DAS JÜDISCHE KONSTANZ BLÜTEZEIT UND VERNICHTUNG

Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden 1862 waren jüdische Familien aus den alten „Judendörfern“ des Hegau in die größte Stadt am Bodensee gezogen. Als Einzel- händler trugen sie zum Aufstieg von Konstanz bei, wirkten in Vereinen mit und wurden in kommunale Ämter gewählt. 1933 endete der Traum vom Zusammenleben: Auch Konstanz erniedrigte und verfolgte die Juden, Nachbarn bereicherten sich während der „Arisierung“ am Eigentum ihrer Mit- bürger. Die nahe Schweiz wurde nur für wenige Flüchtlinge TOBIAS ENGELSING DAS JÜDISCHE KONSTANZ TOBIAS zum rettenden Ufer, das Land schottete sich gegen jüdische Flüchtlinge ab. Am 22. Oktober 1940 wurden die letzten Konstanzer Juden nach Gurs und von dort in die Vernich- tungslager deportiert. Heute existiert neues jüdisches Leben in Konstanz, doch die Vernichtung der einst blühenden jüdischen Gemeinschaft ist nicht vergessen.

ISBN 978-3-87800-072-3 TOBIAS ENGELSING DAS JÜDISCHE KONSTANZ BLÜTEZEIT UND VERNICHTUNG TOBIAS ENGELSING

„ ‚Man kann nicht allen helfen’, sagt der Eng- herzige und hilft DAS JÜDISCHE keinem. “ KONSTANZ MARIE VON EBNER-ESCHENBACH BLÜTEZEIT UND VERNICHTUNG (1830 – 1916)

Mit Beiträgen von Manfred Bosch, Lisa Foege und Birgit Lockheimer

„ Wer zu handeln versäumt, ist noch keineswegs frei von Schuld. Niemand erhält seine Reinheit durch Teil- nahmslosigkeit. “ SIEGFRIED LENZ (1926 – 2014), „ DER SCHULDLOSEN“ Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek 8 Das jüdische Konstanz - Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; Blütezeit und Vernichtung detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 12 Die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden ISBN 978-3-87800-072-3 16 „Wer Christ ist, stimme für Juden“: Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung Eine politische Debatte 1847 außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages Kriegsveteran und Optiker: Louis Frank unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro- verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 24 Endlich Bürger: Das Gleichstellungsgesetz von 1862 Tuchhändler und Bankier: Ludwig Neuburger Ein Multitalent am Theater: Adolf Oppenheim

40 Engagement in der Kommunalpolitik Arzt in Uniform: Dr. Daniel Guggenheim Erschienen anlässlich der Sonderausstellung zur Erinnerung an die vor 75 Jahren am 22. Oktober 1940 erfolgte Deportation der badischen Juden in das Internierungslager Gurs. 50 Heimat der Deutschen: Der Verein Schauspielerin in der Provinz: Gertrud Löb © Südverlag GmbH, Konstanz 2015 Ein Allroundtalent des Volkstheaters: Berty Friesländer-Bloch Herausgeber: Tobias Engelsing für das Rosgartenmuseum Konstanz 1. Auflage, Juli 2015 65 „Liegen wir im Feuer“: Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg Autor: Tobias Engelsing, mit Beiträgen von Manfred Bosch, Lisa Foege und Birgit Lockheimer Katalogredaktion: Annette Güthner (Südverlag), Lisa Foege 70 Eine liberale Gemeinde: Das religiöse Leben Mitarbeit bei Archivrecherchen: stud. phil. Lukas-Daniel Barwitzki, stud. phil. Daniela Palästina und die Mainau: Theodor Herzl am Bodensee Schilhab Gestaltung: bbv, Siegrun Nuber, Konstanz 79 Erste Vorzeichen: Antisemitismus in der Region Umschlagabbildungen: © Titel: Nachlass Veit/Hornung, Rückseite: Rosgartenmuseum Abbildungen: s. Bildnachweis im Anhang Eine überzeugte Zionistin: Thekla Meinrath Scans: Ursula Benkoe Der Chronist des Landjudentums: Jacob Picard Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm 89 Geschäftsboykott und Badeverbote: Antijüdische Südverlag GmbH Maßnahmen ab 1933 Schützenstr. 24, 78462 Konstanz Gefördert von Der jüdische Metzger: Simon Levinger Tel. 07531-9053-0, Fax: 07531-9053-98 Das Mädchenpensionat der Schwestern Wieler www.suedverlag.de 111 Der große Raub: Die Arisierung 260 Anmerkungen

135 „Wer konnte, ging fort!“: Die Emigration 264 Namensliste der deportierten jüdischen Bürger Emigration in Etappen: Familie Löwenstein 266 Literaturhinweise 144 Die rettende Schweiz? 268 Bildnachweise Aus „Überfremdungsgründen“ abgelehnt: Das lange Ringen der Familie Hilb um eine neue Heimat 270 Die Autoren

163 „Die Bude muss weg!“: Die Zerstörung der Synagoge im 271 Danksagung November 1938 Der Dank des Vaterlands: Siegfried Rothschild Zweimal verfolgt: Familie Thanhauser

174 Das Schweigen der Kirchen

181 Mercedes-Benz-Niederlassung oder Spielplatz?

185 In der „Hölle von Gurs“ „Ich könnte sie nicht alleine lassen“ - Leopold Spiegel Eine fürsorgliche Tochter: Johanna Hammel

201 Jüdisches Leben in Konstanz nach 1945 Ein Kochgeschirr mit Schmuck: Sigmund Nissenbaum

217 Der Bodenseeraum als Refugium für Täter

223 Die „Wiedergutmachung“ Keine Träne zum Abschied: Anne Fürst

241 Zum Umgang mit der Erinnerung Unsentimental und humorvoll: Hannelore König DAS JÜDISCHE KONSTANZ BLÜTEZEIT UND VERNICHTUNG

Tobias Engelsing

Es waren Jahre des Aufbruchs und rosiger Zukunftsperspek- nen beleuchteten sie. Bereits 1847 hatte die tiven für die größte Stadt am Bodensee: 1863 erhielt Konstanz endlich württembergische Eisenbahn den Boden- den seit langem diskutierten Anschluss an die zwischen Waldshut see erreicht. Mit den Dampfschiffen kamen und Konstanz verlaufende „Hochrheinbahn“ und damit Verbindung erstmals auch Sommergäste von Friedrichs- zum überregionalen deutsch-schweizerischen Eisenbahnnetz. Nach hafen und Romanshorn her über den See mehr als einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen und gesellschaftli- gefahren, um die alte Reichsstadt und ihre chen Stillstands und der politisch repressiven Stimmung seit der ge- Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Inner-

Der 1863 eröffnete scheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49 schien sich die rund halb eines Jahrzehnts vervielfachte sich die Hauptbahnhof 8000 Einwohner zählende Stadt unter dem Einfluss junger liberal ge- Zahl der Handelsgeschäfte, Gasthäuser und mit seinem markanten sinnter Köpfe vom mittelalterlichen Mief befreien zu wollen: Militä- Hotels sowie der Massengüter herstellenden Glockenturm in einer zeitgenössischen risch nutzlos gewordene Stadttore und Umfassungsmauern wurden Gewerbebetriebe. Aus der beengten und Darstellung. abgerissen, die Straßen der Innenstadt gepflastert, erste Gaslater- heruntergekommenen, nur mehr auf den lokalen Markt bezogenen Stadt wurde eine ansehnliche regionale, vom Einzelhandel geprägte Metropole, die auch zunehmend Gewerbe- und Industriebetriebe anziehen konnte.

