Wende-Erinnerungen zum 3. Okt 2019 Ich bin 1969 in Stralsund geboren worden. Dort bin ich in einer bewusst christlichen Familie aufgewachsen. Meine Kindheit war wunderschön und zugleich von den Besonderheiten in der DDR geprägt. Da war zum Beispiel immer diese Spannung zwischen Anpassung und Widerstand. Meine Eltern ließen uns bei den Jung- und Thälmann-Pionieren mitmachen. Das waren die Kinderorganisationen des Systems, alles war ja organisiert. In der 7. Klasse aber beschloss ich, nicht in die Jugendorganisation (FDJ) einzutreten. Das sorgte unter meinen Lehrern für etwas Aufregung. Die Jugendweihe kam für mich und meine Familie ohnehin nicht in Frage. Ich wurde 1984 konfirmiert.

In der Klasse waren wir damals zwei Christen unter 30 Schülern. Unsere Entscheidung für die Konfirmation wurde manchmal vor der Klasse von einer Lehrerin thematisiert. Wir würden uns aus dem Klassenkollektiv ausschließen. Aber so sei das eben, manche sind religiös noch gebunden…

Als ich in der 9. Klasse mich weigerte ins Wehrlager, eine Woche vormilitärische Ausbildung mit Waffenübungen in einem Camp, zu fahren, machte ich eine Beobachtung. Zwei meiner Freunde, die das Wehrlager zunächst auch verweigerten, wurden aus dem Unterricht heraus zum Direktor zitiert. Ich habe nicht erfahren, was in dem Gespräch genau gelaufen ist. Auf jeden Fall nahmen beide ihre Entscheidung zurück und fuhren schließlich doch mit. Meine Entscheidung aber wurde nicht einmal angefragt. Das System agierte bewusst unberechenbar. Keiner konnte sagen: Wenn Du das tust, dann geschieht jenes. Freunde aus der Konfirmandengruppe z.B. erzählten, wie ihnen Kreuze in der Schule vom Hals gerissen wurden. Mir ist so etwas nie passiert.

Als Teenie hatte ich zusammen mit meinem älteren Bruder ein Hobby: Wir hatten eine eigene kleine Welt entworfen. Die Region Stralsund hatte in unserer Welt einen Unabhängigkeitsstatus von der DDR erworben, ähnlich wie Honkong. Stralsund hatte die Marktwirtschaft eingeführt und war durch Erdölfunde zu Reichtum gelangt. Nun malten wir Landkarten, Reiseführer und entwarfen ein besseres System. Es gab Reisefreiheit und Meinungsfreiheit. Die Stralsunder Fußball-Liga spielte Deutschland weit. Wenn ich mir heute die Hefte angucke staune ich über manche Naivität und freue mich andererseits über den jugendlichen Traum von einer Wende, der damals so weit weg erschien. Ich habe die Hefte 1985 meiner Lehrerin zu einem Schulwettbewerb eingereicht. Sie gab mir die Hefte freundlich zurück „Das lassen wir mal lieber. Das dürfen wir nicht zeigen.“

Später haben ein Freund, mein Bruder und ich Lieder geschrieben und kleine Liedermacherprogramme aufgeführt. Das war musikalisch und poetisch kein Hochgenuss. Aber im Rahmen der Kirche war das möglich. Wir gehörten zur JG (Jungen Gemeinde) einer der ersten Neubaukirchen in der DDR. Wenn wir zu unseren Liederprogrammen einluden, war die kleine Kirche gut gefüllt. Ich schreibe das, weil ich mich an eine Zeile aus einem unserer Lieder erinnere:

„Irgendwann pflanzt man an der Grenze Apfelbäume an, damit man unterwegs mal was Frisches essen kann. Irgendwann… Irgendwann werden wir es sehn, irgendwann wird es geschehn.“

Da war er wieder, der Traum, der unglaublich weit weg schien. 1987 glaubte kaum jemand daran, dass sich irgendetwas ändern würde. Es war die Zeit, in der immer mehr Menschen einen Ausreiseantrag stellten. Ein damaliger Freund und Chaot baute in Stralsund eine Umweltbibliothek auf.

