TROIS FEMMES TROIS FEMMESDREI OPERN DREI OPERN

Jacques Ibert Maurice Ravel ANGÉLIQUE L’HEURE ESPAGNOLE

Jacques Ibert Francis Poulenc Maurice Ravel ANGÉLIQUE LA VOIX HUMAINE L’HEURE ESPAGNOLE TROIS FEMMES (Drei Frauen) EIN ABEND MIT FRANZÖSISCHEN OPERN AUS DER ERSTEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS IN FRANZÖSISCHER SPRACHE MIT DEUTSCHEN ÜBERTITELN

Musikalische Leitung Errico Fresis Regie Frank Hilbrich Bühne Seongji Jang Kostüme Alice Fassina und Maja Aurora Svartåker

ANGÉLIQUE FARCE IN EINEM AKT VON JACQUES IBERT WORTE VON NINO Angélique Heejin Park (05. und 07.07.18) / Anne Martha Schuitemaker (06. und 08.07.18) Boniface Jonas Böhm (05. und 07.07.18) / Ren Fukase (06. und 08.07.18) Charlot Daniel Nicholson (05. und 07.07.18) / Kwiheon Ko (06. und 08.07.18) Der Italiener Beomjin Kim (05. und 07.07.18) / Yan Xie (06. und 08.07.18) Der Engländer Georg Drake (05. und 07.07.18) / Wonhee You (06. und 08.07.18) Der König aus Bambara Israel Martins (05. und 07.07.18) / Yoohan Lee (06. und 08.07.18) Der Teufel Iurii Iushkevich (05. und 07.07.18) / Elena Bechter (06. und 08.07.18) Erste Nachbarin Aiko Christina Bormann (05. und 07.07.18) / Kateryna Chekhova (06. und 08.07.18) Zweite Nachbarin Devi Suriani (05. und 07.07.18) / Yehui Jeong (06. und 08.07.18) Sprechchor Johannes Blank, Pablo Helmbold, Rebecca Ibe, Lea Kohnen, Eunsang Lee, Marie Maidowski, Stanislav Prunskij, Katharina Quast, Max Jacob Rößeler, Antonia Schuchardt, Tobias Zepernick LA VOIX HUMAINE (Die menschliche Stimme) TRAGÉDIE LYRIQUE IN EINEM AKT VON FRANCIS POULENC NACH DEM MONODRAMA VON JEAN COCTEAU Sie Antje Bornemeier (05. und 07.07.18) / Aphrodite Patoulidou (06. und 08.07.18)

L’HEURE ESPAGNOLE (Die spanische Stunde) MUSIKALISCHE KOMÖDIE IN EINEM AKT VON MAURICE RAVEL DICHTUNG VON FRANC-NOHAIN Concepcion, Frau Torquemadas Karina Repova (05. und 07.07.18) / Isabel Reinhard (06. und 08.07.18) Gonzalve, Student Beomjin Kim (05. und 07.07.18) / Wonhee You (06. und 08.07.18) Torquemada, Uhrmacher Georg Drake (05. und 07.07.18) / Yan Xie (06. und 08.07.18) Ramiro, Maultiertreiber Jonas Böhm (05. und 07.07.18) / Ren Fukase (06. und 08.07.18) Don Inigo Gomez, Bankier Israel Martins (05. und 07.07.18) / Yoohan Lee (06. und 08.07.18) Symphonieorchester der Universität der Künste Berlin Violine 1 Flöte Tuba Pablo Teichmann (KM) Yuyun Shih Jörgen Roggenkamp Marijn Seiffert Yubin Lee Harfe Yula Kim Lida Winkler Elisabeth Zosseder Haryum Kang Azin Zahedi Louise Gandjean Juan-Esteban Rendón Johanna Longin Mayuko Hiyoshi Celesta/Klavier Oboe Yu Nishida Katharina Justus Frauke Tautorus Leonard Wacker Micha Häußermann Cathy Heidt Pauken/Schlagzeug Boyi Ruan Asaf Öksüz Marina Schmidt Wei-Ting Huang Christoph Lindner Violine 2 Ukko Pietilä Seong-Cheol Choi Rachel Buquet* Johanna Hilpert Hannes Bock Danilo Ferreira da Silva Zhuang Wang Jonathan Zielke Qiuyi Wu Klarinette Hyojin Kan Vera Karner Paulina Malesza Jan-Lukas Wilms Leyang Tang Ariane Rovesse Mao Konishi Fagott Viola Laura Lorx Julia Wojtaszek* Jeonghyun Choi Emmanuel Dercourt* Yael Falik Karolina Pawul Péter Bor Horn Julia Lindner Conte Eva-Lilla Fröschl Sae Ito Thomas Mittler David Kuen Violoncello Hearee Yoo Juho Park* Alexander Wollheim Trompete Sebastian Mirow Artem Sviridov Rebecca Krieg Adam Davis Kontrabass Posaune Francisca Sa Machado* Max Eisenhut Ilia Gogoberidze Kumsal Germen Lin Hu Yongsoo Yoon KM Konzertmeister Yuzhe Zhang Thomas Ziller * Stimmführer/in 4 Eine Produktion des Studiengangs Gesang/Musiktheater in Kooperation mit dem Symphonieorchester der Universität der Künste Berlin und den Studiengängen Kostümbild und Bühnenbild

Aufführungsmaterial © Éditions Heugel, (Angélique), G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH (La voix humaine und L‘heure espagnole)

Aufführungsdauer ca. 3 Stunden Pausen Umbaupause (ca. 3 Min) nach Angélique, Pause (ca. 20 Min.) nach La voix humaine

Premieren am 5. und 6. Juli 2018 Weitere Vorstellungen am 7.* und 8.* Juli 2018 jeweils 19.30 Uhr

UNI.T - Theater der Universität der Künste Berlin Fasanenstr. 1 B . Berlin-Charlottenburg

* Übertragung per Live-Stream auf www.livestream.udk-berlin.de 5 Musikalische Assistenz Olivia Clark Repetition und Einstudierung Fabio Costa, Nóra Füzi, Thorsten Kaldewei, Prof. Sarah Tysman, Georgios Vagianos Einstudierung Sprechchor/Sprachcoach Amélie Saadia Regiassistenz und Übertitel Caroline Schneider Produktionskoordination Heiko Starke Einstudierung Akrobatik Alfred Hartung Kostümassistenz Noel Maris Mombi, Aina Schubert, Michael Sieweke Maske Julia Müller, Judith Wegner (Assistenz) Ton Nicolai Gütter, Jakob Wundrack, Jonathan Richter Künstlerisches Betriebsbüro Patrick Reu (Disponent) Symphonieorchester der UdK Berlin Tom Pielucha (Orchesterbüro) Bühne Harald Dreher (Leitung), Britta Lohmeyer, Maria Sperl, Fabian Knabe, Philipp Maier Beleuchtung Sigurd Hösl-Taube (Leitung), Anja Bührer, Michael Karsch

Werkstätten Oliver Brendel (Leitung), Peter Simon (Tischlerei), Dennis Pelz (Schlosserei) Gewandmeisterei Felicitas Sandor (Leitung), Sue Viebahn, Stephan Grollmitz, Kerstin Berner (Fundus), Atelier Pink Passion (Extraanfertigungen) Tonübertragung Live-Stream Alexander Lekscha, Joni Saksala, Ellinor Krämer, Lukas Kuth, Christian Feldgen Bildübertragung Live-Stream Wolfgang Loos, Johanna Bischof (Bildregie), Thomas Loos, Markus Austel, Benjamin Lindner, Roman Müllers Projektsteuerung Live-Stream Markus Mittermeyer (Produktionsleitung) 6

HANDLUNG

ANGÉLIQUE Angélique lebt mit ihrem Ehemann, dem Porzellanhändler Boniface, in einer Kleinstadt am Meer. Die Ehe läuft schlecht. Angélique macht ihrem Mann das Leben zur Hölle, konfrontiert ihn ständig mit Vorwürfen, zerschlägt sein Porzellan und schreckt auch nicht davor zurück, ihn selbst zu verprügeln. Boniface berät mit dem Händler Charlot, was man tun kann. Er will sich scheiden lassen. Aber Charlot hat eine bessere Idee und schlägt Boniface vor, sich Angélique vom Hals zu schaffen, indem er sie einfach verkauft. Nach kurzer Irritation stimmt Boniface zu. Und auch Angélique selbst lässt sich durch Charlot davon überzeugen, dass ihr ein besseres Leben bevorsteht, wenn sie sich verkaufen lässt. Vor dem Haus des Ehepaars wird ein Schild aufgestellt: „Femme à vendre“ (Frau zu verkaufen). Die Nachbarn sind empört und beobachten scharf, was nun vor sich geht. Nacheinander erscheinen drei Ausländer, die jeweils Angélique kaufen und mit in ihr Heimatland nehmen wollen, sie aber schnellstens wieder zurückgeben: ein Italiener, dann ein Engländer, zuletzt der König aus Bambara. Obwohl Angélique sich anfangs für alle drei begeistert, kehren die Männer jeweils kurz darauf von ihr verprügelt zurück und verlangen ihr Geld von Boniface. Keiner scheint es mit ihr auszuhalten. Als Boniface schließlich in Verzweiflung aufschreit, dass doch der Teufel Angélique holen möge, tut sich die Erde auf. Der Teufel erscheint und reißt Angélique mit sich in die Hölle. Endlich ist sie weg. Boniface und Charlot feiern die Erlösung mit den Nachbarn und trinken Champagner. Da erscheint der Teufel erneut, übel zusammengeschlagen, und gibt Angélique wieder ab. Sie hat ihm die Hölle auf den Kopf gestellt; er will sie nicht behalten. Boniface muss Angélique wieder bei sich aufnehmen, die nun endlich fragt, warum er sie überhaupt loswerden will, wo sie ihn doch liebe. Boniface antwortet nicht. Heimlich bietet er Angélique weiterhin zum Verkauf an.