Der Geist des Aufbruchs, der das noch relativ junge Großher- Ansicht des inneren zogtum Baden unter seinem neuen Großherzog Friedrich I. um 1860 Schottentores. Von erfasst hatte, löste auch in der bis dahin noch immer spätmittelal- über 30 Toren und Türmen der spätmittel- terlich geprägten Stadt mehrere Fortschrittsimpulse aus. Nach dem alterlichen Stadt- spektakulären Brand der hölzernen Rheinbrücke 1856 war beispiels- befestigung blieben weise eine Freiwillige Feuerwehr ins Leben gerufen worden. Deren bis etwa 1870 nur drei stehen, die anderen Initianten verstanden sich als mündige Bürger, die eine so wichti- wurden abgerissen ge Aufgabe wie den Brandschutz in die eigene Hand nehmen und oder als „Steinbruch“ neuzeitlich organisieren wollten. Mit der Notwendigkeit, eine neue verkauft. Brücke zu bauen, hatte auch die Eisenbahnfrage neuen Schwung bekommen. Damit verbunden waren Überlegungen zur städtebauli- chen Entwicklung. Düstere Patrizierhäuser sollten modernen Wohn- bauten weichen, sumpfiges Ufergelände aufgefüllt und für den Woh- nungsbau nutzbar gemacht werden. Mehrere Textilunternehmer weiteten ihre Produktion aus, und die örtliche Dampfschifffahrts- gesellschaft vergrößerte ihre Flotte. Zeitungsgründungen und regel- mäßig veranstaltete Bürgerabende schufen Foren für die öffentliche Meinung. Nach den Jahren der Unterdrückung jeder freiheitlichen Äußerung fanden kommunalpolitisch interessierte Bürger nun Zu-

8 9 Die Stadtsilhouette während der großen Veränderungen: Das mittelalterliche Kaufhaus (links) steht noch direkt am Wasser, doch der Münsterturm hat schon seinen neuen neogotischen Turmaufsatz. Um 1855. gang zu den bedeutsamen Angelegenheiten der Kommune und er- hielten Gelegenheit mitzureden. Ihre Stimmen zählten jedoch wenig, denn das geltende Wahlrecht begünstigte die begüterten Bürger. Im Bildungswesen und kulturell begann sich die Stadt der neuen Zeit zu öffnen: Eine höhere Töchterschule wurde gegründet, 1857 initiierte der ehemalige Bistumsverweser Heinrich Ignaz von Wessenberg ei- nen Kunstverein, und es fand sich eine Initiative zur Gründung eines Museums zusammen. Das halb verfallene Theater wurde renoviert. Durchziehende Wandertruppen belebten das Haus, indem sie neben seichten Schwänken auch Stücke zeitgenössischer Autoren auf die Bühne brachten.

Die liberale Elite warb für ein neues Verständnis von Arbeit, für den technischen Fortschritt, für eine breitere, von den Kirchen losgelöste Bildung der Jugend, sie proklamierte Selbstverwaltung und bürgerliche Freiheiten. Ihre führenden Köpfe waren junge Ver- waltungsbeamte und alte Revolutionäre der Freiheitsbewegung von 1848: Zu nennen sind der spätere Bürgermeister Max Stromeyer, die Mediziner und Alt-48er Dr. Ernst Stitzenberger und Eduard Vanotti, der liberale Kaufmann Karl Zogelmann und der Bierbrauer Hermann Kempter. Zunehmend nationalbewusst, redeten diese liberalen Krei- se auch der Vereinigung der deutschen Länder in einem National- staat unter Preußens Führung das Wort. Der Fortschrittsgeist durch- drang das schon bestehende Vereinswesen und führte zu zahlreichen Neugründungen: Turner, Sänger, Jäger, Schützen schufen sich Platt- formen öffentlicher Wirksamkeit. Der freundschaftliche Austausch mit Vereinen in den anderen Bodensee-Anrainerstaaten war damals noch selbstverständlich. Gewerbevereine, Arbeiterbildungsvereine und die in dieser Zeit aufkommende Arbeiterbewegung bemühten sich, die unteren Bevölkerungsschichten für die eigenen politischen Ziele zu begeistern.

10 11 DIE „BÜRGERLICHE VERBESSERUNG“ DER JUDEN

Der liberale Zeitgeist der sogenannten „Neue Ära“ griff auch grafschaft Baden jedoch keinen ältere Forderungen der Judenemanzipation aus der Zeit der Aufklä- Beifall. Das anfangs vorbildge- rung wieder auf. Entsprechende verfassungsrechtliche Reformen des bende Österreich hatte seit 1781 österreichischen Kaisers Joseph II. hatten den badischen Markgra- viele die Juden betreffenden fen Karl Friedrich schon 1782 dazu angeregt, die Juden seines Herr- Sonderbestimmungen aufge- schaftsgebietes besser in die christliche Mehrheitsgesellschaft zu hoben, so den erniedrigenden integrieren. Er beauftragte seine Staatsverwaltung, die rechtlichen „Leibzoll“, der von Juden beim Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Juden vermehrt Hand- Betreten von Städten erhoben werksberufe erlernen konnten. Das theoretische Rüstzeug zu diesen wurde. Doch in den konserva- Emanzipationsideen war vom preußischen Kriegsrat Christian Wil- tiven badischen Kanzleien herrschte noch immer die Überzeugung, Ein Zollgardist durch- helm Dohm gekommen: Der hatte mit seinem richtungsweisenden man müsse den Staat vor den schädlichen Folgen der jüdischen sucht einen jüdischen Wanderhändler auf Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ die Emanzipati- „Landplage“ schützen. Doch als das revolutionäre Frankreich 1791 den unangemeldete Waren, onsdiskussion 1781 überhaupt erst angestoßen. Dohm hatte darge- Juden die Rechtsgleichheit gewährte, wachten auch die Badener auf. der Sohn des Händlers legt, dass „die Juden von Natur gleiche Fähigkeiten erhalten haben, Ein 1809 erlassenes „Constitutionsedict“ sollte jüdischen Badenern weint. glücklichere, bessere Menschen, nützlichere Glieder der Gesellschaft zu die Aufnahme in das kommunale Ortsbürgerrecht ermöglichen. Vo- werden; dass nur die unseres Zeitalters unwürdige Unterdrückung sie raussetzung war jedoch der Nachweis von Bildung und Vermögen. verderbt habe.“ Es sei eine Pflichtaufgabe „der aufgeklärten Politik“, Auch sollten die Aufnahmewilligen einen für die Stadt als „nützlich“ Der Kuhhandel: Zwei die Juden aus ihrer rechtlosen Existenz zu befreien und sie mit den erachteten Beruf ausüben. Volle Freizügigkeit gewährte der Markgraf jüdische Viehhändler gleichen Rechten auszustatten, die auch den übrigen Landeskindern allerdings nicht: Auch weiterhin war es Juden nicht möglich, ihren preisen einem Käufer 1 eine Kuh an. Zizen- zustehen. Neu daran war die Behauptung, der als beklagenswert Aufenthaltsort frei zu wählen. Damit waren sie an die engen Mög- hauser Terrakotta. beschriebene Zustand des armen Landjudentums sei eine Folge der lichkeiten ihres Geburtsorts gebunden, was die Chancen auf berufli- jahrhundertelangen Unterdrü- che Entwicklung und sozialen Aufstieg stark behinderte.2 ckung durch die äußeren Be- dingungen ihrer Existenz. Als mit den revolutionären Ereignissen 1830 auch in Baden Ganz im Geiste der Aufklärung die Zeit des vormärzlichen Liberalismus begann, kam frischer Wind forderte Dohm, man müsse nur in die Emanzipationsfrage. Der große Reformlandtag von 1831 verab- diese Bedingungen verändern, schiedete eine neue Gemeindeordnung und ein neues Bürgerrechts- dann würden sich die Juden in gesetz. Die Gemeindeordnung hob zwar den überkommenen Un- kurzer Zeit „bürgerlich verbes- terschied zwischen Ortsbürgern (Vollbürgern) und Schutzbürgern sern“ und zu nützlichen Mit- auf. Damit erhielten Bürger bisher zweiten Ranges auf kommunaler gliedern der modernen Gesell- Ebene die vollen politischen Rechte und Anspruch auf Teilhabe an schaft heranreifen. kommunalen Versorgungsleistungen wie Allmendnutzung, Bürger- holz oder Armenunterstützung. Aber die Juden wurden wieder von Die Forderung nach recht- der Gleichberechtigung ausgenommen. So blieben sie minderberech- licher Gleichstellung der Juden tigte Schutzbürger, Einwohner zweiter Klasse. Zugleich beschränkte mit den übrigen Staatsbürgern die neue badische Gemeindeordnung die Wählbarkeit in kommunale fand in der damaligen Mark- Ämter auf christliche Bewerber.

