen, den Entwurf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des Konvents zum Ergebnis der Regierungskonferenz zu Wir führen heute eine Debatte über die europäische Ver- machen. Ich wiederhole: Pat Cox hat dies unterstützt. fassung, über die Ergebnisse des Konvents und über das mögliche Referendum. Leider benutzen die meisten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Redner der Opposition sie nur für innenpolitische Er- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) satzgefechte. Da dieses Thema so spannend ist, sollten wir auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über Referenden reden. Es gibt zwei Möglichkeiten: DIE GRÜNEN) Entweder führen wir eine nationale oder eine europäi- sche Diskussion. Ich möchte zunächst auf die Möglich- Für mich stellt sich die Frage, was sie substanziell zum keit einer nationalen Diskussion eingehen. Ich nehme Thema Europa beizutragen haben. das Eintreten der Kolleginnen und Kollegen der FDP für (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wesentlich eine stärkere Bürgerbeteiligung ernst; auch ich persön- mehr als die SPD!) lich bin sehr dafür. Ich will direkt auf den Kollegen Nüßlein eingehen; es Es stellt sich allerdings die Frage, ob wir Europa ist ja ganz einfach. Warum machen wir eine europäische durch ein solches Vorgehen nicht ein Stück weit zum Richtlinie zum Thema Leitern? Dies geschieht aus Grün- Experimentierfeld für eine Politik machen, die wir uns den des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, weil es in auf allein Deutschland bezogen – Plebiszite sieht unsere der EU in jedem Jahr 8 000 Unfälle gibt und weil uns Verfassung in solchen Fragen nicht vor – bisher nicht zu- auch viele Berufsgenossenschaften in unserem Land da- getraut haben. Ich bin entschieden der Meinung, dass das rauf aufmerksam gemacht haben. nicht angeht. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Zukünftig fällt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des keiner mehr von der Leiter, weil es die EU ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bietet?) Zunächst müssen nämlich all diejenigen in Deutschland, Warum machen wir das auch in Bezug auf die Traktor- die seriös, engagiert und leidenschaftlich für Plebiszite sitze? – Genau, weil es in Ihrem Bereich viele Probleme eintreten, eine entsprechende Kultur entwickeln. Die damit gegeben hat. Das sind die vor Ort real bestehenden Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6179

Axel Schäfer (Bochum) (A) haben in der letzten Legislaturperiode eine Vorlage ein- von Volksabstimmungen, von Initiativen und von Be-(C) gebracht, die genau darauf abzielte. Sie sind herzlichgehren weiterverfolgen. Ich hoffe auf Ihre Unterstüt- eingeladen, unsere Ansätze in dieser Legislaturperiode zung. aufzunehmen und weiterzuentwickeln, damit wir zu ei- Vielen Dank. nem gemeinsamen Ergebnis kommen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zur FDP-Position möchte ich Folgendes sagen: Wir Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wollen keine sich selbst einholende Einzelfallermächti- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus gung durch eine Änderung von Art. 23 des Grundgeset- Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion. zes. Vor allen Dingen wollen wir kein Quorum von 25 Prozent; denn eine Verfassung muss von der Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU) heit – das Mehrheitsprinzip ist eine der Stärken des Grundgesetzes – getragen werden; deshalb können wir Klaus Hofbauer (CDU/CSU): keinen Verfassungsentwurf unterstützen, der auf Min- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen derheiten abzielt. und Kollegen! Vor wenigen Wochen hat sich unser Bun- deskanzler – der Herr Außenminister hat es heute ja auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des bestätigt – bezüglich der Frage einer Verankerung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gottesbezugs in der geplanten EU-Verfassung offen ge- An dieser Stelle möchte ich als Sozialdemokrat und zeigt. Für uns ist damit die klare Aufforderung verbun- als europäischer Föderalist ganz bewusst sagen – leider den: Der Herr Bundeskanzler soll sich nicht nur allge- hatte sich dazu bisher niemand geäußert –: Wenn wir es mein dazu bekennen, sondern er soll in den kommenden mit einer europäischen Verfassung ernst meinen, dann Wochen seinen klaren und uneingeschränkten Einsatz müssen wir für ein europäisches Referendum überzeigen, damit es gelingt, dieses wichtige Ziel in die euro- diese Verfassung – ich denke dabei an eine Abstim-päische Verfassung aufzunehmen. mung am selben Tag in allen 25 Mitgliedstaaten – eintre- (Beifall bei der CDU/CSU) ten. Das Ergebnis sollte eine Mehrheit der Mitgliedstaa- ten und eine Mehrheit der Bevölkerung sein. Das wäre Die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung aus meiner Sicht die einzige Legitimation einer europäi- ist für Europa von historischer Bedeutung. Hiermit wer- schen Verfassung, weil sie sowohl die doppelte Mehrheit den die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt. (B) gewährleistete als auch all denjenigen, die Europa blo- Wir alle – ich glaube, darüber besteht Übereinstimmung (D) ckieren wollen, keine Chance gäbe. in diesem Hohen Hause – verstehen unter Europa nicht nur einen geographischen Begriff, sondern auch eine be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sondere Wertegemeinschaft. Robert Schuman, einer der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Väter des europäischen Einigungsvertrages nach dem Auch dazu sage ich: Lasst uns ehrlich darüber reden, schrecklichen Zweiten Weltkrieg, drückte es so aus, dass ob wir willens und in der Lage sind, diesen Weg zu ge- Grenzen keine Trennungslinien sein dürfen, sondern hen! Wenn wir diesen Weg gehen, dann ändern wir die – ich zitiere ihn –: Qualität der Europäischen Union: Aus einem Staatenver- zu Berührungslinien werden müssen, damit der ma- bund wird ein Bundesstaat. Wir würden an dieser Stelle terielle und kulturelle Austausch zustande kommt dann sagen: Jawohl, wir geben einen Teil der nationalen und sich verstärkt. Kompetenzen in grundlegenden Fragen tatsächlich end- gültig an die europäische Ebene ab, ohne dass wir die Gemeinsam mit Konrad Adenauer und de Gasperi suchte Chance haben, sie zurückzuholen. Ich persönlich binRobert Schuman in den 50er-Jahren nach einem Europa dafür, dass wir diesen Mut in Zukunft aufbringen sollten. der Vaterländer. Diese drei bedeutenden Europäer hatten Ich bitte aber auch um ehrliche Antworten, was dieVisionen und waren überzeugt davon, dass nur die im Kolleginnen und Kollegen von der FDP wie von denchristlichen Glauben und im christlichen Menschen- und Unionsparteien dazu meinen. Gesellschaftsverständnis verankerten Werte ein tragfähi- ges Fundament für das Zusammenleben der Menschen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bilden können. Ein Letztes: Die Einführung von Plebisziten ist eine (Beifall bei der CDU/CSU) Frage des Engagements der Bürgerinnen und Bürger. Es Aus diesem Grund, meine sehr geehrten Damen und ist gut, dass es in unserem Land viele Aktionen wie zum Herren, haben sich auch die Präsidenten der deutschen Beispiel „Mehr Demokratie“ gibt, wo jetzt entspre- Länderparlamente wie auch die Ministerpräsidenten da- chende Diskussionen geführt werden. Wenn wir diese für ausgesprochen, dass die künftige europäische Verfas- Diskussionen wollen, dann müssen wir gleichzeitig wol- sung einen ausdrücklichenGottesbezug enthält. Die len, dass wir, von kontroversen Standpunkten ausge- Formulierung „Im Bewusstsein der Verantwortung vor hend, zum Schluss in diesem Parlament zu einem Kon- Gott“ ist auch für eine moderne Verfassung für das ent- sens kommen. Die Debatte darüber im Rechtsausschuss stehende größere Europa der richtige Weg. hat einiges Ermutigende gebracht. Deshalb werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Frage (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 6180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Klaus Hofbauer (A) Der Außenminister hat heute davon gesprochen, dass Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-(C) einige Länder in Europa dagegen sind. Er hat aber nicht empfehlung auf Drucksache 15/1897, den Gesetzent- gesagt, welche Länder in Europa sich unterdessen ein- wurf abzulehnen. Die Fraktion der FDP verlangt na- deutig für den Gottesbezug ausgesprochen haben. Esmentliche Abstimmung. sind dies unter anderem Italien, Spanien, Österreich, Tschechien, Polen, Irland, Malta, Litauen und Portugal. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Deswegen fordern wir vom Kanzler und vom Vizekanz- vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen be- ler: Stellen Sie sich an die Spitze dieser Bewegung, da- setzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstim- mit dieses zentrale Ziel in der Präambel unserer europäi- mung. schen Verfassung verankert wird. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine (Beifall bei der CDU/CSU) Stimme nicht abgegeben hat? – Selbst die Kernbegriffe der französischen Revolution (Ute Kumpf [SPD]: Der Haushaltsausschuss – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind letztlich ist zu großen Teilen noch nicht da!) nichts anderes als säkularisierte christliche Grundtugen- Sind jetzt auch alle Mitglieder des Haushaltsausschusses den, inspiriert von der Rationalität der Aufklärung. Die eingetroffen? – Basis der wichtigsten europäischen Werte liegt also im Christentum. (Zurufe: Nein!) In der Diskussion wird der Gottesbezug immer wie- Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine der infrage gestellt. Es wird argumentiert, dass man eine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich Verantwortung vor Gott nicht einklagen kann. Das ist schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- auch nicht der Zweck eines Gottesbezuges in der Präam- nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. bel. Die Verantwortung vor Gott soll die Vorläufigkeit, Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be- Fehlbarkeit und Unvollkommenheit allen menschlichen kannt gegeben.2) Handelns zum Ausdruck bringen. Einer größeren Ver- antwortung können wir uns nicht stellen. Die Verantwor- Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol- tung vor Gott beschränkt einen absoluten Gewissheitsan- leginnen und Kollegen, dazu die Plätze einzunehmen. spruch der Politik. Sie macht den Entscheidungsträgern Tagesordnungspunkte 4 b bis 4 f. Interfraktionell jederzeit bewusst, dass sie nicht nur sich selbst Rechen- wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck- schaft schuldig sind. sachen 15/1694, 15/1695, 15/1712 und 15/1801 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- (B) Wir machen uns manchmal Sorgen, dass dieser wich- (D) tige Einigungsprozess in Europa an den Menschen vor- gen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1712, Tagesord- beigeht. Wir stellen auch heute im Rahmen unserer De- nungspunkt 4 d, soll abweichend von der Tagesordnung batte fest, dass die Diskussion um den Konvent an den federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Menschen vorbeigeht. Ich glaube, dass die Diskussion Arbeit überwiesen werden. Die Vorlage auf Druck- um einen Gottesbezug viele Menschen für Europa ge- sache 15/1878, Tagesordnungspunkt 4 f, soll an den winnen würde. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- (Beifall bei der CDU/CSU) den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Europa besteht nicht nur aus Rechtsverordnungen und beschlossen. Bürokratie. Europa ist wesentlich mehr. Deshalb bitte Tagesordnungspunkt 4 g. Wir kommen zur Beschluss- ich Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren: Stim- empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten men Sie unserem Antrag zu! der Europäischen Union auf Drucksache 15/1898. Unter Herzlichen Dank. Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- schuss die Annahme des Entschließungsantrages der (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Ich schließe die Aussprache. Thessaloniki, Drucksache 15/1212. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen wurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Grundge- der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und setzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids Enthaltung der FDP angenommen. über eine europäische Verfassung, Drucksache 15/1112. Es liegen dazu drei persönliche Erklärungen zur Abstim- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung mung vor: zum Ersten vom Abgeordneten Steenblock des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zum Stand der und 21 weiteren Abgeordneten, zum Zweiten vom Ab- Beratungen des EU-Verfassungsvertrages, Druck- geordneten Winkler und zum Dritten vom Abgeordneten sache 15/1207. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Hüppe.1) lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-

1) Anlagen 3 bis 5 2) Seite 6185 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6181

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der zur Neuregelung des Rechts der Verkehrs-(C) FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. statistik Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c sowie – Drucksachen 15/1666, 15/1706 – Zusatzpunkt 5 auf: (Erste Beratung 66. Sitzung) 22 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen rung des Ersten Gesetzes zur Änderung des (14. Ausschuss) Bundesgrenzschutzgesetzes – Drucksache 15/1856 – – Drucksache 15/1861 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Innenausschuss (f) Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- sen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- sache 15/1856, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zung der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- 2002 über Finanzsicherheiten und zur Ände- len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- rung des Hypothekenbankgesetzes und ande- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter rer Gesetze Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- – Drucksache 15/1853 – men. Überweisungsvorschlag: Dritte Beratung Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten entwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- Entwurfs eines Gesetzes zur Grunderwerbsteu- nommen. erbefreiung bei Fusionen von Wohnungsunter- nehmen und Wohnungsgenossenschaften in Tagesordnungspunkt 23 b: den neuen Ländern (B) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des(D) – Drucksache 15/1407 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 7 Finanzausschuss (f) vom 27. November 2002 zu der Revidierten Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksache 15/1649 – ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des (Erste Beratung 66. Sitzung) Sechsten Buches Sozialgesetzbuch Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Drucksache 15/1672 – ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) – Drucksache 15/1842 – Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Berichterstattung: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abgeordnete Renate Blank Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- ten Verfahren ohne Debatte. sen empfiehlt auf Drucksache 15/1842, den Gesetzent- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 n sowie Tagesordnungspunkt 23 c: Zusatzpunkt 6 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten hen ist. Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrs- gesetzes Tagesordnungspunkt 23 a: – Drucksache 15/1645 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Erste Beratung 66. Sitzung) 6182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- (C) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- entwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die wirtschaft (10. Ausschuss) Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. – Drucksache 15/1839 – Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Berichterstattung: che 15/1894 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- Abgeordnete Matthias Weisheit ßung anzunehmen. – Wer stimmt für diese Beschluss- Helmut Heiderich empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Friedrich Ostendorff Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan- Dr. Christel Happach-Kasan zen Hauses angenommen. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Tagesordnungspunkt 23 e: Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1839, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- gierung eingebrachten Entwurfs einesErsten chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- Gesetzes zur Änderung des Verfütterungver- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- botsgesetzes men der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU – Drucksache 15/1668 – und der FDP angenommen. Dritte Beratung (Erste Beratung 66. Sitzung) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- wirtschaft (10. Ausschuss) entwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. – Drucksache 15/1840 – Tagesordnungspunkt 23 d: Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Julia Klöckner gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes Ulrike Höfken zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Hans-Michael Goldmann Vorschriften über die Verarbeitung und Besei- (B) (D) tigung von nicht für den menschlichen Ver- Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und zehr bestimmten tierischen Nebenprodukten Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1840, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die – Drucksache 15/1667 – dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- (Erste Beratung 66. Sitzung) chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- alition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- angenommen. wirtschaft (10. Ausschuss) – Drucksache 15/1894 – Dritte Beratung Berichterstattung: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Julia Klöckner – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Ulrike Höfken entwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Hans-Michael Goldmann Stimmen der Opposition angenommen. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Tagesordnungspunkt 23 f: Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/1894, den Gesetzent- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte von der Bundesregierung eingebrachten Ent- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer men vom 17. Oktober 2000 über die Anwen- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf dung des Art. 65 des Übereinkommens über ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koa- die Erteilung europäischer Patente lition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. – Drucksache 15/1647 – Dritte Beratung (Erste Beratung 66. Sitzung) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. desregierung eingebrachten Entwurfs eines Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6183

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der (C) internationale Patentübereinkommen Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal- tung der FDP angenommen. – Drucksache 15/1646 – Dritte Beratung (Erste Beratung 66. Sitzung) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ausschusses (6. Ausschuss) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- – Drucksache 15/1886 – wurf ist mit demselben Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Tagesordnungspunkt 23 h: Dr. Günter Krings Jerzy Montag Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Rainer Funke von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. No- Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- vember 2002 zur Änderung des Europol-Über- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1886, den einkommens und des Protokolls über die Vor- Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die rechte und Immunitäten für Europol, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Mitglieder der Organe, die stellvertretenden – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Direktoren und die Bediensteten von Europol entwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- nommen. – Drucksache 15/1648 – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (Erste Beratung 69. Sitzung) desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Änderung des Gesetzes über internationale Patent- schusses (4. Ausschuss) übereinkommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- – Drucksache 15/1895 – che 15/1886, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Berichterstattung: diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ralf Göbel tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit Silke Stokar von Neuforn (B) den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dr. Max Stadler (D) Dritte Beratung Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1895, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- entwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- nommen. genommen. Tagesordnungspunkt 23 g: Tagesordnungspunkt 23 i: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zur Neuordnung der Sicherheit von techni- eines Gesetzes zu dem Internationalen Über- schen Arbeitsmitteln und Verbraucherpro- einkommen der Vereinten Nationen vom dukten 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finan- zierung des Terrorismus – Drucksachen 15/1620, 15/1805 – – Drucksache 15/1507 – (Erste Beratung 66. Sitzung) (Erste Beratung 63. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 15/1892 – – Drucksache 15/1863 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Martina Krogmann Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in Wolfgang Zeitlmann seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1892, Jerzy Montag den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Jörg van Essen men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Druck- chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- sache 15/1863, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich 6184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (C) wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent- tungen? – Sammelübersicht 71 ist mit den Stimmen des haltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmenganzen Hauses angenommen. des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 23 m: Tagesordnungspunkt 23 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- tionsausschusses (2. Ausschuss) gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Abkommen vom 13. Januar 2003 zwi- Sammelübersicht 72 zu Petitionen schen der Regierung der Bundesrepublik – Drucksache 15/1796 – Deutschland und der Regierung der Sonder- verwaltungsregion Hongkong der Volksrepu- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- blik China zur Vermeidung der Doppelbesteu- tungen? – Sammelübersicht 72 ist ebenfalls mit den erung von Schifffahrtsunternehmen auf dem Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Tagesordnungspunkt 23 n: Vermögen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- – Drucksache 15/1644 – tionsausschusses (2. Ausschuss) (Erste Beratung 66. Sitzung) Sammelübersicht 73 zu Petitionen Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – Drucksache 15/1797 – schusses (7. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – Drucksache 15/1812 – tungen? – Sammelübersicht 73 ist mit den Stimmen der Berichterstattung: Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/ Abgeordnete Gabriele Frechen CSU angenommen. Manfred Kolbe Zusatzpunkt 6: Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/1812, den Gesetzent- – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- desregierung eingebrachten Entwurfs eines entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundes- (B) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf verfassungsgerichtsgesetzes (D) ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan- – Drucksache 15/1848 – zen Hauses angenommen. (Erste Beratung 71. Sitzung) Dritte Beratung – Zweite und dritte Beratung des von den Frakti- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem onen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – eingebrachten Entwurfs eines Siebten Geset- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- zes zur Änderung des Bundesverfassungsge- wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- richtsgesetzes men. – Drucksache 15/1686 – Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. (Erste Beratung 66. Sitzung) Tagesordnungspunkt 23 k: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/1887 – Sammelübersicht 70 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier – Drucksache 15/1794 – Erika Simm Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Dr. Jürgen Gehb tungen? – Sammelübersicht 70 ist mit den Stimmen des Jerzy Montag ganzen Hauses angenommen. Rainer Funke Tagesordnungspunkt 23 l: Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1887, den Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-Gesetzentwurf auf Drucksache 15/1848 anzunehmen. tionsausschusses (2. Ausschuss) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Sammelübersicht 71 zu Petitionen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- – Drucksache 15/1795 – tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6185

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dritte Beratung lung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- (C) men. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 4 und Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh- wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- men. mung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 23 des Grundgesetzes zur Einführung eines Volks- Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei- entscheids über eine europäische Verfassung – Druck- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1887, den sachen 15/1112 und 15/1897 – bekannt. Abgegebene Gesetzentwurf auf Drucksache 15/1686 für erledigt zu Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 50, mit Nein ha- erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ben gestimmt 528, Enthaltungen 6. Der Gesetzentwurf Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- ist damit in zweiter Beratung abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Hans-Joachim Otto Bernhard Brinkmann Rolf Hempelmann Abgegebene Stimmen: 584; (Frankfurt) (Hildesheim) Dr. Barbara Hendricks davon Eberhard Otto (Godern) Hans-Günter Bruckmann Gustav Herzog Detlef Parr Edelgard Bulmahn Petra Heß ja: 50 Cornelia Pieper Marco Bülow Monika Heubaum nein: 528 Gisela Piltz Ulla Burchardt Gabriele Hiller-Ohm enthalten: 6 Prof. Dr. Andreas Pinkwart Dr. Michael Bürsch Stephan Hilsberg Dr. Günter Rexrodt Hans Martin Bury Gerd Höfer Hans Büttner (Ingolstadt) Jelena Hoffmann (Chemnitz) Ja Marita Sehn Dr. Hermann Otto Solms Marion Caspers-Merk Walter Hoffmann Dr. Peter Danckert (Darmstadt) CDU/CSU Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Dr. Herta Däubler-Gmelin Frank Hofmann (Volkach) Dr. Peter Gauweiler Dr. Dieter Thomae Karl Diller Eike Hovermann Peter Dreßen Klaas Hübner Josef Göppel Jürgen Türk Detlef Dzembritzki Christel Humme Klaus Hofbauer Dr. Guido Westerwelle Sebastian Edathy Brunhilde Irber Christian von Stetten Dr. Claudia Winterstein Siegmund Ehrmann Renate Jäger (B) FDP Marga Elser Jann-Peter Janssen (D) Fraktionslose Abgeordnete Gernot Erler Klaus-Werner Jonas Daniel Bahr (Münster) Dr. Gesine Lötzsch Petra Ernstberger Johannes Kahrs Rainer Brüderle Petra Pau Karin Evers-Meyer Ulrich Kasparick Angelika Brunkhorst Annette Faße Dr. h.c. Susanne Kastner Ernst Burgbacher Elke Ferner Ulrich Kelber Helga Daub Nein Gabriele Fograscher Hans-Peter Kemper Jörg van Essen Rainer Fornahl Klaus Kirschner SPD Ulrike Flach Gabriele Frechen Hans-Ulrich Klose Otto Fricke Dr. Lale Akgün Dagmar Freitag Astrid Klug Horst Friedrich (Bayreuth) Gerd Andres Lilo Friedrich (Mettmann) Dr. Heinz Köhler (Coburg) Rainer Funke Ingrid Arndt-Brauer Iris Gleicke Walter Kolbow Dr. Wolfgang Gerhardt Rainer Arnold Günter Gloser Fritz Rudolf Körper Joachim Günther (Plauen) Hermann Bachmaier Uwe Göllner Karin Kortmann Dr. Karlheinz Guttmacher Ernst Bahr (Neuruppin) Renate Gradistanac Rolf Kramer Dr. Christel Happach-Kasan Doris Barnett Angelika Graf (Rosenheim) Anette Kramme Christoph Hartmann Dr. Hans-Peter Bartels Dieter Grasedieck Ernst Kranz Nicolette Kressl (Homburg) Eckhardt Barthel (Berlin) Monika Griefahn Kerstin Griese Volker Kröning Klaus Haupt Klaus Barthel (Starnberg) Gabriele Groneberg Angelika Krüger-Leißner Ulrich Heinrich Sören Bartol Achim Großmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Birgit Homburger Sabine Bätzing Wolfgang Grotthaus Horst Kubatschka Dr. Werner Hoyer Uwe Beckmeyer Karl-Hermann Haack Ernst Küchler Michael Kauch Klaus Uwe Benneter (Extertal) Helga Kühn-Mengel Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Axel Berg Hans-Joachim Hacker Ute Kumpf Jürgen Koppelin Ute Berg Bettina Hagedorn Dr. Uwe Küster Sibylle Laurischk Hans-Werner Bertl Klaus Hagemann Christine Lambrecht Harald Leibrecht Petra Bierwirth Alfred Hartenbach Christian Lange (Backnang) Ina Lenke Rudolf Bindig Michael Hartmann Christine Lehder Sabine Leutheusser- Lothar Binding (Heidelberg) (Wackernheim) Waltraud Lehn Schnarrenberger Kurt Bodewig Anke Hartnagel Dr. Elke Leonhard Markus Löning Gerd Friedrich Bollmann Nina Hauer Eckhart Lewering Dirk Niebel Klaus Brandner Hubertus Heil Götz-Peter Lohmann Günther Friedrich Nolting Willi Brase Reinhold Hemker Gabriele Lösekrug-Möller 6186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Erika Lotz Reinhard Schultz Norbert Barthle Dr. Wolfgang Götzer (C) Dr. Christine Lucyga (Everswinkel) Dr. Wolf Bauer Ute Granold Dirk Manzewski Swen Schulz (Spandau) Günter Baumann Reinhard Grindel Tobias Marhold Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst-Reinhard Beck Michael Grosse-Brömer Lothar Mark Dr. Martin Schwanholz (Reutlingen) Markus Grübel Caren Marks Rolf Schwanitz Veronika Bellmann Manfred Grund Christoph Matschie Erika Simm Dr. Christoph Bergner Karl-Theodor von und zu Hilde Mattheis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Otto Bernhardt Guttenberg Markus Meckel Dr. Cornelie Sonntag- Prof. Dr. Rolf Bietmann Olav Gutting Petra-Evelyne Merkel Wolgast Clemens Binninger Holger-Heinrich Haibach Ulrike Merten Wolfgang Spanier Renate Blank Gerda Hasselfeldt Angelika Mertens Dr. Margrit Spielmann Peter Bleser Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Mogg Jörg-Otto Spiller Antje Blumenthal Helmut Heiderich Michael Müller (Düsseldorf) Dr. Ditmar Staffelt Prof. Dr. Maria Böhmer Ursula Heinen Christian Müller (Zittau) Ludwig Stiegler Jochen Borchert Siegfried Helias Gesine Multhaupt Rolf Stöckel Wolfgang Börnsen Uda Carmen Freia Heller Franz Müntefering Christoph Strässer (Bönstrup) Michael Hennrich Dr. Rolf Mützenich Rita Streb-Hesse Wolfgang Bosbach Jürgen Herrmann Volker Neumann (Bramsche) Dr. Peter Struck Dr. Wolfgang Bötsch Bernd Heynemann Joachim Stünker Dietmar Nietan Klaus Brähmig Ernst Hinsken Jörg Tauss Dr. Erika Ober Dr. Ralf Brauksiepe Peter Hintze Jella Teuchner Holger Ortel Helge Braun Robert Hochbaum Dr. Gerald Thalheim Heinz Paula Monika Brüning Martin Hohmann Wolfgang Thierse Johannes Pflug Georg Brunnhuber Joachim Hörster Franz Thönnes Joachim Poß Verena Butalikakis Hubert Hüppe Hans-Jürgen Uhl Hartmut Büttner Susanne Jaffke Dr. Wilhelm Priesmeier Rüdiger Veit Florian Pronold (Schönebeck) Prof. Dr. Egon Jüttner Simone Violka Cajus Caesar Dr. Sascha Raabe Bartholomäus Kalb Jörg Vogelsänger Manfred Carstens (Emstek) Karin Rehbock-Zureich Steffen Kampeter Ute Vogt (Pforzheim) Peter H. Carstensen Irmgard Karwatzki Gerold Reichenbach Dr. Marlies Volkmer (Nordstrand) Bernhard Kaster Dr. Carola Reimann Hans Georg Wagner Gitta Connemann Siegfried Kauder (Bad Christel Riemann- Hedi Wegener Leo Dautzenberg Dürrheim) Hanewinckel Andreas Weigel Hubert Deittert Volker Kauder Walter Riester Reinhard Weis (Stendal) Albert Deß Gerlinde Kaupa (B) Reinhold Robbe (D) Petra Weis Alexander Dobrindt Eckart von Klaeden René Röspel Gunter Weißgerber Vera Dominke Jürgen Klimke Dr. Ernst Dieter Rossmann Matthias Weisheit Thomas Dörflinger Julia Klöckner Karin Roth (Esslingen) Prof. Gert Weisskirchen Marie-Luise Dött Kristina Köhler (Wiesbaden) Michael Roth (Heringen) (Wiesloch) Maria Eichhorn Manfred Kolbe Gerhard Rübenkönig Dr. Ernst Ulrich von Rainer Eppelmann Norbert Königshofen Ortwin Runde Weizsäcker Anke Eymer (Lübeck) Hartmut Koschyk Marlene Rupprecht Jochen Welt Georg Fahrenschon Thomas Kossendey (Tuchenbach) Dr. Rainer Wend Ilse Falk Michael Kretschmer Anton Schaaf Lydia Westrich Dr. Hans Georg Faust Günther Krichbaum Axel Schäfer (Bochum) Inge Wettig-Danielmeier Albrecht Feibel Günter Krings Gudrun Schaich-Walch Dr. Margrit Wetzel Enak Ferlemann Dr. Martina Krogmann Rudolf Scharping Andrea Wicklein Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Hermann Kues Bernd Scheelen Jürgen Wieczorek (Böhlen) Dirk Fischer (Hamburg) Werner Kuhn (Zingst) Dr. Hermann Scheer Heidemarie Wieczorek-Zeul Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Karl A. Lamers Siegfried Scheffler Dr. Dieter Wiefelspütz Land) (Heidelberg) Horst Schild Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Maria Flachsbarth Dr. Norbert Lammert Horst Schmidbauer Engelbert Wistuba Klaus-Peter Flosbach Helmut Lamp (Nürnberg) Barbara Wittig Dr. Hans-Peter Friedrich Barbara Lanzinger Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Wolfgang Wodarg (Hof) Karl-Josef Laumann Silvia Schmidt (Eisleben) Verena Wohlleben Erich G. Fritz Vera Lengsfeld Dagmar Schmidt (Meschede) Waltraud Wolff Jochen-Konrad Fromme Werner Lensing (Wolmirstedt) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dr. Michael Fuchs Peter Letzgus Heidi Wright Heinz Schmitt (Landau) Hans-Joachim Fuchtel Ursula Lietz Uta Zapf Carsten Schneider Dr. Jürgen Gehb Walter Link (Diepholz) Manfred Helmut Zöllmer Walter Schöler Norbert Geis Eduard Lintner Dr. Christoph Zöpel Olaf Scholz Roland Gewalt Dr. Klaus W. Lippold Karsten Schönfeld Eberhard Gienger (Offenbach) CDU/CSU Fritz Schösser Georg Girisch Patricia Lips Wilfried Schreck Ulrich Adam Ralf Göbel Dr. Michael Luther Ottmar Schreiner Ilse Aigner Dr. Reinhard Göhner Erwin Marschewski Gerhard Schröder Peter Altmaier Tanja Gönner (Recklinghausen) Gisela Schröter Dietrich Austermann Peter Götz Stephan Mayer (Altötting) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6187

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Conny Mayer (Baiersbronn) Hannelore Roedel Marko Wanderwitz Markus Kurth (C) Dr. Martin Mayer Franz-Xaver Romer Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Reinhard Loske (Siegertsbrunn) Dr. Klaus Rose Gerald Weiß (Groß-Gerau) Anna Lührmann Wolfgang Meckelburg Kurt J. Rossmanith Ingo Wellenreuther Jerzy Montag Dr. Michael Meister Dr. Norbert Röttgen Annette Widmann-Mauz Kerstin Müller (Köln) Dr. Angela Merkel Dr. Christian Ruck Klaus-Peter Willsch Winfried Nachtwei Friedrich Merz Vo l k e r R ü he Willy Wimmer (Neuss) Christa Nickels Laurenz Meyer (Hamm) Peter Rzepka Matthias Wissmann Friedrich Ostendorff Doris Meyer (Tapfheim) Anita Schäfer (Saalstadt) Werner Wittlich Simone Probst Maria Michalk Dr. Wolfgang Schäuble Dagmar Wöhrl Claudia Roth (Augsburg) Hans Michelbach Hartmut Schauerte Elke Wülfing Krista Sager Klaus Minkel Andreas Scheuer Wolfgang Zeitlmann Christine Scheel Marlene Mortler Norbert Schindler Wolfgang Zöller Irmingard Schewe-Gerigk Stefan Müller (Erlangen) Georg Schirmbeck Willi Zylajew Bernward Müller (Gera) Andreas Schmidt (Mülheim) Rezzo Schlauch Albert Schmidt (Ingolstadt) Dr. Gerd Müller Dr. Andreas Schockenhoff BÜNDNIS 90/DIE Werner Schulz (Berlin) Hildegard Müller Dr. Ole Schröder GRÜNEN Bernd Neumann (Bremen) Bernhard Schulte-Drüggelte Petra Selg Michaela Noll Uwe Schummer Kerstin Andreae Ursula Sowa Günter Nooke Wilhelm Josef Sebastian Marieluise Beck (Bremen) Rainder Steenblock Dr. Georg Nüßlein Horst Seehofer Volker Beck (Köln) Silke Stokar von Neuforn Franz Obermeier Kurt Segner Cornelia Behm Hans-Christian Ströbele Eduard Oswald Matthias Sehling Birgitt Bender Jürgen Trittin Melanie Oßwald Marion Seib Matthias Berninger Marianne Tritz Rita Pawelski Heinz Seiffert Grietje Bettin Hubert Wendel Ulrich Dr. Peter Paziorek Bernd Siebert Alexander Bonde Dr. Antje Vogel-Sperl Ulrich Petzold Thomas Silberhorn Ekin Deligöz Dr. Antje Vollmer Dr. Joachim Pfeiffer Johannes Singhammer Dr. Thea Dückert Dr. Ludger Volmer Sibylle Pfeiffer Jens Spahn Jutta Dümpe-Krüger Josef Philip Winkler Dr. Friedbert Pflüger Erika Steinbach Franziska Eichstädt-Bohlig Margareta Wolf (Frankfurt) Beatrix Philipp Gero Storjohann Dr. Uschi Eid Ronald Pofalla Andreas Storm Hans-Josef Fell Ruprecht Polenz Max Straubinger Joseph Fischer (Frankfurt) Enthalten Daniela Raab Matthäus Strebl Katrin Göring-Eckardt Thomas Rachel Thomas Strobl (Heilbronn) Anja Hajduk SPD (B) (D) Hans Raidel Lena Strothmann Winfried Hermann Brigitte Schulte (Hameln) Dr. Peter Ramsauer Michael Stübgen Antje Hermenau Helmut Rauber Antje Tillmann Peter Hettlich CDU/CSU Peter Rauen Edeltraut Töpfer Ulrike Höfken Christa Reichard (Dresden) Dr. Hans-Peter Uhl Thilo Hoppe Herbert Frankenhauser Katherina Reiche Arnold Vaatz Michaele Hustedt Dr. Peter Jahr Hans-Peter Repnik Volkmar Uwe Vogel Fritz Kuhn Henry Nitzsche Klaus Riegert Andrea Astrid Voßhoff Renate Künast Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Prof. Dr. Heinz Riesenhuber Gerhard Wächter Undine Kurth (Quedlinburg) Albert Rupprecht (Weiden)

Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit eine Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- weitere Beratung. gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis FDP abgelehnt. 5 d. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so. Wir wählen nun die vom Bundestag zu entsendenden Mitglieder. Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen Tagesordnungspunkt 5 a: der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/ Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU CSU sowie der FDP vor. Bestimmung des Verfahrens für die Berech- Der Abgeordnete Volker Kauder, CDU/CSU, hat dazu nung der Stellenanteile der Fraktionen in der eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu Pro- gemeinsamen Kommission von Bundestag und tokoll gegeben.1) Bundesrat zur Modernisierung der bundes- staatlichen Ordnung – Drucksache 15/1692 – 1) Anlage 6 6188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 b auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Wahl der Mitglieder der Kommission zur Mo- gin Erika Simm, SPD-Fraktion. dernisierung der bundesstaatlichen Ordnung – Drucksache 15/1867 – Erika Simm (SPD): Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen der Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? – Gegen-und Kollegen! Da ich nicht nur Berichterstatterin für probe! – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den mehrere Wahleinsprüche bin, sondern auch Vorsitzende Stimmen aller Fraktionenbei Enthaltung der beiden des Wahlprüfungsausschusses, erlaube ich mir, einige fraktionslosen Mitglieder angenommen. grundsätzliche Bemerkungen zur Wahlprüfung und zum Verfahren des Ausschusses zu machen. Tagesordnungspunkt 5 c: Das Verfahren der Wahlprüfung, nach dem der Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Wahlprüfungsausschuss vorzugehen hat, ist im Wahlprü- Wahl der Mitglieder der Kommission zur Mo- fungsgesetz geregelt. dernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Zur Bundestagswahl 2002 sind 520 Einsprüche ein- – Drucksache 15/1868 – gegangen. Jeder dieser Einsprüche durchläuft eine so ge- nannte Vorprüfung, bei der es darum geht, festzustellen, Wer stimmt für den Wahlvorschlag der CDU/CSU? – ob der Einspruch zulässig und begründet ist. In dieser Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Vorschlag ist mit Vorprüfung wird das Einspruchsschreiben gelesen, ein- den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU schlägige Literatur herangezogen und nach Präzedenz- und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen fällen gesucht. Die Behörden, welche mit der Durchfüh- Mitglieder angenommen. rung der Wahl befasst waren, wie zum Beispiel der Tagesordnungspunkt 5 d: Bundeswahlleiter oder der örtliche Kreiswahlleiter, wer- den zu Stellungnahmen aufgefordert. Es wird also unter- Wahlvorschlag der Fraktion der FDP sucht, ob im konkreten Fall ein Wahlfehler passiert ist, ob die Vorschriften des Wahlrechts richtig angewandt (B) Wahl der Mitglieder der Kommission zur Mo- wurden und ob es sonstige unzulässige Einwirkungen(D) dernisierung der bundesstaatlichen Ordnung auf das Wahlgeschehen gegeben hat. – Drucksache 15/1869 – Erfolg hat ein Einspruch nur dann – das ist zum Ver- Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Gegen-ständnis unserer Entscheidungen wichtig –, wenn ers- probe! – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit dem tens ein Fehler vorliegt d un zweitens dieser für die gleichen Ergebnis wie beim vorhergehenden Wahlvor- Mandatsverteilung relevant ist. Festgestellte Fehler schlag angenommen. können also nur dann zur Korrektur des Stimmergebnis- ses, zu einer anderen Mandatsverteilung oder gar zur Damit sind die vom Bundestag zu entsendenden Mit- Wiederholung der Wahl führen, wenn sie sich auf die glieder der Kommission zur Modernisierung der bundes- Verteilung der Sitze ausgewirkt haben. Hieraus wird staatlichen Ordnung gewählt. deutlich, welche Funktion die Wahlprüfung hat: Sie soll Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: das objektive Wahlrecht sichern und die ordnungsge- mäße Zusammensetzung des Deutschen Bundestages Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung und gewährleisten. Der Schutz subjektiver Rechte von ein- des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zelnen Wählern, Kandidaten oder Parteien ist nicht un- mittelbares Ziel der Wahlprüfung, mittelbar aber natür- zu 57 gegen die Gültigkeit der Wahl zumlich deren Ergebnis. 15. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahl- einsprüche Nun kann man sich fragen, warum wir uns die Mühe machen, jedem behaupteten Fehler sorgfältig nachzuge- – Drucksache 15/1850 – hen, wenn dies – jedenfalls im Regelfall – letztlich keine Berichterstattung: Konsequenzen für den Wahlausgang hat. Die Antwort Abgeordnete Hermann Bachmaier lautet: Durch jeden Kontakt zu den Wahlbehörden arbei- Hans-Joachim Hacker ten wir Einzelprobleme auf; dies verhindert Fehler für Petra-Evelyne Merkel die Zukunft. Daneben kann ein Änderungsbedarf in der Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Praxis der Abwicklung von Wahlen oder bezogen auf die Manfred Grund gesetzlichen Bestimmungen sichtbar werden. Wenn dies Thomas Strobl (Heilbronn) der Fall ist, formulieren wir Prüfbitten an die Bundesre- Jerzy Montag gierung, wie es auch in der vorliegenden Beschlussemp- Jörg van Essen fehlung geschehen ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6189

Erika Simm (A) Nun aber zurück zum Wahlprüfungsverfahren. Nach Die gesetzliche Ausnahme für so genannte offensichtlich (C) der Vorprüfung soll laut Gesetz wie bei einem Gericht unbegründete Einsprüche ist aber nie so verstanden eine öffentliche mündliche Verhandlung anberaumt worden, dass diese offensichtliche Unbegründetheit werden. An dieser sollen der Einspruchsführer, ein be- schon auf den ersten Blick klar sein muss. Dies akzep- troffener Abgeordneter und seine Fraktion, Wahlleiter tiert auch das Bundesverfassungsgericht. Es hat 1993 in und andere Stellen teilnehmen können. Es können Zeu- zwei Verfahren betont, dass ein Antrag unbegründet sei, gen und Sachverständige vernommen und sogar verei- wenn im Entscheidungszeitpunkt kein Gesichtspunkt digt werden. mehr erkennbar ist, der dem Antrag zum Erfolg verhel- fen kann. Bei Durchsicht der von uns getroffenen Entscheidun- gen werden Sie feststellen, dass wir abweichend von die- Betrachtet man die beiden damaligen Fälle – ich will sem Grundsatz in keinem der entschiedenen Fälle eine das im Einzelnen nicht vertiefen, man kann aber nachse- solche mündliche Verhandlung durchgeführt haben. Für hen –, so wird klar, dass die Unbegründetheit auch da- die Komplexe Berliner Zweitstimmen – das wird in den mals nicht auf der Hand liegen konnte, sondern dass Reden nachher sicherlich noch erläutert werden – und gründlich geprüft werden musste und gründlich geprüft Überhangmandate sind Anträge der CDU/CSU aufwurde. Durchführung der mündlichen Verhandlung von den üb- rigen Fraktionen im Ausschuss abgelehnt worden. Die uns heute beschäftigenden streitigen Fälle liegen meiner Auffassung nach eher einfacher. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Zu Recht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben uns dabei auf eine Ausnahmeregelung im Wahlprüfungsgesetz gestützt. Danach kann auf dieOb eine Vorschrift des Bundeswahlgesetzes, wie die mündliche Verhandlung verzichtet werden, wenn derCDU/CSU-Fraktion im Zusammenhang mit der Berliner Einspruch offensichtlich unbegründet ist. Diese Rege- Zweitstimmenproblematik, um die es hier geht, meint, lung ist in der vierten Wahlperiode in das Gesetz aufge- auf die Berücksichtigung dieser Stimmen analog ange- nommen worden, um für die nicht geringe Zahl solcher wendet werden müsste, ist eine Rechtsfrage, die der Einsprüche ein vereinfachtes Verfahren zur Verfügung Wahlprüfungsausschuss entscheiden konnte und ent- zu stellen. In den Materialien zur damaligen Gesetzesän- schieden hat, nachdem man sich mit dem alles auslösen- derung findet sich als Begründung der Satz, es solle ver- den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1988 hindert werden, „dass in rechtlich geklärten Fällen Ein- und den verschiedenen Argumenten dazu befasst hatte. spruchsführer von ihrem Recht Gebrauch machen, vor (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sehr richtig!) dem Ausschuss Ausführungen zu machen, die nicht (B) mehr dazu beitragen können, die Rechtslage weiter zu Dabei war es – so die Auffassung der Mehrheit – auch (D) klären“. nicht notwendig, in der Vorprüfung weitere Erkundigun- gen einzuziehen oder eine mündliche Verhandlung In der fünften Wahlperiode fanden noch mehreredurchzuführen. mündliche Verhandlungen statt. In der siebten wurde schließlich nur noch eine durchgeführt, die insbesondere Im Übrigen bin ich persönlich der Meinung – dies als Sachverhaltsfragen betraf, nämlich mögliche Schein-Anmerkung –, dass für analoge Gesetzesanwendungen wohnsitze von damals nicht wahlberechtigten Berlinern bei der Durchführung von Wahlen schon wegen der vie- im Bundesgebiet. Somit ist seit 1969 von der mündli- len ehrenamtlichen Wahlhelfer kein Raum ist. chen Verhandlung immer abgesehen worden. Man ging (Jörg Tauss [SPD]: So ist es!) stets davon aus, dass durch die Vorprüfung alles Not- wendige aufgeklärt worden sei und dass eine Verhand- Die müssen sich nämlich darauf verlassen können, dass lung, die die Entscheidungüber den Einspruch zudem sie alles richtig machen, wenn sie das Gesetz seinem verzögern würde, sowohl bei Sachverhalts- als auch bei Wortlaut nach anwenden. Rechtsfragen keine weiteren Erkenntnisse ergeben (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des würde. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jerzy FDP) Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jörg Was nun die Überhangmandate angeht – das ist der Tauss [SPD]: Bürokratieabbau!) zweite Streitpunkt –, so habe ich keine Zweifel an der Hierzu ist anzumerken, dass ebenso wie bei Gericht auch offensichtlichen Unbegründetheit diesbezüglicher Ein- die Auslegung des Wahlrechts Sache des Wahlprüfungs- sprüche. Ich spreche insoweit auch als Berichterstatterin. ausschusses ist. Sind Sachverhalte entscheidend, in die Die Überhangmandate sind eine Konsequenz der korrek- der Einspruchsführer selbst involviert ist, erhält er ohne- ten Anwendung des Bundeswahlgesetzes in der derzeit hin Gelegenheit, sich zu den Stellungnahmen der befrag- geltenden Fassung. ten Behörden zu äußern. (Jörg van Essen [FDP]: Trotzdem ist es ein Ar- Natürlich gibt es bei diesen Vorprüfungen auch kom- gument!) plexe Fragen zu klären undzu entscheiden. Dies zeigt Dessen Verfassungsmäßigkeit ziehen wir, der Wahlprü- schon der Umfang mancher Entscheidungen. Das wer- fungsausschuss, grundsätzlich nicht in Zweifel. den Sie feststellen, wenn Sie in unsere Drucksache schauen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 6190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Erika Simm (A) Zur Wahlprüfung gehört es nicht, eine Regelung als ver- wir abgeschlossen haben, im Plenum vorgelegt haben.(C) fassungswidrig zu kassieren. Das kann nur das Bundes- Fazit: Der Deutsche Bundestag kommt seinen Pflichten verfassungsgericht. Diese Aufgabenverteilung entspricht bei der Wahlprüfung verantwortungsvoll nach. der ständigen Praxis des Ausschusses seit der ersten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wahlperiode. Im Hinblick auf Art. 41 des Grundgeset- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zes, in dem die Wahlprüfung geregelt ist, wurde betont, dass der Bundestag die Einhaltung der geltenden Wahl- Bei dieser Gelegenheit möchte ich es als Vorsitzende rechtsvorschriften zu kontrollieren hat. Würde er da-des Wahlprüfungsausschusses nicht versäumen, den rüber hinaus selbst eine Norm für verfassungswidrig er- Kollegen im Ausschuss für die kollegiale Zusammenar- klären, geriete er in einen Widerspruch zu sich selbst, da beit und die mitunter sehr spannenden und interessanten diese Bestimmungen ja ohnehin von ihm als Gesetzge- Diskussionen, die wir führen, herzlich zu danken. Ich ber stammen. möchte mich vor allem bei den Mitarbeitern des Sekreta- riats bedanken, die in der Vorbereitung der Entscheidun- Auch die Befugnis der Gerichte, bei einem für verfas- gen diese große Menge an Einsprüchen abgearbeitet ha- sungswidrig gehaltenen Gesetz das Bundesverfassungs- ben. gericht im Wege der Vorlage anzurufen, ist dem Bundes- tag verwehrt. Nur der Einspruchsführer selbst kann das Herzlichen Dank. Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn er mit unserer Entscheidung nicht einverstanden ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Diese Auffassung ist immer beibehalten worden. Inte- CDU/CSU und der FDP) ressanterweise wurde sie 1995 gerade angesichts von Überhangmandaten bekräftigt. Bei der Wahl 1994 hatte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nämlich die CDU zwölf Überhangmandate errungen, Nächster Redner ist der Kollege Thomas Strobl, (Jörg Tauss [SPD]: Zwölf zu viel!) CDU/CSU-Fraktion. die SPD vier. In der damaligen Beschlussempfehlung des gesamten Ausschusses wird betont, der Wahlprü- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): fungsausschuss habe sich nie verleiten lassen, eine Ver- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- fassungswidrigkeit festzustellen oder Kritik dieser Art gen! 520 Einsprüche hat es gegen das Ergebnis der Bun- öffentlich zu bestätigen. destagswahl vom 22. September 2002 gegeben. Wie Frau Simm gerade erläutert hat, sind 444 dieser Einsprü- (Jörg Tauss [SPD]: Ah, ja!) che in der ersten Beschlussempfehlung, die bereits im (B) (D) Weiter heißt es in der Beschlussempfehlung: Juni im Deutschen Bundestag diskutiert wurde, abgear- beitet. Wir befassen uns nun in einer zweiten Tranche Andernfalls würden diejenigen Wähler ungerecht- mit weiteren 57 Einsprüchen. fertigt und unverhältnismäßig benachteiligt, die auf die Gültigkeit der Regelungen vertraut und ihre Ich finde es gut, dass wir heute eine öffentliche De- Wahlentscheidung danach ausgerichtet haben. batte zu diesem Thema führen, und möchte einleitend sagen, dass es der Verfassungsgesetzgeber gewesen ist, (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Wo der in Art. 41 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes die Über- Sie Recht haben, haben Sie Recht!) prüfung von Wahlrechtseinsprüchen dem Deutschen Das Bundesverfassungsgericht kennt diese Praxis und Bundestag zugewiesen hat, der aufgrund der vorliegen- hat sie nie beanstandet. den Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsaus- schusses des Deutschen Bundestages entscheidet. Denk- Ich darf abschließend eine Bemerkung zumZeitbedarf bar wären auch andere Konstruktionen gewesen. Diese des Ausschusses machen. Ich höre immer wieder denKonstruktion aber verpflichtet den Deutschen Bundes- Vorwurf, wir würden Dinge zögerlich behandeln. tag, namentlich den Wahlprüfungsausschuss, zu einer (Jörg Tauss [SPD]: Das ist unglaublich!) besonders sorgfältigen Prüfung und Beratung aller ein- gegangenen Wahlrechtseinsprüche. Darin sind wir mit Die umfangreiche Drucksache zeigt: Wir machen unsFrau Simm sicherlich einig. die Arbeit nicht einfach. Das ist wichtig und richtig so. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des Deut- (Beifall bei der SPD) schen Bundestages durch ein anderes Verfassungsorgan, nämlich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, über- Allen oft spezifischen und detaillierten Einwendungen prüft werden können. Mit dem heutigen Tag, dem 6. No- wird nachgegangen. Das kostet Zeit, zumal die Mitglie- vember 2003, beginnt die Zweimonatsfrist, innerhalb der der des Ausschusses im Bundestag und in den Fraktio- Einsprechende eine Überprüfung durch das Bundesver- nen noch andere Aufgaben zu erledigen haben. fassungsgericht beantragen können. Recht schnell – das (Jörg Tauss [SPD]: Ja, bessere!) wage ich zu prognostizieren – wird in Karlsruhe Bürger- post von denjenigen eingehen, die in Berlin abgewiesen Für jedes unserer Mitglieder ist dies ein zusätzlicher wurden. Ich bin ganz sicher: So einfach, wie es sich die Ausschuss. Mehrheit im Wahlprüfungsausschuss mit den Einsprü- Ich möchte daran erinnern, dass wir bereits im Juni chen gemacht hat, die die konkrete Materie der Berliner eine erste Drucksache zu immerhin 444 Einsprüchen, die Zweitstimmen und der Überhangmandate betreffen, in- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6191

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) dem sie diese als offensichtlich unbegründet abgewiesen Wie kann man sagen, die Einsprüche seien offensicht- (C) hat, wird man es sich in Karlsruhe nicht machen. lich unbegründet, vor dem Hintergrund, dass bereits im Bundeswahlausschuss die fachkundigen Mitglieder die (Jörg van Essen [FDP]: Wir haben es uns nicht Behandlung der Wahleinsprüche höchst streitig disku- einfach gemacht!) tierten? Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass Worum geht es in der Sache? Die Bürger, die Ein-sich diese streitigen Diskussionen im Wahlprüfungsaus- spruch eingelegt haben, wenden sich mit juristisch be- schuss fortsetzten, wie man in der vorliegenden Bundes- achtlichen Argumenten gegen diejenigen Zweitstimmen, tagsdrucksache nachlesen kann. die in den beiden Berliner PDS-Wahkreisen zugunsten der SPD abgegeben worden sind. Nach juristisch nach- Wie kann man sagen, die Einsprüche seien offensicht- vollziehbarer Begründung der einspruchführenden Bür- lich unbegründet, wenn sich die Einsprechenden auf ein gerinnen und Bürger verstößt die Anerkennung dieser Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr Zweitstimmen zugunsten der SPD gegen den Grundsatz 1988 berufen, das unstreitig eine Lücke im Bundeswahl- der Wahlrechtsgleichheit, weil der Erfolgswert bei der gesetz exakt für den hier vorliegenden Fall festgestellt Zählung der Zweitstimmen höher sei. hat? Warum also „offensichtlich unbegründet“? Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grund- Die Mehrheit des Ausschusses wollte unter gar kei- satz der Wahlrechtsgleichheit ist sicherlich ein elementa- nen Umständen eine mündliche Verhandlung durch- rer Verstoß gegen demokratische Wahlrechtsprinzipien. führen. Warum eigentlich nicht? Auch gegen eine Anhö- Dass hier ein solcher Verstoß vorliegt, behaupten übri- rung der Sachverständigen sträubte man sich mit Händen gens nicht nur die einsprechenden Bürger; auch dieund Füßen. Warum eigentlich? Mehrheit der Wahlrechtsexperten sieht aufgrund der (Jörg van Essen [FDP]: Sie scheinen bei der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem ersten Rede nicht zugehört zu haben, sonst Thema den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahl- wüssten Sie die Antwort!) rechtsgleichheit verletzt. Gerade in der jüngeren verfas- sungsrechtlichen Literatur, die sich vor dem Hintergrund § 6 Abs. 1 des Wahlprüfungsgesetzes sieht eine öffentli- des vorliegenden Falls mit dieser Rechtsmaterie beschäf- che mündliche Verhandlung zwingend vor. Wovor hatte tigt, vertritt die ganz überwiegende Mehrheit der Wis- man eigentlich Angst? Vor den Einsprechenden, die senschaftler exakt die Position der einsprechenden Bür- dann ihre Argumente dem Wahlprüfungsausschuss hät- ger. ten vortragen können und nicht zuletzt vielleicht mit (Beifall bei der CDU/CSU) dem Gefühl nach Hause gegangen wären, dass der Deut- sche Bundestag ihre seriös begründeten Einsprüche auch (B) Die Wissenschaft stützt also die Einsprüche der Bürge- seriös behandelt und sie seriös und sorgfältig anhört?(D) rinnen und Bürger. Insofern, verehrte Frau Kollegin Oder hatte man vor den Wissenschaftlern und deren Ar- Simm, möchte ich zumindest Zweifel anmelden, ob man gumenten Angst, die man als Sachverständige durchaus vor diesem Hintergrund, so wie Sie es eben getan haben, hätte anhören können, von rechtlich einwandfrei geklärten Fällen sprechen darf. Ich denke, jedenfalls für diese Fälle geht das nicht (Zurufe von der SPD: Oh! – Erika Simm in Ordnung. [SPD]: Wir haben alles gelesen!) Diese Einsprüche der Bürger als offensichtlich unbe- die allerdings überwiegend den einsprechenden Bürgern gründet abzuweisen, so wie es die Mehrheit im Wahlprü- Recht gegeben hätten? Oder hatte man gar Angst vor der fungsausschuss gemacht hat, ist, finde ich, ein starkes Öffentlichkeit, weshalb man lieber im stillen Kämmer- Stück und in der Sache nicht nachvollziehbar. lein die Entscheidung getroffen hat? Oder gab es einen anderen Grund, etwa den, dass nach den Feststellungen (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim des Bundeswahlleiters etwa 16 000 Wähler der PDS-Di- Hacker [SPD]: Na, na! Nicht so hoch! Bleiben rektkandidatinnen ihre Zweitstimme der SPD gegeben Sie auf dem Teppich!) haben, Ich habe daher Verständnis dafür, wenn sich die Bürge- (Erika Simm [SPD]: Das ist eine Schätzung!) rinnen und Bürger, die sorgfältig begründete Einsprüche eingelegt haben, diese Entscheidung des Wahlprüfungs- bei der Bundestagswahl jedoch die SPD nur mit ausschusses nicht erklären können. 6 000 Stimmen Vorsprung die stärkste Partei geworden (Beifall bei der CDU/CSU) ist? Hätten die einsprechenden Bürger Recht, verehrte Frau Kollegin Simm, dann hätte nicht die SPD einen Wie kann man sagen, die Einsprüche der Bürgerinnen Vorsprung von 6 000 Stimmen, sondern die Union läge und Bürger seien deshalb offensichtlich unbegründet,mit einem Vorsprung von ungefähr 10 000 Stimmen vor weil denknotwendig gar keine andere Entscheidung er- der SPD. gehen könne, wenn die große Mehrheit der Experten in wissenschaftlichen Publikationen zu dieser Frage exakt (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ach! Deswegen die Position der Einsprechenden vertritt? Ich finde, die- macht ihr das!) ses kann man nicht verantworten. Ist das etwa der Grund, warum man so verfahren ist? (Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Friedrich Ich hoffe insbesondere im Interesse der einsprechenden [Hof] [CDU/CSU]) Bürger, dass dies nicht der Fall gewesen ist. 6192 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) (Joachim Stünker [SPD]: Das hätten Sie doch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) gleich sagen können!) Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd- nis 90/Die Grünen. Hinzu kommt, dass beide Sachverhalte zusammenge- nommen – die Berliner Zweitstimmen und die Über- hangmandate – eine andereMandatsverteilung im Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deutschen Bundestag ergeben hätten. Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Wir denken, dass das Absehen von einer mündlichen (Jörg van Essen [FDP]: „Frau Präsidentin“!) Verhandlung ein klarer Formfehler gewesen ist. Die– „Frau Präsidentin“! Danke schön für diese Hilfe, Herr mündliche Verhandlung ist die Regel. Demgegenüber ist Kollege van Essen. das Absehen von einer mündlichen Verhandlung die Ausnahme. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Der Kollege van Essen ist immer so!) (Jörg van Essen [FDP]: In der siebten Wahlpe- riode gab es zum letzten Mal eine mündliche Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen Verhandlung!) und Kollegen! Die Korrektheit und Rechtmäßigkeit ei- ner demokratischen Wahl sind die Hauptgründe ihrer In- Es ist vielleicht gerade noch vertretbar, dass die Aus-tegrität und sind daher für die Akzeptanz demokratischer nahme inzwischen zur Regel geworden ist. Dass Sie die Wahlen von ausschlaggebender Bedeutung. Deswegen Regel aber auch nicht mehr als Ausnahme zulassen wol- ist die Arbeit des Wahlprüfungsausschusses, die in len, ist für uns nicht akzeptabel. Art. 41 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, ein kon- kreter und wichtiger Beitrag zur Integrität und Akzep- Ich möchte zum Schluss noch zwei Punkte anspre- tanz der demokratischen Wahlen in unserem Land. chen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1988 dem Bundesgesetzgeber aufgegeben, eine Lücke im Wir haben uns mit allen Einsprüchen der Bürgerinnen Wahlrecht zu schließen. und Bürger ausführlich und intensiv beschäftigt. Mit Ausnahme weniger Fälle, die Herr Kollege Strobl schon (Erika Simm [SPD]: Nein! Es ist nicht aufge- angesprochen hat, haben wir uns auch zu einer einheitli- geben worden! – Jörg van Essen [FDP]: Nein! chen Meinung durchringen können. Es hat es ihm ins Ermessen gestellt!) Ich will meiner Rede den Dank an die Kolleginnen Wir sollten uns zumindest im Innenausschuss des Deut- und Kollegen – insbesondere an die Vorsitzende, Frau schen Bundestages einmal mit diesem Thema beschäfti- Kollegin Erika Simm – und an das Sekretariat des Aus- (B) gen. Denn der Auftrag, sich mit diesem Thema zu be- schusses, das für uns alle unentbehrliche Vorarbeiten ge- (D) schäftigen, ist uns eindeutig erteilt worden, Herr Kollege leistet hat, voranstellen. van Essen. (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Es war kein Auftrag, Herr Kollege Ich will – das steht im Mittelpunkt des politischen In- Strobl!) teresses – zu den Berliner Zweitstimmen Stellung neh- men. In der Sache – das wurde am Ende der Rede des Ich kann bisher nicht erkennen, dass der Bundestag – mit Kollegen Strobl auch deutlich – geht es der Opposition welcher Entscheidung auch immer – diesem Auftrag in bei der Behandlung dieses Themas um den Sachverhalt, den zuständigen Gremien nachgekommen ist. Das soll- dass die Wählerinnen und Wähler, die in Berlin mit Er- ten wir aber tun. folg die Kolleginnen der PDS als Direktkandidatinnen gewählt haben, mit ihren Zweitstimmen in der überwie- (Jörg van Essen [FDP]: Das sollten wir tat- genden Mehrheit die SPD, sächlich machen! Guter Vorschlag!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Das würden sie heute Als zweiten Punkt möchte ich abschließend die auch nicht mehr tun!) 520 Einsprüche erwähnen, die wir zum größten Teil ab- gearbeitet haben. Dabei haben wir nur in wenigen Punk- mit einigem Gewicht das Bündnis 90/Die Grünen und ten unterschiedliche Auffassungen vertreten. Es sind nur vereinzelt die CDU/CSU und die FDP gewählt haben. noch 19 Fälle offen. Wir waren nicht in allen Punkten ei- (Zuruf von der SPD: Aha!) ner Meinung. Ich möchte mich aber ausdrücklich dem Dank der Frau Vorsitzenden Simm für die sachlichenNun möchten die Einspruchstellerinnen und Einspruch- Beratungen mit den Kolleginnen und Kollegen, insbe- steller, dass diese Zweitstimmen nachträglich nicht be- sondere aber auch dem Dank an die Mitarbeiterinnenrücksichtigt werden. Dies könnte man von den ehren- und Mitarbeiter des Sekretariats des Wahlprüfungsaus- amtlichen Helferinnen und Helfern, die ausgezählt schusses für ihre sehr engagierte und sachkundige Vorar- haben, sowie in letzter Konsequenz auch vom Bundes- beit und Begleitung unserer Beratungen anschließen. wahlleiter verlangen, wenn dies gesetzlich geregelt wäre. Nach der Verfassung und den entsprechenden Ge- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) setzen sind aber die Stimmen, die ordnungsgemäß abge- Besten Dank. geben sind, auch zu berücksichtigen, also zu zählen. Dies ist die Regel. Die Ausnahme ist, dass sie nicht be- (Beifall bei der CDU/CSU) rücksichtigt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6193

Jerzy Montag (A) Herr Kollege Strobl, der Gesetzgeber hat die aus- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) nahmsweise Nichtberücksichtigung korrekt abgege- Ich werde sie selbstverständlich zulassen. bener Stimmen in § 6 Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz (Joachim Stünker [SPD]: Oh nein! Die Rede für folgende zwei Fälle geregelt: Die Zweitstimmen, die von dem war schon so schlecht!) für einen Direktkandidaten abgegeben werden, der in seinem Wahlkreis erfolgreich ist und der nach § 20– Er kann sich ja bessern. Abs. 3 Bundeswahlgesetz entweder von 200 Bürgerin- nen und Bürgern oder von einer Partei nominiert wurde, Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): die auf der entsprechenden Landesliste nicht vorkommt, Herr Kollege Montag, das, was Sie juristisch vertre- sind nicht zu zählen. Die beiden Kolleginnen der PDS ten, halte ich jedenfalls für vertretbar und für nicht of- sind aber Mitglieder einerPartei, die auf der Berliner fensichtlich unbegründet. Landesliste nicht gestrichen war. Man konnte die PDS also wählen. Die Kolleginnen sind auch nicht durch die Unterschriften von 200 Wählerinnen und Wählern aus Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ihrem Wahlkreis nominiert worden. Mit anderen Worten: Danke. Es gibt überhaupt keine gesetzliche Norm, die es zwin- gend erforderlich machte, dass die ehrenamtlichen Hel- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): ferinnen und Helfer oder der Bundeswahlleiter dieHier unterscheiden wir uns eben. Zweitstimmen, die für diese Kolleginnen abgegeben Ich möchte Sie aber fragen: Sind Sie mit mir einer wurden, für nicht berücksichtigungsfähig erklären. Des- Meinung, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr wegen ist es absolut klar, dass der Einspruch, diese Stim- 1988 ausdrücklich eine Lücke im Bundeswahlgesetz men hätte man nicht zählen dürfen, in unserem Wahlprü- festgestellt hat, die den jetzt eingetretenen Fall betrifft? fungsverfahren keinen Erfolg haben kann. DieserWenn es eine Gesetzeslücke gibt, dann ist es zumindest Einspruch ist offensichtlich unbegründet, weil es keine vertretbar, an eine Analogie zu denken. Sie lehnen die entsprechende gesetzliche Regelung gibt. Analogie ab. Die Mehrheit der Wissenschaftler, insbe- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: sondere die Mehrheit derjenigen, die sich in der jüngeren Analoge Anwendung!) wissenschaftlichen Literatur mit diesem Fall beschäftigt haben, ist anderer Auffassung als Sie. – Herr Kollege Friedrich, die analoge Anwendung einer Bei allem Respekt vor Ihrer Auffassung: Wir kritisie- Vorschrift auf Fälle, die nicht geregelt sind, ist aus zwei ren vor allem, dass Sie sagen: Die Einsprüche sind of- Gründen nicht möglich, und zwar ersten aus dem Grund (B) fensichtlich unbegründet, weil man unter juristischen(D) der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit. Gesichtspunkten überhaupt nicht zu einem anderen Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gebnis kommen kann, mit der Folge, dass mündliche und der SPD sowie bei Abgeordneten der Verhandlung, Sachverständigenanhörung usw. abgelehnt FDP) werden. Wie wollen Sie vor dem Hintergrund der wissen- Wenn ein Bürger einem Direktkandidaten seine Zweit- schaftlichen Literatur erklären, dass Ihre juristische Auf- stimme gibt, der nicht von einer Partei vorgeschlagen ist, fassung die einzig richtige ist, dass nicht auch eine an- die auf der Landesebene zugelassen ist, dann weiß er,dere richtige Auffassung denkbar ist, die möglicherweise dass seine Zweitstimme nicht zählen wird. letztlich sogar vom Bundesverfassungsgericht geteilt wird? Zweitens. Der Vorschlag der analogen Anwendung würde dazu führen, dass die Zweitstimmen der Wähler, die die Damen der PDS gewählt haben, zählen würden, Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wenn die PDS die Fünfprozenthürde überschritten hätte, Herr Kollege Strobl, ich danke Ihnen für diese Frage. bzw. dass sie nicht zählen würden, wenn diese HürdeSie haben zwar kein neues Argument gebracht, aber die nicht gemeistert worden wäre. Damit hätte man keine Frage bietet mir die Möglichkeit, mich über meine ei- Rechtssicherheit und keine Rechtsklarheit gewonnen. gentliche Redezeit hinaus zu diesem Problem noch zu Die betreffenden Wähler wüssten bei der Stimmabgabe äußern. nicht, was mit ihren Zweitstimmen geschehen wird. Herr Kollege Strobl, in der Literatur werden auf der Diese Argumentation verbietet also eine analoge An-Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts wendung. divergierende Angebote dazu gemacht, wie die Lücke, die das Bundesverfassungsgericht beschrieben hat, zu Vielen Dank. schließen ist. Nach unserer Auffassung ist sie auf jeden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fall nicht dadurch zu schließen, dass den ehrenamtlichen und bei der SPD) Wahlhelfern oder dem Bundeswahlleiter aufgegeben wird, in analoger Anwendung

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Erika Simm [SPD]: Im Nachhinein!) Herr Kollege, gestatten Sie am Schluss Ihrer Redezeit – im Nachhinein – Stimmen, die zulässigerweise abge- noch eine Zwischenfrage des Kollegen Strobl? geben worden sind, nicht zu berücksichtigen. 6194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Jerzy Montag (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Jetzt (C) und bei der SPD) bin ich gespannt!) Eine solche Analogie ist gerade imWahlrecht, in dem Erstens. Sie wenden sich gegen dieÜberhangman- der Grundsatz gilt, dass jeder, der eine gültige Stimme date und die Regelung, die wir dazu getroffen haben. abgibt, ein Recht darauf hat, dass sie gezählt wird, abso- Die Überhangmandate sind etwas Unerfreuliches. Die lut unzulässig. Überhangmandate haben das Bundesverfassungsgericht Es mag ja sein – ich glaube es nicht –, dass das Bun- regelmäßig beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht desverfassungsgericht diesen Punkt bei einer Prüfung, hat deutlich gemacht, dass die Überhangmandate, so un- erfreulich sie sind, zulässig sind. wenn sich diejenigen, e di Einspruch erhoben haben, nämlich dahin wenden, alsverfassungswidrig ansieht. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Mit Wenn es so entscheidet, dann werden wir aufgefordert ganz knapper Mehrheit!) sein, das Gesetz zu ändern. Wir sind es bisher nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat hier etwas zu erwägen ge- – Ob es knappe Entscheidungen waren, ist wurscht. Das geben. Der Bundestag hat in jahrelanger Praxis gezeigt, Bundesverfassungsgericht hat rechtskräftig entschieden. dass er keinen Änderungsbedarf sieht. Es hat uns zur Auflage gemacht, den Zuschnitt der Das Rechtsproblem ist also nicht offensichtlich in un- Wahlkreise so vorzunehmen, dass Überhangmandate sinniger Weise diskutiert worden. Die Einsprüche, die nach Möglichkeit nicht entstehen. Genau dieser Ver- im vorliegenden Verfahren der Wahlprüfung erhobenpflichtung sind wir nachgekommen. Wir haben an den worden sind, sind offensichtlich unbegründet. Zahlen sehen können, dass das Ganze erfolgreich war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Während es vorher 16 Überhangmandate gab, hatten wir und bei der SPD) bei der letzten Wahl fünf; das ist eine erhebliche Redu- zierung. Weil die FDP am wenigsten davon profitiert, Wir sind uns darüber nicht einig. Das müssen wir aushal- wäre es mir lieber, wenn sie noch stärker reduziert wer- ten. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit den könnten. Trotzdem: Wir sind eine Rechtsstaatspartei im Wahlprüfungsausschuss in der Sache Recht gehabt und erkennen deshalb diese Möglichkeit an. Das ist hat. Punkt eins. Ich danke Ihnen. Punkt zwei: Berliner Zweitstimmen. Ihr Redebei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trag hat deutlich gemacht, warum Sie daran so interes- und bei der SPD) siert sind. Sie gehen davon aus, dass dann bestimmte (B) Stimmen für die SPD nicht gezählt worden wären und(D) Sie als CDU die stärkste Fraktion gestellt hätten, mögli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: cherweise mit Auswirkungen bis hin zur Wahl des Bun- Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, SPD- destagspräsidenten. Von daher haben Sie ein legitimes Fraktion. – Entschuldigung; FDP-Fraktion. Interesse daran. Wir als Bundestag insgesamt haben eine ebenso legi- (FDP): Jörg van Essen time Verpflichtung, das Wahlrecht strikt anzuwenden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lege schon großen Wert darauf, dass ich Mitglied der (Beifall bei Abgeordneten der FDP) FDP-Fraktion bin. Sie haben immer wieder auf eine Entscheidung des (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Bundesverfassungsgerichts hingewiesen; es hat sich Wir behandeln ein Thema, das für die Zuhörer auf der tatsächlich mit der Frage befasst: Wie steht es um die Tribüne sicherlich besonders schwer zu verstehen ist.Zählbarkeit von Zweitstimmen, wenn die Kandidaten Wir steigen richtig tief in die Juristerei ein. Deswegen – wie hier die Kandidatinnen der PDS – erfolgreich ge- will ich mit etwas beginnen, was auch andere schon ge- wählt worden sind, mit der Zweitstimme aber eine an- tan haben, nämlich der Vorsitzenden, aber auch den Mit- dere Partei gewählt worden ist, beispielsweise die SPD? arbeitern und den Kollegen im Wahlprüfungsausschuss In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungs- ganz herzlich für die Zusammenarbeit danken. gericht uns nicht aufgegeben, sondern uns zu erwägen gegeben, diese Frage zu klären. (Beifall im ganzen Hause) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ich widerspreche dem Kollegen Strobl, der hier den Haben wir es getan?) Eindruck erweckt hat, dass wir leichtsinnig, ohne wirk- lich ernsthafte Überlegungen Entscheidungen getroffen – Wir haben es nicht getan. Deswegen habe ich bei Ih- haben. Das ist nicht der Fall gewesen. Sie haben für die rem Redebeitrag als Zwischenruf gesagt, wir sollten uns CDU/CSU als einer der Oppositionsfraktionen gespro- mit dieser Frage befassen. Das ist richtig. Aber wir ha- chen. Die FDP als zweite Oppositionsfraktion wird – Sie ben ein Ermessen, ob wir uns damit befassen oder nicht. werden es erleben – der Meinung der Koalitionsfraktio- Wir haben es bisher nicht getan, wir haben diese Frage nen zustimmen, und zwar, wie ich finde, aus nachvoll- bisher nicht geregelt. Das bedeutet, dass wir das geltende ziehbaren Gründen. Wahlrecht anwenden müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6195

Jörg van Essen (A) Ich denke, wir sind hier in einer ähnlichen Verpflich- Kämmerlein. Gerade bei der Problematik der Berliner(C) tung wie im Strafrecht. Analogie kann es meiner Mei- Zweitstimmen haben wir es uns nicht einfach gemacht. nung nach im Wahlrecht nicht geben. Sie stand mehrfach auf der Tagesordnung; die Berichter- statter haben sich sehr intensiv in die Materie eingear- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem beitet und sich insbesondere mit der Frage auseinander BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gesetzt, ob denn wirklich ein Auftrag des Bundesverfas- Gerade das Wahlrecht lebt davon, dass es strikt ange-sungsgerichts vorliegt, den wir umzusetzen haben. wandt wird; nur dann ist es neutral. Analogie ist immer Es ist kein Auftrag. Das Bundesverfassungsgericht zugunsten oder zulasten von irgendjemandem. Gerade deshalb bin ich für Klarheit und Wahrheit des Wahl-hat gemeint – Herr van Essen und Herr Montag haben es rechts. Ich schließe nichtaus, dass das Bundesverfas- schon vorgetragen –, wir könnten es erwägen. Wir haben sungsgericht, weil es dies schon einmal zu erwägen ge- es nicht erwogen. Das soll aber auch das letzte Wort zu geben hat, in diese Richtung denken wird; aber dasdieser Thematik sein. Sie vertreten hier eine Minderhei- wissen wir nicht. Wir dürfen auch nicht spekulieren und tenmeinung. Das ist Ihr gutes Recht. Die Mehrheit hat nicht vor allem deshalb zu einer Analogie kommen, weil nach gründlicher Prüfung aber eine andere Entscheidung es bestimmte Stimmen in der Literatur gibt. Das hatgetroffen, eine Entscheidung, die meines Erachtens in mich sehr gewundert. Ich komme aus der Justiz. Da gibt Ordnung ist. es etliche Fälle, in Bezug auf die es in der Literatur eine Ich möchte in der kurzen Redezeit, die mir zur Verfü- herrschende Meinung gibt, in denen wir in der Justizgung steht, ein paar grundsätzliche Gedanken über die aber aus guten Gründen anders entscheiden. Wahlprüfung und über die Aufgaben desWahlprü- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ja, fungsausschusses äußern, weil nicht nur die Besucher, sicher! Aber nicht als offensichtlich unbegrün- die uns heute im Deutschen Bundestag die Ehre geben, det!) sondern auch die interessierte deutsche Öffentlichkeit ein bisschen mehr darüber wissen sollten, was der Wahl- Deshalb kann es, wenn wir im Wahlprüfungsausschuss prüfungsausschuss tut. des Bundestages zu entscheiden haben, nicht anders sein. Wir haben diese Stimmen natürlich ernst zu neh- Jeder wahlberechtigte Bürger in Deutschland kann die men, wir haben uns aber auch an die Grundregeln zu hal- Wahlvorbereitung, die Wahldurchführung und die Stim- ten. Zu ihnen gehört: Analogie findet nicht statt. menauszählung auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen las- Da das für mich so klar ist, bedurfte es auch keiner öf- sen. Zu Beginn jeder Legislaturperiode wird erfahrungs- fentlichen Verhandlung. Sie hätte diese Klarheit nurgemäß eine Vielzahl von Wahleinsprüchen eingelegt. zusätzlich bestärkt. Deshalb stimmen wir als FDP-Bun- Die Zahl ist hier schon genannt worden. Die Überprü- (B) destagsfraktion den Beschlussvorschlägen des Wahlprü- fung der Wahlen zum Deutschen Bundestag ist verfas-(D) fungsausschusses zu. sungsrechtlich abgesichert. In Art. 41 des Grundgesetzes wird diese Aufgabe dem Parlament übertragen. Die Ent- Vielen Dank. scheidung des Bundestages wird durch den Wahlprü- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem fungsausschuss, dessen Mitglieder direkt vom Parlament BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gewählt werden, vorbereitet. Die Wahleinsprüche wer- den vom Wahlprüfungsausschuss überprüft und dem Plenum in Beschlussempfehlungen zur Entscheidung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vorgelegt. Das ist heute hier der Fall. Gegen Entschei- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachimdungen des Bundestages kann das Bundesverfassungs- Hacker, SPD-Fraktion. gericht angerufen werden.