Für mich war es die Zeit, in der sich unser Kantor in der Gemeinde mit den Juden in Stralsund beschäftigte. Die Reichspogromnacht jährte sich zum fünfzigsten Mal. Ich wurde für das Thema sensibel und in mir wuchs die Gewissheit, eines Tages nach Israel zu fahren. Auch dieser Traum stand im krassen Widerspruch zur realen Welt.

Nach der 10. Klasse habe ich kein Abitur gemacht. Das war nur wenigen vergönnt. Wer nicht in der FDJ war, die Jugendweihe abgelehnt hatte, hatte kaum Chancen. Ich habe das damals gern in Kauf genommen. Mich nervte die intellektuelle Arroganz und auch die Ignoranz gegenüber Missständen in der DDR. Die Loyalität zum DDR-System vieler von der Penne wurde immer wieder in Diskussionen in der JG deutlich. Es war mir z.B. unbegreiflich, wie EOS-ler (Oberschüler) behaupten konnten, dass es in der DDR keine Umweltverschmutzung gab. So wollte ich nicht geprägt werden.

Ich lernte also einen Beruf und wurde Drechsler. Im kleinen privaten Handwerksbetrieb wurde mein kritischer Blick auf mein Land geschärft. Ich habe keinen großen Widerstand geleistet. Ich wollte auch nie einen Ausreiseantrag stellen. Aber ich ließ mir die Meinung nicht verbieten, schrieb Eingaben, wenn mir Dinge aufstießen.

Mit 18 Jahren wurde man in der DDR gemustert. Es gab unter Christen die Diskussion, ob es ein größeres Zeugnis sei, den Dienst an der Waffe zu verweigern oder als Christ in der normalen Truppe in der NVA zu dienen. Einige Wenige verweigerten den Militärdienst total. Viele von ihnen wurden inhaftiert. Mein Ausbilder an der Berufsschule hatte mich damals zur Seite genommen und gebeten, keine Totalverweigerung zu machen. Für mich war das damals keine Frage gewesen. Aber die hatte sich wohl ein anderes Bild von mir gemacht. Bei der Musterung verweigerte ich den Dienst mit der Waffe und wurde als Bausoldat notiert. Man muss wissen, dass die DDR Bausoldaten duldete, gleichzeitig aber schikanierte. Während die Einberufung zum Militär normaler Weise mit 18, 19 Jahren erfolgte, ließ man Bausoldaten bis zum Ende der Frist mit 26(?) Jahren warten. Oft wurden sie eingezogen, wenn sie frisch verheiratet waren oder ein Kind bekommen hatten. Ich war bereit, das in Kauf zu nehmen.

Nur am Rande nahm ich damals wahr, dass mein Onkel im Zusammenhang mit dem Rosa- Luxemburg-Gedenken 1988 in Berlin seinen Ausreiseantrag genehmigt bekam und in den Westen auswanderte. Berichtet wurde über diese Ereignisse natürlich nicht. Und in Stralsund hatten wir auch keinen Empfang von Westfernsehen. Wir lebten – wie - im Tal der Ahnungslosen.

1988 entschied ich mich, mich für ein Theologiestudium zu bewerben. Eigentlich wollte ich erst einmal wissen, ob das ohne Abitur überhaupt möglich sei. Ich bekam aber von der Universität Greifswald gleich alle Bewerbungsunterlagen zu gesandt. Dazu gehörte auch die Einverständniserklärung des derzeitigen Arbeitgebers. Ich musste also meinem Meister von meinen Plänen erzählen. Er war enttäuscht und kündigte mir zum Sommer 1989 meinen Vertrag. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber noch gar keine Zusage für einen Studienplatz, weil ich dafür im Mai 1989 eine Sonderreifeprüfung an der Universität ablegen musste. Ich war also ab Sommer ohne Arbeit. Man muss sich erinnern, dass Arbeitslosigkeit in der DDR offiziell nicht existierte, nicht erwünscht war und als asozial galt.

