27. Jg. / Nr. 2 GESELLSCHAFT Juli 2020 MITTEILUNGEN Preis: 1,50 Euro

Lenins Staat Aus Anlass seines 150. Geburtstags Alfred J. N oll

enins Ausgangspunkt für die Freilich verband Lenin schon vor der eine Zeit, in der offen gekämpft wird, in Betrachtung von Staat und Recht Oktoberrevolution diese reformistischen der alle Phrasen und alle Versprechungen List offenkundig: „Der Gesichts - Forderungen mit der Forderung, dass sofort an Taten überprüft werden, in der punkt des Lebens, der Praxis muss der „die planmäßige Organisation des gesell - man das Volk mit Worten, Manifesten erste und grundlegende Gesichtspunkt schaftlichen Produktionsprozesses auf und Zusicherungen einer Verfassung hin - der Erkenntnistheorie sein“; nur so kön - Rechnung der gesamten Gesellschaft ters Licht führt und danach trachtet, seine nen „von vornherein die zahllosen [und] zur Sicherung der höchsten Wohl - Kräfte zu schwächen, seine Reihen zu Schrullen der Professorenscholastik bei - fahrt und der freien allseitigen Entwick - zersplittern, es zur Waffenstreckung zu seite“ geworfen werden (Lenin-Werke, lung aller Mitglieder der Gesellschaft er - bewegen“ (LW, Bd. 9, S. 463f.). Bd. 14, S. 137). Präsent ist uns, dass folgen muss“ (LW, Bd. 6, S. 40). Aber Was daraus am Vorabend der Revolu - Lenin zufolge der Staat immer (!) das natürlich wusste Lenin darum, dass „un - tion folgte, machte Lenin mit seiner Ab- Instrument der herrschenden Klasse ist; ter der Freiheit des ‚demokratischen‘ sage an jeden Rechtsreformismus und mit das sei im Kapitalismus so, und das sei Kapitalismus die ökonomischen Unter - der Betonung eines durch und durch dia - auch so im Sozialismus, denn vorläufig schiede nicht geringer (werden), sondern lektischen Verhältnisses von vorrevolu - und bis auf weiteres bedürfe auch die größer und tiefer. Der Parlamentarismus tionärem demokratischem Engagement sozialistische Gesellschaft eines Staats beseitigt nicht das Wesen der allerdemo - und revolutionärer Neuordnung deutlich: und eines von ihm gesetzten Rechts. 1 kratischsten bürgerlichen Republiken als „Der Kapitalismus und der Imperialismus Was aber heißt das? Spannend und er - Organe der Klassenunterdrückung, son - können durch keinerlei, auch nicht durch kenntnisreich ist der Versuch, Lenins dern enthüllt es“ (LW, Bd. 15, S. 25). die ‚idealsten‘ demokratischen Umgestal - staatstheoretische und staatspraktische Deshalb galt für Lenin bis zur Oktober - tungen, sondern nur durch eine ökonomi - Ansichten historisch einzuordnen. Dabei revolution immer die Losung: „Wir wer - sche Umwälzung beseitigt werden; ein ist es zweckmäßig, zwischen den drei fen die bürgerlich-demokratischen Proletariat aber, das nicht im Kampf für Etappen staatstheoretischen Denkens bei Losungen nicht über Bord, sondern die Demokratie erzogen wird, ist unfähig, Lenin zu differenzieren: Staat und Recht führen das Demokratische in ihnen kon - die ökonomische Umwälzung zu voll - hatten für Lenin unterschiedliche Bedeu - sequenter, vollständiger, entschiedener ziehen. Man kann den Kapitalismus nicht tung, je nachdem er sie sich vor der durch“ (LW, Bd. 39, S. 773). besiegen, ohne die Banken in Besitz zu Oktoberrevolution im Jahr 1917, Und in Hinsicht auf das zentrale The - nehmen , ohne das Privateigentum an den während des Revolutionsprozesses oder ma der Verfassung heißt es bei Lenin im Produktionsmitteln aufzuheben, aber man danach zum Thema machte. Jahre 1905, in dem die ersten Sowjets kann diese revolutionären Maßnahmen gebildet wurden, die Meuterei auf dem nicht durchführen, ohne die demokrati - Der vorrevolutionäre Lenin Panzerkreuzer Potemkin erfolgte und der sche Verwaltung der der Bourgeoisie fort - Bis zur russischen Revolution im Jahr III. Parteitag der SDAPR abgehalten genommenen Produktionsmittel durch 1905 und teilweise noch bis 1917 setzte wurde: „Was ist eine Verfassung? Ein das ganze Volk zu organisieren, ohne die sich Lenin für eine erweiterte „Einfluss - Stück Papier, auf dem die Rechte des ganze Masse der Werktätigen, sowohl die nahme der Arbeiterklasse auf die Staats - Volkes niedergeschrieben sind. Worin Proletarier und Halbproletarier als auch angelegenheiten“ ein, d.h. für „die besteht die Garantie, dass diese Rechte die Kleinbauern, zur demokratischen unmittelbare, durch das Gesetz (die Ver - tatsächlich anerkannt werden? In der Organisierung ihrer Reihen, ihrer Kräfte fassung) gewährleistete Teilnahme aller Stärke jener Klassen des Volkes, die sich und ihrer Teilnahme am Staat heran zu - Bürger an der Lenkung des Staates, das dieser Rechte bewusst sind und sie er - ziehen“ (LW, Bd. 23, S. 14). gesicherte Recht für alle Bürger, sich frei zwungen haben. Wir werden uns nicht In bewusster Überspitzung dieses zu versammeln, ihre Angelegenheiten zu von Worten betören lassen – das steht Postulats lässt sich sagen: Ohne demo - erörtern, durch Verbände und durch die allein den Schönrednern der bürger - kratische Organisierung der „ganzen Presse auf die Staatsangelegenheiten lichen Demokratie an –, wir werden Masse der Werktätigen“ besteht für Einfluss zu nehmen“ (LW, Bd. 2, nicht auf eine Minute vergessen, dass Lenin keine Aussicht auf die Überwin - S. 111); es komme darauf an, so Lenin sich die Stärke nur im siegreichen dung des Kapitalismus. Noch plastischer mehrfach, die bürgerlichen Freiheits - Kampf erweist und dass wir bei weitem formuliert: Ohne demokratisch erzoge - rechte zu gewähr leisten und zusätzlich noch keinen vollen Sieg errungen haben. nes Proletariat gelingt keine Revolution. die Arbeiterklasse rechtlich zu schützen Wir werden schönen Phrasen nicht glau - Bezeichnend für diese Position ist und ihre Kampffähigkeit zu erhöhen. ben, denn gerade jetzt durchleben wir Lenins Haltung zum Parlamentarismus. 2 Beiträge bürgerlichen Parlamenten, bürgerlichen zunächst um die Sicherung der Herr - Konstituanten usf. gewinnt, das heißt schaft der Arbeiterklasse durch die Auf - durch Abstimmung bei Fortbestehen der hebung des Privateigentums, es geht Lohnsklaverei, der Ausbeuter und der nicht um Terror. Unterdrückung durch diese Ausbeuter, Lenins unentwegter Hinweis darauf, bei Fortbestehen des Privateigentums an dass es auch und gerade in der bürger - den Produktionsmitteln – etwas Derarti - lichen Demokratie darum gehen müsse, ges zu verlangen oder vorauszusetzen das ganze Volk aufzuklären, steht seiner heißt in Wirklichkeit den Standpunkt der Kennzeichnung des bürgerlichen Staates Diktatur des Proletariats völlig aufgeben als eines Herrschaftsinstruments der und sich faktisch auf den Standpunkt der Bourgeoisie nicht entgegen; vielmehr ist bürgerlichen Demokratie stellen“ (LW, es umgekehrt: Erst das sich seiner Rech - Bd. 30, S. 330). te, seiner Möglichkeiten, aber auch sei - Gewiss: Lenin kennzeichnet das We - ner Ohnmacht und seiner Fehlschläge sen des bürgerlichen Staates „in letzter bewusste und durch den Kampf erzogene Instanz unbedingt [als] eine Diktatur der und gebildete Proletariat bietet die Ge - Bourgeoisie “ (LW, Bd. 25, S. 425); und währ dafür, dass die Revolution gelingen komplementär dazu charakterisiert er die kann; denn – nochmals betont – „ein politische Form des Übergangs vom Ka - Proletariat […], das nicht im Kampf für pitalismus zum Kommunismus als „die die Demokratie erzogen wird, ist Diktatur des Proletariats“ (ebd.). Ent - unfähig, die ökonomische Umwälzung Lenins Schrift „Die Revolution von sprechend formuliert er: „Die Bourgeoi - zu vollziehen“ (LW, Bd. 23, S. 14). 1905“ erschien 1929 im Rahmen der sie ist für die Alleinherrschaft der Bour - Der bewusste politische Kampf um die „Sämtlichen Werke“ im Wiener Verlag geoisie. – Die klassenbewussten Arbeiter in der bürgerlichen Demokratie stets ge - für Literatur und Politik. sind für die Alleinherrschaft der Sowjets fährdeten Freiheits- und Teilhaberechte der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- steht für Lenin also völlig illusionslos Soll man sich als Revolutionär daran be - und Soldatendeputierten“; Lenin präzi - unter einem doppelten Stern: Er ist einer - teiligen? Seine Antwort ist eindeutig: siert aber sogleich: Es gehe ihm um die seits das zur Erziehung und Bildung der Der Parlamentarismus mag historisch er - Alleinherrschaft, die vorbereitet wird Arbeiterklasse notwendige Terrain, um ledigt sein, politisch ist er es mitnichten, durch die Klärung des proletarischen die Politisierung des Bewusstsein über - heißt es in seiner 1920 erschienenen Bro - Klassenbewusstseins, durch seine Be - haupt erst zu ermöglichen; und anderer - schüre „Der ‚linke Radikalismus‘, die freiung vom Einfluss der Bourgeoisie, seits ermöglicht erst dieser Kampf die Kinderkrankheit im Kommunismus“; nicht aber durch Abenteuer. für die revolutionäre Umwälzung der vielmehr sei ganz unzweifelhaft , „dass Und auf die Frage, worin die Herr - Verhältnisse notwendige Homogenisie - die Beteiligung an den Parlamentswah - schaft einer Klasse zum Ausdruck kom - rung der klassenbewussten Arbeiter - len und am Kampf auf der Parlaments - me, gibt Lenin eine bekannte Antwort: innen und Arbeiter. tribüne für die Partei des revolutionären „Die Herrschaft des Proletariats äußert Anders stellt sich die Lage freilich dar, Proletariats unbedingte Pflicht ist, gera - sich darin, dass man das Eigentum der wenn wir einen genaueren Blick darauf de um die rück ständigen Schichten ihrer Gutsbesitzer und Kapitalisten konfisziert werfen, worum denn hier eigentlich Klasse zu erziehen, gerade um die unent - hat. Das Privateigentum war aber gerade gekämpft werden soll. Zwar kennt Lenin wickelte, geduckte, unwissende Masse die Seele, der Hauptinhalt aller früheren zu Lebzeiten durchaus funktionierende auf dem Lande aufzurütteln und aufzu - Verfassungen, auch der republikani - parlamentarische Demokratien (wie sie klären. Solange ihr nicht stark genug schen, demokratischen Verfassung. Un - in der Schweiz oder in Großbritannien seid, das bürger liche Parlament und alle sere Verfassung hat das Recht, in die Ge - bestanden), keine Vorstellung kann er sonstigen reaktionären Institutionen schichte einzugehen, sie hat sich dieses davon haben, wozu sich die bürgerlichen auseinanderzu jagen, seid ihr verpflichtet , Recht erworben, weil die Aufhebung des Demokratien nach 1945 entwickelten gerade innerhalb dieser Institutionen zu Privateigentums nicht nur auf dem und zu welchen politischen Integrations - arbeiten, weil sich dort noch Arbeiter be - Papier geblieben ist. Das siegreiche Pro - leistungen diese Systeme fähig werden finden, die von den Pfaffen und durch das letariat hat das Privateigentum abge - sollten. Lenin hatte den Staat ausschließ - Leben in den ländlichen Provinzen ver - schafft und endgültig beseitigt. Darin lich als Herrschaftsinstrument der Bour - dummt worden sind. Sonst lauft ihr Ge - eben kommt die Herrschaft der Klasse geoisie oder als zaristischen Gewaltstaat fahr, einfach zu Schwätzern zu werden“ zum Ausdruck. Vor allen Dingen in der vor Augen; ihm ist die Rede von der (LW, Bd. 31, S. 44). Frage des Eigentums. Als wir die Frage „Diktatur der Bourgeoisie“ deshalb nicht Aus der Sicht des beginnenden Sozia - des Eigentums praktisch entschieden nur eine konzeptionell-theoretische lismus sei die Frage des Parlamentaris - hatten, war die Herrschaft der Klasse ge - Bestimmung, sondern sie ist eine histo - mus aber ganz anders zu beantworten, sichert“ (LW, Bd. 30, S. 448 f.). risch- empirisch durchaus zutreffende schreibt Lenin im Jahr 1920: „Diktatur Die Rede von der „Diktatur des Prole - Beschreibung. des Proletariats bedeutet Sturz der Bour - tariats“ ist immer eine inhaltliche Be - Lenin sah den bürgerlichen Staat aus - geoisie durch eine Klasse, durch das Pro - stimmung der Herrschaft, aber sie ist – schließlich als Herrschaftsinstrument der letariat, und zwar eben durch seine revo - wenngleich für viele schlichte Gemüter Bourgeoisie, und ihm waren deshalb lutionäre Avantgarde. Zu verlangen, dass kontraintuitiv – keine Formbestimmung auch die bürgerlichen Freiheitsrechte diese Avantgarde im Voraus die Mehr - der Herrschaftsausübung; es geht bei der kaum etwas anderes als spezifische Herr - heit des Volkes durch Wahlen zu den „Diktatur des Proletariats“ konzeptionell schaftsmittel der Bourgeoisie; anders ge -

2/20 Beiträge 3 sagt: „Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objek - tiv nicht versöhnt werden können . Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates be - weist, dass die Klassengegensätze unver - söhnlich sind.“ (LW, Bs. 25, S. 165)

Lenin in der Revolution Für Lenin ist die Grundfrage jeder Re - volution die Frage nach der Macht im Staate. Ohne Klärung dieser Frage könne von keiner wie immer gearteten be - wussten Teilnahme an der Revolution die Rede sein, von einer Führung dersel - ben ganz zu schweigen. Lenins Schrift aus dem Jahr 1917 „Staat und Revolu- tion“ ist der Versuch einer derartigen Klärung. Das Buch – dessen Endab - fassung von der Revolution verhindert wurde – wurde geschrieben, als Lenin verzehnfacht wurden, uns die Möglich - trolle des Heeres, der Polizei und der seiner revolutionären Sache, ihrer wirk - keit eines anderen Übergangs eröffnete, Nachrichtendienste, keine liberale Bil - lichen geschichtlichen Chance alles an - um die grundlegenden Voraussetzungen dung und Ausbildung, kein liberales Ge - dere als sicher sein konnte, und es ist be - der Zivilisation zu schaffen, als in allen sundheitswesen, schon gar keine libera - zeichnend, dass er darin keine taktischen anderen westeuropäischen Staaten?“ len politischen Rahmenbedingungen für Ratschläge gibt, sondern eine begriff - (LW, Bd. 33, S. 464) Wenn wir heute den Medienbetrieb; all das soll es nicht liche, also sowohl analytische wie pro - „Staat und Revolution“ lesen, dann soll - mehr geben, denn das alles ist aus dem grammatische Maschine zur Verfügung ten wir das Buch danach befragen, in Kapitalismus hervorgegangen und müsse stellt. Lenin hat damals die Staatsfrage welcher Weise und in welchem Umfang deshalb abgeschafft werden, wenn man als Tagesfrage des kämpfenden Proleta - Lenin damit für den Austritt aus ihn loswerden will. Und Lenin setzt, ge - riats erkannt und dargestellt. Darin liegt kapitalis tischen Gesellschaftsverhältnis - wissermaßen als Krönung des Ganzen, die politische Bedeutung von „Staat und sen „die Möglichkeit eines anderen noch eins drauf: Die Herrschaft des Pro - Revolution“ – und keine revolutionäre Übergangs eröffnet“. letariats in und mit ihrem Staat werde in Bewegung kann sich mehr an der Worin besteht das Neue? Zunächst ein - keinem Falle davor halt machen, diesen „Staatsfrage“ vorbeischwindeln. „Staat mal besteht es darin, das Alte auf den Staat mit Gewalt und notfalls auch mit und Revolution“ ist Lenins „most power - Misthaufen der Geschichte zu werfen; es Terror gegen seine Feinde zu verteidigen ful theoretical text“, wie der britische besteht in der völligen Ablehnung all und auszubauen. Der alte, überkommene His toriker Tariq Ali schrieb; und es ist dessen, was dem liberalen Verfassungs - Staatsschrott müsse beseitigt werden – nach wie vor beste Zusammenfassung staat auch nach heutiger Vorstellung teu - der Staat müsse zerschlagen werden, er des klassisch marxistischen Denkens er und wertvoll ist. Das wirklich Revolu - müsse ersetzt werden durch die Sowjets über die strukturfunktionale Seite der tionäre an Lenins „Staat und Revolution“ als politische Maschinerie, vermittels Machtfrage. liegt darin, dass hier zunächst einmal die derer die Diktatur des Proletariats am be - Aus heutiger Sicht stellt diese erstmals liberale Trennung von Trägerschaft und sten realisiert werden könne. „Alle 1918 publizierte Schrift das Scharnier - Ausübung der Staatsgewalt ablehnt wird; früheren Revolutionen“, schrieb Lenin stück dar zwischen dem bis 1917 geführ - weiters darin, dass hier die Befugnisse noch vor der Oktoberrevolution, „haben ten Kampf gegen die Bourgeoisie als von Regierungsfunktionären an impera - die Staatsmaschinerie vervollkommnet, herrschende Klasse und dem ab 1917 ge - tive Mandate gebunden werden; dass man muss sie aber zerschlagen, zerbre - führten Kampf gegen die Bourgeoisie als Lenin den Freistaat ebenso ablehnt wie chen. Diese Folgerung ist das beherrschte Klasse. Die herausragende das Ständewesen, die Monarchie, die Hauptsächliche, das Grundlegende in der Bedeutung von „Staat und Revolution“ parlamentarische und die Präsidialrepu - Lehre des Marxismus vom Staat“ (LW, liegt nicht in der damals von Lenin inten - blik, den Absolutismus und den Konsti - Bd. 25, S. 418). dierten Rekonstruktion der marxis - tutionalismus, die Militärdiktatur, das Der für unseren Zusammenhang be - tischen Lehre vom Staat (wiewohl gera - Territorialwahlrecht und das Verhältnis - langvolle Witz besteht darin, dass Lenin de dies Lenin wichtig ist), sondern darin, wahlrecht; dass alle liberalen Wege der absolut sicher gehen wollte, dass keiner - dass hier tatsächlich völlig Neues auf Gesetzgebung abgelehnt werden, dass lei Respekt für formale Legalität oder dem Gebiet der Staatstheorie in Verbin - überhaupt alles abgelehnt wird, was als auch nur gegenüber einer verfassungs - dung mit der Staatspraxis aus der Taufe Signum des liberalen Verfassungsstaates mäßigen Mehrheit die Bolschiwiki da - gehoben wurde. Lenin selbst sagte spät heilig scheint: Keine Regelung von Ein - von abhalten sollte, die sich bietenden in seinem Leben: „Wie aber, wenn die gaben und Annahmen vorgesetzlicher Möglichkeiten zu ergreifen, um die not - völlige Ausweglosigkeit der Lage, wo - Anträge und Entschließungen, kein wendigen revolutionären Änderungen durch die Kräfte der Arbeiter und Bauern Interpellationsrecht, keine liberale Kon - durchzusetzen. Lenin war überzeugt