Hans-Joachim Hacker (SPD): Ziel der Wahlprüfung ist es, die ordnungsgemäße Zu- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sammensetzung des Deutschen Bundestages zu gewähr- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Montag leisten. Ein Wahleinspruch mit der Folge, dass eine Aus- hat hier heute ein überzeugendes juristisches Seminar zählung oder die Wahl ganz oder teilweise erneut abgehalten. stattfinden muss, ist deshalb nur begründet, wenn ein Fehler festgestellt worden ist und – das ist entschei- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das dend – wenn dieser festgestellte Fehler Einfluss auf die hat sogar ein Nichtjurist verstanden!) Verteilung der Mandate hat oder haben könnte. Das Herr Strobl, zu Ihren Vorwürfen, wir würden im Wahl- Wahlprüfungsverfahren selbst – insbesondere die Praxis, prüfungsausschuss ernsthafte Wahleinsprüche im stillen in Fällen offensichtlicher Unbegründetheit eines Ein- Kämmerlein behandeln und hätten den Auftrag des Bun- spruchs von einer öffentlichen mündlichen Verhandlung desverfassungsgerichts, das Bundeswahlgesetz zu ergän- abzusehen – hat die Vorsitzende des Wahlprüfungsaus- zen, nicht beachtet: Beides ist falsch. Ich will mich in bei- schusses bereits erläutert. den Punkten gegen diese Darstellung verwahren. Es wäre sicherlich interessant, wenn man im Rahmen Wir haben nicht nur im Fall der Berliner Zweitstim- dieser Debatte einzelne Wahleinsprüche und die Ergeb- men, sondern in allen Fällen Wahleinsprüche ernsthaft nisse ihrer Überprüfung darstellte. Dafür ist hier leider und gründlich beraten, zunächst in der Hauptverantwor- keine Zeit. Ich möchte auf ein Problem eingehen, mit tung der Berichterstatter, aber dann auch ausführlich im dem wir uns – neben der Frage der Berliner Zweitstim- Ausschuss. Das waren keine Veranstaltungen im stillen men – beschäftigt haben. Es geht um die Frage, ob es in 6196 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Hans-Joachim Hacker (A) Ordnung ist, dass das Bundespresseamt mit einer Zei- Das steht nach meiner Auffassung auf einem ganz ande- (C) tungsbeilage einen Monat vor der Bundestagswahl in der ren Blatt. Die Bundesregierung hat für den Inhalt eines Öffentlichkeit eine Position zum Zuwanderungsgesetz Gesetzes geworben, das das Hohe Haus beraten und mit vertrat, die zum großen Teil mit der Position der Koali- Mehrheit verabschiedet hat. Dass ein solches Gesetz tion identisch war. dringend notwendig ist, haben in Deutschland – da werde ich jetzt sehr politisch – eine große Mehrheit un- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ein serer Bevölkerung, Verbände, Kirchen und andere Insti- äußerst unerfreulicher Vorgang!) tutionen bestätigt. Herr Strobl, auch hierbei waren Ihre Argumente nicht (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: überzeugend; wir haben uns damit intensiv auseinander Deshalb setzen Sie das jetzt in Kraft?) gesetzt. Diese Wahleinsprüche waren ebenfalls offen- sichtlich unbegründet; denn das Bundesverfassungsge- Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung, und zwar richt hat – das gilt auch für diesen Fall – im Jahr 2001 nicht zum ersten Mal im August 2002, sondern bereits klargestellt, dass staatliche Wahlbeeinflussung nur dann im Frühjahr 2002, die deutsche Öffentlichkeit über den vorliegt, wenn staatliche Stellen im Vorfeld einer Wahl Inhalt dieses Gesetzes und über die mit diesem Gesetz in mehr als nur unerheblichem Maße parteiübergreifend verbundenen Chancen insbesondere für die Integration auf die Bildung des Wählerwillens einwirken. ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger informiert (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: hat. Das war, wie ich denke, eine wichtige Information. Zwischen „nicht überzeugend“ und „offen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sichtlich unbegründet“ ist ein großer Unter- schied!) Sie hatten alle Gelegenheit, sich im Wahlkampf mit diesem Thema auseinander zu setzen. Ich gehe davon Dies war im konkreten Fall dieser Zeitungsbeilageaus, Sie haben diese Chance auch genutzt und dieses nicht so. Es war Ihr freies Recht, sich im Wahlkampf mit Thema und ähnliche Themen auf Wahlveranstaltungen dieser Thematik auseinander zu setzen. Sie haben dieses in bekannter Weise problematisiert. Thema im Übrigen in bekannter Weise problematisiert. Ich will unterstreichen: Die Entscheidung, die wir zu (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: diesem Wahleinspruch getroffen haben, ist richtig und Verfassungsbruch!) rechtlich zu vertreten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Re- dezeit ist, wie ich gerade sehe, fast zu Ende. Trotz all der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Spannungen, die sich an dem Thema der Berliner Zweit- (B) Herr Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischen- stimmen entzündet haben, möchte ich nicht vergessen,(D) frage des Kollegen von Klaeden? dass den Mitgliedern des Ausschusses Dank gebührt. Ich bedanke mich bei der Vorsitzenden für die Führung der Hans-Joachim Hacker (SPD): Beratungen und beim Ausschusssekretariat. Wir haben Ja, bitte. eine Vielzahl von Wahleinsprüchen behandelt, wobei wir in einer sehr qualifizierten Weise durch die Mitarbeiter unterstützt wurden. Dafür meinen herzlichen Dank. Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Herr Kollege Hacker, ich hätte diesen Vorgang nicht Ich wünsche mir, dass die Arbeit im Wahlprüfungs- angesprochen, wenn Sie ihn nicht verursacht hätten. Hal- ausschuss hinsichtlich der noch offenen Wahleinsprüche ten Sie es für politisch richtig, dass die Bundesregierung in einer guten kameradschaftlichen Art und Weise wei- so kurz vor der Bundestagswahl für ein Gesetz geworben tergeführt wird und sie nicht von Polemik dominiert hat, das offensichtlich unter Bruch der Verfassung zu- wird, Herr Strobl. stande gekommen ist und deswegen auch vom Bundes- Vielen Dank. verfassungsgericht für nichtig erklärt worden ist? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hans-Joachim Hacker (SPD): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Herr Kollege von Klaeden, Sie stellen den Sachver- FDP) halt nicht richtig dar. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Doch!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Mit dem Gesetz selbst hat der Verfassungsbruch nichts Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion. zu tun. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wie Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): bitte? – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Zustandekommen sicherlich!) Herren! Ich denke, die letzten Redebeiträge haben ein bisschen das verschüttet, was für uns von der CDU/ Es ging darum, wie das Gesetz im Bundesrat behandelt CSU-Fraktion in diesem Verfahren die Beschwer dar- worden ist. stellt. Es geht uns nicht darum, im Ausschuss oder hier (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ver- vehement und einseitig für irgendeine rechtliche Beur- fassungswidrig!) teilung zu plädieren. Wir haben vielmehr darauf hinge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6197

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) wiesen, dass es nicht sein kann, dass in einer außeror- Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Die (C) dentlich komplizierten, schwierigen und umstrittenenEinspruchsführer haben darauf hingewiesen, dass es sich Rechtsmaterie dem Prinzip des Wahlprüfungsgesetzes, bei dieser Aktion um einen Verstoß der Bundesregierung das besagt, dass bei jedem Einspruch eine mündlichegegen ihre Neutralitätspflicht im Vorfeld einer Bundes- Verhandlung einzuberufen ist, keine Gültigkeit mehrtagswahl und damit gegen denGrundsatz der Chan- eingeräumt wird. Es ist doch klar, dass angesichts einer cengleichheit handeln könnte. solch umstrittenen Situation der Einspruch nicht als „of- fensichtlich unbegründet“ qualifiziert werden kann. Von Ihnen, Herr Hacker, ist schon die Rechtspre- chung des Bundesverfassungsgerichtes zitiert worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Aufgabe des Wahlprüfungsausschusses muss es na- türlich sein, den Einspruch im Lichte der schon gelten- Wir haben noch ein Weiteres gemacht, was nicht gut den Verfassungsrechtsprechung zu prüfen. Es gibt eine ist: Indem der Wahlprüfungsausschuss den Einspruchs- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem führern bescheidet, dass ihr Einspruch offensichtlich un- Jahre 1977, aus der ich einige Leitsätze vorlesen möchte: begründet ist, zwingen wir sie, da sie wissen, dass der Sachverhalt in der Literatur und in der Rechtssprechung Das Recht der politischen Parteien auf Chancen- umstritten ist, dazu, zum Bundesverfassungsgericht zu gleichheit wird verletzt, wenn Staatsorgane als sol- gehen. che parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer (Jörg van Essen [FDP]: Niemand zwingt sie! politischen Partei in den Wahlkampf einwirken. Ein Das ist ihre souveräne eigene Entscheidung! – parteiergreifendes Einwirken von Staatsorganen in Zurufe von der SPD) die Wahlen zur Volksvertretung ist auch nicht zuläs- sig in der Form von Öffentlichkeitsarbeit. Die Öf- Für mich ist die entscheidende Frage: Ist es richtig, dass fentlichkeitsarbeit der Regierung findet dort ihre wir als Bundestag eine Aufgabe, die wir zugewiesen be- Grenzen, wo die Wahlwerbung beginnt … Aus der kommen haben, nicht nachkommen, sondern sie so be- Verpflichtung der Bundesregierung, sich jeder par- handeln, dass auf Anruf der Einspruchsführer das Bun- teiergreifenden Einwirkung auf die Wahl zu enthal- desverfassungsgericht dazu gezwungen ist, die Arbeit zu ten, folgt schließlich für die Vorwahlzeit das Gebot erledigen, die wir eigentlich erledigen müssten? äußerster Zurückhaltung und das Verbot jeglicher mit Haushaltsmitteln betriebener Öffentlichkeitsar- (Zuruf der Abg. Erika Simm [SPD]) beit in Form von so genannten Arbeits-, Leistungs- Wir haben hierbei, liebe au Fr Vorsitzende, auch die und Erfolgsberichten. Chance verpasst, eine Gesetzesinitiative, die das Bundes- Wenn man im Lichte der Rechtsprechung des Verfas- verfassungsgericht zwar nicht angemahnt – so weit will (B) sungsgerichts diese Zeitungsbeilage, die einen Monat(D) ich nicht gehen –, aber angeregt hat, vom Wahlprüfungs- vor der Bundestagswahl verteilt wurde, beurteilt, dann ausschuss aus auf den Weg zu bringen. Das Besondere an stellt man fest: Erstens hat sie keinerlei sachliche Auf- der damaligen Entscheidung des Bundesverfassungsge- klärung zum Zuwanderungsgesetz und zu seinen Folgen richtes ist ja, dass es hypothetisch einen Fall problemati- beinhaltet, sondern sich darin erschöpft, die einseitige siert hat, der jetzt genau eingetreten ist. Insofern wäre es Position der Bundesregierung und der rot-grünen Koali- an der Zeit und im Grundeauch richtig gewesen, durch tion wiederzugeben. Zweitens wurde gegen dasGebot eine Anhörung im Wahlprüfungsausschuss – wir woll- der äußersten Zurückhaltung, die das Bundesverfas- ten nicht mehr als eine mündliche Verhandlung – klären sungsgericht in seiner Entscheidung auferlegt hat, ver- zu lassen, stoßen, da diese Broschüre in der heißen Phase des (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr Wahlkampfs verteilt worden ist. richtig!) (Joachim Stünker [SPD]: Pharisäer!) wie die rechtlichen Positionen gegeneinander abzuwä- gen sind. Das zu tun hätte auch einem Wahlprüfungsaus- Ich möchte noch auf Folgendes hinweisen: Dieses schuss in dieser Frage gut angestanden. Gesetz wurde vom Bundespräsidenten schon am 20. Juni 2002 unterzeichnet. Zwei Monate später, also genau in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der heißen Wahlkampfphase, verteilt das Presse- und In- formationsamt der Bundesregierung eine Zeitungsbei- Ich will die Zeitungsbeilage, die einen Monat vor der lage zu diesem Thema. Ich denke, das ist ein offensicht- Bundestagswahl erschienen ist, ansprechen. Auch Herr licher Verstoß gegen die vom Verfassungsgericht Hacker hat dieses ja hier schon vorgetragen. beschriebenen Rechtsprinzipien. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der Vortrag war dürftig!) Unser Petitum war: Der Wahlprüfungsausschuss muss prüfen, ob diese Beilage möglicherweise einen Wahlfeh- Ich möchte den Sachverhalt für diejenigen, die dasler begründet. Wir haben uns aber nicht darauf festge- Geschehen nicht näher verfolgt haben, schildern. Amlegt, dass diese Bundestagswahl anfechtbar ist, sondern 21. und 22. August, also genau einen Monat vor derlediglich darauf hingewiesen: Das Ausmaß dieses Ver- Bundestagswahl 2002, wurde in allen großen deutschen stoßes muss geprüft werden. Denn er ist groß genug, Tageszeitungen eine Beilage verteilt, deren Kosten aus dass ein Zusammenhang mit dem Ausgang der Wahl Haushaltsmitteln beglichen wurden und sich – aufdie Entscheidung war denkbar knapp; es gab eine Dif- 2,85 Millionen Euro beliefen. Auftraggeber war dasferenz von nur wenigen Tausend Stimmen – möglich ist. 6198 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Es besteht also in dieser Frage ein ganz erheblicher Prü- Wer stimmt für die aus der Anlage 12 ersichtliche Be- (C) fungsbedarf. Wie Sie trotz dieses erheblichen Prüfungs- schlussempfehlung zu einem Wahleinspruch? – Gegen- bedarfs sagen können, er sei offensichtlich unbegründet, probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung zu ist uns unbegreiflich. Das kritisieren wir. dem Wahleinspruch Anlage 12 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal- (Beifall bei der CDU/CSU) tung der FDP angenommen. Wir haben uns überlegt, warum Sie sich so verhalten. Wer stimmt für die aus den Anlagen 13 bis 57 ersicht- Warum sollte man diesen Sachverhalt nicht überprüfen? lichen Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen so- Eine Erklärung ist, dass die Bundesregierung auch in wie für die Nrn. 2 und 3 der Beschlussempfehlung des dieser Wahlperiode mit dieser Art von Propaganda durch Wahlprüfungsausschusses? – Gegenprobe! – Enthaltun- das Presse- und Informationsamt munter weitermacht. gen? – Die Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprü- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Friedrich, chen Anlagen 13 bis 57 sowie die Nrn. 2 und 3 der Be- mäßigen Sie sich! – Dr. Uwe Küster [SPD]: schlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses sind Na, na! Nicht in diese Kiste greifen! Ihre Spra- mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. che ist verräterisch.) Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: In der heißen Phase des Landtagswahlkampfes in Bayern wurden im Rahmen derKampagne „Deutschland be- Aktuelle Stunde wegt sich – Agenda 2010“, deren Kosten sich auf auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des 2,4 Millionen Euro beliefen und die aus Haushaltsmit- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN teln des Bundes finanziert wurden, 18 000 Großplakate geklebt. Notwendigkeit der steuerlichen Entlastung für Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen be- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: reits zum 1. Januar 2004 zur Flankierung des Hört! Hört!) sich abzeichnenden Wirtschaftsaufschwungs Diese Kampagne begann also genau in der heißen Phase des Wahlkampfs. Welch ein Zufall! Die Tatsache, dass Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- die Plakate der Bundesregierung inzwischen mehr scha- minister der Finanzen, Hans Eichel. den als nützen, hat mit der Rechtsfrage, um die es hier (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD] – geht, glaube ich, nichts zu tun. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die lebende Haushaltsfalle!) (B) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das (D) hat in Bayern wenig genützt!) Ich möchte insgesamt feststellen: Wir haben die Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Chance verpasst, anhand dieser Frage unsere Arbeits- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und weise als Wahlprüfungsausschuss der Öffentlichkeit in Herren! Ich möchte die Begründung, warum es notwen- einem umfangreichen Verfahren darzustellen. Ich denke, dig ist, die dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen, zu- es ist nach unserer Sicht der Dinge verständlich, dass wir erst und im Wesentlichen aus meiner Sicht als Finanzmi- dem Beschlussvorschlag des Wahlprüfungsausschusses nister geben. – so Leid uns das tut – nicht folgen können. Die Konsolidierungspolitik, die zweifelsfrei zwin- Vielen Dank. gend erforderlich ist, war erfolgreich in Zeiten des Wachstums: Im Jahre 1999 und im Jahr 2000 hatten wir (Beifall bei der CDU/CSU) die niedrigste Staatsverschuldung seit der Wiederverei- nigung. Im Bundeshaushalt war sie auch noch im Jahre Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 2001 erfolgreich, während zu dieser Zeit die Defizite in Ich schließe die Aussprache. den Länderhaushalten bereits explodierten. Die letzten drei Jahre Stagnation haben uns aber gezeigt, dass es Wir kommen zur zweiten Beschlussempfehlung des keine nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Fi- Wahlprüfungsausschusses zu 57 gegen die Gültigkeit der nanzen ohne nachhaltiges Wachstum gibt. Umgekehrt Wahl zum 15. Deutschen Bundestag eingegangenengilt es auch: Es gibt kein nachhaltiges Wachstum ohne Wahleinsprüchen, Drucksache 15/1850. Der Wahlprü- nachhaltig solide öffentliche Finanzen. fungsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- empfehlung, die aus den Anlagen 1 bis 57 ersichtlichen Deswegen müssen wir eine Politik betreiben, die einzelnen Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung in Deutsch- anzunehmen. Es wird getrennte Abstimmung verlangt. land besser möglich macht als in der Vergangenheit. Dazu hat Ihnen die Bundesregierung einen Dreiklang Wer stimmt für die aus den Anlagen 1 bis 11 ersichtli- vorgeschlagen, bestehend aus Strukturreformen, Haus- chen Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen? – haltskonsolidierung und dem Vorziehen der dritten Stufe Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- der Steuerreform. lungen zu den Wahleinsprüchen Anlagen 1 bis 11 sind mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die (Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/ Stimmen der CDU/CSU angenommen. CSU]: Und neue Schulden!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6199

Bundesminister Hans Eichel (A) Konsolidierung heißt in der Tat – darum soll man (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer bei den (C) nicht herumreden –, die sozialen Sicherungssysteme ins- Schulden noch laut ist!) besondere vor dem Hintergrund der Herausforderungen Konsolidierung des Haushaltes heißt: Vor dem Vor- der deutschen Einheit und vor dem Hintergrund der de- ziehen der Steuerreform muss die für den Haushalt 2004 mographischen Entwicklung unseres Landes nachhaltig veranschlagte Neuverschuldung in jedem Falle unter den tragfähig zu machen. Nachhaltig tragfähig heißt auch veranschlagten Investitionen liegen. Deswegen müssen – auch darum sollte man nicht herumreden –, dass neu wir insbesondere beim Abbau von Finanzhilfen – dort justiert werden muss zwischen dem, was die sozialen Si- sind wir hervorragend vorangekommen; allerdings sind cherungssysteme für alle leisten können, und dem, was wir hier auch nicht auf den Bundesrat angewiesen – und jeder Einzelne selber an Vorsorge leisten muss. Das ge- beim Abbau der Steuersubventionen in großen Schritten schieht bei der Gesundheits- und auch bei der Rentenre- vorankommen. form. Diese Belastungen müssen wir den Menschen in diesem Lande im Interesse einer langfristigen Tragfähig- Ich begrüße es, dass dieses Thema inzwischen entta- keit der Sozialsysteme leider zumuten. buisiert ist. Hätten Sie das ein Jahr vorher fertig ge- bracht, dann hätten wir schon dieses Jahr weniger Schul- Es geht um die Konsolidierung des Bundeshaushaltes. den. Denn wer, so wie wir das tun, vorschlägt, die Steuerre- form 2005 auf 2004 vorzuziehen, der muss zunächst im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Haushalt dafür die Voraussetzungen schaffen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Rede ist doch (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Neue Schul- drei Jahre alt!) den aufnehmen, oder wie?) Hierzu hat die Bundesregierung einiges präsentiert: Ers- Das heißt, vor dem Hintergrund der außerordentlichtens. Die Eigenheimzulage muss weg. Das ist eine unsin- schwierigen Lage der öffentlichen Finanzen nachhaltige nige Subvention, die durch ein vernünftiges Investitions- Konsolidierungsschritte über das hinaus zu machen, programm ersetzt werden sollte. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie verwech- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der lebt ja seln Schulden mit Konsolidierung!) noch in der Vergangenheit!) was wir im Jahre 1999 mit dem Konzept 2000 eingeleitet Zweitens. Die Pendlerpauschale muss reduziert werden. haben. Drittens. Die Halbjahres-AfA muss weg; zumindest da- (Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) rüber besteht inzwischen offensichtlich Konsens. (B) Denn wenn wir das, was Ihre Unterstützung, lieber Herr All das, was die Ministerpräsidenten Koch und Stein- (D) Koppelin, nicht gefunden hat, nicht eingeleitet hätten, brück – ich sage: dankenswerterweise – zur Enttabuisie- hätten wir dieses Jahr neue Schulden von rung etwa dieses Themas aufgelistet haben – und noch mehr –, 20 Milliarden Euro mehr. muss umgesetzt werden, damit wir die für das Vorziehen der Steuerreform notwendigen Voraussetzungen bekom- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch men. Vergangenheit, Herr Minister!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Dann legen Sie es Die Konsolidierungspolitik war erfolgreich. Aber in Zei- doch vor! Bringen Sie es doch ein! – Hans ten der Stagnation geschieht zweierlei: Erstens brechen Michelbach [CDU/CSU]: Auf die Anträge die Steuereinnahmen weg und zweitens müssen die Aus- warten wir!) gaben für den Arbeitsmarkt wesentlich höher sein als kalkuliert. Das bedeutet – das ist die volkswirtschaftliche Be- gründung –, dass wir dem Wirtschaftskreislauf in einer Es genügt – Sie sollten nicht immer nur dazwischen- Phase der Stagnation mit rigiden Strukturreformen in rufen –, sich einmal in Europa umzusehen. Dann können den sozialen Sicherungssystemen und im Haushalt min- Sie feststellen, dass eine ganze Reihe von Ländern indestens 23 Milliarden Euro entziehen. Die Frage ist, ob dieser Phase von ihren Haushaltsansätzen wesentlichman dem Kreislauf in einer Phase der Stagnation Kauf- stärker abweichen als wir. Ich empfehle meinem nieder- kraft in einem solchen Maße ersatzlos entziehen darf ländischen Kollegen Gerrit Zalm, bei seiner Kritik anoder ob man so nicht die Phase der Stagnation noch ver- Deutschland ein bisschen leiser zu sein. längert. Das ist der Grund dafür, warum die Bundesre- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt sind es gierung sagt: Wir müssen die nächste Stufe der Steuerre- auch noch die Niederländer!) form, die ohnehin für 2005 geplant ist, auf 2004 vorziehen. In einer Phase der Stagnation ist es nicht ver- Da die Abweichung im niederländischen Staatshaushalt antwortbar, eine kontraktive Finanzpolitik zu betreiben. vom Jahr 2000 bis jetzt nicht wie bei uns 3 Prozent, son- dern mehr als 4 Prozent beträgt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber laut dürfen doch auch Sie nicht mehr sein!) Denn diese verlängert die Stagnation. Das heißt, wir ma- chen eine nachhaltige Wachstumspolitik durch Struktur- muss man festhalten: Die Finanzdisziplin ist dort nicht reformen und sorgen kurzfristig dafür, dass es zu keiner so gut wie in Deutschland. Verlängerung der Stagnation durch eine kontraktive 6200 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Bundesminister Hans Eichel (A) Finanzpolitik kommt. Wir setzen also in der Finanzpoli- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Neue Schul- (C) tik einen Wachstumsimpuls mit einer Maßnahme, die den liegen auf dem Tisch!) ohnehin im Rahmen der Strukturreformen geplant ist. Das Vorziehen der Steuerreform muss unter diesen Be- Dies ist übrigens eine Politik, von der der Internatio- dingungen stattfinden. Sie tragen mit Ihrer Mehrheit im nale Währungsfonds sagt, dass sie richtig und mutig ist Bundesrat dieselbe Verantwortung wie wir. und dass sie genau dort ansetzt, wo in dieser Phase an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesetzt werden muss. Denn Europa braucht Wachstum DIE GRÜNEN) – vor allem in der größten Volkswirtschaft der Union: in Deutschland. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unser Konzept liegt nun klar auf dem Tisch. Das An- Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Merz, gebot lautet: Wir sind in Sachen Subventionsabbau zu CDU/CSU-Fraktion. jedem Gang bereit, den Sie mitgehen – so viel Sie wol- len! (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und zu neuen Friedrich Merz (CDU/CSU): Schulden!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Aber es liegt auch an Ihnen; denn in diesem Bereich geht Herren! Es fehlen einem fast die Worte, nichts ohne den Bundesrat. (Zuruf von der SPD: Das wäre schön! – Dr. Uwe Was sind Ihre Antworten? Es gibt einige, die gerne Küster [SPD]: Sechs, setzen!) mittun möchten, zum Beispiel Herr Althaus, Herr Teufel wenn man einem solchen Beitrag hier zuhört. und der eine oder anderemehr. Was hören wir aber an Bedingungen? Sie sagen – da wird es heuchlerisch und (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt hat er die Hand das kann so nicht bleiben –, wir dürften dafür keine schon wieder im Maschinenraum!) Schulden machen. Die Wahrheit ist aber: Wenn wir so- – Dieser Jargon fällt auf Sie selbst zurück, sehr geehrter wohl den Haushalt konsolidieren als auch die Steuerre- Herr Kollege. form vorziehen und das Vorziehen komplett steuerlich gegenfinanzieren, betreiben wir eine massiv kontraktive (Dr. Uwe Küster [SPD]: Es ist eine unglaubliche Finanzpolitik. Nachlässigkeit, wie Sie sich uns gegenüber hier präsentieren!) Noch komischer wird es, wenn Sie sich der Haus- – Schauen Sie sich demnächst einmal Ihren Bundeskanz- haltskonsolidierung verweigern: Was passiert denn dann (B) ler an, wenn er hier spricht. Der nämlich hat beide Hände (D) mit Ihren Positionen? Sie sagen, Sie wollen die Eigen- in der Hosentasche. Das habe ich mir an dieser Stelle heimzulage behalten, sie aber nicht durch Schuldennoch nicht erlaubt, lieber Herr Kollege. finanzieren. Was ist Ihre Position bei der Pendlerpau- schale? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die ist schon Es fehlen einem wirklich die Worte, wenn der Bun- verfrühstückt!) desfinanzminister von dieser Stelle aus kein einziges Wort zu der Steuerschätzung von heute sagt. Was ist mit den Vorschlägen, die im Grundsatzkonzept von Herrn Merz vorkommen, wonach man die Subven- (Hans Eichel, Bundesminister: Das mache ich tionen in der Tat abschaffen könne? Sie können nicht auf beim nächsten Punkt, beim Nachtragshaus- der einen Seite sagen, Sie wollten das gegenfinanzieren, halt!) und auf der anderen Seite jede Gegenfinanzierung ableh- – Gut, dann werden wir uns das auch anhören. Lieber nen. So funktioniert das nicht. Herr Eichel, Sie können doch nicht so tun, als ob diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Debatte völlig losgelöst wäre von der nächsten und beide Sachverhalte nichts miteinander zu tun hätten. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch das, was Herr Stoiber macht, kann nicht gehen. Er macht Vorschläge, von denen er weiß, dass sie nicht Mit Verlaub, Sie können nicht in einer Diskussion, in der einmal in der CDU eine Mehrheit finden. Die ostdeut- es um Steuersenkungen für das nächste Jahr geht, völlig schen Ministerpräsidenten zum Beispiel akzeptieren gar ohne Berücksichtigung lassen, dass uns die Steuerschät- nicht, was er vorgeschlagen hat. Das „Handelsblatt“zer heute gesagt haben, im nächsten Jahr werde der spricht von einer Verzögerungstaktik. Er ist sozusagen Bund – über das hinaus, was ohnehin schon an Ausfällen der lächelnde Blockierer. Das hat das Land nicht ver-stattfinden wird – eine erhebliche Mindereinnahme im dient. Haushalt hinnehmen müssen. Das hat doch einen inne- ren Zusammenhang. Wenn Sie in diesem Zusammen- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie hat das Land hang immer noch von Konsolidierung und Finanzdiszi- nicht verdient!) plin sprechen, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Sie hätten eine Rede aus dem vorletzten Jahr Wir müssen aus der Stagnation herauskommen und mitgebracht. Das ist doch fernab der Wirklichkeit. wir haben die Chance dazu. Alle Vorschläge der Regie- rung liegen auf dem Tisch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6201

Friedrich Merz (A) Es gibt einen zweiten Sachverhalt, auf den ich hin- tung für Familien. Auch wenn es nicht jedem gefällt, (C) weisen will, nämlich den Arbeitsmarkt. Ich möchte anre- wiederhole ich, was ich vor einiger Zeit schon einmal gen, dass vielleicht Ihr Kabinettskollege Herr Clement gesagt habe: Was nützt es eigentlich, über die Entlastung von dieser Stelle aus etwas dazu sagt. von Familien in Deutschland zu sprechen, wenn die El- tern arbeitslos werden? Ich bin sehr dafür – damit es hier (Wolfgang Clement, Bundesminister: nicht zu Missverständnissen kommt –, sehr viel mehr für Sehr gern!) die Familien zu tun, insbesondere für Bezieher unterer Wir haben heute nicht nur die Steuerschätzungen vorge- und mittlerer Einkommen, legt bekommen, sondern auch die Arbeitsmarktdaten für (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) den Oktober 2003. Ich möchte Sie bitten, nicht nur etwas zur Arbeitslosigkeit zu sagen, sondern auch zur Beschäf- die Kinder haben und aufziehen. Jeder, der selber Kinder tigungssituation. hat, weiß, dass das manchmal schwierig ist. Es ist manchmal bewundernswert, wie gerade die Bezieher (Wolfgang Clement, Bundesminister: Ja, niedrigerer Einkommen die dadurch entstehenden zu- selbstverständlich, das ist mein Job!) sätzlichen finanziellen Belastungen tragen. Das hat wirklich etwas miteinander zu tun. Wenn wir hier aber über das Thema Entlastung für Es gab im Oktober dieses Jahres etwas mehr Familien als reden, müssen wir vorher darüber reden, wie 600 000 Beschäftigte weniger in Deutschland als im Okto- wir aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise unse- ber des letzten Jahres. Unser Volk von 82 Millionen Ein- rer Volkswirtschaft herauskommen. Die Finanzpolitik wohnern verfügt gegenwärtig noch über etwa 26 Millionen und – mit Verlaub – auch e di Wirtschaftspolitik dieser sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. rot-grünen Bundesregierung in den letzten fünf Jahren Lieber Herr Eichel, Sie können das drehen und wenden, hat in sämtlichen Kennziffern der Volkswirtschaft zum wie Sie wollen: Das, was Sie zum 1. Januar 2004 vor- glatten Gegenteil von dem geführt, was in diesem Lande schlagen – darüber wird heute Abend bei Ihnen wie bei eigentlich notwendig wäre. uns intern beraten –, wird keinen Beitrag zur Lösung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Probleme auf dem Arbeitsmarkt leisten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum Schluss berufen Sie sich ganz stolz darauf, dass das Bundeswirtschaftsministerium jetzt entsprechende Wenn es überhaupt noch einen Sinn hat, dass die Aus- Statistiken über den Niedriglohnsektor herausgibt. Dazu schüsse des Deutschen Bundestages beraten und Fach- kann ich nur sagen: Es ist schön und gut, dass wir den leute einladen, um sich Rat geben zu lassen, dann sollten haben, aber diese Mikroökonomie wird uns nicht aus der (B) Sie das zugrunde legen, was im Haushaltsausschuss des Krise herausführen. Wir brauchen Vollzeitarbeitsplätze (D) Bundestages von allen Fachleuten übereinstimmend zu in der gewerblichen Wirtschaft, im ersten Arbeitsmarkt. diesem Sachverhalt gesagt worden ist. Wenn wir 50 000 Arbeitsplätze pro Monat in diesem Lande verlieren, lieber Herr Eichel, können Sie hier von Selbst diejenigen, die noch weitgehend der Meinung diesem Platz aus noch so häufig über Finanzdisziplin, sind, man könne Wirtschaftsaufschwung durch Stärkung automatische Stabilisatoren, über Konsolidierung und der Nachfrage auslösen – es gibt ja immer noch den ei- anderes sprechen, es wird Ihnen ohnehin niemand mehr nen oder anderen, der das glaubt –, sagen, dass die von glauben, aber es wird auch nichts mehr bewirken. Ihnen zum 1. Januar 2004 zusätzlich geplanten Steuer- entlastungen praktisch keine Wirkung haben werden. Herzlichen Dank. Man redet über eine Steigerung des Wirtschaftswachs- tums um 0,1 bis 0,2 Prozent. Jeder hier im Hause weiß, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass dieses Wachstum bei weitem nicht ausreicht, um auch nur einen Hauch von weiterer Beschäftigung auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dem Arbeitsmarkt auszulösen. Worüber reden Sie hier Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert, eigentlich, wenn Sie eineAktuelle Stunde zum Thema Bündnis 90/Die Grünen. „Entlastung für Familien, Arbeitnehmer und Unterneh- men“ beantragen? Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Verlaub, Herr Merz, sprachlos waren Sie nicht. Ich will durchaus anerkennen und bedanke mich da- für, dass Sie einige zustimmende Worte zu den von mir (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich habe in dieser Woche vorgeschlagenen Leitlinien für eine Mo- gesagt: „Fast“!) dernisierung unseres Einkommensteuerrechts gefunden Ich frage mich aber, für wen Sie gesprochen haben, denn haben. Leider hat es aus Ihren Reihen auch gleich wieder wir warten schon darauf, dass die Opposition endlich mit reflexartige Kritik gegeben, einer Stimme spricht. Was Sie hier gerade vorgetragen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haben – das hat die letzte Woche gezeigt –, führt in Ihren Aus Ihren Reihen auch!) eigenen Reihen zu erheblichen Widersprüchen die Vorschläge seien sozial unausgewogen. In dieser Ak- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben tuellen Stunde geht es auch um das Thema der Entlas- doch nur Haushaltslöcher!) 6202 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Thea Dückert (A) und ist erheblich umstritten. Ich will Beispiele nennen: und – das ist besonders wichtig – die über Dekaden ver- (C) Ihr Konzept der Abkehr vom linear-progressiven Tarif schlafenen Strukturreformen am Arbeitsmarkt. wird – ich finde, zu Recht– als unsozial bezeichnet, so Mit der Agenda 2010 haben wir die so wichtigen zum Beispiel von Herrn Müller oder auch von Herrn Strukturreformen eingeleitet. Diese werden aber erst im Stoiber. Ihr Konzept hatte eine Halbwertszeit von einem Zusammenhang mit einem konjunkturellen Aufschwung Tag, Herr Merz. Sie musstennachbessern, weil es eine wirken können. Deswegen müssen wir den Schritt ma- erhebliche soziale Schlagseite hat. chen und die Steuerreform vorziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Bei diesem Thema bricht bei Ihnen, liebe Kolleginnen bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: und Kollegen von der Union, das schiere Chaos aus, wie Sprechen Sie einmal zum Thema!) es uns Herr Merz gerade bei seiner Rede vorgeführt hat. Damit aber nicht genug: re Ih Fraktionsvorsitzende, Dieses Chaos trägt den Nachnamen Union und hat viele Frau Merkel, setzt sich für die Herzog-Vorschläge ein. Vornamen: Koch, Wulff, Müller, Merkel oder Merz. Sie wissen sehr genau, dass Ihr Konzept mit diesen Vor- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Alles schlägen nicht kompatibel ist. Beide Vorschläge zusam- gute Leute! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ mengenommen bedeuten eine Finanzierungslücke von DIE GRÜNEN]: Und Stoiber!) mindestens 34 Milliarden Euro. Sie sagen nichts dazu, wie Sie diese Lücke decken wollen. Sie machen die – Stoiber natürlich auch. – Herr Müller zum Beispiel Rechnung ohne den Wirt. will, dass man sich auf einem Gipfel nicht über das Vor- ziehen der Steuerreform, sondern über das Konzept von Es geht in der Tat darum, die Konjunktur im nächsten Herrn Merz unterhält. Dieser aber lehnt – man höre und Jahr in Schwung zu bringen. Wir brauchen einen Anreiz staune – den Stufentarif ab. Ich weiß also nicht, worüber für die Konjunktur. Ihre Argumentation aber, die Sie hier er überhaupt reden will. Herr Stoiber wiederum will abliefern, richtet sich sowohl gegen das Vorziehen der keinen Gipfel, aber will, wie er sagt, die Steuerreform Steuerreform als auch gegen den Subventionsabbau.vorziehen. Wie will er sie finanzieren? – Das ist ganz Denn Letzteren stellen Sie, Herr Merz, in Ihrem Konzept einfach, nämlich – unionsgerecht – auf Kosten der wieder zur Disposition; ich nenne als Beispiele die Ei- Arbeitslosen. In einer Situation höchster Arbeitslosigkeit genheimzulage oder die Pendlerpauschale. Ich muss– in den neuen Ländern haben wir eine Arbeitslosigkeit mich also fragen, welches Ziel Sie verfolgen und fürvon bis zu 20 Prozent – will er ABM-Mittel, Qualifizie- wen Sie sprechen. rungs- und Weiterbildungsangebote streichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Für die und bei der SPD) (D) Masse des Volkes und für den Aufschwung!) Und was will Frau Merkel? Das frage ich mich auch. – Eben, wir brauchen den Aufschwung, einen Anschub Heute Morgen zum Beispiel hat sie gesagt, sie wolle die für die Konjunktur im nächsten Jahr. Deshalb ist ein Vor- Steuerreform nicht vorziehen, zumindest nicht auf diese ziehen der Steuerreform erforderlich. Nur dann werden Weise. die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmen mehr Geld zur Ver- Ich fordere Sie daher auf: Lassen Sie uns doch darü- fügung haben, um zu konsumieren und zu investieren. ber reden, wie man die Steuerreform vorziehen kann! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir würden und bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme gerne mit Ihnen reden! Dazu brauchen wir [CDU/CSU]: Sie spüren jeden Tag, dass sie aber einen einzigen vernünftigen Vorschlag!) mehr Geld in der Tasche haben!) Lassen Sie uns über eine ordentliche Finanzierung reden Jeder, der wie Herr Wulff oder Herr Koch diesen Kurs und hören Sie auf, im Bundesrat den Subventionsabbau blockiert und damit kaputt macht, trägt dazu bei, derzu blockieren, der für ein Vorziehen nötig ist! konjunkturellen Belebung die Chancen zu nehmen. Von internationaler Seite haben wir ins Stammbuch geschrie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben bekommen, dass Strukturreformen in Deutschland Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen. überfällig sind; das wissen Sie ganz genau. Und warum? (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Weil Sie Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 1998 alles rückgängig gemacht haben!) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Sie brauchen gar nicht so zu tun, als hätten Sie nichts Das Chaos bei der Union, das ich eben angesprochen damit zu tun. Das ist typisch. Sie wissen ganz genau,habe, hat System. Alle Ihre Vorschläge, die Vorschläge dass Sie sehr viel dazu beigetragen haben. Ich nenne als von Stoiber zur Finanzierung, die Vorschläge von Merz Beispiele nur die falsch finanzierte deutsche Einheit zur Steuerreform, die Vorschläge von Herzog zur Pau- schale in der Gesundheitsversorgung und die Vorschläge (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was hätten von Koch zur Senkung der Sozialhilfe, haben einen Sie anders machen wollen? – Weiterer Zuruf gemeinsamen Kern: Die beabsichtigten Änderungen ge- von der CDU/CSU: Das ist schon 14 Jahre hen zulasten der kleinen Einkommen, zulasten der her!) Kommunen und zulasten der Arbeitslosen. Wir wollen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6203

Dr. Thea Dückert (A) der Belebung der Konjunktur eine Chance geben, aber lein die Diskussion über dieses Gesetz ein halbes Pro-(C) nicht der sozialen Ausgrenzung. zent Wachstum in unserem Land gekostet hat. Herr Minister, wo stünden wir, wenn wir dieses Gesetz nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diskutiert hätten? Dann hätten wir in diesem Jahr und bei der SPD) 10 Milliarden Euro mehr erwirtschaftet und 5 Milliarden Euro mehr Staats- und Sozialversicherungseinnahmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das ist doch der Punkt. Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Zum zweiten Punkt, dem Nachtragshaushalt. Schon Solms) bei der Verabschiedung des Bundeshaushaltes im März dieses Jahres war klar – das hätte auch Ihnen klar sein müssen –, dass alle Zahlen Makulatur waren. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Eichel, Ihre Rede (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) hat mich schon erstaunt. Ich glaube, an dieser Stelle wäre etwas mehr Bescheidenheit erforderlich gewesen. Bereits einen Monat später wurde das eingeräumt, aber es wurde nichts geändert. Die Wirklichkeit wurde ausge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) blendet und gesundgebetet. Es ist schon erstaunlich, dass Frau Dückert, da ich in einem Punkt mit Ihnen über- Sie von April bis November brauchten, um einen Nach- einstimme, möchte ich diesen hier auch betonen: Wirtragshaushalt vorzulegen, in dem die Wirklichkeit in un- brauchen mehr Wachstum und Beschäftigung in unse- serem Lande annähernd berücksichtigt wird. Das ist rem Lande. nicht der richtige Weg. Ich kann nur sagen: Stellen Sie sich bitte der Wirklichkeit. Blenden Sie die Wirklichkeit (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Auf- nicht permanent aus, wie Sie das in Ihrer Rede gerade schwung!) hier auch wieder getan haben. Versuchen Sie, die richti- Dafür brauchen wir allerdings weniger Rot-Grün. Das ist gen Konzepte zu finden, damit wir in unserem Lande der Punkt, um den es geht. Wachstum und Beschäftigung erhalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es Herr Minister, bei Ihrem Amtsantritt haben Sie er- ist grotesk: Heute, an dem Tag, an dem wir die von SPD klärt, dass Schuldenmachen bedeuten würde, die Zu- (B) und Bündnis 90/Die Grünen beantragte Aktuelle Stunde kunft zu verspielen. (D) mit dem Thema „Für die Notwendigkeit der steuerlichen (Dirk Niebel [FDP]: Da hat er Recht!) Entlastung für Arbeitnehmer, Familien und Unterneh- men bereits zum 1. Januar 2004 ...“ durchführen, finden In diesem Punkt stimmen wir Ihnen absolut zu. fast zeitgleich drei Ereignisse statt, nämlich erstens die (Jürgen Koppelin [FDP]: Das stammt nicht von Steuerschätzung, zweitens die erste Beratung des Nach- ihm, das hat er sich aufschreiben lassen!) tragshaushalts und drittens die Ankündigung einer Aus- bildungsplatzabgabe von Rot-Grün. Warum tun Sie aber das Gegenteil von dem, was Sie ver- sprochen haben? Sie sind in der Bevölkerung zunächst (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wunderbar!) positiv bewertet worden, weil man den Eindruck hatte, Zum ersten Punkt. Die Steuerschätzer haben heute er- dass Sie sparen. Inzwischen erkennt man aber, dass Sie klärt, dass für dieses unddas nächste Jahr mit zusätz- den Bürgern auf unterschiedliche Art und Weise in die lichen Steuerausfällen von 19,1 Milliarden Euro gerech- Tasche greifen und die Staatsquote hochhalten und dass net werden muss. In diesem Jahr werdenso die Beschäftigung es sinkt. Das ist die Folge einer ver- 8,2 Milliarden Euro und im nächsten Jahr werden esfehlten und konzeptionslosen rot-grünen Politik. 10,9 Milliarden Euro sein. Dazu kann man nur feststel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len: Das ist die Folge einer planlosen und chaotischen Steuerpolitik von Rot-Grün. Dritter Punkt. Heute betreibt die Bundesregierung wieder ihren Lieblingssport, nämlich die allgemeine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verunsicherung. In der eichelschen Steuerpolitik gibt es nur eine einzige (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Und die Be- Konstante: Nichts Genaues weiß man nicht. schimpfung der Opposition!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Nur Schulden, Deshalb sollen am Wochenende die Eckpunkte für die Schulden, Schulden!) Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe beschlossen Allein die Diskussion über das zum Glück geschei- werden. Wer glaubt, dass durch eine Ausbildungsplatz- terte Steuervergünstigungsabbaugesetz hat zu Beginnabgabe neue Arbeitsplätze entstehen, der hat sich gründ- dieses Jahres und nachwirkend zu einer absoluten Verun- lich getäuscht. Meine Befürchtung ist eher, dass Ausbil- sicherung in der Bevölkerung geführt. Ich möchte andungsplätze abgebaut werden, weil viele Unternehmen dieser Stelle daran erinnern, dass damals, vor der Som- sagen können, dass sie ihrer sozialen Verpflichtung da- merpause, die Sachverständigen erklärt haben, dass al- durch nachkommen, dass sie eine Abgabe zahlen. Das 6204 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Carl-Ludwig Thiele (A) Gegenteil von dem, was Sie sich wünschen, wird durch [CDU/CSU]: Das merkt man jeden Tag bei (C) diese falsche Politik geschehen: Es werden kein Ausbil- den Umfragen! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: dungsplätze geschaffen, sondern sie werden abgebaut. Entschuldigung, ich bin Vater von fünf Kin- Deshalb kritisieren wir das. dern! Ich setze nicht auf Rot-Grün!) (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Der – Das wird durch Ihr Schreien auch nicht anders. – Seit DGB bildet gar nicht aus!) 1998 haben wir die finanzielle Situation von Familien kontinuierlich verbessert. Das haben wir mit niedrigeren – Der DGB ist in diesem Punkt einer der schlechtesten Steuersätzen, mit deutlichen Kindergelderhöhungen und Arbeitgeber. Wer Moral gegenüber Dritten verkündet, mit neuen Freibeträgen geschafft. der sollte zumindest im eigenen Haus so tätig werden, wie es erforderlich ist. Ich bedanke mich für das Stich- Mit dem Vorziehen der Steuerreform runden wir un- wort; es ist leider absolut zutreffend. sere Politik für Familien ab. Wir stärken die Familien noch mehr. Eine vierköpfige Arbeitnehmerfamilie mit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – einem Durchschnittseinkommen wird dann 2 400 Euro Jürgen Koppelin [FDP]: Beim DGB möchte weniger Steuern zahlen als noch 1998. Ich denke, das ist ich nicht ausgebildet werden! – Peter Dreßen sozial gerechte Familienpolitik. [SPD]: Sie haben keine Ahnung von Ausbil- dung!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer glaubt, dass eine gute Zukunft für unser Land da- Linke Tasche, rechte Tasche!) durch erreicht wird, dass wir die Bürger und die Wirt- schaft planmäßig weiter belasten, der irrt und der ver- Das hilft außerdem der Konjunktur. Denn wenn die spielt die Zukunft unseres Landes. Menschen mehr Geld im Portemonnaie haben, steigt die Kaufkraft. Dann können neue Arbeitsplätze entstehen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind aufgefordert, die Weichen für eine gute Zukunft (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das unseres Landes zu stellen. Die Diskussion wird konkret merkt man daran, wie die Binnenkonjunktur erst jetzt beginnen, nachdem Rot-Grün im Bundestag je- steigt!) den Änderungsantrag abgelehnt und sich überhaupt nicht Auch das ist im Interesse von Familien. mit der Frage beschäftigt hat, wie wir im Vermittlungs- ausschuss mit den Themen umgehen. Wir haben einen Dafür brauchen wir das Vorziehen der Steuerreform. 20-prozentigen Subventionsabbau gefordert. Dazu ste- Dafür brauchen wir die Hartz-Reformen, die den Ar- hen wir als FDP und im Vermittlungsausschuss wird es beitsmarkt und die Arbeitsvermittlung modernisieren. (B) dazu die Nagelprobe geben. Ich bedauere nur, dass der Dafür brauchen wir ferner Rahmenbedingungen, die es (D) Finanzminister und die rot-grüne Mehrheit überhauptMüttern und Vätern erlauben, Familie und Beruf mitei- nicht in der Lage waren, sich mit den Vorschlägen von nander zu vereinbaren. Koch und Steinbrück in einer Art auseinander zu setzen, die dazu geführt hätte, dass wir dieses Thema hier im (Jürgen Koppelin [FDP]: Und wer zahlt eure Deutschen Bundestag, wo es hingehört, tatsächlich so Schulden?) hätten behandeln können, wie es das verdient hätte. Wir Unser Konzept, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist rund als FDP werden im anstehenden Vermittlungsausschuss- und es ist jetzt im Vermittlungsausschuss entscheidungs- verfahren konstruktiv mitarbeiten, denn wir sind derreif. Auffassung: Trotz Rot-Grün, trotz Finanzminister Eichel und trotz Bundeskanzler Gerhard Schröder müssen wir Liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn wir uns das einen Aufschwung in unserem Land bekommen und die Steuerkonzept von Herrn Merz ansehen, Weichen für eine gute Zukunft stellen. Wir als FDP wer- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist den dort unsere Verantwortung wahrnehmen. sehr gut! Dann leuchten eure Augen! – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da kön- nen Sie etwas lernen! – Ludwig Stiegler [SPD]: Vergifteter Apfel!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von erscheint das vielleicht erst einmal verlockend. Mehr der SPD-Fraktion. Transparenz im Steuersystem – wer möchte das nicht? Aber aus der Sicht der Familien muss man bei dem, was Sie dort vorschlagen, schon zweimal hinschauen. Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Familienförderung ist das Herzstück unserer Politik. Da bin ich jetzt gespannt!) 60 Milliarden Euro geben wir trotz Haushaltskonsolidie- rung Jahr für Jahr für Familien aus. Ich sage Ihnen, Herr Offen gesagt: Wir wissen alle, dass die Lebenswirklich- Thiele: Die Familien setzen auf uns, auf Rot-Grün. Das keit von Familien viel komplexer ist, als Sie es in Ihrem kann ich Ihnen garantieren. Konzept berücksichtigen. Sie geben auf viele Fragen keine Antwort. Darum müssen wir als Familienpolitiker (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Familienpolitikerinnen genau aufpassen, inwieweit DIE GRÜNEN – Jochen-Konrad Fromme populistische Vereinfachungen des Steuersystems den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6205

Christel Humme (A) Familien tatsächlich nützen oder ob sie sich in Wahrheit ert, die sozial gerecht, modern und nachhaltig ist, weil(C) als ungerecht entpuppen. sie auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf setzt, und die die Konjunktur stärkt, damit neue Arbeitsplätze Erstes Beispiel: Alleinerziehende. Wir wissen alleentstehen. ganz genau: Alleinerziehende haben eine besondere Be- lastung. Dieser besonderen Belastung wollen wir ab dem 1. Januar 2004 Rechnung tragen, indem wir ihnen einen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zusätzlichen Freibetrag in Höhe von 1 300 Euro garan- Kommen Sie bitte zum Schluss. tieren. Das ist eine wichtige Maßnahme, die wir mit un- serer Steuerreform ab 1. Januar durchsetzen wollen. Wie Christel Humme (SPD): berücksichtigen Sie Alleinerziehende? Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op- Herr Merz, welche Familienformen kennen Sie über- position, stellen Sie die Interessen von Familien über haupt? Gestern in der Sendung „Gabi Bauer“ wurdeIhre parteipolitischen Interessen und unterstützen Sie im deutlich, dass Sie sich an einem ganz bestimmten Fami- Vermittlungsausschuss unsere Vorhaben. lienbild orientieren. Ihr Konzept orientiert sich aus- Schönen Dank. schließlich an dem völlig überholten Familienbild, dass der Vater arbeitet und die Mutter sich um die Kinder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kümmert. DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Wenn Frau Humme noch lange regiert, (Widerspruch bei der CDU/CSU – Hartmut arbeiten weder Vater noch Mutter!) Schauerte [CDU/CSU]: Sie haben das Modell, wo beide nicht arbeiten!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Andere Familienformen berücksichtigen Sie nicht. Ich Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Meister will Ihnen das gerne aufzeigen. Wie anders ist es zu er- von der CDU/CSU-Fraktion. klären – Sie müssen schon zuhören –, dass Sie für jedes einzelne Familienmitglied einen deutlich höheren Frei- Dr. Michael Meister (CDU/CSU): betrag einfordern, aber das Familiensplitting gleichzeitig Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und mit einem Ehegattensplitting kombinieren? Sie begünsti- Herren! Zunächst einmal, Frau Kollegin Humme, diese gen damit eindeutig ausschließlich die gut verdienende Koalition hat die Alleinerziehenden nach dem Verfas- Einverdienerfamilie. Dieses Familienbild ist aber schon sungsgerichtsurteil ohne jeglichen Grund abgestraft. lange überholt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN) Jetzt beschließen Sie eine Reparaturmaßnahme, mit der Sie die Bestrafung der Alleinerziehenden teilweise zu- Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Steuerreform er- rücknehmen. Das verkünden Sie als große familienpoli- höhen Sie – ich bin nicht nur familienpolitische, sondern tische Leistung. auch frauenpolitische Sprecherin – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Respekt!) Das sind ein bisschen Ideologie und ein paar populäre für Frauen den Anreiz, nach der Geburt eines KindesSprüche, aber wenig Inhalt. Damit werden Sie bei den dauerhaft aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Dabei Familien nicht punkten. sollten gerade Sie wissen, dass unsere Wirtschaft gut ausgebildete Frauen dringend braucht. Unsere Renten- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kassen profitieren davon, wenn wir mehr Frauen ins Er- neten der FDP) werbsleben integrieren. In dieser Debatte ist positiv, dass sich alle bisherigen Ihr Konzept bietet Familien keine besonderen Hilfen. Redner zu einer wachstumsorientierten Politik bekannt Eine Gegenfinanzierung kann ich in keiner Weise erken- haben. nen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist nicht (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist selbstverständlich!) doch gar nicht das Thema!) Es ist wichtig, dass wir uns darin einig sind. Streit gibt es Das heißt, Sie belasten mit Ihrem Konzept zusätzlich zu- darüber, wie wir dieses Wachstum erzielen. künftige Generationen, also die Kinder. Erstens. Ich möchte daran erinnern, dass zumindest (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum re- auf der Regierungsbank in den letzten zwölf Monaten den Sie nicht über das Thema der Aktuellen einiges dazugelernt wurde. Vor zwölf Monaten haben Stunde? Das war doch eine ganz andere Aktu- wir hier darüber debattiert, die zweite Stufe der Steuer- elle Stunde!) reform nach hinten zu verschieben. Diese Regierungs- koalition hat das damals mit denselben Argumenten wie Mit Steuern steuern – das kann man sehr wohl. Mit heute vorgeschlagen. Ich bin dankbar, dass die Koalition Steuern steuern – das ist das Ziel unserer Steuerreform. etwas dazugelernt hat. Sie will nun keine Politik mehr Wir haben auf eine Steuerpolitik für Familien umgesteu- gegen, sondern eine Politik für Wachstum machen. 6206 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Michael Meister (A) Zweitens. Ich erinnere an das Steuervergünstigungs- Wir sind zu einer konstruktiven Debatte über den Abbau (C) abbaugesetz. Herr Bundesfinanzminister Eichel, Sie hat- der Staatsausgaben auf allen Ebenen bereit. ten über 40 Steuererhöhungen vorgelegt, obwohl alle Sachverständigen und Fachleute im Land erklärt haben: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies erschlägt die Konjunktur. Dies schädigt und verrin- Sie tun so, als ob Sie den Menschen Wohltaten erwei- gert das Wachstum. Was haben Sie gemacht? Sie haben sen würden, den Arbeitnehmern, den Familien und den diese Debatte ein halbes Jahr lang geführt und dasUnternehmern. Ich sage Ihnen: Im nächsten Frühjahr Wachstum mit Ihrer Politik zerstört. Für die Stagnation, werden die Menschen erkennen, dass das eine Fata Mor- die wir heute haben, sind Sie als Folge dieser Politik ver- gana war. Die Maßnahmen werden den Menschen als antwortlich. Entlastung verkauft, wenn aber alle Gesetze realisiert (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden, werden sie feststellen, dass sie belastet und neten der FDP) nicht entlastet wurden. Herr Eichel, Sie leben seit drei Jahren in einer irrealen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) Welt. Sie sind nicht in der Realität angekommen. 2002 Ihre Politik wird unter einem falschen Etikett verkauft. haben Sie bei den Themen Gesundheitswesen, RenteDeshalb wird Ihre Politik an dieser Stelle wieder nicht und Bundeshaushalt verkündet, die Welt sei in Ordnung. zielführend sein. Am Jahresende haben Sie feststellen müssen, dass nichts in Ordnung ist, ein Maastricht-Kriterium und die Verfas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sung verletzt wurden und sich riesige Haushaltslöcher Im Titel der Aktuellen Stunde wird von Aufschwung auftun. gesprochen. Wir sollten die wirtschaftspolitische Lage In diesem Jahr haben Sie dieselbe Situation. Wir ha- zur Kenntnis nehmen. Sie, Herr Eichel, haben dankens- ben im März und April gesagt, dass Sie ein Haushaltssi- werterweise das Wort „Aufschwung“ nicht in den Mund cherungsgesetz und einen Nachtragshaushalt brauchen. genommen. Sie haben davon gesprochen, dass wir in Sie haben sich dem verweigert, indem Sie gesagt haben, Stagnation leben. Das war schon ein Stück weit ehrlicher die Welt sei in Ordnung. Jetzt kommen Sie plötzlich mit als der Titel Ihrer Aktuellen Stunde. Man muss aber zur der höchsten Verschuldung aller Zeiten in Deutschland. Kenntnis nehmen, dass wir in diesem Jahr – der Kollege In diesem Jahr werden von Ihnen allein auf Bundesebene Merz hat darauf hingewiesen – 600 000 Arbeitsplätze in Schulden in Höhe von 1 000 DM pro Kopf gemacht. Für diesem Land verlieren. Dann haben Familienväter und das nächste Jahr planen Sie wieder dasselbe. Das ist ein Familienmütter kein Erwerbseinkommen mehr und Fa- Anschlag auf die junge und die kommende Generation. milien werden massiv beschädigt. Da müssen Sie anset- (B) Da ist nichts von Nachhaltigkeit und Konsolidierung zu zen und bessere Rahmenbedingungen schaffen. (D) spüren. Was Sie betreiben, ist verantwortungslos. Alle Maßnahmen, die wir in der Arbeitsmarktpolitik, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Wirtschaftspolitik und der Finanzpolitik vorgeschla- gen haben, um Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt zu Meine Bitte ist: Kommen Sie endlich in der Realität schaffen, haben Sie bisher verhindert. Sie verweigern an. Nehmen Sie die Zahlen und Fakten wahr und bauen sich jeder Debatte zu diesem Thema. Ich spreche die In- Sie auf diesem Fundament eine ordentliche, systemati- solvenzen in unserem Land an. Über 40 000 Unterneh- sche und berechenbare Politik auf. Dann wären wir ei- men gehen uns verloren. Auch dies ist kein Beitrag zu nen Schritt weiter in Richtung Wachstumspolitik. mehr Wachstum. Zum Dritten möchte ich etwas zu Ihren Kürzungsvor- Und was tun Sie? Sie erhöhen die Substanzbesteue- schlägen sagen. Sie waren willkürlich: im Steuerver-rung, führen die Ausbildungsplatzabgabe ein – das ist günstigungsabbaugesetz und jetzt im Haushaltsbegleit- Ihr neuester Vorschlag – und führen die Mindestbesteue- gesetz. Es fehlt jede Methode, es fehlt jedes System, es rung ein. Das ist ein Schlag gegen die Unternehmen und fehlt jeder geordnete Ansatz. Das ist der Unterschiedgegen die Arbeitsplätze in Deutschland. Das wird nicht zwischen Koch/Steinbrück und Ihnen. Sie führen rein dazu führen, dass wir mehr Wachstum und mehr Arbeits- willkürliche Maßnahmen ohne jegliches System durch. plätze bekommen, sondern es wird zu einem weiteren (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stimmt!) wirtschaftlichen Abschwung führen. Dafür tragen Sie mit Ihren Vorschlägen die Verantwortung. Ich glaube, wir müssen dazu kommen, dass wir systema- tisch, mit einer sauberen Definition und mit methodisch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) klarem Handwerkszeug an den Abbau der Staatsausga- Sie haben dazu beigetragen, dass die Konsumenten ben herangehen. Daran haben Sie sich bisher noch nicht und die Investoren in Deutschland jedes Vertrauen in die getraut. Rahmenbedingungen verloren haben. 2003 werden die Wir haben beantragt, dass dies in einem geordneten Sachinvestitionen nur noch um 2 Prozent steigen. Das ist Verfahren erfolgen soll. Wir haben gesagt, dass wir im mehr als eine Halbierung gegenüber 2001. Die Konsu- Deutschen Bundestag eine Debatte darüber führen wol- mentenstimmung ist laut der Oktoberstudie der Gesell- len. Die Koalition hat das gestern im Finanzausschuss schaft für Konsumforschung kühl. Das heißt, Konsu- abgelehnt. Sie wollen hier über das Konzept überhaupt menten und Investoren haben keinerlei Vertrauen mehr nicht reden. Sie verweigern sich einer geordneten De- in diese Bundesregierung. Ich persönlich bin davon batte über dieses Konzept.Dies halten wir Ihnen vor. überzeugt, dass mit den heutigen Mitgliedern der Bun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6207

Dr. Michael Meister (A) desregierung dieses Vertrauen nicht mehr wachsen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Deshalb wird es nur einen Aufschwung geben, wenn sowie bei Abgeordneten der SPD) neue Gesichter auf der Regierungsbank Platz nehmen. Zweitens müssen die Gemeinden in Deutschland ent- (Beifall bei der CDU/CSU) lastet werden. Deswegen müssen Sie die Umsetzung der vorgesehenen Gewerbesteuerreform ermöglichen. Sie haben angesprochen, dass Sie eine Entlastung für Familien beabsichtigen. Schauen wir uns doch einmal (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein! Das müs- an, was Sie bisher für die Familien getan haben: Sie ha- sen wir überhaupt nicht! Ein Sofortprogramm ben eine Ökosteuer mit massiven Belastungen für Fami- brauchen wir!) lien eingeführt. Sie haben dafür gesorgt, dass die Sozial- beiträge nach oben schießen und die Familien belastet Es geht um 5 Milliarden Euro für die Gemeinden, die werden. Sie haben im Steuervergünstigungsabbaugesetz mitentscheiden, ob in Deutschland Arbeitslosigkeit ab- Belastungen für Familien vorgesehen. Sie sehen diegebaut werden kann oder nicht. Streichung der Eigenheimzulage und der Wohnungsbau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN prämie sowie Kürzungen bei der Pendlerpauschale vor. und bei der SPD) Das bedeutet, dass Sie weitere Belastungen für die Fami- lien vorsehen. Weil Sie so schreien, empfehle ich Ihnen, sich im Ge- meinderat einer durchschnittlichen deutschen Stadt da- Worin besteht denn Ihr Engagement für die Familien? rüber zu informieren, wie die Kollegen von der CDU Sie handeln im Gegenteil gegen die Interessen der Fami- oder der CSU über dieses Thema denken, wenn sie hö- lien und halten hier bloß Sonntagsreden. ren, dass wir jetzt die Senkung der Gewerbesteuerum- (Hans Eichel, Bundesminister: Was ist denn lage, die Sie lange gefordert haben, vornehmen wollen, der Subventionsabbau?) dass Sie aber im Bundesrat auf die Bremse treten und dieses Vorhaben ablehnen. Lassen Sie mich abschließend noch eines anmerken: Die Menschen wissen seit der Bundestagswahl 2002 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr wohl, dass Ihre Ankündigungen und Versprechun- und bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme gen ein sehr kurzes Verfallsdatum haben. Das gilt leider [CDU/CSU]: Das war doch unser Vorschlag! – auch jetzt. Deshalb wäre es gut, wenn das vielen Men- Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Früher ha- schen für künftige Wahlen im Gedächtnis bliebe, Frau ben Sie sie noch abgelehnt!) Humme, damit sie Ihre Politik tatsächlich „würdigen“. Wer etwas für Investitionen und die Konjunktur tun will, muss diesen Punkt berücksichtigen. (B) Vielen Dank. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens müssen Sie dem Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform zustimmen. Im Herbstgutachten wird dieser Schritt übrigens unterstellt. Das heißt, wer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sich dem verweigert, trägt dazu bei, dass das prognosti- Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom Bünd- zierte Wachstum von 1,7 Prozent im nächsten Jahr nicht nis 90/Die Grünen. erzielt werden kann. Ich habe eine Frage an die finanzpolitischen Helden Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Heldinnen der Union. Wenn Sie das Vorziehen der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nächsten Stufe der Steuerreform auf einer abstrakten Wenn man das Herbstgutachten der deutschen Wirt- Ebene begrüßen, aber unter der Bedingung, dass dies schaftsforschungsinstitute gründlich liest, dann ergibt nicht auf Pump geschieht, dann müssen Sie mit dieser sich ein einfacher Befund: Es wird im nächsten Jahr auf- glorreichen Aussage der Öffentlichkeit endlich einmal wärts gehen. Wie stark dieser Aufschwung ausfallen darlegen, wie Sie die Steuerreform finanzieren wollen. wird, hängt ausschließlich von den politischen Entschei- Allmählich wird es unredlich, wenn Sie Vorschläge un- dungen ab, die jetzt getroffen werden. terbreiten, ohne zu erläutern, wie Sie sie umsetzen wol- Wenn man die Aufgeregtheiten, die eine solche De- len. Sie legen eigentlich nur dar, was Sie nicht wollen. batte durchaus prägen sollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Deshalb brau- und bei der SPD) chen Sie neue Folterwerkzeuge!) Ich sage Ihnen offen, dass meine beiden Söhne eine – Herr Kollege, Sie haben eben bereits geredet –, einmal solche Phase, in der sie Experten im Neinsagen waren, weglässt, dann kommt es aus unserer Sicht in erster Li- ohne zu erklären, was sie stattdessen wollen, endlich nie auf drei Punkte an. überwunden haben. Eine solche Phase in der Erziehung wird Trotzphase genannt. Ich habe manchmal den Ein- Erstens senken wir durch die Hartz-Reformen die Be- druck, dass Sie sich mit Ihren Vorschlägen auf diesem schäftigungsschwelle unseres Arbeitsmarkts, die gegen- Level befinden und noch nicht darüber hinaus gekom- wärtig zu hoch ist. Dafür stehen Sie ebenso wie wir im men sind. Vermittlungsausschuss in der Verantwortung. Es muss eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation zustande (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen. und bei der SPD) 6208 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Fritz Kuhn (A) Lassen Sie uns einmal einen Blick darauf werfen, was dass die Märkte wieder Vertrauen in die Finanzpolitik(C) die Union alles aufbietet. Herr Merz vertritt fröhlich sei- haben. nen Vorschlag zur Einkommensteuerreform in der Öf- fentlichkeit, obwohl sich massive Lücken in der Finan- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Mit 43 Mil- zierung auftun. Sie haben über 30 Milliarden Euro nicht liarden Euro neuen Schulden!) dargestellt, weil Sie es nicht für notwendig gehalten ha- Deswegen formuliere ich es ganz einfach: Wenn Sie das ben, Ihr Konzept konsistent im Verhältnis zu den Vor- Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform blockieren, schlägen der Herzog-Kommission zu entwickeln. Dem dann machen Sie deutlich, dass Sie nicht an einen Kon- guten Eichel werfen Sie aber vor, er mache keine konsis- junkturaufschwung glauben und dass Sie letzten Endes tente Finanzpolitik. aus politischem Kalkül heraus – hören Sie gut zu – die Arbeitslosen in Geiselhaft für eine Unionsstrategie neh- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Dem guten men, die nicht mehr dem Land, sondern nur noch, so Eichel?) glauben Sie jedenfalls, der Stärkung der Position der In Ihrem eigenen Vorschlag fehlen 30 Milliarden Euro. Union dient. Das werden wir nicht mitmachen. Zwei Tage, nachdem Sie mit Ihrem Vorschlag an die Öf- Jetzt müssen alle zugunsten der Arbeitslosen zusam- fentlichkeit gegangen sind, mussten Sie in entscheidenden menstehen. Wer dem Vorziehen der letzten Stufe der Punkten – nämlich bei der Abschaffung der Gewerbe-Steuerreform nicht zustimmt, der versündigt sich an der steuer und beim Arbeitnehmerpauschbetrag – einlenken, Konjunktur. Ich kann die Spielchen der Union in dieser weil Ihre Partei selber gemerkt hat, wie unsozial Ihr Vor- Frage nicht mehr nachvollziehen. Bedenken Sie: Auch schlag im Kern gewesen ist. Sie haben Verantwortung für Deutschland! Nehmen Sie (Widerspruch bei der CDU/CSU) sie wahr, und zwar möglichst schnell! – Warum haben Sie denn sonst den Vorschlag geändert? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dann erklären Sie doch einmal, wie man monatelang ein und bei der SPD) Ei ausbrüten kann, um schließlich das, was dabei heraus- kommt, infrage zu stellen und zu korrigieren. Das ist die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: merzsche Steuerreformpolitik, die eine kurze Halbwerts- Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von zeit hat. der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (B) Oder Stoiber: Erst wird lange angekündigt, dassren! Herr Eichel und Frau Humme summen die gleiche (D) Stoiber Deckungsvorschläge machen werde. Wir waren Melodie. Herr Eichel behauptet: Wir haben den Haushalt ganz entzückt, dass endlich etwas kommen sollte. Aber konsolidiert und Schuldenabbau ist unser edelstes Ziel. das, was vorgelegt worden ist, bedeutet eine Politik zu- Die Wirklichkeit ist aber das exakte Gegenteil. Herr lasten der Gemeinden und der Beschäftigten in Ost-Eichel, im 13. Jahr der Wiedervereinigung ist das ge- deutschland, die man mühsam in AB-Maßnahmen unter- samtstaatliche Defizit doppelt so hoch – ich betone: dop- gebracht hat; denn die entsprechenden Mittel sollenpelt so hoch – wie das negativste gesamtstaatliche Defi- einfach gestrichen werden. Weil es in Bayern nur 3 000 zit zur Zeit von Theo Waigel. Frau Humme, Sie haben solcher Maßnahmen gibt, glaubt man, elegant auf den eine Wirklichkeit der Familien beschrieben, die draußen Osten verweisen zu können. Auch die Mittel der Bun- im Land niemand kennt. Sie haben sogar behauptet, Sie desanstalt für Arbeit für die Weiterbildung sollen ge-hätten eine Politik für Familien betrieben, die die Kon- kürzt werden. Das ist eine unsoziale und auch keine kon- junktur belebt habe. Was daraus geworden ist, können sistente Politik. Unter dem Strich ist Kollege Stoiberwir an den jetzt vorliegenden konjunkturellen Daten ab- übrigens nicht auf die Summe gekommen, die manlesen. Sie leben in einer irrealen Welt. braucht, um das Vorziehen der letzten Stufe der Steuerre- form insgesamt zu finanzieren. Seine Vorschläge reichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nur zur Finanzierung eines ganz kleinen Bereichs aus. der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine Debatte wie die heutige kann aber nicht gelingen, und bei der SPD) wenn wir von Anfang an nicht wenigstens ehrlich sind. Sie reden alles schön und erwarten von uns, dass wir Ih- Ich möchte an diesem Beispiel nur deutlich machen,ren Winkelzügen so schnell wie möglich folgen. Sie soll- dass Sie es sich zu einfach machen. Die Zeit, zu der Sie ten lieber innehalten und darüber nachdenken, worauf es konkret sagen müssen, was Sie eigentlich wollen, istankommt. jetzt reif. Wir werden dafür sorgen, dass die Bevölke- rung merkt, dass Sie sich monatelang mit Neinsagen be- Herr Kuhn, Sie haben gesagt, wir sollten den Hartz- gnügt haben und nichts Konstruktives beigetragen ha- Reformen I, II und III zustimmen. Aber wie haben Sie ben. sie verwässert! Diese Reformen werden uns nicht helfen, das zu erreichen, was wir brauchen. Was ist mit der Ge- Wir sind überzeugt, dass wir eine konsequente Fi-meindesteuerreform? Wer hat denn die Senkung der Ge- nanzpolitik brauchen, die antizyklisch konsolidiert. Zum werbesteuerumlage gefordert? Wir lehnen den Teil Ihres jetzigen Zeitpunkt kommt es entscheidend darauf an,Konzeptes ab, der zu zusätzlichen Steuererhöhungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6209