Im Mai 1989 fanden in der DDR Wahlen statt. Der größte Protest bestand darin, nicht zur Wahl zu gehen. Ich ging nicht hin. Die Schönung der Ergebnisse durch die DDR-Regierung ließen den Widerstand aufflammen. Den nahmen aber nur Wenige überhaupt wahr.

Ebenfalls im Mai 1989 legte ich die Sonderreifeprüfung an der Uni in Greifswald ab und bekam einen Studienplatz für 1991 zugesagt. Vor Studienbeginn sollte ich, wie es üblich war, zur Armee. Also brauchte ich doch nicht bis 26 warten! Der Gedanke gefiel mir in dieser Hinsicht.

Seit Januar 1989 wuchsen die Demonstrationen in . In Stralsund war davon eigentlich nichts zu merken. Die geschlossene Grenze nach Polen bewegte uns im hohen Norden irgendwie nicht so sehr. Als wir aber im Juni 1989 die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens in der DDR-Presse verfolgten, wurde ich immer mehr alarmiert. Ich erinnere mich noch, wie ich einen Brief an das Neue Deutschland schrieb und mich über die Gewaltverharmlosung beschwerte.

Den Sommer 1989 verbrachte ich arbeitslos und bewarb mich um ein Praktikum in einer Kirchengemeinde in Dresden. Das Praktikum begann am 1. September und sollte zwei Monate dauern. Ich erinnere mich noch, dass ich von der angespannten Atmosphäre in der Stadt überrascht war. Als pommerscher Hinterwäldler war ich das nicht gewohnt. Die Ereignisse in der Prager Botschaft erlebte man hier mit Hochspannung. Und die spätere Schließung der Grenze zur ČSSR löste große Empörung aus. Ich nahm an den Demonstrationen teil. In meiner Praktikumsgemeinde gab es Friedensgebete und enge Verbindungen zum Runden Tisch. Ich erlebte den Ausnahmezustand, als die Züge aus Prag durch Dresden rollten, hautnah am Hauptbahnhof mit. Gute Bekannte wurden inhaftiert.

Als das Praktikum am 31. Oktober 1989 endete, lag der Einberufungsbefehl für den 2. November 1989 auf dem Tisch. Ein hoher Offizier hatte zu Hause vorbeigeschaut und darauf gedrängt, dass ich auch zum Termin erscheine. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nicht geglaubt, dass sich irgendetwas Entscheidendes in der DDR ändern würde. Ja, Erich Honnecker war zurückgetreten, einige sanfte Reformen schienen auf dem Weg. Aber was im Rückblick so naheliegt, war damals überhaupt nicht im Blick. Der Fall der Mauer schien mir am 2. November noch ein Traum aus einer anderen Welt.

Die vier Wochen, die ich anschließend in den Kasernen in Prora erlebt haben, sind ein extra Kapitel. Nur so viel: Gemeinsam mit fünf anderen Kameraden verweigerte ich mich, das Gelöbnis abzulegen, als Bausoldat treu der DDR zu dienen. Ich wollte dem Sozialismus nicht dienen. Man drohte uns mit drei Jahren Haft wegen Befehlsverweigerung. Am Ende ließ man uns aber einfach abtreten.