2/20 4 Beiträge davon (richtigerweise, wie sich im Okto - Herrschaftsfunktion, als sie jedem Staat Versammlung war die letzte Hoffnung ber/November 1917 zeigt), dass die Poli - zukommt, eben weil er Staat ist. der Konterrevolution; sie hatte sich – die tik seiner Partei die Mehrheit der Bevöl - Freilich: Erinnern wir uns daran, dass Bolschiwiki waren nur mit etwa 25 Pro - kerung zu repräsentieren vermag; und es bei Lenin alsbald hieß, man müsse zent der Mandate vertreten – geweigert, selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, sich vom sozialistischen Rechtsbewusst - die Sowjetmacht anzuerkennen. Wir könnte Lenin argumentieren, dass die sein leiten lassen (LW, Bd. 29, S. 115), können heute reichlich darüber spekulie - Unterdrückung durch das bestehende dass derjenige ein schlechter Revolu - ren, welchen Entwicklungsweg Russland Regime, das Monopol der herrschenden tionär sei, „der im Augenblick des hefti - genommen hätte, wenn die Konstitu - Klasse auf Bildung und Propaganda vor gen Kampfes vor der Unantastbarkeit ierende Versammlung nicht aufgelöst 1917, die Jahrhunderte lang währende des Gesetzes haltmacht“ (LW, Bd. 27, worden wäre – aber es ist wohl nicht Tradition von Unterdrückung und Ge - S. 517), dass das Gesetz nichts anderes unrealistisch anzunehmen, dass die horsam in einem weitgehend illiteralen als eine politische Maßnahme, eben Poli - Arbeiterklasse damit jede Macht ver - Russland den radikalen Versuch recht - tik sei (LW, Bd. 23, S. 40), und dass loren hätte, ihr Schicksal selbst in die fertigen. Die entschlossene Diktatur ist schließlich das Gesetz nur „ein Willens - Hände zu nehmen. gegen Trägheit, gegen Klassenmacht und ausdruck der Klassen (ist), die gesiegt Wir gehen nicht näher ein auf die von gegen die Üblichkeiten gerichtet. Das haben und die Staatsmacht in Händen Lenin verfasste „Deklaration der Rechte Proletariat, so sagt Lenin sinngemäß, halten“ (LW, Bd. 13, S. 327). Das Recht des werktätigen und ausgebeuteten muss zuerst die Bourgeoisie stürzen und verliert damit seinen essentiellen Cha - Volkes“ (LW, Bd. 26, S. 422–426), auf die Staatsmacht erobern, und es muss rakter sowohl der Gesetzlichkeit (es wird das „Dekret über den Frieden“ (LW, dann die Staatsmacht – die Diktatur des zur vom Rechtsbewusstsein geleiteten Bd. 26, S. 239–243) oder das „Dekret Proletariats – als das Instrument seiner Willkürakt) und als seiner wesentlichen über den Grund und Boden“ (LW, Klasse gebrauchen, um in revolutionärer Bestimmung, nicht nur Instrument der Bd. 26, S. 249–251). Sie bilden ihrem In - Weise durch die Befriedigung ihrer öko - Machtausübung, sondern auch Maß für halt nach die erste Verfassung der nomischen Bedürfnisse auf Kosten der die Machtausübung zu sein. Lenin betont Sowjetunion. An dieser Stelle ist wichtig Ausbeuter die Anerkennung durch die lediglich die Funktionaleigenschaft des zu betonen, dass sich das Verständnis Mehrheit zu gewinnen ; diese Mehrheit Rechts (seinen instrumentellen Wert bei Lenins zu den Freiheitsrechten nun völ - benötigt die unmittelbare praktische Er - der Herrschaftsausübung), und damit lig an den Notwendigkeiten der Herr - fahrung, um sie in die Lage zu versetzen, verliert das Recht seinen maßstabgeben - schaft über die Bourgeoisie orientierte: zwischen der Führung durch die Bour - den Charakter – es wird auf ein Vehikel „Wir haben offen erklärt“, schrieb er in geoisie und der Führung durch das Prole - der Machtdurchsetzung reduziert. der ersten Hälfte des Jahres 1919, „dass tariat unterscheiden zu können; es geht wir in der Übergangszeit, in einer Zeit darum, den Menschen „an Hand langer Der nachrevolutionäre Lenin erbitterten Ringens, nicht nur keine Frei - Erfahrungen und einer langen Reihe Wie aber stellte sich für Lenin die heiten nach rechts und links versprechen, praktischer Beispiele zu zeigen, dass es Situation nach der Oktoberrevolution sondern von vornherein sagen, dass wir für sie vorteilhafter ist, für die Diktatur dar, in einer Situation, die er im April den Bürgern, die der sozialistischen Re - des Proletariats zu sein als für die Dikta - 1920 mit der Formel kennzeichnete: volution im Wege stehen, ihre Rechte tur der Bourgeoisie, und dass es ein Drit - „Der Kapitalismus ist zerschlagen, aber entziehen werden. Und wer wird darüber tes nicht geben kann“ (LW, Bd. 25, der Sozialismus ist noch nicht aufgebaut. richten? – Richten wird das Proletariat“ S. 425). All jene, die über die Oktober- Wir werden noch lange Jahre an seinem (LW, Bd. 29, S. 287f.). Gut ein Jahr spä - revolution behaupten, sie sei nichts ande - Aufbau arbeiten müssen“ (LW, Bd. 26, ter musste Lenin aber feststellen: „Der res als ein Putsch gewesen, haben wenig S. 507). Welche Schlüsse zog Lenin aus Bürokratismus ist in unserer Staats - Verständnis für das, was eine Revolution der Beobachtung, dass die Partei schon ordnung so sehr zum wunden Punkt ge - ist: Nach Marx und Lenin ist es ein gi - zu diesem Zeitpunkt drohte, in „eine sehr worden, dass in unsrem Parteiprogramm gantisches Erwachen der Millionen Aus - gefährliche Situation (zu) geraten, näm - von ihm die Rede ist, und zwar deshalb, gebeuteten, die plötzlich die Zuversicht lich überheblich zu werden“? Was wurde weil er mit diesem kleinbürgerlichen in ihre eigene Fähigkeiten gewinnen, aus dem zu seinem 50. Geburtstag an die Element und seiner Zersplitterung zu - sich selbst zu befreien. Lenin benennt anwesenden Parteivertretern gerichteten sammenhängt. Zu überwinden sind diese ganz klar die durch den praktischen Wunsch, „dass wir unsere Partei auf kei - Krankheiten nur durch den Zusammen - Kampf der Arbeiter und die daraus ge - nen Fall in die Lage einer überheblichen schluss der Werktätigen, damit sie es wonnenen und in der Theorie verarbeite - Partei bringen werden“ (LW, Bd. 26, verstehen, nicht nur die Dekrete der Ar - ten Erfahrungen der Massen als die ent - S. 522)? Welche Auswirkungen hatte beiter-und-Bauern-Inspektion zu be - scheidende Voraussetzung für dieses Lenins Wissen, dass das Proletariat in grüßen […], sondern damit sie es auch revolutionäre Erwachen. Sodann aber Russland zahlenmäßig „jetzt nicht sehr verstehen, durch die Arbeiter-und-Bau - gelte es, den revolutionären Prozess stark ist“ (LW, Bd. 26, S. 507)? ern-Inspektion ihr Recht zu verwirk - wach zu halten. Im Jänner 1918 wurde die Konstitu - lichen, was augenblicklich nicht nur auf Jedenfalls verlangten die Besonderhei - ierende Versammlung aufgelöst. Diese dem Lande, sondern auch in den Städten ten des Übergangs vom Kapitalismus war zur letzten Bastion des Kapitals in und sogar in den Hauptstädten nicht der zum Sozialismus für lange Zeit bei der Russland geworden, und sie stand von Fall ist! Häufig versteht man es selbst Errichtung einer sozialistischen Gesell - Anfang an im Widerspruch zu den dort nicht, sein Recht durchzusetzen, wo schaft die Erhaltung, ja Ausweitung der Sowjets, zum II. Sowjetkongress, der am meisten gegen den Bürokratismus Staatsfunktionen. Dabei bedeutete das nach dem bewaffneten Aufstand am gewettert wird“ (LW, Bd. 32, S. 190f.). Wort „Diktatur“ in der Formel „Diktatur 25. Oktober 1917 die Macht in die Hän - Darin drückt sich die große Hypothek des Proletariats“ keinen höheren Gradan de genommen hatte. Die Konstituierende der Kommunisten in der jungen Sowjet -

2/20 Beiträge 5 union aus: Es fehlte am staatlich-institu - senden Straf gesetzbuches] muss so weit - nicht zu sagen abscheulich, dass wir uns tionellen Unterbau, um nach Weltkrieg gefasst wie möglich sein, denn nur das zunächst gründlich überlegen müssen, und Bürgerkrieg umzusetzen, was dekre - revolutionäre Rechtsbewusstsein und das wie wir seine Mängel bekämpfen sollen, tiert wurde. „Wir sind in organisatori - revolutionäre Gewissen legen die Bedin - eingedenk dessen, dass diese Mängel ih - scher Hinsicht schwach“, re Wurzel in der Vergan - sagte er im April 1920 auf genheit haben, die zwar dem Gesamtrussischen über den Haufen geworfen, Gewerkschaftskongress, aber noch nicht überwun - „schwächer als alle fortge - den, noch nicht in das Sta - schrittenen Völker“ (LW, dium einer in ferner Ver - Bd. 30, S. 501). Lenin ist gangenheit entrückten Kul - dies bewusst, er hatte sich tur eingetreten ist […] Bei darum aber zuvor nicht uns […] ist das Gute an der gekümmert. Er postulierte sozialen Ordnung äußerst situativ den Ausweg über schlecht durchdacht, nicht die forcierte Bildung der verstanden, nicht innerlich Arbeiterklasse und deren empfunden, ist hastig auf - Beteiligung. In der Praxis gegriffen, nicht nachge - geschah aber genau das prüft, nicht erprobt, nicht Gegenteil. Das hatte unter durch Erfahrung bestätigt, anderem zur Folge, dass nicht verankert usw.“ (LW, der instrumentelle Charak - Bd. 33, S. 474) ter des Rechts eine immer Und Lenin stellte dieser stärkere Betonung erfuhr. Passage eine Bemerkung Wenn Lenin anlässlich der voran, die mancher und ersten Verfassung vom manchem heute seltsam 10. Juli 1918 feststellte, anmuten dürfte: „Für den dass „alle Proletarier er - Anfang sollte uns eine kannt und in der Verfas - wirk liche bürgerliche Kul - sung, in den Grundgeset - tur genügen, für den An - zen der Republik niederge - fang sollte es uns genügen, schrieben (haben), dass es wenn wir ohne die beson - sich um die Diktatur des ders ausgeprägten Typen Proletariats handelt“ (LW, vorbürgerlicher Kultur Bd. 32, S. 280), dann auskommen […] In Kul - stimmt das nur insofern, als turfragen gibt es nichts diese „erste Verfassung […] Schädlicheres als Übereile die Macht der Werktätigen und Leichtfertigkeit. Das als Staatsmacht prokla - sollten sich viele unserer miert“ (LW, Bd. 27, jungen Publizisten und S. 556), aber eben nur Kommunisten gut hinter „proklamiert“ – gesichert die Ohren schreiben“ war sie damit noch nicht. (ebd.). Freilich hat Lenin Und dieser mangelnden selbst seinen Anteil daran, Absicherung proletarischer dass die „Rechts- und Herrschaft versuchte die Staatsfrage“ nachfolgend Partei immer öfter und nachdrücklicher gungen fest für die mehr oder minder in der Sowjetunion nie als eine „Kultur - durch militärisch-polizeiliche Gewalt breite Anwendung in der Praxis“ (LW, frage“ gesehen werden konnte – und der Herr zu werden. Bd. 33, S. 344). Das ist nichts anderes als nachfolgende Terror war deshalb nicht Lenin hat keinen Zweifel daran ge - die Einladung zum jeweils situativ für nur zeitbedingten Umständen geschuldet lassen, dass die Herrschaft der Arbeiter - unerlässlich empfundenen Gerichtster - (das war er gewiss auch!), sondern er klasse am Beginn der Sowjetunion ror. Kein Marxist- Leninist sollte sich wurde von Lenins defizitärer Staats- und (auch) mit Gewalt zu sichern sei. Weil darüber hinwegschwindeln, dass mit die - Rechtstheorie mitverursacht. ihm aber das Recht nur in seiner Funk - sen Worten die konzeptionellen Bedin - tionalität als Herrschaftsmittel und nicht gungen für die Möglichkeit der nachfol - Anmerkung: auch als ein verbindliches Maß der genden Ver brechen im Namen der Ar - 1/ Vgl. W. I. Lenin: Der Marxismus über den Herrschafts aus übung vor Augen stand, beiterklasse gelegt wurden. Vergessen Staat. Staat und Revolution. Kritische Neuaus - konnte er fast schon am Ende seines werden sollte aber auch nicht, dass Lenin gabe mit Essays von Hermann Klenner und Lebens sagen: „Das Gericht soll den Ter - fast schon am Ende seines Lebens in sei - Wolfgang Küttler, hg. und kommentiert von Wla - ror nicht beseitigen […], sondern ihn nem Prawda -Artikel vom 4. März 1923 dislaw Hedeler, Volker Külow und Manfred Neu - prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne unter dem Titel „Lieber weniger, aber haus. Berlin: Verlag 8. Mai 2019. Im Text wird Schminke begründen und gesetzlich ver - besser!“ aufstöhnte: „Mit dem Staatsap - Lenin nach der 40-bändigen Werkausgabe ankern. Die Formulierung [des zu erlas - parat steht es bei uns derart traurig, um (Berlin: Dietz-Verlag 1959ff.) zitiert.

2/20 6 Beiträge „Volkstribun mit Schmäh“ Zum 100. Geburtstag des Spanienkämpfers Fritz Weissenbeck (1920–1949) MANfred MugrAuer

s ist ein bekanntes Phänomen, freigelassen. Im Zuge einer allgemeinen de wie Naturgeschichte und Geographie dass Menschen, die in jungen Amnestie konnte er 1936 die Schule unterrichtet wurden. Eine der hervor - EJahren aufgrund eines Unfalls aus beenden. 3 stechendsten Eigenschaften Weissen - dem Leben gerissen wurden, in der Erin - becks war seine Musikalität und seine nerung der nachfolgenden Generationen Freiwilliger im Leidenschaft für die Gitarre. In Gurs lei - mit einem besonderen Nimbus präsent Spanischen Bürgerkrieg tete er eine Musikgruppe, der weitere bleiben. Als erster wird einem James Im Februar 1938 ging Fritz Weissen - Gitarristen, ein Geiger und ein Saxopho - Dean in den Sinn kommen, der 24-jährig beck nach Spanien, um auf Seiten der nist ang ehörten. 10 Selbst in späteren Brie - bei einem Autounfall verunglückte, oder Republik gegen den Franco-Faschismus fen aus den Konzentrationslagern bat er Juri Gagarin, der „James Dean der zu kämpfen. Damit war er – nach dem seine Familie um die Übermittlung von Raumfahrt“, der im Alter von 34 Jahren 1921 geborenen Hans Landauer – der Noten, Notenpapier und Saiten. 11 Der bei einem Flugzeugabsturz verunglückte. zweitjüngste Österreicher in den Reihen Spanienk ämpfer Hans Körner, der eben - Ihr früher Tod verewigte das Bild beider der Internationalen Brigaden. Aus KPÖ- so in Gurs interniert war, berichtet, dass Männer als junge, dynamische Helden. internen Materialien der Jahre nach 1945 Weissenbeck „trotz seiner Jugend ein Sie wurden zu Kultfiguren und zu einem geht zwar hervor, dass Weissenbeck mit hervorragender Schachspieler, aber ein Mythos. Obwohl seit mehr als 70 Jahren Einverständnis des KJV bzw. der KPÖ noch besserer Kamerad“ gewesen sei. 12 tot, ist auch Fritz Weissenbeck, der in nach Spanien aufbrach, 4 es erscheint 1940 gab die KPÖ-Leitung die Parole diesem Jahr seinen 100. Geburtstag aber nicht ausgeschlossen, dass sich der „Gesicht zur Heimat“ aus, mit der die gefeiert hätte, in den Reihen der KPÖ bis damals 17-Jährige auf eigene Faust nach österreichischen Spanienfreiwilligen in heute ein Begriff. Der Spanienkämpfer, Spanien aufmachte und sein Geburts - den französischen Lagern aufgefordert KZ-Häftling und Wiener Stadtleiter der datum fälschte, um sich auf diesem wurden, nach Österreich zurückzu - Freien Österreichischen Jugend (FÖJ) Wege in die Interbrigaden zu „schwin - kehren. 13 Die meisten von ihnen melde - Weissenbeck starb im Oktober 1949, im deln“, wie in einem späteren Beitrag im ten sich daraufhin freiwillig zur Repatri - Alter von 29 Jahren, bei einem Motor- Zentralorgan der Partei zu lesen war. 5 ierung. Weissenbeck flüchtete aus dem radunfall in Wien. Grundsätzlich galt für Spanienfreiwillige Lager in den von den Deutschen besetz - Friedrich („Fritz“) Weissenbeck wurde ein Mindestalter von 21 Jahren, um von ten Teil Frankreichs, wo er sich am am 1. Juli 1920 in Lannach (Bezirk Paris aus nach Spanien weitergeleitet zu 5. November 1940 in Bordeaux den Deutschlandsberg) in der Steiermark ge - werden, jüngere Männer wurden zurück - deutschen Militärbehörden stellte und boren. Als Sohn einer ArbeiterInnen - geschickt. 6 Über Weissenbecks militäri - festgenommen wurde. Dass die Orientie - familie kam er im Alter von vier Jahren sche Ausbildung und seine Einsätze in rung der KPÖ, nicht-jüdische „unbelas - nach Wien, wo er in der Wasagasse im Spanien ist wenig bekannt. Ab März tete“ AntifaschistInnen zur politischen 9. Bezirk (Alsergrund) aufwuchs. 1 Sein 1938 war er Angehöriger des 1. Batail - Arbeit in die Heimat zurückschicken zu Vater Alois arbeitete als Hafner und war lons („Edgar André“) der 11. Internatio - können, illusorisch war, zeigte sich darin, ein erfahrener Arbeiterfunktionär, der nalen Brigade. 7 Bei einem Feuergefecht dass sich die österreichischen Spanien - auch als Betriebsrat aktiv war, seine im Rahmen der Ebro-Offensive wurde kämpfer nach der Repatriierung durch - Mutter Barbara war Hilfsarbeiterin. 2 Weissenbeck verwundet. 8 1938 wurde wegs im Konzentrationslager Dachau Nach vier Jahren Volksschule und vier der Jungkommunist in die spanische wiederfanden. Jahren Mittelschule absolvierte er eine kommunistische Partei aufgenommen. 9 Weissenbeck wurde am 14. November zweijährige Textilfachschule, in der er Nach der Niederlage der Spanischen 1940 zunächst von Bordeaux nach Saar - zum Weber ausgebildet wurde. 1932, im Republik im Februar 1939 strömten brücken und am 10. Dezember 1940 der Alter von zwölf Jahren, kam er zu den Hunderttausende Menschen nach Frank - Wiener Gestapo überstellt, 14 wo er zwei Roten Falken , der sozialdemokratischen reich, darunter auch die verbliebenen Tage später erkennungsdienstlich erfasst Kinderorganisation für 12- bis 15-Jähri - Angehörigen der Internationalen Bri - wurde. 15 Während andere Spanienkämp - ge, deren Alsergrunder Bezirksgruppe er gaden. Bis Oktober 1940 war Fritz Weis - fer direkt von Frankreich nach Dachau angehörte. Nach dem Februar 1934 und senbeck – wie die meisten anderen öster - eingeliefert wurden, ohne dass gegen sie dem Verbot der sozialdemokratischen reichischen Spanienkämpfer auch – in Anklage erhoben worden wäre, wurde ArbeiterInnenorganisationen wechselte französischen Lagern interniert, zunächst gegen Weissenbeck ein Verfahren ange - er gemeinsam mit seiner Falken-Gruppe in Saint-Cyprien, dann in Gurs und zu - strengt und am 8. Jänner 1941 die Unter - zum illegalen Kommunistischen Jugend - letzt in Argelés-sur-Mer. Im Lager Gurs suchungshaft verhängt. In Hinblick „auf verband (KJV) über, wo er im 9. Bezirk wurde Weissenbeck, der seit 1934 dem seinen bewaffneten Einsatz auf rotspani - eine Zelle bildete. 1935, im Alter von 15 KJV angehörte, in die KPÖ überstellt. scher Seite“ sei er des Verbrechens der Jahren, wurde Weissenbeck wegen Weissenbeck war auch in die Organisie - Vorbereitung zum Hochverrat verdäch - Streuens illegaler Flugzettel verhaftet rung der von österreichischen Spanien - tig, wie in einem Bericht der Oberstaats - und in Reaktion darauf aus der Textil - kämpfern ins Leben gerufenen „Volks - anwaltschaft zu lesen war. 16 Bereits zwei fachschule ausgeschlossen. Nach zwei hochschule“ Gurs eingebunden, wo u.a. Wochen später wurde das Verfahren nie - Wochen Polizeihaft wurde er wieder Sprachkurse abgehalten und Gegenstän - dergeschlagen, weil aus Sicht des Ober -

2/20 Beiträge 7 reichsanwalts beim Volksgerichtshof kein hinreichender Verdacht für eine sol - che Straftat gegeben war. 17 Ein halbes Jahr später, am 7. August 1941, wurde Weissenbeck vom Polizeigefangenen - haus in der Roßauer Lände in das KZ Dachau überstellt und von dort am 2. Juli 1942 in das KZ Ravensbrück. 18 In allen Lagern, in denen Weissenbeck interniert wurde, gehörte er der illegalen Organisa - tion der KPÖ als aktiver Mitarbeiter an.

Kapo im KZ Ravensbrück Das ab Dezember 1938 errichtete KZ Ravensbrück war das größte Konzentra - tionslager für Frauen im Deutschen Reich. Ab April 1941 gehörte zum KZ Ravensbrück auch ein kleines Männer - lager, in dem insgesamt 20.000 Häftlinge registriert wurden. Gleichzeitig waren nie mehr als 2.000 Männer in diesem „Lagerkapelle“ im französischen Internierungslager Gurs, hinten v.l.: Karl Galbawy, Lager. Die Mehrzahl von ihnen waren Fritz Zahradka, Herbert Lenhart, Fritz Weissenbeck, Eduard Buchgraber, sitzend 19 Deutsche und Österreicher. Bernhard v.l.: Max Kurnik, Erich Hubmann, Josef Hubmann Strebel nennt in seiner Studie über das KZ Ravensbrück insgesamt sieben Spa - sig und kühn bei der Durchführung ge - rei nahm Weissenbeck die „Elendsten nienkämpfer, die in Ravensbrück inter - fährlichster Aufträge“ und von „urwüch - und Verzweifeltsten in sein Komman - niert wurden: neben Weissenbeck noch siger unbesiegbar-heiterer Zuversicht“. 25 do“, wie Stiedl berichtet. Er sang Lieder ein Niederländer, ein Italiener und vier Hermine Jursa, die von Mai 1942 bis zur für die russischen, polnischen und tsche - Deutsche. 20 Weissenbeck wurde auf Befreiung 1945 im KZ Ravensbrück in - chischen Häftlinge und organisierte Transport von Dachau nach Ravens - terniert war, erinnert sich daran, dass mit Lebensmittel und Medikamente. 28 brück geschickt, um dort eine Weberei Hilfe von Fritz Weissenbeck Krücken Am 29. April 1945, als das KZ aufzubauen, die im Industriehof des für die gehunfähige Mathilde Apfelbaum Ravensbrück angesichts der sich nähern - Lagers entstehen sollte. Zu diesem Zweck angefertigt wurden. 26 In seinem Kom - den Front geräumt wurde und die Häft - waren Erdarbeiten zur Planierung des mando Weberei „wurde niemand ge - linge auf Todesmärsche getrieben wur - sumpfigen Geländes notwendig. Nach schlagen und es herrschte eine vertraute den, gelang Weissenbeck gemeinsam mit Abschluss di eser Arbeiten wurde Weis - Atmosphäre“, wie aus einem Bericht von 20 österreichischen, belgischen und fran - senbeck Kapo des Kommandos Weberei Włodzimierz Kuliński, der als Jugend- zösischen Häftlingen die Flucht. Als sie und nutzte seine Stellung als Funktions - licher in Ravensbrück inhaftiert war, her - am 1. Mai auf Einheiten der Roten häftling, um linksgerichtete und kommu - vorgeht: „Er hat ein Beispiel geliefert, Armee stießen, bedeutete dies auch für nistische Polen in dieses Kommando wie man die Kapofunktion für die Akti - die KZ-Häftlinge die Befreiung von der aufzunehmen. 21 Als Vertreter Öster - vitäten im Lagerwiderstand und für den faschistischen Diktatur. Am 19. Mai reichs gehörte Weissenbeck dem illega - Schutz von anderen Mitstreitern im 1945 kehrte Weissenbeck nach Wien len antifaschistischen Lagerkomitee an. 22 Lagerwiderstand ausnutzen konnte.“ 27 zurück, 30 wo er fortan in der Reichmann - Ähnlich dem kommunistischen Otto Stiedl, der vom Oberlandes - gasse in Wien-Ottakring wohnte. Jugendfunktionär Ernst Burger, der am gericht Wien wegen kommunistischen 30. Dezember 1944 im KZ Auschwitz Hochverrats zu 21 Monaten Zuchthaus Wiener Stadtleiter der FÖJ gehenkt wurde und dessen menschliche verurteilt worden war und nach Ver - Fritz Weissenbeck war zwar einer der Qualitäten in der Erinnerungsliteratur büßung der Haftstrafe zunächst in das wichtigsten FÖJ-Akteure der unmittel - übereinstimmend hervorgehoben wer - KZ Flossenbürg und danach nach baren Nachkriegszeit, in die Gründungs - den, 23 sind in den überlieferten Quellen Ravensbrück deportiert wurde, 28 charak - phase der Wiener FÖJ war er aber nicht die Charaktereigenschaften und die per - terisiert seinen Mithäftling als „hellen maßgeblich eingebunden. Vielmehr war sönliche Integrität von Fritz Weissen - Stern […] der Güte und Selbstlosigkeit“. er von Juli 1945 bis Jänner 1946, bis zu beck ein durchgängiges Motiv, ohne dass Es falle ihm „unendlich schwer bei der seiner Wahl zum Wiener FÖJ-Vorsitzen - von einer Überhöhung oder Idealisierung Schilderung dieses Menschen und Ka - den, in der Jugendarbeit der Wiener KPÖ im Nachhinein auszugehen ist. In den meraden nicht in einen schwärmerischen tätig. 31 In dieser Funktion war Weissen - sechs Jahren in französischen Lagern Kult zu verfallen. Er war die Sonne und beck sowohl Angestellter der Wiener und nationalsozialistischen Konzentra- das Licht schlechthin in dieser grauen - Partei als auch Mitglied der provisori - tionslagern sei Weissenbeck stets „ein haften Finsternis der entfesselten nied - schen Stadtleitung. 32 Indem auch in den vorbildliches Beispiel der Solidarität und rigsten Instinkte. Ein immer hilfsbereiter Unterlagen der niederösterreichischen Tapferkeit“ gewesen, war etwa im Nach - Mensch stets unter Hintansetzung seines KPÖ ein Funktionär namens „Weissen - ruf der Volksstimme zu lesen. 24 Er sei in eigenen Lebens“, so der um 17 Jahre böck“ als „Referent für die Jugend- und den Lagern „pausenlos kämpfend, arbei - ältere Elektromechaniker, der seit 1934 Sportbewegung“ genannt wird und eine tend, helfend“ gewesen, „ernst, zuverläs - der KPÖ angehörte. Als Kapo der Webe - provisorische niederösterreichische Lan -