Hartmut Schauerte (A) führen wird. Das werden wir mit Ihnen im Vermittlungs- gen. Das machen wir nicht mit. Das lassen wir Ihnen(C) ausschuss noch klären müssen. nicht durchgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Herr Eichel und Herr Clement, natürlich ist die mo- mentane Situation dramatisch. Es gibt Instrumente, die Es ist eine verdammt schwierige Situation. Das Haus richtig sind, aber zur rechten Zeit. Man muss auch ernst- brennt und wir wissen darum. Wir werden uns in die haft prüfen, ob die bestehenden Instrumente jetzt noch Verhandlungen im Vermittlungsausschuss intensiv ein- helfen oder ob sie verändert werden müssen. Wir von der bringen. Ich sage Ihnen: Mit Ihrem Hochmut, mit Ihrer Union haben immer gesagt, dass niedrige SteuersätzeUneinsichtigkeit, mit Ihrem Festhalten an dem falschen gut und wichtig sind, weil sie der Volkswirtschaft helfen. Rezept der Verschuldung kommen wir nicht zu einem Es ist besser, wenn das Geld bei den Menschen und nicht Ergebnis. Gehen Sie in sich! Ändern Sie sich! Wir wer- beim Staat ist, der damit nicht umgehen kann, wie wir den unsere Kooperationsbereitschaft unter Beweis stel- das bei Ihnen beispielhaft erkennen können. len. Die Grunddaten, vor denen das stattzufinden hat, ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- ben Sie mittlerweile so katastrophal gemacht, dass bei chen bei der SPD – Peter Dreßen [SPD]: Das diesen Haushaltsdaten die Operation, über Steuersen- war eine Glanzrede!) kungen zu agieren, so schwierig, so gefährlich und so riskant ist wie noch nie zuvor. Da sind wir in einem ech- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten Dilemma. Bei relativ einfachen Verhältnissen kann Das Wort hat jetzt der Bundesminister Wolfgang man das machen und hat man die Hoffnung, dass etwas Clement. daraus wird. In dieser Situation aber ist das – ich sage es noch einmal – schwieriger als jemals zuvor. Wenn dann Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft noch Vertrauen nicht hergestellt ist, das Vertrauen darauf und Arbeit: nämlich, aus der Steuersenkung bestimmte Erträge für Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die „Fi- sich herauszuholen, dann ist die Gefahr, dass der Scha- nancial Times Deutschland“ hat heute eine auch journa- den größer als der Nutzen ist, verdammt groß. listisch ganz feine Schlagzeile. Sie lautet: „Deutschland Wir, die Union, tun uns in dieser Frage schwer, weil entkommt Rezession“. Die Unterzeile lautet: „Wirtschaft wir nicht erkennen, dass Sie wirklich bereit sind, alles zu setzt zur Erholung an – Einkaufsmanager und Invest- tun, damit diese letzte Operation, die wir angesichts der mentbanker optimistisch“. Ich brauche das nicht weiter (B) hohen Verschuldung machen können, nicht durch andere zu belegen. Sie alle kennen die Daten, die es dazu gibt. (D) Operationen so gefährdet wird, dass wir das, was wir da- Das ist die Situation, in der wir uns bewegen. Sie ist völ- für ausgeben, vergeblich ausgeben. In diesem Fall hätten lig anders als die, die Sie geschildert haben. Sie haben wir Chancen verspielt, die wir unter soliden Verhältnis- die Situation in Deutschland auf eine zum Teil absurde sen sonst hätten nutzen können. Das ist das eigentliche Weise dargestellt. Problem, das wir miteinander haben. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Gu- Ich kann Sie einfach nur auffordern: Hören Sie damit cken Sie sich die Statistik der Beschäftigung an!) auf, nur über die Verschuldung zu gehen! Herr Finanz- minister, obwohl Sie Zustimmung im Bundesrat brau- Wir sind in einer Phase, in der die Zeichen auf Erho- chen, haben Sie bis heute nichts anderes getan, als zu sa- lung stehen und in der wir alles tun müssen, um die wirt- gen: Wir finanzieren das über Verschuldung. – Sieschaftliche Erholung zu verstärken. kommen mir vor wie jemand, der hofft, dass es nicht passiert. Sie hintertreiben den Kompromiss, weil Sie (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war vor sich an keiner Stelle bewegen. einem Jahr auch so! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das haben wir vor einem Jahr (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schon gehört!) Ach, Herr Schauerte!) Das ist allen vor Augen. Das ist auch oft genug geschil- Wie eine Monstranz tragen Sie das Reizwort „Wir finan- dert worden. Schauen Sie sich nur das Gutachten der zieren das über Verschuldung“ vor sich her und wundern Sachverständigen an! Die Sachverständigen erwarten im sich, dass die Opposition mit verdammt guten Gründen nächsten Jahr ein Wachstum von 1,7 Prozent. Sie stützen sagt: Dann mit uns nicht. diese Erwartung hauptsächlich auf drei Faktoren. Bewegen Sie sich im Vermittlungsausschuss! Kom- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: men Sie mit einem Konzept! Längere Arbeitszeit!) (Christel Hummel [SPD]: Heuchelei! – Peter Der erste Faktor ist die andere Feiertagsregelung, die uns Dreßen [SPD]: Wer laut schreit, hat immer der Kalender im nächsten Jahr beschert. Unrecht!) (Zuruf von der CDU/CSU: 0,6 Prozent!) Sie stehen im Verdacht, die Steuersenkung hintertreiben – Das führt zu 0,6 Prozent Wachstum. – Der zweite zu wollen, weil Sie sich an keiner Stelle beweglich zei- Faktor ist die Steuerreform, Herr Kollege Merz. Die 6210 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Sachverständigen setzen da ein Wachstum von bis zuonsrunde endlich hinter sich lassen, in der wirklich(C) 0,4 Prozent an. nichts Neues beigetragen wird, (Zuruf von der CDU/CSU: Die Minderheit der (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Grei- Sachverständigen!) fen Sie unsere Vorschläge auf!) Der dritte Faktor ist der Export. außer dass Sie gelegentlich ein Bild von der Bundesre- publik malen, bei dem man nur noch den Kopf schütteln Woran es in Deutschland fehlt, ist die Binnenkon-kann. junktur. Einen weiteren Punkt spreche ich sehr deutlich an, um (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: den Sie nicht herumkommen werden. Sie haben es mit Vertrauen fehlt!) einer Bundesregierung zu tun – Sie können sie zwar – Genau, das Vertrauen der Menschen fehlt. Weil wir die wegbeten wollen, aber auch das wird nicht gelingen –, Menschen darin bestärken müssen, dass es aufwärtsdie jetzt zehn Reformgesetze auf dem Tisch hat, die jetzt geht, ist ein Verzicht auf die Steuerreform zum jetzigen realisiert werden müssen; dies bestätigt übrigens der In- Zeitpunkt unverantwortbar. ternationale Währungsfonds. Der Währungsfonds sagt beispielsweise: Die volle Umsetzung der Reformen ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entscheidend für den Erfolg und für den Beitrag, den DIE GRÜNEN) Deutschland zum globalen Wachstum leisten kann. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf die Steuerreform. Ich Ich hoffe, dass auch Sie das wissen, dass das wirklich kann Ihnen nur empfehlen, dies wirklich ernst zu neh- klar ist. men. Es ist unser Anliegen, es Ihnen heute vor Augen zu Das mangelnde Verbrauchervertrauen, die Unsicher- führen. heit, die große Kaufzurückhaltung haben natürlich damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu tun, dass die Menschen nicht wissen, was geschieht. DIE GRÜNEN) Zu nennen sind der lange Schatten des Zauderns und Zö- gerns, die endlosen, sich geradezu im Kreise drehenden Sie fragen immer wieder nach der Finanzierung. Sie Debatten, die schon unsereiner kaum noch ertragenist Ihnen von Herrn Kollegen Eichel dargestellt worden, kann, ganz zu schweigen von den Menschen, die inso- die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie mögen mit ih- fern keine professionelle Abstumpfung haben, sondern nen nicht übereinstimmen, aber dann werden Sie eigene die damit tagtäglich umgehen müssen. Das ist das Pro- Vorschläge machen müssen. blem. (B) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben wir doch getan!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang ist richtig, was der Herr Zweitens. Sie haben nach der Arbeitsmarktlage ge- Kollege Kuhn vorhin zu den Vorschlägen von Herrn fragt. Herr Kollege Merz, im Oktober waren in Deutsch- Stoiber gesagt hat, wonach die AB-Maßnahmen noch land 55 000 Menschen weniger arbeitslos als im Vormo- weiter zurückgeführt werden sollten, als wir dies tun. nat. Wir haben sie in diesem Jahr bereits um 56 000 reduziert und sind jetzt noch bei 140 000. Die noch laufenden AB- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Maßnahmen werden nahezu ausschließlich in Ost- 220 000 mehr als im Vorjahr!) deutschland durchgeführt. Saisonbereinigt gibt es 12 000 Arbeitslose weniger. Sai- (Zuruf des Abg. Jochen-Konrad Fromme sonbereinigt hat sich die Zahl der Arbeitslosen um insge- [CDU/CSU]) samt 60 000 verringert; die Arbeitsmarktlage ist also in den letzten Monaten insgesamt besser geworden. Sie ist – Hören Sie doch einfach einmal zu! natürlich immer noch bei weitem zu schlecht, allerdings Kein einziger ostdeutscher Ministerpräsident kann inzwischen schon besser, als eine Fortschreibung derdiese Vorschläge von Herrn Stoiber unterstützen; keiner bisherigen Wachstumserwartungen nahe gelegt hätte. von ihnen wird sie unterstützen. Nach unseren Erwartungen und nach den Schätzun- Im Hinblick auf die Reformvorhaben müssen wir in gen der Fachleute wird es in diesem Jahr durchschnitt- eine sehr konkrete Phase kommen. Der Bundeskanzler lich 4,39 Millionen Arbeitslose geben. Im nächsten Jahr hat angeboten, dies zu tun. Ich kann, ehrlich gesagt, wird die Arbeitslosigkeit jahresdurchschnittlich weiter nicht verstehen, dass Sieglauben, diese Vorhaben so heruntergehen, zunächst ganz leicht in der ersten Jahres- wegreden zu können – ich vermute, dass dies auch viele hälfte und dann wird sich dies um so stärker fortsetzen. Menschen nicht verstehen –; vielmehr wird die Umset- All diese Prozesse müssen wir natürlich unterstützen. zung der Reformvorhaben stattfinden müssen. Um die Konjunkturlage zu stimulieren und um damit Ich sage es Ihnen noch einmal: Die Steuerreform, die auf längere Sicht, bis weit ins nächste Jahr hinein eine Gemeindefinanzreform, die Reform der Systeme der so- Wirkung auf den Arbeitsmarkt ausüben zu können, brau- zialen Sicherung, die Reform des Arbeitsmarktes, die chen wir eine Stimulierung durch die Steuerreform. Des- Handwerksordnung und anderes, insgesamt zehn Ge- halb ist meine dringende Bitte, dass Sie diese Diskussi- setze, liegen auf dem Tisch. Wir können auf keines die- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6211

Bundesminister Wolfgang Clement (A) ser Gesetze verzichten. Weil ich auch dann, wenn Sie Wir treten in aller Ruhe und in aller Gelassenheit in(C) nicht so reden wie heute, genauer hinhöre, weiß ich, dass einen Wettbewerb darum ein. Herr Kollege Merz, wie Sie auf diesen Feldern ebenfalls entsprechenden Re-Sie wissen, wird man die mit einer solchen Steuerreform formbedarf sehen. Also werden wir diese Schritte tunverbundenen Fragen – Sie sind Fachmann in diesem Be- müssen. reich – nicht von heute auf morgen beantworten können; dazu braucht man etwas mehr Zeit. Ich bin dafür, diese (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die alle ver- Zeit zu nutzen und diesen Wettbewerb auszutragen. Ich bessert werden müssen!) brauche jetzt nicht aufzuzeigen, was im Hinblick auf – Herr Kollege Schauerte, es sei Ihnen noch einmal ge- das, was Sie vorgeschlagen haben, kritisch zu sehen ist. sagt: Sie müssen sich wirklich endgültig an den Gedan- Wir müssen uns wirklich an einfachen Steuermodellen ken gewöhnen, dass es eine Bundesregierung und eine orientieren. Über solche Modelle sollten wir streiten. Ich regierende Koalition gibt, die die Mehrheit haben, wie bin dafür, dass die verschiedenen politischen Kräfte ihre mehrfach gesagt wurde. Sie werden sie auch mit noch so Modelle nebeneinander stellen. Ich hoffe, dass wir da- lauten Tönen nicht wegblasen können. Ebenso sollten durch zu Ergebnissen kommen. Sie nicht glauben, im Vermittlungsverfahren gäbe es ei- Wir haben dann noch nicht all das erreicht, was in nen unendlichen Spielraum; auch darüber sollten wir uns Deutschland geschehen muss; allerdings müssen die einmal klar werden. jetzt vorliegenden zehn Reformgesetze, ob verändert Um es in allem Ernst zu sagen: Wir sind in der Lage, oder unverändert, in Kraft gesetzt werden. eine ganze Menge durchzusetzen. Zum Schluss stehen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Verbessert!) Sie nur noch vor drei Fragen: Was sagen Sie zu einer Steuersenkung in Deutschland, die eine Familienkompo- Sie wissen, dass Sie dabei in der Verantwortung stehen. nente hat, wonach 37 000 Euro für eine Familie mit zwei Wir werden diese Verantwortung einfordern und wir Kindern steuerfrei sind? Wir haben eine Steuerreform werden – davon bin ich überzeugt – auch zu Ergebnissen vorgeschlagen, über die Sie mit zu befinden haben und kommen. für die Sie dann auch Verantwortung haben. Ich muss wirklich sagen: Manchmal könnte man, Die beiden anderen Fragen beziehen sich auf die Ge- wenn man nicht ein ganz fester Charakter wäre, in De- meindefinanzreform, die dann auf dem Tisch liegenpressionen verfallen. Die Debatten und die Vorwürfe, die wird, und auf die von uns darüber hinaus vorgesehene wir uns hier leisten, gehen auf keine Kuhhaut. Entlastung der Kommunen im Bereich der Sozialhilfe, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die wir ihnen abnehmen möchten. Wenn Sie nicht Acht DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: (B) geben und weiter so debattieren wie jetzt, dann werden Das stimmt! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: (D) Sie zum Schluss ganz allein vor diesen drei Fragen ste- Da wenden Sie sich mal an die eigene Fraktion!) hen; man kann alle seine Rollen auch überziehen. Alle anderen Fragen werden wir mit den bestehenden Mehr- Es wäre wirklich besser, wenn wir uns auf das konzen- heiten beantworten. trierten, was die Menschen in Deutschland von uns in An- betracht der Wirtschaftslage erwarten. Herr Schauerte, Ich bitte Sie in vollem Ernst und in aller Eindringlich- machen Sie sich nichts vor! Warten wir einmal ab, zu keit: Wir erwarten, in ganz Deutschland erwartet die Öf- wessen Gunsten sich die Reformen parteipolitisch aus- fentlichkeit, erwarten die Bürgerinnen und Bürger wie wirken! Aber darüber nachzudenken ist jetzt nicht un- die Unternehmen, dass jetzt die fälligen Schritte getan sere Aufgabe. werden. Wir alle hier haben wirklich eine patriotische Verant- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Von wortung wahrzunehmen. Ich möchte uns gerne darin be- Ihnen erwartet die Öffentlichkeit gar nichts stärken, das zu tun. Ich werde mich daran beteiligen. mehr!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wir auch!) Herr Kollege Merz – es wird Ihnen nicht anders als Sie müssen wissen, dass eine Regierung und eine Re- mir ergehen –, ich habe noch kein Gespräch mit einem gierungskoalition Verantwortung tragen und daher han- Wirtschaftsverband oder mit einem Unternehmen ge-deln werden. Die entsprechenden Angebote sind ge- führt, in dem ich nicht gefragt worden bin: Kommt die macht worden. Aber auchSie tragen Verantwortung. Steuerreform denn nun endlich? Vorhin haben Sie das Lassen Sie uns diese gemeinsam wahrnehmen, und zwar Ganze so läppisch beiseite getan. Ehrlich gesagt, dasauf den Feldern, die jetzt in Rede stehen. reicht nicht. Ich danke Ihnen sehr. Selbstverständlich bin ich sehr dafür, einen Wettbe- werb um den besten Entwurf für ein wirklich vereinfach- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tes Steuerrecht auszutragen. Wie alle anderen hier halte DIE GRÜNEN) ich das jetzige Steuerrecht in Deutschland für nicht ideal; ein Steuerrecht, das ein Normalbürger nicht mehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verstehen und nicht mehr nachvollziehen kann, ist nicht Das Wort hat jetzt die Kollegin Hannelore Roedel von gut. Diesen Zustand müssen wir überwinden. der CDU/CSU-Fraktion. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 6212 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Hannelore Roedel (CDU/CSU): Durch die geplanten Einschnitte beim Erziehungsgeld (C) Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolle- wird jede dritte Familie den Anspruch auf diese Leistung ginnen und Kollegen! Die Stimmung und die Lage inverlieren. Dabei sind wir uns doch alle einig, dass Fami- Deutschland sind verheerend: Die Zahl der Arbeitslosen lien gerade in der Gründungsphase deutliche Unterstüt- ist beängstigend hoch und die Lohnnebenkosten sind auf zung brauchen. Rekordniveau. Nach Umfragen fürchtet jeder zweite (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bürger um seinen Arbeitsplatz; 48 Prozent der Bevölke- rung sehen unsere Sozialsysteme vor dem Zusammen- Deswegen halten wir diese Maßnahmen gesellschaftlich bruch. Das Kabinett hat soeben die höchste Neuver-und ökonomisch für ein falsches Signal der Bundesre- schuldung in der Geschichte dieses Landes beschlossen. gierung. Da die Bürger wissen, dass die Staatsschulden von heute mit den Steuern von morgen bezahlt werden müssen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fehlt ihnen das Vertrauen in die Zukunft. Ab dem 1. Januar 2004 soll Schluss mit der Eigen- heimzulage sein. Auch dies widerspricht allen Verspre- Viel zu lange ist mit Notoperationen an unserem Steu- chungen und Vorsätzen, besonders Familien mit Kindern ersystem herumgedoktert worden. Auch das Vorziehen in diesem Lande zu fördern; vielmehr bestraft man sie. der dritten Stufe der Steuerreform wird an dem katastro- Gerade bei jungen Familien, deren Finanzausstattung phalen Zustand unseres Landes nichts ändern. ohnehin meist dürftig ist, gibt oftmals die steuerliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Förderung den Ausschlag für die Entscheidung zum Bau neten der FDP – Dr. Cornelia Sonntag-Wolgast oder zum Kauf eines Eigenheims. Die eigenen vier [SPD]: Was soll diese Schwarzmalerei?) Wände stehen an erster Stelle auf der Wunschliste von Familien und Arbeitnehmern. Eine Finanzpolitik auf Zuruf, wie Kanzler Schröder und Herr Eichel sie fordern, können wir nicht unterstützen. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Zu Recht!) Natürlich begrüßen auch wir von der Union steuerliche Entlastungen. Auch wir wollen, dass Familien, Arbeitneh- Die völlige Streichung der Eigenheimzulage ist deshalb mer und Unternehmen möglichst rasch, aber eben auch ef- sowohl aus familienpolitischer, als auch aus ökonomi- fektiv entlastet werden. Das ist bei dem Vorziehen derscher Sicht falsch; gar nicht zu reden von dem, was das Steuerreform durch Rot-Grün genau nicht der Fall; denn für die spätere Altersversorgung bedeutet. Finanzminister Eichel plant, die Finanzierungslücke von Lassen Sie uns doch Klartext reden: Das Vorziehen einem Jahr mit der dauerhaften Streichung von Steuerver- der dritten Steuersenkungsrunde führt zu keiner Netto- (B) (D) günstigungen – etwa die Abschaffung der Eigenheimzu- entlastung des Steuerbürgers. Im Gegenteil, es werden lage, die Kürzung der Pendlerpauschale und des Erzie- insbesondere Arbeitnehmer und ihre Familien mit zu- hungsgeldes – zu schließen. sätzlichen Belastungen konfrontiert. Darüber hinaus, meine Damen und Herren, ist dieser Gesetzentwurf – wir Es ist doch unbestritten – darüber sind wir uns einig –, haben das heute gehört – sowohl in finanzieller als auch dass die Familie das Kernelement in unserer Gesell- in konjunktureller Hinsicht der falsche Ansatz. Warum? schaft ist. Angesichts der demographischen Entwicklung Weil Finanzminister Eichel diese Steuerentlastung größ- in Deutschland ist ihre Bedeutung heute so groß wie nie tenteils auf Pump finanzieren will und damit eine noch zuvor. Umso unverständlicher ist es, dass die Regierung höhere Überschreitung der EU-Stabilitätskriterien vor- nun gerade bei den Familien die Entlastung durch einen sätzlich in Kauf nimmt. Weil auch die Länder und Kom- niedrigeren Steuertarif durch die anderen Maßnahmen munen von Steuerausfällen betroffen sind und es ihnen zunichte macht. Der Staat nimmt den Bürgern das, was keiner zumuten will, noch weitere Schulden aufzuneh- er ihnen vorher durch Steuersenkung gegeben hat. men oder noch weitere Leistungen streichen zu müssen, Die familienfeindlichste Maßnahme ist die Kürzung die den Bürgern in den Städten zugute kommen. Und der Entfernungspauschale. weil es ein Irrglaube ist, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, anzunehmen, dass vom Vor- (Caren Marks [SPD]: Das ist der Vorschlag ziehen der dritten Stufe der Steuerreform ein wesentli- von Merz! – Christel Humme [SPD]: Kommu- cher Impuls für das Wirtschaftswachstum in Deutsch- nikation mangelhaft!) land ausgehe und der marode Arbeitsmarkt belebt werde. Ein Arbeitnehmer, der täglich 50 Kilometer zur Arbeit fährt, verliert nach Ihren Vorschlägen 2 660 Euro an Deshalb komme ich zu dem Fazit: Das bestehende Werbungskosten. Durch diese Maßnahme wird nicht nur Steuerrecht ist ungerecht – wir sind uns darin einig. Es die beschäftigungsfördernde Mobilität eingeschränkt, es gibt 100 Steuergesetze, 500 ergänzende Schreiben des werden nach meiner Prognose die Steuerabzüge für dop- BMF und knapp 100 000 Verwaltungsvorschriften. In pelte Haushaltsführung steigen und Familien werdendiesem Steuerdschungel, durchzogen von Ausnahmen auseinander gerissen, weil auswärts beschäftigte Ehegat- und Sonderbestimmungen, sind die Bürger verloren. So- ten aus finanziellen Gründen nicht mehr täglich nachgar die Leiter von Finanzämtern haben dies der Öffent- Hause fahren können und deshalb eine Wohnung am Ar- lichkeit gegenüber bekannt. Heute, meine Damen und beitsort einrichten werden. Wünschen Sie sich die Wo- Herren, ist der clevere und teuer Beratene im Vorteil und chenendehe aus steuerlichen Gründen? der ehrliche Steuerzahler ist der Dumme. Deswegen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6213

Hannelore Roedel (A) brauchen wir eine tief greifende Steuerwende, die für Eine wahrhaftige Argumentation würde die Ursachen (C) klare, einfache und gerechte Steuerregeln sorgt und die der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ansprechen. Sie re- soziale Balance wahrt. den so, als habe es keinen 11. September und keinen Irakkrieg gegeben. Zwei Aspekte müssen für uns dabei im Vordergrund stehen: zum einen die Entlastung von Familien mit Kin- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ach Gott!) dern Sie reden so, als habe es keine Börsenblase und auch nicht deren Platzen gegeben. Der DAX lag bei 8 000 Punkten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und ist im letzten Jahr bei 2 200 Punkten angekommen. Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Dies hatte negative Folgen für Banken, Versicherungen und für die Kreditwirtschaft. Daraus ergaben sich Pro- Hannelore Roedel (CDU/CSU): bleme für den Mittelstand. Tun Sie nicht so, als habe dies – ich komme zum Schluss, Herr Präsident –, zum an- die Politik zu verantworten. Wir sind mit Problemen kon- deren, dass sich Leistung in Zukunft wieder lohnt. Las- frontiert, die eben nur gemeinsam zu lösen sind. sen Sie uns daran arbeiten. Wir erwarten Ihre Konzepte (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Warum dazu. können es andere Länder besser als wir?) (Beifall bei der CDU/CSU) Ihre Anklagen, die jeder Grundlage entbehren, sind fehl am Platze. Sie sollten sich an der Erarbeitung von Lö- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sungsmöglichkeiten und nicht an falschen Anschuldi- Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler von dergungen beteiligen. SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD)

Ludwig Stiegler (SPD): Wir Sozialdemokraten treten für die Senkung des Spit- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istzensteuersatzes ein. Das ist uns nicht leichtgefallen; denn schon ein seltsames Gefühl, hier die Vertreterin einerdamit sind, obwohl es auch für die Arbeitnehmer eine er- Partei das Hohelied der Familie singen zu hören, deren hebliche Senkung der Steuerlast gibt, durchaus vertei- Vorsitzender einst Theo Waigel war, dessen familien-lungspolitische Probleme verbunden. Wir haben uns mit feindliche Politik zweimal vom Bundesverfassungsge- Blick auf Handwerk, Mittelstand, Personengesellschaften richt verurteilt worden ist. und Einzelunternehmer bewusst für die Senkung dieses so genannten Investitionssteuersatzes entschieden. Sie haben (B) (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der doch häufig gesagt, der Spitzensteuersatz sei der Investi- (D) CDU/CSU) tionssteuersatz. Also muss die vorgezogene Steuerre- form jetzt kommen, damit die Investitionen in Gang Wir haben doch repariert, was Sie verbockt haben. Sie kommen. aber kommen hierher und singen das Hohelied der Fami- lie. Aber das sind wir ja von Ihnen gewohnt. In Schein- Der private Verbrauch ist das eine und die Investitio- heiligkeit werden Sie vonniemandem übertroffen. In nen, die für Wachstum notwendig sind, sind das andere. diesem Punkt ist Ihnen die Heiligsprechung sicher. Wenn Sie beim Vorziehen der Steuerreform nicht mitma- chen, dann versündigen Sie sich daran, dass der Investi- (Otto Fricke [FDP]: War das ein Zustim- tionsmotor nicht in Gang kommt. Sie sollten mit uns da- mungsgesetz oder nicht?) für kämpfen, dass sich Handwerk, Mittelstand und Meine Damen und Herren, was ich heute hier von der Einzelunternehmer wieder etwas trauen, weil sie durch Union gehört habe, erinnert mich an die berühmte Sont- niedrigere Steuern und damit durch höhere Erträge nach hofener Rede von Franz Josef Strauß Steuern für ihre Investitionen belohnt werden. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Ein (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Was ist guter Mann!) mit der Ausbildungsplatzabgabe?) in den schwierigen 70er-Jahren, in der er damals seinen Das ist der eigentliche Auftrag. jungen Leuten gesagt hat: Jetzt bloß keine Rezepte brin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen, nur Anklagen; es muss alles noch tiefer sinken, da- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit wir mit unseren Vorstellungen durchkommen. Gerade Sie sollten aufhören, Hans Eichel für die Ver- Ich sage Ihnen: So wie die Alten sungen, so zwit-schuldung anzuklagen. Wer wie Sie 1 500 Milliarden DM schern auch die Jungen. Ich habe das Gefühl, dass Sie im Schulden hinterlassen hat, für die 80 Milliarden DM Zin- Grunde genommen nur Ängste schüren wollen. Sie rei- sen zu zahlen sind, wer also im Glashaus sitzt, der sollte ten auf einer Negativwelle und zeigen überhaupt keinen mit Gummibällchen, aber nicht mit Steinen schmeißen. konstruktiven Ansatz. Manchmal habe ich den Eindruck, Auch das muss man Ihnen immer wieder sagen. Sie fürchten sich vor dem Aufschwung, weil Sie uns dann nicht mehr anklagen können. So ist Ihre mentale (Beifall bei der SPD) Verfassung. Der einzige Finanzminister der Nachkriegsge- (Beifall bei der SPD) schichte, der Schulden getilgt hat, war Hans Eichel. 6214 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Ludwig Stiegler (A) (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ In diesem Zusammenhang möchte ich aus einem In- (C) CSU – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Was? Aber terview mit CDU-Ministerpräsident Müller, Herr Stiegler!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: – Naturalmente. – Sie wollten das Geld damals verpras- Guter Mann!) sen und verbraten. Als es im Wahljahr darum ging, die das er gestern der „Berliner Zeitung“ gab, zitieren. Ich Hochwasserhilfe zu finanzieren, wollten Sie Schulden zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: machen. Hans Eichel hat die Finanzierung über Einnah- men organisiert. In der Krise prozyklisch zu sparen Es sind vor allem die Spitzenverdiener, die entlastet könnte Ihnen so passen. Sie wollen sich am Abschwung werden, und damit diejenigen, bei denen die Kon- weiden. Sie wollen als Untergangspropheten im Trüben sumbereitschaft deutlich geringer ist als bei den Be- fischen. Das ist Ihre Mentalität. Das ist aber im Interesse ziehern kleiner Einkommen. unseres Landes nicht verantwortbar. Das werden wir auch nicht zulassen. Ich interpretiere: nicht nur die Konsumbereitschaft, sondern auch der Zwang zum Konsum, denn die Bezie- (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte her kleiner Einkommen kommen nicht umhin, ihr ge- [CDU/CSU]: Der Karneval beginnt doch erst samtes Einkommen dafür zu verbrauchen, wie Sie wis- am 11.!) sen. Wir haben optimale Rahmenbedingungen: niedrige Herr Müller hat Recht: Die Steuerreform wird nicht Zinsen, Bilanzbereinigung bei Banken, Versicherungen die Konjunktur ankurbeln, sie wird nur zu höheren Steu- und Unternehmen, niedrige Lohnstückkosten. Wir sind erausfällen und höheren Defiziten in den Kassen des Exportweltmeister und der Ifo-Index zeigt nach oben. Bundes und der Länder führen. Justieren Sie Ihre Mundwinkel neu und schauen Sie opti- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) mistisch in die Zukunft, anstatt immer nur im Trüben zu fischen und den Untergang zu predigen! Deshalb ist diese so genannte Steuerreform konjunktur- politisch unsinnig. Sie führt aber auch zu einer sozialen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Schieflage. Dazu darf ich noch einmal Herrn Minister- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinrich- präsidenten Müller zitieren: Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wer schreit, der lügt! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Diese Man kann nicht auf der einen Seite der Rentnerin mit Rede hat dem Land keine neue Hoffnung ge- 900 Euro die Rente kürzen und auf der anderen Seite macht! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: den Porsche fahrenden Single mit 100 000 Euro Jah- (B) Schlecht angefangen und stark nachgelassen!) reseinkommen um 3 000 Euro entlasten. (D) (Zuruf des Bundesministers Hans Eichel) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, – Wenn Sie dazwischenrufen, Herr Eichel, dass die PDS fraktionslos. die CDU zitiere, kann ich Ihnen nur sagen: Wir entschei- den immer streng nach der Sache.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- Herr Müller macht einem mit diesem Interview rich- ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. tig Mut. Offensichtlich ist Herr Merz mit seinem Ziel der Das Verfallsdatum der von BundesfinanzministerEntsozialdemokratisierung der CDU doch noch nicht so Eichel vorgelegten Zahlen kann nicht mehr in Monaten weit gekommen, wie man befürchten musste. Aber an- angegeben werden, sondern nur noch in Wochen und Ta- scheinend gibt es einen Entsozialdemokratisierungswett- gen. lauf der Parteien, bei dem nicht nur Herr Merz ganz vorn mitläuft, sondern auch eine der beiden Vorsitzenden der (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stunden!) Fraktion der Grünen, Frau Katrin Göring-Eckardt – „Stunden“ war die Ergänzung von der FDP; wahr- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das scheinlich haben Sie Recht. können Sie nicht belegen, liebe Kollegin!) Die Nettokreditaufnahme soll mehr als verdoppelt wer- – ich zitiere gleich; hören Sie doch erst einmal zu, Herr den: Sie steigt von 18,9 Milliarden Euro auf fast 44 Mil- Kuhn –, liarden Euro. Erster Grund dafür: Die Steuereinnahmen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fallen um 12,5 Milliarden Euro geringer aus als geplant. Wo steht das?) Der zweite schwerwiegende Grund: Die Kosten für die Arbeitslosigkeit steigen um 12 Milliarden Euro. die die Demonstranten gegen Sozialkahlschlag am ver- gangenen Sonnabend als „Besitzstandswahrer“ diffa- In Anbetracht dieser Zahlen, in Anbetracht diesermierte. Verschuldung fragt sich doch jeder vernünftige Mensch, warum Sie, Herr Eichel, die Steuerreform um ein Jahr Das Vorziehen der Steuerreform ist falsch, weil die vorziehen und damit auf 22 Milliarden Euro Steuerein- soziale Schieflage in diesem Land dadurch weiter ver- nahmen verzichten wollen. stärkt wird. Sie geben zwar vor, den Beziehern kleiner Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6215

Dr. Gesine Lötzsch (A) und mittlerer Einkommen den einen oder anderen Euro (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sagen doch (C) mehr in die Tasche stecken zu wollen, vorsätzlich die Unwahrheit, Herr Poß!) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir werden dann folgenden Eingangssteuersatz haben: Der Eingangsteuersatz wird gesenkt! Wo leben Der erste verdiente Euro wird mit 15 Prozent besteuert. Sie denn?) Bei Ihnen wurde er mit 25,9 Prozent besteuert; das war leistungsfeindlich. Bei uns lohnt es sich wieder zu arbei- aber mit Ihren anderen Reformen, zum Beispiel der Ge- ten. Das unterscheidet uns von Ihnen. sundheitsreform, nehmen Sie aus den Taschen mindes- tens zehnmal so viel wieder heraus. (Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es ist bloß keine Arbeit da!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ahnungslosigkeit ist hier erlaubt! Ausdrücklich! Das ehrt Sie aber Schließlich soll der Spitzensteuersatz – das ist für die nicht!) mittelständische Wirtschaft durchaus von Bedeutung – von 53 auf 42 Prozent gesenkt werden. Damit liegen wir Ich denke, das ist unredlich. Darum ist diese Entschei- in Europa ganz unten. dung falsch. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir liegen Vielen Dank. ganz hinten!) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Wir haben eine volkswirtschaftliche Steuerquote, die mit unter 21 Prozent beunruhigend niedrig ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben es Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der immer noch nicht begriffen, Herr Poß! Die SPD-Fraktion. Steuerquote sagt doch nichts über die Steuer- last aus!) Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In 56 Ta- Denn wir müssen in der Tat überlegen, wie wir unsere gen könnten die deutschen Steuerzahler – Millionen von Zukunftsaufgaben finanzieren. 7,9 Millionen Bürger, das Familien, Arbeitnehmern und Unternehmen – um insge- heißt 27 Prozent aller Steuerbürger, werden, wenn wir samt knapp 23 Milliarden Euro steuerlich entlastet sein: die Steuerreformstufe vorziehen, keine Steuern mehr zahlen müssen. Die haben mit dem Finanzamt nichts (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie mehr zu tun. (B) doch nicht so einen Blödsinn! Gleich am An- (D) fang so die Unwahrheit!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die wollen mit Ihnen als Sozialdemokraten nichts mehr zu 23 Milliarden Euro mehr für Konsum und Investitionen tun haben! Brutale Rentenkürzungen!) sowie zur Stabilisierung des sich abzeichnenden wirt- schaftlichen Aufschwungs. Das sind insbesondere Geringverdiener und Durch- schnittsverdiener; entsprechende Zahlen wurden schon (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie genannt. Wir haben in den letzten fünf Jahren eine ein- doch einmal etwas von den 40 Steuererhöhun- drucksvolle Bilanz hinlegen können. gen, die zeitgleich in Kraft treten!) (Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele Herr Minister Clement hat vorhin auf den Ifo-Geschäfts- [FDP]: Sagen Sie noch etwas zu den Arbeits- klimaindex hingewiesen. Alles spricht für Aufschwung. losen?) Die Einzigen, die – offenbar aus rein parteitaktischen Gründen – etwas anderes behaupten und damit demDaran gibt es überhaupt nichts zu mäkeln. Land objektiv schaden, sind Sie von der Opposition. Sie sind sich bis jetzt nicht einig geworden, wie Ihr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Finanzierungskonzept zum Vorziehen der Steuerreform DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: aussehen soll. Also hat Frau Merkel die Ministerpräsi- Nein! Das stimmt ja nicht!) denten dazu vergattert, die Vorlage der Regierung mor- gen im Bundesrat abzulehnen. Sie weiß sehr wohl, dass Das ist verantwortungslos. das am Ende des Vermittlungsverfahrens nicht mehr möglich sein wird. Weil das jeder weiß und jeder Tag In diesem Zusammenhang muss man einmal auf das weitere Unsicherheit und weitere wirtschaftliche Schä- hinweisen, was wir in den vergangenen fünf Jahren der den nach sich zieht, ist dieses Verhalten angesichts unse- Verantwortung von Rot-Grün geleistet haben. 1998, in rer wirtschaftlichen Situation politisch verantwortungs- Ihrer Regierungszeit betrug das steuerliche Existenzmi- los. nimum 6 322 Euro. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn wir die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vor- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ziehen, beträgt das steuerliche Existenzminimum 7 664 Euro. Es kommt also zu einer erheblichen Steige- Herr Clement hat es gesagt: Es ist mit Blick auf die Ar- rung pro Steuerbürger. Bei Verheirateten ist es das Dop- beitslosen verantwortungslos. Ihnen ist das konkrete pelte. Schicksal der Menschen wohl gänzlich egal. 6216 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Joachim Poß (A) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Üble Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) leumdung! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Oh Herr Kollege Kampeter, ich möchte Sie darauf hin- Gott!) weisen, dass die Kennzeichnung „Sie sind ein übler De- Für Sie steht nur die Parteitaktik im Vordergrund. magoge“ nicht zum parlamentarischen Sprachgebrauch gehört. Wir sollten uns persönlicher Herabsetzungen ent- Keiner im Land nimmt Frau Merkel mehr ihre Leier halten. von der angeblich unseriösen Finanzierung ab. Ihr Argu- mentationsmuster ist nämlich ein Widerspruch in sich. Ich gebe dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Poß, Sie sind ein übler Demagoge!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie sagt, durch das Vorziehen der Steuerreform muss bei Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): den Bürgern etwas übrig bleiben. Sie sagt aber auch, die Finanzierung darf nicht auf Pump erfolgen. Wenn sie ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr fragt wird, welche Vorschläge sie denn selber mache,Kuhn, Sie haben eines völlig übersehen: Die Bürger- sagt sie, sie müsse keine Alternativen aufzeigen, weil sie meister haben gegen Sie demonstriert. Sie haben die keine Regierungsverantwortung habe. Kommunen in die Pleite und in die Verzweiflung getrie- ben. Das ist doch der wahre Grund. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Falsch!) (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Das ist ein Politikverständnis, das dem deutschen Parla- der SPD) mentarismus nicht entspricht. Die Steuerschätzer haben gerade offen gelegt: Zum drit- (Beifall bei der SPD) ten Mal hintereinander büßen die Kommunen mehr als Frau Merkel meldet sich als Vorsitzende der größten Op- Bund und Länder ein. positionsfraktion ab. Sie verzichtet darauf, den Bürgern Sie haben hier von zehn Gesetzen gesprochen. Das Alternativen zur Regierungspolitik vorzulegen. sind zehn Baustellen ohne Richtfest; daraus werden nie Herr Stoiber hat jetzt die Sprachlosigkeit beendet.Häuser. Wenn die Kommunen einen Strich unter die Seine Vorschläge wurden schon – auch aus den eigenen Rechnung ziehen, dann werden sie 2,2 Milliarden Euro Reihen – gewürdigt; darauf brauche ich nicht mehr ein- einbüßen und nicht entlastet. Das ist das Problem. zugehen. Er hat wohl die Notwendigkeit gesehen, das Wer wäre nicht für Steuersenkungen? Wir alle wollen Schweigen zu beenden, auch wenn seine VorschlägeSteuersenkungen. Denn die würden uns allen gut tun. Ich (B) gänzlich untauglich sind. sage Ihnen eines: Wir hätten sie haben können, wenn Sie (D) Der Regierungsvorschlag liegt auf dem Tisch. Das, – insbesondere Minister Eichel und Bundeskanzler was Herr Eichel vorgeschlagen hat, entlastet die Länder Schröder damals als Ministerpräsidenten – die Umset- im nächsten Jahr um 5,3 Milliarden Euro, ansteigend auf zung der Petersberger Beschlüsse nicht verhindert 7,3 Milliarden Euro in 2007. Bei den Kommunen beträgt hätten, die uns schon vor langem in den Stand versetzt die Entlastung 1,6 Milliarden bzw. 2,1 Milliarden Euro. hätten, den Sie jetzt erreichen möchten. Das ist doch das All das liegt auf dem Tisch. Problem. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Zu wessen Las- (Beifall bei der CDU/CSU) ten? Wer zahlt das denn?) Sie reden hier von einem Aufschwung. Das Einzige, Es fehlt nur an einem: Es fehlt an Ihrem Willen, im Inte- wo sich etwas tut, sind die Minijobs. Ich erinnere daran, resse des Landes an der politischen Gestaltung mitzuwir- dass Sie sie abgeschafft haben und wir sie wieder einge- ken. führt haben; denn Sie brauchten unsere Zustimmung bei Hartz I. Das ist also nicht Ihr Werk, mit dem Sie sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl- jetzt schmücken. Ludwig Thiele [FDP]: Was ist denn mit Koch/ Steinbrück?) Für den Aufschwung kommt es auf etwas ganz ande- res an. Es kommt auf die Summe der geleisteten Arbeits- Deswegen auch von meiner Seite die dringende Bitte: stunden an. Die Zahl der Stunden war bis 1999 anstei- Stimmen Sie dem Vorziehen der Steuerreform zu! Sie gend – der Aufschwung fing seinerzeit an – und seitdem wissen, das ist ab 2005 finanziert und in allen Haushalts- ist sie absteigend. Denn Sie haben den Aufschwung da- plänen vorgesehen. Verlassen Sie Ihre verantwortungs- mals mit Ihrer Politik abgewürgt. Das ist das Problem. lose Position! Ich weiß, wie die Umfragen derzeit für meine Partei und für Ihre Partei aussehen. Auf Dauer (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) geht das aber nicht gut. Wenn hier immer davon gesprochen wird, die ganze (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir wollen Umwelt sei so böse, dann verstehe ich eines nicht: Alle daran nichts ändern!) Länder – zum Beispiel die Italiener und die Franzosen – hatten die gleichen Probleme. Ich zitiere aus Ihrem Fi- Sie betreiben eine systematische Volksverdummung. nanzbericht vom Oktober: „Seit 1988 wuchs das franzö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sische Bruttoinlandsprodukt … deutlich stärker als das DIE GRÜNEN) deutsche.“ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6217

Jochen-Konrad Fromme (A) (Hans Eichel, Bundesminister: Und wie sieht Körperschaftsteuer weggesackt ist. Das nennen Sie so- (C) es jetzt aus?) ziale Gerechtigkeit, wenn die Großen überproportional entlastet und die Kleinen belastet werden? Das ist das Wenn das unter gleichen Rahmenbedingungen so ist,Produkt sozialdemokratischer Politik. dann muss es doch daran liegen, dass wir etwas anders – sprich: falsch – gemacht und die Franzosen etwas bes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ser gemacht haben. Joachim Poß [SPD]: Deswegen wollen Sie ei- nen Spitzensteuersatz von 36 Prozent?) Eine Steuerreform kann wirken – das wissen wir seit Stoltenberg –, aber nur vor dem richtigen Hintergrund Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wer wen entlastet. und im richtigen Rahmen. Wir liefern Ihnen die Alterna- Nach Ihrem Konzept wirdein Arbeitnehmer mit zwei tiven, die Sie immer einfordern. Wir haben zum Beispiel Kindern zwar um 1 000 Euro entlastet, muss inzwischen einen Antrag hinsichtlich des Arbeitsmarktes einge-aber einen um 320 Euro höheren Krankenkassenbeitrag bracht. Wir haben für die Sozialreformen das Herzog- zahlen. Bei Herrn Merz wird er um 4 780 Euro mehr ent- Konzept vorgelegt. Wir haben für die Steuerreformenlastet und steht wesentlich besser da. das Merz-Papier vorgelegt. Die Sachverständigen haben Glauben Sie doch nicht, dass die Menschen Ihnen Ihnen bescheinigt, dass all das, was Sie in den ersten noch auf den Leim gehen. Ihnen vertraut niemand mehr. fünf Jahren gemacht haben, falsch war und dass diese Das ist doch die ganze Krux. Konjunktureller Auf- konjunkturelle Lage deshalb ein Produkt Ihrer Politik ist. schwung basiert auf objektiven Fakten und auf einem (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) entsprechenden Klima. Weil diese Regierung nicht nur alle Erwartungen enttäuscht hat, sondern auch ständig Das Ergebnis der Anhörung zur Frage der vorgezoge- etwas versprochen, aber das Gegenteil dessen gemacht nen Steuerreform hat eines deutlich gemacht – in dieser hat, wird ihr niemand vertrauen. Deswegen kann ich Ih- Hinsicht gab es Übereinstimmung bei allen Sachverstän- nen nur eines sagen: Die beste Steuerreform wird nichts digen –: Es gibt zwei Voraussetzungen unter denen eine nützen, solange dieses Kabinett bleibt. Vertrauen kann Steuerreform Arbeitsplätze schaffen und einen Konjunk- nur wieder durch eine andere Regierung wachsen. turaufschwung bringen kann. Die erste Voraussetzung sind Stetigkeit und Verlässlichkeit. Sie haben mit Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ und mit neten der FDP) Ihrem „linke Tasche, rechte Tasche“ jeder Kalkulations- grundlage den Boden entzogen. Jetzt dürfen Sie sich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht wundern, wenn kein Aufschwung kommt. Die Aktuelle Stunde ist beendet. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: neten der FDP) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Sie haben gesagt: Steuerreform. Dann kam die Flut gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die und Sie haben gesagt: keine Steuerreform. Jetzt sagen Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus- Sie wieder: Steuerreform vorziehen. Sie wollen für die haltsplan für das Haushaltsjahr 2003 (Nachtrags- einmalige Entlastung dauerhaft die Abgaben erhöhen. haushaltsgesetz 2003) Damit ist die zweite Voraussetzung nicht erfüllt, nämlich eine Nettoentlastung, die am Ende stehen muss. Wenn – Drucksache 15/1925 – ich mir das Produkt Ihrer Politik anschaue und wie Sie Überweisungsvorschlag: mit den Menschen umgegangen sind – sämtliche Kon- Haushaltsausschuss sumsteuern, zum Beispiel die Ökosteuer, denen die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Menschen nicht ausweichen können, haben Sie erhöht –, Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Kon- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sumkraft fehlt und der Aufschwung nicht kommt. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist ich dem Bundesminister Hans Eichel das Wort. wohl wahr!) Aber dann fehlt natürlich auch das Vertrauen in die Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: künftige Entwicklung. Angesichts dessen, was Sie jetzt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und mithilfe von Steuersenkungen machen wollen, frage ich Herren! Es reizt mich wirklich, Herr Fromme, noch ei- mich: Wo bleibt die Gruppe der Arbeitslosen, wo bleibt nen kurzen Nachklapp zu machen. Es ist wirklich toll, die Gruppe der Rentner, wo bleibt die Gruppe der So- was Sie fertig bringen. Sie sagen: Lasst doch die Steuer- zialhilfeempfänger? Die zahlen doch dafür die Zeche. senkung sein; die Sozialhilfeempfänger haben nichts Sie kürzen die Renten, Sie rasieren die Rentner, damit davon und die Arbeitslosengeldempfänger haben nichts Sie möglicherweise an der einen oder anderen Stelle et- davon. Demgegenüber schlägt Herr Stoiber vor – das was erreichen. kommt alles aus Ihrer Partei –: Die Sozialhilfe muss ge- kürzt Sie brüsten sich – das ist ein Kennzeichen für Ihre so- ziale Gerechtigkeit – mit einer sinkenden Steuerquote. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Jetzt re- Warum ist denn die Steuerquote gesunken? Weil die den wir über Ihren Nachtragshaushalt!) 6218 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Bundesminister Hans Eichel (A) und die Arbeitslosenhilfe muss auf Sozialhilfeniveau ge- sind. Eine große Zahl europäischer Länder hatte in ihren (C) senkt werden, damit die Steuerreform finanziert werden Haushalten einen sehr viel größeren Pendelausschlag als kann. Herr Fromme, es ist schlicht unerträglich, welche wir in Deutschland. Widersprüche Sie von diesem Pult aus und auch Ihre (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Ihre Ver- Partei bieten. sprechungen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich will das festhalten, weil das in künftigen Debatten DIE GRÜNEN) noch eine ganz interessante Rolle spielen wird. Sie bringen es in einer einzigen Rede fertig, erst das Von der niedrigsten Staatsverschuldung im Jahre eine und dann das genaue Gegenteil dessen zu behaup- 2000 in Höhe von 1,2 Prozent – gemessen an den ten. Maastricht-Kriterien – sind wir jetzt bei über 4 Prozent, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt aber wobei eine Reihe anderer Länder – ich wiederhole das – zum Nachtragshaushalt! – Hans-Joachim ganz andere Pendelausschläge haben und jetzt auch an Fuchtel [CDU/CSU]: Sagen Sie mal etwas zu die Dreiprozentgrenze kommen, so zum Beispiel die den Schulden, Herr Eichel!) Niederlande. Auf der einen Seite sagen Sie, die Steuerreform müsse (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Pendel- komplett gegenfinanziert werden. Auf der anderen Seite theorie des Herrn Eichel! – Bartholomäus sagen Sie, wir wollen aber nicht das Prinzip linke Ta- Kalb [CDU/CSU]: Hoffentlich werden Sie sche, rechte Tasche. Das ist der komplette Widerspruch nicht ausgependelt!) in einer einzigen Rede, manchmal auch in zwei Sätzen Ich komme nun auf den Nachtragshaushalt zum nacheinander. Das ist Ihr ganzer Beitrag zu dieser De- Haushalt 2003 zu sprechen. Ursprünglich hatten wir ei- batte heute Nachmittag. Es ist schlicht nicht zum Anhö- nen Haushalt vorgelegt, in dem 18,9 Milliarden Euro an ren. Da hat der Kollege Clement Recht. Neuverschuldung vorgesehen waren. (Beifall bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nachdem Sie [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen die Alternativen 15,3 Milliarden angekündigt hatten!) aufgezeigt! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn Sie jetzt etwas zum Nachtragshaushalt Im März habe ich in der dritten Lesung klar darauf hin- 2003 sagen würden! – Hans-Joachim Fuchtel gewiesen, welche Risiken der Haushalt enthält und wel- [CDU/CSU]: Peinlich, Ihr Vortrag!) che Bedingungen erfüllt sein müssen. – Ja, es ist wirklich peinlich, was Sie hier bieten. Die Bundesanstalt für Arbeit hatte ankündigt, in (B) (D) (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das diesem Jahr keinen Zuschuss zu benötigen. Das war eine müssen Sie sagen!) Grundlage für den Haushalt. Dieses Versprechen ist nicht eingelöst worden. Nachtragshaushalt 2003: Hätten Sie mit der Konsoli- dierung doch früher angefangen! Wir haben in 1999 da- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zur Verant- mit angefangen und waren in 1999 und auch in 2000 da- wortung ziehen, Herr Minister!) mit erfolgreich. Wir hatten im Jahre 2000 die niedrigste Ich sage mit allem Freimut: Wenn die Bundesanstalt in Verschuldung des Gesamtstaates in einem Jahr seit der der Zukunft so etwas nochmals erklären sollte, stelle ich Wiedervereinigung. trotzdem keinen Haushalt mehr auf, in dem nicht ein Zu- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und was hilft schuss für sie enthalten ist. Das habe ich im März übri- uns das heute?) gens ganz deutlich gesagt. Die Ausgaben für den Ar- beitsmarkt einschließlich des Zuschusses machen den Wir waren als Bund im Jahre 2001 erfolgreich. Wir hat- einen Teil der zusätzlichen Neuverschuldung aus, näm- ten im Jahre 2001 die niedrigste Neuverschuldung des lich rund 12 Milliarden Euro. Bundes seit der Wiedervereinigung. Wofür brauchen wir die restlichen Mittel der zusätzli- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: chen Neuverschuldung? Basis für den Haushalt, den wir UMTS!) aufgestellt haben, war die Annahme von 1 Prozent Wirt- Das war mein drittes Jahr als Bundesfinanzminister. schaftswachstum in diesem Jahr. Diese Annahme deckte sich übrigens mit der Annahme des Sachverstän- Danach – das wollen wir uns mit aller Klarheit noch digenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen einmal ansehen – ging es mit der Wirtschaft steil ab-Entwicklung. Der Sachverständigenrat hat sich, so wie wärts. Herr Fuchtel, in den USA ist das Wirtschafts-alle anderen auch, geirrt. Das Wachstum liegt bei wachstum von 2000 auf 2001 von 3,9 auf 0,3 Prozent 0 Prozent. Deswegen müssen wir Steuermindereinnah- abgestürzt. men in der Größenordnung von rund 12 Milliarden Euro (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Hier!) verkraften, was zum Zeitpunkt der Aufstellung des Haushaltes noch nicht absehbar war. Aus diesen Grün- Wenn Sie sich einmal – darüber haben wir gerade den beträgt die Neuverschuldung statt 18,9 Milliarden wieder im Ecofin-Rat diskutiert – die Zahlen aller euro- Euro 43,4 Milliarden Euro. päischen Länder ansehen, werden Sie feststellen, dass alle europäischen Länder beim Wirtschaftswachstum (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: von 2000 auf 2001 mehr oder weniger stark abgestürzt Traurig, traurig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6219

Bundesminister Hans Eichel (A) Die Steuerschätzung kommt zu einem in geringem Wenn es darum geht, Gestaltungsmöglichkeiten bei(C) Maße anderen Ergebnis – es ist etwas günstiger – als den Großen einzuschränken – ich nenne als Stichwörter dem, das wir dem Nachtragshaushalt zugrunde gelegt Gesellschafterfremdfinanzierung und Mindestgewinnbe- haben. Ich sage aber ausdrücklich: Bei den Ungewiss- steuerung –, dann sind Sie plötzlich nicht mehr dabei. heiten, die in diesem Zusammenhang bestehen, rate ich Das ist doch scheinheilig. dem Bundestag, jetzt nicht noch Änderungen am Nach- tragshaushalt für die nächsten zwei Monate vorzuneh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men. DIE GRÜNEN) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Luftbuchun- Jedes Mal, wenn wir Gestaltungsmöglichkeiten eingren- gen! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unge- zen wollen, sind Sie – natürlich hinter verschlossenen wiss ist Ihre Politik! Das hat Herr Austermann Türen – der Sachwalter der Unternehmen. Das Steuerge- Ihnen schon im Frühjahr vorgerechnet! Hätten baren und die Gesetzgebung, die wir zu verantworten Sie im Frühjahr auf Herrn Austermann gehört, haben, prangern Sie dagegen als unsozial an. So schein- hätten Sie den Nachtragshaushalt schon da- heilig ist manchmal Ihre Politik. mals vorlegen müssen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ Ich rate, ihn so zu lassen, wie ich ihn eingebracht habe. CSU]: Unglaublich! – Bartholomäus Kalb Sie werden am Ende des Jahres wahrscheinlich um eines [CDU/CSU]: So scheinheilig wie Sie können wir Ihrer Vergnügen gebracht werden. Aber das ist Ihr Pro- gar nicht sein!) blem und nicht meines. Warum legen wir jetzt einen Nachtragshaushalt vor? Wer sich die Steuerschätzung ansieht, kommt zu dem Die Antwort ist einfach zu geben. Ich habe sie Ihnen Ergebnis – anders als Sie, Herr Fromme, gesagt haben –, aber schon vor der Sommerpause gegeben. Angesichts dass der Bund und die Länder getroffen worden sind, die des Wachstums von 0 Prozent wäre es nicht verantwort- Kommunen dagegen nicht. lich, bei wegbrechender Konjunktur und wegbrechenden (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steuereinnahmen mit großen Eingriffen hinterherzuspa- Richtig!) ren. Dies ginge nur bei Investitionen und in den Pro- grammhaushalten. Wir müssen aber die automatischen Ursache dafür ist, dass die Einnahmen aus der Gewerbe- Stabilisatoren wirken lassen – auch im Rahmen des eu- steuer wieder zunehmen. Das haben wir zwei Umstän- ropäischen Stabilitäts- und Wachstumspakets. den zu verdanken: Zum einen gab es eine Restrukturie- (B) rung im Unternehmenssektor, die nun weitgehend (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist großer (D) abgeschlossen ist. Der größte Teil der Unternehmen, der keynesianischer Unsinn der 70er-Jahre, den größte Teil der Versicherungen sowie die Banken sind Sie hier vortragen!) mittlerweile wieder in der Gewinnzone. Zum anderen Es würde die wirtschaftlichen Verhältnisse weiter ver- beginnt die Wirtschaft wieder anzuziehen. schlechtern. Genau das kann niemand wollen; denn da- Herr Fromme, Sie haben wieder einen Hinweis auf durch würde die Rückkehr zum Wachstum weiter verzö- die Körperschaftsteuer gegeben. Ich weiß nicht, ob Ih- gert werden. Deswegen müssen die automatischen nen bewusst ist, dass 85 Prozent der Unternehmen, die Stabilisatoren wirken und die Defizite in dieser Phase Körperschaften sind, mittelständische Unternehmenhingenommen werden. sind. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nein, wenn (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er versteht et- man am Abgrund steht, muss man sparen!) was von der Sache!) In den 90er-Jahren haben Sie das übrigens auch getan. Sie können nicht so tun, als seien das nur ein paar große (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Und was Unternehmen. Hier besteht aber ein ganz anderes Pro- haben Sie dazu gesagt?) blem. Herr Fromme, es ist schon ein starkes Stück, was Sie hier bieten. Wir haben Sie mit Mühe und Not im Ver- Erinnern Sie sich an die njährige ei Rezession, in der mittlungsverfahren im April dahin bekommen, bei den nicht wir, sondern Sie sich befanden, und daran, wie Sie großen Unternehmen die Möglichkeit der Gewinnver- sich damals verhalten haben? schiebung ins Ausland über die Verrechnungspreise zu Damit wir den Eintritt in den Aufschwung, für den es begrenzen. gute Aussichten gibt, nicht weiter verzögern, wäre es (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist falsch, einer abschwingenden Konjunktur hinterherspa- eine Ausrede!) ren zu wollen. Diese Verantwortung haben wir. Das heißt aber, dass man bei wieder anziehender Konjunktur umso Als es darum ging, auf dieser Basis eine Verordnung mit härter konsolidieren muss, wie wir das 1999 und 2000 Zustimmung des Bundesrats zu verabschieden, kamen auch getan haben. Hätten Sie das in den 90er-Jahren ge- von Ihnen wieder jede Menge Widerstände. tan, hätten Sie uns nicht so viele Schulden hinterlassen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie et- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was zum Nachtragshaushalt!) DIE GRÜNEN) 6220 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Bundesminister Hans Eichel (A) Es ist richtig, so zu verfahren, wie wir es hier angelegt bei den Menschen und den Betrieben, hinsichtlich des(C) haben. Ich hätte auch gerne ganz andere Zahlen verkün- Konsums und der Investitionen kein Vertrauen in eine det. In dieser konjunkturellen Situation war es aber rich- Wirtschaftsentwicklung bilden kann. Es ist wirklich em- tig, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. pörend. Es ist auch richtig, mit dem Dreiklang aus Strukturrefor- men, nachhaltiger Haushaltskonsolidierung und dem (Beifall bei der CDU/CSU) Vorziehen der Steuerreform aus diesem Tal herauskom- Herr Eichel, Sie können jede Zahl nehmen, die Sie men zu wollen; denn dadurch wird es zu einem Wachs- wollen: Nichts von dem, was Sie heute gesagt haben, hat tumsimpuls und nicht zu einer kontraktiven Wirkungdie derzeitige Situation richtig beschrieben. Es fing mit kommen. Dafür gibt es eine Chance. der Frage an, wie die Entwicklung außerhalb Deutsch- Die weichen und inzwischen auch die harten Daten lands und in Deutschland verlaufen ist. zeigen – darüber besteht Einigkeit –, dass der Wende- (Abg. Hans Eichel meldet sich zu einer punkt erreicht ist. Vielleicht befinden wir uns schon in Zwischenfrage) einem leichten Aufschwung. Wir werden in ein paar Ta- gen etwas genauer wissen, wie es im dritten Quartal aus- – Ich sehe, dass Sie ein zweites Mal etwas sagen möch- sah, und am Ende des Jahres werden wir wissen, wie es ten. Reicht es Ihnen noch nicht? Ich finde, aufgrund des- im vierten Quartal verlaufen ist. sen, was Sie gesagt haben, war das erste Mal schon zu viel. Wenn der Präsident einverstanden ist, habe ich aber (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Dann überhaupt kein Problem damit, dass Sie Ihre Zahlen kor- wissen Sie wieder alles besser!) rigieren können. Es hängt jetzt von uns allen und den Entscheidungen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die wir in diesen Wochen treffen, ab, ob wir die Chance nutzen, einen neuen, nachhaltigen Aufschwung zu be- kommen. Sie alle sind dazu aufgefordert. Unsere Kon- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zepte liegen auf dem Tisch. Herr Kollege Austermann, erlauben Sie eine Zwi- schenfrage des Kollegen Eichel? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ein einziger Offenbarungseid!) Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann (D) von der CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.