12 13 tätig gewesen, bevor nem Hinterhaus an der Hussenstraße produzierte Joseph Löwenstein sie in Romanshorn ei- Zigaretten. Die von Abraham und Emil Rothschild geführte Konser- nen Filialbetrieb der venfabrik Honsell fertigte Gemüsekonserven. Zulieferer waren Ge- Firma übernahmen müsebauern aus dem Stadtteil Paradies und von der Insel Reichenau. und sich dort bald In der Fischenzstraße 1 ließ der Unternehmer Alfred Kleinberger darauf mit einem Be- Taschentücher sticken. Kleinberger verkaufte sein Unternehmen trieb zur Herstellung 1936 an einen nicht-jüdischen Nachfolger, bei dem er bis zu seiner von Getreidesäcken Emigration weiterhin als Angestellter arbeiten konnte. Die Firma selbständig machten, weil Romanshorn bestand bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Zuletzt war dort einer der Haupteinfuhrhafen für Getreide in die Schweiz war. Nach der der letzten „Maschinenpantographen“ der Bundesrepublik in Betrieb: Rechts neben dem 1873 erfolgten Übersiedlung nach Konstanz stellte der Betrieb was- Wie zur Gründungszeit der Firma wurden an diesem mechanischen Pulverturm befand sich serdichte Wagen- und Pferdedecken her. Einige Jahre später schied Wunderwerk Taschentücher mit bunten Motiven bestickt.19 die 1876 von Emanuel Rothschild gegründete Julius Landauer aus, blieb aber als Leiter der „Handelsgenossen- Zigarrenfabrik. schaft“, einer Vorläuferin der späteren Industrie- und Handelskam- Alfred Kleinberger mit mer, weiterhin in Konstanz tätig. Der aus Worblingen zugezogene Ehefrau in der Pose Der erste jüdische des erfolgreichen Unter- Stadtrat: Der Fabrikant Unternehmer Emanuel Rothschild gründete 1876 im damaligen Ne- nehmers, um 1925. Emanuel Rothschild, bengebäude des Rheintorturms eine Zigarren- und Zigarettenfabrik. aufgenommen in voller Die Produkte fanden guten Absatz, sodass nach einigen Jahren schon Ordenspracht, um 1910. eine Filiale in Engen eröffnet werden konnte. Rothschild, eine mar- kante Persönlichkeit, wurde Vorsteher der Israelitischen Gemeinde und 1899 Stadtverordneter. Von 1904 bis zu seinem Tod 1912 war er der erste jüdische Stadtrat von Konstanz. Diesem Gremium oblag nach der damaligen Kommunalverfassung die exekutive Leitung der kommunalen Fachgebiete. Rothschild war also gewissermaßen ein ehrenamtlicher Amtsleiter, dem die zentralen Dezernate Finanzen, Verkehr und Arbeitswesen unterstanden.

Brauereiartikel stellte die Firma Hotz & Kemper her. Sie wur- de um die Jahrhundertwende von Samuel Schatz übernommen und erfolgreich weitergeführt. Schatz hatte in den Jahren zuvor ein Da- menkonfektionshaus betrieben. Nach dem Ersten Weltkrieg wid- mete sich die Firma der Herstellung von Bodenputzmitteln - als „Bodolin AG“ genoss das Unternehmen einen überregionalen Ruf. Am südlichen Rande der Altstadt, in der Raueneckgasse, bestand die von Moritz Rosenthal gegründete „Schweizer Lohnstickerei“, in der Ackertorgasse wurden bei „Aska“ Füllfederhalter hergestellt, am Fischmarkt wurden bei Nathan & Levi Schürzen genäht, und in ei-

36 37 einmal bekannte. Diese Treue der jüdischen Kundschaft hielt Acker- Kaufmann Moritz Neuburger, mann jedoch nicht davon ab, nach 1933 ein begeisterter Gefolgsmann im zweiten Bass der Optiker Ju- Hitlers zu werden.29 Der Bodensee-Geschichtsverein, die Konstanzer lius Falkenstein und im Sopran Freimaurerloge und andere bildungsbürgerliche Vereinigungen mit Margaretha und Therese Wie- eigenen kulturellen Angeboten hatten jüdische Mitglieder. Bildende ler sowie deren Mutter Marie Künstler der Bodenseeregion wie Ernst Württenberger, Adolf Die- Wieler. In den Reihen der pas- trich, Willi Münch-Khe, Kasia von Szadurska, Karl Einhart, Walter siven Mitglieder unterstützen Waentig, Eugen Segewitz, Hans Breinlinger und der später begeis- mehrere Mitglieder der Fami- terte Nationalsozialist Hugo Boeschenstein erhielten Aufträge aus lien Bloch, Guggenheim, Levinger, Lippmann, Rothschild, Schwarz, Ausflug ins Grüne: jüdischen Familien. Jahre später zur Emigration und zum übereilten Schwab, Spiegel, Thanhauser und Veit das anspruchsvolle musikali- Ein Konstanzer Verein, dem auch jüdische Verkauf von Wertgegenständen gezwungen, mussten sich die jüdi- sche und gesellige Programm dieser großen bürgerschaftlichen Kul- Mitglieder angehören, schen Familien auch von ihren regional geprägten Kunstsammlun- tureinrichtung, die unter dem Namen „Konstanzer Kammerchor“ bis auf Gebirgsfahrt mit gen trennen. Mancher nicht-jüdische Nachbar kam so günstig zu heute existiert.30 Cabrio-Bus. Um 1925. repräsentativen Werken der Bodensee-Malerei. Als passive Förderer betätigten sich jüdische Bürger auch in Eine lange Mitgliedstradition jüdischer Bürger findet sich in den beiden großen Fasnachtsgesellschaften, der „Elefanten AG“ und der Sängerrunde „Bodan“, die einst aus dem liberal-demokratischen der „Niederburg“. Allerdings tauchen in den Mitgliedslisten der ak- „Bürgermuseum“ hervorgegangen war. Um die Jahrhundertwende tiven Elfer- oder Neunerräte keine jüdischen Namen auf. Auch in sangen im ersten Bass der Volksschullehrer Siegmund Bloch und der vielen anderen Vereinen und Vereinigungen sind Spuren jüdischer Beteiligung kaum auszumachen, zumal nicht alle Vereine den Juden Jüdische „Fussball- ihre Reihen öffneten. In reichsweiter Perspektive waren antisemiti- damen“ mit Zylinder: sche Tendenzen vor allem bei Schützen, in studentischen Verbindun- Aufgenommen Silvester 1928/29. gen und bei Turnern früh auszumachen.

Die Studentenverbindung „Landsmannschaft Austria-Ger- mania“, eine von neun Verbindungen am damaligen Konstanzer Technikum (der heutigen Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung), fügte der Vereinssatzung 1927 einen „Arierparagraphen“ bei. Er lautete: „Aufgenommen können nur Studenten werden, die arischer Abstammung sind.“ Die durchaus republikanisch gesinnte Leitung der staatlichen Ingenieurschule verfolgte damals zwar das verbotene Mensurwesen der schlagenden Verbindungen, den Aus- schluss von Juden aus einer an der Schule angesiedelten Verbindung ließ sie jedoch unkommentiert. Diese Tatsache veranschaulicht, wie sehr völkisch-nationalistische Anschauungen die deutsche Gesell- schaft zu dieser Zeit bereits prägten.31

52 53 Gertrud Löb in mittleren Jahren.