LA VOIX HUMAINE (Die menschliche Stimme) Eine junge Frau erwartet am Telefon den Anruf ihres Geliebten, der sie zwei Tage zuvor verlassen hat. Am Abend danach hatte sie aus Verzweiflung einen Selbstmordversuch unternommen. Das nun erwartete Gespräch soll der endgültige Abschied sein. Mit aller Kraft versucht die Frau, an der Beziehung festzuhalten. Sie taktiert, kokettiert, beschwört gemeinsame Erinnerungen herauf, lügt, verheimlicht zunächst den Selbst- mordversuch, schließlich bricht die volle Wahrheit aus ihr heraus und über ihr zusammen. Der Abschied wird zur seelischen Katastrophe. Immer wieder kommen Gespräche mit dem Fernmeldeamt und einer anderen Frau, die falscherweise unter dieser Nummer anruft, dazwischen. Das Telefon, das Kommunikation erleichtern soll, wird zum Folterinstrument der Liebe und der Einsamkeit. 8

L‘HEURE ESPAGNOLE (Die spanische Stunde) In Toledo, im Laden des Uhrmachermeister Torquemada. Jeden Donnerstag muss Torquemada die öffentlichen Uhren der Stadt aufziehen und verlässt dafür sein Haus für eine Stunde. Diese ist die einzige, die seine Frau Concepcion für sich und ihren Liebhaber, den jungen Studenten Gonzalve, hat. An diesem Tag aber erscheint der Maultiertreiber Ramiro, der dringend seine Taschenuhr reparieren lassen muss. Torquemada bittet ihn, im Laden zu warten, bis er vom Aufziehen der städtischen Uhren zurück ist. Concepcion ist also zu ihrer gewohnten Stunde nicht allein. Um zu verhindern, dass Ramiro sie mit ihrem Liebhaber beobachtet, bittet Concepcion den Maultiertreiber, eine der Standuhren aus dem Laden in ihr Schlafzimmer zu bringen und dort aufzustellen. So kann sie Gonzalve ungestört im Laden empfangen. Doch Ramiro kehrt schneller als erwartet aus dem Schlafzimmer zurück. Concepcion muss Gonzalve in einer weiteren Standuhr verstecken. Kaum ist dies geschehen, erscheint der Bankier Inigo Gomez, der ebenfalls die Abwesenheit Torquemadas für eine zärtliche Stunde mit Concepcion nutzen will. Concepcion hat nun zwei Männer im Haus, die beide mit ihr intim sein wollen und einander nicht begegnen dürfen, zudem noch den Maultiertreiber Ramiro, der ebenfalls zunehmend fasziniert von der schönen Frau ist. Um diesem nicht zu begegnen, versteckt sich auch der dicke Bankier in einer weiteren Standuhr. Es entsteht ein groteskes Spiel. Dank der enormen Kraft Ramiros kann Concepcion zwar abwechselnd die Uhren mit Gonzalve und Inigo Gomez darin, ins Schlafzimmer und zurück transportieren lassen, so dass sich die drei Herren nie direkt begegnen. Aber es kommt für Concepcion niemals zu einem intimen Moment mit auch nur einem von ihnen. Ihre freie Stunde vergeht, ohne dass ihre Sehnsucht nach Liebe erfüllt wird. Kurz bevor Torquemada wieder in den Laden zurückkehrt, bittet sie überraschend den Maultiertreiber Ramiro, ihr ins Schlafzimmer zu folgen. Torquemada entdeckt die beiden Liebhaber in den Uhrkästen und durchschaut, was während seiner Abwesenheit vorgefallen ist. Dann bricht die Handlung der Oper schlagartig ab. Die Figuren wenden sich ans Publikum und versuchen, eine Moral der Geschichte zu formulieren - sie bleiben irritiert zurück.

9 Angélique

Angélique wirkt sehr aggressiv, unhöflich und sieht dabei edel aus. Ich glaube jedoch, dass sie im Innern tatsächlich schwach ist und ein verletztes Herz hat. Sie wollte von ihrem Mann geliebt werden, aber er behandelte sie nicht gut. Deswegen trifft sie sich mit anderen Männern. Sie hofft, dass einer von ihnen diese Lücke füllen kann. Eine Beziehung mit einem Italiener ist sehr romantisch, mit einem Engländer bekommt sie Macht durch Geld, mit dem König aus Afrika Ruhm. Nur, alle diese Sachen befriedigen sie nicht. Das spürt sie und wird dadurch immer aggressiver. Heejin Park „Angéliques Schimpfwörter“: aus dem Notizbuch von Anne Martha Schuitemaker

KOSTÜMKONZEPT

Obwohl es in den drei Opern viele gemeinsame Elemente und Themen gibt, hat die Recherchearbeit zu drei verschiedenen Kostümkonzepten geführt - so, wie die Stücke auch drei verschiedene Frauenporträts zeichnen. Der Thematik und den Stimmungen in den Libretti und der Musik folgend, haben wir zu jedem Stück einen Leitspruch formuliert: Hoffnung/Kampf (Angélique), Kampf, der in Hoffnungslosigkeit übergeht (La voix humaine), bis zur Hoffnungslosigkeit (L‘heure espanole). Das Thema des Surrealismus hat uns in jedem Stück auf verschiedene Art und Weise beschäftigt.

ANGÉLIQUE Der zynisch beschriebene Ort, in dem Angélique zusammen mit ihrem Ehemann versucht, sich ein Leben zu gestalten, zeichnet ein Gesellschaftsportrait, in dem soziale Kontrolle herrscht. Die Bewohner dieser französischen Kleinstadt scheinen mit der eigenen Vorzüglichkeit so beschäftigt zu sein, dass sie über sich selbst stolpern. Eine Korrektheit, die das Leben fast Unmöglich macht. Die Themen Spießigkeit und Konservatismus, teilweise bis zur Schwelle der Absurdität getrieben, haben das Kostümbild für diese Gesellschaft beeinflusst und werden durch den Sprechchor etabliert. Französische Filme, die auch von diesen Themen handeln (wie z.B. Playtime von Jacques Tati und Le charme discret de la bourgeoisie von Luis Buñuel), haben uns unter anderem als Inspiration gedient. Aus diesen Gründen haben wir das Kostümkonzept für Angélique in die frühen 1960er Jahren verlegt. Die damalige Mode war immer noch stark von den 1950ern geprägt; die Gesellschafts- und Geschlechterrollen waren streng definiert und jeder, der davon ausbrach, fiel sehr deutlich auf. Angélique ist eine Charakterkomödie, in der die Figuren auf individualistischer Basis handeln und oft sehr klischeehaft beschrieben sind, was sich auch im Kostümbild widerspiegelt. Dies gilt besonders für die drei Touristen, die im Libretto als ethnische Stereotypen aus der Sicht der späten 1920er beschrieben sind. Der Italiener, der Engländer und als letztes der König aus Bambara erscheinen als Repräsentationen für das Fremde, Neue und Exotische in dieser veralteten Hafenstadt, die Kostüme sind deshalb an den 1970er Jahren orientiert. Die Touristen sind für Angélique eine Hoffnung, ein Versprechen auf ein neues Leben in einer anderen Kultur. Am Anfang des Stückes zeigt ihr Kostüm noch den Versuch, sich der Gesellschaft anzupassen. Sobald sie aber die Chance sieht, ein neues Leben in fernen Ländern führen zu können, lässt sie sich von ihrer Vorstellung der anderen Kulturen vestimentär inspirieren und macht sich für die Reise in dieses neue Leben bereit. Mit jeder Rückkehr und steigender Desperation werden auch ihre Kostüme im Kontext immer extremer, bis sie der Wendepunkt trifft. 13 LA VOIX HUMAINE La voix humaine stellt den letzten Kampf um eine verlorene Liebe dar, vielmehr geht es aber um eine allgemeinmenschliche Situation und den Versuch, in dieser schmerzhaften Konfrontation mit sich selbst klarzukommen. Ziel war es, die Intimität und Nacktheit der Situation zu zeichnen. Die Frage, wie man mithilfe reduzierter Mittel ständig wechselnde Gefühlszustände darstellen kann, hat uns sehr beschäftigt. Deshalb haben wir versucht, mit Kostümelementen zu arbeiten, die eine Einheit bilden können, um zeichenhaft gleich voneinander fragmentarisch getrennt zu werden. Mit den wechselnden Gefühlszuständen der „Elle (Sie)“ entblößen sich auch Kostümelemente und funktionieren als Mittel, um einen neuen Zustand zu beschreiben oder eine Geschichte zu erzählen. Prozesshaft wird dargestellt, wie sich die Figur während des Stückes entblöst, um sich am Ende der schmerzhaften Wahrheit zu nähern. Thematisiert wird auch, wie ein Objekt, oder eine Person, die einmal Teil von einem selbst war und als „schön“ wahrgenommen worden ist, Gefühle von Ekel und Entfremdung erwecken kann, sobald das Teil vom Ganzen losgelöst wird und als „totes Objekt“ erscheint. Auffallend bei La voix humaine ist, dass die Person, die als Gesprächspartner dient, nicht anwesend ist. Uns beschäftigte die Frage, wie man eine nicht anwesende Person auf der Bühne darstellen kann. Das Hemd funktioniert hier als Repräsentationsmittel, Fetischobjekt, Ideenträger und schmerzhafte Erinnerung einer abwesenden Person zugleich. Mit dem Kostümbild haben wir versucht, die Figur nicht nur als Opfer in einer schmerzhaften Beziehung zu zeigen, sondern auch als Mittäterin in einer existenziellen Krise am Rand der Auflösung.