(Beifall bei der CDU/CSU) Hans Eichel (SPD): Herr Abgeordneter Austermann, die Steuerschätzung Dietrich Austermann (CDU/CSU): im Mai hat ergeben, dass die Gemeinden in diesem Jahr Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- 51,5 Milliarden Euro einnehmen werden. Die Steuer- lege Eichel, ich finde es einigermaßen empörend, dass schätzung im November hat für die Gemeinden ebenfalls alle Zahlen, die Sie in den letzten Monaten genannt ha- Einnahmen von 51,5 Milliarden Euro ergeben. Mit ande- ben, mit der Realität nichts zu tun hatten. ren Worten: Im Vergleich mit der Mai-Steuerschätzung ergibt sich im Unterschied zu dem, was für die Länder Ich kann das ganz konkret anhand eines Beispiels be- festgestellt wurde, keine Verschlechterung. legen. Es geht um das, was Sie zum Kollegen Fromme gesagt haben, nämlich um die Mindereinnahmen bei der (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Gewerbesteuer. Nach der Tabelle, die Ihr Haus heute Frage stellen!) verteilt hat, opfern die Gemeinden 1 Milliarde Euro. Sie haben vorher gesagt, die Gemeinden würden von dem Ich möchte hier nur feststellen, dass Ihre Aussage, die Zusammenbruch der Steuereinnahmen ausgeschlossen. Zahlen seien falsch gewesen, falsch ist. Die Steuerschät- Das war die Unwahrheit. zungen im Mai und November für die Kommunen sind exakt gleich. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Er fälscht seine eigene Statistik!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Eichel, Sie müssen bei der Antwort stehen bleiben! Sie können jede Zahl nehmen, die Sie wollen. Sie Gebt ihm doch einmal eine Geschäftsord- stimmt nicht. Ich finde das empörend. nung! – Jürgen Koppelin [FDP]: Küster hätte Der Finanzminister der größten Industrienation in Eu- schon gebrüllt!) ropa trägt ständig dazu bei, die Menschen durch falsche Zahlen zu täuschen und in die Irre zu führen, die Daten Dietrich Austermann (CDU/CSU): zu verschleiern und damit den Boden für eine negative Herr Kollege Eichel, Sie haben sich in die für Sie sel- Wirtschaftsentwicklung in unserem Land zu bereiten. tene Rolle eines Abgeordneten begeben. Ich darf Sie bit- Ich muss das so deutlich sagen. Es ist wirklich empö-ten, dem Parlament gegenüber die entsprechende Ach- rend, was sich hier tut, weil es dazu beiträgt, dass sich tung zu zeigen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6221

Dietrich Austermann (A) Lassen Sie mich aus einer Tabelle vorlesen, die Sie heute Wir wollen zurückkommen zu dem Sachverhalt, weswe- (C) verteilt haben. Der Anlage 1 zur Pressemitteilung 132/03 ist gen wir uns eigentlich versammelt haben. Es geht darum, zu entnehmen: Gemeinden, Veränderung gegenüber dem dass wir kurz vor Ende des Jahres einen Nachtragshaushalt Vorjahr – 51,5 Milliarden Euro, – minus 1 Milliarde. Das für dieses Jahr beraten. Der Haushalt soll nach der Defi- heißt doch, dass uns die Frage beschäftigt: Entwickeln nition des Grundgesetzes dem Parlament die Möglichkeit sich die Zahlen für die Gemeinden, für die Länder und geben, gestaltend Einfluss zu nehmen. Sie legen einen für den Bund positiv, nach oben oder gehen sie weiter Nachtragshaushalt vor, weil Sie festgestellt haben – jetzt nach unten? bitte ich genau zuzuhören –, dass Sie in diesem Jahr schon 54 Milliarden Euro Kredite aufgenommen haben, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie gehen nach unten!) (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Hört, hört!) Alle Gemeinden zusammen haben in diesem Jahr ein Defizit von 10 Milliarden Euro. Ich sehe, Sie nicken; Sie obwohl im gültigen Haushalt für dieses Jahr nur 18,9 Milli- sind offensichtlich der gleichen Auffassung. Und dann arden Euro enthalten sind. wollen Sie uns erzählen, das sei eine positive Entwick- Nun frage ich – ich frage das auch die Zuschauer, lung, und bestätigen das hier noch mit der eigenen Erklä- auch wenn sie nicht antworten können –: Stellen Sie sich rung. vor, Sie wären in einer ähnlichen Situation. Sie machen (Beifall bei der CDU/CSU) einen Plan für Ihr Jahr, Sie kalkulieren Urlaub und viele andere Dinge ein, Sie wissen, was etwa an Gehalt rein- kommt für die Familie, Sie kennen also das gemein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schaftliche Einkommen, und dann stellen Sie auf einmal Herr Kollege Austermann, erlauben Sie eine weitere fest, dass Sie nicht nur den Dispo überschritten haben, Zwischenfrage des Kollegen Eichel? sondern sich auch heimlich bei allen möglichen Freun- den Geld gepumpt und vielleicht auch noch Wechsel Dietrich Austermann (CDU/CSU): ausgestellt haben. So ungefähr ist die Situation, die wir heute vorfinden. Gern. Für 54 Milliarden Euro haben Sie bereits Kredite auf- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn es denn genommen, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage eine Frage wird!) gab. Und jetzt kommen Sie her und wollen dafür eine nachträgliche Bestätigung durch das Parlament. Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: missbrauchen das Parlament praktisch als Buchhalter, (B) (D) Bitte schön, Herr Eichel. um nachträglich das abzusegnen, was Sie gemacht ha- ben. Ich finde, das ist eine Zumutung für jeden im Parla- ment. Das allein ist für uns ein Grund zu sagen: Wir wer- Hans Eichel (SPD): den den Nachtragshaushalt ablehnen. Veräppeln lassen Herr Kollege Austermann, stimmen Sie mir zu, dass wir uns von Ihnen nicht. es nach der November-Steuerschätzung im Vergleich zur Mai-Steuerschätzung – anders als bei Bund und Län- (Beifall bei der CDU/CSU) dern, bei denen es weitere Einnahmeausfälle gibt – bei Ich will noch etwas sagenzu den Daten, die Sie für den Gemeinden keine weiteren Einnahmeausfälle gibt? die Vergangenheit vorgetragen haben. Es mutet ja etwas (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Warum merkwürdig an, dass man auf der einen Seite beklagt, die demonstrieren die denn?) Situation in Amerika habe sich verschlechtert, sich gleichzeitig aber darüber freut, dass wir Exportweltmeis- ter gewesen sind, zumindest im Monat August. Also Dietrich Austermann (CDU/CSU): kann es nicht sein, dass äußere Umstände verantwortlich Herr Kollege Eichel, sind Sie bereit zur Kenntnis zu sind, sondern es müssen innerdeutsche Probleme für die nehmen, dass die Gemeinden in diesem Jahr feststellen derzeitige Situation verantwortlich sein. Und dafür tra- mussten, dass ihre Einnahmen weggebrochen sind und gen Sie in erheblichem Maße die Verantwortung. dass durch die Schätzergebnisse des Arbeitskreises Steu- Wenn man das in der ganzen Dimension einmal zu- erschätzung vom 4. bis 6. November ein weiteres Minus sammenfasst, dann stellen wir fest, was auch die Debat- von 1 Milliarde Euro bestätigt wird? Man kann doch die ten der letzten Tage gezeigt haben: Sie haben es in den eigenen Zahlen, die man verteilt hat, nicht ignorieren! letzten fünf Jahren geschafft, dieRente durcheinander Denen kann man doch nicht widersprechen! zu bringen. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: (Lachen der Abg. Antje Hermenau [BÜND- Kurzes Gedächtnis!) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass Ihre Zahlen nicht stimmen, kennen wir schon. Aber – Es kann heute niemand sagen, wann in absehbarer Zeit dass Sie noch nicht einmal Ihre eigenen Zahlen bestäti- bei den Renten wieder ein Zuwachs zu erwarten ist. Drü- gen können, ist, finde ich, in der Tat ein dicker Hammer. cken Sie sich nicht um die Wahrheit herum! Genauso ist das. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU) 6222 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dietrich Austermann (A) Sie haben – das wissen wir aus den letzten Wochen – Verantwortung. Wenn es die Schulden des Bundes in(C) auch bei der Lebensversicherung, wo Vertrauenskapital diesem großen Maße nicht gäbe, würde uns die Erfül- der Menschen investiert worden ist, durch Ihre ver-lung des Maastricht-Vertrages in diesem Jahr keine Pro- korkste Steuerreform des Jahres 2000 eine Basis wegge- bleme bereiten. brochen. Die Alterssicherung, also Rente auf der einen Seite und Lebensversicherung auf der anderen Seite, Sie verletzen das zweite Mal nacheinander die kann nur durch eine abrupte Änderung des GesetzesMaastricht-Kriterien. Sie brechen – das ist Ihre Absicht – überhaupt wieder in Ordnung gebracht werden. auch im kommenden Jahr vorsätzlich den Maastricht- Vertrag. Sie haben den Arbeitsmarkt durcheinander gebracht. Heute haben viele Menschen weniger Arbeit als zu der (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Zeit, als Sie die Regierung angetreten haben.Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Pfui!) 600 000 weniger in diesem Jahr! Diese EntwicklungDas hat es bisher noch nicht gegeben. Das haben uns die setzt sich fort: Immer weniger Menschen haben Arbeit. Sachverständigen gesagt. Das ist eine andere Qualität. Wenn die Steuern im nächsten Jahr tatsächlich steigen Nachträglich festzustellen, dass man sich geirrt hat, wird werden, dann heißt das, dass diejenigen, die noch Arbeit man mit Dummheit noch entschuldigen können. Aber haben, immer mehr zahlen. für dieses und das kommende Jahr vorsätzlich zu erklä- Sie haben die Staatsfinanzen durcheinander gebracht. ren, dass es nicht interessiert, was auf internationaler Wenn man das gesamtstaatliche Defizit des Jahres 1998 Ebene verabredet wurde, ist eine neue Qualität des Ver- mit dem dieses Jahres vergleicht, ist es in der Tat er-trauens- und des Rechtsbruches auf europäischer Ebene. schreckend, wie sich die Situation entwickelt hat. Dafür tragen Sie die Verantwortung. (Beifall bei der [CDU/CSU] sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ordneten der FDP) neten der FDP) Wir reden heute über einenverfassungswidrigen Der Kollege Diller hat die Zahlen für dieses und das Nachtragshaushalt. Nun kann man zwar sagen, dassnächste Jahr bestritten. Sie können doch addieren! Wenn dies alles belanglos ist. Ich stelle mir aber vor, wie sich Sie das tun, dann kommen Sie bei der gesamtstaatlichen Menschen fühlen, die nur eine Ordnungswidrigkeit be- Neuverschuldung in diesem Jahr auf eine Summe von gangen haben. Hier jedoch bricht eine ganze Bundesre- über 90 Milliarden Euro, im nächsten Jahr von etwa gierung die Verfassung. Das tut sie dadurch, dass sie100 Milliarden Euro. Das sind knapp 5 Prozent des Brut- mehr Schulden macht, als rechtlich erlaubt ist. toinlandsproduktes. Eine schlimmere Zahl in diesem Be- (B) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vorsätzlich reich hat es bisher noch nicht gegeben. (D) und wissentlich!) Das Dramatische ist: Es gibt überhaupt kein Anzei- Rechtlich erlaubt sind Schulden bis zur Höhe der Inves- chen dafür, dass das, was Sie bisher an Maßnahmen ver- titionen. Wenn man Investitionen tätigt, schafftanlasst haben, Ihre so genannten Reformen, geeignet ist, man einen Wert für die Zukunft. Insoweit darf mandie Situation zu verbessern. Nicht einmal die Sachver- höchstens bis zu dieser Summe Schulden machen. ständigen haben Ihnen bestätigen können: Wenn man diese Reformen durchführt, wird es einen kräftigen Auf- Der Bundesfinanzminister überschreitet die Grenze schwung geben. – Es gibt allenfalls einen Miniauf- der Verfassung um 16,7 Milliarden Euro. Er rechtfertigt schwung ohne neue Jobs. Ohne neue Jobs wird aber dies – das hat er mehrfach gemacht – damit, dass er die auch in Zukunft Geld bei der Krankenkasse, der Rente, Dinge schleifen lasse, damit das gesamte wirtschaftliche den Steuereinnahmen und auch bei den Gemeinden feh- Gleichgewicht nach Art. 115 des Grundgesetzes wieder len. Deswegen sagen wir: Wenn man schon einen Auf- hergestellt wird. Wenn man die Dinge ein ganzes Jahr schwung plant, dann muss man das richtig machen. hat schleifen lassen, wie kann man dann sagen: Das, was ich jetzt tue, ist dazu angetan, die Situation zu verbes- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei sern? Es bleibt dabei: Sie verletzen die Verfassung in der SPD) brutaler Weise. Herr Eichel, ich kann Ihnen die Bilanz nicht vorent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halten. 1998 betrug das wirtschaftlicheWachstum neten der FDP) 2,7 Prozent. Das haben Sie statistisch heruntergerechnet. Sie hatten Glück: Das Wachstum hat 1999 und 2000 Sie verletzen nicht nur die Verfassung, sondern Sie fortgewirkt. Dann aber ging es bergab. Jetzt haben wir zerstören auch die Vertrauensbasis für unsere Partner auf seit drei Jahren Stagnation. Eine so lange Stagnations- europäischer Ebene dadurch, dass Sie die Kriterien des phase hatten wir noch nicht gehabt. Maastricht-Vertrages verletzen. Sie brechen diesen Vertrag! Die Zahlen zeigen: Die Länder tragen zu diesen Herr Eichel, Sie haben das Thema Steuerreform an- Schulden ihren Anteil bei. Man muss allerdings sehen, gesprochen. Am besten ist, ich halte Ihnen Ihre eigenen dass ein wesentlicher Teil der RahmenbedingungenWorte vor. Da jeder gernerichtig zitiert werden will, – das sehen Sie an den Gesetzen – für den Arbeitsmarkt möchte ich Ihnen vorlesen, was Sie zu diesem Thema und die wirtschaftliche Entwicklung vom Bund geschaf- gesagt haben. Ich habe im Jahr 2001 gefordert – Sie ha- fen werden. Insofern trägt der Bund – übrigens auch was ben dieses Datum für den Beginn der schlechten wirt- die Summe der Schulden betrifft – den größten Teil der schaftlichen Entwicklung genannt, die angeblich vom Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6223

Dietrich Austermann (A) Ausland über uns gekommen ist –: Die Steuern müssen Betrachten wir die Situation bei derAufstellung des (C) stärker und schneller gesenkt werden. Sie haben erklärt: Haushaltes, für den wir jetzt weitere Schulden aufneh- men müssen. Das war vor reichlich einem halben Jahr. In Wer Steuern senken will …, darf das nur dann tun, dieser Zeit gab es heftigeReformdebatten in den bei- wenn er seine Ausgaben im Griff hat. Steuersen- den Koalitionsfraktionen. Es war überhaupt nicht klar, kungen mit Ausweichen in höhere Staatsschulden wie die Debatten ausgehen würden. Wer das nicht ver- sind Betrug an den Bürgerinnen und Bürgern. steht, der möge einmal darauf schauen, wie die Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von der CDU/CSU seit Wochen völlig in Debatten über neten der FDP – Hans-Joachim Fuchtel [CDU/ die richtige Rentenreform, die richtige Gesundheitsre- CSU]: Ein sehr kurzes Gedächnis!) form und die richtige Steuerreform verharkt sind. Es gibt keine einheitliche Meinung in der CDU/CSU. Wenn ich Ihnen das direkt vorhielte, würde ich um einen Ordnungsruf nicht herumkommen. Daher stelle ich die Wir haben es innerhalb eines halben Jahres geschafft, Frage: Wer ist hier eigentlich der Betrüger? Ich frage: Ist Gesetze auf den Weg zu bringen, um den Arbeitsmarkt eigentlich das, was Sie bisher gemacht haben, geeignet neu zu strukturieren. Ein Teil der Kosten, die in diesem gewesen, die Ausgaben in den Griff zu bekommen? Jahr aufgelaufen sind und die wir in dem Nachtragshaus- Nein, das ist es nicht, denn die Ausgaben steigen in die- halt mit über 12 Milliarden Euro neu abdecken müssen, sem Jahr um viereinhalb Prozent, allein aufgrund der fal- sind Kosten für den Arbeitsmarkt. Das ist der Zuschuss schen Zahlen beim Arbeitsmarkt und der zusätzlichen an die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und das sind Ausgaben im Sozialbereich. Die sind gewissermaßenweitere Gelder für die Arbeitslosenhilfe. eine Art Heftpflaster für die Wunden, die Sie unserem Wenn man Gesetze ändert, wie wir das schon getan Wachstum und dem Staatskörper zugefügt haben. Wer haben, und wenn man versucht, die Dinge zu verändern, die Ausgaben nicht in den Griff bekommen hat, der soll dann ist davon auszugehen, dass Kosten in einem solch sich auch künftig Empfehlungen über das, was weiter in hohen Umfang nicht wieder eintreten müssen. Genau da- Deutschland richtig gemacht werden soll, enthalten. ran arbeiten wir, und zwar langfristig und nicht mit Not- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) programmen. Insofern läuft Ihr Vorwurf, das ginge im nächsten Jahr so weiter, völlig ins Leere. Der ist absurd! Dieser Nachtragshaushalt ist nicht zustimmungsfähig. Wir lassen uns von Ihnen nicht veräppeln. Kommen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN endlich zur Wahrheit und zu den richtigen Zahlen zu- und bei der SPD) rück. Schauen wir uns dieSteuereinnahmen an. Als der (B) Vielen Dank. Entwurf eingebracht worden ist, haben wir geglaubt,(D) dass wir reichlich 12 Milliarden Euro weniger Steuerein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nahmen haben werden. Das erklärt die zweite Hälfte der circa 24,5 Milliarden Euro, die mit dem Nachtragshaus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: halt neu aufzunehmen sind. Die heutige Steuerschätzung Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Hermenau vom hat gezeigt, dass es vielleicht 1 Milliarde weniger sein Bündnis 90/Die Grünen. wird, also nur 11 statt 12 Milliarden Euro. Aber im Gro- ßen und Ganzen hat der Entwurf gestimmt. Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt reden wir einmal über die Steuern. Es gab vorhin Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt, schon einmal eine Debatte über Steuern. Herr Merz – ich Herr Kollege Austermann, Momente, da würde es mich erinnere mich wohl – hat im Frühjahr im Fernsehen laut interessieren, welche Wortpirouetten Sie drehen müss- getönt, dass der Abbau von Steuervergünstigungen und ten, wenn Sie hier stünden, nicht die Haushälter der Ko- Subventionen eine Steuererhöhung wäre, die man brand- alition, und wenn Sie regieren würden. marken müsse; das ginge auf gar keinen Fall. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Ihr woll- Nun hat er selbst, wie ich finde, in den letzten zwei tet es doch so!) Wochen ein durchaus interessantes Konzept zur Sprache gebracht. – Pöbeln Sie nicht so herum, Herr Fuchtel. – Ich kenne Sie schon lange, Herr Austermann. Ich erinnere mich da- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wohl!) ran, wie Sie damals sogar versucht haben, sich gegen die Auf der Basis dieses Konzeptes müsste man eigentlich eine oder andere Entscheidung der damaligen Bundesre- alle Steuervergünstigungen streichen. Das haben wir vor gierung unter Kanzler Kohl zu stellen, weil Sie sie für einem halben Jahr vorgeschlagen. Sie haben darauf em- ganz schlecht für die langfristige Ausgabenstruktur des pört reagiert. Bundes gehalten haben. Das war auch ganz richtig, Sie haben sich nur nicht durchsetzen können. Es ist leicht, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ohne Tarife befreit von der Last des Regierens, sich hierher zu stel- zu senken!) len und zu sagen, dass man alles ganz anders machen müsste. Sie selbst hatten die Kraft damals nicht. – Über Tarifsenkungen reden wir gleich. – Das ist alles gewesen. Wir haben ein halbes Jahr verschenkt, weil Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich erst einmal inhaltlich sortieren mussten, um das ein- und bei der SPD) mal klar auf den Punkt zu bringen. 6224 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Antje Hermenau (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch das über Jahrzehnte hinweg gestiegene Niveau der (C) und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ Lohnnebenkosten, das heißt der Ausgaben für Renten- CSU]: Frau Hermenau, das ist doch nicht Ihr versicherung, Arbeitslosenversicherung und Kranken- Niveau! Das können Sie besser!) versicherung. Die von der Koalition vorgelegten Vor- schläge befassen sich mit genau diesen Problemen. Es geht darum, in den nächsten Tagen Entscheidungen zum Vorziehen der letzten Steuerreformstufe zu treffen. Tun Sie nicht so, als ob erst in den vergangenen fünf Die würde eine Senkung der Steuertarife bedeuten. Sie Jahren in entscheidendem Maße Bewegung in die Ent- haben das in der Hand. Sie können beides, was Herrwicklung der Beiträge zur Renten-, Arbeitslosen- oder Merz vorschlägt, sofort mit den Vorschlägen umsetzen, Krankenversicherung gekommen wäre! Das stimmt die wir bereits an den Bundesrat überwiesen haben. nicht. Der Aufwuchs ist vielmehr über Jahre und Jahr- zehnte hinweg entstanden. Wir alle haben uns etwas zu (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dann müssen viel gegönnt. Sie aber deutlicher die Steuern senken!) Jetzt komme ich zu den Fragen, die sich hinter den Dann ist ganz klar, was Sie machen müssen: Steuerver- Zahlen verbergen: Wird dieses Land die Kraft haben, in günstigungen und Subventionen müssen abgebaut wer- diesem Bereich einenWertewandel zu durchlaufen? den. Dann ist auch die weitere Finanzierung des Vorzie- Werden wir die Kraft haben, zu verstehen, dass die ge- hens der nächsten Stufe der Steuerreform möglich, ohne samte Wirtschaft auf verzerrten Preisen beruht, weil es sich dabei ausschließlich auf Neuverschuldung zu stüt- durch die gesamten Subventionen, Steuervergünstigun- zen. Das haben Sie selbst immer wieder als Anliegen gen und Umwege für den Normalbürger im Alltag nicht vorgetragen. mehr erkennbar ist, wie hoch ein Preis wirklich sein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müsste? Werden wir in der Lage sein, akzeptieren zu ler- und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt nen, dass wir uns vielleicht nicht mehr all das leisten [FDP]: Aber Sie nehmen dann den Menschen können, an das wir uns in den vergangenen Jahrzehnten mehr ab, als Sie ihnen geben!) gewöhnt haben? Das sind wichtige Fragen. Denn wenn man das Ganze immer nur für das Ergebnis einer ver- Wer – wie es Herr Merz in seinem Konzept, das sich fehlten Politik hält, wird man sich dem Missmut ergeben gar nicht so sehr von unserer Politik unterscheidet, ver- müssen. Es geht vielmehr um etwas anderes. Wir werden folgt – die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage – das in vielen Bereichen einen Wertewandel vollziehen und heißt das Schließen aller Schlupflöcher, um es auf Neu- akzeptieren müssen, dass die Weltwirtschaft mit defi- deutsch zu formulieren – und die Senkung der Steuer- niert. Dabei sollte keine Zeit verloren werden. sätze für notwendig hält, kann es sich leicht machen und (B) in den nächsten Wochen einen ersten Schritt realisieren. Was ich nicht verstehe – dabei habe ich interessante(D) Mitstreiter, zum Beispiel Herrn Rogowski, der mir zwar Wir sind gespannt, wie die Gespräche verlaufen. Sie nicht nahe steht, der aber mit seiner Feststellung in die- haben noch ein paar Wochen Zeit, um ein bisschen Ord- sem Zusammenhang Recht hat –, ist, dass die CDU/CSU nung in Ihren Steuerkladderadatsch zu bringen. Wenn mit ihrer Blockadehaltung im Bundesrat dafür sorgt, das gelingt, dann hoffen wir auf gute Verhandlungen im dass wir wirtschaftlich wertvolle Zeit verlieren, wenn es Vermittlungsausschuss. Das läge allemal im Interesse darum geht, sich dem globalen Wettbewerb zu stellen. der Bürger. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) [CDU/CSU]: Reden Sie doch endlich mal über Lassen Sie uns die Initiativen betrachten, die wir noch die Initiativen!) vorhaben. Wir wollen zum Beispiel eine stabilere Steu- Wir stellen uns aber diesem Wettbewerb nicht. ereinnahmebasis erreichen. Wir haben Vorschläge zu einem energischeren Vorgehen im Zusammenhang mit Ich habe mich des Öfteren gefragt, welchen Sinn es dem Problem des Umsatzsteuerbetrugs vorgelegt, wo- machen kann, dass die CDU/CSU versucht, mit aller durch wir auch Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer Gewalt wieder an die Macht zu kommen, um dann viel- erwarten. Wir haben auch vor, das Fluchtkapital wieder leicht ein Land zu übernehmen, in dem die Autos von zur Heimkehr zu bewegen Eseln gezogen werden müssen, weil kein Geld mehr vor- handen und die Wirtschaft ruiniert ist. Wie können Sie es (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Ha, ha, eigentlich zulassen, dass wir Monate und Jahre verlieren, ha! Das ist ein Geblöke, das wir da hören!) nachdem endlich – das ist Ihnen auch klar – das rot- und die Steuerhinterziehung zu unterbinden oder zumin- grüne und Mitte-Links-Milieu in diesem Land dazu be- dest einzudämmen. Davon erwarten wir den Rückfluss stimmt ist, den Wertewandel voranzutreiben? Denn es ist von Milliardenbeträgen. Wir haben uns sehr bemüht,durchaus mit beteiligt gewesen ist, als es darum ging, die Vorschläge zur Bekämpfung der Schwarzarbeit zu erar- Lohnnebenkosten nach oben zu treiben und die Gerech- beiten. tigkeitsdebatte der 70er- und 80er-Jahre und vielleicht auch die Debatte zwischen Ost und West in den 90er- Herr Austermann gefiel sich in der kurzen Bemer- Jahren zu führen. kung, die innerdeutschen Probleme hätten dazu geführt, dass man die Verschuldung nicht mehr in den Griff be- Wenn diese Einsicht vorhanden ist und Sie nur aus komme. Zu den innerdeutschen Problemen gehört aber Machtstreben das, was Sie selber in der Politik mit dis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6225

Antje Hermenau (A) kutiert haben, verderben, dann sind Sie meiner Meinung Sie verfahren nach dem Grundsatz – das ist zumindest in (C) nach nur an der Macht interessiert, aber nicht am Wohl den letzten Jahren typisch für Sie –: Augen zu und wei- des Volkes oder der Nation, wie Sie es ständig im Munde termachen, bis es nicht mehr geht und bis die Wahrheit führen. für jeden erkennbar ist! Das ist Ihr Problem beim Bun- deshaushalt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Die FDP-Fraktion hat am 20. Februar dieses Jahres ei- Ein unerhörter Vorwurf!) nen Antrag vorgelegt, in dem wir die Bundesregierung aufgefordert haben, den Haushaltsentwurf 2003, der da- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mals in der Beratung war, zu überarbeiten. Ich habe da- Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von mals für die FDP-Fraktion erklärt, wo dieSchwächen der FDP-Fraktion. des Haushaltsentwurfs 2003 liegen. Ich habe gesagt, dass die im Haushaltsentwurf 2003 angenommenen Steu- ereinnahmen allein dem Wunschdenken des Finanz- (FDP): Jürgen Koppelin ministers geschuldet sind, dass durch das so genannte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Amnestiegesetz nicht einmal Einnahmen in Höhe von ist ein trauriger und dunkler Tag für unser Land. Derüber 2 Millionen Euro zu verzeichnen sein werden Schuldenmacher Hans Eichel muss heute den Bankrott – diese Einnahmen haben wir auch nicht – und dass die erklären. Vorstellung des Bundesfinanzministers, die Bundesan- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der stalt für Arbeit komme ohne Bundeszuschuss aus, völlig CDU/CSU) illusorisch ist. Von Mauteinnahmen war damals noch gar keine Rede. Die rot-grüne Koalition hat sich damals ge- Wie sehr Sie sich in der Koalition für diesen Finanz-weigert, den Haushaltsentwurf 2003 zu überarbeiten und minister schämen, wird daraus deutlich, dass fast die ge- einen realistischen Entwurf vorzulegen. Aber alle unsere samte Fraktion und auch das Kabinett inzwischen ge- damaligen Aussagen und Zahlen haben sich bestätigt. flüchtet sind Das sieht man an dem heute vorliegenden Entwurf eines (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nachtragshaushaltes. Hätten Sie doch bloß auf die Oppo- NEN]: Wir haben Vertrauen in Hans Eichel! – sition gehört und rechtzeitig gegengesteuert! Dann wären Zuruf von der SPD: Aber die FDP ist kom- Sie heute nicht in diesem Dilemma. plett, oder?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und dass Sie nur taktieren, indem Sie kurzfristig für Herr Bundesfinanzminister, Sie haben alle Möglich- heute eine Aktuelle Stunde beantragt haben, in der (B) keiten aus Arroganz und Unfähigkeit vertan. Sie haben (D) Eichel noch einmal ein Märchenbuch aufschlagen nicht zugehört und hören auch heute nicht zu. Das ist Ihr konnte, während diese Debatte wahrscheinlich nach Re- Problem. Rot-Grün hat stattdessen auf Druck des Bun- daktionsschluss stattfindet. desfinanzministers einen Bundeshaushalt 2003 verab- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja genau!) schiedet, von dem jeder bereits damals wusste, dass wichtige Daten und Zahlen nicht stimmten und dass er Diese Entscheidung haben Sie nämlich getroffen, weil höchstens ein Dokument einer verfehlten Arbeitsmarkt- Sie sich für diesen Finanzminister so schämen. Das ist und Konjunkturpolitik sein wird. Die FDP hat Anfang die Wahrheit. Sie können ruhig zugeben, dass auch Ih- dieses Jahres darauf hingewiesen, dass es dann, wenn nen das, was er hier vorgetragen hat, sehr peinlich ist. der Bundeshaushalt 2003 nicht sofort überarbeitet Die Oppositionsfraktionen haben den Finanzminister werde, das gleiche Szenario wie im Jahr 2002 geben in diesem Jahr bereits mehrfach aufgefordert, einenwerde: Die Maastricht-Kriterien werden nicht erfüllt und Nachtragshaushalt vorzulegen. Jetzt liegt er endlich auf ein Nachtragshaushalt, der die Aufnahme von erheblich dem Tisch. Wie kurzatmig die Politik von Rot-Grün ist, mehr Schulden vorsieht, wird notwendig. Die Redner sieht man daran, dass die rot-grüne Koalition im Haus- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben damals un- haltsausschuss noch am 23. Oktober dieses Jahres, also sere Forderungen zurückgewiesen und unseren Antrag erst vor wenigen Tagen, die Forderung der Oppositions- als lächerlich bezeichnet. Einer der damaligen Redner fraktionen nach Vorlage eines Nachtragshaushaltes ab- wird gleich nach mir sprechen. Vielleicht nimmt er dazu gelehnt hat. Eine Woche später beschließt das Kabinett Stellung. einen Nachtragshaushalt. Auch das gehört zur Wahrheit (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – dazu. Zuruf von der CDU/CSU: Erwischt!) Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister, darauf hinwei- Damals hat sich die Arroganz der Macht durchge- sen, dass Sie schon vor über drei Monaten gesagt hätten, setzt. Der jetzige Nachtragshaushalt ist ein Dokument es müsse einen Nachtragshaushalt geben, dann frage ich der Arroganz der Macht. Rechthaberisch haben Sie sich mich, warum Sie damals völlig andere Reden gehalten über alle Bedenken hinweggesetzt. Wir müssen nun erle- haben und so getan haben, als ob wir im Geld schwim- ben, dass Hans Eichel zum größten Schuldenmacher al- men würden. Ihre Reden waren eine einzige Katastrophe ler Bundesfinanzminister unserer Nation geworden ist. und gingen an der Wirklichkeit völlig vorbei. Es ist pein- Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik mussten lich, dass Sie zur Ehrlichkeit nicht bereit sind. so viele Schulden aufgenommen werden wie unter Hans (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eichel. Der Bundesfinanzminister selbst hat erklärt, dass 6226 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Jürgen Koppelin (A) ein Abweichen vom Konsolidierungskurs in der Haus- den. Da ist nicht die Politik der Freien Demokratischen (C) haltspolitik der falsche Weg sei. Sehr wahr! Aber warum Partei. haben Sie sich nicht daran gehalten, Herr Minister? Rea- lität ist – das schlägt sich im jetzigen Nachtragshaushalt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nieder –, dass es versäumt wurde, wichtige Reformen der CDU/CSU) durchzuführen, und dass bestehende Mängel noch ver- schärft wurden. Der vorliegende Nachtragshaushalt ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ein Dokument einer seit über drei Jahren verfehlten Ar- Das Wort hat jetzt der Kollege Walter Schöler von der beitsmarktpolitik. Mit über 43,4 Milliarden Euro Neu- SPD-Fraktion. verschuldung ist Hans Eichel der größte Schuldenma- cher der Nachkriegszeit. (Zuruf von der CDU/CSU: War der das mit dem „lächerlich“? – Dietrich Austermann [CDU/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – CSU]: Ja, der war das! – Steffen Kampeter Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Eine ge- [CDU/CSU]: Es bleibt einem heute nichts er- schichtslose Betrachtung, würde ich sagen!) spart!) Die Schadensbilanz von Hans Eichel ist verheerend: Bruch der Verfassung, Bruch der europäischen Verträge, Walter Schöler (SPD): eine Rekordverschuldung und marode Staatsfinanzen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So Zum zweiten Mal in Folge wird Deutschland im Jahrwie das schon über viele Jahre war, basieren Haushalte 2003 sowohl gegen die Verfassung als auch gegen den auf Schätzungen und auf Annahmen europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber noch nie Das Überschreiten der Maastrichter Defizitgrenze ist der auf solch unsoliden!) vorsätzliche Bruch eines völkerrechtlichen Vertrages. Nie haben die Haushaltspläne von Hans Eichel in den sowie auf Ergebnissen der Konjunkturschätzungen der letzten Jahren gestimmt. Sie konnten auch nicht stim- Wirtschaftsforschungsinstitute. Das galt für den Haus- men, weil er niemals von soliden Grunddaten ausgegan- halt 2003 wie auch für die Haushalte 1995 und 1996 gen ist. Schon das ist eine Fahrlässigkeit. – ich gehe noch einmal in die Vergangenheit –, als Theo Waigel der größte Schuldenmacher aller Nationen war. Die FDP hat bereits vor Monatendie Vorlage eines Haushaltssicherungsgesetzes mit Ausgabenkürzungen (Lachen des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ und Leistungseinschnitten in einer Größenordnung von CSU]) 20 Milliarden Euro angemahnt. Die Höhe der zusätzli- (B) Sie haben vergessen, dass er das zu einem Zeitpunkt war, (D) chen Neuverschuldung von 24,5 Milliarden Euro zeigt, als das Wachstum noch 1,6 Prozent betrug und es nicht dass wir mit unserer Risikoannahme absolut richtig gele- drei Jahre hintereinander ein Nullwachstum gegeben gen haben. hatte. Wenn Sie das einmal in Relation zueinander set- Jeder, der bei haushaltspolitischem Verstand ist, muss zen, dann erkennen Sie, was Sie an Schulden gemacht diesen Nachtragshaushalt ablehnen; haben. Das sind nämlich die Schulden, die uns heute noch die Probleme machen, die den Haushalt 2003 be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lasten und auch noch die kommenden Haushalte belasten werden. Sie sollten mit Ihren Behauptungen sehr vor- denn die Rekordkreditaufnahme, Herr Bundesfinanz-sichtig sein. minister, dient nicht der Abwendung der Störung des ge- samtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie vom Bundes- (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter verfassungsgericht gefordert. Dieser Nachtragshaushalt [CDU/CSU]: Ich halte Ihnen demnächst Willy belebt weder die Konjunktur noch trägt er zur Senkung Brandt vor!) der Arbeitslosigkeit bei. Er trägt allein dazu bei, dass die Der Nachtragshaushalt 2003 wurde erst jetzt vorge- rot-grüne Koalition zukünftig Steuererhöhungen vorbe- legt, weil wir auf der sicheren Seite sein wollten. Mit reiten muss. dem Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute, Herr Bundesfinanzminister, Sie machen 43 Milliar- wenige Tage alt, mit den Eckwerten der Bundesregie- den Euro neue Schulden, sagen aber niemandem, wer rung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und mit diese Schulden eines Tages bezahlen soll. Deswegender heutigen Steuerschätzung haben wir nun eine sichere werden wir diesem Nachtragshaushalt nicht zustimmen. Datenbasis. Herr Bundesfinanzminister, Sie sagen immer, Ihre Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten die Vorlage Haushaltspläne seien auf Kante genäht. Das stimmtdes Nachtrags verschleppt, um die wahre Lage zu ver- nicht. Sie sind alle auf Sand gebaut. schleiern. Das ist der blanke Unsinn. Ich will nicht sagen „lächerlich“; denn das, was Sie erzählen, ist wirklich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schon blanker Unsinn. Es wurde nichts verschleppt und es wurde überhaupt nichts verschleiert. Die FDP-Fraktion wird dem Nachtragshaushalt nicht zustimmen; denn die Schulden, die die rot-grüne Koali- Als im Sommer die Schätzungen der Sachverständi- tion und Hans Eichel machen wollen, müssen von kom- gen eine weitere Wende nahmen, zum dritten Mal eine menden Generationen mit höheren Steuern bezahlt wer- Wende nahmen – ich würde mich als Sachverständiger Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6227

Walter Schöler (A) langsam ein bisschen schämen, wenn ich mir dreimalden Euro in den Raum gestellt und damit der Öffentlich- (C) hintereinander so etwas erlaubt hätte –, keit bekannt gegeben hat. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schämen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hans Georg würde ich mich heute als Bundesfinanzminis- Wagner geht schon schamrot zu Boden!) ter hier! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer bereitet dem die Steuerschätzung vor?) Wer hier wieder wie Sie trickst, Kollege Austermann, wer den üblichen Staatsverschuldungen auch noch Li- haben wir sofort erklärt, dass ein Nachtrag notwendig quiditätsmittel hinzurechnet, die dann am Jahresschluss sein wird und dass wir eine weit höhere Verschuldung wieder ausgeglichen sind, wer also auf diese Weise die eingehen müssen, als wir sie für den Haushalt 2003 ur- Öffentlichkeit täuscht, kann überhaupt nicht in Anspruch sprünglich veranschlagt haben. nehmen, von Verantwortung zu reden, (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das hät- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tet ihr schon im März merken können!) DIE GRÜNEN) Seitdem hat sich – wir allebedauern das, Sie mit Si- denn Sie wollen nichts anderes, als mit Ihren Aussagen cherheit genauso wie wir – eine weitere Verschlechte- weiter zu verwirren. rung der Entwicklung gegenüber den Annahmen vom Frühjahr ergeben. Im Nachtragsentwurf müssen wir des- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Warum halb die Neuverschuldung auf 43,4 Milliarden Euro an- noch verwirren? Ihr seid schon verwirrt!) heben. Glauben Sie nicht, dass uns das leicht fällt. Es gibt dazu aber keine Alternative. Auch Sie haben heute Uns wird der Jahresabschluss in wenigen Wochen vor- keine ernsthafte Alternative genannt. liegen; ich werde Sie dann an der Zahl von 54 Milliar- den Euro messen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Fuchtel Zur Ausweitung der Neuverschuldung, auch wenn [CDU/CSU]: Die Ablösung von Rot-Grün ist wir sie beklagen, gibt es leider keine echte Alternative. die Alternative!) Wir wollten und durften die konjunkturelle Entwicklung keinesfalls durch etwaige drastische Ausgabenkürzun- Gerade der jetzt festzustellende Aufwuchs gegenüber gen, die Sie fordern, zu denen Sie aber im Übrigen kei- der Einschätzung vom August zeigt, dass es richtig war, nen konkreten Vorschlag gemacht haben, weiter belas- die sichere Datenbasis, die wir jetzt im November haben, ten. Wir haben deshalb die automatischen Stabilisatoren abzuwarten. Hätten wir schon im Sommer aufgrund der wie schon im Vorjahr wirksam werden lassen. Unter Be- (B) (D) damaligen Erkenntnisse einen Nachtrag präsentiert, hät- rücksichtigung der konjunkturbedingten Haushaltsbelas- ten wir vermutlich heute mit einem zweiten Nachtragtungen von Ländern und Gemeinden ist es uns gelungen, eine Korrektur vornehmen müssen. Das haben wir uns durch diese automatischen Stabilisatoren die wirtschaft- so erspart. liche Entwicklung in diesem Jahr mit über 30 Milliar- (Jürgen Koppelin [FDP]: Da hätten Sie mal den Euro zu stützen. Das ist eine gewaltige Summe. Sie sparen können!) ist größer als das Volumen der anstehenden Steuerre- formstufen II und III. Man stelle sich vor, wir hätten Eine solche Korrektur hätte auch nur zu einer weite- diese 30 Milliarden Euro aus dem Kreislauf genommen, ren Verunsicherung beigetragen. Sie betreiben hier Ver- wie Sie es eben hier vorgeschlagen haben. Die Spirale unsicherung. Wir wollen das nicht. Wir wollen uns sol- hätte sich weiter nach unten gedreht; die Zahl der Ar- che kontraproduktiven Leistungen, wie wir sie vonbeitslosen wäre noch weiter gewachsen. Das wollten wir Ihnen hier inzwischen gewohnt sind, nicht erlauben. nicht. Deshalb müssen wir jetzt zwangsläufig diese Aus- Im Jahr 2003 ist die Stagnation noch nicht überwun- dehnung des Staatsdefizits für 2003 in Kauf nehmen. den. Sie trifft den Bundeshaushalt – anders als die Län- Im Übrigen verhandeln wir gerade über den Haushalt derhaushalte – sowohl auf der Einnahmen- als auch auf für das Jahr 2004; Sie haben es angesprochen. Es wäre der Ausgabenseite mit sehr großer Wucht. Die Steuerein- allerdings gut, Sie beteiligten sich nicht nur an den Bera- nahmen – das beklagen wir – bleiben um 12,5 Milliar- tungen, sondern auch an Entscheidungen in Bezug auf den Euro hinter der Veranschlagung zurück. Der Arbeits- 2004. markt erfordert Mehrausgaben von 12 Milliarden Euro. Alle anderen, nicht unmittelbar auf der schwachen Kon- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das junktur beruhenden Mehrausgaben – Sie sprechen ja vom kommt noch!) Sparen – werden durch Minderausgaben an anderer Stelle aufgefangen. Insoweit ist unser Haushaltsvollzug Bisher haben Sie dazu überhaupt nichts beigetragen. sehr solide. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNISS 90/ (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie DIE GRÜNEN) doch bitte nicht von solider Haushaltspolitik, Herr Kollege!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich halte fest, dass Kollege Austermann eben ganz be- Herr Kollege Schöler, erlauben Sie eine Zwischen- wusst für die Verschuldung einen Betrag von 54 Milliar- frage des Kollegen Koppelin? 6228 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Walter Schöler (SPD): denn wir befinden uns jetzt im dritten Jahr der Stagna-(C) Ja, von Herrn Koppelin immer. tion und haben eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist ganz offen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sichtlich gestört. Damit sind die verfassungsmäßigen Bitte schön, Herr Koppelin. Voraussetzungen für die Kreditaufnahme nach der Aus- nahmeregelung des Art. 115 gegeben.

Jürgen Koppelin (FDP): (Jürgen Koppelin [FDP]: Da sitzt der Grund! Kollege Schöler, das, was Sie eben gesagt haben, ist Auf der Regierungsbank!) für mich ein guter Anlass, folgende Zwischenfrage zu Auch das Staatsdefizit steigt infolge der Konjunktur- stellen: Können Sie bestätigen, dass die FDP-Fraktion schwäche an. Nach Berechnungen des Herbstgutachtens bei den jetzigen Beratungen über den Haushalt 2004 be- wird es in diesem Jahr rund 4 Prozent des Bruttoinlands- reits Kürzungsvorschläge im Umfang von über 2 Milli- produktes erreichen. Das ist uns viel zu hoch; es ist aber arden Euro gemacht hat, über die man sich sicherlich un- unvermeidbar, wenn man die automatischen Stabilisato- terhalten kann? Wie kommt es, dass Sie alles, selbstren wirken lässt. Ich habe Ihnen eben dargestellt, mit kleinste Sparmaßnahmen beim Haushalt 2004 – das sind welch gutem Erfolg dies geschehen ist. unsere Anträge – ablehnen? Das Herbstgutachten enthält den Vorwurf, es sei nicht (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: möglich, die Ziele Haushaltskonsolidierung, Steuersen- Das stimmt nicht!) kung und Konjunkturbelebung gleichzeitig zu verfol- Wir sind bereit, sogar noch weitere Sparmaßnahmengen.Das mag sich aus Sicht der reinen Wissenschaft viel- vorzuschlagen; es ist auch gegenüber den eigenen Politi- leicht so darstellen. Ich sage Ihnen aber: In dieser kern nicht einfach, solcheSparvorschläge zu machen. schwierigen Haushalts- und Konjunkturlage bleibt uns Können Sie bestätigen, dassdie FDP-Fraktion sich in- doch überhaupt nichts anderes übrig, als diesen Spagat tensivst an den Beratungen über Sparvorschläge betei- zu wagen. Wir befinden uns in einem Spannungsfeld, ligt, die Koalition bisher aber alle diese Vorschläge ab- das durch einen langfristigen Abbau der Defizite und gelehnt hat? eine konjunkturgerechte Politik gekennzeichnet ist. Da- bei haben wir durchaus Erfolge vorzuweisen. Das wis- sen Sie auch. Walter Schöler (SPD): Ja, ich kann bestätigen, dass Sie eine Reihe von Ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sparvorschlägen gemacht haben. Ich kann allerdings DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ CSU]: Wo denn?) (B) nicht bestätigen, dass die Koalition sie alle abgelehnt (D) hätte. Ich kann bestätigen, dass wir im Gegensatz zur Das Herbstgutachten bescheinigt uns eine Rückführung Union, die sich an Entscheidungen nicht beteiligt, sogar des strukturellen Defizits in 2003 um immerhin 1 Prozent gemeinsam entscheiden. Ich kann allerdings auch bestä- des Bruttoinlandsprodukts, das heißt um gut 20 Milliar- tigen, dass Sie im Vorjahr für den Haushalt 2003 An-den Euro. Ohne diesen Kraftakt vor allem im Bereich träge gestellt haben, die das Haushaltsvolumen um über der sozialen Sicherungssysteme läge unser Defizit näm- 3 Milliarden Euro ausgedehnt hätten. Auch das müssen lich bei 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Sie dann zur Kenntnis nehmen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schafft ihr auch noch im nächsten Jahr!) DIE GRÜNEN) In 2004 wird das strukturelle Defizit weiter – mindestens Aber vielleicht haben Sie bezüglich Ihrer Anträge ein um einen halben Prozentpunkt – abgesenkt. Das sind bisschen gelernt. Strukturbereinigungen, die aber erst bei dem erwarteten (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Kollege Aufschwung voll zum Tragen kommen werden. Schöler, jetzt sagen Sie doch mal was zur Sa- Es gibt durchaus auch handfeste Belege dafür, dass che!) die Hoffnung auf eine Aufhellung der wirtschaftlichen Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neuverschul- Entwicklung berechtigt ist. Eine Erholung hat begonnen, dung liegt deutlich über dem Investitionsvolumen von sie wird sich im nächsten Jahr verstärken, die Wirtschaft 26,7 Milliarden Euro. wird sich stabilisieren. Das Herbstgutachten erkennt eine Belebung der Weltwirtschaft, die sich im nächsten Jahr (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wohl fortsetzen wird, wobei insbesondere die USA und Japan wahr!) wirtschaftlich deutlich wachsen werden. Dieses Gutach- Das ist jedoch kein Verfassungsbruch, wie Kollegeten sagt auch für Deutschland eine Besserung voraus. Es Austermann gerade behauptet hat. prognostiziert eine Wachstumsrate von 1,7 Prozent, die sowohl von der Inlandsnachfrage als auch vom anzie- (Widerspruch bei der CDU/CSU) henden Außenhandel getragen wird. In diesem Zusammenhang erinnere ich Sie an die Zeiten, Auch die Entwicklung an der Börse lässt Positives er- als Ihr Finanzminister Waigel Haushalte zu verantworten warten. Kollege Kampeter ist Spezialist für Börsen. Der hatte. Das, was wir machen, ist gemäß der Ausnahmere- Ifo-Geschäftsklima-Index macht ebenfalls Mut; denn er gelung des Art. 115 Grundgesetz verfassungsgerecht,ist mittlerweile zum sechsten Mal in Folge gestiegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6229

Walter Schöler (A) Dabei ist insbesondere wichtig, dass jetzt nicht nur der haben im Übrigen schon mehrere frühere Wirtschafts-(C) Teilindex der Erwartungen, sondern erstmals auch der minister gesprochen. Teilindex der Lagebeurteilung angestiegen ist. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) (Beifall bei der SPD) Wir brauchen den Aufschwung, um die hohen Ar- Wir wollen uns nichts vormachen: Diekonjunkturelle beitslosenzahlen zu senken und um die Haushalte – wenn Erholung ist noch ein zartes Pflänzchen, das wir sorg- auch mit langem Atem – zu konsolidieren. Es kann den sam hegen und pflegen sollten, und wir dürfen nicht in Aufschwung allerdings nur geben, wenn Bürger und Un- der Art, wie Sie hier in dieHaushaltsdebatte eingreifen, ternehmen Vertrauen in die Zukunft haben. Die Konjunk- alles niedermachen, zerstören und austrocknen lassen. tur wird – das habe ich eben schon gesagt – in hohem Ein ganz wichtiges Element dabei ist, dass das Reform- Maße von Psychologie beeinflusst; deshalb müssen wir paket der Bundesregierung umgesetzt wird. die nicht zu leugnende Vertrauenskrise überwinden. Vo- raussetzung dafür ist, dass Sie so schnell wie möglich Das Herbstgutachten hat die Umsetzung bereits inden Weg für das Vorziehen der Steuerreform frei machen. seine Projektion der wirtschaftlichen Entwicklung einge- Insgesamt 56 Milliarden Euro haben wir als Entlastungs- baut. Das heißt: Ohne diese Umsetzung gibt es auch kein volumen vorgesehen, davon 22,5 Milliarden im Zuge der Wachstum von 1,7 Prozent. Das gilt ganz besonders für zweiten und dritten Stufe im nächsten Jahr. das Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Zahlen die hier eben noch einmal debattiert wurde. Alle For- stimmen doch so nicht!) schungsinstitute befürworten das Vorziehen dieser Steu- erreformstufe und sehen darin einen Wachstumsimpuls. Jetzt hat die CSU ja angekündigt, am 8. Dezember ein ei- Die Signale können doch überhaupt nicht klarer sein. genes Konzept als Alternative zu dem von Herrn Merz vor- zulegen. Wir werden sehen, dass danach das Merz-Konzept Was aber machen Sie von der Union? Wir sind auferledigt ist. Ihre Mitwirkung im Bundesrat angewiesen. Es kommt im Vermittlungsausschuss auf Sie an. Sie tragen dabei (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie werden eine ganz erhebliche Verantwortung, die Sie in dieser nächsten März fertig sein!) Stunde offensichtlich noch nicht wahrnehmen wollen. Wir wollen eine Steuerreform, die nichts mit dem Kon- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie zept von Merz oder irgendeinem anderen, das irgend- werden uns noch mal dankbar sein, dass wir wann für die Zukunft geplant ist, zu tun hat. Wir wollen Sie gebremst haben!) konkrete Auswirkungen schon im Januar 2004. Geben Sie deshalb Ihre Blockadehaltung auf. Beenden Sie die (B) (D) Ich bin sicher, dass Sie in vier Wochen etwas anderes sa- Miesmacherei, die von Ihnen heute fortgesetzt betrieben gen werden. Ich hoffe, Sie wissen bis dahin, was Siewurde, und folgen Sie den dringenden Ratschlägen der wollen. Ich hoffe auf die Spitzen der Union, die ihreWirtschaftsexperten. Sagen Sie der Bevölkerung besser Stellung bisher für einfache Machtspiele missbrauchen. heute als morgen und nicht erst am 19. Dezember, dass Unterschwellig steht bei jedem Reformpaket und jedem Sie bereit sind, das Vorziehen der Steuerreform und die Vorschlag, der bei Ihnen diskutiert wird, die Frage an, Reformgesetze mitzutragen. Dann wissen die Bürger wer in Ihrer Partei die Macht erhält. Das kann nicht die endlich, woran sie sind, und können vielleicht in froher Frage sein. Die Frage ist: Wie bringen wir gemeinsam Erwartung auf Weihnachten zu marschieren Deutschland voran? Diese Frage sollten Sie sich heute stellen. Wir haben unsere Arbeit geleistet. Spätestens seit dem 17. Oktober wissen die Bürger, dass es massive (Beifall bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme Steuerentlastungen in Höhe von 22,6 Milliarden Euro [CDU/CSU]: Sie sollten sich die Frage stel- gibt. Ein Teil dieses Entlastungsvolumens könnte in das len!) Weihnachtsgeschäft fließen und die Konsumnachfrage ankurbeln. Dadurch wäre es für alle Bürger in Deutsch- Herr Fromme, Ihre ureigene Klientel, die Unternehmer, land ein schönes Weihnachtsfest. Sie haben es in der muss Sie von der Union schon jetzt vor einerBlockade Hand. warnen. Arbeitgeberpräsident Hundt sagte in der „Süd- deutschen Zeitung“: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrich Heinrich [FDP]: Der Wenn die Steuerreform und die Sozialreformen um- Rücktritt von Hans Eichel wäre das größte Ge- gesetzt werden, besteht die Chance, dass die deut- schenk!) sche Wirtschaft im nächsten Jahr wächst. … Eine Steuersenkung kommt genau zum richtigen Zeit- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: punkt, um die positiven weltwirtschaftlichen Ten- Das Wort hat nun der Kollege Steffen Kampeter für denzen zu verstärken. die CDU/CSU-Fraktion. Der Porsche-Chef Wiedeking erwartet laut „SZ“ einen spürbaren Impuls für die Konjunktur durch die vorgezo- Steffen Kampeter (CDU/CSU): gene Steuerreform. Laut Infineon-Chef Schumacher Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und könne dieser Schritt die psychologische Basis für einen Herren! Der Kollege Schöler hat gerade gesagt, es ginge Aufschwung schaffen. Von dieser psychologischen Basis hier nicht um die Macht, sondern um Deutschland. Wenn 6230 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Steffen Kampeter (A) Sie das ernst gemeint haben, Herr Kollege Schöler, dann sche langsam nicht mehr leisten. Die Sklerose, die Sie zu (C) schmeißen Sie den Eichel bitte aus seinem Posten he- verantworten haben, muss geheilt werden. raus. Das wäre das Beste,was Sie für Deutschland tun (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) können. Preisstabilität und solide öffentliche Finanzen schaf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – fen günstige Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachs- Widerspruch bei der SPD) tum. Das sind Sätze, die auch von Ihnen stammen könn- Herr Kollege Schöler, Sie haben weiterhin den Ein- ten. Ich würde im Übrigen ganz gerne einmal Ihre Rede druck erweckt, als sei das Handeln der Bundesregierung lesen, die Sie gestern an der Humboldt-Universität ge- verfassungsgemäß halten haben. (Walter Schöler [SPD]: Das ist so!) (Ulrich Heinrich [FDP]: Lieber nicht!) und die exorbitant hoheNeuverschuldung, die im Sie wurde als Grundsatzrede angekündigt. Ich habe Nachtragshaushalt vorgesehen ist, mit dem Grundgesetz heute einmal nach dieser Rede gefragt. Man sagte mir, vereinbar. Es gibt ein aktuelles Urteil im Zusammenhang sie müsse noch überarbeitet werden. Die Grundsätze von mit der Berliner Haushaltssituation, in dem sich dazugestern müssen heute also schon überarbeitet werden. klare Worte finden. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch die (Zurufe von der SPD) Studenten haben lange Gesichter gemacht!) Das Urteil besagt, dass man, wenn man über die verfas- Deswegen kann die Rede nicht Mitgliedern des Deut- sungsrechtlich vorgeschriebene Grenze hinaus Schulden schen Bundestages zur Verfügung gestellt werden. aufnimmt, auch sagen muss, wofür. Wenn man aber erst (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das gilt zum Ende des Jahres Schulden aufnimmt und wie ein heute nicht mehr!) Notar die Entwicklung nachvollzieht, die man im Laufe des Jahres verpasst hat, dann kann das nicht der Behe- Das zeigt ja, wie Ihre argumentative Überzeugungskraft bung oder Verhinderung einer Störung des gesamtwirt- in Ihrem eigenen Ministerium gesehen wird. Mangelnde schaftlichen Gleichgewichtes dienen. Glaubwürdigkeit nenne ich das. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wenn man Preisstabilität und solide öffentliche Finan- zen will, dann muss man dafür mehr tun, als zum gegen- Bei dem, was Hans Eichel hier betreibt, handelt es sich wärtigen Zeitpunkt getan wird. Aus dem Geist heraus, lediglich um ein Nachvollziehen, um das notarielle Be- dass Defizite und Inflation schlecht für die Volkswirt- (B) schreiben einer gescheiterten Politik. schaft sind, wurde dereuropäische Stabilitäts- und (D) Wachstumspakt geschlossen. Haushaltsdisziplin für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wirtschaftswachstum: Das war die Ansage in den 90er- Das ist eigentlich der zentrale Grund, warum man diesen Jahren. Nachtragshaushalt ablehnen muss. Ob dieser Nachtragshaushalt zu einer Rekordver- Herr Eichel hat uns heute eine neue ökonomischeschuldung führt, müssen wir einmal abwarten. Ihre An- Theorie vorgestellt: die Pendeltheorie. gaben aus der vergangenen Woche, was die Steueraus- fälle betrifft, und die Daten der Steuerschätzung von (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) heute unterscheiden sich um 1,7 Milliarden Euro. Inner- Herr Bundesminister, Sie haben gesagt, das Pendelhalb von einer Woche gab es also eine Verschiebung um schlage immer in die eine oder in die andere Richtung 1,7 Milliarden Euro. Trotz allem bleibt die Nettokredit- aus, zurzeit in anderen Ländern weniger stark als inaufnahme hoch. Sie ist der größte Anschlag auf den Deutschland. Vor einigen Wochen konnten wir lesen,europäischen Stabilitätspakt, den wir in der Geschichte dass gemäß Angaben des Internationalen Währungs-der Bundesrepublik Deutschland bisher erleben mussten. fonds Deutschland das einzige Land ist, wo sich dasDieser Angriff muss abgewiesen werden. Pendel überhaupt nicht bewegt. Wir sind nämlich das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einzige Land, das laut IWF im Jahre 2003 kein Wirt- schaftswachstum erzielt. Sie greifen die Fundamente des europäischen Stabili- täts- und Wachstumspaktes regelrecht mit dem Pressluft- (Walter Schöler [SPD]: Heißt es hammer an: der oder das Pendel?) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Oder anders ausgedrückt: Alle Industrieländer dieser Ein schönes Bild!) Welt, jedes Schwellen- und auch jedes Entwicklungsland haben eine stärkere wirtschaftliche Dynamik als das4,2 Prozent Defizit im Jahre 2003. Die Europäische Land, dem Sie als Bundesfinanzminister vorstehen. Union hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass der Schuldenstand, der bei maximal 60 Prozent des Brutto- (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir inlandsproduktes liegen darf, in den nächsten Jahren auf haben eine zu schlechte Opposition!) 65 Prozent steigen wird. Diese Form von pendelorientierter Politik, meine sehr Es ist also keine Besserung in Sicht; es geht weiter verehrten Damen und Herren, können wir uns als Deut- abwärts. Wer den Stabilitätspakt bricht – dieser Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6231

Steffen Kampeter (A) finanzminister bricht ihn vorsätzlich, doppelt und dauer- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) haft –, der begeht Verrat am Erbe der Deutschen Mark. Das muss auch in dieser Deutlichkeit gesagt werden. Im Augenblick zerstören Sie die Grundlagen der ge- meinsamen europäischen Wirtschaftspolitik. Die stabili- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tätspolitischen Notwendigkeiten müssen beachtet wer- neten der FDP – Widerspruch bei der SPD) den. Laut Presseerklärung ist für Sie der europäische Stabilitätspakt kein verpflichtendes Instrument zur Haus- Der Übergang von der D-Mark zum Euro – das sage haltskonsolidierung mehr, sondern lediglich ein Koordi- ich den Menschen im Saal und den Fernsehzuschauern – nierungsinstrument, mit dem Empfehlungen gegeben wurde mit dem Versprechen dauerhaft stabiler Haushalte werden. Anders ausgedrückt: Der deutsche Finanzminis- verbunden. Dieses Versprechen wird jetzt von der Bun- ter glaubt nicht mehr an das 3-Prozent-Kriterium. Dieses desregierung vorsätzlich, wiederholt und dauerhaft ge- fatale Signal darf zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht brochen. Der Angriff auf das Erbe der Deutschen Mark von der Politik ausgehen. Ihre Politik wird zu Zinssteige- ist eines der übelsten Kennzeichen dieses Nachtrags-rungen, zur Inflation und zur Fortsetzung der Wachs- haushalts. tumsschwäche führen. Ihre Politik ist schlecht für unser (Beifall bei der CDU/CSU) Land. Viele kleine Volkswirtschaften in Europa haben sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diesem Stabilitätspakt verpflichtet gefühlt; sie haben ihre Es ist klar, dass Rot-Grün kein Opfer der wirtschaftli- Haushalte in Ordnung gebracht. Aber die beiden größten chen Krise ist. Sie sind die Täter, die rufen: Haltet den Volkswirtschaften in Europa, nämlich Frankreich und Dieb! Deutschland, haben das Ziel ausgeglichener Haushalte – ursprünglich für 2006 geplant – völlig aus den Augen (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) verloren, was im Fall von Deutschland durch den Nach- tragshaushalt deutlich wird. Nach der Steuerschätzung Diese falsche Politik werden wir Ihnen aber nicht durch- gibt es Steuerausfälle in Höhe von fast 20 Milliardengehen lassen. Euro. Herr Eichel, angesichts der Tatsache, dass keine Die Union bietet selbstverständlich klare Alternativen Besserung in Sicht ist, ist man sich auf nationaler und zu diesem rot-grünen Finanzchaos. auch auf internationaler Ebene im Klaren darüber, dass die Situation nicht besser wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Karl Diller [SPD]: Ihr beteiligt euch ja Wir müssen die Glaubwürdigkeit des europäischen gar nicht! Keinen einzigen Antrag habt ihr ge- Stabilitätspakts endlich wieder herstellen. Wenn Sie in stellt!) (B) dieser Situation behaupten, man könne in der Rezession (D) nicht sparen, dann ist das falsch. Während der Haus-Die erste ganz wichtige Politikänderung, die Deutsch- haltskonsolidierung in den 90er-Jahren waren land die braucht, zielt auf Verlässlichkeit der Politik im Wachstumsraten höher als in den 70er- und 80er-Jahren, Steuerrecht und in anderen Bereichen, und zwar durch als diese Defizite aufgebaut worden sind. Konsolidie- ein klares ordnungspolitisches Gesamtkonzept, das rung ist zu jedem Zeitpunkt das richtige wirtschaftspoli- weit über den engeren Bereich der Finanzpolitik hinaus- tische Konzept. Der Nachtragshaushalt 2003 mit seinem geht. Anders als Sie mit Ihrem Hü und Hott, Zick und Superdefizit ist eine Wachstumsbremse für Deutschland. Zack, Morgen und Übermorgen muss sich das Konzept Ihr Gerede über die automatischen Stabilisatoren istan der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard ori- wirtschaftspolitischer Blödsinn und führt in den Staats- entieren. Es muss dieses ordnungspolitische Leitsystem bankrott. in den Vordergrund stellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Zweitens. Wir brauchen eine symmetrische Finanz- politik, eine Finanzpolitik, die nicht immer bloß auf Wir werden diese laxe Haushaltspolitik bitter be- Steuererhöhungen zum Ausgleich von Defiziten setzt, reuen. Die Zinswende auf den Märkten, von der wir in diesen Tagen lesen können, ist die Antwort der Märkte (Karl Diller [SPD]: Hör auf!) auf die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bun- desregierung. Wir können rasch in eine Situation gera- sondern endlich auch auf der Ausgabenseite ansetzt. ten, in der Geldpolitik und Finanzpolitik gegeneinander (Walter Schöler [SPD]: Das werden wir dir arbeiten. Inflation und Geldwertdestabilisierung des Eu- noch zeigen!) ros wird das Ergebnis dieser Politik sein. Herr Eichel, Sie wollen doch nicht allen Ernstes be- Sie machen diese Politik nicht alleine; ich habe vorhin haupten, Sie hätten irgendwo bei den Ausgaben gespart. schon von Frankreich gesprochen. Wir Deutsche wären eigentlich aufgerufen, den europäischen Stabilitätspakt zu (Karl Diller [SPD]: Ihr wart doch ständig da- stärken, anstatt ihn zu schwächen. Das läge in unserem gegen, wenn wir gekürzt haben!) nationalen Interesse. Im Augenblick erinnert das Verhal- Jedes Jahr gibt dieser Staat, geben Sie mehr aus als im ten Deutschlands und Frankreichs im Ministerrat – das ha- Vorjahr. Wer mehr ausgibt, der spart doch nicht. ben Sie zu verantworten, Herr Bundesminister – eher an eine Sündergemeinschaft als an eine Stabilitätsgemein- (Karl Diller [SPD]: Warum habt ihr denn alle schaft. Sparvorschläge abgelehnt?) 6232 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Steffen Kampeter (A) Wir müssen aber endlich mit dem Sparen anfangen.Bereits frühzeitig wies die Union auf diese Risiken hin: (C) 2000 und 2001 hätten Sie konsolidieren können. Sie ha- Wir haben das im Juni in einem Antrag festgehalten und ben versagt. Jetzt ist es schwierig, aber wir müssen drin- genau so ist es eingetreten. gend auf der Ausgabenseite etwas machen. Denn um das Jahr 2010 oder 2015 trifft der demographische Schock (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Genau so, nicht nur unsere Sozialsysteme. Denken Sie auch an die wie es jetzt geworden ist, darauf haben wir Bundesschuld: Immer weniger Menschen werden das zu hingewiesen!) bezahlen haben, was Sie vergeigt haben. Sie haben es ganz genau gewusst. Sie haben auch im Haushaltsausschuss eingeräumt und das heute erneuert, (Walter Schöler [SPD]: Vielleicht stellt ihr ein- dass die Annahme, dass die Bundesanstalt für Arbeit mal einen Antrag dazu! Warum stellt ihr keine keinen Zuschuss brauchen würde, eine falsche Annahme Anträge? Keinen einzigen Antrag!) gewesen sei. Umsteuern tut Not. Deswegen sind drittens umfas- (Karl Diller [SPD]: Deswegen habt ihr 13 Mil- sende Reformen auf der Angebotsseite, vor allem auf liarden Mehrausgaben beantragt!) dem Arbeitsmarkt nötig, aber auch bei den Sozialversi- cherungssystemen. Vor allen Dingen können wir keine Sie haben es auch damals schon gewusst. Sie sind also verkorkste vorgezogene Steuerreform brauchen. Wir be- von einer vollkommen falschen Voraussetzung ausge- nötigen stattdessen eine umfassende, grundlegende Sa- gangen. Der Zuschuss beträgt heute nicht null, sondern nierung des Steuersystems, wie sie Friedrich Merz vor- 12 Milliarden Euro. geschlagen hat. Das brauchen wir in Deutschland, damit (Walter Schöler [SPD]: Ist doch schlimm!) es aufwärts geht, aber nicht die verfehlte Finanzpolitik, für die Hans Eichel steht. In jeder Kommunalverwaltung gilt, dass die Risiken einkalkuliert werden sollen, wenn nicht sogar müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Tritt der schlimmste Fall dann nicht ein, hat man den Spielraum, die Zuführung zum Vermögenshaushalt noch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: etwas zu erhöhen und damitdie Spielräume für die Zu- Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist kunft zu erweitern. Bei Ihrer Form der Haushaltsführung die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion. wären Sie als Kämmerer sofort gefeuert worden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Koppelin [FDP]) Jetzt kommen wir zur Größenordnung. 43,4 Milliar- (B) den Euro hört sich vielleicht nicht so groß an – das ent- (D) Ilse Aigner (CDU/CSU): spricht immerhin 84,88 Milliarden DM, für diejenigen, Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- die vielleicht noch mit DM-Beträgen rechnen –, das sind nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzministeraber 43 400 mal 1 Million Euro. Stellen Sie sich vor, Eichel, es war Ihnen ja sichtlich peinlich, auf der Presse- Herr Minister Eichel, das Christkind hätte Ihnen zu Ih- konferenz Ihren Nachtragshaushalt vorzustellen. Derrem Geburtstag am Weihnachtstag des Jahres 1941 ein „Spiegel“ zitiert Sie wie folgt: Geschenk in Höhe dieser 43,4 Milliarden Euro gemacht. Wir rechnen damit und begeben uns damit an den (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Frau Kol- unteren Rand oder die, wenn Sie so wollen, nega- legin, wollen Sie ihm vielleicht die Gelegen- tivste Variante, soweit wir das in unserer Vorschau heit geben, zuzuhören – er hat da eine wichtige sehen können, dass das für den Bundeshaushalt be- Lektüre!) deutet, dass wir bei der Steuereinnahmenseite einen – Ja, er hört schon zu. zusätzlichen Ausfall … Jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie und Ihre Familie die usw. usf. Möglichkeit gehabt hätten, jeden Tag 1 Million Euro auf (Walter Schöler [SPD]: Dem „Spiegel“ sind den Kopf zu hauen. Dann hätten Sie, wenn Sie 1941 an- Punkte und Kommas abhanden gekommen!) gefangen hätten, zum heutigen Datum ungefähr noch 20,7 Milliarden Euro übrig. Genauso chaotisch wie dieses Zitat ist die Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung, genauso kon- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: fus und chaotisch. Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie bzw. Ihre Nachkommen so weitermachen wür- den, hätten Sie noch bis 2060 Zeit. Dann hätten sie die- Das eigentlich Schlimme und Unerträgliche ist aber, ses Vermögen endlich aufgebraucht. Im Klartext: dass Sie schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung des 119 Jahre lang jeden Tag 1 Million Euro Schulden. Bundeshaushaltes 2003 wussten, dass die wesentlichen Parameter nicht eingehalten werden können. Noch eine andere Größenordnung, die mit dem Haus- halt zu tun hat: Wenn wir die Einzeletats des Bundesprä- (Walter Schöler [SPD]: Das ist eine böse Un- sidenten, des Deutschen Bundestages, des Bundesrates, terstellung! Das würde ich als Christin nicht des Bundeskanzlers, des Auswärtigen Amtes, des Innen- machen!) ministeriums, des Finanzministeriums selbst, des Minis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6233

Ilse Aigner (A) teriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) wirtschaft, des Ministeriums für Familien, Senioren, gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Frauen und Jugend, des Bundesverfassungsgerichtes, Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes des Bundesrechnungshofes, des Ministeriums für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie des – Drucksachen 15/1657, 15/1803 – Ministeriums für Bildung und Forschung und die Versor- Überweisungsvorschlag: gungsbezüge aller Beamten zusammenrechnen, dann er- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gibt sich eine Summe von 43,35 Milliarden Euro. Ausschuss für Tourismus (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Hört! Hört!) richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag Das ist immer noch weniger bzw. annähernd die Summe der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer der Neuverschuldung, die wir in diesem Jahr haben. (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ter und der Fraktion der CDU/CSU NEN]: Sie können ja einen Tilgungsvorschlag Verkehrsinfrastruktur auf EU-Osterweite- machen!) rung vorbereiten Das heißt im Klartext: Alle Etats dieser Verfassungs- – Drucksachen 15/467, 15/1195 – organe und der Ministerien sowie die Versorgung der Pensionäre werden in diesem Jahr zu 100 Prozent mit Berichterstattung: Krediten bzw. über Schulden finanziert. Abgeordneter Rainer Fornahl Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Unglaublich! – Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch dazu höre Jürgen Koppelin [FDP]: Unglaublich!) ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das ist eine Bankrotterklärung für den Finanzminister Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich, den obli- und diese Bundesregierung, denn mit diesem Nachtrags- gatorischen Schichtwechsel möglichst zügig und ge- haushalt amtlich bestätigt wird, dass sie versagt haben. räuschlos vorzunehmen, damit wir uns auch bei neuer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Besetzung untereinander verständigen können. Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär (B) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Achim Großmann das Wort. (D) Ich schließe die Aussprache. Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: wurfes auf Drucksache 15/1925 an den Haushaltsaus- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- schuss vorgeschlagen. nen und Kollegen! Der neue Bundesverkehrswegeplan 2003 ist die Grundlage für die zukünftigen Investitionen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hatten in die Straßen, in die Schienen und in die Wasserstraßen wir befürchtet! – Jürgen Koppelin [FDP]: Und unseres Landes. Er ist damit auch die Grundlage für die an Eichel zurück!) beiden Ausbaugesetze, die wir heute in erster Lesung be- – Darf ich den Zwischenruf des Obmanns einer der gro- raten. ßen Fraktionen im Haushaltsausschuss als Zögerlichkeit Bis 2015 wollen wir 150 Milliarden Euro in eine zu- bei diesem Überweisungsvorschlag interpretieren? kunftsfähige, vernetzte, ökologisch vertretbare und da- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nein! Wir mit nachhaltige Verkehrsinfrastruktur investieren. sind einverstanden!) Hinzu kommen die Regionalisierungsmittel und Anteile aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Ich stelle allgemeines Einvernehmen fest. Dann ist das Wir haben die wesentlichen Eckpunkte neu gesetzt. so beschlossen. Dieser Plan ist zukunftsfähig, weil die Herausforderun- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: gen der EU-Osterweiterung, die Entwicklung zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft und die a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zunehmende Mobilität aufgegriffen werden und eingear- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur beitet worden sind. Er ist zukunftsfähig, weil seine Pro- Änderung des Bundesschienenwegeausbau-gnosen stimmiger sind als die Prognosen des vorherigen gesetzes Bundesverkehrswegeplanes von 1992. – Drucksachen 15/1656, 15/1804 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: Überweisungsvorschlag: Wer’s glaubt, wird selig! – Horst Friedrich Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit [Bayreuth] [FDP]: 100 Prozent Zunahme im Ausschuss für Tourismus Güterverkehr auf der Schiene!) 6234 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) – Weil ich wusste, dass Kollege Friedrich die Zunahme (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (C) im Güterschienenverkehr ansprechen wird, DIE GRÜNEN]: Richtig!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ihr werdet euch Waren 1992 noch 130 Projekte in einerUmweltrisikoein- noch wundern!) schätzung, so haben wir für den Bundesverkehrswege- habe ich mir natürlich, Herr Friedrich, die Zahlen ausplan 2003 800 Projekte einer Umweltrisikoeinschätzung dem Bundesverkehrswegeplan 1992 herausgesucht. unterzogen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hört! Hört! Interessant!) DIE GRÜNEN]: Herkulesarbeit!) Darin steht im Hinblick auf die Eisenbahn, dass die alte Ich glaube, das zeigt, wie gründlich wir vorgegangen Bundesregierung für das Jahr 2010 194 Milliarden Ton- sind. nenkilometer im Güterverkehr geschätzt hat. Unsere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schätzung beträgt 148 Milliarden Tonnenkilometer für DIE GRÜNEN) 2015. Sie müssen zugeben: Wenn wir mutig waren, dann sind Sie mit Ihrer Schätzung jenseits von Gut und Böse Die Voraussetzungen werden auch dadurch nachhalti- gewesen. ger, weil wir stärker in den Bestand und in die Instand- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haltung investieren. Wir müssen aufhören, so zu tun, als DIE GRÜNEN) erschöpfe sich Verkehrspolitik nur im Neubau. Wir müs- sen die Straßen und Schienen, die vorhanden sind, pfle- Der Plan vernetzt die Verkehre besser als der altegen, warten, auf Vordermann bringen und für die Zu- Plan. Das ist erforderlich,weil die prognostizierte Zu- kunft fit machen. nahme des Güterverkehrs von 64 Prozent und die pro- gnostizierte Zunahme des Personennahverkehrs von (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das klingt gut!) 25 Prozent es unabdingbar machen, dass wir die Ver- Das sind, wenn Sie so wollen, schon genug Gründe, kehre miteinander verzahnen, dass wir die Attraktivität warum wir einen neuen Bundesverkehrswegeplan ma- einzelner Verkehrsträger verbessern und das Wechseln chen müssen. Trotzdem will ich dem alten Bundesver- von einem zum anderen schneller und einfacher ermögli- kehrswegeplan noch ein paar Sätze widmen. Der 92er chen. Plan hat einen Vorlauf und ein Ergebnis. Es wurde ein Dazu ist es notwendig, dass wir die Investitionen für Bundesverkehrswegeplan vorgelegt. Dann gab es die die Schiene und für die Straße anpassen. Es ist interes- beiden Ausbaugesetze – und siehe da, am Ende stand (B) sant, zu hören, dass wir von vielen Ländern aufgefordert eine Summe von 538,8 Milliarden DM. Wenn man das (D) worden sind, bei den Schieneninvestitionen ein wenig umrechnet, sind dies jährlich 12,5 Milliarden Euro. Als kürzer zu treten, und dass uns vorgeworfen worden ist, wir 1998 die Regierung übernommen haben, haben wir wir würden zu wenig für die Straße machen. Dann hätte im Etat eine Summe von 9,6 Milliarden Euro vorgefun- man doch damit rechnen müssen, dass im Bundesrat den. Darin waren noch die Gemeindeverkehrsfinanzie- einige Länder, die so denken, Anträge stellen würden, rungsmittel von 1,6 Milliarden Euro enthalten. Also ha- bei der Schiene etwas zu streichen. Das Gegenteil war ben wir im Grunde 8 Milliarden Euro vorgefunden. der Fall. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Das ist schon erstaunlich!) DIE GRÜNEN]: So ist es! Richtig!) Auch bei der Schiene haben die Bundesländer weitere 12,5 Milliarden Euro waren geplant, vorgefunden haben Projekte gefordert, sodass man diesen Vorwurf nichtwir 8 Milliarden Euro. ernst nehmen kann. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: So wird (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es mit jedem Plan sein! Bei Ihnen wird es DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: schlimmer werden!) Es besteht der Bedarf in Deutschland!) Selbst wenn Sie in den Jahren davor und in den Jah- Erstmals prognostizieren wir durch dieVerzahnungslö- ren danach besser gewesen wären, wird damit für jeden sung, die wir in den Plan eingearbeitet haben, das Absin- klar: Das war ein Plan, der keine finanzielle Basis hatte. ken des modalen Anteils des Güterstraßenverkehrs.Von daher war es dringend notwendig, hier nachzuarbei- Auch das ist eine mutige Annahme, die es jetzt zu erfül- ten. len gilt. Neue Raumordnungskriterien geben struktur- schwächeren Räumen neue Entwicklungschancen. Auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das ist ein Vorteil für die Verzahnung und Vernetzung DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] von Verkehrsinfrastruktur insgesamt. [CDU/CSU]: Sehen Sie sich den Plan von 1976 an! Das ist doch albern, was Sie sagen!) Der Plan ist ökologisch besser verankert und nachhal- tiger, und zwar durch die bessere Vernetzung, aber auch Jetzt will ich Ihnen einmal die Pressemitteilung aus durch eine tiefergehende und vor allen Dingen frühere dem Bundesverkehrsministerium vorlesen, die nach der ökologische Prüfung mit einem Hinweis auf besondere Verabschiedung der beiden Ausbaugesetze herausgege- naturschutzfachliche Planungsbedarfe. ben wurde – jetzt wird es noch spannender –: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6235