Eine Postkarte an ihren Vater, nicht lange vor ihrer Verhaftung.

beschauliche, weitab von den großen Krisen dieser Zeit liegende Städtchen Konstanz als reine Idylle. An eine Freundin schrieb sie im September 1931: „Konstanz ist sehr schön, der Bodensee sieht beinah wie die Ostsee aus und vor ein paar Tagen habe ich zum ersten Mal den Säntis gesehen – ein richtiger Schweizer Schneeberg, der aber nur als Vorbote von Regenwetter über die nahen grünen Berge guckt.“ Itti, die Freundin, hatte Gertrud immer wegen ihres Lebens in beneidet. Nun schrieb sie aus der Provinz: „Du brauchst mich jetzt also nicht mehr um Berlin beneiden, hier gibt’s keine Elektrische, zwei Kinos und viele Tauben und Katzen.“ SCHAUSPIELERIN IN DER PROVINZ: Die künstlerisch erfolgreiche Zeit am Konstanzer Theater GERTRUD LÖB blieb Episode und zugleich das einzige feste Engagement, das Gertrud Löb je hatte. Anfang 1932 knüpfte sie Kontakte zur Berliner Theaterszene, wohin sie wechseln wollte. In einer Besprechung des Die Konstanzer Blätter bescheinigten der jungen Schau- „Konstanzer Volksblatts“ vom Januar 1932 heißt es: „Man wird von spielerin in ihren Kritiken „erfrischende Natürlichkeit“, manchmal dieser jungen begabten Schauspielerin noch reden, wenn sie einiger- auch „forsche Keckheit“, und sie lobten ihre „vorzügliche“ Darstellung maßen Glück hat.“ Dieses Glück blieb ihr jedoch versagt. Max Shakespearscher Verse. Dabei bewältigte die 28-jährige Juliana Reinhardt hatte sich für sie interessiert, doch der Beginn der national- Delboth in ihrer ersten Spielzeit am Stadttheater Konstanz im sozialistischen Herrschaft vereitelte alle Pläne. Gertrud Löb über- Herbst 1931 ein beträchtliches Spektrum: Sie spielte im „Biberpelz“ siedelte dennoch nach Berlin, wo sie mit einer Freundin zusammen- von Gerhart Hauptmann, in der Komödie „Der Brotverdiener“ lebte und, nach dem Verlust der Berufsmöglichkeiten, im jüdischen von William Summerset Maugham, in Shakespeares „Sommernachts- Kinderhort der dortigen Gemeinde arbeitete. Gertruds Mutter traum“, im Anti-Kriegsstück „Der Mann, den sein Gewissen trieb“ Agnes zog zu einer ihrer vier Töchter nach Holland. Von dort aus von Maurice Rostand und in einigen weiteren Inszenierungen zum versuchte sie, Gertrud aus Deutschland herauszuholen. Der Kriegs- Teil tragende Rollen. beginn ließ diese Versuche scheitern. Gertruds jüngste Schwester Dora, eine begabte Geigerin, war schon nach Palästina emigriert, Im bürgerlichen Leben hieß die junge, an den Bodensee ver- kehrte jedoch noch einmal nach Deutschland zurück, geriet in die pflichtete Schauspielerin Gertrud Löb. Ihr Vater Walther Löb war Fänge der und wurde 1941 deportiert. Im Frühsommer Professor an der Berliner Universität und Leiter der chemischen Ab- 1942 sollte sich auch Gertrud Löb zu einem der Transporte in den teilung des dortigen Virchow-Krankenhauses gewesen. Ihre Mutter Osten melden. In dieser Situation unternahm sie mit Hilfe einer Agnes stammte aus einer alten jüdischen Kölner Familie. Nach dem dubiosen Hilfsorganisation einen Fluchtversuch Besuch des von Paul Geheeb gegründeten reformpädagogischen in die Schweiz. In Offenburg wurde sie aus dem Internats Odenwaldschule, hatte sich Gertrud zur Schauspielerin Zug heraus von der Gestapo verhaftet, offenbar ausbilden lassen. Zur Spielzeit 1931 war sie nach Konstanz ver- war das Vorhaben verraten worden. Im Sommer pflichtet worden. Die in Berlin aufgewachsene, als unangepasste, 1942 wurde Gertrud Löb nach Minsk deportiert eigenständige Persönlichkeit beschriebene junge Frau erlebte das und dort ermordet. TE

5454 55 Mehrere jüdische Familien gehörten dem Yachtclub Konstanz an, hier eine Freundin der Familie Schriesheimer mit ihrer Tochter.

Die Konstanzer Sportvereine erwiesen sich weniger antise- mitisch als vergleichbare Vereine andernorts: In drei Turnvereinen, mehreren Fußball- und Radfahrervereinen, im Arbeiterturnverein „Bahnfrei“, bei der örtlichen Lebensrettungsgesellschaft, die sich der Wasserrettung auf dem Bodensee widmete und selbst im 1909 gegründeten vornehmen Yachtclub Konstanz engagierten sich bis zu Beginn der NS-Zeit auch jüdische Mitglieder. Das ist eher unge- wöhnlich, schlossen zur selben Zeit doch einige deutsche Yachtclubs Juden von der Aufnahme aus. Selbst in der Konstanzer Sektion des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins, der vor allem in Österreich schon um die Jahrhundertwende jüdische Mitglieder ausschloss, wanderten mehrere jüdische Honoratioren aus Konstanz und von der Höri mit und unterstützten den Verein finanziell.

Bürgerliche Familien, Der 1885 nach englischem Vorbild gegründete Ruderclub hier das Ehepaar „Neptun“ verstand sich als ausgesprochener Honoratiorenclub: Bis Veit, ließen sich zur Erinnerung vom Profi 1919 waren Arbeiter und Handwerker von der Aufnahme ausgeschlos- fotografieren, wenn sen. Die Sport treibenden Mitglieder sollten über die zum Training sie in einem originellen nötige Zeit jederzeit selbst verfügen können. Auch nach dem Ende Kostüm einen der zahlreichen Fasnachts- der Monarchie führte der Club in seinem Wimpel die alten kaiser- bälle besuchten. lichen Farben Schwarz-Weiß-Rot weiter. Um die Jahrhundertwende

56 57 gehörten die Herren Dreyfus, Levi, Picard, Rothschild, Seligmann Das erste Bootshaus 32 des Ruderclubs Neptun, und Wieler zum Kreis der Fördermitglieder des „Neptun“. Mitte damals wie heute am der 1920er-Jahre wurde der Konstanzer Ruderclub jedoch von einem Rheinufer direkt neben rassisch-völkisch grundierten Antisemitismus erfasst. Dies geschah der alten Rheinbrücke gelegen. vermutlich unter dem Einfluss der 1924 gegründeten NSDAP-Orts- gruppe, die eine eigene, dem Deutschen Ruderverband beigetrete- Ruderregatta in der ne Ruderergruppe ins Leben gerufen hatte. Einige Mitglieder dieser Ein Purimsumzug, die Konstanzer Bucht. Auf- Gruppe gehörten auch dem „Neptun“ an. Das sozialdemokratische jüdische Version der nahme aus der Zeit vor alemannischen dem Ersten Weltkrieg. „Konstanzer Volksblatt“ berichtete, dass „einige stramm deutsch-völ- Fasnacht, in Gailingen, kische und nationalsozialistische Mitglieder“ aufgenommen 1909. Angriffe gegen die jüdischen Mitglieder ge- startet hätten. „Ob die Hakenkreuzlerei des Vorsitz des Rudervereins, der neue Konstanzer Bürgermeister Leo- Neptun diesem zum Vorteil reicht, wird die pold Mager, ein radikaler Nationalsozialist, präsidierte den Yacht- Zukunft lehren“, schrieb das Blatt.33 club. Eine neue Satzung bestimmte nun für alle Vereine, dass Juden nicht aufgenommen werden durften. Das Vereinsleben beider Verei- Die weitere Geschichte von „Nep- ne wurde den Zwecken der Wehrertüchtigung der Jugend unterwor- tun“ und Yachtclub verlief systemkonform: fen und stark ideologisiert. 1933 übernahm der damalige Kreisleiter der NSDAP, Eugen Speer, vorübergehend den Ein weiteres Beispiel für die allmähliche Spaltung und Ideolo- gisierung einer gemeinnützigen Institution ist die Konstanzer Grup- pe des „Wandervogel“. Wie Erich Bloch in seinen von Werner Trapp aufgezeichneten Lebenserinnerungen anschaulich schildert, ging die hiesige Initiative, eine Wandergruppe nach Berliner Vorbild ins Le- ben zu rufen, von einem jüdischen Schüler der Oberrealschule (heu- tiges Humboldt-Gymnasium) aus. Der Junge hatte zuvor das Gymna- sium in Berlin-Steglitz besucht. Dort lagen 1896 die Anfänge einer Bewegung, in der sich Elemente der Lebensreform, Vaterlands- und Naturliebe, völkischer Besinnung und allmenschlicher Versöhnung mischten. Auch in Konstanz war die Initiative weniger eine Jugend- revolte gegen die verknöcherten Konventionen der wilhelminischen Gesellschaft, als vielmehr eine von reformbereiten Lehrern getrage- ne bildungsbürgerliche Erneuerungsbewegung.34 Unter der Regie des damaligen Leiters des Konstanzer Standesamts Eisinger und des in Meersburg tätigen Junglehrers Alfred Jauch unternahmen nicht-jü- dische und jüdische Jungen und Mädchen der Konstanzer Oberschu- len ab 1909 gemeinsame Fahrten auf den Bodanrück, zur Höri und in den Hegau. Es wurde gemeinsam über dem Lagerfeuer gekocht,