2/20 8 Beiträge lichen Organisation zu riats der Organisa tion. Der bisherige Lei - erfassen. Die FÖJ galt ter Franz Danimann, ein Überlebender der KPÖ als „konse - des KZ Auschwitz, wurde stellvertreten - quent antifaschistische, der Vorsitzender und schied wenige demokratische öster - Monate später ganz aus der FÖJ-Arbeit reichische Jugendorga - ganz aus. Zum Bundessekretär wurde der nisation“, 36 die zwar ebenfalls im November 1945 aus Groß - eng mit der KPÖ zu - britannien remigrierte Herbert Steiner sammenarbeitete, aber bestimmt, der – wie auch Brichacek – organisatorisch selbst - eine führende Position in der antifaschis - ständig blieb. Obwohl tischen Jugendorganisation Young Aus - sie es offiziell nicht war tria innegehabt hatte. 39 und nach ihrem Selbst - Auf der ersten „offiziellen“ Wiener verständnis allen anti - Konferenz der FÖJ am 18./19. Mai 1946 faschistischen Jugend - im Alten Rathaus wurde Weissenbeck lichen offenstand, ent - einstimmig als Vorsitzender bestätigt. 40 wickelte sich die FÖJ Er habe in den Vormonaten bewiesen, in den folgenden Jahren „dass er alle Fähigkeiten besitzt, die ein de facto zur Jugend - Stadtleiter braucht“ und dass er „sehr organisation der KPÖ. schnell guten Kontakt mit den Funk - Im Jänner 1946 stieg tionären herstellen kann“, so die Wahl - Fritz Weissenbeck, der vorschlagskommission. 41 Auf den Wie - bisherige Jugendver - ner Landeskonferenzen der FÖJ im Mai antwortliche der KPÖ 1947 und Mai 1948 erfolgte seine Wie - Wien, zum Vorsitzen - derwahl, 42 was von der gefestigten Stel - den der Wiener FÖJ lung Weissenbecks als FÖJ-Funktionär auf – eine Funktion, zeugt. Auf dem ersten Bundeskongress die zeitgenössisch als der FÖJ, der von 21. bis 23. Juni 1946 in „Stadtleiter“ bezeich - Wien zusammentrat, wurde er auch zu desleitung erst Anfang 1946 gebildet net wurde. Die Wahl von Weissenbeck einem der drei stellvertretenden Vorsit - wurde, 33 ist nicht ausgeschlossen, dass zum Wiener Stadtleiter der FÖJ war zenden des Verbands gewählt (neben Weissenbeck Ende 1945 auch die Ausdruck von zwei Entwicklungen: Zum Walter Kellerer aus Niederösterreich und Jugendarbeit der Partei in Niederöster - einen gab die KPÖ ihren Anspruch auf, Herma Sagmeister aus Kärnten) und als reich anleitete. neben der FÖJ eine eigenständige kom - Mitglied des zehnköpfigen Bundessekre - Die Freie Österreichische Jugend war munistische Jugendpolitik zu ent - tariats bestätigt. 43 Im Juni 1948 wurde am 16. Mai 1945 – drei Tage vor der An - wickeln. Das Jugendreferat im Zentral - Weissenbeck am zweiten Bundes - kunft Weissenbecks in Wien – in einer komitee der Partei wurde Ende des Jah - kongress der FÖJ in diesen beiden Funk - Hauptschule im 9. Wiener Gemeinde- res 1945 aufgelassen, womit die Ver- tionen wiedergewählt. 44 bezirk gegründet worden, als Versuch antwortung für die Jugendpolitik ganz Aufgrund seiner Arbeit als führender der KPÖ, alle antifaschistischen Kräfte auf die FÖJ überging. 37 Junge Kommu - FÖJ-Funktionär war Weissenbeck auch in einer einheitlichen Jugendorganisation nistInnen sollten sich auf die Arbeit in Mitglied von Leitungsgremien der KPÖ: zu vereinen. 34 Am Gründungskongress der FÖJ konzentrieren und von Auf - Im März 1946 wurde er am ersten Wie - wurde eine Wiener Stadtleitung gewählt, gaben innerhalb der Partei entlastet wer - ner Landesparteitag als Vertreter der die bis Jänner 1946 die entscheidende den. 38 Zum anderen kam es im Jänner Jugend in die Stadtleitung der KPÖ Führungsinstanz der Organisation blei - 1946 zu einer umfassenden Reorganisie - Wien gewählt. 45 Am zweiten Landes - ben sollte. An der Spitze dieser Leitung rung der FÖJ-Leitungsstrukturen, in de - parteitag im April 1948 wurde er in die - standen zunächst die kommunistischen ren Zuge FunktionärInnen, die aus dem ser Funktion bestätigt, 46 womit Weissen - Funktionäre Heini Klein und (ab Ende Exil bzw. aus den Konzentrationslagern beck als Verantwortlicher für die Mai) Franz Danimann. 35 Der Versuch, nach Österreich zurückgekehrt waren, in Jugendpolitik der Partei in Wien fungier - eine überparteiliche Jugendorganisation führende Positionen aufstiegen. War die te. 47 In diesem Jahr wurde er auch als aller drei Parteien aufzubauen, scheiterte Leitung im Mai 1945 zunächst aus Funk - Kandidat in das Zentralkomitee und da - jedoch. SPÖ und ÖVP bildeten letztlich tionärInnen gebildet worden, die aus mit in das höchste Führungsgremium der mit der Sozialistischen Jugend und dem Widerstand und Illegalität hervorgingen, KPÖ gewählt. Insgesamt gehörten dem Österreichischen Jugendbund (später wurden nun bei der ersten bundesweiten am 14. Parteitag im Herbst 1948 gewähl - Österreichische Jugendbewegung) eige - Konferenz der FÖJ auch RemigrantIn - ten Zentralkomitee 58 Mitglieder und 16 ne Jugendorganisationen, die kaum zur nen in die Führung nominiert. Otto KandidatInnen an, darunter drei Expo - Zusammenarbeit mit der FÖJ bereit Brichacek („Fritz Walter“), der aus dem nenten der Jugend: Otto Brichacek (Vor - waren. Trotz dieser Entwicklung ver - englischen Exil zurückgekehrt war, wur - sitzender) als Mitglied sowie Herbert Stei - zichtete die KPÖ auch fortan auf die Bil - de bei der so genannten „Arbeitstagung“ ner (Bundessekretär) und Fritz Weissen - dung eines eigenen Kommunistischen der FÖJ am 12./13. Jänner 1946 zum beck (Wiener Stadtleiter) als Kandida - Jugendverbands und hielt an der Orien - Vorsitzenden gewählt, Fritz Weissen - ten. 48 1949 war Weissenbeck Kandidat tierung fest, breitere Kreise der öster - beck wiederum zum Wiener Leiter und der KPÖ bzw. des „Linksblocks“ (KPÖ reichischen Jugend in einer überpartei - zum Mitglied des achtköpfigen Sekreta - und Links sozialisten) zu den Landtags-

2/20 Beiträge 9 und Gemeinderatswahlen im Wahlkreis Wien-West, die am 9. Oktober – wenige Tage nach seinem Tod – zeitgleich mit den Nationalratswahlen stattfanden. 49

„Genug vom Barras“ Die FÖJ galt in den ersten Nachkriegs - jahren mit ca. 15.000 Mitgliedern als stärkste Jugendorganisation, 50 deren Ak tivitäten sehr praktisch orientiert und öffentlich wirksam waren, etwa die Ernte - hilfsaktionen im Sommer und die groß angelegten Schutträumungsaktionen im Herbst 1945. Fritz Weissenbeck war in diesen Jahren in alle wesentlichen Ab - läufe der FÖJ und auch in deren öffent - liches Erscheinungsbild prominent ein - gebunden. Im Mai 1946 war er Mitglied einer Delegation, die Bundeskanzler Leopold Figl drei Forderungen unter - Margit (1.v.l.) und Fritz Weissenbeck (2.v.l.) im Kreis von FÖJ-AktivistInnen. breitete: die Schwerarbeiterkarte auch für jugendliche ArbeiterInnen, die Säu - (heute Wolgograd). 57 Im Sommer 1947 cek sprach s ich für „eine demokratische, ber ung der Hochschulen vom nazistischen nahm Weissenbeck an den ersten Welt - antifaschis tische Volksarmee“ aus. 61 Als Ungeist sowie ein Mitspracherecht der festspielen der Jugend und Studenten in ÖVP und SPÖ die Verhandlungen über Jugend bei allen sie betreffenden Geset - Prag teil. Im Anschluss daran berichtete ein künftiges Wehrgesetz begannen, leg - zen. 51 Im selben Monat sprach Weissen - er bei einer öffentlichen Veranstaltung te sich die KPÖ jedoch 1948 darauf fest, beck im Wiener Radio zum ersten Jah - im „Haus der Jugend“ in Wien über die die Aufstellung einer neuen Wehrmacht restag der Gründung der FÖJ. 52 Am Erfahrungen der 600-köpfigen öster - grundsätzlich abzulehnen. Ausschlag- 30. Juni 1948 war er einer der Redner, reichischen Delegation beim Prager gebend dafür waren sowohl antimilitaris- die zur vor dem Parlament versammelten Weltjugendfestival. 58 Am Ende seiner tische, friedenspolitische Argumente als Menge sprachen, während im National - Rede erklärte er, „daß die Delegierten es auch „pragmatische“ Überlegungen, rat das Jugendschutzgesetz diskutiert als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an - etwa dahingehend, dass ein österreichi - wurde. Innenminister Oskar Helmer sehen würden, die Wahrheit über die sches Bundesheer in der damaligen (SPÖ) ließ die Jugendlichen, die bei den Tschechoslowakei, wie sie sie selbst ge - Situation von reaktionären Offizieren be - Abgeordneten vorsprechen wollten, mit sehen haben, weiterzuverbreiten und den herrscht worden wäre und in einer Zeit einem Polizeiaufgebot von 1.200 Mann ,eisernen Vorhang‘ zu zerreißen, der wirtschaftlicher Not keine Steuergelder abdrängen. 53 Die FÖJ hatte sich bereits zwar nicht von der CSR, wohl aber von für die Bewaffnung einer Armee ver - in den Vorjahren für ein fortschrittliches, der in- und ausländischen Reaktion bei schwendet werden sollten. 62 modernes Jugendschutzgesetz ausge - uns aufgerichtet wird“. 59 Die FÖJ startete in diesem Jahr eine sprochen und dafür 25.000 Unterschrif - Eines der wichtigsten Politikfelder der Kampagne gegen die Pläne der Regie - ten gesammelt. 54 Ihre Hauptforderungen, FÖJ in der unmittelbaren Nachkriegszeit rung Figl-Schärf, als Verbündeter der wie etwa die 40-Stundenwoche oder die war das Eintreten gegen die Remilitari - Westmächte die Wiederbewaffnung 60-stündige Wochenendruhe, blieben im sierung Österreichs. Vor dem Hinter - Österreichs in die Wege zu leiten. „Es ist Gesetz jedoch unberücksichtigt. 55 grund der Staatsvertragsverhandlungen selbstverständlich, daß die österreichi - Auch international trat Fritz Weissen - im Jahr 1947 kamen bei einer Diskussion sche Jugend kein Interesse hat, neuerlich beck als führender Repräsentant der FÖJ in den Spalten der FÖJ-Zeitschrift für Kriegsabenteurer und Kriegsverdie - in Erscheinung: Im März 1946 war er an - Jugend voran noch verschiedene Stim - ner ihren Kopf hinzuhalten. Ein Bundes - lässlich des ungarischen Staatsfeiertags men zu Wort. Während die ablehnenden heer würde aber gerade dies bedeuten. (dem Tag der Proklamation der Republik Haltungen gegenüber der Wiederauf - Darum sind die Kommunisten gegen die im Jahr 1848) in Budapest. 56 Wenige stellung eines Bundesheers deutlich in Aufstellung einer Armee“, argumentierte Monate später, im Juli 1946, wurden der Mehrheit waren, sprach sich Weis - Weissenbeck nunmehr in einer monat - Otto Brichacek und Fritz Weissenbeck senbeck für eine demokratische Armee lich erscheinenden Zeitschrift der KPÖ vom Antifaschistischen Komitee der aus, um die Unabhängigkeit des Landes für die junge Generation: „Ein Bundes - S owjetjugend eingeladen, am „Tag der zu sichern: „Wir haben im Land genü - heer in Österreich würde nichts anderes Körperkultur“ zur Sportparade nach Mos - gend Spanienkämpfer, Partisanen, Frei - als ein Machtinstrument in den Händen kau zu kommen. Weissenbeck besuchte heitskämpfer, die in alliierten Armeen der Kapitalisten sein, um ihre Politik der im Rahmen seines ersten und einzigen mitgekämpft hatten, und anständige Ausbeutung und Unterdrückung mit Ge - Aufenthalts in der Sowjetunion einen Anti faschisten mit genügend Fähigkei - walt durchsetzen zu können.“ 63 Als im Textilbetrieb mit 4.000 Beschäftigten, ten, die uns eine Gewähr sind, daß unse - August 1948 US-amerikanische Ge - eine Kolchose und eine Lehrwerkstätte re Armee nicht gegen das Volk, sondern neräle nach Wien reisten, um mit der für Metallarbeiter in der Nähe Moskaus. mit dem Volk sein wird“, so die Argu - Bunderegierung über eine österreichi - Weitere Stationen der mehrwöchigen mentation des Wiener FÖJ-Obmanns. 60 sche Armee zu beraten, organisierte die Reise waren Leningrad und Stalingrad Auch der FÖJ-Vorsitzende Otto - FÖJ eine Demonstration über die Ring -

2/20 10 Beiträge Wien-Meidling einen PKW, der Vorrang und hätte der österreichischen Kommu - hatte. Weissenbeck erlitt einen Schädel - nistischen Partei sicher einen besseren basisbruch und verstarb noch am Trans - Platz verschaffen können“. 72 Für Grete port ins Krankenhaus. Sein Mitfahrer Hinterberger war Weissenbeck „der kam mit leichten Verletzungen davon. 68 ideale Jugendfunktionär“, der mit allen Am 8. Oktober 1949 wurde der Sarg „gut Freund“ gewesen sei und es ver - zunächst im „Haus der Jugend“ der FÖJ standen habe, die FÖJ-Mitglieder „für in der Prinz-Eugen-Straße 12 (heute den Kampf gegen den Krieg und eine Haus des Sports) aufbewahrt, wo sich bessere soziale Welt zu motivieren“. 73 FÖJ-Mitglieder von Fritz Weissenbeck FÖJ-Mitgliedern ist Fritz Weissenbeck verabschieden konnten. Paul Frischauer, als lebensfrohe Persönlichkeit, als stets der interimistische neue Stadtleiter der heiterer und fröhlicher Freund und Ge - FÖJ (zum Nachfolger Weissenbecks nosse in Erinnerung geblieben, 74 musi - wurde kurz darauf Hans Brennig ge - zierend im FÖJ-Bad am Dampfschiff - wählt 69 ), hielt eine Gedenkrede. Von hafen in Kaisermühlen, als Kapitän der dort fand ein großer Trauerzug zum Volleyballmannschaft und „tempera - Schwarzenbergplatz (damals Stalinplatz) mentvoller, lebenssprühender“ Funk - statt, an dessen Spitze 200 Fahnenträge - tionär, der mit Gitarre in die Gruppen Margit und Fritz Weissenbeck rInnen, voran die Fahnen der Internatio - kam und dort Gesang und Leben hinein - nalen Brigaden, standen. Nach der Über - brachte. 75 Am Abend des ersten Bun - straße zum Hotel Bristol, wo in Sprech - führung ins Krematorium folgten zu Mit - deskongresses der FÖJ im Juni 1946 chören gegen die drohende Einbezie - tag die Trauerfeier am Zentralfriedhof spielte Weissenbeck mit der Gitarre Lie - hung Österreichs in den Atlantikpakt und die Einäscherung. Laut Bericht der der der Internationalen Brigaden neben protestiert wurde. Die DemonstrantInnen Volksstimme wurde Weissenbeck von „schwermütigen Liedern aus den Kon - wurden von der Polizei zum Künstler - Tausenden seiner FreundInnen und Ge - zentrationslagern und frohen und ernsten hauskino abgedrängt, wo Weissenbeck nossInnen, darunter zahlreiche ehemali - österreichischen Volksweisen“. 76 „[…] eine kurze Ansprache hielt. 64 Die ableh - ge KZ-Häftlinge und Spanienfreiwillige, lachend, lustig, immer gut aufgelegt, voll nende Haltung der FÖJ gegenüber der zur letzten Ruhestätte geleitet. Vor der Leben, Feuer und Schabernack“, wurde Wiederaufrüstung Österreichs unter - Feuerhalle hielten Friedl Fürnberg, der er in diesem Jahr den LeserInnen von strich Weissenbeck am 25. März 1949 in Generalsekretär der KPÖ, und Otto J ugend voran vorgestellt. 77 einem Radiovortrag: „Wir wissen uns Brichacek, der Vorsitzende der FÖJ, In einem Nachruf wurden sein Arbeits - eins“, so schloss er seine Ansprache, Trauerreden. Am Ende der Trauerfeier ernst und Lerneifer, sein Humor und sei - „mit der Jugend der ganzen Welt im sang der Wiener FÖJ-Chor „Unsterb - ne Hilfsbereitschaft, „seine Bescheiden - Kampf gegen die Kriegsbrandstifter und liche Opfer“, 70 eines der bekanntesten heit und Geradheit“ hervorgehoben. 78 für den Frieden. Genug vom Barras, wir Lieder der ArbeiterInnenbewegung, das Josef Andersch, dessen Vater 1942 als wollen den Frieden!“ 65 an die Opfer der russischen Revolution kommunistischer Widerstandskämpfer In den folgenden Jahren begann in Ab - des Jahres 1905 erinnert. hingerichtet wurde, erinnert sich etwa sprache mit den USA die geheime Wie - Als das Zentralkomitee der KPÖ im daran, wie er 1948 mit Unterstützung derbewaffnung Österreichs. 66 Auch nach Rahmen seiner vierten Plenartagung am von Weissenbeck eine FÖJ-Betriebs - Abschluss des Staatsvertrags sprach sich 11. November 1949 zu einer kleinen Fei - gruppe bei Austro-Fiat in Wien-Florids - die KPÖ weiter gegen ein Bundesheer er für Johann Koplenig zusammen kam, dorf aufbaute. 79 Herbert Steiner, der spä - aus. Auf der einen Seite wurde eine der zum damaligen Zeitpunkt seit 25 tere Gründer des Dokumentationsarchivs Volksabstimmung über die Aufstellung Jahren an der Spitze der Partei stand, des österreichischen Widerstandes , cha - einer Armee gefordert, gleichzeitig wur - wurde eine Trauerminute für den ver - rakterisiert Weissenbeck als einen „der de „ein stehendes Heer sowohl als Söld - storbenen Fritz Weissenbeck abgehal - beliebtesten und fähigsten österreichi - nerarmee, als auch auf der Grundlage der ten. 71 Es ist gewiss nicht spekulativ zu schen Jugendfunktionäre“. 80 Sein allgemeinen Wehrpflicht“ abgelehnt. Zur behaupten, dass Fritz Weissenbeck als Ravensbrücker KZ-Kamerad Otto Stiedl Verteidigung von Unabhängigkeit und Wiener Stadtleiter der FÖJ, Mitglied der spricht von „erschütternden Szenen fas - Neutralität schien der KPÖ allenfalls Wiener Stadtleitung der KPÖ und Kan - sungslosen Schmerzes“ vor der Simme - eine demokratische Miliz mit einer didat des Zentralkomitees der Partei ringer Feuerhalle, „wie es in der Ge - maximalen Dienstzeit von vier Monaten auch in den folgenden Jahren eine nicht schichte nur den wahren Aposteln des geeignet. 67 unbedeutende Rolle in der KPÖ-Führung Humanismus je zuteil wurde“. 81 gespielt hätte. Er wäre „der geborene Die charismatische Ausstrahlung und Tödlicher Verkehrsunfall Parteiführer gewesen“, schätzt etwa der Vorbildfunktion von Weissenbeck wird Am 1. Oktober 1949, in der Schluss- Schriftsteller Ernst Hinterberger ein, der u.a. durch die Tatsache bestätigt, dass phase des Wahlkampfes, verunglückte in diesen Jahren ebenso wie seine Frau der erst 16 Jahre alte Arik (damals Fritz Weissenbeck tödlich bei einem Grete in der FÖJ aktiv war. Weissenbeck „Erich“) Brauer durch Weissenbeck zur Verkehrsunfall. Der begeisterte Motor - hatte „das Zeug zum echten Volkstribu - FÖJ stieß und unter dem Eindruck dieser radfahrer war mit Eduard Luner am nen in sich, er redete nicht nur um des Bekanntschaft zum Kommunisten wur - Soziussitz zu einem Vorbereitungstref - Redens und der Rhetorik willen, sondern de. Auf einem anderen Blatt steht der fen für eine Kundgebung am Welt - aus vollem Herzen, hatte den für den eher zweifelhafte Versuch des seit den friedenstag unterwegs und übersah in der Umgang mit Massen unumgänglichen 1950er Jahren bekannten Malers, Sän - Tivoligasse (Ecke Ruckergasse) in Schmäh drauf, war immer gut gelaunt gers und Dichters, sein später als „Irr -