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) Als wesentlichste Änderung gegenüber der Regie- stellt. Im Mai 2002 erfolgte die Übergabe der ersten(C) rungsvorlage des Bundesverkehrswegeplanes 1992 gutachterlichen Bewertung. Mit einer CD-ROM sind wurde eine Erweiterung des Planungsvolumens des alle Bundestagsabgeordneten und auch die Länder infor- Bundesverkehrswegeplanes für Neubau- und Aus- miert worden. Es gab, was sonst nicht üblich ist, schon baumaßnahmen des vordringlichen Bedarfs umin diesem Stadium eine Plausibilisierungsmöglichkeit. 20 Milliarden DM bei gleichzeitiger Verlängerung Alle Länder und viele Verbände sowie Abgeordnete ha- des Gültigkeitszeitraumes des vordringlichen Be- ben das genutzt. Sie konnten sich das Zahlenwerk an- darfs bis zum Jahre 2012 beschlossen. schauen und Einwände erheben. Sie haben lustig draufgesattelt und den Bundesver- Im Jahre 2003, also nur etwa drei Monate nach dem kehrswegeplan einfach um zwei Jahre verlängert, umletzten Rücklauf seitens der Länder, haben wir den Refe- nur ja keine Prioritäten zu setzen und jedem Konflikt aus rentenentwurf vorgelegt. Es gab dann erneut bilaterale dem Weg zu gehen. So kann man aber keine verlässliche Gespräche und Verbändeanhörungen. Mitte Juni 2003 Verkehrspolitik in Deutschland betreiben. war unsere Kabinettvorlage fertig und sie ist pünktlich, wie versprochen, am 2. Juli 2003 verabschiedet worden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Warten wir es ab!) Es gab schon im Vorlauf dieser Debatte Presseverlaut- barungen; das ist so üblich. Frau Blank und Herr Fischer In der Zwischenzeit, von Januar bis Juni, haben wir schreiben: „Mit der Ausrichtung an einen zu engenmehrere Hundert Stunden kommuniziert, Gespräche ge- Finanzplan versucht die rot-grüne Bundesregierung, die führt. Zukunftsbedarfe zu verdrängen.“ (Renate Blank [CDU/CSU]: Es kommt nicht auf (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ist die Gespräche an, sondern aufs Handeln!) so! Das streichen Sie zusammen! Das haben Es gab Gespräche des Ministers und der Staatssekretäre Sie gemacht!) mit Bürgermeistern, Oberbürgermeistern, Landräten, Die finanzielle Seriosität unseresBundesverkehrswe- MdLs, MdBs, mit Vertretern von Verbänden und Bürger- initiativen. Ich glaube, wir haben eine Kommunikations- geplanes ist nicht sein Manko, sondern seine Stärke. leistung hinter uns, die sehr ungewöhnlich war und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es in diesem Umfang bis jetzt noch nicht gegeben hat. DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jubel, Trubel, Heiterkeit!) DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Ingolstadt] (B) Wir setzen 150 Milliarden Euro ein. Das sind etwa [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine (D) 10 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist das, was machbar persönliche Leistung! Das muss man sagen!) erscheint. Die Planungsreserve ist ausdrücklich erwähnt. Bei der parlamentarischen Beratung wollen wir auf Wir haben im Plan nicht gepfuscht, sondern ausdrück- diesem guten Wege weitermachen. Wir haben Ihnen um- lich auf eine Planungsreserve hingewiesen. Wir haben fangreiche Informationen zukommen lassen, so zum auch noch ein bisschen Luft, was auch nötig ist, weilBeispiel zusätzliche Karten in Bezug auf die Schienenin- man nie genau weiß, was noch kommt. vestitionen. Wir haben nach Autobahn- und Bundes- Wir haben bei fast allen A-Modellen mit einer 100-pro- straßennummern systematisierte Listen erstellt, die Ih- zentigen Finanzierung gerechnet, nen bei dem Auffinden von Projekten helfen werden. Wir haben für die Internetverfügbarkeit gesorgt und wir (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ haben im Ausschusssekretariat 60 Ordner mit allen Dos- DIE GRÜNEN]: Richtig!) siers in schriftlicher Form. Weiterhin haben wir im Aus- schuss rechnergestützte Präsentationsmöglichkeiten. Ich obwohl die Finanzierung der A-Modelle bis zum Jahre glaube, wir sind auf einem guten Weg, diesen Bundes- 2015 noch gar nicht abgeschlossen sein wird. Wir sind verkehrswegeplan und die damit verbundenen Ausbau- bei der Maut – ich weiß, es ist ein unsägliches Thema – gesetze wirklich intensiv beraten zu können. trotz zu erwartender Verkehrssteigerungen – es sollen 65 Prozent mehr Güter transportiert werden und ein gro- Es bleibt mir, all denen zu danken, die bis zum jetzi- ßer Teil davon sicher auf der Straße – von Einnahmen gen Zeitpunkt geholfen haben, dies alles vorlegen zu ausgegangen, die von der Höhe her denen des Erstjahres können. Dazu zählen natürlich die Länder, die Verbände, entsprechen. Wir haben keine durch die verkehrliche Zu- aber auch viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Bun- nahme bedingten Steigerungsraten eingerechnet. Auch destag. Es ist auch die gute Zusammenarbeit mit den an- das spricht für die Seriosität der finanziellen Unterle-deren Ressorts zu erwähnen. Wir haben mit dem BMU gung dieses Bundesverkehrswegeplans. vorher korrespondiert und nicht erst nachher. Sicherlich gehören auch die externen Gutachter dazu. Mein ganz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ besonderer Dank gilt aber den Mitarbeiterinnern und DIE GRÜNEN) Mitarbeitern meines eigenen Ministeriums, die teilweise Tag und Nacht an diesem Plan gearbeitet haben, um Die Vorbereitung dieser Gesetzgebung war so pünktlich fertig zu werden. transparent, offen und kommunikativ wie noch nie zu- vor. Bereits die Zusammenstellung der Länderanmel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungen wurde dem Fachausschuss zur Verfügung ge- DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: 6236 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) Da wird sicherlich wieder der Richtige beför- Meine Damen und Herren, was sind die grundlegen- (C) dert!) den Überlegungen, von denen wir ausgehen müssen? Es gibt kein Wachstum ohne Mobilität. Wirtschaftswachs- Ich freue mich auf die Zusammenarbeit bei der Bera- tum führt zu zusätzlicher Verkehrsnachfrage. Die Öff- tung dieses großen Werkes und hoffe, dass wir gründ- nung der Märkte hat die Arbeitsteilung beflügelt. Dass lich, aber auch zügig beraten; denn noch liegen wir im sich diese fortsetzt, ist durch die fortschreitende EU-Ost- Zeitplan und es wäre schön, wenn diejenigen, die darauf erweiterung zu erwarten. Den dadurch entstehenden Gü- warten, mit konkreten Zahlen, Daten und Fakten arbei- terverkehr zu verhindern wäre also ein Risiko für ten zu können, in den Genuss einer möglichst schnellen Wachstum und Beschäftigung. Sie sollten nicht verges- Verabschiedung dieser Ausbaugesetze kommen würden. sen, dass Deutschland auch für Europa Verantwortung Vielen Dank. trägt. All diesen Überlegungen wird der Verkehrswege- plan in keiner Weise gerecht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Schon 1998 hat die Verkehrsministerkonferenz der Länder festgestellt – damals hatten Sie von Rot-Grün Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Bundesrat bekanntlich noch die Mehrheit –, dass pro Ich erteile der Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Jahr rund 4 Milliarden DM, also etwa 2 Milliarden Euro, Fraktion, das Wort. für den Neubau, den Ausbau und den Erhalt fehlen. Mit- tlerweile ist dieser Betrag auf 2,5 Milliarden Euro pro Renate Blank (CDU/CSU): Jahr angewachsen und er wird aufgrund der gekürzten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DemHaushaltsansätze und der fehlenden Maut immer größer Dank an Ihre Mitarbeiter schließen wir uns gern an, aber werden. Aber gerade der Erhaltungsbedarf nimmt erheb- sonst keinen Ausführungen Ihrer Rede. All das, was ich lich zu, wie Ihren Straßenbauberichten der letzten Jahre hier mitbringe, nämlich das Fernstraßenausbaugesetzzu entnehmen ist. Ein weiterer Substanzverlust ist im In- mit Anlage und der Bundesverkehrswegeplan, ist dasteresse der Verkehrssicherheit nicht mehr hinnehmbar. Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist, Der Autofahrer zahlt schließlich die hohen Steuern in- klusive der Ökosteuer, damit er nicht auf holprigen Stra- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ßen herumfahren muss. der SPD) und zwar aus folgendem Grund: Was zu Beginn dieser Nehmen Sie zur Kenntnis, dass dieStraße der Ver- Woche zu hören war, ist Wirklichkeit geworden. Sie ha- kehrsträger Nummer eins in Deutschland ist. ben einen Baustopp verhängt. Davon sind Straßenbau- (B) projekte betroffen, die notwendig sind. Der Verkehrs- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) minister kann uns im Ausschuss noch so viel erzählen, NEN]: Ach, das haben wir noch nicht ge- dass wir uns auf gutem Wege befinden würden, denn die merkt! Das ist eine echte Weisheit!) Straßenbauprojekte würden weitergeführt. Er hat den Ausschuss in allem getäuscht. – Das haben Sie noch nicht gemerkt? Schade! Dann sage ich Ihnen das jetzt. – Auch der PKW-Verkehr wird Stei- Realität ist: Durch die Affäre um die Maut steht Geld, gerungen zu verzeichnen haben; denn unsere Arbeits- das für den dringend notwendigen Neubau, Ausbau und welt wird flexibler werden, ob wir wollen oder nicht. Unterhalt der Straßen gebraucht wird, nicht zur Verfü- Flexible Arbeitszeiten rund um die Uhr können nicht mit gung. Das Problem, dass es beim Straßenbau nicht wei- dem ÖPNV bewältigt werden; nehmen Sie das einmal tergeht und dass Bauprojekte gestoppt werden, habenzur Kenntnis. Durch veränderten Freizeitverkehr mit ge- Sie zu verantworten. Durch den Ausfall der Maut – wir stiegenem Mobilitätsbedürfnis der Bürgerinnen und Bür- haben gehört, dass die LKW-Maut erst am 1. September ger und veränderte Arbeitszeiten wird es andere Dimen- starten soll – entgehen uns weit über 2 Milliarden Euro sionen geben. Mit der Schiene oder dem ÖPNV können für die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland. Das haben die Anforderungen an den Verkehr, die sich daraus erge- Sie zu verantworten. ben, schon aus Kostengründen nicht bewältigt werden. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist raue Wirklichkeit!) Durch Baumaßnahmen werden Arbeitsplätze ge- schaffen. Denken Sie bitte an die Bauwirtschaft, die zur- Ich wusste nicht, dass Sie, meine Damen und Herren zeit darnieder liegt! Investitionen in Höhe von 1 Mil- von Rot-Grün, so fußballfeindlich sind. Eine Straßenan- liarde Euro sichern 20 000 bis 25 000 Arbeitsplätze. bindung an die Stadien für dieWeltmeisterschaft 2006 ist dringend erforderlich. Deren Bau wird unter Zeit- Nun einige Anmerkungen zumBundesverkehrswe- druck geraten. geplan. Sie haben das politische Verfahren zum BVWP (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geändert. Sie haben die Öffentlichkeit informiert und NEN]: Es sind eine Menge von Projekten be- eine öffentliche Diskussion herbeigeführt. Das Parla- troffen, die nichts, aber auch gar nichts mit der ment dagegen, das schließlich über die Ausbaugesetze Fußballweltmeisterschaft zu tun haben!) zu entscheiden hat, konnte sich erst nach Vorliegen des Kabinettsbeschlusses mit dem BVWP befassen. – Kollege Hermann, es besteht Zeitdruck. Schließlich wollen Sie bei der WM 2006 dabei sein – dann aller- (Zuruf von der SPD: Das ist normalerweise dings als Politiker der Opposition. so!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6237

Renate Blank (A) Die Irritationen, die durch diese Vorgehensweise ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) standen sind, lasse ich an dieser Stelle beiseite. Meine Damen und Herren, eine weitere neue Einstu- Neben der Änderung des politischen Verfahrensfung im BVWP – man könnte sie auch als Erfindung der wurde ein weit schwerer wiegender Wechsel vorge-Bundesregierung zulasten der Länder bezeichnen –, nommen – jetzt wird es wichtig –, nämlich ein konzep- nämlich der „Weitere Bedarf mit Planungsrecht“, tioneller Wechsel von der Nutzen-Kosten-Analyse zur wirft nichts als Fragen auf. Das bedeutet, dass der Bedarf Nutzwertanalyse. Die Nutzen-Kosten-Untersuchungfür die Linienbestimmung und die Planfeststellung ver- war und ist ein international anerkanntes Verfahren, mit bindlich festgelegt ist. Nicht geregelt ist jedoch, wie mit dem weltweit die volkswirtschaftliche Rentabilität von diesen Maßnahmen nach bestandskräftiger Planfeststel- Infrastrukturentscheidungen nachgewiesen wird und das lung umgegangen wird. Im Fernstraßenausbaugesetz nachprüfbare Wirkungen aufzeigt. Die Transformation muss daher geregelt werden, dass die Maßnahmen des der Nutzen-Kosten-Analyse zur Nutzwertanalyse ist des- „Weiteren Bedarfs mit Planungsrecht“ nach Bestands- halb methodisch ein Rückschritt. Diese enthält subjek- kraft der Planfeststellungsbeschlüsse automatisch zu tive Einstufungen und Gewichtungen, also ob etwas gut Maßnahmen des Vordringlichen Bedarfs werden. oder schlecht ist, je nachdem, ob es Rot oder Grün passt, und verzichtet auf objektive Wirkungen, die am Markt (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Jetzt wird es überprüfbar sind. Dieser konzeptionelle Wechsel zu ei- aber beliebig!) nem offenen Katalog von Wirkungen öffnet der Belie- Ansonsten besteht die Gefahr, dass solche Projekte nicht bigkeit Tür und Tor. Das trifft auch für die neu geschaf- rechtzeitig umgesetzt werden können. fene Einstufung „neue Vorhaben mit besonderem naturschutzfachlichen Planungsauftrag für den Vordring- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) lichen Bedarf“ zu. Bei diesen Einstufungen werden Raumwirksamkeits- und Umweltkriterien teilweise dop- Da die Planungskosten derartiger Projekte vorab zu- pelt erfasst. lasten der jeweiligen Länder gehen, ist den Ländern nicht zuzumuten, Planungen auf ihre Kosten zu betrei- Zudem erschwert diese neu geschaffene Kategorie die ben, ohne die Gewissheit zu haben, dass diese Maßnah- Genehmigungsverfahren durch die notwendig werdende men auch tatsächlich verwirklicht werden. individuelle Begründung der Planrechtfertigung und deren Anfechtbarkeit. Wenn Sie schonneue Kriterien (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ einführen mussten, dann hätte ich mir Kriterien wie So- DIE GRÜNEN]: Wir haben niemanden ge- zialverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zwungen!) oder Strukturwandel vorstellen können. Dies wären ob- (B) jektive Kriterien gewesen. Das sollten Sie bitte ernst nehmen; denn das wäre eine(D) Verschwendung von Steuergeldern. Diese Sorge schei- Bei der dritten Beliebigkeit geht es um die Zusagen nen die Bundesregierung und Rot-Grün allerdings wirk- des Bundeskanzlers bzw. seiner Minister. lich nicht zu haben. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl, sehr (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wahr!) NEN]: Bei Ihnen ist zu viel ohne Basis geplant Ohne Rücksicht auf das Nutzen-Kosten-Verhältnis wur- worden!) den vor Ort politische Zusagen in Höhe von immerhin Im BVWP fehlt auch der Transrapid, obwohl die EU rund 3 Milliarden Euro gemacht. die Transrapid-Planungen in München mit einem Zu- (Heinz Paula [SPD]: Ach was!) schuss unterstützt. Ich kann mir natürlich vorstellen, dass man den grünen Koalitionspartner nicht verprellen Teilweise sind Projekte dabei, die den sonst vorgegebe- möchte. nen Faktor von 5,2 bei weitem nicht erreichen. Herr Staatssekretär, der Bundesverkehrswegeplan 2003 ist (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ – im Gegensatz zum BVWP 1992 – von einem sachge- DIE GRÜNEN]: Das ist ein Tropfen auf den rechten Bedarfsplan zu einem Beliebigkeitsplan verkom- heißen Stein! Es sind 7,5 Millionen Euro bei men. Projektkosten in Höhe von 1,3 Milliarden Euro!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Beliebigkeit kann man über- – Lieber Kollege Schmidt, Sie waren ja schon immer ge- haupt nicht planen!) gen den Transrapid und sind es nach wie vor. Das kommt halt davon, wenn man statt verkehrspoliti- Lassen Sie mich noch einige Worte zur Privatfinan- schen Sachverstand nur treue Genossen in das Ministe- zierung von Projekten sagen. Dieprivaten Konzes- rium einziehen lässt, um sie zu belohnen. sionsmodelle unterliegen der ausdrücklichen Zustim- (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Hört! mung und Kontrolle des Parlaments. Das Parlament hat Hört!) aber keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Ver- träge im Zusammenhang mit den nach dem Fernstraßen- Der Sachverstand und die Sachkenntnis bleiben auf der bauprivatfinanzierungsgesetz vorgesehenen Vorhaben. Strecke. Das ist beim BVWP und bei der LKW-Maut ganz deutlich zu erkennen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das stimmt!) 6238 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Renate Blank (A) Schade, dass Rot-Grün meinem damaligen Hinweis Ein Zweites ist neu, Kollege Friedrich: (C) beim Hearing nicht gefolgtist; denn wie wichtig die Kontrolle durch das Parlament ist, erleben wir derzeit (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist ja beim Vertrag bezüglich der LKW-Maut. nicht neu! Planung ist nicht wesentlich neu!) Mit diesem Bundesverkehrswegeplan ist zum ersten Mal Meine Damen und Herren, das Fernstraßenausbauge- ein nachvollziehbares Verfahren zur besserenUmwelt- setz, das die Projektliste beinhaltet, hat große Mängel verträglichkeit eingehalten worden. Das ist absolut in- und findet in dieser Form nicht unsere Zustimmung. Wir novativ; das wurde von Herrn Staatssekretär Großmann hoffen, dass im Zuge der Beratungen die Vernunft bei bereits angesprochen. Rot-Grün einkehren wird, damit wir am Schluss ein Ge- setz zum Ausbau der Fernstraßen vorliegen haben, das (Renate Blank [CDU/CSU]: Das war doch den Namen auch verdient schon 1993 drin!) (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hunderte von ökologisch problematischen Einzelprojek- NEN]: Was heißt bei Ihnen Vernunft?) ten wurden im Vorscreening untersucht und detailliert nachuntersucht. Eine ganze Reihe von Alternativplanun- und das nicht als Verhinderungsgesetz von Rot-Grüngen wurde auf diese Weise auf den Weg gebracht und bei verabschiedet wird. vielen dieser Projekte gibt es noch den ökologischen Pla- nungsvorbehalt, der im Klartext bedeutet: So nicht, es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sei denn, der ökologische Vorbehalt lässt sich im weite- ren Planungsverlauf abarbeiten. Auch das ist ein Fort- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schritt in puncto Umweltverträglichkeit, der unserer Ich erteile dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/ Fraktion ganz besonders wichtig ist. Die Grünen, das Wort. Das ist in einer Transparenz geschehen, die einmalig ist, und diese Transparenz – das will ich hier einmal sa- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE gen – hat einen Namen. Jeder von uns, die wir hier sit- GRÜNEN): zen, und jeder aus einer Landesregierung, ob schwarz Geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- oder rot oder grün, konnte dort hingehen, konnte anru- legen! Der neue Entwurf des Bundesverkehrswegeplans, fen, konnte schreiben und fand ein offenes Ohr, wenn es der im formellen Sinne erst mit der heutigen ersten Le- sein musste, bei Tag und bei Nacht. Dieser Name lautet sung in die parlamentarischen Beratungen eingebracht Achim Großmann. Ich fände es fair, Kollegen, wenn diese Leistung auch wirklich gewürdigt würde. (B) wird, ist sicherlich kein Evangelium. Er ist auch nicht (D) der Wunschkatalog, den sich die Grünen immer vorge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt haben. Er lässt für viele auf allen Seiten des Hau- und bei der SPD) ses, auch bei uns, noch Wünsche offen; das ist gar keine Frage. Aber ich glaube, dieser neue Bundesverkehrswe- Ebenfalls neu an dem uns jetzt vorliegenden Plan ist geplan, den wir jetzt im Parlament zu beraten, zu verän- die Ausgewogenheit in der Mittelverwendung. Zum dern und zu diskutieren haben werden, enthält in wesent- ersten Mal wird der Anspruch ernst genommen, dass die lichen Punkten ganz zentrale Fortschritte. Verkehrsträger, wenn wir sie denn gleichermaßen brau- chen und gleichermaßen entwickeln wollen, auch auf der Es ist meines Erachtens der erste Bundesverkehrswe- investiven Seite gleichermaßen ausgestattet werden geplan, der das Kriterium der Haushaltsehrlichkeit und müssen. Dabei geht es mir nicht um eine rechnerische, der Bezahlbarkeit überhaupt ernst nimmt. pfennigfuchserische Gleichstellung. Zum ersten Mal aber gibt es in der Gesamtschau der Investitionen des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundes über die einzelnen Verkehrsträger eine Ausge- und bei der SPD) wogenheit der Mittel und wir als Fraktion werden auf die Hier wird zum ersten Mal nicht einfach alles aufge-Einhaltung dessen auch im Vollzug der Haushaltspläne schrieben, was man aus guten oder schlechten Gründen für die kommenden Jahre achten. wünschen könnte, sondern es wird, auch unter Inkauf- Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der nahme von Konflikten, darauf hingewiesen: Nicht alles, meines Erachtens in diesem Plan völlig neu ist, nämlich was für den einen oder anderen wünschenswert ist, ist die Gewichtung zwischen Bestand, Bestandserneuerung auch bezahlbar. und Bestandserhaltung, und zwar bei Straße wie bei Meines Erachtens ist auch mit derPlanungsreserve Schiene, auf der einen Seite und Neubau und Ausbau auf ein realistischer Rahmen eingehalten worden; denn man der anderen Seite. Mit diesem Plan werden zum ersten muss davon ausgehen, dass im Schnitt jedes vierte Pro- Mal klare Prioritäten für Bestandserneuerung und Be- jekt durch Planungsschwierigkeiten Verzögerungen er- standserhalt gesetzt. Nach dem Grundsatz „Sanierung fährt oder sogar ganz auf der Strecke bleibt, sodass ein vor Ausbau und Neubau“ gehen 56 Prozent der investi- Reserveprojekt nachrückt, das dann auch geplant sein ven Mittel in den Bestand und nur 44 Prozent in Ausbau muss. und Neubau. Bei der Schiene ist das Verhältnis übrigens noch krasser, nämlich zwei Drittel zu einem Drittel, bei (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist der Straße ist es etwa fifty-fifty. Das heißt, es wird aner- doch nichts Neues!) kannt, dass wir eines der dichtesten Verkehrsnetze in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6239

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) Europa, wenn nicht auf der Welt haben und dass dieses gen von Projekten abzweigen, die wir in dieser Form(C) zu erhalten und fortzuentwickeln eine Menge Anstren- niemals bezahlen werden? Das ist ein schlechter Witz. gungen verlangt und selbstverständlich eine natürliche (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bremse gegenüber neuen Zubau- und Ausbauwünschen NEN]: Der Witz kostet Geld!) darstellt, die dann eben im buchstäblichen Sinne auf der Strecke bleiben müssen. – Dieser Witz kostet auch noch Geld. Das ist das Trau- rige daran. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich will ein anderes Projekt ansprechen, das die Kol- legin Renate Blank bereits erwähnt hat, nämlich den Ich möchte, verehrte Damen und Herren, darum bit- Transrapid. ten, dass wir uns bei den anstehenden Beratungen die Einzelprojekte dennoch sehr genau anschauen. (Renate Blank [CDU/CSU]: Was ihr nie wolltet!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Projekt für Pro- jekt! Wir gehen jede Straße in Deutschland Frau Kollegin Blank, dieses Projekt ist nicht im Bundes- durch!) verkehrswegeplan enthalten. Warum? Der ganze Plan ist ja, wie gesagt, kein Evangelium. Si- (Renate Blank [CDU/CSU]: Weil Sie es nicht cherlich gibt es Änderungswünsche und Änderungsbe- wollen!) darf. Es gibt auch Ungereimtheiten. Ich will ein Beispiel Nein, überschätzen Sie nicht die grüne Fraktion oder nennen. Wenn die A 4, die Rothaargebirgsautobahn, in grüne Personen. Nordrhein-Westfalen gar nicht vorhanden ist, aber in Rheinland-Pfalz plötzlich fortgeführt werden soll, dann (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Eine ist das natürlich eine Ungereimtheit, die wir beseitigen Runde Mitleid!) müssen. Ich kann Ihnen genau sagen, warum es im Bundesver- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ja, wer war kehrswegeplan nicht enthalten ist, Frau Kollegin Blank: denn das? – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist kein Bundesverkehrsweg, sondern ein Landespro- In Rheinland-Pfalz findet A 4 nicht statt! Die jekt, für das der Bund nur Zuschussgeber ist. betrifft Nordrhein-Westfalen und Hessen! So (Renate Blank [CDU/CSU]: Na, na!) viel zur Geographie!) In einer Zeit, in der wir darum kämpfen müssen, un- – Das ist richtig. Ich habe mich versprochen. Ich be-sere eigenen Projekte für Straße und Schiene überhaupt (B) trachte die Rothaargebirgsautobahn auf dieser Seite der zu finanzieren, sollten wir dem Drängen nach erhöhten (D) Landesgrenze eher als eine Anekdote, die wir aber nicht Bundeszuschüssen für ein reines Landesprojekt nicht außer Acht lassen dürfen. nachgeben. Deshalb werden wir an dieser Stelle sehr klar und sehr entschieden bei dem bleiben, was bisher Ich bin der Meinung, dass wir an einigen Stellen Klar- verabredet war. heit schaffen müssen, zum Beispiel bei der Einbindung der Stadt Mannheim in das Hochgeschwindigkeitsnetz Ich danke Ihnen. der Bahn. Wir sind uns sicherlich alle einig, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einbindung natürlich über den Hauptbahnhof Mannheim und bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ erfolgen muss, nicht irgendwo über die grüne Wiese CSU]: Das hat bundesweite und sogar welt- oder über eine Bypasslösung, die keiner im Hause will. weite Bedeutung!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU) Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die Ich könnte diese Beispiele fortsetzen. Ich persönlich FDP-Fraktion. bin sehr froh, dass hinsichtlich der Donau eine Klarstel- lung erfolgt; dies möchte ich aus gegebenem Anlass sa- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): gen. Wenn der Freistaat Bayern auf eigene Kosten meh- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rere Raumordnungsverfahren eröffnen will, um dieHerr Staatssekretär, ich darf mich dem Dank an Sie und Staustufenvarianten zu prüfen, obwohl er gar nicht Maß- die Mitarbeiter Ihres Hauses im Namen der FDP-Frak- nahmenträger bzw. Baulastträger dieses Konzeptes ist, tion anschließen. Es war eine Fleißarbeit. Ich füge aller- dann möchte ich den Landesrechnungshof in Bayern da- dings hinzu: Auch der Bundesverkehrswegeplan 1992 rum bitten, diese Maßnahmen zu überprüfen. Welchen ist nicht von den Heinzelmännchen gemacht worden, Sinn macht es, wenn der Bundestag letztes Jahr einesondern vom Ministerium, von Parlamentariern und ver- staustufenfreie Lösung beschlossen hat, wenn im Bun- antwortlich handelnden Politikern. desverkehrswegeplan eine staustufenfreie Lösung fest- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der geschrieben ist – nur dafür gibt es Geld –, wenn dies in CDU/CSU) den Beratungen noch einmal bekräftigt wird, aber Herr Stoiber und Herr Wiesheu meinen, sie könnten zusätz- Dies war ein etwas größeres Werk, weil wir kurz zuvor lich Geld aus der Landeskasse für sinnlose Untersuchun- die deutsche Einheit vollzogen haben. Das war 6240 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) sicherlich eine genauso große Aufgabe wie die EU-Ost- Selbst die Bahn glaubt nicht an 100 Prozent. Wenn ich (C) erweiterung, die Sie hätten bewältigen sollen, aber leider es richtig gehört habe, prognostiziert Herr Mehdorn bes- nicht bewältigt haben. tenfalls die Hälfte. Ich ge fü hinzu: Das ist für mich schon ein ausgesprochen ehrgeiziges Ziel. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Wir haben heute von dem Herrn Staatssekretär große DIE GRÜNEN]: Sie glauben doch sonst nicht Worte zur Vergleichbarkeit der Planung und der Finan- alle Zahlen von Mehdorn!) zierbarkeit gehört. Tatsache ist, dass zum jetzigen Zeit- punkt ein Ausbau von Bundesautobahnen im Wesentli- Vor diesem Hintergrund darauf zu setzen, dass die Pro- chen nur noch dann stattfindet, wenn die entsprechenden bleme des Bundesverkehrswegeplanes bis 2015 im We- Bundesländer im so genannten Swing-Finanzierungsver- sentlichen dadurch zu lösen sind, dass der Güterverkehr fahren ihre Mittel im Vorgriff ausgeben, in der Hoff-auf der Schiene um 100 Prozent zunimmt, zeigt eigent- nung, dass ihnen der Bund diese im nächsten Jahr zu- lich, auf welch schwachen Füßen Ihre Planungen stehen. rückerstattet. Das giltim Übrigen auch für die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. So viel zur Finan- Nun zum Kollegen Schmidt, der als großes Thema zierungssicherheit. angeführt hat, man habe besondere Umweltverträglich- keitsprüfungen eingeführt. Vor dem Hintergrund der Situation mit der Maut, den (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ dafür eingefrorenen Finanzmitteln für dieses Jahr in DIE GRÜNEN]: Risikoeinschätzung!) Höhe von 1 Milliarde Euro und den wahrscheinlichen Ausfällen von rund 2 Milliarden Euro eingeplanterWenn ich das Planungsrecht in Deutschland richtig Mauteinnahmen, wird das ganze System vermutlichkenne, dann ist jeder Baumaßnahme eine Umweltver- noch weniger finanzierungssicher sein. Es ist bezeich- träglichkeitsprüfung vorgeschaltet. Es folgen ein Raum- nend, Herr Staatssekretär, dass Sie in Ihrer Investitions- ordnungsverfahren und ein Planfeststellungsverfahren. quote bereits die Regionalisierungsmittel und die Mittel In diesen Verfahren, die immer noch vorgeschrieben aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz einpla- sind, ist genau diese Abwägung vorzunehmen. Kein ein- nen. Ehrlicherweise sollten Sie aber diesen Zahlenver- ziger Verkehrsweg in Deutschland wird ohne diese Ab- gleich ebenso für unsere Zeit machen. Auch damals gab wägung gebaut. es Regionalisierungsmittel, das Gemeindeverkehrsfinan- zierungsgesetz und Investitionen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Was Sie hier beschreiben, ist ohnehin schon geltendes (B) DIE GRÜNEN]: Vorher gab es das nicht!) Gesetz. Trotzdem führen Sie dies als große Neuerung an. (D) – Soweit ich weiß, ist 1996 immer noch vor 1998 und (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die meinen, die das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz gibt es auch haben die Welt neu erfunden!) schon länger. Wenn man vergleicht, dann sollte man– Es wird nicht dadurch besser, dass man laut dazwi- auch fair vergleichen, um sich nicht zumindest der ein- schenruft. seitigen Betrachtung zeihen zu lassen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet von Ihnen der DIE GRÜNEN]: Das war der Kollege Vergleich kommt, um künstlich nachzurechnen, dass der Oswald!) Verkehrsträger Schiene dem Verkehrsträger Straße gleichgestellt worden ist. Wenn man es auf die Verkehrs- Vor allen Dingen wird es nicht besser, wenn man so tut, leistungen umrechnet, Herr Kollege, dann bekommt die als habe man eine Geldvermehrungsmaschine erfunden. Straße analog zu den Verkehrsleistungen 10 Prozent des- Am Jahresende laufen die Sondermittel aus der Ver- sen, was die Schiene bekommt. gabe der UMTS-Lizenzen aus. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie das mal auf DIE GRÜNEN]: Das wissen wir doch!) einem Grünen-Parteitag! Dann bin ich der Held!) Diese Mittel haben Gott sei Dank dazu geführt, dass Ihre Haushaltsansätze für die Verkehrsinfrastruktur in Herr Kollege Großmann, ich bin im Gegensatz zu Ih- Deutschland in den vergangenen Jahren wenigstens in nen offensichtlich lernfähiger. Sicherlich war unsere An- der Höhe geblieben sind, die wir schon hatten. nahme im Jahr 1992 im Hinblick auf die Bahnreform und die Entwicklung, die dann eintrat, deutlich zu opti- (Lachen des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] mistisch. Sie prognostizieren bis 2015 eine Zunahme des [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Güterverkehrs auf der Schiene um 100 Prozent. Das tun Sie in Anbetracht der letzten drei Jahre und des Kon-Allerdings, Herr Kollege Schmidt – weil Sie so schön la- zepts Mora C. chen –, haben Sie in der Zwischenzeit fünfmal die Öko- steuer erhöht. Auch die Maut ist in diesem Zusammen- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ hang zu erwähnen. Der Anteil, den Sie für die DIE GRÜNEN]: Das ist eine politische Ziel- Verkehrsinfrastruktur ausgeben, ist im Verhältnis gese- vorgabe, keine Prognose!) hen deutlich gesunken. Dasist die Realität. Das heißt, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6241

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Sie belasten den Autoverkehr und die Autofahrer ex- Herr Großmann, von meiner Seite und vonseiten der (C) trem, Sie geben ihnen weniger. SPD-Fraktion spreche ich Ihnen ein großes Dankeschön aus. Wir wussten es zu schätzen, dass der Bundesver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kehrswegeplan in enger Kooperation und großer Trans- Sie bauen Ihren neuen Verkehrswegeplan auf einemparenz vorangetrieben wurde. Wir haben den ersten Wunschbild auf und haben der staunenden Öffentlichkeit Schritt getan. Jetzt gilt es,in die konkreten Beratungen vorgegaukelt, dass durch die Einführung der Maut mehr einzusteigen. Geld für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stehen würde, egal für welchen Verkehrsträger. Keines dieser Wie Sie wissen, haben wir von 2001 bis 2015 eine Ziele haben Sie bisher nachgewiesenermaßen erreicht. Gesamtsumme in Höhe von 150 Milliarden Euro zur Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen: Ihr Ziel, Verfügung gestellt. einen Verkehrswegeplan aufzustellen, der seriös finan- ziert ist, haben Sie bereits bei Vorlage des Verkehrswe- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das klappt geplanes verfehlt. Deswegen werden Sie grandios schei- genauso wenig wie eure Haushaltsansätze!) tern. Ich bin gespannt auf die Einzelberatung. Aber bei – Das ist realistisch. Im Gegensatz zu dem Entwurf von der Finanzierung werden Sie unsere Zustimmung sicher- 1992, den Sie vorhin so heftig gelobt haben, Kollege lich nicht bekommen. Friedrich, Danke sehr. (Renate Blank [CDU/CSU]: Ja klar! Der war (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch von uns!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: können wir zu unserer Planung feststellen, dass die An- Ich erteile dem Kollegen Heinz Paula für die SPD- nahmen realistisch sind. Die Vorwürfe und Vorhaltun- Fraktion das Wort. gen, das seien Wunschbilder, richten Sie am besten ge- gen Ihren damaligen Plan. Heinz Paula (SPD): (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Plan Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Unser war gut! – Renate Blank [CDU/CSU]: Sie ar- Land steht zweifelsohne vor großen verkehrspolitischen beiten bislang immer noch mit dem Plan!) Herausforderungen. Und was vernehmen wir in dieser Zeit vonseiten der Opposition? – Wie immer Gejammer, Das Gegenteil ist richtig:Wir ermöglichen es, eine Genörgel, haltlose Vorhaltungen. Kolleginnen und Kol- entsprechende Mobilität in unserem Land zu schaffen. legen, so kommen wir doch nicht weiter. Wir sorgen dafür, dass die notwendige Infrastruktur im (B) größer werdenden Europa durch eine überregionale Ver- (D) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das wird Sie netzung gewährleistet wird. Ob im Norden, im Osten noch einholen!) oder im Süden – zum Beispiel mit dem NEAT-Zulauf –: Ich würde Ihnen dringend empfehlen: Hängen Sie das Wir sorgen dafür, dass wichtige Schienenprojekte Schild „LKW-Maut“ einfach ein bisschen tiefer! Dasvorangetrieben werden. klärt den Blick. Sie wollen die Tatsache nicht zur Kennt- nis nehmen, dass wir nicht im typischen Oppositionsstil (Renate Blank [CDU/CSU]: Ja! Die ICE- Politik von heute auf morgen betreiben wollen. Es geht Trasse Nürnberg–Erfurt!) vielmehr darum, bis zum Jahr 2015 die entsprechenden Weichenstellungen vorzunehmen. Wir werden ferner die Verkehrsnachfrage in die rich- tige Bahn lenken, Frau Blank. Bis 2015 – das wurde vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hin erwähnt – wird beim Personenverkehr eine Steige- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst rung von 20 Prozent und beim Güterverkehr eine von Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Hälfte aller über 65 Prozent prognostiziert. Auch das werden Sie Projekte fußt auf der Maut! – Gegenruf des kaum bestreiten können, meine Kolleginnen und Kolle- Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜND- gen von der Opposition; es sei denn, Sie wollen im Dau- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wärs!) erstau stehen. Ein Großteil des Verkehrs muss auf die Was mich allerdings wirklich empört hat, waren die Schiene verlagert werden. Insofern sind die Prognosen Vorhaltungen gegenüber dem Mann, der uns in dem ge- absolut realistisch. samten Prozess zur Seite stand, der immer ein offenes Ohr für uns hatte und der mit allen Ländern – auch mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bayern, Frau Blank – regelmäßige Kontakte unterhalten Wir schaffen die Voraussetzungen dafür. Auch wenn hat, um die Entwicklung voranzutreiben. es vonseiten der Opposition immer wieder angezweifelt (Renate Blank [CDU/CSU]: Das sind doch wird, ist es trotzdem richtig, dass erstmals die Mittel für seine Aufgaben!) Schiene und Straße einander angeglichen worden sind. Das ist zweifelsohne unter Einbeziehung der Mittel nach Dass Herrn Staatssekretär Großmann unter diesen Um- dem GVFG und dem Regionalisierungsgesetz erfolgt, ständen Vorhaltungen gemacht werden, ist – mit Ver- aber – Herr Schmidt hat vorhin darauf hingewiesen – laub – völlig daneben. insgesamt stehen bis 2015 77,5 Milliarden Euro für die (Beifall bei der SPD – Renate Blank [CDU/ Straße und 77,9 Milliarden Euro für die Schiene zur Ver- CSU]: Was anderes fällt euch nicht ein?) fügung. 6242 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Heinz Paula (A) Es steht nach wie vor unwiderruflich fest: Wir stärken Noch ein kurzes Wort zumSchienenpersonennah- (C) nachhaltig die Schiene auch und gerade im Bereich des verkehr: Die dem Bund in Art. 87 e Abs. 4 des Grund- Erhalts. Weil meine Kollegin aus Bayern vorhin so deut- gesetzes auferlegte Gemeinwohlverpflichtung, die den lich darauf hingewiesen hat, wie wichtig der Erhalt ist, Ausbau und den Erhalt des Schienennetzes der Eisen- empfehle ich Ihnen dringend, Kollegin: Halten Sie diese bahnen des Bundes betrifft, gilt grundsätzlich auch für Rede im Bayerischen Landtag! die Schieneninfrastruktur, die dem Nahverkehr dient. Deswegen müssen – ich bitte, das zur Kenntnis zu neh- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried men – bei der Bewertung der Gesamtinvestitionen für Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Schiene auch die 14 Milliarden Euro GVFG- und Re- Sie werden feststellen, dass kaum ein anderes Bundes- gionalisierungsmittel berücksichtigt werden. Ich habe land die Mittel für den Staatsstraßenbau derartig herun- den Schienenpersonennahverkehr erwähnt, weil gerade tergefahren hat wie die bayerische Landesregierung. hier auf Länderseite viele Möglichkeiten bestehen, für eine zukunftsfähige Schieneninfrastruktur Sorge zu tra- (Renate Blank [CDU/CSU]: Nachdem die Bayern gen. sowieso immer benachteiligt wurden!) Die Bundesregierung jedenfalls hat mit dem vorlie- Wenn Sie Ihre Sorgen und Anliegen loswerden wollen, genden Bundesverkehrswegeplan die notwendigen dann tun Sie das bitte an der richtigen Stelle! Voraussetzungen geschaffen und damit den Antrag der CDU/CSU, über den wir heute auch beraten, überflüssig Darüber hinaus wird kräftig in den Neu- und Ausbau gemacht; denn wir sind in der Tat konsequent unseren der Schienenwege investiert. 27 laufende und fest dispo- Weg gegangen, gerade wenn es um die Erweiterung des nierte und 28 neue Vorhaben im Bereich Schiene sind als Schienennetzes im Osten ging. Herr Kollege Friedrich, vordringlicher Bedarf eingestuft. Dazu gehören Schie- es wäre schön gewesen, wenn Ihre Regierung bereits da- nenverbindungen wie Karlsruhe––Nürn-mals die hier vorhandenen Probleme angepackt hätte. berg–Leipzig/Dresden und Berlin–Frankfurt/Oder, um Wir jedenfalls haben insgesamt acht Schienenmaßnah- nur einige zu nennen. men vorgesehen, unter anderem den Ausbau der Strecke (Renate Blank [CDU/CSU]: Nürnberg–Erfurt Berlin–Frankfurt (Oder) bis zur Grenze Polens oder den stoppt ihr doch auch schon wieder!) Ausbau der Strecke nach Dresden bis zur Grenze Tsche- chiens. Sie werden mit einem realistischen Finanzrahmen und einer konstanten Fortschreibung des Mittelansatzes be- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich emp- gonnen bzw. zügig realisiert. fehle Ihnen, den Bericht über die Verkehrspro- jekte „Deutsche Einheit“ zu lesen, bevor Sie (B) (D) An dieser Stelle dürfen wir den Ministerpräsidenten den Mund aufmachen!) Koch und Steinbrück eine klare Absage erteilen, Frau Blank, und für beide eines deutlich festhalten: Investitio- Ich erwarte und hoffe, dass wir in den anschließenden nen in die Verkehrsinfrastruktur der Schiene sind keine Beratungen zu sachlichen und vernünftigen Kooperatio- Subventionen, sondern Maßnahmen zur Stärkung desnen kommen werden. Wirtschaftsstandortes Deutschland. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mit dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Inhalt nicht!) DIE GRÜNEN) Mit dem Blockieren haben Sie ja Ihre Erfahrungen, liebe Die Opposition hat wahrlich keinen Grund, sich über Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Bewei- die Schieneninvestitionen des Bundes zu beklagen; sen Sie jetzt, dass Sie auch zu einer sachlichen Koopera- tion fähig sind, um die Dinge im Interesse unseres Lan- (Zurufe von der CDU/CSU: Was?) des voranzutreiben. es sei denn, sie versucht, mit aller Gewalt das berühmte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Haar in der Suppe zu finden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sagt der Es sei wiederholt, Frau Kollegin: Wir hätten gerne Richtige! – Renate Blank [CDU/CSU]: Lesen noch einige neue Maßnahmen in den Bundesverkehrs- Sie doch einmal die Aussagen von Rot-Grün wegeplan aufgenommen, wenn wir nicht leider un- der letzten Jahre nach!) sägliche Projekte aus Ihrer Regierungszeit wie die ICE- Strecke München–Ingolstadt–Nürnberg zu finanzieren hätten. Ich habe es bereits angesprochen: 3,5 Milliarden Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: DM waren eingeplant; mittlerweile belaufen sich die Das Wort hat nun der Kollege Enak Ferlemann, CDU/ Kosten auf 3,5 Milliarden Euro. Herr Kollege Friedrich, CSU-Fraktion. was hätten wir mit diesem Geld nicht alles zusätzlich in (Beifall bei der CDU/CSU) unseren Bundesverkehrswegeplan aufnehmen können! (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat Enak Ferlemann (CDU/CSU): denn die Finanzierungsvereinbarung unter- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und schrieben? Das waren doch Sie! Losgelöst von Herren! Wir behandeln heute in erster Lesung endlich jeder Sachkenntnis!) das Fernstraßenausbaugesetz und das Bundesschienen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6243

Enak Ferlemann (A) wegeausbaugesetz mit den entsprechenden Bedarfsplä- Möglicherweise freuen sich die Koalitionsfraktionen, (C) nen auf der Grundlage des Bundesverkehrswegeplans vor allem die Grünen, wie ich annehme, sogar über den 2001 bis 2015. Schon die sehr verspätete Einbringung ist langsamen Ausbau unserer Verkehrsinfrastruktur. Die ein Synonym für das gesamte Handeln der Bundesregie- SPD guckt bei dem Verfahren betreten zu Boden und rung. Ein Blick auf die Wirtschafts- und die Infrastruk- macht gute Miene zum bösen Spiel. Auch mit Blick auf turpolitik verdeutlicht dies. Es gibt mehrere Möglichkei- die Beratungen im Ausschuss sage ich Ihnen ehrlich: ten, Wirtschaftspolitik zu betreiben: Es gibt Manchmal eine tun mir die Kolleginnen und Kollegen der angebotsorientierte Wirtschaftspolitik; Sie könnten aber SPD-Fraktion schon etwas Leid. – Anderen geht das auch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik oder auch so. Jeder, der sich mit den Planungen etwas ge- eine Politik machen, die eine Kombination aus Ange- nauer beschäftigt, kann die Kompromisse leicht erken- bots- und Nachfrageorientierung darstellt, den so ge-nen, die Sie mit den Grünen finden mussten. nannten Policy Mix. (Heinz Paula [SPD]: Gute Kompromisse!) Was macht die Bundesregierung? – Nichts von alle- Das gilt insbesondere für das schöne Thema des so dem! genannten besonderen naturschutzfachlichen Pla- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Chaos!) nungsauftrags, insbesondere bei den Straßen. Ihr Bun- desverkehrsminister Stolpe, der kleine Herr Stolpe, Sie macht etwas ganz anderes. Nun fragt sich jeder, was? hängt wie eine Marionette an den Fäden des großen Bun- Diese Frage kann man ganz einfach beantworten: Siedesministers Trittin, wenn es um die Realisierung der macht alles falsch, und das zugleich. Es handelt sich um Straßen geht. einen völlig neuen Policy Mix, nur falsch herum. Die Bundesregierung verbessert nicht das Angebot des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Standortes und verringert auch noch die Nachfrage. Das neten der FDP) ist eine ganz wesentliche Ursache, warum wir in Deutschland in einer so schweren Wirtschaftskrise ste- Wir werden nicht ein Straßenprojekt realisieren können, cken. Das kann man an den heute zu beratenden Punkten an dem dieses schöne Sternchen steht – es sind Stern- besonders deutlich machen. chen am Himmel, die sich wahrscheinlich nie realisieren lassen werden –; solange Herr Trittin nicht Ja gesagt hat, Der vorliegende Bundesverkehrswegeplan, der alswird sich da gar nichts abspielen. Man stellt verwundert Bedarfsplan in den Ausbaugesetzen konkretisiert ist, ist fest, dass man in den Plänen für den Straßenbau diese ein einziges Märchenbuch. Die Märchenerzähler sindSternchen findet, aber beim Schienenbau nicht. Gehen unser Bundesverkehrsminister und seine Staatssekretäre. denn die Schienenstrecken nicht durch ökologisch sen- (B) Es ist schön, viele bunte Pläne vorzulegen und zu veröf- sible Gebiete? Gibt es da keine FFH-Problematik? Gibt (D) fentlichen, welche Verkehrsinfrastruktur wo entstehen es da keine naturschutzrechtlichen Probleme? Laut Ihrer soll. Die Gretchenfrage ist nur, wann das geschehen soll. Planung anscheinend nicht. Das gilt eben nur für die Der versprochene Finanzrahmen ist nun definitiv nicht Straßen. Daran ist die Ideologie leicht zu erkennen. mehr zu halten, vor allem bedingt durch das unselige Mautchaos. Aufgrund der fehlendenMauteinnahmen Im Gegenzug haben Ihnen die Grünen bei der Auftei- – darüber ist in den letzten Tagen schon im Haushalts- lung von 50 Prozent für die Straße und 50 Prozent für die ausschuss diskutiert worden – ist eine Haushaltssperre Schiene ein kleines Bonbon zugestanden. Sie haben den für das Jahr 2004 verhängt worden. Davon sind 530 Mil- Schienenpersonennahverkehr einfach in die Investitio- lionen Euro für die Straße, 390 Millionen Euro für die nen für die Schiene eingerechnet. So kommen Sie auf Schiene und 125 Millionen Euro für die Wasserstraßen ein Verhältnis von 50 zu 50. Damit können die Grünen betroffen. Das sind insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro, draußen sagen: In die Schienenstrecken wird genauso die schon jetzt fehlen, die aber in Ihren Planungen einge- viel investiert wie in die Straßen. – So stimmt es natür- rechnet sind. Auch hierüber sind uns viele Märchen er- lich nicht. zählt worden und es werden noch weitere erzählt. Wann funktioniert das Mautsystem denn nun endlich? – Ich Wir als CDU/CSU-Fraktion stellen fest, dass der hoffe, möglichst bald; denn jeder Monat der Verzöge- Bundesverkehrswegeplan dem eigentlichen Ausbaube- rung kostet den Verkehrshaushalt bares Geld. Je weniger darf in keiner Weise gerecht wird. Geld, desto weniger Straßen- und Schienenprojekte! Der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- finanzielle Schaden wird noch durch den psychologi- neten der FDP) schen Schaden ergänzt. Der Bundesverkehrswegeplan hat einen viel zu engen Daher sind all die Pläne und Gesetze, die hier vorge- Finanzrahmen. Seine Verkehrsprognosen sind infrage zu legt worden sind, ein einziges Märchen, was die Reali- stellen und zum Teil schon völlig veraltet. Die Bewer- sierung angeht – und das bei dem Teil des Bundeshaus- tungsverfahren, die Sie so gelobt haben, sind sehr frag- halts, der den höchsten Anteil an Investitionen aufweist. Was Sie zur Verkehrsinfrastrukturfinanzierung vorgelegt würdig. Zum naturschutzfachlichen Planungsauftrag haben, ist kein gutes Angebot an den Standort Deutsch- habe ich schon einiges ausgeführt. Der Bundesverkehrs- land. Es ist ein substanzieller Fehler der Politik der Bun- wegeplan mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten desregierung. schafft nicht den Wachstums- und Beschäftigungsim- puls, den Deutschland braucht. Der Bundesverkehrswe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geplan wird auch der Herausforderung der EU-Osterwei- neten der FDP) terung nicht gerecht. Manchmal hat man bei den 6244 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Enak Ferlemann (A) Diskussionen den Eindruck, dass das erst in zehn Jahren (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt ist er wie- (C) ansteht. Im nächsten Juni schon werden wir die Erweite- der ganz verlegen!) rung haben. – Wenn man gelobt wird, ist man natürlich immer ein (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: 1. Mai!) bisschen verlegen, aber er hat dieses Lob verdient. Viele Einzelprojekte sind äußerst fragwürdig. Das Folgendes muss ich an dieser Stelle ganz deutlich sa- Nutzen-Kosten-Verhältnis, das eigentlich für Verkehrs- gen: Diejenigen, die hier kritisiert und ihn in den Dank politiker eine besonders wichtige Größe ist, wird oftan die Mitarbeiter nicht einbezogen haben, sind die glei- nicht richtig angewandt. Manchmal spielt es gar keine chen Kollegen, die jede freie Minute von ihm genutzt Rolle. Projekte mit einem Nutzen-Kosten-Verhältnis von und mit ihren konkreten Fragen bei ihm vor der Tür ge- größer zehn befinden sich nicht im vordringlichen Be- standen haben. darf, wohl aber solche mit einem Nutzen-Kosten-Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hältnis von knapp über eins. Ein Schelm, der sich etwas DIE GRÜNEN) dabei denkt! In Anwesenheit von Außenstehenden erscheint mir diese Bei den anstehenden umfangreichen Beratungen ha- Kritik ziemlich heuchlerisch; das sieht ja so aus, als hätte ben wir also viel zu tun. Wir brauchen mehr Mittel für er sich dieser Aufgabe entzogen. Er hat sich jedem ge- die Infrastruktur. Wir brauchen mehr Anteile für den stellt, auch jedem von Ihnen. Straßenbau, vor allem aus der Erhebung der LKW-Maut, wenn sie denn kommt. Wir müssen mit der ökologischen (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das wird aus- Diskriminierung bestimmter Projekte aufhören. Wir drücklich anerkannt! Das gehört auch zur brauchen eine deutlich bessere Einstufung vieler Maß- Pflicht!) nahmen, vor allem die Aufnahme in den vordringlichen Bedarf. – Herr Oswald, das muss man hier um der Wahrheit wil- len ganz klar sagen. In diesem Sinne habe ich die Bitte, dass Sie auf die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anregungen und Vorschläge der Unionsfraktion einge- hen. Außerdem ist hier die mangelndeTransparenz be- klagt worden. Das halte ich ebenfalls für einen überhaupt (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut! Es nicht gerechtfertigten Vorwurf. Folgendes Verfahren ha- sind gute Vorschläge!) ben alle miterlebt, die in de r letzten Legislaturperiode da- Gehen Sie mit der Kritik, die wir äußern, sachorientiert bei waren: um und lehnen Sie nicht einfach alles ab, nur weil es von (B) (Renate Blank [CDU/CSU]: Ich habe nicht (D) der Opposition kommt! So könnte, wenn es denn ge- von Transparenz gesprochen, sondern von Be- länge, am Ende der Beratungen aus dem Märchenbuch, teiligung!) das Sie vorgelegt haben, vielleicht doch noch ein Best- seller werden. Trotz dieser Bundesregierung sollte man Es gab in einem ersten Schritt Anmeldungen vonseiten den Glauben daran nicht verlieren. der Länder. Alle Bundesländer wurden gefragt und konnten ihre Projekte im Ministerium anmelden. An- Danke schön. schließend sind diese angemeldeten Projekte in einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) umfassenden Untersuchung bewertet worden; das ist ein ziemlich einmaliger Vorgang. – Frau Blank, wenn Sie davon keinen Gebrauch gemacht haben, dann sollten Sie Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: es hier auch nicht ansprechen. Herr Kollege Ferlemann, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen auch im Danach sind uns Abgeordneten auf einer CD-ROM Namen aller Kolleginnen und Kollegen herzlich und ver- alle Projekte, die in die Betrachtung einbezogen worden binde damit alle guten Wünsche für die weitere parla- waren, mentarische Arbeit. (Renate Blank [CDU/CSU]: Das gehört ins (Beifall) Parlament!) Nun erteile ich dem Kollegen Peter Danckert für die zur Verfügung gestellt worden. Im nächsten Schritt gab SPD-Fraktion das Wort. es dazu eine Anhörung der Verbände; dann sind die Län- der noch einmal befragt worden und erst danach sind die Dr. Peter Danckert (SPD): Projekte in den Kabinettsentwurf eingeflossen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl (Renate Blank [CDU/CSU]: Zuerst ist das Par- es einige hier bereits getan haben, möchte auch ich dem lament gefragt!) Kollegen Staatssekretär Achim Großmann sehr herzlich für die Arbeit danken, die er im letzten Jahr geleistet hat. – Mit einem Wort, Frau Blank: Transparenter, als es hier praktiziert worden ist, kann man das überhaupt nicht ma- (Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist seine chen. Pflicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Er hat damit eine kolossale Aufgabe übernommen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6245

Dr. Peter Danckert (A) Sie beanstanden darüber hinaus, dass dieses oder je- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) nes Projekt nicht aufgenommen worden sei. Ich habe DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: auch den Kollegen, der eben hier seine Jungfernrede ge- Das ist aber eine! Das ist ein Desaster!) halten hat, gehört. Er kam gleich wieder mit den übli- chen Wünschen, ein paar weitere Straßenprojekte in den Es mag sein, dass es im Vertrag hier und da Unklar- vordringlichen Bedarf einzuordnen. Ja, das können Sie heiten gab und dass man ihn besser hätte aushandeln haben; dann müssen Sie uns aber auch sagen, was imkönnen. Das lasse ich einmal außen vor; das ist im Mo- Rahmen Ihrer Länderquote entfallen soll. ment nicht das Thema. Das Thema ist vielmehr, dass die Maut nicht vertragsgemäß eingeführt werden konnte und Wir haben hier ganz klare Verabredungen getroffen. dass wir aus heutiger Sicht nicht wissen, wann das ge- Jedes Bundesland hat seine Quote – die Bayerns ist grö- schieht. Das ist der Punkt, bei dem wir gemeinsam anset- ßer als die Brandenburgs – und wir können die vorge- zen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie gebene Quote nicht überschreiten. Im Rahmen der Be- ein Interesse daran haben, dass die Maut noch lange ratungen des Ausschusses können wir uns darübernicht kommt. unterhalten, welche Wünsche Sie haben und wo Sie Prioritäten sehen. Dann werden wir das fair und sachlich (Renate Blank [CDU/CSU]: Nein! Im Gegen- miteinander besprechen und feststellen, wie Ihre Argu- teil!) mente zu gewichten sind. Wenn es zwingende sachliche – „Im Gegenteil!“ Dann lade ich Sie dazu ein, mit uns an Gründe dafür gibt, dann sind meine Kollegen und ich be- diesem Thema zu arbeiten. Wir Parlamentarier müssen reit, über jedes einzelne Projekt zu reden. dabei helfen, dieses technische Problem, das den Ein- nahmeausfall verursacht, zu lösen. So viel zu dieser Af- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Respekt! Straße färe. für Straße schauen wir uns an! Jede Straße schauen wir uns an!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt zur nächs- ten Affäre!) Aber ich bin ganz sicher – das will ich an dieser Stelle auch sagen –, dass die Vorarbeiten so belastbar sind, Dass beim neuen Bundesverkehrswegeplan auch Herr Oswald, dass wir nur ganz wenige Änderungen bei raumordnerische Gesichtspunkte zur Anwendung ge- der Länderquote möglich machen können. kommen sind, Herr Staatssekretär Großmann, finde ich geradezu fabelhaft. Einige Regionen in unserer Repu- (Renate Blank [CDU/CSU]: Die Botschaft hör blik, nicht nur im Osten, hätten bei dem neuen Bundes- ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!) verkehrswegeplan überhaupt keine Chance, berücksich- (B) Denn daran müssen wir uns messen lassen. Wir können tigt zu werden, wenn es dasRaumordnungskriterium (D) nicht in unseren Wahlkreisen oder in der Öffentlichkeit nicht gäbe. Das verschafft überhaupt erst den Spielraum sagen, wir wollten dies und jenes noch in den vordringli- dafür, in den neuen Ländern neue Projekte zu realisieren. chen Bedarf aufnehmen, da wir doch alle wissen müss- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten, dass aus finanziellen Gründen, aufgrund der selbst DIE GRÜNEN) vorgegebenen Länderquote, gar nicht mehr möglich ist. Von den 740 Ortsumgehungen – auch das ist eine (Renate Blank [CDU/CSU]: Käme die LKW- ganz beachtliche Zahl – werden etwa 300 in den neuen Maut, wäre es besser!) Ländern gebaut. Das führt zu einer höheren Lebensqua- lität und dazu, dass Wirtschaftswachstum – auch in der Wir haben hier eben keine wolkige Wunschliste, sondern Fläche – entstehen kann. Große Autobahnen sind das ganz klare Vorgaben. eine; aber wir brauchen auch bessere Straßennetze in den Nun zum Thema Finanzierung, das durchaus eineRegionen. Rolle spielt. Wir haben 150 Milliarden Euro vorgesehen; Unabhängig von der Frage der Finanzierung – darauf das ist im letzten Jahr die Richtschnur gewesen, aufgrund werden wir alle größten Wert legen – ist hier ein verläss- derer wir auch unter Berücksichtigung der Länderquoten liches Projekt entwickelt worden. Die Menschen vor Ort die Projekte ausgewählt haben, etwa zur Hälfte Straßen- wissen, was bis zum Jahre 2015 kommen wird. Sie müs- und zur Hälfte Schienenbauprojekte. Wir werden ge-sen nicht das Gefühl haben, dass ihnen in 20 oder in meinsam sehen, wie sich die Schwierigkeiten bei der30 Jahren irgendetwas blüht. Auch die Investoren – ich Maut, die ja auch uns unangenehm berühren – das be- denke, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt – kön- zweifelt doch hier gar keiner –, auswirken werden. Aller- nen sich auf diesen Zeitpunkt einrichten; sie haben Pla- dings weise ich den Vorwurf energisch zurück, diesenungssicherheit. Dann haben wir gemeinsam etwas Gu- Bundesregierung oder diese Regierungskoalition hätten tes vollbracht und dann wird es wirklich, wie der irgendetwas dazu beigetragen, dass die Mauteinnahmen Kollege gesagt hat, ein Bestseller. Ich bin sicher, dass es in diesem Jahr und möglicherweise Anfang des nächsten so kommen wird. Jahres nicht kommen. Das ist wirklich ein Ammenmär- chen. Vielen Dank. Frau Blank, sosehr ich Sie sonst auch schätze: Das zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einer Mautaffäre dieser Bundesregierung zu erklären ist DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: wirklich ganz töricht. Das wissen auch Sie. Ihr habt euch Mut zugesprochen! Ihr habt auch 6246 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Peter Danckert (A) Mut nötig! – Renate Blank [CDU/CSU]: Das Dabei kann das Sparen in diesem Bereich teuer werden, (C) Pfeifen im Walde!) weil wir nur über funktionierende Verkehrswege unseren Unternehmen den Zugang zu denMärkten in Ost- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: europa verschaffen und damit die Grundlage für Wirt- schaftswachstum legen können. Eine Unterlassung von Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann, CDU/ Engagement in diesen Bereichen führt zu steigender Ar- CSU-Fraktion. beitslosigkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sparen Sie lieber an anderer Stelle – ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das mir kürzlich vom BUND vorge- Veronika Bellmann (CDU/CSU): tragen wurde –: Das Projekt eines Grenzübergangs der Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten B 166 in Schwedt ist völlig sinnlos. Polen lehnt ihn ab, Damen und Herren! Eine gut ausgebaute Infrastruktur weil dort auf der anderen Seite ein Naturschutzgebiet der Verkehrswege ist für die internationale Wettbewerbs- liegt. 3 Kilometer weiter weg gibt es schon einen Grenz- fähigkeit unserer Unternehmen auf den Märkten so wert- übergang. Die Rohdaten weisen für 24 Stunden im Jahr voll wie nie zuvor. Diese Infrastruktur – man spricht2003 null Fahrzeuge auf, die Prognose für 2015 geht von nicht umsonst von Verkehrsadern – ist für die Wirtschaft 214 Fahrzeugen aus. so wichtig wie die Adern des Blutkreislaufs für das (Dr. Peter Danckert [SPD]: Waren Sie schon Funktionieren des menschlichen Organismus. Insofern einmal in Schwedt?) kann man bezogen auf die Lage an den Grenzen zu Po- len und Tschechien in Bayern, Sachsen und Brandenburg – An der Stelle zitiere ich Ihnen gerne Heine, der gesagt von einer Infarktgefahr reden. Warum? Weil dieEU- hat: Ein Kluger weiß alles, aber ein Dummer hat auf al- Osterweiterung ihre Schatten vorauswirft. Sie wird ein les eine dumme Bemerkung. Anwachsen der Verkehrsströme an den Grenzen zu Po- Ich komme zurück auf die Prognose von 214 Fahr- len und Tschechien um 300 Prozent mit sich bringen. zeugen in 2015. Schauen Sie sich demgegenüber die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) Prognosen für die grenznahen Knotenpunkte in Bayern, im Dreiländereck in Sachsen oder im Erzgebirge an. In den Grenzgebieten zu den EU-Beitrittskandidaten Dort geht man von 25 000 plus x Fahrzeugen aus. Neh- und besonders in den neuen Bundesländern gibt es rie- men Sie also das Geld und stecken Sie es in die Grenz- sige Defizite in der Verkehrsinfrastruktur. Wir habenlandförderung! Ich unterstelle Ihnen so viel Kenntnis, noch viel aufzuholen; 300 Ortsumgehungen reichen da dass Sie mittlerweile wissen, was Sie falsch machen. nicht aus. Deshalb haben wir den Antrag gestellt, kon- Goethe hätte dazu gesagt: (B) krete Bedarfsplanungen für alle Verkehrsträger vorzu- (D) nehmen, die Investitionen in den grenznahen und grenz- Es ist nicht genug zu wissen – man muss es auch überschreitenden Verkehr zu erhöhen, die Abstimmung anwenden; es ist nicht genug zu wollen – man muss mit den Beitrittsländern zu verbessern und die in Ihrem es auch tun. Straßenbaubericht enthaltene Forderung umzusetzen, Korrigieren Sie also Ihre Fehlleistung, solange Sie den Schwerpunkt EU-Osterweiterung als Gewichtungs- noch an der Regierung sind, und stimmen Sie unserem faktor in die Projektbewertung des Bundesverkehrswe- Antrag zu. geplanes aufzunehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Momentan tragen wir zwar die Risiken der EU-Oster- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: weiterung in den grenznahen Regionen; aber wir laufen Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes spricht Gefahr, die Chancen dieser Erweiterung zu verpassen. der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU-Fraktion. Was tut Rot-Grün? Sie behaupten, alle diese Forderun- (Beifall bei der CDU/CSU – Manfred Grund gen seien bereits Bestandteil des Bundesverkehrswege- [CDU/CSU]: Aus welchen Klassikern zitiert plans. Leider muss ich sagen, auch wenn Herr Minister Werner? – Gegenruf des Abg. Albert Schmidt Stolpe heute nicht anwesend ist, dass die Anzahl der [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verkehrsprojekte mit Erweiterungsbezug völlig unzurei- Karl Marx!) chend in diesem Plan ist. Es verstärkt sich auch der Ein- druck, dass Herr Stolpe – so empfinde ich das zumindest und mit mir viele andere Kollegen auch – das gesamte Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Ressort mit wenig Herzblut und Engagement führt. Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Wir haben heute ja schon etliche heroische Reden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – von der Regierungsbank gehört, die so besetzt ist, wie Widerspruch bei der SPD) auch der Verkehrshaushalt ausgestattet ist. Vom Aufbau Ost und von der Maut bis hin zur EU-Ost- (Beifall der Abg. Renate Blank [CDU/CSU]) erweiterung herrscht gähnende Langeweile auf der Re- gierungsbank. Da müssen wir viele Fehlstellen beklagen. Wir hören Sie hier von Haushaltsehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind noch nie- sprechen. Sie haben aber im Haushaltsausschuss 1 Mil- mals im Verkehrsausschuss gewesen!) liarde für Investitionen im Verkehrshaushalt gestrichen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6247