Ich erinnere mich noch, wie wir abends freiwillig die Aktuelle Kamera im Fernsehen verfolgten. Wir hatten Ausgangssperre. Am 9. November saßen alle wie gebannt vor dem Fernseher. Meine Berliner Kameraden widerholten immer wieder: „Wenn die mich hier rauslassen, bin ich weg.“ Drei Wochen später sollte es so kommen. Unsere Kompanie wurde aufgelöst bzw. auf das Land verteilt. Ich kam mit einigen Anderen nach Dresden. Wir arbeiteten in einem Pharma- und Medizintechnikvertrieb. Offiziell waren wir noch Bausoldaten. Aber die Uniformen brauchten wir nicht mehr zu tragen. Eines Nachmittags haben wir uns in Dresden auf die Prager Straße gestellt. Einer hatte eine Trompete dabei und hat ein Signal geblasen. Dann haben wir wie die Marktschreier gerufen: „Tragen Sie bei zur Entmilitarisierung unseres Landes! Kaufen Sie unsere Kragenbinden!“ Wir haben diese Teile für 20 Ost-Pfennig oder 1 DM verkauft. Es war ein Riesenspaß. Im Überschwang der Gefühle habe ich meinen Wehrdienstausweis genommen, Seiten rausgerissen mit einer Briefmarke versehen und als Postkarte versandt. Ein herrliches Gefühl!

Auf dem Weg von Dresden nach Stralsund musste ich in Berlin mit dem Zug umsteigen. Ich nutzte diesen Stopp für einen ersten Ausflug in den Westen. Ich erinnere mich noch, wie ich Anfang Dezember in Berlin Warschauer Straße ausstieg und in eine U-Bahn (oder war es eine S-Bahn?) Richtung Westen umsteigen wollte. Am Eingang zur U-Bahn standen DDR-Grenzer mit MP im Anschlag. Ich habe mich nicht über die Grenze getraut und bin umgekehrt. Dieses Gefühl wirkt heute so albern. Aber die Angst gehörte damals zum Lebensgefühl dazu. Im zweiten Anlauf, Mitte Dezember habe ich einen Übergang gefunden und Westberlin im Dunkeln besucht. Ich bin nur ein bisschen durch die Straßen geschlendert, habe meine 100 DM Begrüßungsgeld abgeholt und gleich am Bahnhof einen erstaunlich großen Teil davon in H-Milch und Kellog‘s Smacks umgesetzt.

Später wurde ich nach Stralsund in ein Altenheim versetzt. Ich war praktisch Zivi, theoretisch aber Bausoldat. Darum musste ich vor dem 3. Oktober 1990 auch entlassen werden. Denn die Bundeswehr hatte keinen Platz für Bausoldaten. Nach 11 Monaten stand ich also wieder auf der Straße und wusste nicht, was zu tun sei. Meinen Studienplatz hatte ich erst für 1991 und war ungewiss, ob die Zusage dafür überhaupt noch etwas wert war. Also wollte ich keine schlafenden Hunde wecken.

Ich entschloss mich, mich um ein Volontariat in Israel zu bemühen. Über eine Organisation irgendwo in Düsseldorf bekam ich sehr schnell ein Flugticket mit Rückflug in 6 Monaten und eine Telefonnummer von einem Heim für Menschen mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung in Israel zugesandt.

Anfang November 1990 fuhr ich also – abgesehen von meinen kurzen Berlin-Ausflügen - Mal in den Westen, um nach einem halben Tag in München nach Israel abzufliegen. Fast komplett ohne Sprachkenntnisse, mit 200 DM im Portemonnaie und einer Telefonnummer auf dem Zettel flog ich ab. Aber ich hatte eine große Neugier auf die Welt im Herzen. Die Zeit in Israel hat mich sehr geprägt. Auch das ist wieder eine eigene Erzählung wert. Soviel muss ich aber sagen: Ich habe Freiheit und Demokratie in Israel gelernt. Und in Israel hat man mir beigebracht, dass ich stolz sein kann, Deutscher zu sein ohne die schlimme Vergangenheit meines Landes zu leugnen.

Heute, 30 Jahre nach den Ereignissen von 1989 bin ich so dankbar für den friedlichen Umbruch. Mir konnte nichts Besseres geschehen. Diese mühsam errungene Freiheit dürfen wir niemals leichtfertig aufs Spiel setzen, weder durch scheinbar gute Ideologien noch durch dumpfes Protestgetue.

Torsten Kiefer