2/20 Beiträge 11 weg“ erkanntes Engagement für die 19.5.1946, S. 1–2, KPÖ mit seiner damaligen Naivität zu hier S. 1. rechtfertigen. Als würde es nicht ohnehin 3/ Zentrales Partei - jedem und jeder freistehen, seine bzw. archiv (ZPA) der ihre politischen und ideologischen Über - KPÖ, Lebenslauf, zeugungen zu ändern, führt er seinen o.D. [1945]; Fritz Beitritt zur FÖJ und KPÖ auf die Tat - Weissenbeck, in: sache zurück, dass Weissenbeck ihm als Jugend voran , Nr. idealem „Rohmaterial für die Kader - 40, 8.10.1949, S. 1; schmiede […] systematisch sein ideolo - Mia Schick: Uns al - gisches Gift“ eingeträufelt habe, wie er len ist er unvergeß - in seinen Lebenserinnerungen schreibt. 82 lich. Fritzl Weißen - Wie auch Fritz Weissenbeck ist Arik beck war und ist Brauer damaligen FÖJ-Mitgliedern vor unser Vorbild, in: allem Gitarre spielend in Erinnerung ge - J ugend voran , Nr. blieben. Für die „Burschengruppe“ der 39, 30.9.1950, S. 2. Trauerfeier für den verunglückten Fritz Weissenbeck am 8. Okto - FÖJ schrieb Brauer politische Texte und 4/ ZPA der KPÖ, ber 1949, oben: Trauerzug zum Schwarzenbergplatz, unten: Singspiele, „die dann, nachdem sie ein - Lebenslauf, o.D. Rede von Friedl Fürnberg vor der Feuerhalle Simmering, rechts studiert waren, mit großem Erfolg auf - [1945]; Notiz, o.D. vorne neben dem Sarg: FÖJ-Bundessekretär Herbert Steiner. geführt wurden“. 83 1953 wandte sich [1945]. Brauer vom Kommunismus ab. In der 5/ i. r.: Leuchtende jüngeren Vergangenheit tätigte er in Vorbilder der Interviews so manche Äußerung, die Jugend. Arbeiter - man durchaus dem Antikommunismus funktionäre berich - zuordnen kann. 84 ten über das Leben Fritz Weissenbeck hinterließ seine erst und die Opfer jun - 19-jährige Witwe Margit, die seit 1945 ger Kommunisten, der FÖJ und seit 1946 der KPÖ angehör - in: Österreichische te, und seinen gleichnamigen, im Febru - Volksstimme , ar 1949 geborenen Sohn Fritz. Der Name 2.2.1956, S. 4. Fritz wurde von seinem Sohn auch in die 6/ Hans Safrian: dritte und vierte Generation der Familie Sozialgeschichtliche weitergetragen. Margit Weissenbeck ar - Hintergründe und beitete bis zum Abschluss des Staats- Motive österreichi - vertrags im Jahr 1955 in der metallur- scher Spanien- gischen Abteilung der sowjetisch verwal - kämpfer, in: Dokumentationsarchiv des öster - 17/ BArch, R 3017/26081, Oberreichsanwalt teten Betriebe in Österreich (USIA). Sie reichischen Widerstandes (Hg.): Jahrbuch beim Volksgerichtshof, 7 J 19/41 v. 28.1.1941. starb am 5. Februar 1964 im Alter von 1990. Wien 1990, S. 89–107, hier S. 92. 18/ ZPA der KPÖ, Lebenslauf, o.D. [1945]; nur 33 Jahren an einem Krebsleiden. 7/ RGASPI 545/6/74, Charakteristik, 8.4.1940 DÖW 20.000/W232, Allied High Commission for Auch ihre Mutter Karoline Brabec gehör - (Kopie in DÖW/Spanienarchiv). Germany, International Tracing Service, Inhaf - te der KPÖ an und arbeitete – wie viele 8/ Wir stellen vor: Fritz Weissenbeck, Wiener tierungsbescheinigung, 27.7.1953. KommunistInnen – als Vertragsbedien - Stadtleiter der FÖJ, in: Jugend voran , Nr. 18, 19/ Bernhard Strebel: Das Männerlager im KZ stete in der Wiener Polizeidirektion. 85 19.5.1946, S. 1–2, hier S. 1; DÖW 51.354, Ravensbrück 1941–1945, in: Wolfgang Wenige Wochen nach dem Tod von Ferdinand Barth: Mit allen Wassern gewaschen. Benz/Barbara Distel (Hg.): Verfolgung als Grup - Fritz Weissenbeck wurde das südlich von Ein roter Matrose erzählt, o.D., S. 38. penschicksal. Dachau 1998 (Dachauer Hefte, Wien gelegene FÖJ-Heim bei Wildegg 9/ ZPA der KPÖ, Fragebogen, 12.9.1945. Bd. 14), S. 141–174, hier S. 141 und 147. (damalige Gemeinde Sittendorf, heute 10/ ZPA der KPÖ, Fritz Weissenbeck an seine 20/ Bernhard Strebel: Das KZ Ravensbrück. Gemeinde Wienerwald im Bezirk Möd - Familie, Argelès-sur-Mer, 30.9.1940. Geschichte eines Lagerkomplexes. Paderborn, ling) „Fritz Weissenbeck-Herberge“ 11/ ZPA der KPÖ, Briefe von Fritz Weissenbeck München, Wien, Zürich 2003, S. 299. benannt. 86 Nachdem die FÖJ gezwungen an seine Familie, 1941–1944. 21/ DÖW 50.104/794, Włodzimierz Kuliński: Der war, das Heim aufzugeben, verschwand 12/ DÖW/Spanienarchiv, Hans Körner: Rück - österreichische Beitrag zur Widerstands- der Name Weissenbecks wieder von der zug zu neuen Kämpfen, o.D., S. 13. bewegung im Männerlager des KZ Ravens - Herberge. In der Bundeshauptstadt gibt es 13/ Hans Landauer: Österreichische Spanien - brück. Warschau 1971, S. 10f. kein Erinnerungszeichen an den Spani - kämpfer in deutschen Konzentrationslagern, in: 22/ Wir stellen vor: Fritz Weissenbeck, Wiener en kämpfer und Wiener FÖJ-Vorsitzenden. Überleben und Spätfolgen. München 1996 Stadtleiter der FÖJ, in: Jugend voran , Nr. 18, (Dachauer Hefte, Bd. 8), S. 170–180, hier S. 171. 19.5.1946, S. 1–2, hier S. 1. Anmerkungen: 14/ ZPA der KPÖ, „Blaue Kartei“ der Wiener 23/ Manfred Mugrauer: Ernst Burger (1915– 1/ Dokumentationsarchiv des österreichischen Gestapo, S. 317. 1944). Funktionär des Kommunistischen Widerstandes (DÖW) 20.000/W232, Polizei- 15/ DÖW, Fotografierschein der Gestapo Wien, Jugendverbandes und führendes Mitglied der direktion Wien (Z.M.A.) an MA 61, M. 3377/53 v. Zl. II A 1/10403/40 v. 12.12.1940. „Kampfgruppe Auschwitz“, in: Dokumentations - 24.4.1953. 16/ Bundesarchiv Berlin (BArch), R 3017/26081, archiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): 2/ Wir stellen vor: Fritz Weissenbeck, Wiener Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Wien Feindbilder. Jahrbuch 2015. Wien 2015, Stadtleiter der FÖJ, in: Jugend voran , Nr. 18, an den ORA beim VGH, 13.1.1941, S. 2. S. 191–228, hier S. 217f.

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Wahlvorschlagskommission, S. 1. (1949), Nr. 9/10, S. 23–25, hier S. 24f. 42/ Die Stärksten im gegen Land. Jahreskonfe - 64/ Protestaktion gegen den amerikanischen renz der Wiener FÖJ – Ein Beispiel für man - Generalsbesuch. Polizeirittmeister Wiesner will chen Ministerrat, in: Jugend voran , Nr. 21, auf Demonstranten schießen, in: Österreichi - 25.5.1947, S. 3; Der Motor der Wiener Jugend, sche Zeitung , 9.8.1949, S. 1. in: Jugend voran , Nr. 20, 15.5.1948, S. 3. 65/ Auf den Spuren der Faschisten, in: Öster - 43/ Vertreter aller drei Parteien bei der Konferenz reichische Volksstimme , 26.3.1949, S. 2. der FÖJ, in: Jugend voran , Nr. 24, 30.6.1946, S. 1. 66/ Manfried Rauchensteiner: Stalinplatz 4. 44/ Jugend voran , Nr. 25, 19.6.1948, S. 2. Österreich unter alliierter Besatzung. Wien 45/ Die Wahl der Wiener Stadtleitung, in: Öster - 2005, S. 179. reichische Volksstimme , 13.3.1946, S. 2. 67/ Die Kommunistische Partei zur Frage der FÖJ-Herberge Wildegg im Wienerwald 46/ Die neue Stadtleitung der Wiener Kommunis - Armee, in: Weg und Ziel , 13. Jg. (1955), Nr. 7/8, ten, in: Österreichische Volksstimme , S. 586–588, hier S. 587f. 24/ Otto Brichacek: Fritz Weißenbeck, in: Öster - 11.4.1948, S. 2. 68/ Wie Fritz Weißenbeck verunglückte, in: Der reichische Volksstimme , 2.10.1949, S. 4. 47/ ZPA der KPÖ, Protokoll der Sitzung der Wie - Abend , 3.10.1949, S. 2. 25/ T.S.: Fritzl, der Arbeiterjunge und Kommu - ner Stadtleitung der KPÖ am 14.4.1948, S. 1. 69/ Der neue Wiener Stadtleiter der FÖJ, in: Der nist, in: Österreichische Volksstimme , 48/ Der 14. Parteitag der Kommunistischen Partei Abend , 31.10.1949, S. 2. 9.10.1949, S. 5. Österreichs (Gekürztes Protokoll), hg. vom Zen - 70/ Fritz Weißenbecks letzter Weg. Tausende 26/ DÖW 50.104/12, Hermine Jursa: Bericht tralkomitee der Kommunistischen Partei Öster - gaben ihm das letzte Geleit, in: Österreichische über das KZ Ravensbrück, o.D., S. 3. reichs. Wien: Stern-Verlag o.J. [1948], S. 210. Volksstimme , 9.10.1949, S. 2; W.S.: Abschied 27/ DÖW 50.104/794, Kuliński: Widerstands- 49/ Kandidaten der Jugend, in: Jugend voran , von Fritz Weissenbeck, in: Jugend voran , bewegung, S. 11f. Nr. 38, 24.9.1949, S. 6. Nr. 41, 15.10.1949, S. 3. 28/ DÖW 4556, Urteil des OLG Wien gegen 50/ ZPA der KPÖ, Der Kongress der Jugend. 71/ ZPA der KPÖ, Protokoll des 4. ZK-Plenums Karl Zelenka u.a., 27.9.1941; ZPA der KPÖ, Bericht über Ersten Bundeskongress der Freien der KPÖ am 11./12.11.1949, S. 2. Otto Stiedl: Lebenslauf, Juli 1945. Österreichischen Jugend. Sommer 1946, hg. 72/ Ernst Hinterberger: Ein Abschied. Lebens- 29/ ZPA der KPÖ, Otto Stiedl: Männer in von der Bundesleitung der FÖJ, S. 13. erinnerungen. Wien 2002, S. 130f. Ravensbrück, November 1968, S. 2f. 51/ FÖJ-Delegation beim Bundeskanzler, in: 73/ Grete Hinterberger, 10.11.1999, in: Erich 30/ ZPA der KPÖ, Lebenslauf, o.D. [1945]. Jugend voran , Nr. 19, 26.5.1946, S. 1. Makomaski (Hg.): Die Freie österreichische 31/ ZPA der KPÖ, Zeugnis der Wiener Stadt- 52/ Wir stellen vor: Fritz Weissenbeck, Wiener Jugend. (Ehemalige) Mitglieder erzählen ihre leitung der KPÖ, 15.1.1946. Stadtleiter der FÖJ, in: Jugend voran , Nr. 18, Geschichte. Wien 2002, S. 94–95, hier S. 95. 32/ ZPA der KPÖ, Protokoll der Sitzung der 19.5.1946, S. 1–2, hier S. 1. 74/ Otto Brichacek: Fritz Weißenbeck, in: Öster - Wiener Stadtleitung der KPÖ am 9.7.1945; 53/ Stürmische Parlamentssitzung um das reichische Volksstimme , 2.10.1949, S. 4. Angestellte der Wiener Stadtleitung der KPÖ, Jugendschutzgesetz, in: Österreichische Volks - 75/ Fritz Weissenbeck, in: Jugend voran , Nr. 40, 18.12.1945. stimme , 2.7.1948, S. 1. 8.10.1949, S. 1. 33/ ZPA der KPÖ, Provisorische Landespartei - 54/ ZPA der KPÖ, Material für die Delegierten 76/ … delegiert zum Kongress der Jugend, hg. leitung der KPÖ Niederösterreich, 2.1.1946. des 2. Wiener Landesparteitages über die von der Freien Österreichischen Jugend. Wien 34/ Herbert Steiner: Die Anfänge der FÖJ, in: Arbeit unter den Jugend, April 1948, S. 1. o.J. [1946], S. 12. Beiträge zur Geschichte der kommunistischen 55/ Stürmische Parlamentssitzung um das 77/ Wir stellen vor: Fritz Weissenbeck, Wiener Jugendbewegung in Österreich, hg. von der Jugendschutzgesetz, in: Österreichische Volks - Stadtleiter der FÖJ, in: Jugend voran , Historischen Kommission beim ZK der KPÖ. stimme , 2.7.1948, S. 1. 19.5.1946, S. 1–2, hier S. 1. Wien 1981, S. 82–96, hier S. 82. 56/ Fritz Weißenbeck: Beim Staatsfeiertag in 78/ T.S.: Fritzl, der Arbeiterjunge und Kommunist, 35/ Günther Grabner: Geschichte der „Freien Budapest, in: Jugend voran , 24.3.1946, S. 1. in: Österreichische Volksstimme , 9.10.1949, S. 5. Österreichischen Jugend“ (FÖJ) als politische 57/ Das Land der Jugend. Fritz Weißenbeck 79/ Josef Andersch, 20.9.1999, in: Makomaski Jugendbewegung in Österreich 1945–1969. erzählt über seinen Besuch in der Sowjetunion, (Hg.): Die Freie österreichische Jugend, S. 27– Dissertation Universität Salzburg 1978, S. 41 in: Jugend voran , Nr. 31, 18.8.1946, S. 3 und 28, hier S. 27. und 313; ZPA der KPÖ, Zusammensetzung der Nr. 32, 25.8.1946, S. 3. 80/ Steiner: Die Anfänge der FÖJ, S. 88. Stadtleitung der FÖJ, 22.5.1945 und 29.5.1945. 58/ Heimkehr aus Prag. Unsere Jugend hat 81/ ZPA der KPÖ, Otto Stiedl: Männer in 36/ ZPA der KPÖ, Protokoll der Sitzung des Se - Österreich viele Freunde gewonnen, in: Öster - Ravensbrück, November 1968, S. 3. kretariats des ZK der KPÖ am 6.12.1945, S. 1. reichische Volksstimme , 19.8.1947, S. 2. 82/ Arik Brauer: Die Farben meines Lebens. 37/ Ebd. 59/ Wie sie ihre Medaillen erwarben, in: Jugend Erinnerungen. Wien 2014, S. 93–98, hier S. 96. 38/ Aufbau der Wiener Parteiorganisation. voran , Nr. 34, 24.8.1947, S. 3. 83/ Erich Makomaski: Meine persönliche Richtlinien, hg. von der Wiener Stadtleitung der 60/ Fritz Weißenbeck: Für eine Volksarmee, in: Geschichte, in: ders. (Hg.): Die Freie öster - KPÖ. Wien o.J. [1945], S. 14; ZPA der KPÖ, Jugend voran , Nr. 14, 6.4.1947, S. 2. reichische Jugend, S. 11–21, hier S. 11. Sekretariat des ZK der KPÖ an alle Landes- 61/ Brauchen wir eine Armee? Jugendliche sa - 84/ Danielle Spera/Peter Menasse: Genosse und Bezirksleitungen, 22.1.1946, S. 2. gen ihre Meinung, in: Jugend voran , Nr. 11, Jude, in: Nu , Nr. 12, Juli 2003, S. 5–11, hier 39/ Unser Weg. Die Arbeitstagung der „Freien 16.3.1947, S. 1. S. 11; Künstler Arik Brauer wird 90: „Ich verach - Österreichischen Jugend“, hg. von der Freien 62/ Kein Geld für eine Armee! Erklärung des te Stalin viel mehr als Hitler“, in: Der Standard , Österreichischen Jugend. Wien 1946, S. 32. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei 3.1.2019. 40/ Wiener Jugendparlament tagt. Die erste zur Wehrmachtsfrage, in: Österreichische 85/ ZPA der KPÖ, Margit Weissenbeck: Frage - demokratischer Konferenz der Wiener Jugend, Volksstimme , 11.6.1948, S. 1. bogen, 24.9.1952. in: Jugend voran , Nr. 19, 26.5.1946, S. 3. 63/ F. [Fritz] Weißenbeck: Warum sind die Kom - 86/ Fritz-Weißenbeck-Herberge bei Wildegg, in: 41/ ZPA der KPÖ, Wiener Konferenz der FÖJ munisten gegen die Aufstellung eines Bundes - Der neue Mahnruf , Nr. 11, Mitte November am 18./19.5.1946, Mia Schick: Bericht der heeres?, in: Jugend und Sozialismus , 2. Jg. 1949, S. 4.

2/20 Beiträge 13 „Über die Befreiung 1945 hinaus“ Die Österreichische Freiheitsfront in Leoben HeiMo HAlbrAiNer m 25. Juni 1945 berichtete der hatte, solche überparteilichen Wider - der Unterstützer und Unterstützerinnen Direktor der Alpine-Montan- standsgruppen in ganz Österreich zu bil - aufgerollt und hunderte Männer und A Gesellschaft in Donawitz, Dipl.- den. 3 Die Basis für die ÖFF im Bezirk Frauen in Konzentrationslager überstellt, Ing. Bernhard Matuschka, anlässlich der Leoben war aber bereits vor dem Aufruf wo über 40 von ihnen starben. 7 Ohne das Wiederinbetriebnahme des Stahlwerks gelegt worden. So hatten sich in Leoben sichere „Hinterland“ – also jene Orte, auch über das Ende des NS-Regimes und Kommunisten, die die Verhaftungs- wohin sich die Partisanen in den Monaten die Befreiung in Leoben: „Am denkwür - wellen der vorangegangenen Jahre über - zuvor immer zurückgezogen hatten und digen 8. Mai 1945 erschien der Führer standen hatten, um den Schlosser Sepp von wo sie mit Informationen und Pro - der Österreichischen Freiheitsbewegung Filz, 4 den Uhrmacher Ferdinand Andre - viant versorgt worden waren – mussten in Leoben und jetzige Vorsitzende der jowitsch, den Kriegsversehrten Max sich die Kämpfer der ÖFF in kleinen Kommunistischen Partei, Sepp Filz, Muchitsch, den gerade erst aus der Haft Gruppen in die Berge zurückziehen und direkt aus den Bergen kommend, bei uns entlassenen Anton Wagner und den ehe - auch ihre Strategie ändern. Dies hieß in unserer Direktion. Es wurde beschlos - maligen Gewerkschaftssekretär Simon vorerst eine Abkehr vom bewaffneten sen, den Werkschutz aufzulösen, und Trevisani gesammelt und 1942 mit dem Kampf und eine Vorbereitung des seine Waffen wurden unverzüglich den Neuaufbau eines Netzes von Wider - Widerstands auf den Zeitpunkt des Kämpfern der Österreichischen Frei - standsgruppen in und um Leoben begon - Zusammenbruchs des Regimes. 8 Aus heitsfront übergeben. Dadurch wurde es nen. Mehrere Mitglieder dieser Gruppe diesem Grund wurden etwa im Frühjahr den Freiheitskämpfern ermöglicht, die mussten Anfang April 1943 – um einer 1945 auch neue Verbindungen zu Oppo - Eroberung der Polizeidirektion, so wie drohenden Verhaftung zu entgehen – zu sitionellen geknüpft. Letztlich übernah - die der anderen Behörden von Leoben den slowenischen Partisanen fliehen, zu men die Partisanen der ÖFF – Sepp Filz durchzuführen, was zur Folge hatte, dass denen über die Fremdarbeiter aus Jese - und Max Muchitsch in Leoben, Anton die Ruhe und Ordnung sowohl im Werk nice (Aßling) in den Hermann-Göring- Wagner, Franz Lindmoser und andere in als auch im Gebiet der Stadt Leoben auf - Werken in Donawitz Kontakte bestan - Eisenerz, Radmer und Hieflau – die rechterhalten worden ist, bis die sieg - den. 5 Gemeinsam mit ihnen kämpften sie Macht im Bezirk Leoben. reichen Truppen der Roten Armee in einige Zeit in den slowenischen Bergen, unserer Stadt einzogen.“ 1 ehe zwei – Sepp Filz und Anton Wagner Die ÖFF nach der Befreiung Es wurde an diesem Tag aber nicht nur – Ende Juni 1943 wieder nach Leoben Nachdem große Teile der national - der nationalsozialistische Werkschutz zurückkehrten und sich hier an den Auf - sozialistischen Eliten von Leoben vor aufgelöst und damit auch die Umsetzung bau einer organisatorischen Basis für den der herannahenden Roten Armee Rich - des so genannten „Nero-Plans“ – die Partisanenkampf machten. Die im tung Westen geflohen waren, war in der Sprengung der Industrieanlagen – ver - November 1943 gegründete ÖFF begann Stadt ein machtpolitisches Vakuum ent - hindert, und es wurden an dem Tag nicht schließlich im Frühjahr 1944 mit dem standen, das die aus den Bergen kom - nur die öffentlichen Ämter erobert bzw. bewaffneten Kampf. Gleichzeitig ver - menden Partisanen umgehend beseitig - besetzt, um sodann der in Leoben ein - breitete sie Flugblätter und das Pro - ten. Sie übernahmen – wie eingangs ge - rückenden Roten Armee eine „befreite“ gramm der ÖFF, in dem sie unter ande - schildert – noch am 8. Mai 1945 alle Stadt zu übergeben, es wurde seitens der rem zum „Kampf mit allen uns zur Ver - öffentlichen Ämter und Funktionen bzw. aus den Bergen kommenden Partisanen fügung stehenden Mitteln einschließlich setzen als Leiter politisch integre Perso - der Österreichischen Freiheitsfront auch Waffengebrauchs gegen die faschisti - nen ein. Wo dies nicht möglich war, damit begonnen, eine öffentliche Ver - schen Okkupanten und ihre österreichi - ließen sie die Ämter durch Beiräte kon - waltung nach ihrer Konzeption in der schen Helfershelfer“ aufrief und für die trollieren. So stellte Sepp Filz beispiels - Stadt und schließlich im ganzen Bezirk „Errichtung eines freien, unabhängigen, weise unmittelbar nach der Besprechung aufzubauen. demokratischen Österreichs, das mit mit Direktor Matuschka am 8. Mai die - allen Völkern in Freundschaft zu leben sem den Kommunisten Hans Reichen - Die Österreichische gewillt ist, jeden Rassen- und National - bauer zur Seite, ohne dessen Zustim - Freiheitsfront 1943 bis 1945 haß bekämpft sowie Religions- und Mei - mung der Direktor vorerst nichts unter - Die vom Direktor genannte Öster - nungsfreiheit sichert“, eintrat, sowie die nehmen durfte. Zwei Tage später wurde reichische Freiheitsfront (ÖFF) wurde „Enteignung der Schwerindustrie, des ein paritätisch besetzter Beirat mit dem im November 1943 in der Nähe von Tro - Großgrundbesitzes sowie der faschis- Christlich-Sozialen Rupert Stummer und faiach (Bezirk Leoben) gegründet, 2 tischen Institutionen, deren Verstaat - den beiden Marxisten Alfred Macher nachdem bereits am 22. Oktober 1942 lichung bzw. Aufteilung“ 6 forderte. und Reichenbauer installiert. 9 Ähnlich der Moskauer Exilsender Freies Öster - Nach zahlreichen Anschlägen und wurde auch mit den übrigen Betrieben reich von einer fiktiven Gründungsver - Überfällen auf Nationalsozialisten war und Ämtern verfahren. sammlung einer Österreichischen Frei - es den nationalsozialistischen Verfolgern Die Tätigkeit der Gendarmerie wurde heitsfront durch Vertreter verschieden - im Sommer 1944 schließlich gelungen, im Bezirk Leoben (einschließlich ster politischer Richtungen und sozialer der Gruppe schwere Schläge zuzufügen: Admont, Selztal, Rottenmann, Trieben Schichten berichtet und dazu aufgerufen So wurde unter anderem das Netzwerk und Gaishorn) vorläufig eingestellt, nicht