58 59 Berty Friesländer-Bloch EIN ALLROUNDTALENT während eines Solo-Auftritts, Ende DES VOLKSTHEATERS: der 1920er-Jahre. BERTY FRIESLÄNDER-BLOCH

Von den vier jüdischen Landgemeinden Gailingen, Randegg, galt Blochs Interesse jüdischen Wangen und Worblingen hatte Gailingen den größten jüdischen Themen und dem Einbruch des Bevölkerungsanteil; um 1850 überwog er den christlichen sogar Zeitgeists in die ehemals fest- knapp. Das Ortsbereisungsprotokoll von 1894 wusste nicht viel von gefügte dörfliche Welt, wobei einem „gehässig und agitatorisch auftretenden Antisemitismus“ und immer ein gehöriges Stück konstatierte „konfessionellen Frieden“. Dies war über 1900 hinaus der Wehmut mitschwang. Nach Boden, auf dem die 1896 geborene Berty Bloch zur Autorin heran- 1933 nutzte Bloch ihre Theater- wuchs. Dabei mochte sich die soziale Sensibilität des Vaters, eines arbeit, die sie trotz Zensur Sozialdemokraten, mit dem musischen Ehrgeiz der aus Zürich eingriffen und Verboten noch stammenden Mutter vereinen, die längere Zeit in gelebt hatte. bis 1936 vor einem nunmehr In ihr besaß die Heranwachsende eine stolze Förderin ihrer rein jüdischen Publikum fort- häuslichen Auftritte mit selbst geschriebenen Programmen. setzen konnte, vorwiegend für die moralische Aufrichtung In den 1920er-Jahren arbeitete Berty Bloch zwar für eine Reihe der zunehmend bedrängten regionaler Zeitungen, denen sie neben Kulturberichten auch jüdischen Bevölkerung und die Erzählungen, Gedichte und Feuilletons anbot, doch ihr Traum von Bestärkung ihrer Identität. einer Existenz als Schauspielerin und Dichterin erfüllte sich nicht. Ihre engagierte Kulturarbeit Zu der ihr eigenen Form und Begabung fand sie indes mit einer Fülle dürfte in einer jüdischen dramatischer Arbeiten, für die sie im Gailinger „Musikalisch- Landgemeinde dieser Größe dramatischen Verein Juno“ sowie auf benachbarten Laienbühnen eine ziemlich singulär sein. große Liebhaberschaft gewann. In vielen Stücken und Lustspielen, Prologen und Sketchen, Humoresken und Couplets, bei denen sie sich 1933 – es war das Jahr u.a. an den Traditionen des Volkstheaters orientierte, griff sie ihrer Heirat mit dem Kauf- dörfliche Stoffe auf. Bei der Bühnenarbeit erwies sie sich als wahres mann Moses Friesländer – war Allroundtalent: „Ich inscenierte zu jüd. u. anderen Anläßen `Bunte der Plan einer gemeinsamen Bühnen´, m. eigenen Erzeugnißen, regiesierte alles alleine, entwarf Emigration nach Palästina an die Kostüme u. übernahm dabei auch selbst die mir bes. gut liegenden zu hohen Kautionsforderungen Rollen“. gescheitert. Friesländer-Bloch musste nun mit ansehen, Anschluss an literarische Entwicklung hat Bloch bei allem wie das liebevoll erinnerte Ehrgeiz nie gesucht; Richtschnur war ihr das Unterhaltungsbedürfnis Zusammenleben im Dorf mehr der Zuschauer, denen sie ihre Welt in teils trivialer, teils liebevoll- und mehr vergiftet wurde; ironischer Glossierung als „Deigeszerstäuber“ und „Grillenvertreiber“ antisemitische Angriffe und vorsetzte. Bemerkenswert sind ihre im jüdischen Milieu angesie- Schikanen richteten sich nun delten Stücke „En Donnerstagmorgen vor der Metzg“ und „In der auch gegen sie selbst. 1937 Rasierstube“, die mit der Verwendung westjiddischen Dialekts eine wurde Sohn Jules geboren und stark folkloristische und lokaltypische Note aufweisen. Zunehmend ihr Mann daraufhin unter dem

6262 6363 „LIEGEN WIR IM FEUER“: JÜDISCHE SOLDATEN IM ERSTEN WELTKRIEG

konstruierten Vorwand der „Rassenschande“ vorübergehend verhaf- Wie konnte ein jüdischer Mann seine Liebe zur Nation tet. 1940 wurde sie mit ihrer Familie in die Pyrenäenlager Gurs nachdrücklicher unter Beweis stellen als durch die Bereitschaft, und Rivesaltes deportiert, wo sie von ihrem Sohn getrennt wurde. im Krieg das eigene Leben einzusetzen? War Juden der Aufstieg ins In der tristen Lagersituation suchte sie wiederum durch kleine Offizierskorps auch verwehrt, so wollten sie, als das Vaterland rief, Aufführungen Zuversicht und Hoffnung zu verbreiten. 1941 erlag doch beweisen, dass sie gut deutsch dachten und mutig waren. Der ihr Mann den Lagerstrapazen; im Jahr darauf gelang ihr die Flucht badische Staat nahm den Opfermut seiner jüdischen Bürger gerne in die Schweiz. Dorthin konnte sie ihren Sohn zwar nachkommen an. So kämpften im Preußisch-Französischen Krieg von 1870/71 auch lassen, wiedergesehen hat sie ihn aufgrund ihres Status als mehrere Konstanzer Juden auf Seiten der mit Preußen verbündeten Internierte jedoch erst 1949. Badener mit. Nach Krieg und Reichsgründung wurden zahlreiche Kriegervereine ins Leben gerufen. Ihnen oblag die Verherrlichung Die über vier Jahrzehnte ihrer zweiten Lebenshälfte waren der Siege und der durch diesen Krieg herbeigeführten Gründung des geprägt von einem vielfältigen publizistischen Wirken im Sinne von Nationalstaats. Der Konstanzer Kriegerbund tat sich vor allem als Völkerverständigung und Frieden. Dazu gehörten Artikel in der Veranstalter patriotischer Feiern hervor: Am Jahrestag der Schlacht Ostschweizer und deutschen Bodenseepresse, Vorträge und Auftritte von Sedan (1. September 1870), zu den Geburtstagen des Kaisers und als Zeitzeugin, mit denen sie als unermüdliche Mahnerin ihre des Großherzogs, zu Fahnenweihen und Denkmaleinweihungen traumatisch erlebte Verfolgung bewältigte. Literarisch trat sie 1948 schmückten die Veteranen den Festplatz und traten in Gehrock und noch mit der „Gailinger Megille“ hervor, einer anekdotisch geprägten Ordensschmuck an. Um 1900 gehörten keinem anderen Konstanzer Chronik des ehemaligen Gemeindelebens, sowie mit einer Purims- Verein mehr Juden an als dem Kriegerbund. Im leitenden Ausschuss Dichtung. An die Stelle ihrer Theaterarbeit, für die sie in ihrem des Vereins arbeitete der unermüdliche Fabrikant und Stadtrat Ema- neuen Wohnort St. Gallen keine Gelegenheit mehr fand, trat nun ihre nuel Rotschild mit, der Optiker Louis Frank betreute die Vereinsbib- Beschäftigung mit dem Gailinger Westjiddisch. Als eine der letzten, liothek. Auch der Kaufmann Simon Guggenheim zählte zu den akti- die es lebensecht zu sprechen verstand, wurde sie zu einer „wert- vollen Informationsquelle“ (Florence Guggenheim-Grünberg) für die Der aus Konstanz „Lautbibliothek der deutschen Mundarten“. Ihre St. Galler Ein- stammende Feld- rabbiner Dr. Hermann bürgerung 1967 verband sie mit der Hoffnung, noch die Einführung Chone (Mitte) mit des Frauenstimmrechts zu erleben. 1993 verstarb Berty Friesländer- den später gefallenen Bloch in Gossau. Soldaten Alfred Ortlieb und Isac Picard. Manfred Bosch Rechts Herbert Picard und Bruno Rothschild.