L‘HEURE ESPAGNOLE Die Einleitung des Stückes führt die Zuhörer in die minutiös präzise Welt des Uhrmachers Torquemada, ein Sammelsurium von Geräuschen der Automata in einer traumhaften und morbiden Welt. So, wie dialektale Charakteristika in der Musik erscheinen, ist bei jeder Figur ein Kostümprinzip zu finden. Die Figuren funktionieren eher als Archetypen in diesem Uhrladen voller Ungetüme. In dieser einen Stunde voller gescheiterter Hoffnungen erscheinen alle Personen als Echos von sich selbst, die trotz Interaktionen mit den anderen Fremde bleiben. Die morbiden Elemente und Stimmungen haben wir versucht, in den Kostümen visuell zu übersetzen, indem wir mit Schattierungen, Spuren und verlorenen Funktionen gearbeitet haben. Eine Inspirationsquelle war das Gefühl von Vergänglichkeit, das alte Fotografien und Daguerreotypien manchmal hervorrufen, dies hat auch zur Farbpalette bzw. Abwesenheit von Farbe bei den Kostümen geführt.

Maja Aurora Svartåker und Alice Fassina 14

Sie

aus dem Rollenbuch von Aphrodite Patoulidou J´ai décidé d´avoir du courage - Gedanken über das EntScheiden

Manchmal weiß ich nicht, was schwieriger ist: Das Entscheiden oder das Annehmen einer Entscheidung. Das Gehen oder das Verlassenwerden. Man kann dem Entscheiden im Leben nicht entkommen. Alle Bewegung erfordert eine Entscheidung, unbewusst oder bewusst, aktiv oder passiv. Entscheidungen bieten Möglichkeiten. Entscheidungen grenzen ein. Jedes Ja bedeutet an anderer Stelle ein Nein und umgekehrt. Damit einher geht das Tragen der Verantwortung für jene getroffenen Entscheidungen. Ich kann mithilfe ihrer Wege beschreiten oder mich in ihren Fängen in Bewegungslosigkeit verlieren. Umherirren, von links nach rechts, von vorne nach hinten, von unten nach oben, den Halt verlieren. Oder festklemmen. Gefangen im Geflecht der Entscheidungen. Oder in der Rebellion gegen die Entscheidung von Außen. Manchmal ist die schmerzhafteste Entscheidung von Außen der Wegbereiter einer Erlösung. Und bis zum Eintritt derselben muss ich Qualen durchstehen, mich in ihnen winden, in reißenden Schmerzen, die mich in alle Richtungen jagen. Nein! Doch! Aber! Nein! Bis hin zur völligen Erschöpfung. Und dann: Lassen. Es sein lassen. Loslassen. Verlassen.

Ich verlasse dich. Ich lasse dich mich verlassen. Antje Bornemeier BÜHNENBILDKONZEPT

Gemeinsam mit dem Regieteam entstand schon zu Beginn des ersten Konzeptions- gesprächs die Idee der drei Löcher. Zuerst an der Wand, dann am Boden und an der Decke. Stichwörter dazu waren: 1. Hoffnung, 2. Kampf, 3. Hoffnungslosigkeit. Dazu entwickelte sich das allgemeine Thema System gegen Mensch.

ANGÉLIQUE Die Stichwörter für Angélique waren: moderne Stadt, Enge, Beobachtung, Zensur, sauber, glatt, ordentlich. Ein Ort, wo kein Leben stattfinden kann. Die Ironie, dass man Menschen die anders sind, nicht als Menschen akzeptiert, aber Gegenstände als Heilige dienen und damit stolz bleiben. Und die Hoffnung, dass es auch geändert werden kann. Man wohnt in ganz engen Häusern, man beobachtet einander die ganze Zeit heimlich. Keine Farbe ist erlaubt in der Stadt, weil es nicht „chic“ ist. Beton, weil es einfach „cool“ ist. Die Bank ist so unbequem, dass man nicht lange darauf sitzen kann, und nicht drauf liegen kann, und immer schön alleine bleiben kann. Die Mülltonne stinkt nicht, wenn man etwas hineinwirft, der Müll landet einfach in der Erde. Hauptsache ist, wir wohnen immer ordentlich, sauber, ohne Viren. Aber in solchen Orten lebt man nicht glücklich. Dort wird man nur glücklich, wenn andere Menschen unglücklich werden.

LA VOIX HUMAINE Wir hatten eine klare Vorstellung für das Stück: ein Mensch wird durch das Telefon zerstört, Kabelsalat auf dem Boden. An das Kabel ist ein Telefon gebunden. Und wird langsam ins Loch gezogen. Stichwörter für das Stück waren: Einsamkeit, Isoliertheit, Kampf.

L’HEURE ESPAGNOLE Die Stichwörter für L’heure espagnole waren: Untergeschoss, Altenheim, Verlorenheit, Wiederholung, Sarg. Draußen passiert das Leben, drinnen ist Friedhof. U-Boot, Leben in der Maschine.

Seongji Jang

Concepcion

Vier Männer, eine Frau? Chapeau für jede, die dabei nicht in den Wahnsinn getrieben wird. Concepcion und ich bräuchten da wohl noch ein bisschen Übung darin ;)

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- (rupi kaur) Isabel Reinhard PARIS <=> BERLIN

Berlin, Krolloper, nach vielen Abenteuern nun als staatliche Institution auf dem Platz vor

dem Reichstag (dem heutigen Platz der Republik) in den Jahren 1927-1931. Unter der Lei-

tung Otto Klemperers wird das zeitgenössische^ Repertoire selbstverständlich: Schönberg, Krenek, Hindemith, Stravinsky, Janácek erscheinen auf den Programmen. Neben den gro- ßen Dirigenten und Regisseuren arbeiten hier auch Künstler wie László Moholy-Nagy, Oskar Schlemmer oder Giorgio de Chirico als Bühnenbildner. Die Krolloper wird weg- weisend für das deutsche Musiktheater. Davon verstanden wenige etwas: Die national- sozialistische Presse bezeichnet sie als „rötlich-jüdisches Kulturinstitut“, rechte Parteien beantragen ein „Ende des Kulturbolschewismus“, Heinz Tietjen als Generalintendant der Preußischen Staatstheater befürwortet die Schließung, die Preußische Regierung gibt fi- nanzielle Gründe an und schließt 1931 endgültig das Haus. Zwei Jahre später dient die Krolloper den Nationalsozialisten als Ersatz für den abgebrannten Reichstag. Im vorletzten Jahr, 1930, werden drei zeitgenössische französische Einakter gezeigt: Angélique von Jacques Ibert, Der arme Matrose von Darius Milhaud (Libretto von Jean Cocteau) und Die spanische Stunde von Maurice Ravel. Der große Dirigent und Kompo- nist Alexander von Zemlinsky war musikalischer Leiter, Caspar Neher - der langjährige Bühnenbildner von Brecht - hat das Bühnenbild entworfen und kein geringerer als Gustaf Gründgens inszenierte zum ersten Mal Musiktheater. Es war die erste Produktion von Angélique nach der Uraufführungsserie, gesungen haben Bernhard Bötel, Margret Pfahl, Else Ruziczka und Leo Schützendorf. Nicht zu vergessen auch Marie Pappenheim, die für die deutsche Fassung der französischen Texte sorgte. Sie ist heute nur bekannt als Librettistin von Schönbergs Erwartung. Dass sie eine der wichtigsten Figuren der Sexu- alforschung und -aufklärung war, bleibt in Vergessenheit. Aktives Mitglied der KPÖ, der österreichischen kommunistischen Partei, gründete sie 1928 mit Wilhelm Reich in Wien die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung und 1929 sechs kostenlose Sexualberatungsstellen für Arbeiter.