2/20 14 Beiträge tragbare Gendarmen außer Dienst ge - aller politischen Vorgänge und die Ver - stellt und andere für Kanzleitätigkeit ein - haftungen der Nazi leitet und kontrol - geteilt. Antifaschisten, die von der ÖFF liert. [...] Der Dreierausschuss besteht im gestempelte Armbinden und Waffen er - Einvernehmen mit dem Bürgermeister, hielten, wurden als neue Ordnungspoli - dem Sicherheitsdienstleiter (womöglich zei dem Sicherheitsdienstleiter der kein Gendarm oder Polizeibeamter, son - jeweiligen Gemeinde unterstellt und hat - dern fähiger, energischer Antifaschist). ten „alle politischen Aufgaben (Verhaf - Der Ausschuss hat auch im Einverneh - tungen, Fahndungen, Geflüchtete, Beo- men mit dem Bürgermeister für die kom - bachtungen, Arbeitseinsatz der Nazi missarische Besetzung aller Nazibetriebe usw.) durchzuführen.“ 10 und -geschäfte zu sorgen. Weiters hat er Die Führung der ÖFF bestand zunächst alle Maßnahmen zu beschließen und aus Sepp Filz und dem Christlich-Sozia - durchführen zu lassen für die Normali - len Alois Sormann, der während der Zeit sierung des öffentlichen Lebens, und die des Austrofaschismus als Vertreter des Wiederingangsetzung der Wirtschaft. Katholischen Arbeitsbundes im Steier - Hierher gehört auch die Sicherstellung märkischen Landtag saß. 11 Mitte Mai von Fahrzeugen, Lebensmittel usw. Der wurde als oberstes Organ der ÖFF der Dreierausschuss bewacht auch die Wie - paritätisch (KPÖ, ÖVP, SPÖ) zusam - dergutmachung der aus den Gefängnis - Sepp Filz (1906–1994) mengesetzte Dreier-Ausschuss geschaf - sen und KZ-Lagern kommenden Anti- fen, der in den elf Wochen seines Beste - faschisten. Er hat für die rasche Vertei - Fabriken Diversion im großen Stil betrie - hens von Sepp Filz geleitet wurde. Ihm lung der Naziwohnungen zu sorgen. Er ben, Militärzüge zum Entgleisen brach - zur Seite gestellt waren ein Sozialdemo - hat die Aufgabe, die Nazi zu Zahlungen ten, bewaffnete Überfälle auf kleine deut - krat und ein Vertreter der Österreichi - für den öffentlichen Wiederaufbau und sche Garnisonen und Fahrzeugparks ver - schen Volkspartei. Bis 13. Juni war dies für die Wiedergutmachung heranzuzie - übten und Kontakt zu jugoslawischen für die Sozialdemokratische Partei Franz hen. Überparteiliche Organisationen, Partisanen unterhielten. In diesen Einhei - Kramer, danach Albert Wlasto. Für die Sport, Jugend, Gewerkschaften sollen ten waren auch russische Kriegsgefange - ÖVP war dies zunächst bis 11. Juni Alois vom Dreierausschuss geschaffen und ge - ne vertreten. Die kommunistische Orga - Sormann, dann bis 19. Juni Otto Töfferl fördert werden.“ 12 nisation Leobens wird von Josef Filz ge - und danach Josef Tschikonig. Neben die - Zur Unterstützung dieser Vorhaben ga - leitet, der seinen eigenen Worten zufolge, sem Dreier-Ausschuss wurde Ende Mai ben die Obersteirischen Freiheitskämp - seit 1921 Mitglied der Kommunistischen ein Siebener-Ausschuss eingerichtet, in fer für die Bezirke Leoben und Bruck an Partei ist. Die Kommunistische Partei dem die Verantwortlichen für die Berei - der Mur eine eigene Tageszeitung, das vereinigte sich mit den Sozialdemokraten che Ernährung, Handel-Gewerbe-Indus- Obersteirische Tagblatt , mit einer Aufla - zu einem geeinten Block, und auf einer trie, Wirtschaft, Verkehrswesen, Sicher - ge von 35.000 Stück heraus, in dessen gemeinsamen Versammlung wurde ein heit, Gesundheitswesen und Schulwesen erster Nummer es unter anderem hieß: Aufruf dieses Blockes an die örtliche Be - saßen. Daneben gab es noch den großen „Seine vornehmste Aufgabe erblickt das völkerung ausgearbeitet.“ 15 ÖFF-Vertrauensrat, in dem neben den Obersteirische Tagblatt darin, den uns Wie die politischen Machtverhältnisse Mitgliedern des Dreier- und Siebener- von der Naziherrschaft hinterlassenen im Bezirk in dieser ersten Phase waren, Ausschusses auch noch der Bezirks - Schutt so schnell wie möglich wegräu - zeigt sich etwa am Beispiel des proviso - hauptmann und der Bürgermeister der men zu helfen, damit wir alle ungesäumt rischen Bezirkshauptmanns und Polizei - Stadt Leoben vertreten waren. an den Wiederaufbau unseres Vater - direktors Dr. Friedrich Hild. Dieser war Die ÖFF sollte aber nicht nur auf die landes gehen können.“ 13 nach der Befreiung weiterhin im Amt be - Stadt Leoben beschränkt bleiben. Die lassen worden, obwohl man gewusst hat Idee der ÖFF als Bewegung von unten Neue politische – wie es im Protokoll des Dreier-Aus - wurde auch in die kleinsten Orte des Be - Machtverhältnisse im Bezirk schusses heißt, „dass Dr. Hild national - zirks getragen. In dem Rundschreiben Dieser relativ rasche Austausch der Eli - sozialistisches Parteimitglied gewesen „ÖFF – Arbeit in den Orten“ heißt es da - ten bzw. die Einschränkung deren Hand - war“. Man „konnte jedoch im Augen - zu: „In vielen kleineren Orten des Bezir - lungsfreiheit durch Beigeordnete gab den blick nicht anders verfügen, da niemand, kes besteht noch kein Freiheitskomitee Sowjets in der Folge keinen Anlass, sich der für diese Stelle in Frage gekommen und kein Dreierausschuss, oder das Frei - in die Verwaltung und die Aktivitäten der wäre, greifbar gewesen war.“ 16 Als Dr. heitskomitee ist nicht nach der Dreierpa - ÖFF einzumischen. 14 In einem als „ge - Hild aber eine Rundverfügung erließ und rität aufgestellt. In manchen Orten wer - heim“ titulierten Lagebericht des Leiters diese weder der Stadtkommandantur den die Arbeiten, die sonst der ÖFF zu - der Politverwaltung der 3. Ukrainischen noch der ÖFF vorlegte und er zudem stehen, vom Bürgermeister und Gemein - Front vom 17. Mai 1945 heißt es daher noch, ohne den Dreier-Ausschuss davon deausschuss erledigt. Der Bürgermeister zur „Lage in Leoben“: „Es kam zur Neu - in Kenntnis gesetzt zu haben, beim Lan - und der Gemeinderat haben vor allem formierung einer Gruppe lokaler Kom - deshauptmann seine Bestätigung als pro - verwaltungsmäßige, fürsorgliche und munisten, die am 7. Mai den Untergrund visorischer Bezirkshauptmann erreicht wirtschaftliche Aufgaben. Es ist zumin - verließen, bis zum Eintreffen unserer hatte, wurde er von der ÖFF abgesetzt destens notwendig, dass ein Dreieraus - Truppen die Macht in ihren Händen hiel - und durch den am selben Tag aus dem schuss neben und über dem Bürgermei - ten und einen neuen Bürgermeister er - Konzentrationslager heimgekehrten ster steht, der die Maßnahmen zur politi - nannten. […] Ab 1942 gab es in Leoben Arzt, den Kommunisten Dr. Josef schen Umgestaltung und Überwachung einige Partisaneneinheiten, die in den Mandl, als Bezirkshauptmann ersetzt. 17

2/20 Beiträge 15 Auch den großen Betrieben in Leoben wurde demonstriert, wer nun das Sagen hat. Denn als der den Bezirk dominieren - de Betrieb der Alpine Montangesell - schaft sich weigerte, ab 1. Juli 1945 die Lohn- und Gehaltsfortzahlungen für die für die Sicherheit im Bezirk bzw. im Be - trieb zuständigen Arbeiter weiter zu zah - len, richteten der Dreier-Ausschuss sowie die Bürgermeister des Bezirkes folgenden Brief an die Generaldirektion der Alpine: „Ohne jedes Zutun von Sei - ten der Generaldirektion der Österreichi - schen Alpine Montan A.G. oder von Sei - ten der hier bestehenden Bergwerks- und Hüttengesellschaft haben es die Gemein - den vom Tage des Zusammenbruches der Naziherrschaft an als ihre Aufgabe ange - sehen, das Eigentum dieser Industrien in ihren Schutz zu nehmen. Bei Übernahme des Schutzes dieser Anlagen wurde eine „Aufbau-Kundgebung“ in Leoben am 17. Juni 1945 Anzahl W erksangehöriger zum Polizei - dienst herangezogen, und zwar sowohl Wassergefahr. Auch kam es bedingt Demontagen durch die sowjetischen Be - Hütten-, Berg- und Forstarbeiter. Man - durch den Arbeitskräftemangel zu Pro - satzer am 25. Juni wieder seinen Betrieb gels finanzieller Fundierung der Gemein - blemen im Kraftwerk Donawitz. 19 aufnehmen, und Sepp Filz meinte anläss - den sind die Kosten hierfür von den Um all die anstehenden Aufgaben zu lich der Feier, dass „das Eisen, das von Arbeitgebern zu tragen. Die öffentliche erledigen, wurden Ausschüsse für einzel - den Öfen in dieser Halle herausfließt, Sicherheit und Ordnung ist noch nicht so ne Bereiche gebildet, die im Siebener- nicht mehr zum Zwecke der Vernichtung weit gefestigt, dass der Polizeikörper ver - Ausschuss zusammengefasst wurden geschaffen werde, sondern für den fried - ringert werden kann. Die Gemeinden und die dem Dreier-Ausschuss und dem lichen Aufbau unserer Heimat diene“. 21 sind aber nicht in der Lage, die Kosten ÖFF-Vertrauensrat verantwortlich wa - Auch im Verkehrswesen waren erste dafür zu übernehmen. Deshalb ist es ren. Bereits am 3. Juni 1945 konnten in Erfolge zu vermelden, wie der dafür zu - Pflicht der Großunternehmer, in deren einem Rückblick erste Erfolge berichtet ständige Ing. Vollmost berichtete: So hat eigenem Interesse für diese Kosten auf - werden: So gab etwa Bürgermeister etwa – da es keine Verbindung mit der zukommen. Es wird darauf hingewiesen, Gottfried Heindler an, dass die anfangs Eisenbahndirektion in Villach gab – „das dass die Alpine Montan-Gesellschaft seit fast unüberwindlich scheinenden Ver - in Leoben existierende Betriebsamt die dem Jahre 1927 aus allen möglichen Be - waltungsschwierigkeiten zur Gänze be - Geschäfte einer provisorischen Direktion weggründen, die gegen die Arbeiterschaft hoben wurden und nun darangegangen übernommen“. Dieser ist es – im Gegen - gerichtet waren, jederzeit und ohne klein - werden könne, planmäßig die Grundla - satz zu „den von den Engländern besetz - lich zu sein, ungeheure Beiträge zur Ver - gen für die Neuorganisierung zu schaf - ten Gebieten“, wo es „noch keinen Per - fügung gestellt hat und dies nun umso - fen. Besonders dramatisch war die sonenverkehr gibt“ – gelungen, dass mehr für das neue Österreich zu tun hat. Ernährungsfrage gewesen, da die Bauern „hier bei uns auf Grund der Aktivitäten Hätte die Arbeiterschaft nicht den Schutz ohne Zwangsmaßnahmen zu keiner Ab - der Eisenbahner […] bereits ein fast frie - der Werke übernommen, so sähe die lieferung bereit waren. Dennoch konnte densmäßiger Apparat funktioniert.“ Situation heute anders aus. Von den lei - gerade dieser Ausschuss einen beacht - tenden Herren hat sich niemand für diese lichen Erfolg vorweisen. Musste man am Entnazifizierung Aufgaben zur Verfügung gestellt.“ 18 12. Mai noch feststellen, dass täglich le - Eine der vordringlichsten Aufgaben diglich 1.600 Liter Milch zur Verfügung des Dreier-Ausschusses in Leoben war Wiederingangsetzung stehen, so war es bis Anfang Juni gelun - zudem die Säuberung der Betriebe, der Wirtschaft und gen, die tägliche Milchlieferung auf Behörden und Ämter von Nationalsozia - des öffentlichen Lebens 16.000 Liter zu steigern. Dass dies mög - listen. Nachdem das Obersteirische Tag - Neben der Verhinderung von Plünde - lich war, lag auch darin begründet, dass blatt bereits am 16. Mai 1945 unter dem rungen und Obstruktionen der National - die Milchlieferanten vor willkürlicher Titel „Alle Nazis müssen sich registrie - sozialisten gehörten die Wiederingang - Beschlagnahme der Milch bzw. der Pfer - ren lassen“ die Verordnung der Proviso - setzung des öffentlichen Lebens und der de geschützt waren, da sie von der Roten rischen österreichischen Regierung zur Wirtschaft zu den vorrangigen Aufga - Armee ausgestellte Ausweise erhielten, Entnazifizierung veröffentlicht hatte, be - ben, die die ÖFF zu bewältigen hatte. So die besagten, dass die Pferde der Roten gann der Dreier-Ausschuss umgehend drohte etwa durch das Fehlen von Ar - Armee gehören und die Milch zur Ver - mit Maßnahmen der Entnazifizierung. beitskräften – die ausländischen Arbeiter sorgung der Roten Armee diene. 20 Aber Unter der Kontrolle der ÖFF-Beigeord - hatten unmittelbar nach der Befreiung auch der Ausschuss für Handel-Gewer - neten wurden bei den Ämtern und den Bezirk teilweise bereits verlassen – be-Industrie und der Wirtschaftsbeirat Behörden (Bezirkshauptmannschaft, in den ersten Tagen nach der Befreiung konnten Erfolge verbuchen: So konnte Schulen, Bahn, Post, …) und in den im Bergwerk Seegraben Feuer- und etwa das Stahlwerk Donawitz nach den Großbetrieben in Leoben ehemalige

2/20 16 Beiträge Nationalsozialisten entlassen. Gegen 28 lich der Verhaftungen von ehemaligen „wegen besonders aktiver, führender Inhaber von Leobner Geschäften, die Nationalsozialisten: „Die Führer der Betätigung in der NSDAP, wegen schar - Mitglieder der NSDAP waren, wurde NSDAP, vom Zellenleiter aufwärts sind fer Äußerungen gegen Antifaschisten seitens des Dreier-Ausschusses der An - grundsätzlich zu verhaften, ebenso die und Kriegsgegner, wegen besonderer trag auf Entzug des Gewerbescheins ge - gesamten Angehörigen des SD und der Kriegshetze, wegen Zuträgertätigkeit für stellt, 14 Geschäfte von „Ariseuren“ Gestapo. Von der SS sollen alle Führer die NSDAP und Gestapo, wegen Denun - wurden sofort geschlossen. 22 vom Oberscharführer aufwärts und alle zierung von Antifaschisten, wegen Schä - Auch im Bereich der Gendarmerie und besonders hervortretenden Aktivisten digung von Antifaschisten, wegen Berei - Justiz wurden sofort Entnazifizierungs - verhaftet werden; SA und sonstige ange - cherung durch ihre Mitgliedschaft bei maßnahmen gesetzt, wobei zunächst alle schlossene Verbände (NSKK und der NSDAP oder durch den Krieg, we - Tätigkeiten der Gendarmen eingestellt NSFK) vom Truppenführer aufwärts, gen gemeiner Ausnützung und Umge - und belastete Beamte verhaftet wurden HJ-Gefolgschaftsführer aufwärts. BDM- hung der Bewirtschaftung (Geschäfts - und eine neue, aus Antifaschisten zusam - exponierte Führerinnen, sonstige Partei- leute, die Waren gegen Lebensmittel - mengesetzte Polizeitruppe geschaffen und Frauenschaftsmitglieder sind zu ver - lieferung abgaben), wegen Kränkung wurde, die dem Landrat unterstellt war. haften, wenn sie sich ein gemeines Ver - von Antifaschisten in ihrer Menschen - Bei der Justiz wurde noch am 9. Mai halten gegen die Bevölkerung und Frei - würde“ 27 bestraft werden sollten. 1945 der ehemalige sozialdemokratische heitskämpfer zu Schulden kommen Entsprechend der Weisung bzw. die Rechtsanwalt Dr. Helmuth Wagner von ließen. Diese Fälle sind genau zu prüfen Aufrufe der ÖFF befolgend nahm die un - der ÖFF zum Beigeordneten des Kreis - und Zeugen für eine gerichtliche Abur - ter der Aufsicht der ÖFF stehende Hilfs - gerichts Leoben, des Bezirksgerichts Le - teilung bei der Verhaftung vorzulegen. polizei, wie ein geheimer Bericht der oben und der Staatsanwaltschaft Leoben Jäger und Förster, die sich bei der Ver - Roten Armee vom 17. Mai 1945 zeigt, ernannt, der umgehend mit der Entnazifi - folgung von Freiheitskämpfern aktiv be - unmittelbar nach der Befreiung „62 ört - zierung der Justiz begann. Er enthob die teiligt haben, Leute, die den Tod des frei - liche NS-Größen“ fest. 28 Bis Anfang Juli als Nationalsozialisten bekannten Juri - heitlich gesinnten Österreichers auf dem 1945 sollten es rund 600 werden, von de - sten und Gerichtsbeamten und ließ erste Gewissen haben, sind besonders streng nen 574 ins Gefangenenhaus Leoben Verhaftungen, wie etwa jene des ehema - zu verwahren und die Schuldmomente eingeliefert wurden, 29 da bei ihnen „mit ligen Vorsitzenden des Sondergerichts besonders streng zu klären. Leute, die einer gerichtlichen Aburteilung zu rech - Leoben, Landesgerichtsdirektor Dr. Karl sich ihrer Haft durch Flucht entzogen ha - nen ist. […] Andere leichtere Fälle kön - Zalsky, vornehmen. 23 Über diese ersten ben, sind in einer Mappe mit genauer nen auch im Ort für einige Zeit in Haft Schritte der Entnazifizierung bei der Jus- Darlegung des Falles zu führen. Vermut - bleiben und als Arbeitskommando ver - tiz berichtete Mitte Juni 1945 das Ober - licher Aufenthaltsort und eingeleitete wendet werden. […] Für alle Verhafteten steirische Tagblatt . Aus dem Bericht Maßnahmen zur Verfolgung sind jeweils ist sofort ein Protokoll aufzunehmen und geht hervor, dass neben dem Präsidenten ergänzend anzuführen.“ 25 dieses zusammen mit der Anzeige oder des Kreisgerichtes Leoben der Ober - Als in Wien der Kabinettsrat der Provi - vom Dreier-Ausschuss festgestellten staatsanwalt, ein Staatsanwalt, fünf Lan - sorischen Regierung am 12. Juni 1945 Tatbestand dem Sicherheitsleiter für den desgerichtsdirektoren, ein Amtsgerichts - erstmals über das Gesetz zur Ahndung Bezirk Leoben einzureichen.“ 30 direktor, sieben Amts- und Landes - von NS-Verbrechen (Kriegsverbrecher - gerichtsräte, ein Gerichtsassessor und gesetz) debattierte, 26 sind in Leoben Nachgeschichte fünfzehn Justizinspektoren und Angestell - schon längst Aufrufe der ÖFF veröffent - Gemäß dem alliierten Zonenab - te ihres Amtes enthoben worden waren. 24 licht worden, die die Bevölkerung dazu kommen vom 9. Juli 1945 kam es am In der Weisung des Dreier-Ausschus - aufforderte, „Anzeige über frühere Na - 23./24. Juli 1945 zu einem Wechsel der ses vom 12. Mai 1945 hieß es hinsicht - tionalsozialisten“ zu erstatten, die nun Besatzungstruppen in der Steiermark, und die ganze Steiermark wurde zur bri - ZEITSCHRIFT MARXISTISCHE ERNEUERUNG tischen Besatzungszone. Damit ändert sich aber auch die Situation im Bezirk 2020: Z. 121: Strategiede- ZEITSCHRIFT MARXISTISCHE ERNEUERUNG Leoben auf mehreren Ebenen. Die ÖFF batten / Lateinamerika in Leoben wurde – wie auch ähnliche 2019: Z. 120: Geschlechter- Gruppierungen – mit 4. August 1945 verhältnisse / Rechtspopulismus Z. 119: Klimakrise II: Was tun im Treibhaus? / 1989 - das letzte Jahr der DDR / EU- aufgelöst, wobei es in der Erklärung der Wahlen Z. 118: Hegemonieverschiebungen in der Weltwirt- Nr. 122, Juni 2020 Britischen Militärregierung unter ande - schaft - Neue Konfliktfelder / Kapitalismustheorie Z. 117: Schunter-Kleemann - „Dass ich ein Sünder rem hieß, dass dieser Entschluss keines - Kontrollverlust? Krise der Parteien und sozialer Protest bin …“/Callesen/Fülberth - Der internatio- 0 wegs bedeute, „dass man die Dienste, die nale Arbeiterkongress 1889/Kuczynski - Z. 116: Neue Klassendiskussion Z. 115: Von der 2 2018: Wert ohne Warenproduktion?/Hörz - Öko- diese Bewegungen zur Befreiung gelei - 0 Novemberrevolution zum „deutschen Oktober“ Z. 114: logischer Grundwiderspruch/Sayers - Dia- 2 stet haben, unterschätzt; er bedeutet viel - Kli-makrise: Industriepolitik und Kapitalinteressen Z. 113: lektik der Natur/Kangal - Engels’ Dialektik -