6464 65 Jacob Picard während eines sommerlichen Aufenthalts in seinem Heimatdorf Wangen am Untersee, aufgenommen nach 1933.

lung „Wie ich Hölderlin entdeckte“ steht die traumatische Erfahrung einer Zurückweisung durch ein Mädchen. „Wir müssen unter uns bleiben, das ist uns bestimmt“, belehrt die Mutter daraufhin den Protagonisten der Erzählung. Und das nachwirkende Erlebnis eines Basler Zionistenkongresses, den er 1903 besucht hatte, gestaltete er in dem Gedicht „Paria“, das dunkle Bilder von prophetischer Kraft enthält: „Wenn sie es auch nicht offen zeigen Ich fühle doch das herbe Wort DER CHRONIST Und sehe fahle Totenreigen DES LANDJUDENTUMS: Aus schwarzen Nebeln aufwärts steigen JACOB PICARD Das treibt von manchem Fest mich fort“ Die zweite Strophe beginnt mit den ergreifenden Zeilen:

Jacob Picard wurde 1883 in dem alten Siedlungsort aleman- „Und hab´ doch auch ein heiss´ Verlangen nischer Juden, in Wangen am Untersee, geboren. Die Landschaft Nach Heimatfreude, Bruderhand ...“. und der „solide Bestand von Bräuchen“ seiner Heimat haben ihn über die jüdische Tradition und Religion hinaus für sein gesamtes Leben Dieses Gefühl des Ausgestoßenseins musste sich im geprägt, sodass er sich zum literarischen Chronisten des ober- Ersten Weltkrieg, an dem Picard vier Jahre lang teilnahm deutschen Landjudentums berufen fühlte. Dessen Besonderheit er- und in dem er zwei Brüder verlor, durch die von der kannte Picard in einem selbstbewussten, heimat- und glaubens- Heeresleitung veranlasste „Judenzählung“ noch verstär- treuen Eigendasein, das von der assimilationsbereiten Selbstaufgabe ken und in den entschiedenen Willen zur Mitwirkung jüdischer Existenz in den Städten unberührt geblieben war. Anders bei der Abwehr des Antisemitismus verwandeln. Nach als der Stadtjude, formulierte Picard 1937 angesichts existenzieller dem Krieg beteiligte sich Picard an der publizistischen Bedrohung durch die Rassenpolitik der Nationalsozialisten, habe Fehde gegen die auch am Bodensee offen zutage tretende sich der Landjude nie verleugnen müssen; ja, dieser habe seinen Judenfeindschaft – so etwa 1920 mit einem Beitrag über Respekt gerade aus der Tatsache bezogen, dass er sich als Jude „Die Judenfrage in Deutschland“ in der „Neuen Zürcher bekannte. Ein getaufter Jude hätte hier als verächtlich gegolten – Zeitung“ und in Jüdischen Organen wie der „CV-Zeitung“. bei den Juden wie bei den Christen gleichermaßen. Und als die Konstanzer jüdische Loge „U.O.B.B. Mak- kabi“ zu jüdischem Selbstbewusstsein und zum Kampf Impulse, die seine Haltung gegen die jüdische Selbstaufgabe gegen den Antisemitismus aufrief, da unterstützte ihr verstärkten, lassen sich bei Jacob Picard schon in seiner Jugend Mitgründer Picard dieses Anliegen. finden. Nach eigener Darstellung wurde ihm aus antisemitischem Ressentiment auf dem Konstanzer Gymnasium, das er seit dem Ein gutes Jahrzehnt später gehörte Picard selbst zehnten Lebensjahr besuchte, einmal der Klassenpreis für Geschichte zu den Opfern des nazistischen Antisemitismus. 1936 vorenthalten; und im Mittelpunkt seiner autobiografischen Erzäh- brachte er nach zwei voraufgegangenen Gedichtbänden

8686 8787 Doch das Gericht befand, der 1933 vereinbarte Kaufpreis sei noch frei verhandelt worden und angesichts des re- novierungsbedürftigen Zustands des Hauses angemes- sen gewesen. Ein verfolgungsbedingter Notverkauf habe nicht vorgelegen. Zu dieser Einschätzung gelangte das Gericht auch durch die Aussage eines als Zeugen gehör- ten Bauunternehmers, den die damaligen Käufer bereits 1933 zur Ermittlung des Immobilienwerts beigezogen hatten.74

Wie umfangreich und, aus Sicht der Nutznießer, er- Rosgartenstraße 18, folgreich die „schleichende“ Phase der „Arisierung“ von Grund- und erbaut von Buchdrucker Betriebsvermögen jüdischer Eigentümer in Konstanz war, zeigt ein Schwarz, einst auch Geschäftslokal der Blick auf die Zahlen: Zu Beginn der nationalsozialistischen Herr- Schuhhandlung Adler. schaft bestanden hier 46 eingetragene Firmen jüdischer Kaufleute oder Gewerbetreibender, 18 davon waren Einzelhandelsgeschäfte, Rechts: Der Rechts- anwalt Moritz Bloch mit vor allem der Textilbranche. Hinzu kamen einige Anwälte und Ärz- seiner Frau Adele und te, zwei Optiker, ein Architekt, ein Fahrradmechaniker und einige den Kindern Erich und Beschäftigte im Bildungs- und Verlagswesen. Es dauerte nur zwei Lorle. 1933 sah er sich gezwungen, sein Haus Jahre, bis fast die Hälfte der Geschäfte und Firmen jüdischer Inha- an der Schottenstraße ber verkauft oder liquidiert worden war. Unmittelbar vor dem No- aufzugeben. vember-Pogrom 1938 und den darauf folgenden zahlreichen Geset- zen und Verordnungen zur völligen „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ existierten noch neun der ursprünglich 46 Firmen und Geschäfte jüdischer Inhaber. Zahlen zu veräußertem Grundeigentum sind weitaus schwieriger zu gewinnen, weil bisher nicht systematisch ermittelt wurde, welche Wohnhäuser, Baugrund- stücke oder welches Grünland 1933 in Konstanz jüdischen Bürgern gehörten. Eine grobe Prüfung prominenter innerstädtischer Lagen zeigt jedoch, dass bis 1938 die meisten der Wohn- und Geschäftshäu- ser bislang jüdischer Eigner neue „arische“ Eigentümer bekommen hatten.75

Solange staatliche Instanzen an den Verkäufen nicht betei- ligt waren und noch kein systematischer staatlicher Druck auf die jüdischen Eigentümer oder Firmeninhaber ausgeübt wurde, konnten Verkaufssummen frei verhandelt werden, auch wenn der Verkauf nur