Jacques Ibert ist in Deutschland relativ unbekannt, noch weit unbekannter bleibt hier sein Oeuvre für die Bühne oder den Film. 1890 in Paris geboren, Gerüchten nach Cousin von Manuel de Falla, was aber nicht erwiesen bleibt (nötig hat er es auf jeden Fall nicht). Studium am Conservatoire de Paris, hoher Marineoffizier während des ersten Weltkrie- ges. Dank der Unterstützung seiner Frau entschied er sich gegen eine Militärkarriere und wurde ein sehr geschätzter Komponist - auch Maurice Ravel hielt sehr viel von ihm. Später Direktor der Villa Médicis, Sitz der Französischen Akademie in Rom, bis der zweite Weltkrieg ausgebrochen war, flüchtete er vor dem deutschen Vormarsch und wurde von der Vichy-Regierung verfolgt, seine Werke wurden verboten. Nach dem Krieg kehrte er zurück zur Direktion der Villa Médicis bis er Direktor der Pariser Opern wurde. 22 Eine enge Zusammenarbeit verband ihn mit dem Librettisten - und Schwager - Michel Jean Veber alias Nino, der das Libretto zu Iberts ersten Oper Persée et Andromède schrieb. Iberts Frau (die Schwester Ninos) beschrieb den Abend, als die beiden Männer in bester Laune nach Hause kamen und über sie die Nachricht erhielten, dass die berühmte Sängerin Marguerite Bériza für ihre eigenen Operngruppe eine komische Oper in Auftrag geben möchte: Beide Männer zogen sich im Salon zurück, wo sie mit lautem Gelächter und unüber- hörbarem Spaß das Stück entworfen haben. Am 28. Januar 1927 fand im Théâtre Fémina, eines der Stammtheater der Gruppe Berizas, die Uraufführung von Angélique statt. Der Erfolg war enorm, Beriza sang die Hauptpartie. Bevor die Pariser Opéra-Comique das Werk 1930 auf den Spielplan setzen konnte, kam ihr die Berliner Krolloper zuvor. Der Berliner Aufführung von Angélique folgte am gleichen Abend Le pauvre Matelot (Der arme Matrose) von Darius Milhaud auf einem Libretto von Jean Cocteau, der seinen Durchbruch am 4. April 1908 im Rahmen einer ihm gewidmeten Matinee im Théâtre Fémina erlebte, dem gleichen Theater, in dem knapp 20 Jahre später die Uraufführung der Angélique stattfand. Es ist leider nicht ausreichend Raum, um diese geniale Persönlichkeit hier zu würdigen und zu präsentieren, die ihre Zeit am stärksten und in einer unglaublichen Vielfalt geprägt hat: Spiritus rectus und philosophischer Vater der jüngeren Komponisten- und Kompo- nistinnengeneration, Dichter, Schriftsteller, Regisseur, Zeichner und einer der wichtigsten Cineasten seiner Zeit. Ein Jahr älter als Ibert, prägte Jean Cocteau Generationen und die gesamte Kunstszene Frankreichs. Jean Cocteau wurde 1889 in Maisons-Laffitte (ca. 18 km von Paris entfernt) geboren. Seine Geschwister waren älter und es bleibt dahingestellt, ob es ein Zufall ist, dass zwei seiner Figuren deren Namen tragen: Marthe (die allerdings nie erscheint) in La voix humaine als Freundin der namenlosen Hauptfigur, Paul als Hauptfigur seines Romans Les Enfants terribles (1950 von Cocteau auch verfilmt). Im Jahr 1927, dem Jahr der Uraufführung von Angélique, verfasst Cocteau sein Mono- dram La voix humaine. Der opiumsüchtige Dichter ist dabei inspiriert von seiner Bezie- hung mit dem Dichter und Schriftsteller Jean Desbordes, der seit einem Jahr sein Sekretär ist, darüber kann man einiges in Cocteaus Le livre blanc lesen. Desbordes spielte 1930 eine Rolle in Cocteaus Film Le Sang d’un Poète. Als Mitglied der Résistence stirbt er 1944 qualvoll in den Händen der Gestapo. La voix humaine wird 1929 von Cocteau in der Comédie-Française gelesen, um dort an- schließend im Jahr 1930 - als in der Berliner Krolloper Angelique zusammen mit Le Pauvre Matelot und L’heure espagnole von Ravel aufgeführt wird - mit der großen belgischen Schauspielerin Berthe Bovy uraufgeführt zu werden. Im gleichen Jahr zog außerdem eine polnische Familie namens Nakszynski von Zoppot (nahe Danzig) nach Berlin.

Berlin, etwas später: 1947. Der 21-jährige polnische Schauspieler Nikolaus Günter Karl Nakszynski, hat ein einjähriges Engagement im Theater an der Kaiserallee (Wilmersdorf) angetreten, bereits ein Stück von Jean Cocteau auf Deutsch aufgeführt (La Machine à écrire - Die Schreibmaschine) und plant die Aufführung eines weiteren Cocteau-Stückes, La voix humaine, auf Deutsch unter dem Titel Die geliebte Stimme bekannt: ein Mono- dram für eine Frau und ein Telefon mit langer Schnur. Der Schauspieler, der später unter dem Namen Klaus Kinski berühmt wird, erstellt seine eigene Fassung, führt selbst Regie und ist auch der einzige Darsteller. Das Stück sollte im Theater an der Kaiserallee aufge- führt werden, seine Adaptation wurde aber von der Englischen Militärregierung in Berlin verboten. Der Modephotograph Helmut von Gaza springt ein und bietet sein Atelier am Kurfürstendamm für Privataufführungen an. Cocteau telegraphiert: „Ich bin glücklich, dass es Kinski ist, der die Person verkörpert. Ich gratuliere ihm für seinen Mut. Ich wer- de mein Möglichstes tun, um bei der Premiere anwesend zu sein.“ Leider wird aus der Premiere nichts: Kinski erkrankt an Gelbsucht, die voll ausverkaufte Premiere findet zu- nächst einmal nicht statt. Dennoch gelang Kinski 1949 ein beachtlicher Erfolg mit 47 Aufführungen mit „nicht ganz schicklichen Ekstasen“ (so Der Kurier). Das Telefon soll als Dildo missbraucht wor- den sein, später erwürgt sich Kinski mit dessen Schnur. „Kinski spricht, wie die Callas singt“ meinte die Hamburger Morgenpost, ohne eine spätere Verknüpfung des enfant terrible mit der großen Sängerin durch La voix humaine zu erahnen. Der Mitherausge- ber des Tagesspiegel, Walther Karsch, verriss zwar den Debütanten, musste aber einräu- men, daß es „so einen Mann nicht alle Tage gibt“. Kinski erwiderte mit einer Presse- konferenz und kündigt dem Spandauer Volksblatt an: „Ich weiß aufgrund meiner 24 Erfahrungen, wie eine Frau reagiert ... Schreiben Sie, ich werde die Kameliendame spielen“. „Sein Gesicht ist so jung wie das eines Kindes, und seine Augen sind ganz alt, beides zu gleicher Zeit, und im nächsten Moment ist es umgekehrt - ich habe noch nie so ein Ge- sicht gesehen“ wird Jean Cocteau später über Kinski schreiben.

Die Idee, La voix humaine zu vertonen, entstand aus einer Bemerkung von Hervé Dugardin, Leiter des Musikverlags Ricordi in Frankreich. Im Januar 1957 war Poulenc an der Mailänder Scala bei den letzten Proben seiner Oper Dialogues des Carmélites, eines Abends besuchte er die Vorstellung einer der großen Verdi-Opern. Keine geringere als Maria Callas und der nicht minder große Mario del Monaco lieferten einen außerge- wöhnlichen Abend mit selten erreichten Gipfeln der Vokalkunst - so Poulencs Bericht. Als der tobende Applaus die letzten Orchestertöne erstickte, hob sich der Vorhang für die Verbeugung der großen Protagonisten. In einem typischen Eitelkeits-Anfall - um wie- der die Worte Poulencs zu benutzen - schob Callas mit Gewalt del Monaco bis hinter die Kulissen, damit sie sich alleine, mitten der Bühne verbeugen konnte. Darauf schlug sein Verleger neben einem Kommentar, der hier anstandshalber erspart werden sollte, Poulenc vor, für sie La voix humaine zu vertonen, damit sie als einzige Darstellerin auftre- ten könne. Poulenc war von der Idee begeistert, versäumte jedoch bei keiner Gelegenheit zu erwähnen, dass er sein Werk ausdrücklich nicht für die Callas, sondern einzig und allein für Denise Duval komponierte, der einzigen Frau, die - so Poulenc - seine Musik singen könne, und der er das Werk gewidmet hat. Ohne Duval hätte er das Werk nie komponiert - obwohl für die Uraufführung anfangs Callas geplant war, und Duval erst für die Pariser Aufführungen. Francis Poulenc ist zehn Jahre jünger als Cocteau und Sohn einer Großindustriellenfami- lie. Er kam des Öfteren nach Paris, endgültig siedelte aber in seinem 18. Lebensjahr dahin um, nachdem seine beiden Eltern verstarben. Er kam sehr schnell in die musikalischen Kreise von Paris, nicht zuletzt durch Riccardo Viñes, den großen Pianisten und Freund von Ravel. Ravel hat Poulenc außerordentlich geschätzt, als Komponisten wie als Pianisten. Er bewunderte seine unglaubliche melodische Gabe, die seinen Mangel an Formsinn aus- gleichen konnte - so Ravel. Daher ist es nicht verwunderlich, dass eines seiner Meisterwerke, La voix humaine, von der Textvorlage her eine so klare Struktur und Dramaturgie hat, die Poulenc zugute kam.