Marx 200: Arbeit und Ausbeutung Klundt - Dühring reloaded?/Bagchi - Engels mehr, dass nach der Besetzung Steier -

0 und die Frauen in Indien/Leisewitz/ marks durch die alliierten Streitkräfte 2017: Z. 112: Rechtsentwicklung in Europa Z. 111: 2 Schwarz - Geschlechterverhältnisse und Ruhe und Ordnung durch die Militär- 150 Jahre „Das Kapital“ Z. 110: Feminisierung der Arbeit 8 Engels’ „Ursprung“

Z. 109: 1917-2017 / Postkapitalismus 1 regierung und die ordentliche Polizei ga -

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2/20 Beiträge 17 keinen Zweck mehr. Vom 4. August an Befreiung und Wiederaufbau 1945, in: Mitteilun - der Dreier-Ausschuss-Sitzung am 21.6.1945). darf sich kein Mitglied der obengenann - gen der Alfred Klahr Gesellschaft , 22. Jg. 19/ Protokoll der Dreier-Ausschuss-Sitzung am ten Gruppen und Bewegungen irgend - (2015), Nr. 2, S. 24–26. 12.5.1945. welche Amtsgewalt anmaßen oder unbe - 5/ Mile Pavlin: Die Vorgeschichte der Partisanen - 20/ Protokoll der ÖFF-Sitzung am 3.6.1945. fugt ausüben. Auch ist es verboten, gruppe Leoben-Donawitz, in: Vestnik Koroskih 21/ Sepp Filz, zit. nach Obersteirisches Tag - irgendwelche Uniformen, Armbinde Partizanov , 22. Jg. (1988), Nr. 1–2, S. 23–28. blatt , 27.6.1945, S. 1. oder Abzeichen zu tragen.“ 31 6/ Zit. nach der Anklageschrift des Oberreichs - 22/ Protokolle der Sitzungen des Dreier-Aus - Gleichzeitig wurden die Beigeordneten kriegsanwalts gegen Franz Haslinger und schusses am 1.6.1945, 7.6.1945, 12.6.1945, der ÖFF ihrer Ämter enthoben. Sepp Filz Johann Fürst, 2.1.1945, in: DÖW (Hg.): Wider - 13.6.1945, 19.6.1945 und 21.6.1945. wurde einen Tag nachdem er gemeinsam stand und Verfolgung in der Steiermark, S. 487– 23/ Steiermärkisches Landesarchiv, Ober- mit dem sowjetischen Stadtkommandan - 498, hier S. 491. landesgericht Graz, JV 1 a 1-50/1945, Mappe ten den britischen Kommandanten be - 7/ Siehe dazu die Biografien in: Heimo Halb- 2/45, Bericht des kommissarischen Beigeordne - grüßt hatte – quasi um die neuen Macht - rainer: Archiv der Namen. Ein papierenes Denk - ten Helmuth Wagner, 17.5.1945. verhältnisse im Bezirk zu demonstrieren mal der NS-Opfer aus dem Bezirk Leoben. Graz 24/ Die Säuberung in der obersteirischen Justiz, – wegen einer Lappalie – dem Fehlen 2013. in: Obersteirisches Tagblatt , 12.6.1945. einer Bewilligung für sein Auto – festge - 8/ Unabhängig davon kam es aber weiterhin zu 25/ ÖFF – Arbeit in den Orten: Beschluss des nommen. 32 Der kommunistische Be - Kämpfen, bei denen beispielsweise Anfang Dreier-Ausschusses, 12.5.1945. zirkshauptmann Dr. Josef Mandl wurde Dezember 1944 ein Partisan in der Nähe von 26/ „... im eigenen Haus Ordnung schaffen“. durch Dr. Friedrich Letnig ersetzt, um – Eisenerz erschossen wurde. Vgl. Sepp Filz: Ein Protokolle des Kabinettsrates 29. April 1945 bis wie es in einem Bericht des US-Geheim - Oesterreicher: Heina! Manuskript (Sammlung 10. Juli 1945, hg. von Gertrude Enderle- Burcel, dienstes heißt – „das Monopol der Lin - Heimo Halbrainer). Rudolf Jeřábek und Leopold Kammerhofer. ken zu brechen“. 33 Zudem wurde auch 9/ Obersteirisches Tagblatt , 10.5.1945, S. 1. Horn, Wien 1995, S. 206–229. die von der ÖFF herausgegebene Tages - 10/ ÖFF – Arbeit in den Orten (Sammlung 27/ Anzeigen über frühere Nationalsozialisten, zeitung Obersteirisches Tagblatt sofort Heimo Halbrainer). Zudem auch die Aufrufe in in: Obersteirisches Tagblatt , 11.6.1945. eingestellt. Einige wenige Vertreter der der ersten Ausgabe des Obersteirischen 28/ Lagebericht des Leiters der Politverwaltung ÖFF wirkten in der Folge noch für einige Tagblatts , 10.5.1945. der 3. Ukrainischen Front Anošin, S. 226. Zeit als Betriebs- oder Gemeinderäte 11/ Alois Sormann war im November 1934 als 29/ Probleme der obersteirischen Gemeinden. bzw. als Landtags- oder Nationalrats - einer von zwei Vertretern des Katholischen Ernährung, Landwirtschaft, Wiederaufbau, abgeordnete. 34 Der kurze Versuch der Arbeitsbundes in den 36 Mitglieder umfassenden Sicherheit, in: Obersteirisches Tagblatt , Österreichischen Freiheitsfront auch Steiermärkischen Landtag entsandt worden. Sie - 11.7.1945. nach der Befreiung für eine bessere und he dazu: Donawitz – Festtag des Katholischen 30/ ÖFF – Arbeit in den Orten: Anzeigen über gerechtere Welt einzutreten, wurde in Arbeitsbundes, in: Volksruf , 28.11.1934, S. 6. frühere Nationalsozialisten. der Folge aber ebenso vergessen wie ihr 12/ ÖFF – Arbeit in den Orten. 31/ Auflösung der Freiheitsbewegung in Steier - Kampf gegen das NS-Regime. 13/ Obersteirisches Tagblatt , 10.5.1945, S. 1. mark, in: Neue Steirische Zeitung , 2.8.1945. 14/ Dazu auch der Bericht des amerikanischen 32/ Interview mit Sepp Filz am 17.4.1992. Anmerkungen: Geheimdienstes Office of Strategic Services 33/ OSS-Bericht LS-310 vom 27.7.1945, in: 1/ Zit. nach Obersteirisches Tagblatt , 27.6.1945. (OSS) 139.624 vom 22. Juni 1945 in: Siegfried Beer: Von der russischen zur britischen Beset - 2/ Ausführlich zur Geschichte der ÖFF: Doku - Beer: Von der russischen zur britischen Beset - zung der Steiermark, S. 103–120, hier S. 111. mentationsarchiv des österreichischen Wider - zung der Steiermark. Berichte des amerikani - 34/ Nähere Informationen zu den biografischen standes (Hg.): Widerstand und Verfolgung in schen Geheimdienstes OSS aus dem Jahre Lebensläufen der einzelnen Mitglieder siehe: der Steiermark. ArbeiterInnenbewegung und 1945, in: Blätter für Heimatkunde , 59 Jg. (1985), Heimo Halbrainer: „Im Freiheitskomitee ist nicht PartisanInnen 1938–1945. Mit einer Einleitung S. 103–120, hier S. 107ff. gefragt worden, welcher Parteirichtung der ein - von Heimo Halbrainer. Bearbeitet von Elisabeth 15/ Lagebericht des Leiters der Politverwaltung zelne angehört“ – Die Volksfrontkonzeption in Holzinger, Manfred Mugrauer und Wolfgang der 3. Ukrainischen Front Anošin für den Zeit - der Praxis am Beispiel der Österreichischen Neugebauer. Graz 2019, S. 472–551; Heimo raum vom 9. bis 15. Mai 1945 über die Lage in Freiheitsfront in Leoben 1945, in: Claudia Kuret - Halbrainer: Sepp Filz. Ein Donawitzer Arbeiter Graz, Leoben und Mürzsteg, Dok. 59 in: Stefan sidis-Haider/Manfred Mugrauer (Hg.): auf der Walz, im Widerstand und beim Wieder - Karner/Othmar Pickl (Hg.): Die Rote Armee in Geschichtsschreibung als herrschaftskritische aufbau. Graz 2020; Werner Anzenberger: Parti - der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945 Aufgabe. Beiträge zur ArbeiterInnenbewegung, sanen. Militärischer Widerstand an der Eisen - (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann- Jus tizgeschichte und österreichischen straße, in: Werner Anzenberger/Christian Ehe - Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonder - Geschichte im 20. Jahrhundert. Festschrift für treiber/Heimo Halbrainer (Hg.): Die Eisenstraße band 8). Graz 2008, S. 225–229, hier S. 226. Hans Hautmann zum 70. Geburtstag. Inns - 1938–1945. NS-Terror – Widerstand – Neues 16/ Protokoll der ÖFF-Sitzung am 3.6.1945 bruck, Wien, Bozen 2013, S. 181–198. Erinnern. Graz 2013, S. 123–169; Max (Sammlung Heimo Halbrainer). Muchitsch: Die Rote Stafette. Vom Triglav zum 17/ Protokolle des Dreier-Ausschusses am Neuerscheinung: Hochschwab. Wien 1985; Max Muchitsch: Die 22.5. und der ÖFF am 3.6.1945. Heimo Halbrai - Partisanengruppe Leoben-Donawitz. Wien, 18/ Probleme der obersteirischen Gemeinden, ner: Sepp Filz. Frankfurt/M., Zürich 1966. in: Obersteirisches Tagblatt , 11.7.1945, S. 2. Ein Donawitzer 3/ Aufruf zur Bildung der Freiheitsfront (Im Sen - Zuvor hatte schon der Dreier-Ausschuss Arbeiter auf der der „Freies Österreich“, am 22. und 23. Oktober unmiss verständlich festgestellt: „Die größeren Walz, im Wider - 1942), in: Die KPÖ im Kampf für Unabhängig - Betriebe [...] in Leoben werden verständigt, stand und beim keit, Demokratie und sozialistische Perspektive. dass sie für die Löhne der gegenwärtig für den Wiederaufbau. Sammelband. Wien 1978, S. 133–138. Dienst in der Ö.F.F. beurlaubten Gefolgschafts - Graz: Clio 2020, 4/ Heimo Halbrainer: Sepp Filz: Widerstand, mitglieder weiter zu bezahlen haben.“ (Protokoll 240 S, 25 Euro

2/20 18 Beiträge Genosse Deserteur Das Tagebuch des Kremser Kommunisten Karl Mörwald (1944/45) robert Streibel arl Mörwald war eine prägende politischen Akteuren ein Musterbeispiel Lutzer: „Wir hatten illegale Zusam - Figur für die KPÖ in Krems. Er eines kommunistischen Volkspolitikers, menkünfte im Haus des Arbeiters Franz Kwar 34 Jahre lang Gemeinderat außerdem gab es wenige Menschen Klett, studierten das kommunistische und hat damit die Politik der Stadt nach außerhalb der KPÖ, die in den 1980er Manifest, aber auch Hitlers ,Mein 1945 wesentlich mitgestaltet. Für den Jahren in Krems überhaupt über die NS- Kampf‘.“ Als er 1936 aus der Haft frei - Verfasser war Mörwald ein wichtiger Zeit reden wollten. Im Laufe meiner kam, notierte Mörwald in sein Tagebuch: Mentor. Er hat mich bestärkt, mich mit langjährigen Recherchen entdeckte ich „Meine Mutter sagt: ‚Schön, dass du der Geschichte der Stadt Krems ausein - aber auch ein anderes Bild von Mörwald, wieder da bist‘. Ich stehe abends noch anderzusetzen, er hat Kontakt zu vielen etwa seine Auseinandersetzung mit The - lange vor unserem Hause und blicke zur ZeitzeugInnen hergestellt und auch eige - rese Mahrer 1 oder seine damals vor- Stadt hinunter. Die Krems fließt ruhig nes biografisches Material zur Ver - behaltlose Verehrung Stalins. dahin. Die Stadt ist mit einem violetten fügung gestellt, etwa sein Tagebuch für Dunst überzogen und ein leichtes war - die Zeit zwischen Februar 1945 und Funktionär der KPÖ mes Abendlüftchen flüstert mir zu: Und August 1947. Nicht zuletzt hat er es Karl Mörwald wurde am 26. Oktober jetzt erst recht.“ möglich gemacht, dass 1985 die 47-seiti - 1918 in Krems geboren. Sein Vater war Bis dieses „jetzt erst recht“ politisch ge Broschüre „Der lange Weg zur Be - sozialdemokratischer Betriebsrat in der umgesetzt werden konnte, sollte es fast freiung“ als Sondernummer der Kremser Schuhfabrik in Rehberg. Nach der zehn Jahre dauern. Die Genossen, die Nachrichten in einer Auflage von 30.000 Volksschule besuchte er das Gymnasium mit Mörwald früher bei den Roten Fal - Stück an jeden Haushalt im Bezirk ver - und die Handelsschule. Danach arbeitete ken waren, waren 1938 in verschiedene schickt wurde. Dieses Heft, das eine Art er als Verkäufer und Lagerhalter bei der Teile des Deutschen Reichs verstreut Zwischenbericht meiner Recherchen für Konsumgenossenschaft Krems. Bereits und schrieben sich Briefe. Mörwald war die Dissertation über Krems in der NS- im Oktober 1933 trat er der damals ille - der erste dieser Runde, der die Technik Zeit war, hatte eine unglaubliche Wir - galen KPÖ bei. Er wurde im März 1936 der „Sklavensprache“ gezielt einzuset - kung, da zum ersten Mal die Namen von verhaftet und wegen Hochverrats ange - zen verstand. In einem Brief vom Tätern und Opfern genannt wurden und klagt, kam aber im Juli 1936 im Zuge 11. August 1939 führt er in seiner Analy - aus Dokumenten und Erinnerungen von einer Amnestie frei. Von 1938 bis März se des Hitler-Stalin-Paktes nicht nur das ZeitzeugInnen zitiert wurde. Die Broschü - 1939 wurde er zum Reichsarbeitsdienst Vaterland im Mund, er ist sich sogar des re war mit Fotos illustriert, die zum ersten eingezogen. Nach wenigen Monaten be - Führers sicher: „Ja, der Pakt mit Russ - Mal gezeigt wurden. Obwohl es sich bei ruflicher Tätigkeit bei der Konsum- land gab auch uns hier viel Gesprächs - diesem Heft um eine Parteipublikation genossenschaft folgte am 20. Juli 1939 stoff. Allgemein meint man, dass jetzt handelte, konnte niemand die Fakten und die Einberufung zur Wehrmacht, wo er England und Frankreich am Ende der das Bemühen um einen wissenschaftlich bei der Luftwaffe diente. Er desertierte Kräfte seien, andere erdreisten sich, zu geprägten Blick anzweifeln. Nach der im Februar 1945 und hielt sich, unter - meinen, dass dieser Pakt von Russland Veröffentlichung haben sich Dutzende stützt durch seine Eltern, seine Frau und gar nicht so ehrlich gemeint sei und dass weitere ZeitzeugInnen gemeldet. eine befreundete Familie, in Krems ver - vielleicht Russland die Toten von Spani - Vor rund 20 Jahren hatte ich geplant, steckt. 2 Bereits am 22. Mai 1945 wurde en noch nicht vergessen hätte und somit ein Buch über Krems im Jahr 1945 zu er als geschäftsführender Gemeinderat gar der Pakt für Deutschland nicht zum schreiben und wollte dabei auch das für Schule und Kultur eingesetzt, am Vorteil, sondern zum Nachteil werden Tagebuch von Karl Mörwald abdrucken. 31. August 1945 wurde er Stadtrat und müsse. Das sind aber nur dumme Aus - Wir konnten uns jedoch nicht einigen, da ab 21. September 1945 erster Vize - legungen. Ich weiß, dass dieser Ab - Mörwald Korrekturen anbringen und bürgermeister (bis 1950). Von 1950 bis schluss das richtige war, denn was unser Teile des Tagebuchs gestrichen haben 1955 war er erneut Stadtrat (für öffent - Führer macht, das wird mit Überlegung wollte. Die Aufzeichnungen von ihm liche Unternehmungen und Marktwesen) gemacht und richtig sein und daran kann sind ein unglaubliches Dokument, ent - und von 1956 bis 1959 Abgeordneter man glauben. Der Glaube und die Idee standen in der Zeit, als er versteckt in zum niederösterreichischen Landtag. werden den Sieg davontragen.“ Krems lebte. Er hat darin verschiedene Am 8. August 1983 erläuterte Mör - Die Aufforderung, Widerstand zu lei - Zeitungsberichte und die Berichte seiner wald in einem Interview mit dem Ver - sten oder zumindest in diesem Sinne zu Frau rezipiert. Für mich war aber klar, fasser, wie er in den 1930er Jahren zur wirken, wird als Idealismus verbrämt, dass nachträgliche Veränderungen dieser KPÖ kam. Aus der Gruppe der Roten wenn von „Idealen“, vom „Glauben“ und Niederschrift nicht in Frage kommen, da Falken bildete sich eine kommunistische von „Ideen“ die Rede ist. Für die Kom - die Quelle damit an Wert verlieren wür - Zelle. Prägende Figuren für ihn waren munisten Karl Mörwald, Louis Mahrer de. So geriet das Projekt auf die Warte - ein Gemeindearbeiter namens Adolf, an und August Vakrcka existierte längst ein liste und aufgrund anderer Vorhaben fast dessen Nachnamen er sich jedoch nicht zweites Vaterland, und ihr „Führer“ hatte in Vergessenheit. mehr erinnerte, dann Sigi Neubauer, der für sie damals immer recht – nämlich Karl Mörwald war für den Verfasser Sohn des Rabbis von Krems, sowie Louis Josef Stalin. Der Zwang, verschlüsselt zu angesichts seiner guten Kontakte zu allen Mahrer und seine spätere Frau Therese schreiben, deckt – ohne dass es den

2/20 Beiträge 19 Schreibern damals bewusst geworden mischen Affront. In der Debatte forderte noss, eine Art Bilanz. Dominierte nach wäre – eine Wirklichkeit auf, an der be - Mörwald, dass auch in Krems ein „wür - dem für die KPÖ enttäuschenden Ergeb - reits tausende Kommunisten zerbrochen diger Platz zu Ehren Generalissimus nis der Wahlen im November 1945 eine waren, die noch Hunderttausenden das Stalins“ benannt werden sollte. Letztlich depressive Stimmung, war er im Som - Leben kosten sollte: der Glaube an den wurde nicht die Nebenstraße, sondern mer 1947 zuversichtlicher. Seine letzte Führer des Weltproletariats. Idealistisch die Hauptstraße umbenannt. Als 1956 Eintragung lautet: „Die Unzufriedenheit verbrämt wird auch die illegale Organi - vom Gemeinderat die Umbenennung in wird immer größer. Alle hoffen auf eine sation, die in den Briefen als „Aristokra - „Ringstraße“ beschlossen wird, argu - baldige Änderung des Kurses. Der tie des Geistes“ wiederkehrt: „Kannst Du mentiert Mörwald defensiv: Stalin sei Kampf unserer Partei stößt immer mehr Dich der Tage erinnern, da wir in Krems eine große Persönlichkeit gewesen und auf Verständnis unter den Massen und durch die Au gingen und von einer neuen seine großen Erfolge seien unbestritten. unsere Forderung nach Neuwahlen wur - ,Aristokratie des Geistes‘ sprachen und de mit viel Verständnis aufgenommen. der Notwendigkeit, dass die geistig Das Tagebuch 1945-1947 Es wird noch viel Erziehungs- und Auf - hochstehende deutsche Jugend sich finde Karl Mörwald begann sein Tagebuch klärungsarbeit in Zukunft bedürfen, um und wirksam werde. Ich habe hier wieder im Februar 1945, als er sich in Krems unser Volk aus dem Konservatismus her - viele getroffen, die darin den Weg sehen, versteckt hielt. Die Zeit vor der unmittel - auszureißen und es in die Vorwärtsent - wenn nötig, und das gibt mir Mut für die baren Abfassung dürfte er aus Notizen wicklung einzureihen. Doch der Fort - Zukunft. Denk daran, behalte die Ver - rekonstruiert haben. Die von mir ange - schritt kann nicht aufgehalten werden bindung mit Kameraden, die Du gut fertigte Transkription des Tagebuchs und Österreich wird keine Insel der kennst und die gebildet sind.“ umfasst 50 einzeilig beschriebene Seiten. Zurückgebliebenen bleiben. Es wird (11.8.1939) Ohne den politischen Hin - Darin sind auch sieben Seiten mit Tage - noch harte Kämpfe zu führen geben, tergrund der Briefschreiber, ohne ihre buchnotizen enthalten, die er nach seiner doch ohne Kampf kann nichts werden.“ Vorgeschichte zu kennen, könnte es Verhaftung 1936 niedergeschrieben hat. Am Beginn des Tagebuchs schrieb leicht passieren, diese Briefe misszu - Die transkribierte Fassung wurde von Mörwald eine Art Geleitwort, in dem er interpretieren. Mörwald korrigiert, wobei er bei einer seine Beweggründe erläutert: „Warum Trotz seiner Vorgeschichte hatte Karl allfälligen Veröffentlichung eine Reihe ich erst so spät beginne und ein Tage - Mörwald Glück, denn er hätte – wie er von Streichungen vornehmen wollte. buch eröffne, will ich durch nachfolgen - im Interview schildert – bereits im März Tagebücher und Briefe sind eine be - de Zeilen kurz erörtern. Das kam so: Seit 1938 verhaftet werden sollen: „1938 ent - sondere Quelle. Sie sind mehr als ein 1938 bin ich nun schon von zu Hause ging ich durch einen Zufall einer weite - Abdruck einer vergangenen Zeit, also weg. Zuerst nach der ruhmreichen Be - ren Verhaftung. Ich war damals sehr mehr als ein Fossil, denn im Gegensatz freiung von Österreich durch Adolf Hit - krank, die SA-Leute hatten das Haus um - zu Versteinerungen sind sie mit Leben ler wurde ich im Herbst 1938 zum stellt, der behandelnde Arzt Dr. Neuner, gefüllt, mit Anschauungen und Betrach - Arbeitsdienst gezogen. Da durfte ich ein der hat bestätigt, dass ich nicht verhaftet tungen, die noch nicht interpretiert wur - halbes Jahr für das Großdeutsche Reich werden kann.“ In einem für die KPÖ ver - den. Im Gegensatz zu Erzählungen von meine junge Kraft verwenden, um neue fassten Lebenslauf legte Mörwald beson - ZeitzeugInnen geben diese beiden Doku - Arbeitsdienstlager zu errichten. Dann deres Augenmerk auf die illegale politi - mente die unmittelbare Sicht der Ereig - hatte ich das Glück, nicht viele hatten es, sche Arbeit. Neben Neubauer erwähnt er nisse wieder, aus dem Blickwinkel des dass ich bis Ende Juli 1939, nachdem ich den von den Nazis ermordeten Franz Lebens, das noch nicht wusste, wie die vom Arbeitsdienst nach meiner halb - Zeller und den zu diesem Zeitpunkt be - Geschichte enden, wie alles ausgehen jährigen Dienstzeit entlassen wurde, reits verstorbenen Alois Schallinger, mit würde. Das macht diese beiden Quellen - meinem Berufe nachgehen konnte. Am denen er antifaschistische Aktionen typen so spannend und gleichzeitig her - 20. Juli 1939 musste ich Soldat werden. durchführte. Es wurden örtliche Flug - ausfordernd auch für den, der sie verfasst Mit meinen noch nicht 21 Jahren kam blätter hergestellt sowie der Vertrieb der hat, da es manchmal nur schwer zu er - ich zur Abrichtung nach Wischau [heute von Louis Mahrer herausgegebenen ille - tragen ist, die eigene Position so fest - Vyškov, R.S.] in Mähren. Hier blieb ich galen Zeitung Volkswille sowie der gehalten zu wissen. bis anfangs November 1939. Ansch - Roten Fahne organisiert. 3 27 Einträge, manche tageweise, man - ließend kam ich nach Olmütz. Zweiein - Dass Mörwald nach 1945 in der Josef- che mehrere Tage zusammenfassend, be - halb Jahre blieb ich da, bis Ende Juni Stalin-Straße 71 wohnte, ist eine Ironie schreiben den Zeitraum, bevor Mörwald 1942 die schreckliche Hand des Krieges der Geschichte. Der Adolf-Hitler-Ring Ende Jänner 1945 den Entschluss fasste, auch mich erhaschte und nach Russland war nach der Befreiung in Josef-Stalin- zu desertieren. Vom 31. Jänner bis steckte. Nicht lange währte mein erster Straße umbenannt worden. Wäre es nach 9. Mai 1945 verfasste Mörwald 70 Ein - Feldzug. Nach kaum einem Monat wur - der KPÖ gegangen, hätte der Südtiroler - träge. Danach kam er durch die vielfäl - de ich vom ehemaligen Inspizienten der platz nach Stalin benannt werden sollen. tigen politischen Aufgaben nur spora - Schlachtflieger und Zerstörer mittels Am 6. Mai 1947 stellte die Partei einen disch dazu, Notizen zu machen. Im Mai Flugzeug ins Hauptquartier des Reichs - entsprechenden Antrag. In der darauf - 1945 findet sich nur eine weitere Eintra - marschalls befördert und musste da mit folgenden Diskussion wurden weitere gung am 27. des Monats. Im Juni hielt er ihm beim General der Jagdflieger eine Alternativen genannt, etwa die Wert - Ereignisse an drei Tagen fest. Im Okto - neue Dienststelle aufbauen. Da blieb ich heimstraße, die Bürgermeister Riel als ber und Dezember 1945 finden sich je - bis zum August 1943. Zwischendurch die schönste Straße von Krems anpries. weils nur zwei Eintragungen. 1946 gibt reiste ich in Russland, Italien und auch Diese Nebenstraße der Ringstraße in der es nur eine Eintragung am Neujahrstag, Deutschland viel umher. Im Herbst 1943 Nähe des zerstörten Bahnhofs als solche 1947 zog er im Juli und August, als den kam ich zu der neu aufgerichteten zu bezeichnen, glich jedoch einem schel - ersten Urlaub am Fuße des Ötschers ge - Dienststelle des Generals der Schlacht -