114 115 deshalb erfolgte, weil der jüdische Inhaber eines Unternehmens kei- emigrierte die Familie, 1940 wurde die Hypothek von der ne Zukunft mehr für seine Firma sah. So bescheinigten beispielswei- Sparkasse Konstanz abgelöst, das Geld auf ein Sperrkon- se einige Mitglieder der Familie Schatz als damalige Gesellschafter to gelegt und von dort nach der 1941 erfolgten Enteig- der „Bottina Schuhgesellschaft mbH“ dem Käufer Ernst König im nung der Juden durch den Reichsfiskus eingezogen. Rückerstattungsverfahren nach dem Krieg, man habe 1933 mit den vereinbarten 135 000 Goldmark einen völlig angemessenen Kaufpreis Nicht lange nach dem Verkauf 1936 eröffnete erhalten. Die Familie verzichtete ausdrücklich auf Nachforderungen. das von der nationalsozialistischen Propaganda wegen König betrieb das Unternehmen unter dem Namen „Schuh-König“ seiner niedrigen Preise zuvor noch so heftig bekämpf- noch lange nach dem Krieg weiter.76 te Warenhaus Klopstock unter dem neuen Pächter Kurt Schulz erneut die Pforten. In der „Bodensee Rundschau“ Im August 1936 verkaufte Lisbeth Klopstock, Inhaberin des erschien am 3. Oktober eine Anzeige: „Altes Kaufhaus – Der Schuhversand- gleichnamigen Warenhauses, die Liegenschaft, Firma und Waren- In neuer Hand!“ Einen menschlich dramatischen Aspekt bekam die- Die heute von einem handel „Bottina“ in der lager in der Rosgartenstraße 27 an den ehemaligen Berufsoffizier, ser Verkauf durch eine auswärtige Beteiligte: Die Jüdin Emmy Pinner Brillengeschäft Rosgartenstraße wurde gemietete Liegenschaft als eines der wenigen Hauptman a. D. Ulbo Kol. Der zahlte 15 000 Reichsmark, weitere aus Berlin, Inhaberin eines Pfandrechts an dieser Liegenschaft, bat Rosgartenstraße 12 Unternehmen 1933 60 000 Reichsmark blieben auf ausdrücklichen Wunsch der Verkäu- Anfang Juni 1939 dringend um Auszahlung ihres Anspruchs, weil sie war bis zur „Arisierung“ noch zu einem ferin als Hypothek auf dem Anwesen stehen – offenbar hoffte sie sonst nicht in der Lage wäre, ihre Abgaben an den Staat zu bezah- Sitz des Herren- angemessenen Preis konfektionsgeschäfts an nicht-jüdische noch auf bessere Zeiten. Den Preis hatte der Konstanzer Stadtbau- len. Sie plante, Ende Juni nach Kuba zu emigrieren. Ob Emmy Pinner „Wolf & Co“ Übernehmer verkauft. meister Kern gutachterlich ermittelt. Einige Zeit nach dem Verkauf Glück hatte, ist ungeklärt, die devisenrechtliche Genehmigung des Verkaufs jedenfalls ließ lange auf sich warten. Im Restitutionsver- fahren, das die Erben von Lisbeth Klopstock 1949 anstrengten, wur- de ein Vergleich geschlossen. Der damalige Käufer Ulbo Kol zahlte 5000 nach, weil der Firmenwert nicht berücksichtigt worden war. Die jüdischen Erben bescheinigten ihm daraufhin, dass sich die damaligen Verkaufsverhandlungen „in äußerst loyaler Weise abgespielt“ hätten und der Kaufpreis angemessen gewesen sei. Nach der Emigration hatte Kol sogar die Pflege des Klopstockschen Fami- liengrabs übernommen, damals eine mutige Geste der Verbunden- heit mit den Verfolgten.77

Ähnlich anerkennend äußerten sich Lina Adler und ihr Sohn Werner in einem Vergleich mit der Allgemeinen Katholischen Kir- chenkasse Freiburg: Diese hatte das Wohn- und Geschäftshaus der Kaufleute Adler in der Rosgartenstraße 14 relativ spät, bereits zur Zeit der staatlich gelenkten „Arisierung“, im Januar 1939 gekauft. Im Restitutionsverfahren nach dem Krieg erklärte sich die Kirche im Vergleichsweg bereit, 40 000 Deutsche Mark nachzubezahlen. Die Adlers erklärten im Gegenzug, die Käuferin habe sich ihnen gegen-

116 117 Deportation der badischen Juden und zur Beschlagnah- Großvater erbaute Gebäude zu verkaufen. Sie erzielte für das vier- me des zurückgelassenen Eigentums durch den Staat im geschossige Gebäude einen Kaufpreis von 55 000 Reichsmark – ein Oktober 1940 häuften sich bei der Industrie- und Han- Preis, der unter dem damaligen Verkehrswert eines großen Miets- delskammer Konstanz und bei anderen Stellen Anfra- und Geschäftshauses mitten in der Einkaufsstadt lag. Berta Weil ließ gen interessierter Investoren aus dem ganzen Reichsge- eine alte Grundschuld löschen, sie erhielt eine Anzahlung, und dar- biet. Im Januar 1939 fragte beispielsweise ein Dr. Peter, aufhin übertrug sie bereits das Eigentum an die beiden Käufer. Bald Rechtsberater der Deutschen Arbeitsfront in Konstanz, darauf richtete Osterwalder seine Praxis im Haus ein, bat jedoch um „alter Parteigenosse, juristisch und volkswirtschaftlich Aufschub der Zahlungen an das Notariat. Auch die Grunderwerbs- vorgebildet“, mit Kenntnissen in der chemisch-phar- steuer beglich er lange nicht und musste mehrfach gemahnt werden. mazeutischen Branche, im Weinhandel und im Ver- Ob er der früheren Eigentümerin den vollen Kaufpreis je bezahlt lagsgeschäft, bei der IHK an, ob sich in Konstanz und hat, musste auch in einer nach dem Krieg abgegebenen Stellung- Im Erdgeschoss des Das stattliche Haus Umgebung einige klein- oder mittelgewerbliche Unternehmen fän- nahme des Notariats offen bleiben. Berta Weil, deren Emigration in Turmhauses Rosgarten- Marktstätte 17 mit der den, „deren Arisierung noch zu vollziehen ist“. Aus dem württember- ein rettendes Land mehrfach gescheitert war, wurde am 22. Okto- straße 16 befand sich Hemdenmanufaktur gischen Ebingen meldete sich der 30-jährige Hellmut Link und ver- ber 1940 nach Gurs deportiert. Dort starb sie bereits sechs Wochen das 1938 „arisierte“ Casewitz wurde 1936 Herren- und Damen- „arisiert“. kündete, er habe die Absicht ein zu arisierendes Geschäft, bevorzugt später. 1956 versuchte ihre in Israel lebende Tochter Betty, Auskunft konfektionsgeschäft aus der Textilbranche, zu übernehmen, und er sei in der Lage, dafür über die damaligen Vorgänge zu erhalten. Ob sie eine Rückabwick- Spiegel & Wolf. 35 000 Reichsmark auszugeben.84 lung des Kaufes forderte oder im Zuge eines Wiedergutmachungsverfahrens entschädigt Mehr Erfolg als solche auswärtigen Interessenten, die als un- wurde, ist nach bisheriger Aktenlage noch liebsame Konkurrenz betrachtet wurden, hatten lokale Kaufinteres- ungeklärt. Die Erben der damaligen Käufer senten. Einige Beispiele: sind jedenfalls bis heute Eigentümer der schönen Immobilie in bester Innenstadt- Im Juli 1939 verkauften die bereits nach Madrid und Amster- lage.86 dam emigrierten Erben des Optikers Louis Frank das Familienan- wesen in der Kanzleistraße 19. Der Käufer Adolf Zimmermann aus Auch eines der größten Textilge- Konstanz übernahm eine alte Grundschuld, die auf dem Haus las- schäfte der Stadt, das seit 1909 bestehende tete. Das Haus war vermietet, es erbrachte einen Mietrohertrag von Konfektionshaus „Merkur“ am Bodanplatz 2 jährlich 3600 Reichsmark. Das 20-Fache dieses Werts durfte als da- ging als günstige Gelegenheit über den mals angemessener Verkehrswert einer Immobilie in dieser Lage an- Tisch: Nachdem die Gewerbeerträge der Fir- gesetzt werden. Der Käufer bezahlte jedoch nur 31 700 Reichsmark.85 ma von 31 800 Reichsmark im Jahr 1931 auf 11 100 Reichsmark im Jahr 1935 gesunken wa- Recht günstig kamen auch der Konstanzer Zahnarzt Oster- ren, sahen sich, wie das baden-württember- walder und ein Oberamtmann namens Vogel aus Hilpoltstein in Bay- gische Landesamt für Wiedergutmachung ern zum Geschäftshaus an der Marktstätte Nr. 17. Das linke der drei 1960 feststellte, Hermann Simon und seine in Formen des Jugendstils errichteten Wohn- und Geschäftshäuser Schwägerin Anna Simon „aus Verfolgungs- gehörte Berta Weil, geborene Casewitz. In der Mitte befand sich das gründen gezwungen“, das Geschäft aufzu- Hemdengeschäft Leib, rechts das Herrenkonfektionshaus Lippmann. geben und zu emigrieren. Im Oktober 1935 Im Dezember 1936 sah sich Frau Weil gezwungen, das 1913 von ihrem verkauften sie die Firma, die vor 1933 jährlich