Gewiss ist, dass Poulenc in La voix humaine etliches aus seiner eigenen Biographie finden konnte, nicht nur Cocteaus. Sein Privatleben spielte eine wichtige Rolle dabei. Zu jener Zeit war er mit einem deutlich jüngeren Mann zusammen, der wenig mit Kunst zu tun hatte - was allerdings nichts Neues für Poulenc war. Poulenc litt unter Verlustängsten, die sich bewahrheiteten, als der junge Mann sich in einen anderen verliebte. Erst als Poulenc mit der Komposition fertig war und Duval die inszenatorische Arbeit mit Cocteau begann, fand das Paar nach einer turbulenten und leidvollen Zeit erneut zueinander. 25 Auch über das Liebesleben hinaus hat Poulenc manche Szenen mit einem direkten Bezug auf sein Leben komponiert. Die bekannteste ist die Szene über den Hund, die Poulenc besonders liebte, er war selbst seinem Hund sehr verbunden. Diese Szene hat er später als „Geschenk“ an Duval gestrichen, weil sie das Gefühl hatte, dass diese dramaturgisch eine unnötige Bremse darstellte. Bisher - meinem Wissen nach - unbemerkt bleibt die Verbindung der Szene des Selbst- mordversuchs mit dem Suizid einer wichtigen Persönlichkeit des Pariser Kulturlebens, die für Poulenc eine besondere Rolle spielte. Mit einem melancholischen Walzer wird darüber im Stück erzählt, der laut Poulenc so „alla Piaf“ komponiert ist, dass er sich Sorgen mach- te, ob es auch gut ankommt. Es ist aber auch eine Erinnerung an Adrienne Monnier. Für sie schrieb er einen Nachruf mit dem Titel „Wenn ich melancholisch bin“. Die legendäre Leiterin der Buchhandlung La Maison des amis des livres in 7, rue de l’Odéon, setzte ihrem Leben am 19. Juni 1955 ein Ende, nach einem Leiden an Morbus Menière, einer Erkrankung des Innenohres, die durch Anfälle von Schwindel, Hörverlust und Phantom- geräusche gekennzeichnet ist. Adrienne Monnier konnte dank der Spende ihres Vaters, der sein Schmerzensgeld für eine schwere Verletzung dafür verwendet hatte, ihren Traum erfüllen und eine eigene Buchhandlung eröffnen. Dort versammelte sich die literarische Avantgarde wie Paul Valéry, André Gide, Colette, André Breton, Paul Claudel, Louis Aragon, Léon-Paul Fargue, André Gide, Walter Benjamin, Jacques Prévert und Rainer Maria Rilke, der Psychoanalytiker Jacques Lacan und der Komponist Erik Satie. Direkt gegenüber ihrer Buchhandlung, auf der Nummer 12, lag eine weitere Buchhandlung, Shakespeare and Company, ihrer Lebensgefährtin Sylvia Beach, wo sich die englischsprachige Avantgarde versammelte, allen voran Ernest Hemingway, Ezra Pound, F. Scott Fitzgerald, Gertrude Stein und James Joyce. Gemeinsam arbeiteten Monnier, Beach und Raymonde Linnossier (letzterer werden wir gleich wieder begegnen) an der ersten Ausgabe des Ulysses von Joyce, erst auf Englisch und dann auf Französisch. Zusammen mit Fargue gründeten sie den Kreis der Potassons (aus dem Verb „potasser“, am nächsten mit dem Wort „büffeln“ zu übersetzen). Raymonde Linnossier war „die jüngste Potasson der Welt“. Kindheitsfreundin und Muse von Poulenc, die einzige Frau, die Poulenc heiraten wollte (so in einem Brief an seine Schwester, in dem er über seine Ängste einer Ablehnung zum Ausdruck bringt; allerdings bekennt sich Poulenc nach dem unerwarteten Tod von Raymonde öffentlich seiner Homo- sexualität), erschien Linnossier 1917 in der Buchhandlung von Monnier, mit der Absicht, einen Roman zu veröffentlichen, der Poulenc gewidmet war: Bibi-la Bibiste, ein Roman, der zwar aus fünf Kapiteln bestand, das längste Kapitel jedoch nur aus 12 Zeilen. Sie starb mit 34 Jahren aus unbekannten Gründen an einem „brutalen Tod innerhalb von 10 Tagen“ - so Monnier, im Jahr 1930, dem Jahr der Uraufführung von La voix humaine und der erwähnten Aufführungen in der Berliner Krolloper. Zu Ihrem Tod setzte Monnier ihr ein literarisches Denkmal, posthum in ihren Memoiren veröffentlicht. Eine weitere relevante Verbindung ist zwischen Marthe, der Freundin der anonymen Hauptdarstellerin in La voix humaine, und der mit Poulenc besonders verbundenen Marthe de Kerrieux zu finden. Es wurde bereits erwähnt, dass Marthe auch der Name der Schwes- ter Cocteaus war. Aber nur ein beiläufiger Satz von Poulenc verrät diese sonst verborgene Verbindung. Marthe de Kerrieu, später auch Edelfrau Louis de La Rochette, wurde 1870 geboren und war um die Jahrtausendwende eine schillernde Figur der sogenannten „Halbwelt“-Szene. Aus einem Roman von Dumas des Jüngeren stammend, ist die Bezeichnung „Halbwelt“ Personen zugeordnet, die aus einer „besseren“ Gesellschaft stammen, dieser jedoch den Rücken gekehrt haben. Als Poulenc Marthe kennenlernte, war sie 52 Jahre alt und er war von den Erzählungen ihrer Geschichten fasziniert - so sehr, dass er nicht zögerte, einen Roman von Marthe (Mélie) auf eigene Kosten herauszugeben und selbst das Vorwort zu verfassen. Es gibt Erinnerungen an Poulenc, der, bis zu Tränen lachend, seinen Freunden Madame und Graf de Polignac Briefe Marthes mit ausführlichen Beschreibungen von Orgien vorlas. „Die Phantasie ist die einzige Halskette, die mir blieb“, sagte sie oft, ähnlich erging es auch der Darstellerin der Voix humaine.