2/20 20 Beiträge flieger, wo mich der neue Inspizient der Teil zerstörten Bahnhof in Euskirchen: Menschenleiber, verkohlte Pferde liegen Schlachtflieger, Oberstleutnant Dru - „Viele andere Soldaten kauern ebenfalls neben den Autos und Wagen. Niemand schel, hinbefohlen hatte. Hier arbeitete zusammengekauert um sich einigermaßen kann die Leichen wegräumen, dazu ist ich in Berlin mit Ausnahme einiger Un - zu erwärmen, wartend und frierend auf jetzt keine Zeit. Alles hastet und eilt, terbrechungen, wo ich auf Dienstreise Stühlen, Bänken und den bloßen Boden. vorwärts oder rückwärts. Wir fahren jetzt war. Was weiter geschah, ist in den Viele russische Ostarbeiter sind ebenfalls von einer angegriffenen Sanitätskolonne nachfolgenden Zeilen festgehalten. In all unsere Leidensgenossen. Ein Stimmen - vorbei. Trotz des weithin sichtbaren Ro - dieser Zeit hatte ich keinerlei Zeit, alle gewirr erfüllt den Saal. Wenn ein Zug ten Kreuzes auf weißen Grund wurde sie meine Eindrücke und Erlebnisse festzu - ausgerufen wird, geht ein Schimpfen und angegriffen. Wenige konnten sich retten. halten. Ewig wurde ich gejagt durch den Schreien durch den Wartesaal. Deutsche Die meisten sind im Wagen geblieben ewigen Dienst. Vieles habe ich gesehen und russische Schimpfworte zeugen von und mit ihnen zugrunde gegangen. Ein und erlebt und ich will versuchen noch der Unzufriedenheit über die hiesigen schauriges Bild! Nichts merkt man von manches festzuhalten bevor mein durch Zustände.“ (22.12.1944) der klaren guten Nachtluft. Es riecht die Militärzeit ausgelaugtes Hirn ganz Von Euskirchen wurde Mörwald nach nach verbrannten Menschenleibern! entschwindet. Ich konnte früher mit mei - Prüm beordert, wo sich auch eine Ab - Furchtbarer Krieg! Wahnsinn! Wir sind nen Aufzeichnungen nicht beginnen, da schussstelle der V1-Raketen befand. vorbei. Ich atme erleichtert auf. Die Luft ich mich erst jetzt von der militärischen Hier erfuhr er seinen nächsten Einsatz - ist wieder klarer.“ Umgebung loslösen konnte und meinem ort: Clerf in Luxemburg. Am 23. Dezem - Bevor er nach Berlin zurückfahren Mund kein militärischer Maulkorb mehr ber fuhr er in einem LKW Richtung Das - sollte, beschloss Mörwald, noch einmal vorgehängt ist. Die Zeiten, in der ich be - burg. Das Wetter hatte sich gebessert, nach Krems zu fahren. In Köln stellt sich ginne diese Zeilen niederzuschreiben, was zur Folge hatte, dass der Himmel ihm einmal mehr die Sinnfrage. „Ich bin sind hart und gemein gegen die freiheits - voller Jabos (Jagdbomber) war: „Unun - erschüttert von dem Anblick dieser liebende Menschheit. Nachfolgende Zei - terbrochen greifen sie im Tiefflug die Stadt. Nichts als Ruinen. Ich sehe weit len mögen in der nun bald kommenden fahrenden Kolonnen und die abgestellten und breit kein ganzes Haus. Der Dom ge - Zeit der Freiheit den Überlebenden Fahrzeuge in den Dörfern und Städten genüber dem Bahnhof ist ausgebrannt. Zeugnis unserer schweren Zeit ablegen.“ an. Wir kommen nur stückweise vor - Das Gerippe steht noch da. Ich frage wärts. Meistens liegen wir etwas abseits mich unwillkürlich: Warum muss das An der Front der Straße im Schnee in Deckung. Der alles sein? Hat es denn einen Sinn einen Das Tagebuch beginnt am 13. Dezem - Zustand erinnert mich an Sizilien knapp Krieg weiterzuführen, wenn er schon ber 1944, unmittelbar vor der Ardennen - vor der Landung der Alliierten, nur war verloren ist. Ist es nicht die Pflicht der offensive der Wehrmacht. Mörwalds un - es damals nicht so kalt. Wir haben mit verantwortlichen Männer mit diesem mittelbarer Vorgesetzter, Oberstleutnant den Angriffen Glück und kommen heil Wahnsinn aufzuhören um Menschen und Druschel, mit dem er einen Verbands - weiter.“ In einem Bunker fand er Zu - Kulturgüter noch zu retten? Ich wundere führerlehrgang organisiert hatte, war flucht. „Draußen knattern ununter - mich, dass dies alles die Menschen so nach Berlin abgefahren, da er Vater einer brochen die Bordkanonen der Jabos und geduldig ertragen.“ Silvester verbrachte Tochter geworden war. Wüsste man kleinere Bomben fallen dazwischen.“ 30 er bei seiner Familie in Krems. „Ein sehr nicht um die politische Vorgeschichte Meter vom Bunker stürzte ein Bomber trüber Silvester! Die Rede Adolf Hitlers, von Mörwald, man würde sie aus seinen ab, ein Besatzungsmitglied sprang mit lässt uns aufhorchen. Es ist daraus zu ent - Zeilen nicht sofort erkennen können. Als dem Fallschirm ab: „Er wird sofort von nehmen, dass uns noch das Schlimmste er durch Bonn fuhr, notierte er etwa: ein paar SS-Männern gefangen genom - bevorsteht.“ (31.12.1944) „Die Stadt ist durch den Bombenterror men und ich komme gerade zurecht wie Am 4. Jänner 1945 erreichte Mörwald arg zugerichtet worden. Eine Ruinen - sie ihn erschießen wollen. Rechtzeitig seine Dienststelle in Berlin. Alle waren stadt wie so viele in Deutschland.“ kann ich noch eingreifen und verhindern, verwundert, dass er noch am Leben ist. (21.12.1944) Oder: „Die deutsche Ar - dass er erschossen wird. Ich gebe ihn Sein Vorgesetzter, Oberstleutnant Dru - dennenoffensive ist nun schon 6 Tage im einem rückfahrenden Sanitätswagen schel, wurde seit 1. Jänner vermisst, er Rollen und es scheint vorwärts zu gehen. mit.“ (23.12.1944) kehrte von einem „Feindflug“ nicht Wagen um Wagen rollen nach vorne. In Clerf gab es keine Möglichkeit zu zurück. Bis zum 10. Jänner blieb Mör - Der Nachschub rollt wie zu Beginn des telefonieren, weshalb Mörwald be - wald in Berlin, dann bekam er „Einsatz - Russlandfeldzuges und es hat den An - schloss, mit einem Wagen Richtung urlaub“. Mit einem Fieseler Storch konn - schein als ginge es diesmal wieder kräf - Noville in Belgien zu fahren: „Dies hätte te er bis Guben fliegen, von wo er mit tig vorwärts.“ (22.12.1944) ich nicht tun sollen. Kaum 10 km west - dem Zug weiterfuhr. Am 11. Jänner war Mörwald erhielt den Befehl, Oberstleut - lich von Clerf bekommen wir einen er wieder bei seiner Frau und seinem nant Druschel nachzureisen. Im Zug von Jaboangriff. Wir springen zur Seite in Sohn und hatte bis 26. Jänner Urlaub. Bonn nach Euskirchen erlebte er einen den Straßengraben und schon stürzt sich „Die russische Offensive ist im Osten Bombenangriff: „Es wird über die Stadt die erst Maschine auf uns. Gleich der mit ungeheurer Wucht losgebrochen. Ich ganz anständig abgeladen und der Zug ers te Anflug hat getroffen. Unser Wagen stehe jeden Tag bei der Karte und halte wird in den Schienen erschüttert. Nach brennt lichterloh.“ Da er auch in Noville den Frontverlauf auf Grund der sehr ungefähr eineinhalb Stunden gibt es Ent - keine Telefonverbindung bekam, fuhr er lückenhaften Meldungen fest. Unsere warnung.“ Mörwald beschreibt die ange - nach Clerf zurück. In einem Wald wurde Wehrmacht scheint nicht mehr stark ge - spannte Situation im Zug: „Arme Men - seine Wagenkolonne durch Artillerie be - nug zu sein, um der Offensive irgendei - schen! Nichts als Nervenbündel. Der schossen: Am Ende blieben zwölf Tote nen Widerstand ernster Art entgegenset - Krieg hinterlässt sein Spuren.“ Die Nacht zurück. Mit dem Auto gelangte Mörwald zen zu können. Unaufhörlich marschiert über verbrachte er im zugigen und zum schließlich nach Blankenheim: „Tote der Russe gegen Westen. […] Manche

2/20 Beiträge 21 den Landstraßen wandern, frierend und Am 1. Februar 1945 traf Mörwald von hungernd, werden hier Flugzeuge und Berlin kommend in Krems ein. Tags dar - Autos eingesetzt, damit sie ihre Privat - auf schrieb er: „Heute kann ich mich erst sachen in Sicherheit bringen können. richtig mit meinen Eltern und meinem Denen macht es gar nichts aus, dass hun - lieben Frauchen aussprechen. Ich lege derte von Kindern erfrieren, weil sie der ihnen meinen Entschluss dar und mache Kälte auf den Straßen nicht gewachsen sie aufmerksam, dass sie als Mitwisser sind.“ Im Anschluss daran notiert Mör - sich großer Gefahr aussetzen. Haupt - wald: „Ich fasse den Entschluss bei mei - sache ist, ich bin da und überstehe diesen ner Versetzung an meinem Bestim - Krieg gut.“ Für das Tagebuch bedeutete mungsort nie anzukommen. […] Nein, dies: „Von heute ab will ich die Entwick - sage ich mir, im letzten Augenblick die - lung der Dinge in politischer und kriege - ses furchtbaren Krieges werde ich nicht rischer Hinsicht im Wichtigsten hier mehr meine Haut zu Markte tragen. Dies festhalten. [...] ‚Neuer Riesenbetrug am mögen die tun, die von ihrer ‚Idee durch - deutschen Volk geplant.‘ Das sind die drungen sind‘. Ich habe nur einen Schlagzeilen des heutigen ‚Völkischen Wunsch: den Krieg gesund zu über- Beobachter‘. Der Artikel bezieht sich auf stehen und zu meiner Familie zurück - die Dreierkonferenz der 3 Staatsmänner kehren.“ (30.1.1945) Da der Roten Ar - Stalin, Roosevelt und Churchill. Es wird mee ein Panzervorstoß über die Oder festgestellt, dass das deutsche Volk nie - Karl Mörwald (1918–2004) zwischen Bad Freienwalde und Wiesen, mals kapitulieren wird.“ meinen er würde weitermarschieren bis 60 km nordöstlich Berlin, gelungen war, Berlin. Ich glaub, dass es der deutschen wurde die Verlegung des Stabes intensi - Versteckt in Krems Wehrmacht gelingen wird den Stoß an viert. Über seinen Abschied aus Berlin In der Folge notierte Mörwald in sei - der Oderlinie aufzufangen, allerdings nur vermerkt Mörwald: „Ich melde mich bei nem Tagebuch den jeweiligen Frontver - vorübergehend.“ (13.–26.1.1945) meinem Stabsoffizier ab. Er macht mich lauf. Gelegentlich schildert er auch Er - noch aufmerksam, dass ich die Ohren eignisse in Krems, so zum Beispiel die Desertion steifhalten soll, damit ich nicht kassiert Denunziation der Frau des Eisenbahners Der Zug nach Berlin war überfüllt und werde.“ (31.1.1945) Kober, die später Mörwald unterstützen fuhr überraschenderweise über Breslau, Im Interview (1983) schildert Mörwald sollten. Der Ortgruppenleiter Gangl habe obwohl in den Wehrmachtsberichten er - seine Desertion folgendermaßen: „Die sie zu sich bestellt und gemeint „Sie se - wähnt wurde, dass „der Russe“ bereits Desertion war möglich, weil ich illegale hen ja aus wie Frau Stalin“, um ihr „sehr vor der Stadt stehe. „Flüchtlinge, die die Kontakte vor allem in der Tschecho- zuzusetzen“. In diesem Fall vermerkte Stadt verlassen steigen ein, die Militär - slowakei hatte mit der Untergrundbewe - Mörwald: „Schöne Charakterzüge. Sie streife durchkämmt den Zug und nimmt gung, wir haben die Genossen in Olmütz sollen für die Zukunft hier festgehalten Soldaten heraus. Sie werden zum Einsatz mit verschiedenen Materialien versorgt, werden, damit sie nicht in Vergessenheit in der Durchbruchslinie der Russen be - zum Beispiel mit Benzin. Später als geraten.“ (7.2.1945) Zwei Tage später stimmt sein. Ich habe abermals Glück Stabschreiber hatte ich viele Kontakte hielt er fest, dass Richard Ott als Deser - und komme durch.“ Die Stimmung im als einfacher Gefreiter zu Offizieren, die teur von einem Polizeihauptmann Hahn Zug war gereizt und angespannt. „Für Gegner des Hitler-Systems waren, mit am Pfarrplatz erschossen worden sei. Als eine Fahrtstrecke von ungefähr 70 km ihnen war es zum Teil möglich offen Denunziant nennt er Schebor. Der Auf - brauchten wir die ganze Nacht. Wir über die Fürchterlichkeiten des faschis - griff von Ott habe in der Wohnung einer mussten die Hauptstrecke umfahren, da tischen Krieges zu sprechen. Im Jahr Familie Michel stattgefunden (9.2.1945). der Russe zwischen Liegnitz [Legnica in 1944 ist uns durch Informationen, die ich Anlässlich seines Hochzeittags notiert Polen, R.S.] und Breslau bereits über die in meiner Funktion als Schreiber bekam, er: „3 Jahre sind es heute her, dass ich Oder gegangen ist.“ (28.1.1945) klar gewesen, dass der Krieg höchstens verheiratet bin. Eigentlich habe ich mir In Berlin erfuhr er in seiner Dienststel - noch bis Juli 1945 dauern könnte. Ich bei meiner Hochzeit nicht gedacht, dass le in Rangsdorf, dass er zum Schlachtge - hatte Glück, sollte versetzt werden zu ich noch 3 Jahre im Kriege leben werde. schwader 4 versetzt werden sollte. Mör - den Fallschirmjägern und bin dann Ich hoffe aber, dass dieses Jahr das letzte wald bekam mit, dass Offiziere bereits desertiert, vorher habe ich meinen Kolle - Kriegsjahr und somit das letzte Jahr in mit der Verlegung ihrer Familien und ih - gen, die mit mir gearbeitet haben, mitge - unserer Ehe ist, wo das furchtbare Rin - rer Wertsachen begannen. „Zur Abho - teilt, dass es möglich sein könnte, dass gen die Welt erzittern lässt.“ (21.2.1945) lung von Wäsche und eines Radioappa - ich nicht bei jenem Truppenteil ankom - Am Tag, an dem bereits seit vier Tagen rats wurde sogar von unserem General men könnte, zu dem ich versetzt worden keine V-Waffen nach England abgefeu - eine He 111 eingesetzt, die nach Breslau war. Ich habe mit ihnen vereinbart, die ert wurden, hielt er eine Szene beim Arzt flog und die Sachen abholen musste. Da Fahndung so lange wie möglich hinaus - fest, die ihm seine Frau berichtet hat. gibt es keinen Brennstoffmangel. Mich zuziehen, das ist dann auch tatsächlich Alte Männer sitzen im Wartesaal und packt eine unheimliche Wut, alte Unge - geschehen.“ Es lässt sich im Nachhinein wollen Bestätigungen, dass sie nicht zum rechtigkeiten und Schweinerein, die ich nicht mehr klären, welche Version zu - Volkssturm müssen, eine Frau meint, ihr in diesem Stabe schon mitansehen mus - treffend ist. Möglicherweise wollte Mör - Mann habe schon voriges Jahr gemeint, ste tauchen in meinem Kopf wieder wald in seinem Tagebuch niemanden be - dass wir den Krieg nicht gewinnen wer - frisch auf. Während tausende, hundert - lasten, obwohl das Geleitwort insinuiert, den „zustimmendes Murmeln“. Nur zwei tausende von Frauen und Kindern auf dass hier alles gesagt werde. BDM-Mädchen „äußern sich unbehag -