122 123 diesem Fall war es die Stadt selbst, die sich das Land des Eigentümers Moritz Rothschild unter den Nagel riss. Später teilte sie die Fläche in Parzellen auf, die sie teilweise als Baugrundstücke weiterverkaufte. Auch Spekulanten wie der Pergamentdarmfabrikant Josef Müller aus dem westfälischen Wiedenbrück, der dem jüdischen Altstoffhändler Jakob Haymann ein großes Areal im Bereich der heutigen Hochschu- le für Technik, Wirtschaft und Gestaltung abgekauft hatte, erzielte damit Veräußerungsgewinne, indem er Teilflächen weiterverkaufte. So erwarb beispielsweise ein kriegsinvalider Rentner von Josef Mül- ler ein 5 Ar großes Stück Ackerland, das er einige Jahre später eben- Seltenes Alltagsrelikt falls mit Gewinn als Bauland weiterverkaufte. 1949 musste der Rent- jüdischen Lebens: ner 200 Deutsche Mark als Veräußerungsgewinn an die früheren Ein Mostkrug mit Eigentümer bezahlen. Den Erben der Familie Haymann dürfte das Davidstern, der die „Arisierung“ jüdischen Helmut Spring, der bis zu 450 000 Reichsmark Umsatz gemacht hatte, samt Warenlager Geld keine Freude bereitet haben, war doch eine der Töchter, Hilda, Eigentums im Hegau „Arisieur“ des Jahres und Inventar für 70 000 Reichsmark an den Kaufmann Max Bredl zusammen mit ihrem Ehemann in einem Vernichtungslager in Polen überdauerte. 1936, inmitten seiner 88 Mitarbeiter während aus Ravensburg. Der verkaufte das Unternehmen im Jahr darauf an vergast worden. einer Jubiläumsfeier in den damals 26-jährigen Konstanzer Kaufmann Helmut Spring, der der Nachkriegszeit. es weiterführte. Nach dem Krieg wurden ein Rückerstattungsver- Im Frühjahr 1938 setzte sich auf Reichsebene eine fahren und ein Wiedergutmachungsverfahren durchgeführt. Die neue Tendenz in der Verwertung jüdischen Eigentums erhaltenen Unterlagen des Wiedergutmachungsverfahrens von 1960, durch: Gewerbebetriebe und Einzelhandelsgeschäfte das die Erben der Simons von Montevideo, Uruguay und New York sollten zum Schutz bestehender Betriebe nicht mehr aus angestrengt hatten, geben keine Auskunft darüber, ob der da- auf jeden Fall in „arische“ Hände überführt werden. malige Kaufvertrag für nichtig erklärt oder ob nachbezahlt wurde. Die Prüfinstanzen sollten nun vermehrt feststellen, ob Der aus dem Krieg zurückgekehrte Spring eröffnete jedenfalls 1947 am Erhalt des Unternehmens ein volkswirtschaftliches ein Geschäft für Kindertextilien und ein Damenbekleidungshaus in Interesse bestehe oder wegen der Überbesetzung be- der Rosgartenstraße. Als er das Rentenalter erreicht hatte, verkauf- stimmter Branchen die Liquidation einer Firma vorzu- te Spring das Unternehmen 1974 an die Firma Bredl, von der er das ziehen sei. Einzelhändler, die sich seit 1933 durch Über- „arisierte“ Konfektionshaus „Merkur“ 1936 übernommen hatte. Der nahme unliebsamer jüdischer Konkurrenz bereichert einstige Nutznießer der „Arisierung“ war in den jungen Jahren der hatten, wurden nun auch in Konstanz zu Wortführern Bundesrepublik unter anderem als Gründungsmitglied und Förderer der Forderung, die „Arisierung“ abzuschließen. Als der des Konstanzer Reitclubs und als Mitbegründer des Lions-Clubs ein Konstanzer Filialbetrieb des „Kaufhauses Wohlwert“ geachteter Bürger der Stadt.87 im Mai 1938 zum Verkauf stand, meldete sich die Be- zirksuntergruppe Konstanz der Interessenvereinigung In „arische“ Hände wurden jedoch nicht nur wertvolle Innen- „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ zu Wort. In einem stadtgebäude und traditionsreiche Firmen überführt. Die Akten der Schreiben an Oberbürgermeister Albert Herrmann zuständigen Restitutionskammer weisen auch Fälle auf, wie jenen, stellten Geschäftsführer Roderich Brodman, Inhaber des in dem es um eine größere Ackerfläche im Gebiet Eichbühl ging. In Glas- und Porzellangeschäfts Wittmann, und der Vorsit-

124 125 DIE AUTOREN DANKSAGUNG

MANFRED BOSCH (GEB. 1947) Die Recherchen zu diesem Buch sowie die Drucklegung wurden Mitbegründer und bis 2008 Mitherausgeber der „Allmende“. Zahl- gefördert durch die folgenden Institutionen und Personen: reiche Darstellungen zu Literatur und Zeitgeschichte im deutschen Südwesten, u.a. „Bohème am Bodensee“ (1997), „Alemannisches Ju- dentum“ (2000), „Schwabenspiegel 1800-1950“ (2006; Mithg.) und „Oberrheingeschichten“ (2010). Herausgeber von Werken von Jacob Picard, Käthe Vordtriede, Tami Oelfken, Robert Reitzel und Kurt Badt. Bodenseeliteraturpreis der Stadt Überlingen 1998 und 1997.

TOBIAS ENGELSING (GEB. 1960) Dr. phil. Studium der Geschichte, Rechtswissenschaft und Politik an Dr. Dagmar Schmieder, Konstanz der Universität Konstanz. 1992 bis 2006 Redaktionsleiter bei der Ta- geszeitung „Südkurier“. Seit 2007 Direktor der Städtischen Museen Sparkasse Bodensee Konstanz. Lehrbeauftragter der Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte. Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte der Bo- Gesellschaft der Freunde und Förderer des Rosgartenmuseums e.V. densee-Region. Journalistische Tätigkeit u. a. für DIE ZEIT, verschie- dene Tageszeitungen und Fernsehsender. Familie Nissenbaum, Konstanz

Schwarz Außenwerbung, Konstanz LISA FOEGE (GEB. 1982) Dr. phil. Studium der Geschichte, Soziologie und Kunst- und Medi- enwissenschaften an der Universität Konstanz. 2007 Magisterarbeit zur Geschichte der Elektrizität in Konstanz. 2012 Promotion über das „Wessenbergheim“ in Konstanz. Anschließend Volontariat an den Städtischen Museen Konstanz, seit 2015 Kuratorin / Mitarbeiterin im Museumsmanagement am Rosgartenmuseum Konstanz.

BIRGIT LOCKHEIMER (GEB. 1959) Studium der Romanistik (Französisch und Spanisch) und Germanis- tik in Freiburg, Heidelberg und Poitiers. Verschiedene Lehrtätigkei- ten. Seit 1991 Verlagslektorin. Tätigkeit als Herausgeberin und Über- setzerin. Mitarbeit bei der Initiative „Stolpersteine Konstanz“.

270 271

„ Für die schreckliche Vergangenheit unseres Landes sind die Nachgeborenen nicht verantwortlich. Für den Umgang mit dieser Vergangenheit schon. “ NORBERT LAMMERT, PRÄSIDENT DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES, AM 27. JANUAR 2015 DAS JÜDISCHE KONSTANZ BLÜTEZEIT UND VERNICHTUNG

Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden 1862 waren jüdische Familien aus den alten „Judendörfern“ des Hegau in die größte Stadt am Bodensee gezogen. Als Einzel- händler trugen sie zum Aufstieg von Konstanz bei, wirkten in Vereinen mit und wurden in kommunale Ämter gewählt. 1933 endete der Traum vom Zusammenleben: Auch Konstanz erniedrigte und verfolgte die Juden, Nachbarn bereicherten sich während der „Arisierung“ am Eigentum ihrer Mit- bürger. Die nahe Schweiz wurde nur für wenige Flüchtlinge TOBIAS ENGELSING DAS JÜDISCHE KONSTANZ TOBIAS zum rettenden Ufer, das Land schottete sich gegen jüdische Flüchtlinge ab. Am 22. Oktober 1940 wurden die letzten Konstanzer Juden nach Gurs und von dort in die Vernich- tungslager deportiert. Heute existiert neues jüdisches Leben in Konstanz, doch die Vernichtung der einst blühenden jüdischen Gemeinschaft ist nicht vergessen.

ISBN 978-3-87800-072-3 TOBIAS ENGELSING