La voix humaine wäre undenkbar ohne die legendäre Denise Duval, die große Poulenc- Interpretin, außerdem auch eine große Interpretin aller drei Hauptpartien des heuti- gen Abends. Denise Augustine Charlotte Duval, Tochter des Oberst Marcel Duval und Mireille Miracle, wurde am 23. Oktober 1921 in Paris geboren. Aufgrund der beruflichen 27 Verpflichtungen ihres Vaters in den französischen Kolonien ist sie und ihre ältere Schwes- ter Jeannine in Dakar, Hanoi und T’ien-Tsin aufgewachsen - man kann von einer glück- lichen Kindheit sprechen. Mit 14 Jahren kehrte die Familie zurück nach Frankreich, nach Libourne, dort stand sie als Schülerin ihres Kollegs im Schauspiel Die schönsten Augen der Welt von Jean Sarment zum ersten Mal auf der Bühne. Sie studierte im Conservatoire de Bordeaux zuerst Schauspiel mit Harpin, dann auf Anregung des Direktors des Conserva- toire, Gaston Poulet, Gesang. Mit 21 Jahren und einer langen Reihe von Preisen debütiert sie mit enormem Erfolg als Santuzza in von Mascagni im Grand- Théâtre de Bordeaux. Sie wird Ensemblemitglied und eine hervorragende Butterfly, und Angélique. Zwei Jahre später, 1944, wird sie ihr Glück in Paris versuchen. Die Pariser Oper im Palais Garnier plante eine Produktion von Iberts L’Aiglon und der Direktor sah in ihr die ideale Hauptdarstellerin, hat jedoch so wenig Geld angeboten, dass Duval ab- lehnen musste. Frustriert, jung und schön, präsentiert sich Duval dem berühmten Cabaret Les Folies-Bergère, wo zum ersten Mal eine Revue präsentiert werden soll, die mit klas- sischer Musik kombiniert ist. Die dreiteilige Revue zeigt auf ihre Art Bilder von , dem Leben Chopins und aus dem Leben der russischen Katharina II. Bis zum Be- ginn der Produktion hält sie sich „über Wasser“, mit Singen in einem Nachtclub namens Monseigneur. Erst drei Jahre später gelingt ihr der Durchbruch in der Pariser Opernwelt: sie wird die Butterfly und Tosca der Opéra-Comique. Bei einer der Proben zu Tosca wurde sie vom Regisseur Max de Rieux gebeten, mit der Stimme nicht zu sparen. Wenig später 28 nährten sich zwei Personen, einer davon mit Hut, „dicker Nase und hässlich, wie ein Floh“, so der erste Eindruck von Poulenc auf Duval. Die Proben zu Poulencs erster Oper Les mamelles de Thirésias hatten begonnen und die ideale Besetzung für die weibliche Partie war bis zu diesem Moment noch nicht gefunden worden. Poulenc war - nach eigenen Worten - getroffen von ihrer leuchtenden Stimme, ihrer Schönheit, ihrem Chic und vor allem von ihrem gesunden Lachen. Drei Tage später hatte sie ihre Partie bereits gelernt und mit den Proben begonnen. Für sie wird er die Partie der Blanche in seiner nächsten Oper Dialoges des Carmélites komponieren, die Partie mit der sie ihre Karriere im Jahr 1965 beenden musste: Es war im Teatro Colon in Buenos Aires, als sie ihre Kräfte während der Vorstellung verlor. Ein gravierendes Herzproblem wurde diagnostiziert. Sie entschied sich, ihre Karriere zu beenden und widmete sich der Lehre, ihrer Familie und führte gelegentlich Regie (auch für La voix humaine, in der Opéra-Comique 1968).

„Da ich nicht die fähige Hand Ravels habe, muss es bei mir immer von der Emotion kom- men“ zollte Poulenc dem Meister Respekt. Und noch spezifischer über L’heure espagnole: „Wenn man nicht die feenhafte Präzision von Ravel erreichen kann, was leider mein Fall ist, muss man seine Musik auf robuster Basis stützen“. Poulenc kannte Ravel sehr gut, unter Freunden nannten sich Rara (Ravel) und Poupoule (Poulenc).

Joseph Maurice Ravel wurde am 7. März 1875 in Ciboure, an der französischen Grenze zum Baskenland geboren. Sein Vater kam aus der französischsprachigen Schweiz, seine Mutter Marie Delouart (original: Maria Deluarte) kam selbst aus Ciboure, Maurice war das erste ihrer Kinder. Kurz nach seiner Geburt zogen sie nach Paris. Wenn wir der bio- graphischen Skizze folgen, die Ravel seinem Schüler und Freund Roland Manuel diktierte, war seine Zeit des Studiums alles andere als leicht. Seine Interessen und der Einfluss von Erik Satie, den er schon in seiner Jugend kennenlernte, waren alles andere als das, was am Pariser Conservatoire als akzeptabel galt. Darauf reagierte Ravel mit deutlichem Trotz und er galt weder als Musterstudent, noch war er den sonstigen Normen angepasst, wie auch seine Leidenschaft für ausgefallene - wenn auch für den heutigen Geschmack ge- wöhnungsbedürftige - Kleidung zum Ausdruck brachte. Bereits im Studium war er einer der Mitbegründer der „Apachen“, zusammen mit seinem Freund Ricardo Viñes, der viele seiner Klavierwerke uraufführte und später Klavierlehrer des jungen Poulenc war. Es ist hier leider nicht der Platz für einen ausführlichen Exkurs auf seine Biographie und sein Lebenswerk. Sicher ist aber, dass einerseits seine Ästhetik, die er in seiner autobiogra- phischen Skizze von Mozart inspiriert sah, seine Kompositionen offen für verschiedene Einflüsse gestaltete. Ob die spanische Musik, der Jazz, die Zigeunermusik: Ravel wusste mit einer treffsicheren Phantasie alles in seine musikalischen Sprache zu integrieren. Ein weiterer Punkt ist, dass Ravel ein enorm kritischer und vor allem selbstkritischer Mensch war. Bekannt ist nicht nur sein Ausspruch, wonach er seine Genialität zwar zugab, aber dazu meinte, dass jeder, der so viel gearbeitet habe wie er, solche Musik komponieren 29 könne, sondern auch, dass der große Meister der Orchesterfarben ein Buch mit negativen Beispielen über Orchestrierung plante, also wie man nicht orchestrieren sollte; mit Beispielen, die ausschließlich aus seinen eigenen Kompositionen stammen. Sehr früh entstand ein Mythos über den Komponisten, der durch Ravels Zurückhaltung und exzentrisches Äußere unterstützt wurde: Er solle kalt und berechnend gewesen sein, ein „Ingenieur“ der Musik (wohl war bekannt, dass sein Vater Ingenieur und Erfinder war, Maurice war von Maschinenklängen begeistert). Dieser Mythos in Zusammenhang mit seinem Privatleben, genauer gesagt mit dem nicht existenten Liebesleben, führte zu verschiedenen Spekulationen, die ein reiches Spektrum erreichten: von verborgener Homosexualität über eine übertriebene Liebe zu seiner Mutter (deren Bild immer an sei- nem Flügel stand) bis hin zu einer heimlichen Liebe zu Marie Sophie Godebska, die in St. Petersburg als Tochter des polnischen Bildhauers Cyprian Godebski geboren wurde und 1887 mit nur 15 Jahren in Paris reich geheiratet hatte, und in ihrem Salon die wich- tigsten Künstler der Stadt versammelte. Etwas später, 1905, heiratete sie ein zweites Mal: den Millionär Alfred Edwards. Eine dritte Ehe mit dem spanischem Maler Josep Maria Sert dauerte 7 Jahre. Während einer Reise mit der luxuriösen Yacht von Misia und Alfred Edwards gelangte Ravel an eine holländische Fabrik, deren Klänge ihn faszinierten. Er adoptierte außerdem die Initialen der Flagge dieser Yacht zur graphischen Darstellung seiner eigenen Initialen. Was mit Ravel wirklich der Fall war, ist Spekulation. Ein Kenner und Freund wie Francis Poulenc meinte, dass es in Wahrheit kein großes Geheimnis gibt: er hat einfach für sei- ne Musik, die Familie und seine Freunde gelebt. Diese Meinung lässt sich durch Hélène Jourdain-Morhange unterstützen, der einzigen Frau, der Ravel einen Heiratsantrag mach- te, eine wichtige Geigerin ihrer Zeit, die unter anderem seine berühmte Tzigane urauf- geführt hat. In ihren Memoiren führt sie aus, dass Ravel nicht nur im Voraus wusste, dass ein solcher Antrag aussichtslos ist, sondern auch, dass er bereits mit seiner Musik „verheiratet“ sei. Ravel war der Oper sehr zugeneigt. Er plante, eine Shéhérazade zu komponieren, aus der nur die Ouvertüre übrig blieb - allerdings von Ravel sehr wenig geschätzt. Sein nächs- tes Projekt, eine Oper nach Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann zu komponieren, blieb ebenso unerfüllt, wie sein nächstes, großes Opernprojekt, Die versunkene Glocke von Gerhart Hauptmann. Es ist wirklich schade: Ravel arbeitete fieberhaft daran, hatte nicht nur enormen Spaß, sondern hat ganze zweieinhalb Akte komponiert. Außergewöhnlich war, dass Ravel mit seiner Komposition sehr zufrieden war. Die Nachwelt durfte allerdings weder mit Ravel noch mit Alban Berg, der seinen Und Pipa tanzt plante, eine Oper nach Texten von Gerhart Hauptmann erleben. Wie sein Schüler und langjähriger Freund, der Dirigent und Komponist Manuel Rosenthal, erwähnt, während Musik aus der Versunkenen Glocke in Ravels Gartenszenen seiner späteren Oper L’enfant et les sortilèges integriert wurde, ist es vorstellbar, dass zumindest das Vorspiel zu L’heure espagnole aus dem Sandmann stammt. Im Jahr 1907, Ravel war an der Komposition der Versunkenen Glocke, erkrankte sein Va- ter ernsthaft. Da seinerzeit die größte Anerkennung für einen Komponisten eine Opern- aufführung darstellte, dieses Projekt jedoch noch viel Zeit beanspruchen würde, soll Ravel sich entschieden haben, die Arbeit zugunsten einer kürzeren und unterhaltsameren Oper zu unterbrechen, damit sein Vater sie noch erleben könne. In diesem Punkt kam laut Rosenthal Louise Cruppi, geb. Crémieux ins Spiel. Selbst Musikerin, Freundin der berühm- ten Pianistin und Ravel-Interpretin Marguerite Long, verheiratet mit Jean Cruppi, damals Minister für Öffentliche Bildung, empfahl sie Ravel, das Schauspiel L’heure espagnole von Maurice Étienne Legrand alias Franc-Nohain im Théâtre de l’Odéon zu besuchen. Ravel sah - laut Rosenthal - im Stück eine Miniaturdarstellung der Gesellschaft, in der Figur des schwärmerischen Gonzalve eine Ähnlichkeit zu sich selbst in seiner Jugendzeit, zudem ihn die Frivolität des Themas begeisterte. Er komponierte die Oper sehr schnell, jedoch ohne dass sein Vater sie noch erleben durfte. Er starb 1908, die Oper war zwar fertig komponiert, gelangte jedoch wegen des „unmoralischen“ Themas nicht zur Aufführung. Mehrere Berichte in Ravels Briefen bezeugen die Doppelmoral, die eine Aufführung hin- derte. Ravel blieb aber nicht tatenlos. Er ließ den Klavierauszug veröffentlichen, während er noch an der Orchestrierung arbeitete, und in mehreren Salons wurden Ausschnitte oder auch das ganze Stück mit Ravel am Klavier und Louise Cruppi als Concepcion als Privataufführung dargeboten. 31 Der Durchbruch gelang aber erst 1911, als Jean Cruppi Außenminister wurde und Louise ihren Einfluss erfolgreich an der Opéra-Comique ausüben konnte. Am 19. Mai 1911 wurde die Oper endlich ur-aufgeführt, mit einer illustren Besetzung: u.a. in der Rolle der Concepcion die große Geneviève Vix, Jean Périer, der erste Pélleas von Debussy, als Ramiro (Périer war nebenbei auch ein wichtiger Filmschauspieler). Regie führ- te der Direktor der Opéra-Comique Albert Carré, der auch die Uraufführung von Pélleas et Mélisande inszenierte. Nur wenige Aufführungen durfte die Oper erleben, die der Pornographie bezichtigt wurde. Ravel war bei der Premiere am Boden zerstört, weil sein Schneider den blauen Samtanzug nicht rechtzeitig liefern konnte.