Werner Kuhn (Zingst) (A) da Einnahmen aus der Vignette in Höhe von 1 Milliarde (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) ausfallen und auch die erwarteten Einnahmen aus der NEN]: Wir müssen so viel in die alte Infra- Maut dem Investitionshaushalt nicht mehr zufließen. Sie struktur investieren!) aber reden davon, dass Sie einen klaren, ehrlichen und re- alen Bundesverkehrswegeplan für die nächsten 15 Jahre – Sie müssen einfach einsehen, dass es nicht ausreicht, aufgestellt haben. Es kann doch nicht sein, dass wir heut- wenn in den neuen Bundesländern im Rahmen der Ver- zutage die Verkehrsinfrastruktur solchen Fehlleistungen kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ nur Ortsumgehungen unterordnen müssen. gebaut werden. Die Menschen dort müssen schließlich enorm lange Wege zu den Verdichtungsräumen zurück- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- legen. Die gute Erreichbarkeit der Arbeitsplätze und rufe von der SPD) der Wirtschaftszentren ist für die wirtschaftliche Ent- wicklung ein entscheidender Faktor. Sie rühmen sich der Verkehrsprojekte „Deutsche Ein- heit“. Unter der Führung der Bundesregierung vonZum Teil hängt das ostdeutsche Produktivitätsdefizit Helmut Kohl damit zusammen, dass Sie dort im investiven Bereich (Dr. Peter Danckert [SPD]: Wer war das? – eine Wachstumsbremse eingebaut haben. In Ihre Haus- Heinz Paula [SPD]: Der Mann mit den meisten halte wurden zwar viele Mittel eingestellt – damit woll- Schulden!) ten Sie die Verfassungsmäßigkeit Ihrer Haushalte in Be- zug auf die Höhe der Investitionen sicherstellen –, aber und in den Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU/ Sie sind sozusagen immernur mit angezogener Hand- CSU und FDP sind noch wirkliche Verkehrsadern ent- bremse gefahren. worfen worden. Sie aber haben die Linie verlassen und nicht so weitergebaut, wie wir angefangen haben. Den- Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung zur Be- ken Sie nur an das Verkehrsprojekt 8.1 bzw. 8.2. Man werbung von Leipzig als Austragungsort für dieOlym- sieht eindeutig, dass zwischen Erfurt und Nürnberg eine pischen Spiele 2012 erlaubt. Wir haben von Minister riesige Lücke klafft und dass zwischen Erfurt und Leip- Stolpe große Versprechungen gehört. Er hat gesagt, dass zig von 1999 bis 2002 aufgrund des Baustopps über-Sie diese Bewerbung unterstützen werden. Wir von der haupt nichts investiert wurde. Hier haben Sie Projekte CDU/CSU-Fraktion tun dies ebenfalls. Wir tun das aber mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 5 Milliar- nicht blauäugig, indem wir sagen, es müssen Mittel be- den Euro ruhen lassen. reitgestellt werden, noch bevor die Entscheidung gefal- len ist. Ich erwarte, dass Sie die notwendigen Prioritäten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setzen. Wenn die Entscheidung zugunsten von Leipzig gefallen ist, dann müssen in diesem Großraum allerdings (B) Sie haben es nicht fertiggebracht, die Bundeshaupt- (D) die entsprechenden Verkehrsprojekte durchgeführt wer- stadt an die beiden großen Ballungsgebiete Hamburg den. und München mit einer Städteschnellverbindung anzu- binden. 1999 haben Sie den Transrapid aus ideologi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Gründen ins Aus geführt. Zwischen Berlin und München fährt man immer noch fast acht Stunden lang. Sie versehen viele Projekte mit einem Sternchen als Sie haben sich auf die Fahne geschrieben, Investitionen Zeichen dafür, dass diese Projekte eine besondere Um- in die Schiene fördern zu wollen. Was ist passiert? Wir weltrelevanz haben. Der Kollege Friedrich hat das vor- dümpeln nach wie vor vor uns hin. Mit solchen Planun- hin ausgeführt: Die Gesetzgebung ist, was die Umwelt gen können wir uns überhaupt nicht einverstanden erklä- betrifft, hinreichend sensibel. Solche Sternchen verzö- ren. gern nur. Das gilt auch für jene, die an Projekten haften, welche auf den Kanzlerreisen durch die alten und durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die neuen Bundesländer entstanden sind. Überall – Mi- Im Bundesverkehrswegeplan sind insgesamt 150 Mil- nister Stolpe hat es genauso gemacht – wurden Mittel in liarden Euro bis 2015 vorgesehen. Davon entfallen – das Millionenhöhe zugesagt. Ich bitte Sie daher: Setzen Sie ist hoch interessant – 82,7 Milliarden Euro auf Erhal-die richtigen Prioritäten, besonders mit Blick auf Leipzig tungsinvestitionen. Auf den Aus- und Neubau entfallen als Austragungsort der Olympischen Spiele! 66,2 Milliarden Euro. Davon sind aber schon 51 Milliar- Konzeptionell und auch personell ist diese Bundesre- den Euro verplant. Bis 2015 stehen also für Investitionen gierung, was den Aufbau Ost und die dortige Verkehrs- in neue Verkehrsprojekte nur noch Mittel in Höhe von infrastruktur betrifft – das sage ich als Politiker aus dem 15 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist einfach zuOsten –, insgesamt gescheitert. Wir haben dort in den wenig. letzten Jahren überhaupt kein Wirtschaftswachstum zu Angesichts der Tatsache, dass es erhebliche Ausfälle verzeichnen. Wirtschaftswachstum ist auch eine Frage bei der Finanzierung gibt – dies müssen Sie einfach zur von öffentlichen Investitionen. Hier muss es ein Umden- Kenntnis nehmen –, werden wir in den nächsten Jahren ken in den nächsten Jahren geben. überhaupt kein neues Projekt mehr beginnen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist eine maßlose Übertreibung!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Das ist keine maßlose Übertreibung. Ich schließe die Aussprache. 6248 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufpunkt – die Klimaschutzpolitik dieser Bundesregierung (C) den Drucksachen 15/1656 15/1804, 15/1657 und 15/1803 als „inkonsistent“. an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist NEN]: Haben Sie es gelesen? Da steht etwas der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. ganz anderes drin!) Zum Tagesordnungspunkt 8 c liegt eine Beschluss- So sagt er sogar, es gebe Entscheidungen dieser Bundes- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und regierung, „die dieser Klimapolitik entgegenlaufen“. Wohnungswesen auf Drucksache 15/1195 zu dem An- trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ver- Herr Loske, mit Ihrer Einschätzung, dass es keine kehrsinfrastruktur auf EU-Osterweiterung vorbereiten“ konsistente Klimaschutzpolitik dieser rot-grünen Bun- vor. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag auf Druck- desregierung gebe, haben Sie den Nagel auf den Kopf sache 15/467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-getroffen. Sie haben Recht und deswegen haben Sie für schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- diese Aussage sogar die Unterstützung der Opposition in tungen? – Die Beschlussempfehlung ist diesem damit Haus. angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Was Sie in der Klimaschutzpolitik bisher vorzuweisen Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter haben, ist letztlich nichts anderes als das Einfahren einer Paziorek, Kristina Köhler (Wiesbaden),Ernte, die durch viele Maßnahmen unter Töpfer und Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und Merkel ermöglicht wurde. Gleichzeitig versuchen Sie der Fraktion der CDU/CSU aber klammheimlich, von den nationalen Klimaschutz- zielen Abstand zu nehmen, und hoffen, dass das nie- Mehr Kosteneffizienz im Klimaschutz durch mand merkt. verstärkte Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanismen In der Antwort der Bundesregierung vom 24. Oktober dieses Jahres – also erst wenige Tage alt – auf unsere – Drucksache 15/1690 – Kleine Anfrage „Klimaschutz und CO2-Vermeidungs- Überweisungsvorschlag: kosten“ wird dies ganz deutlich. So heißt es auf die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Frage, ob Deutschland das Ziel einer Reduktion von CO Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 2 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und um 25 Prozent bis 2005 verfehlen werde: Entwicklung Das für Deutschland international maßgebliche Kli- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (B) maschutzziel besteht darin, die Treibhausgasemis- (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sionen im Zeitraum 2008 bis 2012 um 21 Prozent Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre gegenüber 1990 zu reduzieren. ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Nun der entscheidende Satz: Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSU das Wort. Das von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl formulierte CO2-Minderungsziel stimmt we- der vom Zeitrahmen noch vom Treibhausgasbezug Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): mit der internationalen und europäischen Klima- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit ihrem schutzpolitik überein. Regierungsantritt unternimmt diese rot-grüne Bundesre- gierung den Versuch, sich im nationalen und internatio- Das ist Ihre Aussage. nalen Klimaschutz als treibende Kraft darzustellen. In der Koalitionsvereinbarung von 1998 hieß es noch: (Horst Kubatschka [SPD]: Berechtigt!) Für den Schutz des Klimas wird die neue Bundesre- Zu diesem Zweck hat sie für viel Geld Broschüren ge- gierung in allen Bereichen die Anstrengungen ver- druckt und eine intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieben. stärken. Sie bekräftigt das Ziel, insbesondere die Aber mit Öffentlichkeitsarbeit alleine kann Politik nicht CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 gegenüber gestaltet werden. 1990 um 25 % zu reduzieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir fragen Sie: Wann werden Sie sich klammheim- lich von weiteren Vorstellungen in der Klimaschutzpoli- Wir können sagen: Eine stimmige Klimaschutzpolitik ist tik distanzieren? Rot-Grün muss sich vorwerfen lassen, bei dieser rot-grünen Bundesregierung nicht festzustel- klimapolitisch nicht mehr vertrauenswürdig zu sein. len. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP] – Ulrich Kelber [SPD]: Daran hat er lange ge- Wir leugnen nicht, dass es schwierig ist, ehrgeizige feilt!) nationale Ziele zu erreichen, wenn andere Staaten ver- gleichbare Ziele ablehnen. Aber da wird es bei Ihnen erst In der heutigen Ausgabe des „Tagesspiegel“ kritisiert recht widersprüchlich: Sie reden einerseits von einer der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünennationalen Vorreiterrolle, haben sich klammheimlich Herr Loske – passend zum heutigen Tagesordnungs-aber davon verabschiedet, und lassen andererseits jeden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6249

Dr. Peter Paziorek (A) Ehrgeiz vermissen, mit projektbezogenen internationa- im Rahmen der Verbindungsrichtlinie der viel zu geringe (C) len Klimaschutzmechanismen – CDM und JI zum Bei- Anteil der internationalen Mechanismen im Bereich des spiel – Klimaschutzziele im internationalen Maßstab Emissionshandels erhöht wird. Das wäre ein Ansatz, um Klimaschutzpolitik kostengünstig für die deutsche Wirt- (Ulrich Kelber [SPD]: Ah, jetzt kommt das schaft durchzuführen. Das wäre ein Ansatz, die Arbeits- Thema!) markt-, Entwicklungshilfe- und Klimaschutzpolitik zu- – ja, das tut Ihnen sehr weh, Herr Kollege Kelber, das sammenzuführen. Das wäre ein Ansatz, deutlich zu weiß ich; deshalb haben Sie auch versucht, sich klamm- machen, dass wir von einer nationalen Vorreiterrolle heimlich von Ihren Zielen zu verabschieden – kosten- nicht abgehen und gleichzeitig unsere internationale Ver- günstig für Länder wie Deutschland zu erreichen. antwortung sehen. Wir müssen Ihnen vorwerfen: Ihr Einsatz für die ver- Sie haben sich bisher nicht für eine solche Zielvor- stärkte Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanis- stellung eingesetzt. Sie müssen Ihren Einsatz in Brüssel men ist eindeutig zu gering. Wenn Sie von nationalenverstärken. Sie haben bisher keine Diskussion über diese Zielen Abstand nehmen, dann müssten Sie sich internati- Frage im Deutschen Bundestag geführt. Sinn und Zweck onal erst recht verstärkt dafür einsetzen, dass diese Me- unseres Antrages ist: Wir wollen eine neue Weichenstel- chanismen genutzt werden, damit wir über den internati- lung für eine sinnvolle Klimaschutzpolitik vornehmen, onalen Weg ein gutes Umweltschutzziel erreichen. Sie die kostengünstige Instrumente ermöglicht und damit die tun das nicht, weil Sie mit diesem Ziel noch immer auf Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Umweltpolitik zusam- Kriegsfuß stehen. menführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Jetzt sagen Sie einmal etwas zur kon- sistenten Klimaschutzpolitik der Union!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Wenn Sie von dem ablenken wollen, was Sie be-Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kelber für die SPD- schwert, rufen Sie: Sagen Sie einmal, was die UnionFraktion das Wort. will! Wir haben ein klares Klimaschutzziel vorgelegt. Wir setzen uns – um es klar und deutlich zu sagen – für Ulrich Kelber (SPD): eine Verbesserung der Wirkungsgrade bei den Kraftwer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr ken sowie für Sparmechanismen und eine größere Ener- Paziorek, bei den Zahlen, die Sie genannt haben, haben gieeffizienz, auch im Verkehrsbereich, ein. Auch wir be- Sie einen entscheidenden Fehler gemacht; es wäre gut, (B) kennen uns ganz deutlich zu den erneuerbaren Energien. (D) wenn das Ihr Kollege gleichkorrigieren würde. Sie ha- Wir halten nichts von Ihrer verkehrten Atomausstiegs- ben gesagt, die EU-Richtlinie gestatte nur 6 bis politik. Das sind die vier Eckpunkte unserer Klima- 8 Prozent der Emissionsminderungen über flexible Me- schutzpolitik, die konsistent ist. Darauf haben wir uns chanismen. Dies ist falsch. Es geht um 6 bis 8 Prozent immer – das muss ich klar und deutlich sagen – eingelas- der zugewiesenen Emissionsberechtigungen sen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, natürlich! (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist doch klar!) Ein weiteres wichtiges Argument müssen wir uns vor und damit ungefähr um ein Drittel der Minderungen über Augen halten: Wir haben jetzt im Bereich des Emissi- diesen Weg. Das ist ein wichtiger Unterschied. onshandels die Möglichkeit, in Europa dafür zu kämp- fen, dass internationale Verzahnungsmechanismen auch Wir haben in diesem Parlament schon sehr oft die Ge- im Bereich der Entwicklungspolitik zugunsten einer meinsamkeiten der Parteien in der Frage des Klima- deutschen nationalen Klimaschutzpolitik ermöglichtschutzes betont. Das war auch bei einem solch wichtigen werden. Die Europäische Kommission sagt jetzt, dass Thema gut. mit dem Emissionshandel CO-Reduktionen im Rah- 2 Etwas weniger wurden bisher von der Öffentlichkeit men von maximal 6 bis 8 Prozent möglich sind. Wir sind die Unterschiede im Bereich des Klimaschutzes wahrge- absolut nicht dagegen, dass der Schwerpunkt der Klima- nommen. Es ist aber bei einem wichtigen Thema immer schutzpolitik im eigenen Land realisiert wird. Aber wa- gut, zu wissen, wer für was steht. Deswegen ist es mir zu rum wird nur eine solch geringe Menge von 6 bis Beginn meiner Rede wichtig, dies konkret darzustellen. 8 Prozent zugelassen? Wir sind der Ansicht, dass es ge- rade durch einen verstärkten Einsatz der internationalen Die FDP-Fraktion hat seit 1998 im Deutschen Bun- Klimaschutzmechanismen gute Möglichkeiten gibt, Kli- destag alle – ich wiederhole: alle – konkreten Maßnah- maschutzpolitik kostengünstig und dennoch zielorien- men zum Klimaschutz abgelehnt. Die heute antragstel- tiert in sinnvoller Weise zu gestalten. Wir vermissen den lende Fraktion, die CDU/CSU, war nur wenig besser. Einsatz der rot-grünen Bundesregierung und des Bun- Bei noch nicht einmal einem Drittel der konkreten Maß- desumweltministers Trittin, um diesen Anteil zu erhö- nahmen konnten sich die feindlichen Schwestern zu ei- hen. ner Zustimmung durchringen. Deshalb fordern wir Sie im vorliegenden Antrag auf, Die FDP-Fraktion hat immer wieder deutlich ge- an dieser ganz konkreten Stelle mit dafür zu sorgen, dass macht, dass ihr die reine Lehre wichtiger ist als der 6250 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Ulrich Kelber (A) Klimaschutz. Zum Beispiel beim Emissionshandel kann (Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: (C) man den Eindruck gewinnen: Das Handeln mit Emis- Dem Klimaschutz ist es auch egal, wo das CO 2 sionsrechten – und nicht die Emissionsminderung – eingespart wird!) scheint das Wichtige zu sein. Bei der Förderung der er- neuerbaren Energien soll auf ein Ausschreibungsmo- Zweitens. Die höchst umstrittenenSenken, also zum dell umgestiegen werden, das in unseren Nachbarlän- Beispiel Waldschutz im Ausland, sollen ebenfalls unbe- dern bewiesenermaßen weniger Effizienz zu höherenschränkt anrechenbar sein – kein Wort über den oft zeit- Preisen bedeutet hat. Das ist Ideologie statt Klimaschutz. lich beschränkten Charakter solcher Maßnahmen! Einen solchen Unsinn werden wir nicht mitmachen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein Schmarren!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mit diesem Antrag stellen Sie sich übrigens auch gegen Die CDU/CSU-Fraktion erklärt sich mit den Klima- den Konsens aller relevanten Gruppen im Klimaschutz. schutzzielen 2005 und 2010 verbal immer noch einver- Das fängt mit dem Konsens der EU-Mitgliedstaaten an. standen. Für die Zeit danach wird aber schon offen ge- Ich zitiere aus der EU-Richtlinie: sagt: Da muss man erst einmal abwarten, was die anderen tun. Der Dramatik der Klimaveränderung ist ein Für die EU ist es wichtig, auch weiterhin im Kampf solches Verhalten natürlich überhaupt nicht gerecht. gegen die Klimaveränderungen eine führende Rolle Man kann nicht immer auf die Langsamsten, auf die Un- zu übernehmen, nicht zuletzt durch die Anwendung verständigsten warten. Man muss auch einmal vorange- des Grundsatzes, dass die Mechanismen ergänzen- hen und sich ambitionierte Ziele stecken. den Charakter haben. Der heute vorliegende Antrag – Herr Paziorek, anDie projektbezogenen Maßnahmen sollen also ergänzen- dem haben Sie elegant vorbeigeredet – ist noch verhee- den Charakter haben, deswegen – im Gegensatz zu dem, render als die Weigerung, über Klimaschutzziele nach was Sie wollen – die Beschränkung auf höchstens ein 2010 zu sprechen, und ist noch unverzeihlicher als das Drittel der Emissionsminderungen. mangelnde Engagement für konkrete Klimaschutzmaß- nahmen. Wenn Ihr Antrag Beschluss im Bundestag und Mit dem Vorschlag stellen Sie sich aber auch gegen in der Europäischen Unionwürde – eine völlige Frei- ein weites gesellschaftliches Bündnis aus Eine-Welt- gabe bei den Klimaschutzmaßnahmen im Ausland, Gruppen, aus Umweltgruppen und aus christlichen statt die Hausaufgaben zu Hause zu machen –, Gruppen. Die Wissenschaft hält diesen Vorschlag für falsch. Große Teile der Wirtschaft halten ihn ebenfalls (B) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Na, wo steht für falsch und nicht zuletzt – das ist ein Zeichen, dass Sie (D) das denn?) sich mit diesem Antrag besonders verrannt haben – Ihre eigenen Parteifreunde lehnen dieses Vorgehen ab. Der wäre das das Ende vom Klimaschutz bis 2012. IchBundesrat hat sich mit seiner Mehrheit aus CDU/CSU- könnte es Ihnen aus Ihrem eigenen Antrag zitieren. Ich regierten Ländern am 26. September 2003 zu dieser EU- habe ihn bewusst mit zum Rednerpult genommen, weil Richtlinie geäußert: ich weiß: Wenn man etwas Unangenehmes anspricht, be- haupten Sie, es stehe nicht in Ihrem Antrag. Andererseits besteht das Risiko, dass der Zufluss von zertifizierten Emissionsminderungen (Birgit Homburger [FDP]: Vorlesen!) – gemeint sind diese projektbezogenen Maßnahmen – – Gar kein Problem. die angestrebte Begrenzung der Treibhausgasemis- (Birgit Homburger [FDP]: Ja, bitte!) sionen in den Mitgliedstaaten aushöhlt. ... Der Bun- desrat hält vor diesem Hintergrund die Formulie- – Wenn er mir eine Frage stellt, dann mache ich das. rung quantitativer Anforderungen für sinnvoll. Zum Teil liefe das, was Sie wollen, im Ausland auf Wenn die CDU/CSU schon nicht auf die Koalition einen Pseudoklimaschutz hinaus. Denn in Europa wür- und Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft und den dann nur noch die Modernisierungen durchgeführt, Wirtschaft hört, warum ignorieren Sie an dieser Stelle die auch ohne Emissionshandel angestanden hätten. Das auch noch Ihre eigenen Parteifreunde, wird die SPD nicht akzeptieren. Wir wollen keine natio- nalen Alleingänge beim Klimaschutz, aber wir wollen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie haben eine Vorreiterrolle mit engagierten und ambitionierten das nicht kapiert!) Zielen. die Ihnen gesagt haben, wie man es eigentlich machen muss? Ihr Antrag ist falsch. Er ist moralisch, strategisch, Zwei Kernpunkte sind dem vorliegenden CDU/CSU- klimapolitisch und wirtschaftspolitisch falsch. Antrag deutlich zu entnehmen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Erstens. Die Anrechenbarkeit von projektbezogenen von der CDU/CSU: Vielleicht sind Sie hier klimapolitischen Maßnahmen im Ausland auf die Kli- falsch!) maschutzziele der EU-Staaten soll unbeschränkt mög- lich sein. Ich möchte das an ein paar Punkten deutlich machen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6251

Ulrich Kelber (A) Als Erstes möchte ich den Nachweis erbringen, dass könnte absurderweise dazu führen, dass technologi- (C) er vom moralischen Anspruch her falsch ist. Die Indus- sche Entwicklungen der vielversprechendsten triestaaten verbrauchen mit noch nicht einmal 20 Prozent Technologien zur Emissionsreduzierung innerhalb der Bevölkerung über 80 Prozent der weltweiten Res- der EU verzögert werden, obwohl diese für den sourcen. Das ist im Klimaschutz nicht viel anders. mittel- und langfristigen Klimaschutz dringend ge- Deutschland wird zwischen 1990 und 2010 seine Treib- braucht werden. hausgasemissionen zwar um voraussichtlich 21 Prozent senken und dann etwas unter 10 Tonnen pro Einwohner Ihr Antrag ist also auch klimapolitisch falsch. Aus die- liegen, aber auch dann werden wir das Klima in einem sem Grund lehnen wir ihn ab. Maße belasten, dass ein solches Niveau nicht für alle (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Menschen auf der Welt möglich wäre, soll der Klima- DIE GRÜNEN) wandel nicht mit unvorstellbarer Brutalität zuschlagen. Aber mit welchem Recht sagen wir anderen Ländern: Der letzte Punkt betrifft die Frage: Ist es wirtschaft- Ihr dürft pro Kopf nicht die gleiche Klimabelastung ha- lich richtig, diese Maßnahmen verstärkt zu nutzen, oder ben wie wir? Wie können wir uns das Recht herausneh- ist es wirtschaftlich falsch? Auch da ist das Ergebnis re- men, etwa einem Entwicklungsland zu sagen: Eure ge- lativ einfach – neben dem, was ich gerade schon aus der ringen Emissionen von Treibhausgasen wollen wir jetzt EU-Richtlinie zitiert habe –: Wir sind die Spitzenanbie- billig reduzieren, bei uns zu Hause aber setzen wir auf ter von Technologien zur Emissionsreduzierung. Wenn „Weiter so!“? Um nichts anderes geht es an dieser Stelle. wir uns den eigenen Markt innerhalb der Europäischen Eine solche Politik ist aus meiner Sicht moralisch nicht Union kaputt machen, dann schaden wir doch unserer in Ordnung. Wirtschaft an dieser Stelle. Ihr Antrag ist – zweitens – auchstrategisch falsch. Wir haben unser Klimaschutzziel 2010 schon fast er- Wir kommen im Klimaschutz nur dann weiter, wenn wir reicht. Wir werden Verkäufer von emissionssenkender international die Koalition der klimaschutzbereiten Staa- Technologie sein. Wir haben dafür übrigens viel Geld ten erweitern. Wir brauchen insbesondere die USA, aber ausgegeben, bei der Modernisierung von Kraftwerken auch die Bevölkerungsgiganten Indien und China. Es und auch bei der Förderung der erneuerbaren Energien. gibt zwei Gruppen von Staaten: Die einen – das sind vor Der jetzt vorgeschlagene EU-Rahmen gibt der deutschen allem die Schwellen- und die Entwicklungsländer – wol- Industrie die Chance, so viele dieser projektbezogenen len Klimaschutz und möchten gerne sehen, dass wir es Maßnahmen durchzuführen, wie sie zur Erreichung des bei uns zu Hause ernst meinen mit der Umstellung von Ziels noch durchführen will. Dieser EU-Rahmen ist nämlich weiter als das, was uns zur Erreichung des Kli- (B) Wirtschafts- und Lebensformen und dass wir zu Hause (D) zum Klimaschutz bereit sind. Denen, die skeptisch sind, maschutzziels noch fehlt. Aber warum sollen denn die müssen wir zeigen, dass Klimaschutz im eigenen Land Klimasünder in Europa – wie Spanien – jetzt billig da- ohne wirtschaftliche Einbußen möglich ist und dass Kli- vonkommen? Warum sollen sie nicht zu Hause mit maschutz im Gegenteil sogarein Innovationsmotor ist. neuen Technologien arbeiten müssen, und zwar mit Deswegen wäre ein völliger Ersatz von Klimaschutz im Technologien, die sie auch in Deutschland kaufen müs- eigenen Land durch Projekte im Ausland auch strate-sen? Das müssen Sie einmal erklären. Sie machen an gisch falsch. dieser Stelle einen wirtschaftspolitisch falschen Vor- schlag. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ihr Antrag ist – drittens – auch klimapolitisch falsch. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Frau Köhler, Sie haben Das Fazit ist: Wenn man erkennt, dass man strate- ja eben dazwischengerufen: Dem Klimaschutz ist esgisch, ökologisch, moralisch und ökonomisch etwas Fal- doch egal, wo die Emissionen eingespart werden. sches gemacht hat, dann ist die politische Entscheidung einfach. Es wäre mutig, einfach einmal zu sagen: Wir (Birgit Homburger [FDP]: Ja! – Michael haben uns in eine Richtung verrannt, die nicht einmal Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist leider nicht mehr unsere eigenen Parteifreunde im Bundesrat unter- so!) stützt haben; wir ziehen einen solchen Antrag auch im Diese Sichtweise ist kurzfristig eindeutig richtig. AufPlenum des Bundestages zurück. – Mit uns ist jedenfalls lange und auf mittlere Sicht ist sie es aber nicht, und das eine solche Rolle rückwärts im Klimaschutz nicht zu aus einem ganz einfach Grund: Um den Klimawandel ei- machen. nigermaßen in den Griff zu bekommen und ihn abzumil- dern, brauchen wir über viele Jahre und Jahrzehnte ste- Vielen Dank. tige Fortschritte. Auch hier ist es hilfreich, in die EU- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Richtlinie, auf die sich Ihr Antrag bezieht, zu schauen. DIE GRÜNEN) Ich darf noch ein letztes Mal zitieren:

Der Preisdruck Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – gemeint ist: wenn die projektbezogenen Maßnahmen Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDP- in höherem Umfang möglich werden – Fraktion. 6252 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Birgit Homburger (FDP): maschutzinstrumente und haben deshalb Ihre Instru-(C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mente abgelehnt. möchte einmal mit dem anfangen, was ich für ziemlich Gleichzeitig haben wir von der FDP-Bundestagsfrak- zentral halte. Wenn wir hier heute noch einmal die Gele- tion jedes Mal einen eigenen Vorschlag vorgelegt, wie genheit haben, über die Nutzung der flexiblen Instru-die entsprechenden Ziele unserer Meinung nach erreicht mente des Kioto-Protokolls zu debattieren, dann wird werden können. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich damit natürlich deutlich, wie dringend die weiteren An- sagen. Wir sind also sehr gut aufgestellt. Sie täten gut strengungen sind, die wir alle miteinander unternehmen daran, sich mit unseren Vorschlägen einmal auseinander müssen, damit das Kioto-Protokoll von allen – auch von zu setzen. Russland – ratifiziert wird und in Kraft treten kann. Ich kann nur an alle hier in diesem Hause appellieren, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wir gemeinsam die Anstrengungen, die wir begonnen Es wurde höchste Zeit, dass die EU-Kommission die haben – es gibt ja in Gesprächen gemeinsame Anstren- Einbeziehung der flexiblen Instrumente zulässt. Sie gungen des Umweltausschusses des Deutschen Bundes- bleibt dabei allerdings weit hinter dem zurück, was wir tages und auch der Bundesregierung –, weiterführen, da- gemeinschaftlich auf den internationalen Konferenzen mit es wirklich dazu kommt, dass das Kioto-Protokoll in in langen Diskussionen darüber besprochen haben. Das Kraft treten kann. gilt insbesondere für die Frage, nach welchen Kriterien (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem überhaupt Emissionsgutschriften erworben werden kön- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. nen. Dabei möchten wir nur eines: Klimaschutzmaßnah- Ute Kumpf [SPD]) men, mit denen deutsche Unternehmen beispielsweise im Bereich der Solarenergie eine Technologieoffensive Herr Kelber, ich möchte für die FDP-Bundestagsfrak- starten können, müssen dort eingesetzt werden, wo es tion feststellen – das habe ich hier schon mehrfach ge- Sinn macht, in diesem Fall also in den sonnenreichen sagt –, dass wir, was die Reduktionsziele angeht, mit Ih- Gebieten der Erde. Wenn wir das wollen, müssen wir die nen übereinstimmen. Wir teilen ausdrücklich Klimapolitik das mit der Entwicklungspolitik verknüpfen, nationale Ziel und halten – im Gegensatz zu Ihnen – da- um zu einem Klimaschutz in diesem Lande zu kommen. ran fest. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist der (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr gut! So Punkt!) ist es!) Sowohl Sie als auch die EU-Kommission machen da- Darüber hinaus akzeptieren wir nach wie vor das Bur- gegen einen Rückschritt und bleiben hinter dem zurück, (B) den-Sharing innerhalb der Europäischen Union und wol- was international vereinbart worden ist. Wir sind nicht(D) len, dass diese Ziele erreicht werden. bereit, das zu akzeptieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Unsere Position unterscheidet sich von Ihrer nur da- Wir erwarten von der Bundesregierung, dass wenigstens rin, dass wir diese Ziele effizient erreichen wollen. das, was nötig ist, eingeführt wird. Eine Technologieof- fensive für regenerative Energietechnik von deutschen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist der Unternehmen wäre viel wirkungsvoller – Fall!) Deswegen ist der Einsatz der flexiblen Instrumente Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: des Kioto-Protokolls so unglaublich wichtig. Wir sind Frau Kollegin! davon überzeugt, dass deren Einsatz die Erreichung der Ziele bei gleichzeitiger Minimierung der Kosten – das ist Birgit Homburger (FDP): das Entscheidende – am ehesten garantiert. Wir von der – mein letzter Satz, Herr Präsident –, wenn Sie Ihre FDP-Bundestagsfraktion haben dazu in der letzten wie Bemühungen stärker mit den internationalen Mechanis- auch in dieser Legislaturperiode mehrere Anträge einge- men des Kioto-Protokolls verknüpfen würden, anstatt bracht. Sie haben allesamt abgelehnt. Hätten wir jetztdas nur über das EEG zu machen. nicht den Richtlinienvorschlag zum europäischen Emis- sionshandel vorliegen, würde sich Rot-Grün noch immer Vielen Dank. im klimapolitischen Dornröschenschlaf befinden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die polemischen Äußerungen, die Sie hier gemacht An dieser Stelle sei mir der Hinweis gestattet, dass die haben, werden nicht richtiger, indem Sie diese ständig Großzügigkeit des Präsidiums die Gemeinheit der Frak- wiederholen. Wir haben diverse Maßnahmen wie zum tionen bei der Bemessung der Redezeit bei weitem in Beispiel die Ökosteuer, die Sie vorgeschlagen haben, ab- den Schatten stellt. Das wird bei der Liveübertragung gelehnt. Wir sehen es nämlich nicht ein, dazu beizutra- der Auftritte nicht immer deutlich. gen, dass hier ineffiziente Instrumente beschlossen wer- den, die zu nichts anderem gut sind als zum Abkassieren Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Reinhard der Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen effiziente Kli- Loske, Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6253

(A) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir dürfen (C) NEN): doch bestimmt auch überziehen!) Danke, Herr Präsident. Ich werde mich bemühen, die Erster Punkt. Ich glaube, es ist ganz wichtig, zu er- Redezeit nicht zu überschreiten. kennen, dass in dem Richtlinienentwurf der EU eine Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil mir das sehr Botschaft enthalten ist – das hat der Kollege Uli Kelber wichtig ist, möchte ich einige Worte zu dem Ziel sagen. bereits wunderbar beschrieben –: Die Hausaufgaben Im Juni 1990 und dann im November 1990 hat der Deut- müssen zuerst gemacht werden – Homework first. sche Bundestag einstimmig beschlossen, die CO-Emis- 2 (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Natürlich, sionen bis 2005 gegenüber 1987 um 25 Prozent zu sen- unbestritten!) ken. Das war das Ziel. Das ist von Kohl bei der Berliner Klimakonferenz 1995 unter der Hand in 25 Prozent bis Wir müssen zu Hause Klimapolitik betreiben; denn das 2005 gegenüber 1990 umgeändert worden. Man muss es ist für die Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Par- sogar noch weiter präzisieren: In den alten Bundeslän- kett und auch technologiepolitisch wichtig. dern sollten 25 Prozent erreicht werden, in den neuen Bundesländern sogar noch mehr. Das war das Ziel. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Was ist real passiert? Zwischen 1990 und 1995 gab es Die ganzen flexiblen Instrumente, zum Beispiel JI durch die deutsche Einheit einen Effekt der Niveauver- und CDM, sind gut und wichtig, um unsere Standard- schiebung, weil viele Industrieunternehmen kollabiert technologie auf den Rest der Welt übertragen zu können. sind und es teilweise zu Modernisierungsinvestitionen Sie sind jedoch nicht gut für einen wirklichen Technolo- kam. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat giepush. Diesen brauchen wir aber. Das ist der entschei- gerade noch einmal ganz klar beschrieben, dass das über dende Punkt. In der Bewertung dieser Instrumente unter- den Daumen gepeilt minus 13 bis minus 14 Prozent aus- scheiden wir uns fundamental. gemacht hat. Dann war klimapolitisch jahrelang Hängen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Schacht, es ist nämlich nichts passiert. Das muss man und bei der SPD) ganz klar sehen. Ich komme zum zweiten Thema, das ich ansprechen (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das stimmt möchte. JI und CDM sind sehr gute Instrumente; ich doch nicht!) habe mich selbst immer dafür eingesetzt. Der Unter- – Doch, das stimmt. schied zwischen Ihnen und uns liegt darin, dass wir ers- tens ganz ausdrücklich keine Atomkraft einbeziehen Seit 1998, als diese Regierung ihr Amt angetreten hat, wollen – das haben wir auch international durchge- (B) sind viele Dinge auf die Schiene gesetzt worden. Diesetzt –, zweitens keine fragwürdigen Senkenprojekte(D) meisten Stichworte sind schon gefallen: Ökosteuer,einbeziehen wollen und drittens Qualitätsstandards ha- EEG, Altbausanierung, KWK-Gesetz, Energiesparver- ben wollen. Wir wollen beispielsweise, dass sich die ordnung und anderes. Bezogen auf alle Kioto-Gase sind Projekte der großen Wasserkraft an den Standards orien- wir jetzt bei 19 bis 19,5 Prozent angelangt. Bezogen auf tieren, die die World Commission on Dams festgelegt CO2 sind wir bei 16 bis 17 Prozent angelangt. Es ist of- hat. Das heißt, wir sind für Projekte in den Entwick- fenbar schwerer, als wir alle gedacht haben. lungsländern und in Mittel- und Osteuropa. Sie müssen aber ganz klaren Qualitätskriterien genügen. Über diese (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Natürlich!) Qualitätskriterien verlieren Sie in Ihrem Antrag kein Ich glaube aber, dass es keinen Sinn macht, das Ziel von Wort. Er ist technologiepolitisch irreführend und Sie ge- 25 Prozent einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Wir hen damit in die falsche Richtung. Auch bezüglich der müssen erklären, warum es schwierig ist, und wir müs- Qualitätsstandards ist Ihr Antrag weit unterhalb dessen, sen das als Ansporn nehmen, um der Erreichung dieses was notwendig wäre. Allein aus diesem Grund müsste Ziels so nah wie eben möglich zu kommen. Das ist un- man den Antrag ablehnen. sere Aufgabe. Dafür habe ich in dem Gespräch mit dem „Tagesspiegel“, das ansonsten etwas verkürzt wiederge- Ich komme zum letzten Punkt, den ich noch anspre- geben wurde, plädiert. Ich denke, dass das nachvollzieh- chen möchte; er ist wirklich sehr wichtig. Ich habe heute bar ist. Nachmittag ein Gespräch mit einer Kollegin aus Indien geführt. Ich sagte, ich müsse heute Abend über CDM (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprechen und fragte sie, was aus ihrer Sicht das Wich- und bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/ tigste sei. Sie sagte, das Wichtigste für sie sei, dass der CSU]: Das haben sich ja auch andere ange- Clean Development Mechanism nicht zu einem Compli- hört!) cate Development Mechanism wird. Das heißt, wir müs- sen sehr darauf achten, dass derStandard einfach ist; Jetzt habe ich zwei Minuten verbraucht, um dem Kol- das ist sehr wichtig. legen Paziorek zu erwidern, und es bleiben mir nur noch drei Minuten, Herr Präsident, um auf das Thema des (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, ein- heutigen Tages zu sprechen zu kommen. Ich werde mich verstanden!) bemühen, die drei Punkte in drei Minuten abzuarbeiten. Im Moment erleben wir nämlich Folgendes: Der (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das war ein ganze Kioto-Prozess konkurriert mit einer Strategie der Verhandlungsangebot! – Winfried Hermann Vereinigten Staaten, die ausschließlich auf Freiwilligkeit 6254 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Reinhard Loske (A) und bilaterale Abkommen setzt. Sie werden versuchen, hang zur europäischen Ebene offenkundig. Auch die EU (C) diese Strategie demnächst auf den internationalen Kon- kann ihre Reduktionsziele nur durch die konsequente ferenzen anzupreisen. Im Moment unterstützen sie ein- Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanismen er- zelne Projekte sehr stark. Sie werden beispielsweise zur reichen. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich, dass nächsten Vertragsstaatenkonferenz nach Mailand kom- die Kommission einen Entwurf vorgelegt hat, der die men und sagen: Seht her, unser Weg ist viel erfolgver- rechtlichen Voraussetzungen für die Umwandlung von sprechender als eurer. Ich glaube, wenn wir nicht wollen, Gutschriften aus entsprechenden Projekten in handelbare dass die Glaubwürdigkeit des Kioto-Prozesses insgesamt Emissionszertifikate schaffen soll, unterhöhlt wird, dann müssen wir dafür sorgen, dass diese Mechanismen klar und einfach sind und dass sie (Beifall bei der CDU/CSU) von den Entwicklungsländern auch angenommen wer- weil wir eben genau darin eine gelungene Antwort der den können. Daran sollten wir arbeiten. Auch darauf ge- Weltgemeinschaft auf das Problem einer in der Tat welt- ben Sie mit Ihrem Antrag keine Antwort. weiten gegenseitigen Abhängigkeit beim Klimaschutz Ich fasse zusammen: Sie weisen mit Ihrem Antragsehen. klima- und technologiepolitisch in die falsche Richtung. Jetzt komme ich zu der vom Kollegen Kelber ange- Deshalb ist er nicht unterstützenswert. Es ist eine Punkt- sprochenen Frage. Kollege Kelber hat ja gesagt, er habe landung: Sie landen genau bei 0,00. – Frau Präsidentin, extra den Antrag mitgenommen, um daraus zu zitieren. ich hoffe, Sie sind mit mir zufrieden. Herr Kollege Kelber, ich muss Ihnen sagen: Sie haben Danke schön. ein seit PISA sehr bekannt gewordenes Problem: Lese- schwäche. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Sie können in unserem Antrag lesen, dass wir insbeson- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dere kritisieren, Das bin ich auf jeden Fall wegen der präzisen Einhal- tung der Redezeit. dass die Einschränkungen für die Anrechnung von Gutschriften aus CDM- und JI-Projekten weit über Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe. die Vorgaben des Kioto-Protokolls und die Be- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Endlich eine schlüsse der internationalen Klimakonferenzen, ins- gute Rede!) besondere die Vereinbarung von Marrakesch aus dem Jahre 2001, hinausgehen … (B) (D) Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Genau das ist der Punkt, um den es geht. Da steht nichts Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! von einer vorgesehenen unbegrenzten Anrechenbarkeit. Effizienz bedeutet bekanntermaßen die Vermeidung von (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau! So Ressourcenverschwendung. Ressourcenverschwendung ist es! – Beifall der Abg. Birgit Homburger zu vermeiden ist um so wichtiger, je knapper in einem [FDP]) Land die vorhandenen Ressourcen sind. Deshalb kann sich Verschwendung niemand weniger leisten als die ar- men Entwicklungsländer dieser Welt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen? (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Deshalb verfolgt der Antrag der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): mehr Kosteneffizienz im Klimaschutz durch die ver- Aber sicher. stärkte Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanis- men zu erreichen, ein in hohem Maße entwicklungspoli- tisches Anliegen. Ulrich Kelber (SPD): Herr Kollege, können Sie mir bestätigen, dass in Ih- Die Bedeutung des Kioto-Protokolls mit CDM und JI rem Antrag Punkt II Ihres Forderungskataloges, nicht kann in diesem Zusammenhang gar nicht hoch genugder Beschreibung, wie folgt lautet: eingeschätzt werden. Ihre konsequente Nutzung – darauf hat der Kollege Paziorek völlig zu Recht hingewiesen – Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- liegt gerade auch im deutschen Interesse. Denn nach al- rung deshalb auf, lem, was wir nach fünf Jahren rot-grüner Klimapolitik … wissen, ist vor dem Hintergrund des geplanten Atomaus- stiegs die Erreichung unserer eigenen Reduktionsziele 2. sich bei den Beratungen auf europäischer Ebene ohne konsequenten Rückgriff auf die Kioto-Mechanis- gegen die Einführung einer Obergrenze für die In- men erst recht in jedem Fall völlig illusorisch. anspruchnahme der projektbezogenen Mechanis- men im Emissionshandel auszusprechen. Die am (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr! Emissionshandel beteiligten Unternehmen müssen So ist es!) die Möglichkeit haben, sich Emissionsreduktionen Da wir in Deutschland drei Viertel der gesamten EU- im Ausland ohne Begrenzung gutschreiben zu las- Reduktionslast tragen wollen, ist auch der Zusammen- sen … Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6255

Ulrich Kelber (A) (Horst Kubatschka [SPD]: Wer hat jetzt die Uns liegen Untersuchungen vor, dass beispielsweise (C) Leseschwäche?) in Borneo im Jahr 1997 durch Waldbrände das Zehnfa- che dessen an Kohlendioxid freigesetzt worden ist, was Deutschland in den letzten zehn Jahren im Rahmen der Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Kioto-Vereinbarung einsparen konnte. Nehmen Sie das Herr Kollege, das ändert nichts an dem, was ich hier zur Kenntnis! Trennen Sie sich von Ihren ideologischen vorgetragen habe, Scheuklappen und setzen Sie auf eine vernünftige welt- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Doch!) weite Arbeitsteilung! was unsere Analyse und was unsere Forderung ist, dass (Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ weder am deutschen noch am europäischen Wesen die CSU] – Horst Kubatschka [SPD]: Heißt das, Welt genesen soll, wir machen nichts? Das sind doch keine Argu- mente!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist aber dünn!) Es geht uns insgesamt darum, gerade CDM stärker in die Entwicklungshilfeaktivitäten der Bundesregierung sondern dass wir eingebunden sind in internationale Ver- einzubinden. Dazu müssen bestehende Rechtsunsicher- abredungen und Abmachungen, zu denen wir uns in die- heiten ausgeräumt sowie fehlende Kapazitäten und Insti- sem Zusammenhang ausdrücklich bekennen. tutionen in potenziellen Partnerländern in Kooperation (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Müller mit diesen Staaten zügig ausgebaut werden. [Düsseldorf] [SPD]: Eigentor!) Wir alle kennen die Rekordhaushaltslöcher in Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undDeutschland. Herr Kollege Kelber, ein Grund, der uns Kollegen, gerade CDM liefert eine hervorragende Mög- davon überzeugt, dass unsere Position richtig ist, ist der, lichkeit der Kooperation zwischen Industrie- und Ent- dass Sie sie für wirtschaftspolitisch falsch halten. Was wicklungsländern im Bereich des Klimaschutzes. IchSie für wirtschaftspolitisch richtig halten, erleben wir in will deutlich sagen: Unsere Erwartung ist, dass die vor- diesem Land jeden Tag. Das wollen wir nicht. handenen Effizienzsteigerungspotenziale auch eine (Beifall bei der CDU/CSU) ganz wesentliche Rolle bei der Bonner Konferenz über erneuerbare Energien im kommenden Jahr spielen wer- Wir wissen aber auch, dass sich diese katastrophale den. Auch bei dieser Konferenz darf es gerade im Inte- Haushaltspolitik in desaströser Weise auf den Entwick- resse der Entwicklungsländer nicht darum gehen, nurlungshilfeetat auswirkt. Wenn die Regierung schon we- (B) einseitig einzelne Energieträger zu protegieren, sondern niger Geld für Entwicklungshilfe ausgibt, hat sie hier zu- (D) es müssen auch Effizienzüberlegungen in den Mittel-mindest die Chance, eine vernünftige entwicklungs- und punkt gestellt werden. klimapolitische Konzeption für die globale Politik auf- Lassen Sie mich aus entwicklungspolitischer Sichtzustellen. Dazu fordern wir Sie auf. noch ein paar besonders relevante Anliegen in diesem Vielen Dank. Zusammenhang ansprechen. Uns als CDU/CSU-Bun- destagsfraktion ist in der Tat wichtig, dass die Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gierung sich bei Verhandlungen auf europäischer Ebene neten der FDP) auch für den Schutz der Naturwälder, insbesondere der Tropenwälder, als CO2-Senken einsetzt und darauf hin- wirkt, dass Gutschriften aus CDM- und JI-Projekten im Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Forstsektor entsprechend anerkannt werden. Ich schließe damit die Aussprache. Wir wissen doch heute alle, dass die Zerstörung der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Tropenwälder mit ihrer großen Biomasse schwere nega- Drucksache 15/1690 an die in der Tagesordnung aufge- tive Folgen nicht nur für den Wasserhaushalt und dieführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Biodiversität, sondern auch für die Freisetzung von CO2 einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- hat. Das ist keine ideologische Frage, sondern es geht sung so beschlossen. um die Frage, ob wir das zur Kenntnis nehmen, was kon- kret passiert, dass nämlich der Schutz von Senken auch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Schutz vor weiterer Klimazerstörung bedeutet. Deswe- gen ist es eine faule Ausrede, zu sagen, es sei zu kompli- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ziert, dies bei CDM zu berücksichtigen. Amerikanische richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Firmen zum Beispiel unterstützen heute die boliviani- und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) sche Regierung und Nichtregierungsorganisationen kon- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter kret beim Schutz von Naturflächen mit natürlichen Nut- Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer zungsformen. Das zeigt, dass es geht, wenn man es Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Ab- politisch will. Die zögerliche Haltung der Bundesregie- geordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, rung ist deshalb politisch verantwortungslos. Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach, 6256 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, destagsausschusses für Bildung, Forschung und Tech-(C) Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP nikfolgenabschätzung am 20. Oktober 2003. Für eine erfolgreiche Fortsetzung der ge- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist meinsamen Bildungsplanung von Bund und ja ein Ding! – Dr. Christoph Bergner [CDU/ Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kom- CSU]: Da lassen sich aber auch andere Zitate mission für Bildungsplanung und Forschungs- bringen!) förderung (BLK) Ein erfolgreiches Bildungswesen ist kein Selbst- – Drucksachen 15/935, 15/1305 – zweck. Gerade die OECD hat in ihrem jüngsten Bericht Berichterstattung: „Bildung auf einen Blick“ noch einmal darauf hinge- Abgeordnete Ulrike Flach wiesen: Bildung hat nicht nur eine Bedeutung für die Dr. Ernst Dieter Rossmann gesamtgesellschaftliche Entwicklung, sondern auch für Katherina Reiche die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Internationale Grietje Bettin Untersuchungen haben uns mit aller Deutlichkeit Defi- zite im deutschen Bildungssystem vor Augen geführt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Deshalb erlaube ich mir die vorsichtig formulierte Frage: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider-Wie viel Unterschiedlichkeit im Bildungssystem verträgt spruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen. diese Republik, wenn wir diese Aufgaben angehen müs- sen? Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Christoph Matschie (Beifall bei der SPD) das Wort. Eines ist mit Sicherheit klar: Dieses Bildungssystem ver- trägt es nicht, dass sozusagen im Kompetenzstreit und Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der im Parteienstreit die Bildungschancen von Kindern und Bundesministerin für Bildung und Forschung: jungen Menschen zerrieben werden. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute einen Antrag auf Sie wissen alle, dass die traditionellen Grenzziehun- Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung vongen zwischen den Bildungsbereichen heute nicht mehr Bund und Ländern. Mit Ausnahme der Kolleginnen und gelten. Wir können es uns nicht leisten, das Bildungssys- Kollegen von der CDU/CSU sind wir uns hier im Hause tem in Einzelbestandteile zu zerlegen und auf die not- in dieser Frage einig. wendige Koordinierung zwischen den verschiedenen Verantwortungsträgern zu verzichten. Wir müssen das (B) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Bildungswesen auch im Hinblick auf die Schnittstellen (D) der Union, lassen Sie mich mit zwei Zitaten aus den letz- weiterentwickeln. Denn jeder Einzelne erlebt Bildung ten Wochen beginnen. Das erste Zitat lautet: nicht als unterschiedliche Bausteine, sondern als seinen (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Regierung Bildungsweg, der sich vom Kindergarten über die muss zurücktreten!) Schule bis in die Ausbildung oder die Universität er- streckt. Weil das so ist, sollte das für uns ein Anlass sein, Die Unterschiede bei der ökonomischen Kraft „rei- das Denken in Zuständigkeitsschablonen in dieser Frage cher“ und „armer“ Länder verstärken auch im Bil- einzustellen und die Zusammenarbeit zu suchen, die dungsbereich Tendenzen der Auseinanderentwick- dazu beiträgt, diese einzelnen Bestandteile des Bildungs- lung der Regionen. Die Wahrung gleichwertigersystems besser aufeinander abzustimmen. Lebensverhältnisse überall in Deutschland wird schwieriger. In der Vielfalt schulstruktureller Aus- (Beifall bei der SPD und der FDP) prägungen in den deutschen Ländern noch ein deut- Ich glaube auch, dass man deutlich sagen muss: Als sches Schulsystem zu erkennen fällt schwer. Instrument der gemeinsamen Bildungsplanung brauchen Das zweite Zitat: wir die Bund-Länder-Kommission, denn die BLK ist ressortübergreifend strukturiert. Dort sitzt die Bildungs- Eine Abschaffung der Bund-Länder-Kommission ministerin zum Beispiel mit der Finanzministerin, der für Bildungsplanung und Forschungsförderung Arbeitsministerin oder der Familienministerin am Tisch scheint vor dem Hintergrund der jetzt anstehenden und in der BLK kommen Entscheidungen grundsätzlich Herausforderungen im deutschen Bildungswesen mit den Stimmen der Mehrheit zustande. Es bedarf also unangebracht. Bildung muss als nationale Gemein- nicht unbedingt des Einstimmigkeitsprinzips, das wir in schaftsaufgabe verstanden werden, eine Koordinie- der KMK haben. Wenn ich das sage, dann meine ich rung zwischen Bund und Ländern ist deshalb sinn- nicht, dass wir in der BLK alles so lassen müssen, wie es voll. im Moment ist. Der Bund ist für Vorschläge zur Reform (Beifall bei der SPD) von Verfahren und Organisation offen. Und nicht nur das: Wir werden, eng angelehnt an die Ergebnisse der Ich habe nicht Vorlagen aus meinem Ministerium zi- Föderalismuskommission, die wir eingesetzt haben, tiert. Das erste Zitat stammt aus dem Bildungsbericht der hierzu Vorstellungen entwickeln. Kultusministerkonferenz, das zweite Zitat aus dem Statement der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit- Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung. In der Bolo- geberverbände in der öffentlichen Anhörung des Bun- gna-Erklärung vom 19. Juni 1999 und in den Nachfol- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6257

Parl. Staatssekretär Christoph Matschie (A) gekonferenzen haben die für das Hochschulwesen zu- Letztlich ist der bürokratische Aufwand für den Ab- (C) ständigen Minister von inzwischen 40 europäischen stimmungsprozess in der Bund-Länder-Kommis- Staaten beschlossen, bis zum Jahre 2010 einen einheitli- sion (BLK) höher als der Ertrag und die Modellpro- chen europäischen Hochschulraum zu verwirklichen. Ich jekte verlieren durch Kompromisse einen Teil ihrer frage Sie: Können wir uns vor dem Hintergrund dieser Innovationskraft. Entwicklung wirklich erlauben, den Hochschulbereich in Deutschland vollständig in einzelne landesrechtliche Schade, dass diese vernünftige Erkenntnis Ihres Partei- Regelungen zerfallen zu lassen, oder müssen wir nicht kollegen Rot-Grün noch nicht erreicht hat. auch in dieser Frage darauf achten, dass wir eine gleich- , der brandenburgische Minister für gerichtete Entwicklung im europäischen Hochschulraum Bildung, Jugend und Sport, hat sogar einen verpflichten- haben, der Ausbildungs- und Beschäftigungschancen für den Verfassungsauftrag zur gemeinsamen Bildungspla- alle Studierenden in Deutschland und Europa gleicher- nung im Grundgesetz gefordert. Gleiches fordert die maßen sichert? GEW. Ja, wo sind wir denn eigentlich? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Ich glaube, eine Aufgabe der Gesetzgebungskompetenz GRÜNEN]: Im Plenarsaal des Bundestags! – des Bundes im Hochschulbereich kann nicht die auf die Jörg Tauss [SPD]: Herr Rachel, jetzt sind Sie Zukunft ausgerichtete Antwort auf diese Frage sein. wieder hier!) (Beifall bei der SPD) Zunächst einmal stelle ich fest, dass es eine Verpflich- tung zur Bildungsplanung gar nicht gibt, geschweige Es wird die Aufgabe der Föderalismuskommission, denn, dass das Grundgesetz nahe legt, dass ein verpflich- die wir am 16. Oktober eingesetzt haben, sein, Lösungen tender Auftrag erforderlich wäre. Grundlage der Bund- für die anstehenden Fragen zu finden. Ich erwarte, dass Länder-Kommission ist nämlich der 1969 in das Grund- die Chancen einer Modernisierung der bundesstaatlichen gesetz eingeführte Art. 91 b. Dabei handelt es sich um Ordnung genutzt werden, um die Bund-Länder-Zusam- eine Kannbestimmung. Bund und Länder sind zur Ko- menarbeit in Bildung und Forschung so weiterzuentwi- operation aufgrund gemeinsamer Vereinbarungen be- ckeln, dass wir am Ende bessere Bildungschancen für fugt, aber nicht verpflichtet. alle ermöglichen und nicht Wege verstellen. Art. 91 stellt klar, dass eine gemeinsame Bildungspla- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nung mit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung prinzipiell vereinbar ist. Mehr geht allerdings nicht da- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke raus hervor. Eine Verfassungsgarantie für die Bildungs- Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) planung besteht schon gar nicht. (D) NEN] und der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) Die heutige Debatte zur Bildungsplanung ist im Zu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sammenhang mit derFöderalismusreform zu sehen, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel. auf die der Kollege Bergner gleich noch eingehen wird. Dabei geht es um Kompetenzabgrenzung, mehr Wettbe- (Jörg Tauss [SPD]: Ich dachte, Sie wären diese werb und die Freisetzung schöpferischer Energien. Inso- Woche in Urlaub, Herr Rachel! Herzlich will- fern ist die Aufregung von Rot-Grün interessant, die der kommen! – Gegenruf des Abg. Thomas einstimmige Beschluss aller 16 Ministerpräsidenten in Rachel [CDU/CSU]: Ich war auf der EKD-Sy- diesem Jahr ausgelöst hat. Die Ministerpräsidenten ha- node, Herr Kollege!) ben Folgendes beschlossen: Die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung soll Thomas Rachel (CDU/CSU): abgeschafft werden, wobei eine Koordinierung un- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ter den Ländern sicherzustellen ist. … Die For- Die bisherige gemeinsame Bildungsplanung zwi- schungsförderung ist auch in Zukunft als Misch- schen Bund und Ländern, die vor allem abge- finanzierung fortzuführen. stimmte Modellprojekte beinhaltet, kann entfallen. Ja, Herr Kollege Tauss, das ist kein Alleingang der Schon heute spielt sie nur eine untergeordneteunionsregierten Länder. Der Beschluss ist vielmehr unter Rolle. der Beteiligung aller SPD-geführten Länder gefasst wor- Diese Aussage stammt übrigens nicht von der CDU/den. CSU. Sie stammt vielmehr vom SPD-Wissenschafts- (Jörg Tauss [SPD]: Das macht es nicht besser!) minister des Landes Rheinland-Pfalz, Professor Dr. Jürgen Zöllner. Auch die FDP in den Ländern hat diesem Beschluss zu- gestimmt. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das macht es auch nicht besser!) In der Anhörung des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung zur Neuordnung In Baden-Württemberg hat Herr Döring, der stellver- der bildungs- und forschungspolitischen Zuständigkeiten tretende FDP-Vorsitzende, in der Koalitionsvereinba- hat Minister Zöllner weiter ausgeführt: rung den Verzicht der Bund-Länder-Kommission für den 6258 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Thomas Rachel (A) Bereich Bildungsplanung unterschrieben. Warum? Das Statt einer Forschungspolitik von 16 Ländern und einer (C) ist ganz einfach: Weil es die Länder leid sind, dass Bun- des Bundes brauchen wir gerade im Zeitalter der Globa- desbildungsministerin Bulmahn mithilfe des Gedankens lisierung eine gebündelte Forschungspolitik zur Stär- der gemeinsamen Bildungsplanung immer wieder ver- kung der Position Deutschlands im internationalen For- sucht, sich in die Kulturhoheit der Länder einzumischen. schungsbereich. (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: CSU]: Unerhört!) Unter Ausschluss der Hochschulen! Das ist Dabei vernachlässigt die Bildungsministerin das Kern- genial!) geschäft ihres Zuständigkeitsbereichs, die Forschungs- Wir Christdemokraten halten deshalb eine Zerschla- politik. gung in der gemeinsamen Forschungsförderung von (Beifall bei der CDU/CSU) Bund und Ländern wissenschaftspolitisch für verfehlt, finanziell für die Forschungsorganisation gefährlich und Sie flüchtet sich verstärkt in die Schulpolitik, in der sie von der Sache her für kurzsichtig. Bildungsplanung nach der Verfassung keine Kompetenzen besitzt. braucht Ideen und diese brauchen Wettbewerb. Ich zi- Die Bildungsplanung ist nicht notwendig, um bei-tiere nochmals Minister Zöllner: „Nichts ist lähmender spielsweise gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaf- für Kreativität als der Versuch einer Vereinheitlichung.“ fen. Das zeigt sich schon beim Thema Bildungsstan- Recht hat Herr Zöllner. Deshalb lehnen wir den An- dards. trag von SPD, Grünen und FDP ab. (Jörg Tauss [SPD]: Legende!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Es waren doch gerade die Unionsländer, die in der Kul- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: tusministerkonferenz die Einführung nationaler Bil- Jetzt folgen Sie Herrn Zöllner aber auch in al- dungsstandards erreicht haben. Die KMK ist viel weiter len anderen Fragen!) als die Bundesregierung in Berlin.

(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist auch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kein Wunder!) Die Kollegin Grietje Bettin hat gebeten, ihre Rede zu Bereits im Dezember werden in der KMK die Stan- Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstan- dards für den Schulabschluss in Deutsch, Mathematik den? – Dann verfahren wir so. und der ersten Fremdsprache verabschiedet. Zur Über- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper. (B) prüfung dieser Bildungsstandards wird die KMK eine (D) unabhängige wissenschaftliche Einrichtung aufbauen. Das ist ein gutes Beispiel für bundesweit wirkende Inno- Cornelia Pieper (FDP): vationen bei gleichzeitigem Erhalt der Länderhoheit. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Föderalismusdebatte wirft natürlich auch Auch der von Ihnen berufene Sachverständige Profes- die Frage nach der zukünftigen Bildungsplanung und der sor Dr. Ingo Richter hat in der Anhörung festgestellt: Forschungsförderung in Deutschland wieder auf. Es ist Die BLK hat in der Bildungsplanung ihre zentrale auch richtig, Herr Rachel, dass die Ministerpräsidenten Aufgabe nicht erfüllen können. … Abschaffung der der Länder am 27. März 2003 Leitlinien für die Verhand- BLK ja, KMK nein. lungen mit dem Bund vereinbart haben und damals be- schlossen haben, die Kofinanzierung des Bundes beim Es gibt glücklicherweise vernünftige Gremien der Ab- Hochschulbau nach Art. 91 a und die Bildungsplanung stimmung. Die Kultusministerkonferenz ist dafür geeig- nach Art. 91 b des Grundgesetzes abzuschaffen. Aber net. Absprachen können durch Staatsverträge verbind- ich persönlich und auch meine Fraktion sind davon über- lich geregelt werden. zeugt, dass sich die Ministerpräsidenten der Länder nicht Ich will aber auch erwähnen, dass wir im Gegensatz bewusst gewesen sind, was sie damit im Hinblick auf zu dieser Bundesregierung das Festhalten der Länder an das Qualitätsniveau des deutschen Bildungssystems und der gemeinsamen Forschungsförderung zwischen den Hochschulbau anrichten werden. Bund und Ländern begrüßen. Denn das verbundene Sys- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Ernst tem der „checks and balances“, das wir zurzeit anwen- Dieter Rossmann [SPD]) den, garantiert die Wissenschaftsfreiheit am besten. Die Alleinzuständigkeit des Bundes ist wissenschaftspoli- Die Anhörung im zuständigen Ausschuss hat auch erge- tisch verfehlt. Dass die Bundesregierung hier aussteigen ben – das war die Meinung der großen Mehrheit –, dass will, dass sie alle Kompetenzen in der Forschungsförde- die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Län- rung zum Beispiel für die Max-Planck-Gesellschaft, die dern fortgesetzt werden muss und dass auch der Hoch- Helmholtz-Gemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft schulbau in gemeinsamer Verantwortung bleiben muss, und die DFG auf den Bund konzentrieren will, spricht genauso wie die Forschungsförderung. Bände. Wir brauchen vielmehr eine gemeinsame For- (Beifall bei der FDP und der SPD) schungsförderung von Bund und Ländern; denn sie ver- hindert bei wissenschaftlichen Aufgaben von überregio- naler Bedeutung eine Zersplitterung der Ressourcen. 1) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6259

Cornelia Pieper (A) Herr Tauss, Sie erlauben sicherlich, dass ich Herrneine gemeinsame Forschungsförderung von Bund und(C) Professor Winnacker zitiere, der in der Anhörung sagte, Ländern. Mischfinanzierung in der Forschung und im Hoch- Vielen Dank. schulbau sei die einzig bekannte Möglichkeit, Forschung und Hochschule nicht zum politischen Spielball der je- (Beifall bei der FDP – Abg. Jörg Tauss [SPD] weiligen Finanzminister zu machen und darüber hinaus meldet sich zu einer Zwischenfrage ) die relative Politikunabhängigkeit der Forschung zu er- – Herr Tauss möchte noch eine Frage stellen. möglichen. Hans-Olaf Henkel, der Präsident der Leib- niz-Gemeinschaft, hat darauf hingewiesen, dass die Stär- kung der Durchsetzungskraft der BLK durch Reformen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: besser sei als deren Abschaffung und dass eine Alleinzu- Die Redezeit ist aber schon abgelaufen. ständigkeit der Länder für die Finanzierung der Institute (Jörg Tauss [SPD]: Ach so! Dann habe ich der Leibniz-Gemeinschaft bedeuten werde, dass diese Pech gehabt! Frau Pieper hat mir heute so gut nicht mehr finanzierbar seien. gefallen! Ich hätte ihr gern noch eine Frage ge- (Beifall bei der FDP) stellt!)

Das würde dem Forschungsstandort Deutschland und Cornelia Pieper (FDP): insbesondere den strukturschwachen Regionen in den Herr Tauss, ich hätte Ihnen gern den Gefallen getan neuen Bundesländern zum Nachteil gereichen. Deswe- und Ihre Frage noch beantwortet. gen lehnen wir, die FDP-Fraktion, die Abschaffung einer gemeinsamen Bildungsplanung und Forschungsförde- rung ab. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Solche Charmanterien können Sie, denke ich, nachher Wir alle sind uns doch nach den Ergebnissen der in- noch austauschen. ternationalen Studien, ob nun PISA-, TIMSS- oder (Heiterkeit) OECD-Studie, bewusst, dass wir großen Herausforde- rungen gegenüberstehen und dass wir mehr auf die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter Eigenverantwortung der Schulen und der Hochschulen Rossmann. mit eigenen Globalhaushalten und eigener Personalauto- nomie setzen müssen. Dadurch und nicht durch mehr Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Kultusbürokratie können wir Wettbewerb initiieren und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! für mehr Qualität sorgen. (B) Nachdem wir den zwischen drei Fraktionen abgestimm- (D) (Beifall bei der FDP) ten Antrag zur gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern vom 7. Mai dieses Jahres im Parlament ein- Was hat die Kultusministerkonferenz, so wie sie jetzt gebracht hatten, gab es in den Kommentaren die Fest- existiert, mit ihrem Einstimmigkeitsprinzip geschafft? stellung, das sei ein bemerkenswerter Vorgang. Welche großartige Bildungsreform der letzten Jahre und (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Cornelia Jahrzehnte ist Ihnen in Erinnerung geblieben? Keine, Pieper [FDP]) außer der Rechtschreibreform! Uns allen ist bewusst, dass wir mit dem Prinzip derEinstimmigkeit in der Es war erstens deshalb bemerkenswert, weil es drei Kultusministerkonferenz nicht weiterkommen, wenn es Fraktionen aus zwei verschiedenen politischen Lagern um eine wirkliche Bildungsreform in Deutschland und waren. Das spricht schon einmal dafür, dass man sich zu um mehr Qualität in den Schulen geht. einem bestimmten Problem nicht starr, sondern frei eine Position erarbeitet hat. Zuletzt darf ich noch Folgendes erwähnen: Die Mobi- lität von Familien mit schulpflichtigen Kindern ist ein- Es war zweitens bemerkenswert, weil – das hat Kol- geschränkt. Wir wollen in diesem Land die Mobilitätlege Rachel schon angesprochen – es ein geschlossenes von jungen Menschen fördern. Es gibt 16 Bundesländer Votum der Ministerpräsidenten und – wir wollen ehrlich mit 16 unterschiedlichen Schulsystemen und nicht ver- sein – eine andere Auffassung der Bundesregierung dazu gleichbaren Schulabschlüssen. Das ist Behinderung von gegeben hat. Wenn sich dann dazu aus dem Parlament Mobilität. heraus eine eigene Position herausbildet, dann ist das von der Sache her gut. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Wenn eine Familie mit Kindern in ein anderes Bundes- Sonst hat man das Gefühl, dass nach politischen Farben land umzieht, ist das für sie eine Katastrophe. Zum Teil diskutiert wird statt danach, was man politisch erreichen müssen die Kinder in der Schule eine Klasse zurückge- will. stuft werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Deswegen kann in der Föderalismusdebatte das Er- gebnis dieser Anhörung nur heißen: Wir brauchen ein ef- Drittens war es bemerkenswert, dass sich ein Parla- fizienteres Gremium für die Koordinierung der Bil-ment positioniert, was eigentlich auch zwingend not- dungsplanung von Bund und Ländern und natürlich auch wendig ist. Wir haben uns offensiv eingebracht, wo es 6260 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) darum geht, die bundesstaatliche Ordnung jetzt neu zu BLK, die wir ja oft geführt haben, die Kritik an (C) der fassen. BLK, wie sie heute hier von der CDU/CSU vorgetragen worden ist, auch nur ein einziges Mal thematisiert wor- Wir wollen den Antrag heute zusammen verabschie- den ist? den, nachdem wir uns durch die Anhörung bestätigt füh- len, wenn auch sicherlich mit unterschiedlichen Nuan- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Er hat ein cen. kurzes Gedächtnis!) Als die Diskussion hier begann, habe ich mich gefragt, Ist diese Kritik dadurch nicht etwas unglaubwürdig? was eigentlich die Menschen wahrnehmen, die hier im Plenum oder auch am Bildschirm unsere Chiffren wie Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): BLK und KMK und die verschiedenen Verhältnisse hö- Kollege Tauss, meine Wahrnehmung ist – ich sage ren. Deshalb noch einmal ganz einfach angesetzt: Bei der das auch für die anderen Kollegen –, dass wir im Aus- Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung han- schuss an dieser Stelle tatsächlich nicht so sehr nach Par- delt es sich um eine Institution, in der Vertreter der Bun- teifarbe, sondern in der Sache positiv gewürdigt haben, desregierung mit Vertretern von 16 Landesregierungen was sich in der Arbeit aufgebaut hat und was wir für die darüber beraten, wie man Bildung in Deutschland koor- Zukunft erwarten. Deshalb ist es gut, dass wir im Aus- dinieren, verbessern und auf die Zukunft hin ausrichten schuss bestimmte Punkte viel klarsichtiger festhalten, als kann. es der Fall ist, wenn sie wie jetzt in eine parteipolitische Wenn dies so einfach ist, dann kann man genauso ein- bzw. machtpolitische Mühle geraten. Wir werben dafür, fach fragen, wie es die Bevölkerung tun würde, wie es das Sachliche gemeinsam festzuhalten. aber auch die Experten aus den verschiedensten Berei- Ich komme auf die berufliche Bildung zurück; wir chen – Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Hoch- können es auch auf die Hochschulbildung oder auf Fra- schulrektorenkonferenz und Wissenschaftler – bei der gen beziehen, die sich mit Weiterbildung und schulischer Anhörung getan haben. Sie haben gesagt: Wir wissen, Bildung befassen. Kollegin Pieper hat schon gesagt: Es dass in Deutschland sowohl der Bund wie auch die Län- ist doch Kleinstaaterei, wenn wir in Deutschland, das der Verantwortung für gute berufliche Bildung haben. sich in ein Europa integriert, jetzt wieder damit beginnen, Habt ihr einen Kreis, in dem ihr darüber gemeinsam das Bund und Länder Verbindende abzulösen, was zur sprecht, oder schafft ihr den Kreis, in dem ihr aus Ver- Folge hätte, dass es dann in Bezug auf die Mobilität und pflichtung gemeinsam darüber sprecht, wie man berufli- bei der gemeinsamen Qualitätsentwicklung schwieriger che Bildung gut nach vorn bringen kann, ab? – Jeder mit wird; auch könnten wir die Nahtstellen von schulischer einem einigermaßen gesunden Menschenverstand würde zu beruflicher und von beruflicher zu hochschulischer sagen: Wenn Bund und Länder eine eigene und eine ge- (D) (B) Bildung oder zur Weiterbildung, die wir in Deutschland meinsame Verantwortung haben, aber auf den Kreis ver- dringend verbessern müssen, nicht gemeinsam entwi- zichten, in dem sie das gemeinsam besprechen und ent- ckeln. Deshalb sollte für uns das, was uns sowohl vom wickeln können, dann passt das nicht zusammen. Arbeitgebervertreter als auch vom Gewerkschaftsvertre- ter und dem Vertreter der Hochschulrektorenkonferenz Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nahe gebracht worden ist, den zentralen Punkt bilden. Es Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegengeht um strategische Planung, die auch die Bund-Län- Tauss? Da ist wohl noch ein Bedarf geblieben. der-Kommission stärker zu ihrer Aufgabe machen muss. (Beifall bei der SPD und der FDP) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Da er meinen geistigen Höhenflug nur unterbrechen Nur so lässt sich das Gute, das jetzt schon vorhanden ist, kann, darf er gern eine Frage stellen. beibehalten: innovative Projekte zu entwickeln, gemein- same Formen, die auch gemeinsam finanziert werden, Jörg Tauss (SPD): inhaltlich gut auszugestalten und die dritte Dimension, Lieber Kollege Rossmann, es ist keineswegs beab- die am Anfang der gemeinsamen Bund-Länder-Planung sichtigt, Ihren geistigen Höhenflug – was Sie gesagt ha- stand, auch wirklich auszufüllen, nämlich einen Blick in ben, teile ich übrigens vollständig – zu unterbrechen. die Zukunft zu tun. (Zuruf von der CDU/CSU: War das bestellt?) Ich wende mich wieder dem zu, was normale Men- schen uns vielleicht bei dem Streit um Institutionen fra- gen: Wo habt ihr denn in Deutschland eine gemeinsame Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Bildungsinstitution, die sich mit Globalisierung und In- Das war doch Selbstironie. ternationalität beschäftigt? Was heißt das für die ver- schiedensten Handlungsbereiche in Deutschland? Was Jörg Tauss (SPD): haben wir davon zu halten, dass ihr in einer sachlichen Ich stelle Ihnen jetzt gern die Frage, die ich auch der Stunde lobt, was in Sachen Hochschulmarketing unter Kollegin Pieper gestellt hätte. Wie der Antrag zeigt, sind anderem von der Bund-Länder-Kommission konstruktiv wir uns in der Beurteilung der BLK einig. Können Sie zwischen Bund und Ländern vorbereitet, entwickelt, ver- sich erinnern, Kollege Rossmann – ich frage das auch treten, finanziert und ausgearbeitet worden ist, es dann die Kolleginnen und Kollegen, die an den Ausschusssit- aber vergesst, wenn ihr euch im Streit um Institutionen zungen teilnehmen –, dass bei den Gesprächen mit der befindet? An anderer Stelle – wir werden demnächst De- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6261