Errico Fresis EINSAMKEIT - VERZWEIFLUNG - ENTFREMDUNG Drei Opern als Sinnbild der Krise des modernen Menschen

Drei französische Komponisten stellen Frauen in den Mittelpunkt von Operneinaktern. „Trois femmes“ - drei Frauen, die auf den ersten Blick so wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, dass sie mehr zwangsverheiratet als wahlverwandt wirken, wenn man sie an einem Abend gemeinsam aufführt. Stilistisch völlig verschieden, geben sie auch inhaltlich ein uneinheitliches, widersprüch- liches Bild ab. Zu andersartig erscheinen die Charaktere, zu ambivalent die Haltung der Autoren ihren Schicksalen gegenüber, als dass man eine eindeutige Sicht auf die Rolle der Frau erkennen könnte. Die Opern können kein ernsthafter, kritischer Beitrag zur Frage der Emanzipation sein. Der Abend Trois femmes wird nicht dazu taugen können, die Lage der Frau in der Gesellschaft zu bestimmen - weder zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erst recht nicht heute. Es muss um etwas anderes gehen.

Eine so willenlos und wenig emanzipiert erscheinende Frau wie Angélique, die hinnimmt, dass sie von ihrem eigenen Ehemann zum Verkauf angeboten wird, war in dieser Hin- sicht sicher schon bei der Uraufführung von Iberts Oper 1927 schwer erträglich. Heute erscheint sie geradezu fremd und unrealistisch. Da könnte die Spanierin Concepcion in L‘heure espagnole schon eher als kämpferisches Vorbild für ein selbstbestimmtes Leben stehen. Immerhin erregte diese Figur bei der Ur- aufführung der Oper 1911 die Gemüter derart, dass das Stück nach drei Vorstellungen abgesetzt werden musste, weil man eine bürgerlich verheiratete Frau, die sich derart das Recht auf eine eigene und freizügige Sexualität nimmt, nicht ertragen mochte. Aber auch bei ihr bleiben heute Fragezeichen. Denn letztendlich ist Concepcion als Verführerin er- folglos und wirkt wie eine verhinderte Carmen. Und auch die unbekannte Frau in La voix humaine, die anfangs wie das weggeworfe- ne Opfer eines Mannes wirkt, der nicht lieben kann, entpuppt sich im Laufe des Stücks immer mehr als Täterin, als zweifelhaftes Vorbild. Da geht es nicht mehr um Fragen von männlich oder weiblich, sondern um Selbstzerstörung und Lebenslügen in der Liebe.

Die „Trois femmes“ sind also keine Frauen-Vertreterinnen. Vielmehr sind sie Sprachrohre ihrer Autoren. Und durch sie werden sie zu Seismographen einer Befindlichkeit, eines Er- lebens, das weit über die Grenzen der Geschlechter hinaus geht. In ihnen werden Krisen und Fragen reflektiert, die die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts überfielen und die sie bis heute nicht losgelassen haben. Am deutlichsten wird dies vermutlich bei La voix humaine. Hoch persönliche Erfahrungen, sowohl von Jean Cocteau als auch von Francis Poulenc, sind in geradezu beklemmender Weise in diese Oper eingeflossen. Zwei Männer, die Männer lieben, spiegeln sich in einer 33 verzweifelten Frau. Ihr Festhalten an einer Affäre, die nie eine wirkliche Liebesbeziehung sein konnte, die geradezu hörige Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit ihres Geliebten, der entsetzliche Selbstbetrug, den sie offenbar jahrelang praktiziert hat, die Unfähigkeit loszulassen, was längst vorbei ist - das alles haben Cocteau und Poulenc so oder ähnlich erlebt und gelebt. Der Einblick, den sie dem Zuschauer und Zuhörer in ihr Seelenleben geben, ist erstaunlich offen und tief. Und dennoch ist La voix humaine weit mehr als nur ein persönliches Drama oder das Aufarbeiten verlorener Liebesbeziehungen. Der exemplarische Umgang der Autoren mit dem Telefon verweist auf ein größeres Phä- nomen, auf die Problematik der modernen Kommunikationsmittel. Darauf, wie einsam diese machen und was für seelische Deformationen sie produzieren. Einerseits suggeriert das Telefon Nähe und Vertrautheit, geradezu intimen Kontakt. Der Fernsprecher ist ein Gewinn, ein Fortschritt. Aber das Telefon ermöglicht auch anderes. Es verführt zur Falsch- heit, wird zum Triebmittel der Täuschung und Lüge. Von erfundenen Angaben darüber, welche Kleidung sie trägt, bis zur Verleugnung ihres Selbstmordversuchs am Abend zuvor, täuscht die junge Frau ihrem Geliebten am Telefon ein ganz anderes Leben vor als das, was tatsächlich stattfindet. Lüge und Wahrheit vermischen sich in fataler Weise immer mehr zu einem undurchdringlichen Netz. Verzerrungen der Realität, auch in ihrem eige- nen Bewusstsein, sind die Folge. Hinzu kommt die soziale Kontrolle, die das Telefon der jungen Frau ermöglicht. Dinge, die sie eigentlich nichts mehr angehen sollten, werden ihr am Telefon zugetragen. Unnütze Informationen, die nur ihren Schmerz vergrößern und nicht ersetzen, was viel dringender nötig gewesen wäre: eine offene Aussprache. Der Mann am anderen Ende der Leitung, aber auch die junge Frau selbst können am Schluss der Oper Lüge und Wahrheit nicht mehr unterscheiden. Das Telefon entfremdet die Men- schen von einander und jeden einzelnen von sich selbst. Es macht die junge Frau zum sozialen Krüppel, zum Opfer ihrer Verstrickung in eine Lebenslüge. La voix humaine ist eine Oper über Einsamkeit. In unserer Aufführung benutzen wir das Telefon nur selten, das entscheidende Gespräch findet gar nicht statt. Es gerät ohne Partner am anderen Ende der Leitung zum Selbstge- spräch einer Vereinsamten.