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) batten zur beruflichen Bildung haben – wollen wir dies Wir sind uns auch einig, dass das Berufsbildungsgesetz (C) eigentlich genauso ausarbeiten. Wir wollen nicht nurin die Zuständigkeit des Bundes gehört. Insoweit beste- Hochschulmarketing; wir werden in der Perspektive hen keine Streitpunkte. auch die berufliche Bildung in der ganzen Welt vertre- ten wissen wollen. Wir müssen uns darüber auseinander setzen, wie wir mit der Zuständigkeit der Länder für das allgemein bil- Oder sie werden uns fragen: Wenn ihr über Rentedende Schulwesen umgehen. Dazu muss ich allerdings oder über Pflege sprecht, dann redet ihr immer davon, sagen: Nicht ohne Grund wurde mit der Kündigung des dass unsere Gesellschaft älter wird und dass daraus län- Verwaltungsabkommens über die gemeinsame Kom- gere Lebensarbeitszeiten erwachsen. Aber das sind dann mission für Bildungsplanung parteiübergreifend ein Zei- dort auch längere Lernzeiten. Wo wird gemeinsam be- chen gesetzt. Ich möchte das Wort „parteiübergreifend“ sprochen, wie man von Bund und Ländern längere ge- betonen, weil es wenig Sinn macht, wenn Sie als Antrag- meinsame Lernzeiten qualitativ organisiert, auch institu- steller in einer Parlamentsabstimmung im Bundestag die tionell wie in der Abstimmung der verschiedenenMehrheit gewinnen, es Ihnen aber nicht gelingt, Ihre beteiligten Bildungsbereiche? Ist nicht die Konsequenz Landespolitiker zu überzeugen. Das Zitat des rheinland- daraus, dass wir genau deshalb eine koordinierende In- pfälzischen Wissenschaftsministers Zöllner ist nun ein- stitution brauchen? mal eindeutig. Ich kann ihm übrigens sehr gut folgen. Wir reden von Globalisierung immer auch unter dem Frau Kollegin Pieper, was ich von den Landtagsfrak- Vorzeichen von Europa. Heißt das nicht, dass in Europa tionen der FDP in verschiedenen Ländern höre, spricht Bund wie Länder zusammen an einem europäischendafür, dass Nachholbedarf bei der innerparteilichen Mei- Tisch sitzen müssen, weil wir in Deutschland ebennungsbildung besteht. Das ist bei der CDU/CSU nicht kooperativ, föderativ verfasst sind? so. Ich wollte nicht nur für die SPD-Fraktion zum Aus- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: druck bringen – ich glaube, ich kann das auch für die Ach, Herr Bergner!) Grünen und für die FDP sagen –, dass wir jetzt nicht ne- gativ vorführen sollten, was in der Verfassungskommis- – Herr Tauss, das ist zumindest in dieser Frage nicht so. sion oder in der Kommission Bundesstaatliche Ordnung (Jörg Tauss [SPD]: Okay!) sicherlich im Detail beredet werden wird. Als Bildungs- politiker tun wir gut daran, die Diskussion so anschau- Deshalb sollten wir uns schon überlegen, inwieweit wir lich zu machen, dass Menschen sagen: Das Gute wollen uns hier in dieser Parlamentsdebatte Gefechte liefern, wir erhalten; macht es noch besser, aber zerschlagt nicht die eigentlich innerhalb der jeweiligen Partei ausgetra- (B) eine Nahtstelle, eine koordinierende Institution, die wir gen werden müssen. (D) für die Zukunft noch dringlich brauchen. Damit dies Ich will zum Ausgangspunkt zurückkehren. Wie kam auch für die Kommission Bundesstaatliche Ordnunges dazu, dass die Länder die Entscheidung getroffen ha- deutlich wird, ist es gut, wenn wir heute einen klarenben – sie erschien auch mir abrupt; sie ist aber rechtlich Parlamentsbeschluss dazu fassen. völlig in Ordnung –, das Verwaltungsabkommen zur Wir bedanken uns noch einmal dafür, dass dies ohne Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung entspre- Scheuklappen von der FDP über die Grünen bis zur SPD chend Art. 12 aufzukündigen? möglich geworden ist; die CDU ist uns bei diesem Pro- Egal wie gut die Argumente sind: Im Grunde genom- jekt auch noch in Zukunft herzlich willkommen. men hat, seit die Kommission existiert, noch keineBil- Danke. dungsplanung stattgefunden. Die Konsequenz, mit der die Kündigung erfolgte, lässt sich eigentlich nur vor fol- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gendem Hintergrund erklären: Die Länder haben – of- GRÜNEN und der FDP) fensichtlich parteiübergreifend – die schleichende Amts- anmaßung der Bundesbildungsministerin in Hinblick auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Länderkompetenzen satt gehabt. Dies kann ich gut ver- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christophstehen. Bergner. (Beifall des Abg. Dr. Martin Mayer [Siegerts- brunn] [CDU/CSU]) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nenne zwei Beispiele dafür, wo diese Amtsan- Um die Diskussion ein bisschen zu versachlichen,maßung stattgefunden hat: bei der Konzipierung des möchte ich zusammenfassen, worin wir uns einig sind. Ganztagsschulprogramms – man hat über abstruse Finanzierungswege versucht, in Länder- und Kommu- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war nalkompetenzen einzugreifen – gerade sehr sachlich!) (Jörg Tauss [SPD]: Bitte?) Das will ich jetzt gar nicht als Vorwurf gegen Herrn Rossmann gewertet sehen. Wir sind uns einig, dass wir und bei der Hochschulrahmengesetzgebung. Ich nenne einen von Bund und Ländern finanziertenHochschul- das Stichwort „Verbot von Studiengebühren“. Herr bau wollen. Wir sind uns einig, dass wir eine von Bund Tauss, wenn ich es richtiggehört habe, steht jetzt nicht und Ländern finanzierte Forschungsförderung wollen. einmal mehr die SPD-Fraktion hinter diesem Verbot. 6262 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Dr. Christoph Bergner (A) Alle Versuche, in Kompetenzen der Länder zentral ein- obwohl die Hochschullandschaft an sich Ländergrenzen (C) zugreifen, erzeugen natürlich eine Abwehrreaktion. Ich überschreitet denke, dass auch die Aufkündigung der gemeinsamen Kommission für Bildungsplanung Folge dieser Amtsan- (Jörg Tauss [SPD]: Das sagen Sie einmal den maßung von Frau Ministerin Bulmahn war. Ministerpräsidenten!) – die Ministerpräsidenten sind da anderer Meinung –, (Beifall bei der CDU/CSU) zugleich aber bezüglich des Schulbaus eine andere Posi- Ich kann deshalb nur empfehlen, dass wir die Positio- tion zu vertreten. nen und die Entscheidungen der Länder zunächst einmal Auch wenn Ihr Antrag ne ei Mehrheit finden wird, ernst nehmen und in der Föderalismuskommission eine wird sich nichts bewegen, weil die Länder mit solchen sachbezogene Diskussion führen. Argumenten, wie sie in Ihrem Antrag geäußert werden, (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ein Rück- nicht zu überzeugen sind. Sie überzeugen auch mich zug!) nicht; das will ich offen sagen. Ich hoffe, dass wir in der Föderalismuskommission bessere Wege finden – Richtig ist: Wir brauchen eine bundesweite Vergleich- barkeit der Abschlüsse sowie Qualitätssicherung. (Jörg Tauss [SPD]: Für Provinzialismus!) (Jörg Tauss [SPD]: Fällt vielleicht vom Him- mel! – Nicolette Kressl [SPD]: Warten wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fünf Jahre, bis sich die KMK geeinigt hat! – Nein, Herr Kollege, jetzt nicht noch ein Argument, Cornelia Pieper [FDP]: Was ist mit der KMK? höchstens noch einen Satz, um Ihre Rede zu beenden. Was ist mit der Bund-Länder-Konferenz?) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Herr Rossmann, was hat denn die BLK dazu bisher – ich führe den Satz zu Ende –, um die Vergleichbar- beigetragen? Wenn Sie die Unterschiede, die PISA-E of- keit der Bildungsabschlüsse unter Bewahrung föderaler fen gelegt hat, jetzt beklagen und glauben, sie durch die Zuständigkeiten zu gewährleisten. Betonung eines Instruments, das es schon die ganze Zeit gegeben hat, Ich bedanke mich. (Jörg Tauss [SPD]: Wie lange gibt es die (Beifall bei der CDU/CSU) KMK?) zu verringern, dann habe ich natürlich meine Zweifel. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie ziehen zur Bestärkung dieser Position auch noch Ich schließe damit die Aussprache. (B) Herrn Reiche, also den Kultusminister eines besonders Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-(D) erfolglosen Bundeslandes – das zeigt der PISA-E-Ver- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- gleich –, heran. Man leistet sich in Brandenburg noch schätzung auf Drucksache 15/1305 zu dem Antrag der das 13. Schuljahr. Auch das ist nicht besonders überzeu- Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und gend. der FDP mit dem Titel „Für eine erfolgreiche Fortset- Nein, ich bin der Meinung, wir sollten alle Argu-zung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und mente ernst nehmen, da sie gut und überzeugend sind. Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Ich bin außerdem der Meinung, dass die Kriterien, um Bildungsplanung und Forschungsförderung“. Der Aus- die es uns geht, nämlich Qualitätssicherung und bundes- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/935 weite Vergleichbarkeit, besser im kooperativen Verfah- anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ren der Kultusministerkonferenz erfüllt werden als lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- durch zentralistische Vorgaben. Von diesem Grundsatz schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd- können wir, wie ich glaube, ausgehen. nis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Im Zusammenhang mit all den Zentralisierungsargu- menten, die Sie immer wieder gebrauchen, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu (Cornelia Pieper [FDP]: Es geht nicht um Zen- dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang tralisierung!) Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Frak- will ich Sie in der Kürze der Zeit wenigstens auf zwei tion der CDU/CSU Widersprüche aufmerksam machen: Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz Widerspruch eins: Zentralisierung wird in den Län- schaffen dern an ihre Grenzen stoßen, in denen wir aufgrund vie- ler Schulen in freier Trägerschaft ein hohes Maß an – Drucksachen 15/1097, 15/1852 – Vielfalt haben. Berichterstattung: Widerspruch zwei: Es ist aus meiner Sicht nicht lo- Abgeordnete Gerold Reichenbach gisch, die Zuständigkeit für denHochschulbau – das Beatrix Philipp betrifft nun nicht Ihren Antrag, aber das Positionspapier Silke Stokar von Neuforn der Bundesregierung – allein den Ländern zuzuweisen, Gisela Piltz Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6263

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Alle vorgesehenen Redner haben gebeten, ihre Reden Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: (C) zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist der Fall. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur von Leis- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Alle haben zu tungsverschiebungen bei häuslicher Kranken- Protokoll gegeben! Das ist richtig! Es ist nicht pflege zwischen gesetzlicher Krankenversiche- von allen gebeten worden!) rung und sozialer Pflegeversicherung (Pflege- Es handelt sich um die Reden der Abgeordneten Korrekturgesetz – PKG) Reichenbach, Philipp, Stokar von Neuforn, Piltz und der – Drucksache 15/1493 – Parlamentarischen Staatssekretärin Vogt.1) Überweisungsvorschlag: Damit kommen wir jetzt gleich zur Beschlussempfeh- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) lung des Innenausschusses auf Drucksache 15/1852 zu Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgese- „Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz schaffen“. hen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so be- Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache schlossen. 15/1097 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen? – Ent- Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat die Abge- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- ordnete Hilde Mattheis das Wort. men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Hilde Mattheis (SPD): Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass uns nachher derFreistaat Bayern sehr Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat loben wird, weil wir nämlich schon das umgesetzt ha- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- ben, was in dem Gesetzentwurf des Bundesrates einge- derung des Straßenverkehrsgesetzes fordert wird. – Drucksache 15/1496 – (Jörg Tauss [SPD]: Die Schnellsten waren sie (Erste Beratung 63. Sitzung) nicht!) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Der Bundesgesetzgeber war wieder einmal schneller ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenals der Freistaat Bayern. (14. Ausschuss) (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) – Drucksache 15/1802 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Berichterstattung: CSU]: Das gibt es nicht! – Jörg Tauss [SPD]: Abgeordnete Heidi Wright Nicht ungewöhnlich!) Hier haben die Abgeordneten Wright, Storjohann, – Doch! Was der Freistaat Bayern einfordert, wird ab Hettlich, Otto und die Parlamentarische Staatssekretärin 1. Januar 2004 gelten. Gleicke gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dür- fen.2) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Vor wenigen Wochen haben wir mit breiter Mehrheit, Dann können wir auch hier zur Abstimmung über den über alle Parteigrenzen hinweg, also auch mit den Stim- vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes men der CDU/CSU und der Länder, dasGesundheits- zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes kommen.systemmodernisierungsgesetz verabschiedet und damit Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen dem heute vorgebrachten Anliegen in einem wesentli- empfiehlt auf Drucksache 15/1802, den Gesetzentwurf chen Punkt entsprochen. Ich nutze daher die erste Le- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- sung über den Gesetzentwurf des Bundesrates für eine wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es kurze Rückschau, um deutlich zu machen, wie wichtig Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf dieser erste Lösungsschritt war, den wir durch das GMG ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen vollzogen haben. worden. Worum geht es also? In dem eingebrachten Ge- Dritte Beratung setzentwurf des Bundesrates wird beklagt, dass es zu erheblichen Verschiebungen der Kosten für einzelne be- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem handlungspflegerische Maßnahmen von der Kranken- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.versicherung in die Pflegeversicherung gekommen ist. – Stimmt jemand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Der Welche Kostenverschiebungen sind gemeint? Im Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stim- SGB V heißt es in § 37 Abs. 3 – „Häusliche Kranken- men der Fraktionen des ganzen Hauses angenommenpflege“ – worden. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht nur, 1) Anlage 8 2) Anlage 9 – es wird also nur dann bezahlt – 6264 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Hilde Mattheis (A) soweit eine im Haushalt lebende Person den Kran- – es kann dem Freistaat Bayern durchaus zugestanden(C) ken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegenwerden, hierfür den Anstoß gegeben zu haben –, in ei- und versorgen kann. nem ersten richtigen Schritt in § 37 Abs. 2 SGB V zur häuslichen Pflege ergänzend zu dem Satz Hilfeleistungen pflegender Angehöriger wurden also nicht von der Krankenversicherung erstattet. Ich gebrau- Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer che bereits die Vergangenheitsform; denn ab 1. Januar Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungs- 2004 greift das Gesetz. pflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztli- chen Behandlung erforderlich ist. Das Bundessozialgericht wollte nach den ersten Er- fahrungen mit der 1995 eingeführten Pflegeversicherung anzufügen: Hilfeleistungen pflegender Angehöriger berücksichti- Der Anspruch umfasst das Anziehen und Auszie- gen. Es entschied daher 1998: Behandlungspflegerische hen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressions- Hilfeleistungen von pflegenden Angehörigen sind bei klasse 2 auch in Fällen, in denen dieser Hilfebedarf der Einstufung der Pflegeeinsätze zu berücksichtigen. bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach – Dieses Urteil war gerechtfertigt und nachvollziehbar; den §§ 14 und 15 des XI. Buches zu berücksichti- denn neben der Grundpflege und der hauswirtschaftli- gen ist. chen Versorgung konnten pflegende Angehörige nun zum Beispiel das tägliche An- und Ausziehen von Kom- Durch diese Ergänzung wird die Behandlungspflege pressionsstrümpfen geltend machen. eindeutig der Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung zugewiesen. Es wurde also die Was aber 1998 ausschließlich für pflegende Angehö- teilweise erhebliche finanzielle Belastung für Pflegebe- rige gedacht war, wurde 2001 vom Bundessozialgericht dürftige zugunsten der Betroffenen geklärt. auf professionelle Pflegekräfte ausgeweitet. Dadurch wurden Pflegebedürftige, die für bestimmte behand- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lungspflegerische Hilfeleistungen ambulante Dienste in DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler Anspruch nehmen mussten, finanziell zusätzlich belas- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das tet. muss doch auch einmal gesagt werden!) Da im SGB XI alle Leistungen bei häuslicher Pflege Außerdem verursacht die klare Festlegung im GMG je Pflegestufe gedeckelt sind, müssen die behandlungs- keinen zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Ich darf es pflegerischen Maßnahmen aus dem jeweiligen Budget an dieser Stelle nochmals betonen: Dem Anliegen von bezahlt werden. Für Pflegebedürftige reduzierte sich die Bayern wurde bei den Kompromissverhandlungen Rech- nung getragen. (B) Möglichkeit, Leistungen einzukaufen, bzw. sie mussten (D) erhebliche Zuzahlungen leisten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ Aus dem ursprünglich gerechten Ansatz war eine DIE GRÜNEN]: Das haben die nicht Kostenverschiebung zulasten der Pflegeversicherung ge- gemerkt!) worden. So konnte es zum Beispiel geschehen, dass bei – Ja, das glaube ich auch. – Bundesministerin Ulla einem Leistungsvolumen der Pflegeversicherung vonSchmidt und Herr Seehofer – Letzterer kommt bekannt- 384 Euro allein über 300 Euro für das tägliche An- und lich aus Bayern – haben dies gemeinsam geregelt. Ausziehen der Kompressionsstrümpfe gebraucht wur- den. Das sind bereits fast 80 Prozent der Mittel. Nicht (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was die so nur die betroffenen Menschen, auch die Pflegedienste alles geregelt haben!) beschwerten sich in der Vergangenheit immer wiederWenn es weitergehende Bestrebungen gegeben haben über diese Schieflage. sollte, wurden diese offensichtlich nicht von bayrischer Wie sieht jetzt die Lösung aus, die der Freistaat Bay- Seite eingebracht. ern vorschlägt? Die krankheitsspezifischen Pflegemaß- Das Ergebnis der Verhandlungen wurde von den nahmen sollen bei der Feststellung der Pflegebedürftig- Fachverbänden, dem Bundesverband privater Anbieter keit berücksichtigt werden, wenn eine häuslichesozialer Dienste, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Pflegeperson nachgewiesen wird; das heißt, dann wäre Freien Wohlfahrtsverbände und anderen Verbänden be- die Pflegeversicherung für die Finanzierung zuständig. grüßt. Wird dies nicht nachgewiesen, besteht ein Anspruch an die Krankenversicherung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Damit wären wir formal wieder bei dem, was 1998 durch das Bundessozialgericht entschieden wurde. In der Mit der anstehenden Reform der Pflege ist das Ziel ver- Praxis bestünde – wieder – das Problem, dass die häus- bunden, weitere Leistungsverschiebungen zu korrigieren liche Situation, die sich ja jederzeit ändern kann, dieund es nicht allein bei der behandlungspflegerischen Grundlage für eine Begutachtung ist, wodurch ein unge- Maßnahme der Kompressionsstrümpfe zu belassen. heurer Verwaltungsaufwand entstehen würde. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Was wird durch unsere Gesetzesmaßnahme ab dem 1. Januar 2004 konkret gelten? SPD, Bündnis 90/Die Es bleibt für mich nur noch eine letzte spannende Grünen, die CDU/CSU und die Länder waren sich einig Frage: Warum wird dieses Thema heute hier von der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6265

Hilde Mattheis (A) bayerischen Staatsministerin mit Sicherheit vehement Sie sollten eigentlich wissen, dass Sie nicht schneller(C) vertreten werden? Ich bin gespannt. waren. Denn unsere Initiative ist schon am 11. Juli die- ses Jahres in den Bundesrat eingebracht worden. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da können Sie etwas lernen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Im Vorfeld kann ich nur spekulieren: Kann es sein, dass Die Bayern sind also schneller und exakter. die Einigung im GMG den Freistaat überrascht hat und Wenn Sie sich ein bisschen mit Pflege befasst haben, die Staatsregierung für eine eventuelle Anweisung an die dann sollten Sie wissen, dass die medizinische Behand- Krankenkassen, alle Leistungen der medizinischen Be- lungspflege nicht nur aus dem An- und Ausziehen von handlungspflege zu übernehmen, zum jetzigen Zeitpunkt Kompressionsstrümpfen besteht. keine gesetzliche Grundlage hat? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Jörg Tauss [SPD]: Das hat Herr Seehofer neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht erklärt!) wahr! Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht!) Könnte mit diesem Gesetzentwurf vielleicht auch ver- Sie haben sich auf das GMG bezogen. Darin wurde le- sucht werden, das, was das Bundessozialgericht durch diglich das An- und Ausziehen von Kompressions- seine Rechtsprechung eingeleitet hat, nämlich die GKV strümpfen übernommen. zulasten der Pflegeversicherung zu entlasten, umzukeh- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) ren und eine Kostenverschiebung in die andere Richtung zu unternehmen? Deswegen ist es so wichtig, dass unsere Bundesrats- initiative Zustimmung findet. Denn Sie wissen ganz ge- Uns wird in den nächsten Wochen die Reform dernau, dass die medizinische Behandlungspflege nicht Pflegeversicherung in hohem Maße beschäftigen. nur aus dem An- und Ausziehen von Kompressions- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Beratung ver- strümpfen besteht – natürlich beinhaltet sie auch das; das schiebt ihr doch schon ein paar Jahre lang!) ist gar keine Frage –, Wenn wir die Grundsätze „ambulant vor stationär“ so- (Jörg Tauss [SPD]: Schätzen Sie das nicht zu wie „Prävention und Rehabilitation vor Pflege“ noch gering ein!) stärker einfordern – diese Grundsätze sind bei uns allen sondern beispielsweise auch den Bereich der Schmerz- unumstritten –, brauchen wir einerseits klarere Abgren- medikation, die Sekretabsaugung und das Anlegen eines zungen zwischen Leistungen der Kranken- und der Pfle- Einmalkatheters morgens und abends umfasst. (B) geversicherung, andererseits aber auch eine Verbesse- (D) rung der Übergänge, um die Pflegebedürftigen optimal (Jörg Tauss [SPD]: Völlig richtig!) zu versorgen und ungerechte Lasten zu vermeiden. Auch das ist medizinische Behandlungspflege und keine Ich möchte alle an dieser Stelle herzlich einladen,Grundpflege. konstruktiv an der Weiterentwicklung der Pflegeversi- (Beifall bei der CDU/CSU) cherung mitzuwirken. Auch die Länder sind hier in der Verantwortung. Denn es heißt in § 9 des Pflege-Versi- Deswegen, liebe Frau Kollegin, ist das in diesem Zusam- cherungsgesetzes: menhang bestehende Problem mit dem GMG keines- wegs beseitigt. Sie sollten sich ein Stück weit intensiver Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung mit den Problemen der Pflege in Deutschland befassen einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und dann darüber reden. und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) struktur. Sie haben ausgeführt, dass Sie sich mit der Reform Vielen Dank. der Pflegeversicherung beschäftigen werden. Dazu kann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ich Ihnen sagen: Wir werden schon in Kürze eine Re- DIE GRÜNEN) form der Pflegeversicherung auf den Tisch legen. Auch hier werden wir weiter, schneller und auch besser – das ist gar keine Frage – als die rot-grüne Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sein. Für den Bundesrat erhält jetzt die Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen des Frei- (Erika Lotz [SPD]: Das ist eine Drohung! – staates Bayern, Frau Christa Stewens, das Wort. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das mit der CDU abgestimmt?)

Christa Stewens, Staatsministerin (Bayern): Frau Kollegin Mattheis, Sie selber haben auf das Ur- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! teil des Bundessozialgerichtes vom 30. Oktober 2001 Frau Kollegin Mattheis, ich habe Ihnen sehr genau zuge- hingewiesen. Sie haben dargelegt – in der Beurteilung hört. der Lage sind wir uns durchaus einig –, dass die Leistun- gen der Pflegeversicherung im Bereich der ambulanten (Erika Lotz [SPD]: Das wollen wir aber auch Pflege – ich meine die Pflegestufe I und II – ein Stück hoffen!) weit – ich sage das ganz offen – geplündert werden. Das 6266 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Staatsministerin Christa Stewens (Bayern) (A) Anlegen eines Einmalkatheters für eine Darm- oder Bla- schieben. Ich muss Ihnen sagen: Sie handeln unaufrich- (C) senentleerung in Verbindung mit der morgendlichentig. Pflege – und nicht das An- oder Ausziehen eines Kom- (Beifall bei der CDU/CSU) pressionsstrumpfes – kostet 5,62 Euro. Wenn Sie das pro Monat rechnen, belaufen sich die Kosten auch nach dem Der Bund analysiert seit Jahren die völlig unzurei- In-Kraft-Treten des GMG, also nach dem 1. Januar 2004, chende Situation in der Pflege und diskutiert mitunter auf 800 Euro. Das sind in etwa 55 Prozent der Leistun- auch über Maßnahmen, wie die in Deutschland beste- gen in der Pflegestufe III. Das ist die tägliche Realität in henden Probleme gelöst werden könnten. der ambulanten Pflege. Das sollten Sie sich vor Augen führen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Rosinenpickerei!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Realität war noch nie deren Stärke!) Beschlüsse zur Umsetzung der diskutierten Maßnahmen werden jedoch nur sehr selten gefasst. Dann sollten Sie auch ein Stück weit exakter arbeiten. Die Pflegeverbände waren natürlich bei mir, weil sie Es ist zwar gut, dass mit der Klarstellung im GMG ab wissen, dass sie in Bayern eine Sozialministerin haben, 1. Januar 2004 das Aus- und Anziehen von Kompressi- die sich ganz intensiv mit der Situation der Pflege be- onsstrümpfen – Kompressionsklasse 2 – in den Leis- schäftigt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten zum Bund tungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen fällt. Aber gehen und dort ihre Interessen vorbringen. Das ist zu- damit ist es bei weitem nicht getan. Auch die anderen mindest bei den Kompressionsstrümpfen ab Kompressi- krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen müssen dort- onsklasse 2 wirkungsvoll gewesen. Aber Sie müssen hin zurück, wo sie schon immer waren und wo sie sach- mehr machen. lich hingehören, Die Bundesfamilienministerin setzt jetzt einen runden (Beifall bei der CDU/CSU) Tisch ein. Dort diskutiert man darüber, was geschehen nämlich in den Leistungskatalog der gesetzlichen Kran- soll. Ich kann Ihnen sagen, was geschehen muss: Jetzt ist kenversicherung. nicht mehr die Zeit zum Diskutieren, sondern es ist die Zeit zum Handeln. Taten sind gefragt und nicht nur Die jetzige Regelung belastet die Pflegebedürftigen Worte. – nicht die gesetzliche Krankenversicherung – auf eine nicht vertretbare Art und Weise. Bitte sorgen Sie dafür, Danke schön. dass der Wille des Gesetzgebers wieder zur Geltung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommt und dass die Leistungen der Pflegeversicherung (B) (D) bei häuslicher Pflege ausschließlich für die Grundpflege verwendet werden können. Genau dafür ist die Pflege- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: versicherung gedacht gewesen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Selg.

In ihrer Stellungnahme zu dem vom Bundesrat be- Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schlossenen Entwurf des Pflege-Korrekturgesetzes stellt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu spä- die Bundesregierung fest – Sie haben es heute eigentlich ter Stunde – lange sitze ich hier – hätte ich zu diesem wiederholt –, dass die gegenwärtige Praxis der sozialpo- Thema beinahe selber Kompressionstrümpfe gebraucht. litischen Zielsetzung, nämlich der Stärkung der häusli- chen Pflege, zuwiderläuft und aus diesem Grunde eine (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gesetzgeberische Lösung im Interesse der Pflegebedürf- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Daniel tigen geboten ist. Die Pflegebedürftigen sind die Ärms- Bahr [Münster] [FDP]: Bitte nicht albern wer- ten in dieser Gesellschaft, die sich oft überhaupt nicht den!) mehr selbst helfen können. Deswegen bedürfen sie unse- Seit Einführung der Pflegeversicherung beschäftigt rer Hilfe und einer exakten gesetzlichen Klarstellung. uns die Schnittstelle zwischen Kranken- und Pflegever- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sicherung. Immer wieder klagen verschiedene Seiten, neten der FDP) dass die Krankenkassen versuchen, Kosten zulasten der Pflegeversicherung zu verschieben. Das ist nichts Neues. Dennoch plädiert die Bundesregierung für die Ableh- Immer wieder mussten sich in der Vergangenheit die So- nung des Gesetzentwurfes. Wenn Ihnen die Klarstellung zialgerichte mit der Frage beschäftigen, welcher Kosten- so sehr am Herzen liegt, dann kümmern Sie sich bitte träger unter welchen Bedingungen für die Finanzierung gleich darum. Sie argumentieren, dass es notwendig sei, bestimmter Leistungen zuständig ist. auch andere Möglichkeiten gesetzgeberischer Regelun- gen zu prüfen. Das haben wir alle schon einmal gehört. Das Urteil des Bundesozialgerichts zu diesem Es wird ununterbrochen geprüft. Man will noch zielge- Thema, das – auch heute immer wieder – so genannte nauer den Interessen der Pflegebedürftigen Rechnung Kompressionsstrümpfeurteil, ist die Grundlage der vor- tragen. Aber ich sage Ihnen klipp und klar: Für diese Art liegenden bayerischen Gesetzesinitiative, die jetzt auch der Argumentation habe ich überhaupt kein Verständnis. zu einem Gesetzentwurf des Bundesrates geführt hat. Das sind wieder nur taktische Spielchen, die hier ge-Seit diesem Urteil des Bundessozialgerichts fällt die macht werden und die letztendlich dazu dienen sollen, Leistung des An- und Ausziehens von Kompressions- den vorliegenden Gesetzentwurf auf die lange Bank zu strümpfen im ambulanten Bereich unter bestimmten Vo- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6267

Petra Selg (A) raussetzungen in den Leistungsbereich der Pflegeversi- ben wir den § 37 SGB V zur von den Krankenkassen zu (C) cherung, obwohl sie eindeutig der Krankenversicherung leistenden häuslichen Krankenpflege neu gefasst. zugeordnet sein sollte. Die Folge ist, dass die Kranken- kassen die Übernahme der Kosten für diese Leistung ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lehnen. Letztendlich landen die Kosten meistens bei den Gestatten Sie eine Zwischenfrage? Pflegeversicherten, die sie aus eigener Tasche bezahlen müssen. Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Sachleistungen aus den jeweiligen Pflegestufen Ja. decken heute meist nur einen Teil der Gesamtpflegekos- ten ab. Gleichzeitig ist das An- und Ausziehen von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Kompressionstrümpfen vergleichsweise teuer. In der Bitte, Herr Zöller. Folge werden die Pflegebedürftigen in der ambulanten Pflege relativ stark belastet. Es sei hier noch einmal klar Wolfgang Zöller (CDU/CSU): gesagt: Diese von der Rechtsprechung angestoßene Ent- Können Sie mir bitte bestätigen, dass das Land Bay- wicklung war vom Gesetzgeber nie gewollt. Die Leis- ern schon vor zwei Jahren einen Antrag eingebracht hat, tungen der Pflegeversicherung sind der Grundpflege und um die Verbesserung der Behandlungspflege sauber zu der hauswirtschaftlichen Versorgung vorbehalten. Be- regeln? Sie brauchen nur Ja zu sagen. handlungspflege ist ausschließlich Angelegenheit der Krankenkassen. Deshalb besteht hier zweifellos Korrek- turbedarf. Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da gebe ich Ihnen durchaus Recht, Herr Zöller. Der Bundesrat versucht jetzt allerdings auf denkbar schlechte Weise, das bestehende Abgrenzungsproblem (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Danke schön!) zu beheben. Die Antwort auf die Frage, ob das An- und Aber im Zusammenhang mit dem GMG, das wir jetzt be- Ausziehen von Kompressionsstrümpfen von der Kran- schlossen haben, möchte ich schon darauf hinweisen, ken- oder von der Pflegekasse zu zahlen ist, soll nachdass wir die Behandlungspflege innerhalb der Pflegever- den Vorstellungen des Bundesrates von der häuslichen sicherung durch das GMG neugeregelt haben – darauf Situation zum Zeitpunkt der Einstufung abhängig ge-komme ich noch zurück – und dass wir das Thema Kom- macht werden. Komplizierter kann man das nicht gestal- pressionsstrümpfe jetzt eindeutig in § 37 geregelt haben. ten. Entscheidend wäre demnach, ob zum Zeitpunkt der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einstufung im Haushalt des oder der Pflegebedürftigen und bei der SPD) (B) – kompliziert zu lesen – Angehörige oder andere Perso- (D) nen leben, die die behandlungspflegerischen Leistungen Damit ist jetzt klargestellt, dass der Anspruch auf erbringen. Das heißt aber, dass immer dann, wenn sich häusliche Krankenpflege und damit die Leistungspflicht die häusliche Situation ändert, zum Beispiel wenn der der Krankenkassen in Zukunft auch das An- und Ehegatte stirbt, eine Neueinstufung vorgenommen wer- Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse 2 den müsste. Das ist nach unserer Ansicht viel zu um-umfasst. Das gilt auch fürdie Fälle, in denen dieser ständlich und dient eher dem Aufbau zusätzlicher Büro- Hilfsbedarf bei der Einstufung der Leistungen der Pfle- kratie als der Entlastung pflegebedürftiger Menschen. geversicherung zu berücksichtigen ist. Damit ist diese behandlungspflegerische Leistung eindeutig der Kran- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kenversicherung zugeordnet. Der Vorteil gegenüber der und bei der SPD) im Bundesratsentwurf vorgeschlagenen Regelung ist, dass gleichzeitig kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand Seit Einführung der Pflegeversicherung haben wir entsteht. ständig irgendwelche Korrekturgesetze hinten angehängt, was die Bürokratie ständig verstetigt hat. Von vielen Ver- Ob das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümp- bänden wird endlich einig gefordert, die Bürokratie abzu- fen von Kranken- oder Pflegekassen zu zahlen ist, hängt bauen. Bei Verabschiedung dieses Gesetzentwurfesauch nicht von der häuslichen Situation zum Zeitpunkt würde aber – das sei noch einmal gesagt – zusätzliche Bü- der Einstufung ab. Deshalb ist auch keine Neueinstufung rokratie aufgebaut. erforderlich, wenn sich die häusliche Situation ändert. Die im Rahmen der Gesundheitsreform getroffene Rege- Außerdem – wie schon mehrfach gesagt – ist der Ge- lung entspricht daher dem Anspruch der Bundesregie- setzentwurf des Bundesrates überholt. rung, Bürokratie abzubauen und zu vermeiden. Der Bun- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha!) desrat würde mit seinem Entwurf genau das Gegenteil erreichen. – Warum haben Sie denn nicht mehr mitgemacht? Sie Mein Fazit lautet deshalb: Erstens. Der Entwurf des waren doch beteiligt. Bundesrates ist umständlich und zu bürokratisch. Zwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tens. Wir haben das Problem, das gerade angesprochen und bei der SPD) worden ist, bereits im Rahmen der Gesundheitsreform auf wesentlich elegantere Art und Weise gelöst. Drittens. Einen Teil des Problems, auf das der Bundesrat in sei- Wir erarbeiten gemäß dem Urteil des Bundesverfas- nem Entwurf abhebt, haben wir in der gerade abge-sungsgerichtes für 2004 eine Reform der Pflegeversiche- schlossenen Gesundheitsreform bereits gelöst. Dort ha- rung, womit wir Regelungen zur besseren Verzahnung 6268 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

Petra Selg (A) und Vernetzung der Leistungen der gesetzlichen Kran- diese Personen erzeugt die Rechtsprechung unter Um- (C) kenversicherung und der Pflegeversicherung treffenständen erhebliche finanzielle Belastungen. werden. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll die Ich glaube, dass die Reform der Pflegeversicherung Rechtssicherheit gestärkt und vor allem die finanzielle bei uns weitaus besser aufgehoben ist. Wir betreibenBelastung der Pflegebedürftigen rückgängig gemacht keine taktischen Spielchen. Wenn ich mir die Vorschläge werden. Gleichzeitig wird die Leistungsfähigkeit der der Herzog-Kommission zur Pflegeversicherung an-ambulanten Pflegedienste gestärkt. Ich finde, das sind schaue, kann ich nur sagen: Gute Nacht Deutschland! hehre Ziele und hehre Maßnahmen, die wir unterstützen Gute Nacht den Pflegebedürftigen! sollten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kernaussage des Gesetzentwurfes ist, dass bei der DIE GRÜNEN – Josef Philip WinklerEinstufung in eine Pflegestufe der Zeitaufwand für erfor- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Un- derliche Leistungen der Behandlungspflege nur unter glaublich!) bestimmten Voraussetzungen zu berücksichtigen ist, und zwar – erstens – wenn der behandlungspflegerische Hil- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: febedarf untrennbarer Bestandteil der Grundpflege ist oder mit diesem in einem objektiv notwendigen und un- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr. mittelbaren zeitlichen Zusammenhang steht und – zwei- tens – wenn eine im Haushalt des Pflegebedürftigen le- Daniel Bahr (Münster) (FDP): bende Person die Behandlungspflege erbringen kann. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zum vorgelegten Entwurf noch einige Fra- Ich bitte angesichts der Zeit und angesichts der Ernsthaf- gen. In diesem Gesetzentwurf werden aber wesentliche tigkeit des Themas Kompressionsstrümpfe nicht ins Lä- Problemfelder angesprochen und es wird Handlungsbe- cherliche zu ziehen. Sowohl für die Betroffenen als auch darf aufgezeigt. Auf jeden Fall wäre es eine Verbesse- für die Familien ist das ein sehr ernstes Thema. rung der aktuellen Praxis, wenn dieser Gesetzentwurf im Leistungsverschiebungen zwischen Kranken- undBundestag eine Mehrheit finden würde. Pflegeversicherung sind an der Tagesordnung und sor- gen immer wieder für Unmut. Der Bundesrat hat die Ini- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tiative zum Pflege-Korrekturgesetz mit dem Ziel ergrif- Nur das wird die entscheidende Frage für meine Fraktion fen, gesetzlich eindeutig zu regeln, in welchen Fällen die bei der Abstimmung über dieses Gesetz sein. (B) Pflegekassen die Kosten für die Erbringung von Leistun- (D) gen der Behandlungspflege bei ambulant versorgten Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsfrak- pflegebedürftigen Personen übernehmen. tionen, es ist richtig, dass im Rahmen des GMG eine kleine Verbesserung erreicht wurde. Angesichts der Pro- Die Rechtsprechung hat zur Verschiebung von Leis- bleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen, tungen durch die Krankenversicherung in die Pflegever- reicht das aber nicht aus. Wir warten auf Ihre Vor- sicherung geführt. Die Möglichkeit zur Kostenverlage- schläge. Wir wollen nicht zu lange warten. Deswegen rung ist durch § 37 Abs. 3 SGB V gegeben. Durchhoffen wir, dass im Rahmen der Anhörung noch viele diesen Paragraphen wird die häusliche Krankenpflege Fortschritte erreicht werden und dass Sie sich vielleicht als Leistung der Krankenkasse ausgeschlossen, wenndoch noch überzeugen lassen, diesem Gesetzentwurf zu- eine im Haushalt lebende Person den Kranken im erfor- zustimmen. Wir werden diesen Gesetzentwurf in der An- derlichen Umfang pflegen und versorgen kann. Dieser hörung auf jeden Fall kritisch-konstruktiv begleiten. Tatbestand wurde vom Bundessozialgericht sogar auf Sachverhalte ausgedehnt, in denen der Pflegebedürftige Herzlichen Dank. die ambulanten Leistungen durch professionelle Pflege- kräfte bezog. Dies wurde teilweise im Rahmen des Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sundheitssystemmodernisierungsgesetzes geändert. Das Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie immer!) ist – das wurde bereits gesagt – sehr löblich, reicht aber nicht aus. Deswegen müssen wir weitere Anstrengungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: unternehmen, um den gesamten Bereich der Behand- Ich danke auch und schließe die Aussprache. lungspflege auszubauen. Die Rechtsauffassung der Gerichte widerspricht der Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- eigentlichen Intention der Pflegeversicherung. Die Pfle- wurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- geversicherung ist grundsätzlich nicht für die Leistungen schüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor- der Behandlungspflege zuständig, sondern für Leistun- schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die gen der Grundpflege sowie der hauswirtschaftlichenÜberweisung so beschlossen. Versorgung. Da die Pflegeversicherung nur einen Teil- Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: kaskocharakter besitzt und damit nur Leistungen bis zu einem festgesetzten Höchstsatz übernimmt, sind von den Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Leistungsverschiebungen vor allem chronisch Kranke gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die sowie multimorbide Pflegebedürftige betroffen. Für Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Son- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6269

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) dervermögens für das Jahr 2004 (ERP-Wirt- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- (C) schaftsplangesetz 2004) wurfs auf Drucksache 15/1468 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es – Drucksache 15/1468 – anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Überweisungsvorschlag: ist die Überweisung so beschlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Tourismus Wir sind damit – überraschenderweise – am Schluss Haushaltsausschuss unserer heutigen Tagesordnung. Hier haben die Abgeordneten Skarpelis-Sperk, Otto Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Bernhardt, Hans-Josef Fell und Christoph Hartmann ge- destages auf morgen, Freitag, den 7. November 2003, beten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) – Sie 9 Uhr, ein. sind offensichtlich damit einverstanden. Dann verfahren wir auch so. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den Besuchern auf den Tribünen einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen. 1) Anlage 10 (Schluss: 20.22 Uhr)

(B) (D)

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(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Ostendorff, Christine Scheel, Marianne Tritz, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Antje Vollmer und Christa Nickels (alle BÜNDNIS 90/DIE entschuldigt bis GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf Abgeordnete(r) einschließlich eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids Dörmann, Martin SPD 06.11.2003 über eine europäische Verfassung (Tagesord- nungspunkt 4 a) Fischbach, Ingrid CDU/CSU 06.11.2003 Wir stimmen gegen den Gesetzentwurf zur Einfüh- Goldmann, Hans- FDP 06.11.2003 rung eines Volksentscheids über die europäische Verfas- Michael sung, weil direktdemokratische Bürgerbeteiligung für uns nicht teilbar ist. Wir fordern deshalb, die Einführung Griese, Kerstin SPD 06.11.2003 eines Referendums über die europäische Verfassung mit der innerstaatlichen Einführung von Volksinitiative, Grill, Kurt-Dieter CDU/CSU 06.11.2003 Volksbegehren und Volksentscheid zu verbinden. Nur so kann sichergestellt werden, dass endlich Ernst gemacht Gröhe, Hermann CDU/CSU 06.11.2003 wird mit mehr Bürgerbeteilung auch auf Bundesebene. Argumente, dass die Bevölkerung nicht „reif“ für eine Kopp, Gudrun FDP 06.11.2003 direkte Beteiligung an politischen Entscheidungen sei, sind nicht stichhaltig. In vielen Bundesländern sind be- Kraus, Rudolf CDU/CSU 06.11.2003 reits mit großem Erfolg Volksentscheide durchgeführt worden. Die Bürgerinnen und Bürger sind dabei sehr Mantel, Dorothee CDU/CSU 06.11.2003 verantwortungsvoll mit ihrem Stimmrecht umgegangen, was alle Populismus-Befürchtungen widerlegt. Bürger- Mehl, Ulrike SPD 06.11.2003 entscheide verlangen auch von Politikerinnen und Politi- kern mehr Engagement bei der Vermittlung ihrer Positio- Nolte, Claudia CDU/CSU 06.11.2003 nen und führen so zu mehr gesellschaftlichem Diskurs Sauer, Thomas SPD 06.11.2003 über politische Fragen. Der oftmals beklagten „Politik- (B) verdrossenheit“ muss mehr Bürgerbeteiligung entgegen- (D) Schily, Otto SPD 06.11.2003 gesetzt werden. Art. 20 Abs. 2 GG legt fest, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Wir sollten den Mut ha- Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 06.11.2003 ben, zu den Wurzeln des Grundgesetzes zurückzukehren und den Bürgerinnen und Bürgern mehr direkte Beteili- gungsrechte zu ermöglichen. Anlage 2 Für die Einführung von mehrdirektdemokratischen Erklärung Beteiligungsmöglichkeiten im Grundgesetz ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat not- der Abgeordneten Christel Humme (SPD) zur wendig. Das bedeutet, dass eine Änderung ohne die Zu- Abstimmung über den Entwurf eines Dritten stimmung der CDU/CSU nicht möglich ist. Wir bedau- Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches So- ern ausdrücklich, dass die CDU/CSU nicht bereit ist, den zialgesetzgebung und anderer Gesetze (Druck- Bürgerinnen und Bürgern mehr politische Mitwirkungs- sachen 15/1831, 15/1893) (Tagesordnungs- möglichkeiten einzuräumen. Auch die FDP ist sich die- punkt 3a) ser Mehrheitsverhältnisse bewusst. Wenn die Ablehnung im Plenum sicher ist, lassen sich auch Anträge stellen, In der Abstimmungsliste ist mein Name nicht aufge- die in den eigenen Reihen nicht konsensfähig sind. Wir führt. Mein Votum lautet Ja. möchten darauf hinweisen, dass die FDP-Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode bei der Abstimmung des rot-grünen Gesetzentwurfs zur Einführung von Volksini- Anlage 3 tiative, Volksbegehen und Volksentscheid sehr gespalten Erklärung nach § 31 GO war und sich auch mehrheitlich gegen mehr direkte De- mokratie ausgesprochen hat. Die Ernsthaftigkeit des vor- der Abgeordneten Rainder Steenblock, Anna liegenden FDP-Antrags müssen wir deshalb infrage stel- Lührmann, Ulrike Höfken, Werner Schulz len. (Berlin), Silke Stokar von Neuforn, Margareta Wolf (Frankfurt), Ursula Sowa, Grietje Bettin, Wir streben weiterhin ein Referendum über die euro- Michaele Hustedt, Dr. Ludger Volmer, Hans- päische Verfassung an. Allerdings sollte grundsätzlich Josef Fell, Winfried Nachtwei, Undine Kurth überlegt werden, ob nationale Referenden einer europäi- (Quedlinburg), Marieluise Beck (Bremen), schen Verfassung eigentlich angemessen sind. Vielmehr Winfried Hermann, Peter Hettlich, Friedrich sollte bei der nächsten Revision der europäischen 6272 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Verfassung das Änderungs- und Ratifizierungsverfahren Anlage 6 (C) dahingehend geändert werden, dass die Unionsbürgerin- nen und Unionsbürger in einem europaweiten Referen- Erklärung nach § 31 GO dum diese Änderungen annehmen müssen. Das europa- des Abgeordneten Volker Kauder (CDU/CSU) weite Referendum sollte dann als angenommen gelten, zu den Abstimmungen über die Vorschläge zur wenn die Mehrheit der abgegebenen Stimmen der Ände- Wahl der Mitglieder der Kommission von Bun- rung zugestimmt hat und eine Mehrheit in mehr als destag und Bundesrat zur Modernisierung der Zweidrittel der Mitgliedstaaten erreicht wurde. bundesstaatlichen Ordnung (Tagesordnungs- punkt 5 b bis d)

Anlage 4 Die Zustimmung der Unionsfraktion zum Wahlvor- schlag der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/ Erklärung nach § 31 GO Die Grünen erfolgt unter rechtlichem Vorbehalt. Nach allen drei anerkannten Zählverfahren hätte sich eine Zu- des Abgeordneten Josef Philip Winkler (BÜND- sammensetzung von 7 : 7 : 1 : 1 ergeben. Jede andere NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über Verteilung ist willkürlich und daher verfassungswidrig. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Da aber der entsprechende Antrag der Unionsfraktion Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines soeben abgelehnt worden ist und sie ein hohes Interesse Volksentscheids über eine europäische Verfas- daran hat, dass die Kommission so schnell wie möglich sung (Tagesordnungspunkt 4 a) ihre Arbeit aufnehmen kann, stimmt die Unionsfraktion Mein Ziel ist und bleibt, dass die Bürgerrinnen und dem Wahlvorschlag dennoch zu. Sie hält aber an ihrer Bürger Europas in einer Volksabstimmung über die ge- Rechtsposition fest und erwartet, dass das Bundesver- meinsame Europäische Verfassung entscheiden dürfen. fassungsgericht sie in dem Rechtsstreit über die Zusam- An diesem konstitutiven Akt müssen die Menschen di- mensetzung des Vermittlungsausschusses bestätigen rekt beteiligt werden. Nur ein europaweiter Volksent-wird. Dann wird die heutige Wahlentscheidung zu korri- scheid kann ein gemeinsames Europa begründen. gieren sein. Nationale Referenten werden den Erfordernissen eines gesamteuropäischen Integrationsprozesses nicht Anlage 7 gerecht. Vielmehr sollten alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in einem europaweiten Referendum ab- Zu Protokoll gegebene Rede stimmen dürfen. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des (B) (D) Wenn die Regierungschefs den Menschen in Europa Berichts: Für eine erfolgreiche Fortsetzung der diese Chance nicht einräumen, werden wir ein europa- gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und weites Bürgerbegehren zu diesem Thema herbeiführen. Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kom- mission für Bildungsplanung und Forschungs- Die Menschen in Europa werden ihre Recht einfor- förderung (BLK) (Tagesordnungspunkt 10) dern, selbst ihre Verfassung zu legitimieren. Repräsen- tanten werden auf der Grundlage von Verfassungen für Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gern bestimmte Aufgaben gewählt. Aber die Verfassungrufe ich Ihnen noch einmal den Grund in Erinnerung, selbst darf nicht allein von den Repräsentanten legiti-warum wir hier heute über das Thema Bildungsplanung miert sein. Es ist europäische Verfassungstradition, dass sprechen: Die Fraktion der Union hatte es sich im Früh- sich die Menschen eines Gemeinwesens selbst ihre Ver- ling plötzlich einfallen lassen, den bislang geltenden fassung geben. Konsens im Hause über die Bildungsplanung aufzukün- digen. Stattdessen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wollten Sie die Koordination zwischen den Anlage 5 Ländern über die KMK regeln. Das hieße immer noch, Erklärung nach § 31 GO den Bock zum Gärtner zu machen! Wenn Sie die drin- gend notwendige Modernisierung des gesamten deut- des Abgeordneten Hubert Hüppe (CDU/CSU) schen Bildungswesens der KMK überlassen wollen, zur Abstimmung über den Entwurf einesdann dauert das doch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und wird obendrein nicht mehr sein als ein Formelkom- (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids promiss. Unterdessen haben Ihre eigenen Bildungsmi- über eine europäische Verfassung (Tagesord- nisterinnen und -minister – erstere selten genug in diesen nungspunkt 4 a) Kreisen – hier schneller Einsicht gezeigt als Sie selbst: Die KMK will die Bund-Länder-Kommission inzwi- Grundsätzlich stehe ich einem Volksentscheid über schen gar nicht mehr abschaffen. Auch sie will die BLK eine europäische Verfassung nicht abgeneigt gegenüber. jetzt modernisieren. An dieser Stelle besteht also vorläu- Ich stimme aber gegen den jetzigen Antrag, um damit fig kein Dissens. Der wird aber wieder aufbrechen, wenn eine breite Diskussion über die Fraktionsgrenzen hinweg wir über die Details reden, da bin ich mir sicher. zu eröffnen. In einer solchen Diskussion müsste auch noch einmal über konkrete Regelungen, wie zum Bei- Das deutsche Bildungssystem leidet unter einem uner- spiel das entsprechende Quorum diskutiert werden. träglichen Mangel an Chancengerechtigkeit. Gleichzeitig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6273

(A) wird Bildung zur wichtigsten Ressource des 21. Jahrhun- Anlage 8 (C) derts. Darin liegt die Herausforderung, der wir uns stel- Zu Protokoll gegebene Reden len müssen. Wir müssen die faktische soziale Auslese in der Schule beenden und allen begabten jungen Men- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des schen einen hohen Bildungsabschluss ermöglichen. Berichts: Wirksamen Zivil- und Katastrophen- PISA hat deutlich gezeigt, dass Deutschland seine Bega- schutz schaffen (Tagesordnungspunkt 11) bungsreserven nicht nutzt. Wir müssen Leistungseliten fördern, statt das Prinzip der Herkunftseliten noch zu Gerold Reichenbach (SPD): Ich habe mit Freude verstärken. zur Kenntnis genommen, dass die Rednerin der Opposi- tion, Beatrix Philipp, bei der Einbringung ihres Antrages Nahezu alle Bildungsexpertinnen und -experten for- eingeräumt hat, dass unter ihrer Regierungsverantwor- dern für dieses Ziel eine längere gemeinsame Schulzeit. tung – ich zitiere – „die Mittel für den Zivil- und Kata- Wir Grünen wollen genau dies umsetzen. Wir wollenstrophenschutz drastisch gekürzt“ wurden. Damit wur- alle Kinder gemeinsam neun Jahre lang zur Schule schi- den Strukturen zerschlagen, die wir jetzt Schritt für cken. Das ist der Grund, warum die Union so ungern mit Schritt wieder neu aufbauen. SPD und Grüne haben da- uns über Reformen im Schulbereich redet: Das geglie- mit begonnen, und zwar wohlgemerkt vor den Attenta- derte Schulsystem ist ihr noch immer so heilig, dass sie ten am 11. September 2001! dieser Diskussion ausweicht. Stattdessen müssen wir in Hamburg und Niedersachsen mit ansehen, wie dieIm Oktober 2001, also nur vier Wochen nach dem At- schwarz-gelben Regierungen dort den Rückweg in die tentat auf das WTC, begann schon die Auslieferung von bildungspolitische Steinzeit antreten. insgesamt 650 vorbestellten Zivilschutzfahrzeugen, vor allem moderne ABC-Erkundungsfahrzeuge. Bund und Länder müssen nach PISA und IGLU große Gleichwohl markiert auch für uns der 11. September bildungspolitische Aufgaben bewältigen. Es geht umeine Zeitenwende, da Unglücksfälle dieses Ausmaßes nichts Geringeres als um die Zukunftschancen unserer außerhalb unserer Vorstellungswelt gelegen hatten. Kinder. Unser Ganztagsschulprogramm ist ein erster wichtiger Kraftakt der Bundesregierung. Das reicht al- Der Bund hat deshalb seine Anstrengungen weiter lein aber nicht aus. Wir brauchen gemeinsame Bildungs- verstärkt und wir können rfolge E aufweisen: Das Ge- standards, die in allen Bundesländern gelten. Sie sollen meinsame Melde- und Lagezentrum GMLZ, das deut- die Qualität der Bildung überall in Deutschland für alle sche Notfallvorsorge-Informationssystem deNIS, die Er- Schülerinnen und Schüler sicherstellen und, besonders weiterung des Ausbildungsprogramms an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (B) wichtig, vergleichbar machen. Dabei soll nicht die Schü- (D) lerschaft, sondern die Qualität der Schulen gemessenAKNZ. werden. Es bleibt fraglich, ob die Vorlagen der KMK Der Bund geht voran. Er macht damit ein Angebot an dies leisten können. Außerdem müssen wir die Qualität die Länder zur dringend notwendigen Verbesserung von nicht nur in den Schulen, sondern auch in den Kinder- Koordination und Zusammenarbeit. Und weitere Ange- gärten und in der Weiterbildung sichern. Darüber hinaus bote werden folgen. Nun ist es an den Ländern, diese stehen uns auch massive Reformen im Bereich der be- wahrzunehmen. ruflichen Bildung ins Haus. Wir brauchen für diese Auf- Der Bund hat die Haushaltsmittel aufgestockt: Der gaben eine effiziente nationale Koordination. Haushalt für den Zivilschutz wurde allein für das lau- Europa wächst auch als Bildungsraum zusammen.fende Jahr um 16,5 Millionen Euro auf 75 Millionen er- Die Bologna-Nachfolge-Konferenz in Berlin hat gezeigt, höht. dass unser derzeitiger Bildungsföderalismus keine Rolle Für das THW stiegen die Haushaltsmittel von rund spielt, wenn auf europäischer Ebene entschieden wird. 97 Millionen Euro im Jahr 1998 auf über 130 Millionen Auf eine langsame KMK nimmt hier niemand Rück-Euro in diesem Jahr. sicht. Auch hier brauchen wir für den Bildungsbereich Die Bedeutung des THW wächst sowohl national wie eine effizientere Abstimmung auf nationaler Ebene international. Ich nenne nur die Einsätze während der El- Noch einige Worte zur Forschungsförderung: Die Re- beflut und internationale humanitäre Einsätze in Sierra form des Föderalismus in unserem Land soll dazu füh- Leone, Afghanistan und im Irak. ren, dass die Forschung leistungsfähiger wird. Dazu Ja, es gibt Dinge, die noch vorangetrieben werden müssen wir nicht auf rein formale Entflechtung achten, müssen. Aber seien Sie doch ehrlich, hier liegt es nicht sondern nach sachgerechten Lösungen suchen. Dasam Bund, der vorangeht, sondern an denen, die nicht zu heißt, wir dürfen ein Land nicht überfordern, indem wir folgen bereit sind. ihm eine wichtige Forschungseinrichtung allein überlas- sen. Genauso wenig dürfen wir eine als gut evaluierte Beispiel: Entwicklung einheitlicher Führungsstruktu- Forschungseinrichtung abwickeln, weil wir sie nichtren. mehr gemeinsam finanzieren wollen. Die BLK sollte Wir haben die gemeinsame Dienstvorschrift, die hier – wie überhaupt – der Ort des Interessenausgleichs DV 100, von den Organisationen entwickelt. Für die und der gemeinsamen Entwicklung bleiben und wo sie Feuerwehren wurde sie in allen Ländern umgesetzt. es noch nicht ist, sollte sie dieser Ort werden. Ausnahme: Bayern! 6274 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Beispiel: Digitalfunk. Bei der Elbe-Flut haben die Einsatzkräfte der Bundes- (C) wehr Außergewöhnliches, gerade bei der Bereitstellung Natürlich muss diese Technologie dringend einge-von Logistik, Transport und Manpower geleistet. Sech- führt werden, aus Sicherheitsgründen und aus Gründen zig Prozent allerdings waren Rekruten. Das Know-how der verbesserten Kommunikation. Aber das ist dochim Katastrophenschutz lag und liegt bei den zivilen Ka- nicht nur Sache des Bundes! tastrophenschutzkräften. Der Bund stellt mit THW, Bundesgrenzschutz und Der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz hat das Bundeskriminalamt nur acht Prozent der Teilnehmer in Potenzial um seine Aufgaben wahrzunehmen. Er kann es dem neuen Netz, soll aber nach Länderforderung 50 Pro- in vielen Bereichen sogar besser, als Sie in Ihrem Antrag zent der Kosten übernehmen. Polizei, Brand- und Kata- unterstellen. strophenschutz sind aber eindeutig Aufgabe der Länder. Wir haben mit 1,2 Millionen Aktiven in den Feuer- Wer solch überzogene Forderungen stellt, macht sich wehren fast so viel wie in der gesamten EU. Wir haben verdächtig, Fragen der inneren Sicherheit zu einem „Fi- das THW und wir haben bei den Hilfsorganisationen von nanzpokerspiel“ zu machen. DRK, ASB, Malteser Hilfsdienst, Johanniter Unfallhilfe Erst im August hatten sich auf Initiative der Bundes- und DLRG Hunterttausende von motivierten und gut regierung die Ministerpräsidenten der Länder geeinigt. ausgebildeten haupt- und ehrenamtliche Helfern im Sa- Der Bund erklärte sich bereit, zusammen mit einernitätsdienst, der Betreuung, der Versorgung und der Gruppe von drei Bundesländern die Ausschreibung vor- Wasserrettung. Ihnen will ich an dieser Stelle im Namen zubereiten und eine schnelle Einführung in ihrem Be- meiner Fraktion auch einmal ausdrücklich für ihre Ein- reich voranzutreiben. Auch andere Länder erwogen an satzbereitschaft und ihr Engagement danken. dieser „Starter-Gruppe“ mitzuwirken. Dann sind aber die Der Umsetzungsbericht, der jetzt der Innenminister- Ministerpräsidenten von ihren Finanzministern zurück- konferenz vorliegt, zeigt überdeutlich: In allen den von gepfiffen worden. Ihnen angesprochen Themenbereichen macht die Bun- Es ist jetzt an den Ministerpräsidenten, dafür zu sor- desregierung ihre Hausaufgaben und schreitet voran: Bei gen, dass dieser Minimalkonsens endlich umgesetztder Stärkung der Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung, wird. Der Bund fühlt sich an seine Zusagen gebunden beim Aufbau eines Warnsystems, bei Erstellung einer und bereitet alles Nötige weiter vor. gemeinsamen Bedrohungs- und Gefährdungsanalyse, bei lebenswichtigen und kritischen Infrastrukturen, bei Die Zweiteilung zwischen dem Bevölkerungsschutz der Verbesserung von Führung und Koordination, bei als Bundesangelegenheit und dem Katastrophenschutz der Fortentwicklung des Ausstattungskonzeptes, beim (B) als Länderangelegenheiten wirft in der bisherigen Praxis Eigenschutz der Helfer, bei der Bevorratung von Impf- (D) Probleme auf. stoffen, bei der chemisch-analytischen Task Force, bei der Ausrichtung von internationalen Übungen. Der Hauptschwachpunkt liegt bei Koordination und Kommunikation, also dem Ressourcenmanagement. Nach 1990 herrschte acht Jahre lang für die Katastro- phenvorsorge und den Bevölkerungsschutz die Devise Wir sind dabei, die Schwachpunkte zu identifizieren Abbau. Unter der Verantwortung der Bundesregierung und zu minimieren. Dies istsinnvoller als gleich die – und die genannten Beispiele belegen dies – gilt wieder ganze Konstruktion niederzureißen, denn dieses System die Parole Aufbau. stellt ein Potenzial von rund l,5 Millionen Helfern. Dies hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Unterstützen Sie unsere Bemühungen dort, wo Sie in den Ländern Verantwortung tragen. Ihr Antrag ist hier Im Gegensatz zu CDU/CSU ergehen wir uns nicht in überflüssig! Verfassungsänderungs-Diskussionen, sondern handeln, indem wir auf Bundesebene Voraussetzungen und Struk- turen schaffen, die es ermöglichen, die erkannte Schnitt- Beatrix Philipp (CDU/CSU): Nach den Auseinan- stellenproblematik bei Kooperation, Koordination und dersetzungen von heute Morgen um Rente und Nach- Information zu überwinden. tragshaushalt scheint es mir sinnvoll zu sein, darauf hinzuweisen, dass unser Antrag zum Thema „Katastro- GMLZ und deNIS habe ich bereits genannt. Und wir phenschutz“ mit den vorherigen Themen nichts zu tun werden mit der Errichtung des Bundesamtes für Bevöl- hat. kerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das dem- nächst in diesem hohen Hause beraten wird, einen weite- Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. Sep- ren Schritt gehen. tember 2001 in den USA und der Hochwasserkatastro- phe vom Sommer 2002 in Deutschland ist allen Men- Ihr Vorschlag, das Grundgesetz zu ändern und dieschen in unserem Land, ob Betroffenen oder nur vor Bundeswehr im Zivil- und Katastrophenschutz einzuset- dem Fernseher sitzenden Menschen, bewusst, dass der zen, löst die Probleme nicht. Zivil- und Katastrophenschutz der dringenden Überar- beitung, das heißt Aktualisierung, bedarf – allen, bis auf Es ist und bleibt sinnvoll, die Bundeswehr subsidiär die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen. einzusetzen und das wird auch nach meinem Eindruck in den Streitkräften so gesehen. Das kann sie aber nach Sie haben bereits bei der Einbringung unseres Antra- Art. 35 GG. ges – und auch im Laufe der Beratung – immer wieder Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6275

(A) den Eindruck zu erwecken versucht, im Bereich des Zi- geeignet seien. Dies wurde durch den Antrag der Union (C) vil- und Katastrophenschutzes sei alles in bester Ord-nie in Abrede gestellt. nung. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es gibt dringenden Handlungsbedarf. Es gibt allerdings Aufgaben wie die Luftraumüberwa- chung, die eben nur die Bundeswehr übernehmen kann. Auch der Vorwurf, der Antrag sei zu allgemein und Ich glaube, das brauche ich nicht zu erläutern. nicht differenziert genug, ist absolut unzutreffend. Wer diesen Antrag objektiv betrachtet, wird zugeben müssen, Weit gehende Einigkeit herrschte bisher auch bei der dass hier im Hause selten ein so differenzierter, detail- Bewertung eines weiteren Problemschwerpunktes: der lierter Antrag beraten wurde. mangelhaften Koordinierung und Führung bei Groß- schadensereignissen, wie sich dies, unabhängig von dem Kernproblem im rein Organisatorischen ist – abgese- beeindruckenden Einsatz der vielen Helferinnen und hen von der bedauernswerten finanziellen Ausstattung in Helfer, etwa bei der Flutkatastrophe gezeigt hat. Aber diesem Bereich – die strikte Kompetenzaufteilung in Ka- die nötigen Konsequenzen aus den erlebten „Defiziten“ tastrophenschutz und Zivilschutz. wurden seitens der Regierung bisher ebenfalls nicht ge- zogen. Es gab bei der Flutkatastrophe zwar viele hilfsbe- Während der Katastrophenschutz bei den Ländern an- reite und helfende Hände, jedoch zu viele Köpfe – sagen gesiedelt ist, liegt die Kompetenz für den Zivilschutz manche. Zur Verdeutlichung zitiere ich dazu Herrn Hans beim Bund. Das hat zum Teil historische Gründe, die Peter von Kirchbach: aber vor dem Hintergrund der veränderten Gefahrenlage jetzt zurückstehen müssen. Einen Mangel an Hilfskräften hat es nicht gegeben. Es fehlte aber an einer vorausschauenden Planung Wir brauchen dringend eine gesetzliche Regelung in und dem sachgerechten Einsatz dieser Kräfte auf al- den verschiedenen Bereichen und eine einheitliche Lö- len Ebenen. sung. Das sehen inzwischen auch andere so: Die von der Innenministerkonferenz am 6. Juni 2002 beschlossene Es heißt weiter, erforderlich sei „eine adäquate Füh- „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung rung in auf höherer Ebene“ und „eine verantwortungsvolle Deutschland“ sieht unter Punkt 8 ausdrücklich eine Re- Koordination der Zusammenarbeit mit anderen Län- vision der einschlägigen Normen vor. dern“. Dem ist nichts hinzuzufügen, macht es doch den von mir nun schon mehrfach erwähnten Handlungsbe- In der Plenardebatte zu diesem Antrag vom 4. Juli darf deutlich. Dem tragen wir mit unserem Antrag Rech- 2003 wurde die Beschränkung des Zivilschutzes auf den nung. „Verteidigungsfall“ einhellig als überholt angesehen. Die Regierung zieht sich zu diesem Thema gerne da- Aber Sie ziehen keine Konsequenzen daraus – selbst (B) rauf zurück, dass man das neue „Gemeinsame Melde-(D) die Bereitschaft dazu fehlt Ihnen, wenn ich bedenke, und Lagezentrum“ von Bund und Ländern beim Bundes- dass Sie auch heute wieder unserem Antrag nicht zu- verwaltungsamt eingerichtet habe. Das ist sicher ein An- stimmen werden. fang – aber eben auch nur ein Anfang. Wenn man die Natürlich müssen die Grundsätze des Föderalismus Selbstbeschreibung dieses Zentrums liest – und das kann Berücksichtigung finden. Wir alle wissen: Wenn eines man in der Zeitschrift „Bevölkerungsschutz“, Ausgabe partei- und fraktionsübergreifend festzustellen ist, dann 03/2003 des Bundesverwaltungsamtes, Seite 7 ff. –, wird dies, dass die Länder aufmerksam über ihre Zuständig- man schnell auf die engen Kompetenzgrenzen dieses keiten wachen. Dieser Umstand rechtfertigt aber nicht, Zentrums stoßen. Es ist in seiner Rolle auf bloße Infor- seitens der Bundesregierung jegliche Gesetzesnovellie- mationsdienstleistung beschränkt. Bei sechs – ich be- rung, die tatsächlich aus rein sachlichen Gründen zwin- tone: sechs – Arbeitsplätzen kann man allerdings auch gend ist, zu unterlassen. nicht mehr erwarten. Das beschriebene Defizit aber bleibt! Wir brauchen zum Schutz der Bevölkerung das län- derübergreifende, bundeseinheitliche Zusammenwirken Um den aktuellen Erfordernissen und Erkenntnissen aller verantwortlichen Sicherheitskräfte. Ich kann nurgerecht zu werden, muss dem Melde- und Lagezentrum wiederholen: Das ist bis heute nicht oder nur unzurei- dringend ein gemeinsames Einsatzzentrum des Bundes chend geregelt. Ein adäquates und rechtzeitiges Mitwir- und der Länder hinzugefügt werden. ken der Bundeswehr muss zum Beispiel ermöglicht wer- den. Dieses muss die Arbeitsplätze und Führungsmittel für einen gemeinsamen Einsatz aller Kräfte des Bundes Die Innenminister der Union fordern zu Recht eine – von THW, BGS und Bundeswehr –, der Dienste der Änderung des Grundgesetzes im Bereich der Amtshilfe- Länder sowie der zahlreichen nicht staatlichen Hilfsor- voraussetzungen des Bundes – Art. 35 GG Abs. 2 und ganisationen vorhalten. Abs. 3 – sowie die Erfassung von „Gefahren aus der Luft“ und von „Gefahren von See her“ im Grundgesetz, Eine örtliche Ansiedlung dieses Stabes beim neuen Art. 87 a Abs.2 GG. Darauf komme ich aber noch einmal Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz gesondert zu sprechen. und seinem Lagezentrum bedeutet dabei keinesfalls automatisch eine Erweiterung der Kompetenzen des Die SPD betont in diesem Zusammenhang, man solle Bundesinnenministerium wie die FDP das zu befürchten die Bundeswehr nur unterstützend einsetzen, da diescheint. Das ergibt sich bereits aus der übergreifenden eigentlichen Katastrophenschutzkräfte ohnehin besser Struktur der einzubeziehenden Dienste. 6276 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Im Zusammenhang mit der genannten Führungs- und genstand dieses Antrages ist es ja gerade, die dringend(C) Koordinationsproblematik sind auch die bundesweiten nötigen Reformen auf den Weg zu bringen. Defizite bei der Kommunikationstechnik deutlich zutage getreten. Die Federführung und Koordinierung muss aufgrund der bundesweiten Aufgabe selbstverständlich der Bund Ein einheitlicher Digitalfunk für sämtliche Organisa- übernehmen, und das beginnt mit den Finanzen. Die jet- tionen ist zwingend erforderlich, wenn es mit Kommuni- zige Bundesregierung habe den Haushalt des THW wie- kation und Koordination vorangehen soll. Auch die Bun- der aufgestockt, höre ich immer wieder. Hier wird fröh- deswehr sollte hierbei nicht vergessen werden, damit sie lich unterschlagen, dass im Haushalt für 2004 eine bei Hilfseinsätzen sinnvoll einbezogen werden kann und Kürzung von über 4 Millionen Euro gegenüber dem Vor- Reibungsverluste aufgrund unterschiedlicher Funkstan- jahr erfolgen soll. dards vermieden werden. Das Vorgehen der Regierung Die SPD ist der Ansicht, übrig bleibe nur die Frage in Sachen BOS-Digitalfunk gleicht der unendlichen Ge- einer Grundgesetzänderung, die einen verstärkten Ein- schichte – leider ist noch immer kein Happy-End in satz der Bundeswehr im Inneren ermöglichen würde. – Sicht. Insoweit gestatte aber Art. 35 GG unter bestimmten Um- Es ist in diesem Zusammenhang auch unzulässig, sich ständen bereits jetzt den Einsatz der Bundeswehr zur Ka- hinter dem Verweis auf das – der Finanznot geschuldete – tastrophenhilfe. Um genau diese Probleme mit den „be- Zögern der Länder zu verstecken. Wir sind hier im Bun- stimmten Umständen“ geht es aber in diesem Antrag der destag und sprechen über die Möglichkeiten des Bundes. Union. Hier muss den neuen Gefahren dringend Rech- Und diese wurden seitens der Bundesregierung bei wei- nung getragen werden, und zwar sehr konkret. Unser tem nicht ausgeschöpft, selbst wenn der gute Wille unter- Antrag enthält 24 sehr konkrete Vorschläge, die einzeln stellt werden könnte. Zu Recht lehnen die unionsgeführ- begründet werden, wie man dem Antrag entnehmen ten Länder die Einführung des Digitalfunks in einerkann. „Startergruppe“ ab, solange nicht eine endgültige Sys- Ich fasse zusammen: Erstens. Niemand will die Län- tementscheidung getroffen wurde („Tetra“ oder „Tetra- der entmachten – schon gar nicht die Union –, aber für pol“). das neue Zusammenwirken und zur Beendigung des bis- Inzwischen müsste auch die Bundesregierung wissen, herigen „Zivil- und Katastrophenschutz-Zuständigkeits- dass sie es nicht allen recht machen kann. Der bisherige handycaps“ bedarf es einer Überarbeitung der entspre- Vorschlag der Bundesregierung, die Länder mit 10 Pro- chenden Gesetze. zent der entstehenden Kosten zu unterstützen, reicht bei Zweitens. Die Schaffung des neuen Bundesamts für weitem nicht aus, um der grundlegenden Verantwortung Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, über das die (B) des Bundes für einheitliche Verhältnisse in der Bundes- (D) Bundesregierung sagt, „es solle der Stellenwert des republik zu genügen. neuen Zivilschutzes auch optisch-organisatorisch her- Im Übrigen: Sollte es wirklich nur an den Ländernvorgehoben werden“, reicht in dieser Form bei weitem liegen, so hätte die Bundesregierung längst die Möglich- nicht aus. Mehr als optischwird nämlich nichts verän- keit gehabt, mit gutem Beispiel voranzugehen, indem sie dert oder gar verbessert, da alles kostenneutral bleiben den Digitalfunk bereits bei den Einrichtungen des Bun- soll. des (THW, BGS usw.) hätte einführen können. Aber Drittens. Ich möchte nichts dramatisieren, aber bleibe nichts ist geschehen – und die Hausaufgaben sind über- bei der Auffassung: Für einen wirksamen Zivil- und Ka- haupt nicht gemacht, auch wenn die SPD das bestreitet. tastrophenschutz, der den Namen auch verdient, gibt es In der Ablehnungsbegründung der Regierungskoali- viel zu tun. Sich nicht auf mögliche Bedrohungen und tion heißt es, die Forderungen des Antrages seien bereits Katastrophen vorzubereiten ist verantwortungslos. Die weitestgehend erfüllt bzw. auf den Weg gebracht. Das ist Menschen in unserem Land haben einen Anspruch einfach nicht wahr. Da hilft auch nicht das gestern imdarauf, dass wir alles Mögliche tun, um vorbereitet zu Kabinett beschlossene Luftsicherheitsgesetz. sein auf Ereignisse, die sicher niemand wünscht, aber die eben auch niemand ausschließen kann. Der Presse entnehme ich, dass die Auffassungen des Innen- und Verteidigungsministers hier nicht überein- Seit Jahren ist mein persönliches Motto: Nicht reden, stimmen. Und die Vermutung liegt nahe, dass die Grü- machen! Zumindest für den Bereich „Zivil- und Kata- nen wohl nur schweren Herzens zugestimmt haben, weil strophenschutz“ hätte ich mir gewünscht, die Bundesre- ihnen dafür der Datenschutzbeauftragte zugestandengierung und die Regierungskoalition würden meinem wurde. So jedenfalls die veröffentlichte Meinung. Welch Motto folgen. Noch können Sie es: Stimmen Sie unse- seltsamer Zusammenhang! rem Antrag zu! Es bleibt wie so oft wieder nur Stückwerk. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Denn wir alle wissen, dass Terrorangriffe nicht nur GRÜNEN): Nach der geltenden Gesetzgebung ist der aus der Luft, sondern auch vom Land oder vom Wasser Katastrophenschutz Aufgabe der Länder, der Zivilschutz aus erfolgen können. Ein Luftsicherheitsgesetz reichtim Verteidigungsfalle Aufgabe des Bundes. Katastro- nicht aus. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, mit dem un- phenschutzbehörden sind in den meisten Bundesländern terschiedlichen Gefahren differenziert begegnet werden die Kommunen. Ob diese Kompetenzabgrenzung und kann. Und das liegt Ihnen mit unserem Antrag vor. Ge- Aufgabenteilung noch zeitgemäß ist, wird spätestens seit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6277