Einen so persönlichen Einblick ins Seelenleben der Autoren sucht man in Angélique ver- gebens. Jacques Ibert und sein Textdichter Nino halten sich, so scheint es, distanzierter. Die katastrophale Schieflage in der Ehe Angéliques mit Boniface, die sie beschreiben, scheint nicht direkt auf persönlichen Erfahrungen zu beruhen. Soweit man weiß, waren die Autoren einigermaßen glücklich verheiratet und als Schwager einander auch familiär verbunden. Aber vielleicht ist die Ehekrise in dieser Oper auch mehr als Zeichen für etwas anderes zu verstehen. Denn offensichtlich geht es hier weniger um einen persönlichen Konflikt unter Partnern als um Rebellion gegen ein engstirniges und kleinbürgerliches Gesellschafts- system. 34 Es geht um die Wut und den Zorn einer Frau, der man die Luft zum Atmen nimmt, um den Kampf gegen Überregulierung und ständige soziale Kontrolle durch angeblich gute Nachbarn. Da spiegeln sich vermutlich persönliche Erfahrungen des stets als Einzelgänger beschriebenen Jacques Ibert wider. Da spürt man bis heute eine Verzweiflung angesichts absurd engstirniger Systeme, die voller Stolz als Zivilisation dargestellt werden, und die doch keine Rücksicht auf die Gefühle und Bedürfnisse des Einzelnen nehmen. Und vor allem spürt man die allmählich sterbende Hoffnung Angéliques auf eine bessere Zukunft. Selbst eine so kühne Aktion wie die, sich verkaufen zu lassen und damit zum Spielball des Schicksals zu machen, verändert nichts. Sie scheitert. Jacques Ibert und Angélique gelingt keine Revolution, keine Veränderung der Verhältnisse. Alles bleibt beim Alten. Und obwohl man erkennt, dass das System, in dem man lebt, falsch ist, lenkt man letztlich ein. Angéliques Ehe wird wieder hergestellt, soweit das nach dem angerichteten Total- schaden noch möglich ist. Es fehlt an einer Alternative, an einer Vision für etwas Neues. Also bleibt man tatenlos. Das ist grotesk. Und dennoch wahrhaftig. Folgerichtig komponiert Ibert Angélique als operettenhafte Farce, als schräges Stück hilfloser Verzweiflung und lustvoll albernen Musiktheaters. Klischees über Klischees reihen sich aneinander und umschreiben witzig und doch tragikomisch einen wahren Kern: dass es verdammt schwer ist, von sich selbst wegzukommen. In der schönen neuen Welt regiert das Gesetz der Masse. Für echte Indi- viduen gibt es keinen Platz. Individualismus und Perfektionismus waren auch stets Kennzeichen von Maurice Ravel. Sein Lebens- und Kompositionsstil waren beständiger Selbstoptimierung unterworfen, immer grenzend an Selbstbeschneidung. Ravel war nie verheiratet, lebte lange mit seiner Mutter, später mit seinem Bruder zusammen. Immer war er darauf bedacht, nach außen das Bild größter Klarheit und Eleganz abzugeben. Sauber, unanfechtbar, perfekt. Eine sich selbst fast aufgezwungen wirkende Rolle, die oft in krassem Widerspruch zu dem stand, was sich vermutlich in seinem Inneren abspielte. Persönliche Sehnsüchte und Leiden wies der erklärte Antiromantiker von sich. Vermutlich gab es sie - im Verborgenen. Manchmal brechen sie am Ende seiner Kompositionen hervor, zum Beispiel im berühmten Bolero: nach langen, minutiös geplanten und streng durchgeführten Formen bäumt sich am Ende aus dem Orchester ein finales Chaos auf, das seinesgleichen sucht, ein heftiges Hervorbrechen von Leidenschaft und Sinnlichkeit, immer in Nähe des Todes. Das ist wilde Leidenschaft. Und doch versucht der Komponist stets, die Kontrolle über sich und seine Musik zu bewahren. Kaum ein einziges schwächeres Werk ist von ihm bekannt. Alles, was nicht seinen eigenen höchsten Ansprüchen genügte, wurde vernichtet. L‘heure espagnole war seine erste Oper, aber der vierte Versuch, für das Musiktheater zu schreiben. Die anderen drei wurden auf halber Strecke abgebrochen und zerstört. Kann man den Menschen Ravel in der scheinbar harmlosen L‘heure espagnole- Geschichte wiederfinden? Spiegelt er, der nie in Spanien gewesen ist, obwohl seine Mutter aus dem Baskenland stammte, sich in den seltsamen Figuren wider, die da in einem dunklen Uhrengeschäft in der spanischen Provinz zusammenkommen? Es gibt zumindest viele interessante Parallelen: vom Komponisten Ravel, der Rhythmus und Zeiteinteilung bestimmt, zum Uhrmacher Torquemada, der wie besessen an den Zeit- messgeräten herumschraubt. Vom Maultiertreiber Ramiro, der Ravel in seiner Einfach- heit und Männlichkeit vermutlich imponierte, über den romantischen Träumer Gonzalve, den Ravel interessanterweise nicht parodiert, sondern ganz aufrichtig als weltverlorenen Künstler beschreibt, bis hin zur schönen Concepcion. Gerade in dieser Frau, die verzwei- felt versucht, wenigstens für eine Stunde feuriges und echtes Leben zu genießen, und der am Ende gar nichts gelingt, scheint etwas Persönliches von Ravel mitzuschwingen. Und doch geht es auch hier um mehr als um persönliche Nöte. Die Figuren bleiben - ganz bewusst - holzschnittartig, wirken wie Prototypen von Menschen, die es überall geben könnte: die sinnliche Frau, der vertrottelte Ehemann, der jugendliche Träumer, der arro- gante Geschäftsmann, der einfache Arbeiter. Sie tragen ihre Rollen, ihre Funktionen vor sich her. Und sie wissen nicht, wer sie sind, wenn sie nicht diese Rollen spielen würden. So, wie Ravel sich in seinem Perfektionismus selbst optimierte, um womöglich vor einer inneren Leere abzulenken oder diese zu verdecken, so halten auch die Figuren ihre Ver- haltensmuster, ihre Wesensart aufrecht, weil sie ohne diese halt- und hilflos wären. Sie begegnen einander, ohne zu sich selbst und echter Lebendigkeit durchzudringen. Alle sehnen sich nach einer heißen spanischen Stunde - aber groteske Widrigkeiten des Alltags, Zufälle und mangelnder Mut verhindern, dass ihr Leben anfängt, zu blühen. So irren sie durch den dunklen Uhrenladen, vor dessen Türen die spanische Hitze glüht. Gefangene eines rätselhaften, undurchdringlichen Endspiels. Das Ticken der Uhren, das Ravel dem Anfang der Oper voranstellt, ist nicht nur das Bild eines liebenswerten alten Ladens. Es steht auch für das Verrinnen der Lebenszeit, ist Todesahnung und Zeichen dafür, dass alle Spieler Teil einer größeren Mechanik sind. Ob diese ein Gott bestimmt, oder ob der Uhrmacher Torquemada der eigentliche Herrscher über Zeit, Leben und Tod ist, bleibt offen. Zumindest werden die Figuren sich ihrer eigenen Hilflosigkeit und ihrer mechanischen Rollenfunktion bewusst. Am Ende der L‘heure espagnole geht Ravel, dessen Oper die älteste der „Trois femmes“ ist, aber formal am weitesten in die Zukunft weist, den Weg in die Dekonstruktion. Er reißt seinen Figuren den Boden unter den Füßen weg. Die Masken fallen, das Spiel ist aus. In einem großartig geschriebenen Quintett suchen die Übrig- gebliebenen hilflos und desillusioniert nach ihren Rollen, nach ihrer Identität. Keiner fin- det sich mehr wieder. Moral und Auflösung der Geschichte: Fehlanzeige. Was bleibt, ist Verunsicherung.

Es sind die Krisen des modernen Menschen schlechthin, die sich in den drei Opern wider- spiegeln: gesellschaftliche, menschengemachte Prozesse, die mit Wucht auf den Einzel- nen treffen und ihn rat- und hilflos zurücklassen. 37 Die drei Frauen singen und erleben von den Erfahrungen ihrer männlichen Autoren, leben aus, was diese ersehnen und woran sie verzweifeln. Sie kämpfen nicht um Emanzipation, sondern schlicht um ihr Überleben - in Form von Komödie, Monodrama und seltsam ent- rücktem Endspiel.

Menschenmusiktheater - das für uns umso spannender wurde, je tiefer wir in die Stücke eindringen durften.

Frank Hilbrich Newsletter der Fakultät Darstellende Kunst Wenn Sie regelmäßig über Veranstaltungen der Fakultät Darstellende Kunst informiert werden möchten, haben Sie die Möglichkeit, unseren E-Mail-Newsletter zu abonnieren. Unser Newsletter erscheint zwei bis drei Mal im Semester und informiert über die Veranstaltungen der Studiengänge Gesang/Musiktheater, Schauspiel, Musical/Show, Bühnenbild, Kostümbild, Szenisches Schreiben und Theaterpädagogik/Darstellendes Spiel. Anmeldung online über www.udk-berlin.de/newsletterDK

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Impressum Universität der Künste Berlin, Herausgeber: Der Präsident Studiengang Gesang/Musiktheater, www.udk-berlin.de/studium/gesang-musiktheater Redaktion: Patrick Reu, Künstlerisches Betriebsbüro der Fakultät Darstellende Kunst, Fasanenstr. 1 B, 10623 Berlin Fotos Umschlag: Daniel Nartschick, Probenfotos: Christina Giakoumelou Kostümentwürfe: Alice Fassina und Maja Aurora Svartåker, Bühnenbildentwürfe: Seongji Jang Redaktionsschluss: 1. Juli 2018

39 UNI.T - Theater der UdK Berlin Fasanenstr. 1 B . Berlin-Charlottenburg www.udk-berlin.de/unit www.facebook.com/unit.udk www.instagram.com/uni.t_theater