(A) dem Oderhochwasser und den Terroranschlägen des Aber sind die Maßnahmen, die in Ihrem Antrag vor- (C) 11. September 2001 diskutiert. geschlagen werden, die richtigen, um dieses Ziel zu er- reichen? Leider nein! Liebe Kolleginnen und Kollegen Eine Zusammenführung und Neuordnung des Zivil- von der CDU/CSU, da kann ich Ihnen nicht mehr zu- und Katastrophenschutzes ist nur gemeinsam mit denstimmen. Kurz gesagt: Übers Ziel geschossen! Ländern möglich. Bereits im Juni 2002 haben Bund und Länder in der Innenministerkonferenz neue Strategien Der Vorschlag, die Bundeswehr auch im Innern der zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland beschlos- Bundesrepublik einzusetzen, wird ja bereits in Ihren ei- sen. Die Bundeswehr ist für den Katastrophenschutz un- genen Reihen skeptisch beurteilt. In Deutschland haben verzichtbar. Dies ist bei dem Oderhochwasser oder bei wir mit den derzeitigen Organisationen, dem Bundes- großen Waldbränden in der Vergangenheit deutlich ge- grenzschutz, der Polizei der Länder und dem Katastro- worden. Der Einsatz der Bundeswehr ist bei Katastro- phenschutz, eine Vielzahl von Einsatzgruppen. An Orga- phen völlig unstrittig und in dem erforderlichen Maße nisationen, die im Innern einsetzbar sind, mangelt es möglich. somit nicht. Aber es mangelt an klaren Zuständigkeiten und einer effektiven zentralen Koordinierungsstelle. Und Das Bundeskabinett hat gestern die Einrichtung eines genau hier, meine Damen und Herren von der CDU/ Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophen- CSU, fehlen die konkreten Vorschläge in Ihrem Antrag. hilfe beschlossen. Der Bund erfüllt damit seine Zusagen gegenüber der Innenministerkonferenz. Die Einrichtung Die Unterteilung zum einen in Zivilschutz und zum des BBK bedeutet keinen Eingriff in die Zuständigkeits- anderen in den Katastrophenschutz ohne eine sinnvolle verteilung zwischen Bund und Ländern. Wir wollen vor- Aufgabenverteilung macht keinen Sinn. Ein Streit um handene und bewährte Strukturen vernetzen und opti- Zuständigkeiten zwischen Bund, Land und den einzel- mieren. Das neue Bundesamt ist eine Informations- und nen Organisationen kann im Katastrophenfall lebensnot- Koordinierungsstelle, die Serviceleistungen für die Län- wendige Maßnahmen verzögern und das können wir uns der, für die Kommunen und die Hilfsorganisationen an- nicht leisten. Vielleicht müssen wir den Mut haben, diese bietet. traditionelle Trennung aufzuheben, und eine Neuord- nung herbeiführen. In gemeinsamer Verantwortung von Bund und Län- dern muss die vereinbarte Rahmenkonzeption zum Darüber hinaus ist es aber notwendig, sehr geehrter Schutz der Bevölkerung umgesetzt werden. Im Verzug Herr Bundesinnenminister, Einsatzkräfte entsprechend sind hier insbesondere die Länder. Eine Politik, wie sie der gesicherten Rechtsgrundlage einzusetzen. In den derzeit beim Digitalfunk betrieben wird – der Bund soll Medien können wir lesen, dass nach Ihrer Aussage die (B) zahlen, die Länder bestimmen –, wird beim Katastro-Beamten nach § 8 Bundesgrenzschutzgesetz im Irak zum (D) phenschutz nicht funktionieren. Schutz von THW-Mitarbeitern tätig sind. Nach der Aus- sage des Staatssekretärs ist aber § 9 die rechtliche Der Bund hat seine Haushaltsmittel für den Katastro- Grundlage. Im Interesse der Mitarbeiter fordere ich Sie phenschutz auf 75 Millionen Euro aufgestockt. Das sind auf, dieses zu klären und Rechtssicherheit zu schaffen. im nächsten Jahr 16,5 Millionen Euro mehr für den Ka- tastrophenschutz. Bereits eingerichtet wurde ein gemein- Daneben ist es notwendig, dass die Kommunikation zwischen den Organisationen zeitgemäß umstrukturiert sames Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern. wird. Eine große Lücke in unserem Funksystem ist die Eingerichtet wurde das deutsche Notfallvorsorge-Infor- analoge Kommunikation. Sie wird seit Jahren von Ex- mationssystem – deNIS – und ein satellitengestütztes perten angemahnt und von der rot-grünen Bundesregie- Kommunikationssystem rung immer wieder angekündigt. Meine Damen und Unbestritten gibt es noch Defizite. So ist in den vielen Herren von der Koalition, wie war das noch mit dem Jahren der relativen Ruhe die Selbstschutzfähigkeit der Versprechen, dass der BOS-Digitalfunk zur Weltmeister- Bevölkerung immer mehr zurückgegangen. Ich habeschaft 2006 einsatzfähig sein sollte? Dort sollte die Pre- hier bereits früher gefordert, dass erste Hilfe und Selbst- miere für ein digitales Sprech- und Datenfunknetz sein. schutz in Kindergärten und Schulen wieder vermittelt Ein Blick auf die Haushaltsdaten für das kommende Jahr werden müssen. genügt, um zu erkennen, dass Sie dieses Ziel nicht erfül- len können. Denn 5 Millionen Euro im nächsten Jahr zur Vorbereitung und Durchführung des Ausschreibungsver- Gisela Piltz (FDP): Unklare Kompetenzen und man- fahrens reichen bei weitem nicht aus. Erklären Sie mir, gelnde Koordination ist leider das Fazit, das über diewie das funktionsfähige System bis 2006 einsatzbereit derzeitigen Einsatzmöglichkeiten im Zivil- und Kata- sein soll! Lieber Herr Bundesinnenminister, seien Sie ru- strophenschutz in Deutschland gezogen werden muss. hig ehrlich zu den Polizeibeamten von Bund und Land Von veraltetem Material und Einsatzfahrzeugen ganz zu und erklären Sie ihnen, wie Sie die Sicherheit während schweigen! der Weltmeisterschaft mit einer veralteten Ausrüstung garantieren wollen. Leider war aus unserer Sicht die Ver- Der Antrag von CDU/CSU verfolgt ein zentrales Ziel: einbarung mit den Ministerpräsidenten zu spät. Schade, Den wirksamen Schutz und die bessere Bewältigung von dass diese Chance nicht genutzt worden ist. Katastrophenfällen. Das kann nur durch einen effektiven Zivil- und Katastrophenschutz erreicht werden. Diesem Auch ist es notwendig, auf europäischer Ebene auf Ziel stimme ich uneingeschränkt zu! einheitliche Digitalfunkstandards zu drängen. 6278 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Die verbesserte Ausstattung der Organisationen und Informationen zu Fragen des Bevölkerungsschutzes ab- (C) der einzelnen Helfer muss auch auf die Gerätschaften rufen. Seit Mitte Mai 2002 wurden weit über 700 000 Zu- und Materialien ausgedehnt werden. Hier genügen bloße griffe auf deNIS l registriert. deNIS II als eigentliches In- Ankündigungen nicht. Taten müssen folgen. Die Ausbil- strument für das Management von Großkatastrophen dung ehrenamtlicher Helfer muss dringend verbessert steht jetzt als Prototyp zur Verfügung. In Kürze soll im werden. Das Ehrenamt ist ein wichtiges Element des Ka- Rahmen einer Übung der Pilotbetrieb aufgenommen tastrophenschutzes und muss auch dementsprechend ge- werden. fördert werden. Die Innenministerkonferenz hat im Dezember vergan- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Pro- genen Jahres festgestellt, dass das nationale Notfallvor- bleme, die Sie im Antrag angesprochen haben, sind die sorgesystem funktioniert, dass es auch mit großflächigen richtigen. Aber konkrete sinnvolle Lösungen bleiben Sie Gefahren- und Schadensereignissen fertig werden kann. uns schuldig. Daher können wir dem Antrag nicht zu- Dass diese Einschätzung stimmt, haben zuletzt die Som- stimmen. merhochwasser an Elbe, Donau und Mulde vor einem Jahr gezeigt. Hier haben die Hilfsorganisationen und die Ute Voigt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminis- Feuerwehren, hier haben das THW, die Bundeswehr und ter des Innern: Die Bundesregierung hat gestern den der Bundesgrenzschutz ein hohes Maß an Professionali- Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung des neuen Bun- tät, vor allem auch an selbstlosem Einsatzwillen gezeigt, desamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und alle haben – aufs Ganze gesehen – hervorragend zu- beschlossen. Damit hat sie eine wichtige organisatori- sammengearbeitet. sche Konsequenz aus dem von Bund und Ländern auf Dass es auch Defizite gibt, soll ja gar nicht verschwie- der IMK im Juni 2002 beschlossenen Konzept Neue gen werden. Über sie wird seit den Anschlägen des Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland 11. September 2001 offen diskutiert. Die Zivilschutzka- gezogen. Der Kabinettsbeschluss bestätigt zugleich, wie pazitäten des Bundes wurden in den 90er-Jahren deutlich ernst der Bund seine Zivilschutzaufgabe nimmt, wie abgebaut, übrigens auch – obwohl von der äußeren Si- wichtig ihm dieser Politikbereich ist. cherheitslage eigentlich unberührt – die Katastrophen- Die Länder haben dieses Vorhaben einhellig begrüßt. schutzkapazitäten der Länder. Angesichts des Antrags Das neue Bundesamt soll sich nicht nur um die traditio- der CDU/CSU, den wir heute noch einmal debattieren, nellen Zivilschutzaufgaben kümmern. In ihm sollen vor könnte ich jetzt mit dem Hinweis kommen, dass dieser allem auch die Serviceangebote zentral vorgehalten wer- massive Abbau der Zivilschutzkapazitäten weithin unter den, mit denen der Bund das Krisenmanagement der Län- Ihrer Regierungsverantwortung stattgefunden hat. Aber (B) der unterstützen will. Dies betrifft vor allem die Bereiche ich lasse das. Der Hinweis auf Versäumnisse in der Ver- (D) Koordination und Information. Wir greifen damit ein An- gangenheit bringt uns alle nicht weiter. Wir sollten uns liegen der Innenministerkonferenz auf, die auf ihrerlieber darum kümmern, was jetzt und in Zukunft zu tun Herbstsitzung 2002 den Bund gebeten hat, bei großflächi- ist. gen Gefahrenlagen Informations- und Koordinations- funktionen zur Unterstützung des Krisenmanagements Hier sind wir auf gutem Wege. Mit den Ländern ha- der Länder verstärkt vorzuhalten bzw. wahrzunehmen. ben wir uns im vergangenen Jahr auf eine neue Rahmen- konzeption für den Zivil- und Katastrophenschutz ver- Hier haben wir in der Zwischenzeit auch schon vieles ständigt. Dieses neue Rahmenkonzept wurde auf der erreicht. Das gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Innenministerkonferenz Anfang Juni 2002 unter der Bund und Ländern, das GMLZ, ist seit Herbst 2002 ein- Überschrift Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung satzbereit. Es ist bei der Zentralstelle für Zivilschutz im in Deutschland verabschiedet. Ihre Philosophie ist die Bundesverwaltungsamt eingerichtet – demnächst also im gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern für neuen Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastro- außergewöhnliche Gefahren- und Schadenlagen. Es geht phenhilfe – und soll vor allem als Zentrum für Ressour- nicht um neue Zuständigkeiten, sondern um partner- cenmanagement in Bereitschaft stehen. Die Erfahrungen schaftliches Zusammenwirken über föderale Grenzen während der Hochwasserkatastrophen des letzten Som- hinweg. mers haben gezeigt, dass wir in solchen Fällen ein Dis- positionszentrum brauchen – zur raschen und sinnvollen Dieses Zusammenwirken funktioniert. In wenigen Ta- Zuordnung von Helferinnen und Helfern, aber auch zum gen findet die Herbstsitzung der Innenminister statt. Ih- Nachweis und zur Vermittlung von Hilfsmitteln, von nen liegt ein Beschlussvorschlag des zuständigen Ar- technischen Gerätschaften bis hin zu Sandsäcken. beitskreises V vor, der ausdrücklich hervorhebt, – ich zitiere – „dass die Kooperation zwischen Bund und Län- Das neue Melde- und Lagezentrum stützt sich im We- dern gut eingespielt ist. Dem kann ich mich aus Bundes- sentlichen auf das deutsche Notfallvorsorge-Informat- sicht nur anschließen. ionssystem, kurz deNIS genannt. Kernaufgabe dieser Datenbank ist die übergreifende Verknüpfung, Aufberei- Die Innenminister werden einen Bericht zur Umset- tung und Bereitstellung von Informationen für das Ma- zung der „Neuen Strategie“ verabschieden. Er listet die nagement von Großkatastrophen. In einer ersten Aufbau- Maßnahmen auf, die Bund und Länder in den vergange- stufe ist deNIS bereits im Mai vergangenen Jahres online nen Monaten auf den Weg gebracht haben. Dieser Kata- gegangen, nämlich als Informationsportal für den Bürger. log liest sich sehr eindrucksvoll – auch wenn wir noch Die Bürger können hier ein breites Spektrum wichtiger nicht alles erreicht haben, was wir uns vorgenommen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6279

(A) haben. Aber – ich wiederhole mich – wir sind auf einem reich des Zivil- und Katastrophenschutzes zuständig.(C) guten Weg. Katastrophenschutz ist Sache der Länder. Sie müssen die hierfür notwendigen personellen und materiellen Res- Der Bericht belegt vor allem aber auch eines: Es kann sourcen vorhalten. Das gemeinsame Notfallvorsorgesys- nun wirklich keine Rede davon sein, dass, wie der An- tem funktioniert nur, wenn alle ihre Hausaufgaben ma- trag der Union nahe legt, bei der – zweifellos notwendi- chen. Die Optimierung des Bevölkerungsschutzes ist gen – Reform, genauer: Fortentwicklung des Zivil- und gemeinsame Verantwortung, gemeinsame Sache von Katastrophenschutzes, bei Null begonnen werdenund Ländern. Ich möchte Sie alle dazu einladen, auch müsste, dass hier in den letzten Monaten nichts gesche- über Ihre politischen Freunde in den Ländern, diesen hen sei. Prozess engagiert und konstruktiv zu unterstützen und zu Die Damen und Herren von der Opposition solltenbegleiten. diesen Bericht eingehend studieren. Er zeigt: Der Bund stellt sich auf die neuen Herausforderungen ein. Er kann für seinen Bereich eine positive Leistungsbilanz vorwei- Anlage 9 sen. Der Bund macht seine Hausaufgaben. Zu Protokoll gegebene Reden Ich möchte in diesem Zusammenhang neben GMLZ zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur und deNIS nur an die kurzfristige Auslieferung von rund Änderung des Straßenverkehrsgesetzes (Tages- 650 Zivilschutzfahrzeugen an die Länder erinnern, da- odnungspunkt 12) runter über 350 moderne ABC-Erkundungskraftwagen. Das satellitengestützte Warnsystem ist seit Oktober 2001 in Betrieb; einbezogen sind nicht nur die öffentlich- Heidi Wright (SPD): Ja, wir stimmen zu, dem Gesetz rechtlichen Rundfunkanstalten, sondern – jetzt auch – zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und dort des die privaten Rundfunkanstalten. Zusätzlich haben wir in §6a Abs. 6. den vergangenen Monaten die Innenministerien der Län- Mit dem Gesetzentwurf wird die Gebührenerhebung der mit entsprechenden Sendeeinrichtungen ausgestattet, und die Gebührengestaltung im Regelungsbereich von die es ihnen erlauben, ihrerseits Warnmeldungen etwa Parkscheinautomaten und Parkuhren geregelt, also et- vor regionalen Gefahren an die angeschlossenen Medien was, was uns alle angeht als Autofahrerinnen und Auto- zu verschicken. fahrer, das uns aber auch darüber hinaus insofern angeht, Ergänzend prüfen wir derzeit in einer Reihe von Pilot- als dass wir zumeist auch Kommunalpolitiker sind und projekten und Feldversuchen, ob und inwieweit sich spe- mit dem wir uns im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages befasst haben. (B) ziell der Weckeffekt über das Festnetztelefon, die Funk- (D) alarmuhr oder das Radio – Einschaltlösung – realisieren Es geht um eine einfache Regelung, aber doch mit lässt. deutlicher Wirkung, wie ich gemerkt habe. Denn viele Wegen der Kürze meiner Redezeit kann ich nicht all Städte und Einzelhandelsverbände haben mich wegen die anderen Maßnahmen aufzählen, die wir zwischen- dieser Gesetzesänderung kontaktiert. zeitlich auf den Weg gebracht haben. Stichwortartig In großer Verordnungsakribie war in der Vergangen- möchte ich nur erwähnen: Wir bauen die Akademie für heit geregelt, dass Parkgebühren in Höhe von mindes- Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz zu tens 0,05 Euro festzulegen sind, und zwar für jede ange- einem Kompetenzzentrum für das gemeinsame Krisen- fangene halbe Stunde. management von Bund und Ländern, zu einem Forum für den wissenschaftlichen Austausch sowie zu einer Be- Der Gesetzentwurf regelt nun, dass die Kommunen gegnungsstätte und Ideenbörse für Experten aus dem In- die Höhe und Parkintervalle frei und selbst gestalten und Ausland aus. können, bis hin zum kostenfreien Parken. Wir haben ferner die Förderung der Ausbildung der Ob nun natürlich goldene Zeiten, sprich gebühren- Bevölkerung in Erster Hilfe mit Selbstschutzinhalten freie Parkzeiten, anbrechen, wage ich zu bezweifeln, und wieder aufgenommen. Wir setzen da an, wo im Sinne ei- das wäre auch nicht in unserem verkehrspolitischem ner ebenso frühen wie nachhaltigen Erziehung die größ- Sinne. ten Erfolge zu erwarten sind: nämlich in der Schule. Ich bin sicher, dass Kommunen individuelle, das heißt auf sie passende, den örtlichen Gegebenheiten geschul- Wir haben darüber hinaus die Bundesmittel für die Zi- dete Regelungen treffen werden. Und die Städte sind vil- und Katastrophenschutzforschung mit dem Schwer- froh über diesen Gestaltungsspielraum. punkt B- und C-Bereich deutlich aufgestockt. Zum Schutz vor Terrorangriffen mit biologischen Kampfstof- Ich weiß, dass sich natürlich auch der Einzelhandels- fen hat der Bund in einer gemeinsamen Anstrengung mit verband über diese Möglichkeit freut – andererseits kann den Ländern außerdem Pockenimpfstoff für eine Voll- ich natürlich nur hoffen, dass sich die Kommunen dem versorgung der Bevölkerung angeschafft. zu erwartenden großen Druck des Einzelhandels dann nicht zu arg beugen und nicht allzu großzügige kosten- All dies belegt: Wir stellen uns auf die neuen Heraus- freie Regelungen organisieren. forderungen ein. Die Aufgabe, die wir zu lösen haben, ist zugegebenermaßen nicht einfach. Wir sind mitten in Denn es ist gut, dass wir den Kommunen diesen der Arbeit. Der Bund ist aber nicht für den gesamten Be- Spielraum einräumen, hier und dort kostenfreies Parken 6280 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) zu ermöglichen – um damit auch dem großen Konkur- tenfreien Kurzparkplätze anbieten. Sie müssen die Park- (C) renzdruck des kostenfreien Parkens auf der grünengebühren kassieren. Denn das Straßenverkehrsgesetz Wiese zu begegnen. Ich gebe jedoch auch zu bedenken regelt in § 6 a Abs. 6 die Gebührenerhebung und Gebüh- und zu erinnern, dass den Gesetzgeber 1980 verkehrs- rengestaltung an Parkuhren und Parkautomaten. Im Ge- und umweltpolitische Gesichtspunkte geleitet haben, als setz steht: Soweit das Parken auf öffentlichen Wegen er feststellte: und Plätzen nur während des Laufs einer Parkuhr oder anderer Vorrichtungen oder Einrichtungen zur Überwa- Es ist in Anbetracht der Verkehrssituation in den In- chung der Parkzeit zulässig ist, werden Gebühren erho- nenstädten nicht länger zu vertreten, dem Individu- ben. Die Gebühren betragen je angefangene halbe alverkehr unentgeltliche Verkehrsflächen zu Park- zwecken zur Verfügung zu stellen und damit einen Stunde 0,05 Euro. zusätzlichen Anreiz zu schaffen, mit dem eigenen Das Widersinnige an der ganze Sache: Die Gemein- Fahrzeug die Stadtzentren aufzusuchen.“ den wollen für die ersten 30 Minuten Parkzeit am liebs- Das gilt auch noch heute! ten gar keine Gebühren kassieren. Ihnen ist viel wichti- ger, dass möglichst viele Kunden für kurze Zeit Deshalb bin ich sicher, dass die Kommunen diesekostenlos parken können. Denn dadurch würden die Verkehrs- und umweltpolitischen Gesichtspunkte eben- Ortskerne und Innenstädte belebt. Dadurch würden po- falls berücksichtigen und allein auch aus Kostengründen tenzielle Kunden nicht mehr abgeschreckt, in die Innen- es sich nicht leisten können und es sich nicht leisten,städte zu fahren, wie es in der Vergangenheit häufig der großzügige zusätzliche Anreize durch kostenfreies Par- Fall war. Dadurch würden die Innenstädte gestärkt wer- ken zu schaffen. den! Und dadurch würde dem Trend vieler Autofahrerin- Es ist aber sinnvoll, für den kurzen Sprung in den Bä- nen und Autofahrer zur Flucht auf die „grüne Wiese“ vor ckerladen oder in die Buchhandlung zur Abholung eines den Stadttoren entgegengewirkt. bestellten Buches nicht gleich das 50-Cent-Stück oder die Euro-Münze suchen zu müssen. Hier ist Flexibilität Es ist daher dringend an der Zeit, die von vielen als sicherlich von allen zu begrüßen. unsinnig empfundene bestehende gesetzliche Regelung abzuschaffen. Die derzeitige Rechtslage erlaubt es beim Festhalten will ich aber, dass diese kleine, vielleicht heutigen bestehenden Parkdruck in unseren Städten und auch feine Regelung, die wir heute treffen, die Kommu- Gemeinden nämlich nicht mehr, flexibel auf die beson- nen nicht entbindet, sinnvolle Konzepte des öffentlichen deren lokalen Verhältnisse zu reagieren. Personennahverkehrs zu fördern, auszubauen und attrak- tiv zu machen. Doch worum geht es im Einzelnen? Ziel des Gesetz- (B) entwurfes ist es in erster Linie, eine Belebung der Innen- (D) Unsere Stadtzentren und auch die Ortszentren sollen städte durch mehr Freiheit für die Kommunen zu errei- attraktiv sein für Fußgänger, sollen attraktiv sein zum chen. Dazu soll die Erhebung der Parkgebühren künftig Flanieren und für das Verweilen im Straßencafé. vollständig den Gemeinden überlassen werden. Es soll In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute Umsetzung ein kostenfreies Kurzzeitparken an Parkuhren und Park- durch die Kommunen und danke für Ihre Aufmerksam- scheinautomaten ermöglicht werden. Bereits heute wird keit. durch die so genannte „Brötchentaste“ vielerorts ein kos- tenfreies Parken ermöglicht. Mit der „Brötchentaste“ wird den Parkraumnutzern durch einen Blankopark- Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates zur Ände- schein oder einen am Parkscheinautomaten angebrach- rung des Straßenverkehrsgesetzes. Die CDU/CSU-Bun- ten Erlass der Gemeinde ein kostenfreies Parken für ei- destagsfraktion begrüßt diesen Gesetzentwurf des Bun- nen kurzen Zeitraum ermöglicht. In meiner Kreisstadt desrates ausdrücklich. Mit der zu beratenden VorlageBad Segeberg ist dies derzeit beispielsweise so. Den Ge- soll ein Problem im Bereich des Straßenverkehrsrechts meinden und Städten verursacht diese Lösung jedoch ein gelöst werden, ein Problem, das bei vielen Mitbürgerin- Magengrummeln, weil sie wissen, dass sie sich in einer nen und Mitbürgern schon seit langem nur noch zurechtlichen Grauzone bewegen. Kopfschütteln führt, ein Problem, das bereits zu vielen Eine Gesetzesänderung in diesem Bereich war daher Verkehrsordnungswidrigkeitsverfahren in unserem Lande längst überfällig. So gab es auch in meinem Wahlkreis geführt hat, ein Problem, das in der Vergangenheit leider Segeberg/Stormarn-Nord bei vielen Kommunalpoliti- auch viele Autofahrer zu Beschimpfungen von Polites- kern ein hörbares Aufatmen, als ich ihnen in den letzten sen und Verkehrsraumüberwachern verführt hat, welche Tagen von dem geplanten Gesetzesvorhaben berichtete, das unbeliebte „Knöllchen“ hinter den Scheibenwischer welches wir heute diskutieren. Bereits nach der im Fe- steckten. bruar von der CDU in Schleswig-Holstein flächende- Worum geht es? Wir kennen das Problem alle: Fürckend gewonnenen Kommunalwahl hatten viele Städte schnelle Besorgungen in der Innenstadt, zum Beispiel und Gemeinden in etlichen Bereichen endlich die Fes- beim Optiker, in der Apotheke, in der Bücherei oderseln rot-grüner autofahrerfeindlicher Politik abgeworfen. beim Telefonladen, gibt es keine kostenfreien Kurzpark- Jahrelang wurde etwa in der Hansestadt Lübeck ver- plätze. Viele Autofahrerinnen und Autofahrer habensucht, Autos mittels hoher Parkgebühren aus der Stadt hierfür wenig Verständnis. Zu Recht. Was viele jedoch zu verbannen. Diese innenstadtfeindliche Politik be- nicht wissen: Die Gemeinden dürfen derzeit keine kos- wirkte einen Attraktivitätsverlust der Innenstadt und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6281

(A) führte zu heftigen Umsatzeinbußen bei der Lübecker– da bin ich mir sicher – von den Kommunen auch ver- (C) Kaufmannschaft. nünftig angewendet werden. Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die Kol- Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben Vertrauen in leginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen die Kompetenz unserer Gemeinden und werden dem Ge- signalisiert haben, heute hier der vom Bundesrat an-setzentwurf des Bundesrates daher zustimmen. gestrebten Änderung der Straßenverkehrsordnung zu- stimmen zu wollen. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Vielen von Ihnen ist diese Entscheidung sicherlichdem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates zur nicht leicht gefallen. Die Politik Ihrer Parteifreunde in Änderung des Straßenverkehrsgesetzes wird der § 6 a den Kommunen war ja jahrelang darauf ausgelegt, gene- Abs. 6 StVG in einer sinnvollen Art und Weise novel- rell alle Autos in Innenstädten zu verteufeln. Jetzt haben liert. Die bisherige Vorgabe aus dem Jahre 1980 hatte offensichtlich auch Sie von den Regierungsfraktionen sich in der Praxis als zu unflexibel und nicht mehr zeit- erkannt, dass eine solche Politik in die Sackgasse führt. gemäß erwiesen. So konnte auf besondere lokale Ver- Im Interesse einer Lebendigkeit der Geschäftswelt isthältnisse wie Platzangebot oder Parkdruck nicht ange- Ihre Entscheidung daher zu begrüßen. messen reagiert werden. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates ist In einer Zeit, in der wir von Entbürokratisierung, De- grundsätzlich dazu geeignet, einen – wie ich finde – na- regulierung und mehr Eigenverantwortung sprechen, ist hezu exemplarischen Fall gesetzlicher Überregulierung es daher konsequent, wenn wir mit der Novellierung des abzubauen. Dies ist der richtige Weg, den Gemeinden § 6 a Abs. 6 StVG den Kommunen bzw. den Trägern der wichtige Gestaltungsmöglichkeiten der Parkgebühren an Straßenbaulast die Möglichkeit geben, die Parkraumbe- die Hand zu geben. Die kommunale Selbstverwaltung wirtschaftung in erweiterter Eigenverantwortung ange- wird hierdurch gestärkt. Außerdem wird ein wichtiger passter und möglicherweise auch innovativer durchzu- Schritt hin zum Bürokratieabbau unternommen. Zudem führen. kann die örtliche Verwaltung flexibel auf neue Ereig- So werden in Zukunft kostenfreies Parken ohne zeitli- nisse innerhalb der Parkraumbewirtschaftung reagieren. che Vorgaben, zeitliche undräumliche Staffelung der Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsa- Gebühren und auch kürzere Taktzeiten als die bisherigen che, dass die Gemeinden von den ihnen eingeräumten halbstündigen Intervalle möglich sein. Darüber hinaus neuen rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen kön- werden mit diesem Gesetz – anders als nach der bisheri- nen. Sie müssen es aber nicht tun. Bei wörtlicher Ausle- gen Rechtslage – die Gemeinden bzw. die Träger der Straßenbaulast auch direkt zur Gebührenerhebung er- (B) gung des Gesetzestextes fällt dies vielleicht zunächst (D) einmal gar nicht auf. Es heißt dort schlicht: Für das Par- mächtigt. Hierbei sei daran erinnert, dass die Befugnis ken auf öffentlichen Wegen und Plätzen können in Orts- zur Einführung einer gebührenpflichtigen Parkraumbe- durchfahrten die Gemeinden, im Übrigen die Träger der wirtschaftung ohnehin bei den Kommunen liegt. Straßenbaulast Gebühren erheben. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass es durch die Erweiterung des Spielraums dazu kommt, dass über- Natürlich mag es jetzt den einen oder anderen geben, zogene Parkgebühren die Attraktivität der Innenbereiche der argumentiert, mit dem Gesetzentwurf würde den Ge- und Ortskerne für Einwohner und Besucher schmälern meinden durch die Hintertür eine günstige Gelegenheit werden. Ganz im Gegenteil, die Regelung zeigt auch zur Aufbesserung ihrer Gemeindefinanzen eröffnet. Ge- Möglichkeiten, durch eine restriktive Parkraumbewirt- rade das ist jedoch nicht der Fall. Einerseits haben sich schaftung in dieser Richtung zielgerichteter zu wirken. in den vergangenen Jahren viele Gemeinden durch eine So könnte einer Überfüllung der Innenstädte entgegen- bessere Verkehrsführung und eine bessere Verkehrsinfra- gewirkt werden und durch geeignete Lenkungsmecha- struktur bereits auf das gestiegene Verkehrsaufkommen nismen ein lebenswertes und attraktives innerörtliches eingerichtet. Sie wollen dadurch ihre eigene Attraktivität bzw. innerstädtisches Umfeld erhalten werden. erhöhen. Diesen Gemeinden kommt die Gesetzesände- rung daher sehr gelegen. Andererseits wird keine Stadt Dauer- oder Langzeitparker sollten sich Stellplätze oder Gemeinde ihre eigene Attraktivität durch die Ein- zum Beispiel bei hohem Parkdruck oder geringem Park- führung hoher Parkgebühren herabsetzen. Unabhängig platzangebot außerhalb der Orts- und Stadtkerne suchen. davon sind die Gemeinden – ich zitiere jetzt aus derHier könnten durch eine progressive Staffelung der Gesetzesbegründung – ohnehin auch im Rahmen desParkgebühren je nach Parkdauer Anreize geschaffen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der Straßen- und werden, sodass diese Parker infolgedessen auf Außenbe- wegerechtlichen Vorschriften der Länder zum Gemein- reiche ausweichen und/oder auf den ÖPNV umsteigen. gebrauch und Widmungszweck von Straßen an gesetzli- Voraussetzung dafür sind natürlich entsprechende attrak- che Vorgaben gebunden. tive Angebote seitens der Kommunen und des ÖPNV. Das ist zwar juristisch einwandfrei. Ich glaube aber, Ein flexibles Management könnte dagegen bei den dass es dieser Begründung eigentlich gar nicht bedarf. Kurzzeitparkern auch aus bündnisgrüner Sicht durchaus Wir haben es hier in jeder Hinsicht mit einem modernen Vorteile bringen, wobei wir kritisch anmerken, dass eine Gesetz zu tun. Hier liegt uns endlich einmal der Entwurf vollkommen gebührenfreie Inanspruchnahme dieser eines Gesetzes vor, der auf die üblichen Reglementierun- Leistung im Hinblick auf verkehrs- und umweltpoliti- gen gänzlich verzichtet. Und dieser Gesetzentwurf wird sche Ziele unserer Meinung nach kontraproduktiv wäre. 6282 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Die Einräumung von Parkmöglichkeiten stellt eine Nur so kann die Attraktivität der Innenbereiche und(C) besondere Leistung von Kommunen dar, die über die üb- Ortskerne für Einwohner und Besucher erhöht und lichen Aufgaben eines Gemeinwesens hinausgeht. Wir gleichzeitig vermieden werden, dass sich der Verkehr dürfen nicht vergessen, dass hierfür erhebliche bauliche und das Parkverhalten von den Haupt- auf die Neben- und verkehrstechnische Aufwendungen getroffen wer- straßen verlagern. Auch für die durch überteuerte Park- den und auch die Umweltbelastungen durch Abgase und gebühren in ihrer Besucherzahl stark beeinträchtigten Verkehrslärm berücksichtigt werden müssen, deren Auf- ansässigen Gewerbetreibenden wäre diese neue Rege- wand immer im Verhältnis zu dem Nutzen gesehen wer- lung von Vorteil. den muss. Ein kostenloses Parken würde daher nur einen Aufwand seitens der Kommunen verursachen. Auch ohne starre Bindung an feste Sätze muss es möglich sein, sachgerechte Regelungen zu finden, um Darüber hinaus wurde bei Untersuchungen in Köln einer großen Anzahl von Verkehrsteilnehmern den vor- festgestellt, dass diese Blankoparkscheine, genannt Bröt- handenen Parkraum zugänglich zu machen und die Han- chentaste, zwar seitens der lokalen Wirtschaftsunterneh- delstätigkeit in den Kommunen zu erhöhen. In Anbe- men positiv gesehen werden, sie sich bei den Parkenden tracht dieser Situation in den Städten und Gemeinden jedoch im Hinblick auf die Akzeptanz und auch auf die eröffnet die neue vorgeschlagene Regelung uneinge- Bereitschaft zur Lösung eines Parkscheins insgesamt ne- schränkt die nötige Flexibilität zur Nutzung des vorhan- gativ ausgewirkt haben. denen Parkraums. Somit steht die Parkgebührenerhe- bung künftig vollständigzur freien Disposition der Wir verabschieden uns mit unserer Zustimmung nicht Städte und Gemeinden und soll damit ein kostenfreies von unserem politischen Ziel einer autoarmen oder gar Kurzzeit-Parken im Regelungsbereich eines Parkschein- autofreien Stadt. Aber wir müssen auch konstatieren, automaten ermöglichen. Entgegen der heutigen Rechts- dass wir bis dahin noch einen weiten Weg zurückzulegen lage wird das bereits heute vielerorts praktiziert. Ich haben und für unsere Vorstellung auf kommunaler Ebene nenne als Beispiel die so genannte Brötchentaste. weiterhin werben müssen,bis unsere Vorstellungen mehrheitsfähig und damit auch umsetzungsfähig sind. Die angestrebte Änderung leistet einen Beitrag zur Ich habe aber das Vertrauen in die Kompetenz derDeregulierung der jetzigen Situation. Dem Bund entste- Kommunen, in ihre gewählten Volksvertreter, aber auch hen durch den Entwurf keine finanziellen Nachteile, in natürliche Regelkreisläufe, dass hier zu starre Vorga- denn die Gebühren stehen nicht ihm, sondern den Ge- ben seitens des Gesetzgebers überflüssig sind, da diemeinden zu. Dieser Gesetzesveränderung ist ein erster negativen Auswirkungen einer mangelhaften Parkraum- Schritt in die richtige Richtung. Es sollte jedoch daran bewirtschaftung auf die Bewirtschaftenden selbst zu-gearbeitet werden, auf diesem Gebiet weitere Kompe- (B) rückfallen. tenzen den Kommunen zu übertragen. (D) Ich wünsche mir, dass die verantwortlich Handelnden Aus den genannten Gründen stimmt die FDP-Frak- den jetzt gewährten Spielraum mit Bedacht nutzen wer- tion der Gesetzesveränderung des § 6 a Abs. 6 der StVO den, damit insbesondere der induzierte Verkehr durch zu. die Schaffung eines zusätzlichen Anreizes, mit dem PKW in die ohnehin überfüllten Innenstädte zu fahren, Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- vermieden wird. minister für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen: Wir beraten heute abschließend den vom Bundesrat einge- Eberhard Otto (Godern) (FDP): In Anbetracht der brachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stra- teilweise dramatischen Verkehrssituation in den Innen- ßenverkehrsgesetzes, der im Wesentlichen eine Ände- städten ist es dringend erforderlich, dass die Städte und rung des § 6 a Abs. 6 vorsieht. Diese Vorschrift regelt Gemeinden mehr Freiheit für die Parkraumbewirtschaf- die Gebührenerhebung und -gestaltung im Bereich von tung erhalten. Die Erhöhung der Eigenverantwortung ist Parkscheinautomaten und Parkuhren. Derzeit ist hier auch aufgrund der weiteren Entwicklung von Handelnoch eine Mindestparkgebühr von 0,05 Euro je angefan- und Gewerbe unumgänglich. gene halbe Stunde für Parkscheinautomaten oder Park- uhren gesetzlich und bundeseinheitlich festgelegt. Nach § 6 a Abs. 6 der StVO in der zurzeit gültigen Fas- sung wird eine Gebühr, deren Höhe nach örtlichen Ver- Mit der Änderung wird die Erhebung der Parkgebüh- hältnissen unterschiedlich hoch sein kann, – 0,05 Euro –, ren nicht nur hinsichtlichder Art und Weise, sondern pro halbstündliches Parkzeitintervall vorgegeben. Bei auch hinsichtlich der Höhe in die freie Disposition des den heute bestehenden Parkfestlegungen kann so auf die Gebührengläubigers – weit überwiegend sind das die besonderen lokalen Verhältnisse nicht reagiert werden. Kommunen – gestellt. Damit wäre künftig auch die Zu- lassung eines kostenfreien Parkens in einem vor Ort fest- Deshalb: Es sollte nicht gesetzlich geregelt werden, zulegenden Zeitabschnitt möglich. Die Gebühren könn- was vor Ort besser entschieden werden kann. Es muss ten pro Zeitintervall schrittweise unterschiedlich daher die Möglichkeit geschaffen werden, ein kosten- gestaltet werden. Es könnten auch kürzere Taktzeiten als freies Parken ohne Zeitvorgabe einzuräumen, die Ge-eine halbe Stunde vorgegeben werden und die Gebühren bühren pro Zeitintervall schrittweise unterschiedlich zu könnten je nach Parkdruck gestaffelt werden. gestalten, kürzere Taktzeiten als halbstündliche Inter- valle vorzugeben, um Gebühren nach einer räumlichen Der Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, die Parkgebüh- Staffelung erheben zu können. renerhebung flexibel, je nach den Bedürfnissen und Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6283

(A) sonderheiten vor Ort durch die Gemeinden durchführen neuen Rechts vermieden werden. Auch eine gegebenen- (C) zu lassen und somit auch das kostenfreie Kurzzeit-Par- falls erforderlich werdende Verstärkung der Parkraum- ken im Regellungsbereich eines Parkscheinautomaten zu überwachung liegt in der kommunalen Zuständigkeit. ermöglichen. Dies wird entgegen der bestehenden Rechtslage heute bereits vielerorts mittels eines Blanko- Ich bin zuversichtlich, dass die zuständigen Behörden Parkscheins für einen begrenzten Zeitraum, mit der so den mit der Änderung geschaffenen Spielraum mit Be- genannten Brötchentaste, praktiziert. Zudem wird eine dacht nutzen werden, damit kein zusätzlicher Anreiz ent- völlige Abkehr von Gebührenerhebungsintervallen an- steht, die heute schon überfüllten Innenstädte mit dem gestrebt. Die Landesregierungen werden jedoch auchPKW aufzusuchen. Wohl niemand kann ein Interesse da- künftig Gebührenordnungen erlassen können. ran haben, dass sich die Änderung der Vorschrift zulas- ten des öffentlichen Personennahverkehrs oder des Rad- Den einstimmigen Beschlussempfehlungen des feder- verkehrs auswirkt. führenden Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen vom 22. Oktober 2003, Bundestagsdruck- sache 15/1802, und des mitberatenden Ausschusses für Anlage 10 Tourismus, den Gesetzentwurf anzunehmen, schließt sich die Bundesregierung ausdrücklich an. Ich bin zuver- Zu Protokoll gegebene Reden sichtlich, dass auch Sie diesem positiven Votum folgen werden. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP- Die angestrebte Änderung des § 6 a Abs. 6 StVG Sondervermögens für das Jahr 2004 (Tagesord- stellt einen – wenn auch nur bescheidenen – Beitrag zur nungspunkt 14) Deregulierung und Stärkung der Verantwortlichkeit der kommunalen Gebietskörperschaften in ihrem Aufgaben- bereich dar. Die Bundesregierung steht solchen Entwick- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Der Gesetzent- lungen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, insbe- wurf über die Feststellung des Wirtschaftsplans des sondere dann, wenn – wie hier – dem Bund keineERP-Sondervermögens für das Jahr 2004, das wir heute finanziellen Nachteile entstehen. in erster Lesung beraten, birgt erhebliche Änderungen im ERP-Sondervermögen in sich, was das Volumen und Da Städte und Gemeinden bei der Regelung des ru- die Ausgestaltung der Instrumente angeht. Es lohnt des- henden Verkehrs und damit auch der Regelung derwegen, den diesjährigen Haushaltsplan nicht als Rou- Parkraumbewirtschaftung den straßenrechtlichen Wid- tineberatung durchzuwinken, sondern an dieser Stelle ei- mungszweck, den garantierten Gemeingebrauch an Stra- nige grundsätzliche Anmerkungen zur Zukunft des ERP- (B) ßen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten Sondervermögens zu machen. (D) haben, stehen der Lockerung der Parkgebührenregelung auch keine verkehrsrechtlichen Bedenken entgegen. Dabei sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, dass der ERP-Haushalt dieses Mal finanzielle Mittel in Gleichwohl gestatten Sie mir, eine Bitte an Sie zu-Höhe von 5,3 Milliarden Euro bereitstellt. richten: Die Bundesregierung hatte in ihrer Stellung- nahme vom 11. Juli 2003 in der Bundestagsdrucksache Davon wird der Löwenanteil, nämlich 4,0 Milliarden 15/1496 die Begründung zum bislang geltenden § 6 a Euro, für zinsgünstige, langfristige Darlehen für Investi- Abs. 6 StVO in Erinnerung gerufen. tionen kleiner und mittlerer Unternehmen, insbesondere für Existenzgründungen, zur Förderung des Umwelt- Darin war unterstrichen worden, dass es in Anbe-schutzes und für Maßnahmen in den regionalen Förder- tracht der Verkehrssituation in den Innenstädten nichtgebieten ausgewiesen. länger zu vertreten ist, dem Individualverkehr unentgelt- lich öffentliche Verkehrsflächen zu Parkzwecken zur Das sind 1 Milliarde Euro weniger als im vergange- Verfügung zu stellen und damit einen zusätzlichen An- nen Jahr und auch im laufenden Jahr 2003. Knapp die reiz zu schaffen, die Stadtzentren mit dem eigenen Fahr- Hälfte der Mittel für langfristige Darlehen, das heißt zeug aufzusuchen. 1,93 Milliarden Euro, können für Investitionen in den neuen Bundesländern genutzt werden. Unter verkehrs- wie umweltpolitischen Gesichts- punkten ist zu bedenken, dass sich die Möglichkeit, Die bei der absehbaren bzw. prognostizierten Wirt- Kurzparkern künftig eine gebührenfreie Inanspruch-schaftslage zu erwartende Nachfrage nach ERP-Darle- nahme des Parkraumes einzuräumen, nicht vollständig hen im kommenden Jahr kann somit bedient werden. mit dem Ziel der geltenden Regelung, die Verkehrssitua- tion in den Innenstädten zu verbessern, in Einklang brin- Über das genannte Förderungsvolumen von Darlehen gen lässt. Aber die neue Regelung eröffnet ja nur die hinaus bietet das ERP-Sondervermögen Beteiligungska- Möglichkeit. Ob und inwieweit Städte und Gemeinden pital von 400 Millionen Euro über das Programm „BTU- davon Gebrauch machen, wird dort entschieden werden Beteiligungskapital für kleine Technologieunterneh- müssen. men“. Ich bitte Sie herzlich darum, vor Ort einen Beitrag Damit leistet das ERP-Sondervermögen einen wichti- dazu zu leisten, dass die mit der Neuregelung möglicher- gen Beitrag für den Mittelstand in einer Zeit, in der die weise verbundenen negativen Effekte durch eine der je- Finanzierungsbedingungen gerade für kleine und mitt- weiligen Situation angepasste flexible Ausführung des lere Unternehmen schwieriger geworden sind und 6284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) Silberstreifen am Finanzhorizont gerade in Deutschland jedoch nicht pauschal von einer Eigenkapitallücke ge-(C) kaum sichtbar sind. sprochen werden. Zwar bestreiten Sachverständigenrat und das Herbst- Je nach Branche gibt es – so Bundesbankpräsident gutachten der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Ernst Welteke – riesige Unterschiede in der Eigenkapi- Forschungsinstitute eine generelle „Kreditklemme“, den talausstattung, die sich nur zum Teil aus dem spezifi- sogenannten „Credit-Crunch“, aber es ist nicht zu leug- schen Produktions- und Dienstleistungsbedingungen er- nen, dass auch im Jahr 2003 die Finanzierungsbedingun- klären lassen: gen für viele Unternehmen nochmals deutlich schwieri- ger geworden sind. Bei der gewerblichen Wirtschaft ist die Eigenkapital- ausstattung mit 24 bis 25 Prozent am höchsten, beim Darunter leiden zwangsläufig Neugründungen, aber Einzelhandel mit 2,2 Prozent und dem Baugewerbe mit auch viele Unternehmen, die sich seit Jahren unter ver- 1,8 Prozent am niedrigsten. Beim internationalen Ver- schärftem Wettbewerbsdruck auf stagnierenden Märkten gleich muss zudem unter anderen in Rechnung gestellt durchschlagen. werden, dass steuerlich die Ausschüttung von Gewinnen Die Ertragsschwäche der meisten mittelständischen lange Zeit begünstigt war und Kreditzinsen steuerlich Betriebe hat zudem bewirkt, dass die deutlichen Entlas- absetzbar sind, das deutsche Insolvenzrecht viele Jahre tungen, die die bereits geltenden Teile der Steuerreform den Gläubigerschutz in den Mittelpunkt stellte, Zins- gebracht haben, von den meisten Unternehmen nichtund Bilanzregeln die Bildung stiller Reserven und lang- realisiert werden – weder im Kopf noch in der Kasse. fristiger Rückstellungen begünstigt haben und die Fremdmittelaufnahme im internationalen Vergleich Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen in leichter und günstiger war und ist. Deutschland haben schon beträchtliche Schwierigkeiten, ihre ganz normale wirtschaftliche Tätigkeit zu finanzie- Deswegen hat so mancher Unternehmer – bzw. sein ren, geschweige denn können sie unternehmerischeSteuerberater – es für sinnvoller gehalten, Vermögen Wagnisse eingehen. nicht im Betrieb, sondern als Privatvermögen zu halten. Steuerlich war das Unternehmen damit gut aufgestellt – Es werden erhebliche Wachstumschancen verschenkt, aber für Krisenzeiten nicht gewappnet. viele Arbeitsplätze nicht geschaffen, Innovation und Dy- namik behindert. Darüberhinaus ist klar, dass je kleiner das Unterneh- Dies ist nicht allein oder überwiegend der Risiko-men und je konjunkturempfindlicher die Sektoren, desto scheu von deutschen Banken anzulasten. gravierender wirkt sich eine Eigenkapitalschwäche aus. Und festzustellen ist, dass durch die größere Menge jun- (B) Es ist vielmehr zu konstatieren, dass sich die deutschen ger und kleiner Betriebe der Osten Deutschlands härter (D) Kreditinstitute in einer länger dauernden strukturellen betroffen ist. Ertrags- und Kostenkrise befinden. Fehlentscheidungen des vergangenen Jahrzehnts, ob im Investmentbanking, Auch junge wissensbasierte, technologie- und wachs- in Immobiliengeschäften oder riskanten Börsenmanö- tumsorientierte Unternehmen bedürfen dringend einer vern auf dem so genannten Neuen Markt haben diesebesseren Eigenkapitalversorgung. Krise deutlich verschärft. Mit dem ERP-Sondervermögen besitzt der Bund al- Auch die Versicherungswirtschaft steht in Deutsch- lerdings ein Instrument von bedeutsamen Wert, die Fi- land vor nicht geringen Schwierigkeiten und fällt daher nanzierungsbedürfnisse der kleinen und mittleren Unter- als Finanzierungsgeber für die wichtigsten Finanzinves- nehmen nachdrücklich zu unterstützen. Ergänzt um die titionen und Großinvestoren aus. Möglichkeiten der neu gebildeten „KfW-Mittelstands- Die Luft im Finanzsektor ist derzeit dünn in Deutsch- bank“ können wir neue Finanzierungsinstrumente anbie- land: Nach zwei „anni horribiles“ – also schlechten Jah- ten, die auf die neuen Bedürfnisse zugeschnitten werden ren – scheint allerdings Besserung angesagt. Wie schnell können, und zwar um schnell wachsende innovative Un- sich das auf die Finanzierungsbedingungen von kleinen ternehmen, spezifische industriepolitisch wichtige Be- und mittleren Unternehmen tatsächlich auswirken wird, reiche, Umweltschutz, regional schwächere Gebiete vor ist aber noch offen. allem in den neuen Bundesländern, vor allem Nachrang- kapital aber auch altes Beteiligungskapital zu mobilisie- Die neuen internationalen Eigenkapitalrichtlinienren. (Basel II) sind dabei häufig eine Begründung für die Ver- weigerung von Krediten, hinter der sich eigentlich ein Dabei müssen wir aber erstens bedenken, dass die Bündel anderer Gründe versteckt – von der Kosten- und Mittel des ERP-Sondervermögens nicht unerschöpflich Risikostruktur der Banken und Sparkassen selbst bis hin sind und wir zweitens den gesetzlichen Auftrag haben, zu fehlendem Glauben an die Geschäftsidee oder diedas ERP-Sondervermögen in seiner Substanz zu erhal- Qualität des Unternehmers. ten. Einer der von Banken häufig genannten Verweige- Das ist lange Jahrzehnte auch gut gegangen und das rungsgründe ist die im internationalen Vergleich geringe ERP-Sondervermögen ist seit seiner Gründung stetig Eigenkapitalquote vor allem kleiner Unternehmen, die nicht nur real erhalten, sondern sogar gewachsen. Natür- ein wichtiges Kriterium für die Bonität eines Unterneh- lich nicht in jedem Haushaltsjahr – aber stets über das mens darstellt. Für den Mittelstand in Deutschland kann Jahrfünft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6285

(A) In den letzten vier Jahren war das nicht mehr der Fall: und drängenden Fragen der Sicherung der Mittelstands- (C) Das ERP-Sondervermögen ist nunmehr nominal, nicht finanzierung. Erste, wie r wi alle hoffen, innovative aber real gewachsen. Schritte werden unternommen. Die Gründe dafür hat der Bundesrechnungshof in ei- Wir im Parlament werden gemeinsam mit der KfW- ner gründlichen Ausarbeitung sichtbar gemacht Mittelstandsbank diesen nicht ganz einfachen Weg ge- Erstens. Die Niedrigzinsphase, die zusammen mit der meinsam gehen und erhoffen uns auch aus der interes- Möglichkeit, die Kredite jederzeit ohne Entschädigung sierten Öffentlichkeit eine kritische und anregende Be- kündigen zu können, haben beim ERP-Sondervermögen gleitung erhebliche Kostenbelastungen ausgelöst. (CDU/CSU): Ende des Zweiten Zweitens. Die Eingliederung des Eigenkapitalhilfe- Otto Bernhardt Weltkrieges beschlossen die Vereinigten Staaten auf An- programms in das ERP-Sondervermögen und das kost- raten des Generals und Politikers George C. Marshall, spielige BTU-Programm. Deutschland in ein umfassendes Wiederaufbaupro- Drittens. Die seit 1998 nicht mehr erfolgten Zahlun- gramm für Europa einzubeziehen. Durch dieses Pro- gen von Zinszuschüssen durch den Bundesminister der gramm – bekannt als Marshall-Plan – flossen von 1948 Finanzen für die seit 1990 zusätzlich auf dem Markt auf- bis 1951 umgerechnet circa3 Milliarden Euro nach genommenen ERP-Kredite, die besonders vergünstigt Westdeutschland. Sie bildeten die Grundlage für das den neuen Bundesländern zur Verfügung gestellt worden ERP-Sondervermögen, da die Vereinigten Staaten da- sind. mals auf eine Rückzahlung verzichteten. Zu Recht hat der Bundesrechnungshof Anpassungen Der Verwendungszweck wurde 1953 im ERP-Verwal- in den Programmen verlangt, um die sich automatisch in tungsgesetz festgelegt, wobei folgende Bestimmungen einer Niedrigzinsphase ergebenden Verluste möglichst von besonderer Wichtigkeit sind: Zum einen das Sub- niedrig zu halten. stanzerhaltungsgebot, welches gewährleistet, dass diese Dies ist schon im Jahr 2003 soweit möglich erfolgt Gelder für die Wirtschaftsförderung eingesetzt werden, und wird beim operativen Geschäft auch sorgfältig be- dabei aber die Substanz des Vermögens nicht verringert achtet. werden darf. Zum anderen legt dieses Gesetz fest, dass der Deutsche Bundestag jährlich einen Wirtschaftsplan Gleichwohl standen und stehen wir vor einem Ziel- über die Verwendung des ERP-Sondervermögens zu be- konflikt: Keinerlei neue zinsverbilligte Kredite auszurei- schließen hat. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung chen, keine neuen Programme mit Haftungserleichte-für den Wirtschaftsplan für das Jahr 2004 wurde am (B) rung, keine neuen Nachrangkapitalprogramme und keine 30. Mai 2003 vorgelegt. Heute findet die erste Lesung(D) echten Beteiligungsprogramme wie zum Beispiel mitim Bundestag statt. dem EIF in Gang zu setzen, wäre zwar risikoärmer und natürlich kostengünstiger. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die drei wesentlichsten Punkte der ERP-Wirtschaftsför- Nur die hohen Belastungen aus den 90er Jahren für derung aufzählen: erstens die Unterstützung von Grün- das ERP-Sondervermögen wären damit auch nicht besei- dungsvorhaben durch Eigenkapitalhilfe und Existenz- tigt und damit der Substanzerhaltungsgebot realiter doch gründungskredite, zweitens der Aufbau und die verletzt, dafür aber wäre die dringend benötigte Unter- Modernisierung bestehender Unternehmen in regionalen stützung der Finanzierung kleiner und mittlerer Unter- Fördergebieten und drittens die Entwicklung neuer Pro- nehmen unmöglich, Wachstum, Beschäftigung und In- dukte bis hin zur Markteinführung. Diese Punkte zeigen, novation ernsthaft behindert welche Bedeutung die ERP-Wirtschaftsförderung gerade Dies war erfreulicherweise für alle im Unterausschuss für junge Unternehmen und forschungsintensive Bran- vertretenen Fraktionen keine Alternative. Aber wir wa- chen hat. ren uns einig, dass wir uns parlamentarisch vertieft mit In Rahmen dieser ersten Lesung will ich zwei kriti- den Schwerpunkten und Prioritäten auseinander setzen sche Anmerkungen machen bzw. Probleme aufzeigen, müssen. Wir werden diese Diskussion und vor allem die die einer weiteren Diskussion bedürfen: praktische Umsetzung der neuen Instrumente intensiv begleiten und gegebenenfalls im laufenden Haushalt um- Erstens: das Substanzerhaltungsgebot. Das ERP-Son- steuern. dervermögen hatte ursprünglich umgerechnet eine Höhe von circa 3 Milliarden Euro und beträgt heute rund Im übrigen werden wir uns – bei aller größten Markt- 12,4 Milliarden Euro. Nominell hat sich das Vermögen nähe der neuen Förderinstrumente, was bedeutet, dass in den 50 Jahren also mehr als vervierfacht. Beim Sub- sie in ihren Kosten besser als bisher die Risiken berück- stanzerhaltungsgebot geht es aber natürlich nicht um no- sichtigen müssen darüber im klaren sein müssen, dass minelle Größenordnungen, sondern um reale Größen. wir die Gelder der breiten Masse der deutschen Steuer- Maßstab muss die Entwicklung des Sozialproduktes zahler verwalten und daher weder billiger Jakob noch bzw. der Kaufkraft sein. Bis 1998 wurden Zuschüsse aus Bremser in einer schwierigen Wirtschaftslage sein dür- dem Bundeshaushalt in einer Größenordnung von gut fen. 1 Milliarde Euro geleistet, um dem Anspruch des Geset- Insgesamt stellen sich das ERP-Sondervermögen und zes nach Substanzerhaltung gerecht zu werden. Seit diejenigen, die es gestalten und verwalten, den neuen 1999 werden keine solchen Zuschüsse mehr geleistet, 6286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003

(A) mit dem Ergebnis, dass sich in den letzten vier Jahren Gründer und mittelständische Unternehmen finden beim (C) das ERP-Sondervermögen nur um circa 200 Millionen ERP-Sondervermögen und bei der KfW-Mittelstands- Euro von 12,210 auf 12,410 Milliarden Euro erhöht hat, bank, die in die Mittelvergabe eingeschaltet ist, zuverläs- dass heipt 1,6 bzw. 0,4 Prozent pro Jahr. Die Verbrau- sige Partner bei der Investitionsfinanzierung. cherpreise haben sich in diesen vier Jahren um insgesamt über 6 Prozent erhöht, sodass die Substanz um mindes- Der ERP-Wirtschaftsplan 2004 umfasst ein Fördervo- tens 500 Millione Euro zurückgegangen ist. Im laufen- lumen von insgesamt 4,4 Milliarden Euro. Dabei wird den Jahr wird es zu einem weiteren Substanzverlustein Volumen von 4 Milliarden Euro in Form von lang- kommen. fristigen und zinsgünstigen Krediten, insbesondere an mittelständische Unternehmen, bereitgestellt. Darüber Die Ursachen dafür liegen zum Teil in Fördermaßnah- hinaus können bis zu 400 Millionen Euro Beteiligungs- men im Zuge der deutschen Einheit, von denen einige kapital über das Programm „Beteiligungskapital für noch weitere zehn Jahre lang Einfluss auf das ERP-Son- kleine Technologieunternehmen – BTU“ mobilisiert dervermögen haben werden. Insofern war es richtig, zum werden. Ausgleich Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt an das ERP-Vermögen zu zahlen. Leider ist dies – wie gesagt – Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz tragen wir den seit 1998 nicht mehr erfolgt. Über diese Problematikveränderten Finanzierungsanforderungen für kleine und müssen wir uns im Interesse der Nachhaltigkeit der För- mittlere technologieorientierte Unternehmen Rechnung. dermöglichkeiten aus dem ERP-Sondervermögen weiter In der Wissensgesellschaft wird Beteiligungskapital im- unterhalten. Ich weiß, dass die Verantwortlichen im Fi- mer wichtiger, denn Technologieunternehmen investie- nanzministerium und in der Kreditanstalt für Wiederauf- ren in ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und nicht in bau bereits über Gegenmaßnahmen diskutiert und zum Maschinen und Anlagen. Die für die Kreditgewährung Teil entschieden haben. Die Einführung einer Vorfällig- notwendigen Sicherheiten können daher immer schwerer keitsentschädigung ist sicher ein Instrument, das dembereitgestellt werden. Daraus resultiert die wachsende weiteren Substanzverlust entgegenwirkt. Bedeutung der Finanzierung über Beteiligungskapital. Zweitens: der Rückgang der Inanspruchnahmen. Im Die Beteiligungskapitalfinanzierung für technologie- Jahre 2002 wurden Zusagen aus dem ERP-Vermögen in orientierte Unternehmen ist durch die Krise am Neuen Höhe von knapp 3,2 Milliarden Euro erteilt. Für dieses Markt und aus konjunkturellen Gründen in den letzten Jahr waren insgesamt 5 Milliarden Euro vorgesehen. Die Jahren schwieriger geworden. Wir schaffen deshalb zwei Inanspruchnahmen dürfen nach den jetzt vorliegenden neue Förderinstrumente, um mehr Liquidität in den Zwischenergebnissen aber nur bei etwa 3 MilliardenMarkt zu bringen und den Zugang zu Risikokapital für (B) Euro liegen und damit unter denen des Vorjahres. Beson- innovative Unternehmen zu erleichtern. Gemeinsam mit (D) ders groß ist die Differenz zwischen den Planungen und der Europäischen Investitionsbank schaffen wir einen den Inanspruchnahmen bei den Existenzgründungsmaß- Dachfonds zur Investition in Beteiligungskapitalfonds. nahmen. Für das Jahr 2003 waren dafür 1,85 Milliarden Dadurch werden in den nächsten fünf Jahren 1,7 Milliar- Euro vorgesehen, während die Inanspruchnahme nur bei den Euro für innovative Unternehmen bereitstehen. insgesamt circa 700 Millionen Euro liegen dürfte. Es Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz schaffen wir die wurde also nur gut ein Drittel der ursprünglich vorgese- Voraussetzung dafür, dass 50 Millionen Euro jährlich henen Mittel tatsächlich abgerufen. Die Gründe für diese aus dem ERP-Vermögen zur Beteiligung an einem Dach- Einschnitte sind in einem geringen Maße auf das nied- fonds bereitstehen. Die Europäische Investitionsbank rige Zinsniveau zurückzuführen, das den Einsatz öffent- wird sich im gleichen Umfang beteiligen. Der Dach- licher Fördermittel teilweise uninteressant macht. Weiter fonds wird sich mit bis zu 30 Prozent an Venturecapital- kann vermutet werden, dass Banken ihre Kunden auf- fonds beteiligen. Das zusammen mit privaten Investoren grund der oftmals geringen Margen gar nicht auf die mobilisierte Kapital wird in den nächsten 5 Jahren bei Fördermöglichkeiten der KfW aufmerksam machen. Um rund 1,7 Milliarden Euro liegen. dieses Argument zu entschärfen, hat die KfW die Er- tragsmöglichkeiten für die Geschäftsbanken ein Stück Gleichzeitig wird die Beteiligungsfinanzierung im verbessert. Der Kernpunkt des Problems liegt allerdings Rahmen des Programms „Beteiligungskapital für kleine in den schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Technologieunternehmen“, BTU, auf die Zweitrundenfi- und der damit verbundenen Zurückhaltung bei Investi- nanzierung ausgedehnt. Ebenso wie der Dachfonds wird tionen und Existenzgründungen. Bei stagnierender Wirt- dieses neue Finanzierungsinstrument keinen festen Zins schaft werden einfach weniger Mittel für Investitionen als Gewinnbeteiligung verlangen, sondern der am Markt benötigt. zu erzielende Gewinn bei Be teiligungsverkauf wird maß- geblich sein. Damit wird das Finanzierungsinstrument Wir werden beide Punkte in den weiteren Beratungen auch keinen Beihilfecharakter mehr haben. Die öffentli- kritisch hinterfragen. Es bleibt unser Ziel, wie in den chen Kapitalgeber werden genauso wie private Investo- Vorjahren, in der abschließenden Lesung des Bundesta- ren an den Gewinnen beteilig t. Das halten wir für sachge- ges dem Wirtschaftsplan unserer Zustimmung zu geben. recht. Mit diesen neuen Finanzierungsinstrumenten schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass Forschungser- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gebnisse in neue Produkte, Verfahren und Arbeitsplätze Der ERP-Wirtschaftsplan bildet ein zentrales Element umgesetzt werden können. Wir stärken die Infrastruktur der finanziellen Mittelstandsförderung des Bundes.für Venturecapitalfinanzierungen in Deutschland. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2003 6287

(A) Einen erheblichen Anteil an den ERP-Förderpro-bau (KfW) und der Deutschen Ausgleichsbank (DtA),(C) grammen haben umweltfreundliche Technologien. In- die Wirkung für den Mittelstand verbessern wird. Damit vestitionen zur Reduzierung von Umweltbelastungen in einher geht eine Verschlechterung der Mittelstandsförde- kleinen und mittleren Unternehmen können mit zins-rung: kürzere Laufzeiten für Kredite, Vorfälligkeitsent- günstigen Krediten in einem Volumen von 50 Prozent schädigungen bei früherer Tilgung und eine Konditio- der Investitionskosten gefördert werden. Erheblichenenausgestaltung, die je nach Bonität ausgestaltet ist. Umweltentlastungen könnten damit erreicht werden. Be- Dies alles verschlechtert die Möglichkeiten für kleine sonders im Strombereich hat die Förderung aus demund mittelgroße Unternehmen, Kredite aus dem ERP- ERP-Sondervermögen erheblichen Anteil an der Ver-Sondervermögen zu erhalten. breitung innovativer Technologien. Größtes Problem ist und bleibt nämlich die fehlende Allerdings wird das Potenzial der Fördermöglichkei- Eigenkapitalausstattung der etwa 3 Millionen kleinen ten nicht voll ausgeschöpft, denn nicht immer sind die und mittelgroßen Unternehmen. 40 Prozent aller Unter- Fördermöglichkeiten hinreichend in der Öffentlichkeit nehmen in Deutschland verfügen nämlich derzeit über bekannt. Sinnvoll wäre es daher, wenn die KfW zumeine Eigenkapitalquote von Null. Die Situation ver- Beispiel zielgerichtet Werbung für die Finanzierung von schärft sich, je kleiner das jeweilige Unternehmen ist. Null-Emissions-Technologien im Verkehrsbereich ma- Unternehmen mit weniger als 500 000 Euro Jahresum- chen würde. Aus dem ERP-Programm kann ja nicht nur satz arbeiten in praktisch allen Sektoren ohne Eigenkapi- die Technologieentwicklung, sondern auch die Markt- tal. Nicht die Kreditkonditionen sind das drängendste einführung gefördert werden. Das ist in der Öffentlich- Problem für Mittelständler, sondern die Frage, ob diese keit noch zu wenig bekannt. überhaupt noch einen Kredit oder eine Bürgschaft erhal- Der ERP-Wirtschaftsplan 2004 berücksichtigt auch ten. die Veränderungen in der Finanzierungslandschaft. Ih- Deshalb ruhen einige Hoffnungen auf Kreditfinanzie- nen wird mit der inzwischen erfolgten rechtlichen Zu- rungen aus dem ERP-Sondervermögen. Aber hier stellen sammenführung der Kreditanstalt für Wiederaufbau und die „Kredit-Bittsteller“, als die sich viele Unternehmer der Deutschen Ausgleichsbank zur KfW-Mittelstands- inzwischen fühlen, fest, dass die jeweilige Hausbank bank Rechnung getragen. Das Förderangebot der KfW- nicht exakt diese ERP-Kredite vermittelt, sondern eigene Mittelstandsbank und das ERP-Förderangebot werden Bankprodukte. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die neu strukturiert, gestrafft und mit einem Fördermehrwert Hausbanken verdienen zu wenig an solchen Geschäften. versehen. Die für Gründer und junge Unternehmen be- Außerdem werden die Bürokratielasten für Kreditnach- sonders wichtigen eigenkapitalähnlichen Mittel sollen frager als erdrückend eingestuft. aufgestockt werden. Dies entspricht dem Ziel, die Eigen- (B) (D) kapitalausstattung der mittelständischen Unternehmen Hier klaffen wieder einmal Anspruch und Wirklich- zu verbessern. keit weit auseinander: Wer zum Beispiel aus dem Pro- gramm „Kapital für Arbeit“ 100 000 Euro nachfragt, hat Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): Kann mit dafür allerhöchste Sicherheiten zu stellen. Es reicht den dem ERP-Sondervermögen dem Mittelstand in Deutsch- Hausbanken nämlich meist nicht aus, dass Kreditnehmer land aus seiner Notlage geholfen werden? Ich meine:über 50 Prozent der beantragten Summe als Belastungen Ganz sicher nicht! Angesichts einer Wirtschaftsflaute im auf ihr Privatvermögen – zum Beispiel des eigenen nunmehr dritten Jahr, der anhaltend hohen Insolvenzrate, Wohnhauses – als Sicherheit einbringen. Das Ausmaß angesichts hoher Arbeitslosigkeit und über 100 000 feh- von Sicherheitsprüfungen und bürokratischen Verfahren lenden Ausbildungsplätzen erscheinen die im ERP-Wirt- nimmt de facto meist Monate in Anspruch, bevor über- schaftsplangesetz ausgewiesenen 5,3 Milliarden Euro haupt eine Entscheidung seitens der Bank fällt. Und zu- wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es wird klar:meist endet diese Prüfung mit einer Absage. Ohne passende Rahmenbedingungen – wie Steuer- und Mein Fazit lautet daher: Es wäre sinnvoller, die er- Abgabensenkungen, durchgreifende Sozialreformen und wähnten 5,3 Milliarden Euro zum gezielten Kostenab- Bürokratieabbau – bleiben die staatlichen Minihilfen aus bau für die mittelständische Wirtschaft einzusetzen und dem ERP-Sondervermögen annähernd wirkungslos. damit nicht länger auf staatliche Förderprogramme zu Gleichzeitig findet im vierten Jahr in Folge ein Sub- setzen. Eine solche Wirtschaftspolitik, die auf weniger stanzverzehr des Sondervermögens statt. Hier muss die Steuern, weniger Abgaben, weniger Bürokratie und we- Bundesregierung eingreifen. Zudem ist anzuzweifeln, niger Subventionen setzt, würde das Ausweisen eines dass die soeben vollzogene Zusammenlegung der beiden ERP-Sondervermögens überflüssig machen. Genau das bundeseigenen Banken, der Kreditanstalt für Wiederauf- ist Ziel liberaler Wirtschaftspolitik.

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