2/20 22 Beiträge lich über die Volksmeinung.“ Ein Aufse - Der Bahnhof ist dem Erdboden gleichge - man sie zur Schau hängen um als ab - her mit einem Ostarbeiter mit einer stark macht. Die umliegenden Wohnviertel schreckendes Beispiel zu dienen.“ blutenden Wunde am Kopf und eine wurden arg mitgenommen. Der Krieg (24.4.1945) Ukrainerin mit einem dreijährigen kommt immer näher!“ (2.4.1945) Drei Buben. Der Aufseher meinte: „Mit denen Tage später: „Vom militärischen Ge - Befreiung sind wir gleich fertig: Mit ‚denen‘ mein - schehen bin ich seit dem Angriff ganz Dass es im Tagebuch keinerlei Hin - te er die Ostarbeiter mit dem Kind. Eine ununterrichtet. Es gibt keinen Strom, weise auf illegale Treffen gibt, kann Bauersfrau geriet in Wut. ‚Was heißt mit kein Wasser und keine Zeitung. Ich sel - auch als Vorsichtsmaßnahme gewertet ‚denen‘: das sind genau solche Men - ber bin mit meinen Nerven ziemlich fer - werden. Im Interview aus dem Jahr 1983 schen wie wir. Wer weiß ob wir nicht tig, was ich auf Grund einer Auseinan - erzählt Mörwald über die konspirativen auch noch einmal unsere sieben dersetzung mit meiner Frau merke. Ein Treffen, die in der Wohnung des Ehe - Zwetschken packen und wandern müs - Nervenbündel bin ich geworden. Ich er - paars Kober stattgefunden haben. „Wir sen.‘“ (24.2.1945) kenne mich selber kaum wieder. Seit haben uns in ihrer Wohnung laufend ge - Der Krieg war längst in der Heimat - dem 1.4.1945 ist das Standrecht über den troffen, Pläne geschmiedet, was nach der stadt in Krems angekommen. Am 27. Fe - ganzen Gau Niederdonau verhängt.“ Befreiung sein würde, wobei sich einiges bruar notierte Mörwald: „Schon eine (5.4.1945) als Illusion herausgestellt hat: Zum Bei - Woche lang ziehen unendliche Kolonnen Neben dem 2. April war der 6. April spiel, dass wir von einer absoluten, har - von Flüchtlingen aus den Osten und den ein besonders wichtiger Tag für die Ge - ten Bestrafung der Faschisten in Krems Oberschlesischen Raum durch unser schichte der Stadt zum Kriegsende. Wie geträumt haben und geglaubt haben, sie Städtchen. Der Stadtpark, Wetterhäusl - vermerkt Mörwald das Massaker im ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ park und andere Grünanlagen dienen als Zuchthaus Stein? „Seit gestern sind Wenige Tage vor dem Kriegsende wurde Schutz gegen Licht der feindlichen Tief - Schuhe und Wein ohne Karten zu kau - in die Wohnung der Mörwalds auch flieger. Massenelend auf allen Hauptver - fen. Auch wurden 40 Punkte der Kleider - noch die SS einquartiert. „Dann ist die kehrsstraßen. Der Strom der Flüchtlinge karte aufgerufen. Auch Likör ist im frei - Frau Kober gekommen, die hat die Lo - ergießt sich donauaufwärts, gegen den en Handel zu bekommen. In der Kremser komotivtasche und die Uniform ihres Westen. Was wird dort diesen gehetzten Stadt geht alles drunter und drüber. Die Mannes mit gebracht, und ich bin dann Menschen erwarten? Nichts anderes Partei ist nicht mehr Herr der Lage. Die mit ihr Arm in Arm durch die SS-Gruppe wahrscheinlich als Not, Elend und dau - Arbeiter gehen schon über eine Woche marschiert und habe mich dann im ernde Lebensgefahr, da der Feind täglich nicht mehr zu ihren Arbeitsstellen. In der Wein garten versteckt.“ ein Stück weiter ins Herz Deutschlands ‚Donauwacht‘ wird die Bevölkerung Keinerlei Hinweise im Tagebuch fin - vorrückt.“ Am 1. März hielt er den ersten aufgefordert sich auf ihren Arbeitsstellen den sich auch auf die Organisationstätig - Jabo-Angriff auf den Bahnhof fest. „3 wieder einzufinden! / Heute Nachmittag keit unmittelbar am Tag der Befreiung. Lokomotiven total zerstört. Anzahl der fand eine Revolte in der Strafanstalt Im Interview erinnert sich Mörwald: Todesopfer und Verwundeten noch nicht Stein statt. Unter Mitwirken vom Ge - „Am Tag der Befreiung, als die Sowjet - bekannt.“ Dieser Angriff habe in der Be - fängnisdirektor und einigen Aufsehern truppen einmarschiert sind, hat auch völkerung große Angst und Unsicherheit wurden die Gefangenen entlassen und schon die erste Sitzung im Rathaus statt - ausgelöst. Im Krankenhaus Krems wur - bewaffnet. Es kam zu Schießerein. Der gefunden, wo über 20 Genossinnen und den nicht alle Leben geschützt: „Schwer - Direktor der Strafanstalt sowie der Ver - Genossen anwesend waren, wobei vor kranke, deutscher Abkunft werden in den waltungsinspektor und 2 Oberwachmei - allem die Genossin Franziska Wagner Keller transportiert. Ausländer werden ster wurden vom Standgericht zum Tode wertvolle Arbeit geleistet hat, die die nicht hinunterbefördert.“ Persönliche verurteilt und sofort von den ‚Nazis‘ er - Leute, die für die Rote Hilfe gespendet Notizen sind selten zu finden. Mitte schossen. In den Straßen von Krems, haben, zusammengeholt hat.“ Am 9. Mai März war Mörwald bereits eineinhalb Stein und Rehberg wurde heftig geschos - 1945 war es soweit: Karl Mörwald feier - Monate versteckt: „Das ewige Versteckt- sen. Es geht dem Ende zu! Seit 3 Tagen te seine Befreiung. „Der denkwürdigste halten nagt langsam an meinen Nerven. hören wir täglich das Donnern der Artil - Augenblicklich meines ganzen Lebens Ich bemerke, dass ich manchmal uner - lerie. Wie lange wird es noch dauern bis ist gekommen. Es ist 7 Uhr früh. Seit träglich werde und die Menschen, die um wir von diesem Nazijoch befreit sind? einer Viertelstunde läuten die Friedens - mich sind haben es oft nicht leicht mit Alle Häftlinge vom Kreisgericht wurden glocken. Die Menschen laufen auf den mir.“ (15.3.1945) auf freien Fuß gesetzt. Auch Onkel Straßen und rufen sich gegenseitig zu Am 2. April wurde der Bahnhof von Anton ist wieder zu Hause.“ (6.4.1945) voll Freude im Herzen. Kaum fassbar ist Krems bombardiert. „Ein denkwürdiger Ab 16. April waren St. Pölten, Herzo - es, es ist Friede. Ich finde keine Worte, Tag. Wir haben Fliegeralarm. Es ist genburg und Traismauer in „russischer um all meine Freude kundzutun. Es war halbdrei Uhr Nachmittag. Die Amerika - Hand“. Ein Angriff der Roten Armee auf gegen 11.00 Uhr vormittags, dass ich seit ner hängen über der Stadt. Plötzlich ge - Furth und Mautern wurde jedoch von drei Monaten Verstecktsein wieder die hen ein Raunen und Donnern durch die den Deutschen abgeschlagen. Gegen En - Freiheit erlangt habe. Ich kann wieder Luft. Die ersten Bomben fallen. Unge - de April stellte Mörwald militärisch eine unter Menschen.“ fähr eine dreiviertel Stunde erzittert der gewisse Beruhigung in Krems fest, ande - In der Folge werden die Einträge selte - Boden. Riesige Rauchschwaden steigen rerseits erfolgten täglich Massen - ner. Da die Notizen Ende Mai und Mitte empor. Ein Krachen und Donnern erfüll - erschießungen von Deserteuren. Am Juni 1945 ein Dokument des umtriebigen ten die Luft. Stinkig und rußig ist der 21. April wurden überdies drei Wehr - Kommunalpolitikers Karl Mörwald sind, Ostertag. Unsägliches Leid ist über unse - machtsangehörige, ein Hauptmann, ein werden sie hier zur Gänze wiedergege - re Stadt hereingebrochen. Ein Teil unse - Oberleutnant und ein Feldwebel am Süd - ben: „3 Wochen sind es her seitdem der rer einst so schönen Stadt war einmal. tirolerplatz aufgehängt. „36 Stunden ließ Friede ins Land gezogen ist. Manch un -

2/20 Beiträge 23 erfreuliche Ereignisse betrübten unsere anfängliche Freude. Plünderei, Schän - dungen und ähnliches kamen vor. Nun ist aber wieder allmählich Ruhe eingezo - gen und langsam aber sicher kehrt wie - der das normale Leben ein. Die Men - schen gehen ihrer Arbeit nach, Kinos spielen wieder und heute startet das erste Fußballspiel seit Kriegsende. Die Men - schen können sich noch immer nicht mit den Gedanken vertraut machen, dass nun wirklich das wahnsinnige Menschen - morden ein Ende haben soll und befin - den sich noch halb in einem Traumzu - stand. Allmählich erst beginnen sie auf - zutauen. / Man hat mich in der neuen Gemeindevertretung mit dem Amt des Referenten für Schul- und Kulturwesen betraut. Ich bin erfreut darüber und habe binnen der kurzen Zeit seit dem Ein - 1. Mai in Krems in den 1950er Jahren: ganz links Karl Mörwald. marsch der Roten Armee ganz schöne Erfolge zu verzeichnen. Es ist mir gelun - ischen Soldaten vergewaltigt. „Er wird über seine Erlebnisse in der NS-Zeit. gen, bereits einen ,Bunten Nachmittag‘ verhaftet und wird erschossen. Der trau - Dies führte immer wieder dazu, dass er mit anschließendem Tanz zu organisie - rigste Tag meines bisherigen Lebens.“ anonyme Briefe erhielt, etwa: „Sie ganz, ren. Die antifaschistische Jugendbewe - Eine Tagebuch-Passage, die Karl Mör - ganz großes Schwein, Vaterlandsverräter gung rief ich ins Leben, auch gelang es wald so nicht veröffentlicht wissen woll - – fast ohne Beispiel! Krems schämt sich mir, den ehemaligen Sportklub ,Vor - te, hat die Enttäuschung über die No - so eine Missgeburt in ihrem Bereich zu wärts‘ wieder ins Leben zu rufen. / Auf vemberwahlen des Jahres 1945 zum In - haben.“ Kurz vor seinem Tod erhielt er mein Drängen hin wird es möglich sein, halt. Am 31. Dezember zog er eine bitte - dieses Schreiben: „Nun bist du ein alter am kommenden Mittwoch die erste Zei - re Bilanz: „Das österreichische Volk hat Mann, kannst nicht mehr viel Schaden tung erscheinen zu lassen. Eine anstren - in den letzten 11 Jahren nichts hinzuge - anrichten, hast eben nicht mehr viel Zeit gende aber freudvolle Arbeit liegt noch lernt und es bedarf einer außerordentlich vor dir, aber wahrscheinlich die Imperti - vor mir.“ (27.5.1945) schweren Arbeit den neuen aber einzig nenz in dir, dich, wenn es dann soweit Und zwei Wochen später: „Der erste richtigen Weg wieder aufzuzeigen. Es ist, in österreichischer Erde begraben zu freie Sonntag seit dem Einmarsch der scheint in unserem Lande sei das Volk lassen. Wenn vielleicht doch noch ein Roten Armee. Vieles hat sich in dieser nicht reif zur Demokratie. Die Mensch - Funke Ehre, Charakter und Anstand in Zeit ereignet. Klaffl Sepp, Bollenmüller heit muss zum Schlechten gezwungen dir steckt, wirst du zu verhindern wissen, Franz und der kleine Wieland sind mit werden, aber auch der gleiche Zwang ist dies den Österreichern anzutun. Ein Typ: heiler Haut aus dem Konzentrationslager notwendig um den Weg zum Guten zu die Donau, die Du ja vor der Haustüre Bernau zurückgekommen. / In der Ge - beschreiten. Den Weg zum Sozialismus hast, fließt in das Schwarze Meer.“ meindevertretung wechselte der Bürger - werden wir nicht auf dem Wege der De - Karl Mörwald starb am 23. September meister. Suppanz musste wegen Nazi - mokratie beschreiten können. Wir müs - 2004 in Krems. Ein Jahr nach seinem zugehörigkeit gehen und Dr. Riel von sen vorerst die Demokratie nützen um Tod, am 11. August 2005, wurden mit der Volkspartei wurde Bürgermeister. Es uns Positionen zu schaffen, die dann zum dem NS-Anerkennungsgesetz die Opfer ist ein gedeihliches Zusammenarbeiten. Ausgangspunkt der weiteren Entwick - der NS-Militärjustiz in den Kreis der Nur sind die alten Herren eben alte Her - lung zur Diktatur der Arbeiterschaft wer - Opferfürsorgeberechtigten aufgenom - ren und nicht sehr agil. Man muss sie im - den. Nur über eine Diktatur des Proleta - men. Am 21. Oktober 2009 wurde vom mer anstoßen, damit man weiterkommt. riats werden wir zu einer wahren, echten Nationalrat auch die Rehabilitierung der Ich glaube aber, dass wir noch das nötige Volksdemokratie kommen. / Überall in Wehrmachtsdeserteure beschlossen. Feuer unter ihren Sesseln anzünden wer - Europa sind Anzeichen sichtbar gewor - Kommunist und Deserteur zu sein, das den, um sie etwas beweglicher zu ma - den, dass langsam aber stetig Bastionen war wohl für nicht wenige in unserem chen. Wir erhielten in der letzten Ge - zum zukünftigen Kampf gegen den Ka - Land zu viel, nicht nur in Krems. meindevorstandssitzung die Bezeich - pitalismus gewonnen werden. Je mehr nung Stadträte. Gestern war die erste Stützpunkte sie erobern umso leichter Anmerkungen: große Gewerkschaftsversammlung, in und unblutiger wird der Weg zum Sozia - 1/ Als Therese Mahrer bei den Gemeinderats - der Genosse Fiala aus Wien mit einer lismus sein. / Das Jahr 1945 brachte uns wahlen 1950 auf einen aussichtlosen Platz schwungvollen Rede die Masse über - den Frieden! Das Jahr 1946 soll uns un - gereiht wurde und dagegen protestierte, meinte zeugte.“ (10.6.1945) serem Ziele näherbringen. Es wird ein er lakonisch: „Beschweren kannst Du Dich Jahr des Kampfes gegen unsere Gegner schon, aber dann bist in Sibirien.“ (Interview mit Deserteur und Kommunist werden, ein Kampf den wir nun zum Sie - den Kindern von Therese Mahrer, Wolfgang Karl Mörwald erlebte im Jahr der Be - ge der Arbeiterschaft führen können.“ Mahrer und Eva Mahrer-Richter). freiung einige Enttäuschungen, denn im Bis ins hohe Alter berichtete Karl Mör - 2/ ZPA der KPÖ, Lebenslauf, 13.2.1946. Juni wurde seine Frau von einem sowjet - wald immer wieder in Lokalzeitungen 3/ ZPA der KPÖ, Lebenslauf, 24.4.1950.

2/20 24 Beiträge NS-Euthanasie in der „Ostmark“ Aktionen, Orte, Dimensionen floriAN ScHwANNiNger m die Jahrhundertwende waren senhygienische und eugenische Forde - lass Ärzte und Hebammen zur Meldung die Ideen der Eugenik in ver - rungen rasch um. Sie standen auch in en - aller Fälle von „Idiotie“ und verschiede - Uschiedensten Ausformungen sehr ger Verknüpfung mit materiellen Anrei - nen Behinderungen an die Gesund - präsent, nicht nur in den Wissenschaften. zen, die für „erbgesunde“ „arische“ heitsämter. Es folgte die Einrichtung von Es handelte sich bei der Eugenik um eine Familien zur Hebung der Geburtenrate „Kinderfachabteilungen“ in Heilanstal - internationale Bewegung, die auch ver - eingeführt wurden. ten und Kliniken. Sie standen unter ärzt - schiedene politische Strömungen Für die Maßnahmen gegen „Träger licher Leitung. Administrativ waren sie erreichte bzw. umfasste. Keinesfalls minderwertigen Erbguts“ und „Ballast - der staatlichen oder der kommunalen blieben eugenische Ideen auf rechte oder existenzen“ wurde Propaganda in ver - Verwaltung unterstellt. In der „Ostmark“ völkische Kreise beschränkt, wenn sie schiedenster Form betrieben. Es wurde wurden nach dem derzeitigen For - auch unterschiedliche Ausformungen an - beispielsweise gerne an Neidgefühle schungsstand zwei „Kinderfachabteilun - nahmen. Im Gegensatz zu den Ideen der appelliert, indem man Rechenbeispiele gen“ – in Wien und in Graz – eingerich - Eugenik blieb der Euthanasiediskurs – anstellte, was man mit den angeblichen tet. Für die in der Überblicksliteratur also die Forderung nach Tötung kranker Pflege- und Betreuungskosten der „Min - manchmal angeführte „Kinderfachabtei - oder beeinträchtigter Menschen – lange derwertigen“ für „erbgesunde“ deutsche lung“ in Klagenfurt gibt es derzeit keine Zeit eher randständig. Familien hätte machen können. Neben Belege. Die größte dieser „Kinderfach - Der Erste Weltkrieg stellte einen Ein - dieser ökonomischen bzw. utilitaris- abteilungen“ auf dem Gebiet des heuti - schnitt dar. Das bekannte Werk „Die Frei - tischen Argumentation wurde jedoch gen Österreich befand sich auf dem gabe der Vernichtung lebensunwerten auch an Mitleidsgefühle appelliert – man Gelände der Heil- und Pflegeanstalt Am Lebens“ von Karl Binding und Alfred solle doch durch Sterilisationen „Erb - Steinhof in Wien. Sie war dort zunächst Hoche ist als Reaktion auf die Ergebnisse kranker“ Leid verhindern bevor es über - Teil der Wiener städtischen Jugend - des Krieges zu sehen. In der Argumenta - haupt entstünde. fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund. Ende tion wurden den riesigen Verlusten an Juli 1940 nahm die „Kinderfachabtei - jungen Soldaten im Krieg – der „Blüte Von der „Kindereuthanasie“ lung“ ihren Betrieb auf. Zu diesem Zeit - des Volkes“ – die „Minderwertigen“, zur „“ punkt waren bereits mehrere hundert kranken, behinderten und schwachen Mit dem „Anschluss“ im März 1938 PatientInnen aus der Wiener Anstalt Am Menschen gegenübergestellt, die angeb - setzte der Umbau des Gesundheitssys- Steinhof nach Hartheim gebracht und lich gefahrlos und sorgenfrei in Heimen tems in der nunmehrigen „Ostmark“ – ab dort ermordet worden. und Anstalten den Krieg überlebt hätten. 1942 „Alpen- und Donaugaue“ – nach Die ÄrztInnen in den „Kinderfach- An dieser Stelle muss jedoch erwähnt dem Vorbild des „Altreichs“ ein. Die abteilungen“ „untersuchten“ die Kinder werden, dass auch bereits im Ersten Welt - Ideen der NS-Rassenpolitik fanden rasch mit zum Teil schmerzhaften und qualvol - krieg die Sterblichkeit in Anstalten, Hei - Umsetzung. In Wien begann beispiels - len Methoden. Sie meldeten jene nach men und Kliniken enorm anstieg. Zehn - weise die „erbbiologische Bestandsauf - Berlin, die für eine Tötung in Frage ka - tausende starben an Hunger, schlechter nahme“, Jüdinnen und Juden wurden men. In Berlin entschieden drei Gutach - Versorgung und Vernachlässigung. auch relativ rasch aus dem Gesundheits- ter des „Reichsausschusses“ darüber. Zu - und Wohlfahrtssystem ausgeschlossen. meist wurden die zur Tötung vorgesehe - Rassenhygiene Das „Gesetz zur Verhütung erbkran - nen Kinder mit hochdosierten Schlafmit - und NS-Bewegung ken Nachwuchses“ war für das Gebiet tel n langsam vergiftet. Sie starben dann Vor allem in Deutschland radikalisier - der „Ostmark“ hingegen weniger bedeu - an einer Lungenentzündung oder einer te sich der Diskurs nach dem Ersten tend als im Deutschen Reich zuvor. Es anderen Infektionskrankheit. Auch wur - Weltkrieg, insbesondere auch nach der trat in der „Ostmark“ am 1. Jänner 1940 den einige der Kinder für medizinische Weltwirtschaftskrise. Die Ideen von Ras - in Kraft. Aufgrund der im gleichen Jahr Experimente missbraucht, die auch töd - senhygiene und Eugenik fanden in der beginnenden Morde an Menschen, die lich enden konnten. Zwischen 25. August Ärzteschaft Verbreitung. Und auch hier neben anderen zur Zielgruppe dieses Ge - 1940 und 3. Juni 1945 starben mindestens waren sie nicht nur ein Phänomen in setzes gehörten, war die Quote der Steri - 789 Kinder und Jugendliche in der „Kin - rechtsradikalen bzw. deutschnationalen lisationen im Vergleich zum übrigen derfachabteilung“ Am Spiegelgrund. Kreisen. Hitler und die NS-Bewegung Reich eher niedrig. Nach Schätzungen Die Existenz einer „Kinderfachabtei - griffen die Rassenhygiene von Anfang lag die Zahl der zwangsweise sterilisier - lung“ in Graz wurde von Dr. Hans Hefel - an auf. Forderungen nach Zwangssterili - ten Menschen in der „Ostmark“ zwi - mann bei einer Vernehmung im Jahr 1960 sation und auch nach Beseitigung von schen 5.000 und 10.000 bis zur Befrei - in Frankfurt/M. erwähnt. Der genaue „Minderwertigen“ und „Ballastexisten - ung im Mai 1945. Zeitpunkt der Eröffnung lässt sich nicht zen“ wurden früh geäußert. Durch diese Die Vorbereitungen für die systemati - mehr datieren. Das älteste bekannte Do - Maßnahmen sollte das deutsche Volk im sche Erfassung und Vernichtung von kument stammt aus dem Jänner 1943. Die „Kampf ums Dasein“ gestärkt werden. Kindern mit geistigen Behinderungen „Kinderfachabteilung“ war in Graz nicht Nach dem Machtantritt der NSDAP liefen seit dem Frühjahr 1939. Im August abgegrenzt von anderen Abteilungen der 1933 setzten die neuen Machthaber ras - 1939 verpflichtete ein geheimer Runder - Heil- und Pflegeanstalt Am Feldhof.

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„Reichsausschuss-Kinder“ verstarben auf m i e h verschiedenen Stationen. Interessanter - t r a H weise ging die Post des „Reichsausschus - e l l e ses“ an die Privatadresse von Dr. Oskar t s s

Begusch, des Direktors der Heil- und n o i t a

Pflegeanstalt Am Feldhof – übrigens auch t n e

ein Gutachter der „Aktion T4“. In Graz m u k sind derzeit 19 verstorbene Kinder der o „Kinderfachabteilung“ nachweisbar. D Auf dem Gebiet der „Ostmark“ begann die „Kindereuthanasie“ erst kurz nach der „Aktion T4“. Die Transporte aus Wien nach Hartheim hatten bereits begonnen, als in Wien im Rahmen der „Kinder- euthanasie“ die ersten Kinder ermordet wurden. Die Planungen für die später nach ihrer Zentrale in der Berliner Tier - gartenstraße 4 benannte „Aktion T4“ be - Schloss Hartheim als Tötungsanstalt (vermutlich 1940). gannen im Sommer 1939. Aus dem inne - ren Kreis der NS-Führung weiß man, dass Schnelligkeit, auch die Geheimhaltung und die Vorarlberger Landes- Irrenanstalt für den Fall eines Krieges eine größere wollte man dadurch fördern. In der Folge Valduna in Rankweil nur 210. Daneben Vernichtungsaktion gegen so genannte wurden im Rahmen der „Aktion T4“ existierte eine Vielzahl kleinerer, vor „Ballastexistenzen“ und „unnütze Esser“ sechs Tötungsanstalten im gesamten allem unter kirchlicher Trägerschaft ste - geplant war. Sie sollte sich vor allem ge - deutschen Reich eingerichtet. hende, Einrichtungen, die sich der Be - gen PatientInnen in psychiatrischen Klini - treuung und Pflege von Menschen mit ken und Behindertenheimen richten. Die „Aktion T4“ in der „Ostmark“ körperlichen und geistigen Behinderun - Die Planungen verliefen parallel zur Wie bereits erwähnt richtete sich die gen widmeten. „Kindereuthanasie“. Vorerst waren Um - Aktion vor allem gegen stationäre Pati - Im März 1940 wurde Schloss Hart - fang und Methode der Vernichtungsakti - entInnen in Heil- und Pflegeanstalten heim als Tötungsanstalt der „T4“ – vor on nicht festgelegt. Nach Kriegsbeginn und gegen BewohnerInnen von Heimen. allem für das Gebiet der „Ostmark“ und konkretisierten sich die Überlegungen Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen einen Teil Bayerns – eingerichtet. Das und auch das Tötungsverfahren wurde Überblick über die Struktur des öster - Schloss hatte zuvor ab Ende des 19. Jahr - entschieden. Der „Gnadentoderlass“ reichischen Anstaltswesens geben. hunderts als Betreuungseinrichtung für Adolf Hitlers, datiert auf den 1. Septem - Österreich war auf diesem Gebiet schon Menschen mit Behinderungen gedient. ber 1939, ist ein zentrales Dokument – aus der Zeit der Monarchie durch die Im März wurden die „Pfleglinge“ und und auch das einzige das von Hitler in Existenz von großen staatlichen psychia - die Barmherzigen Schwestern, die zur diesem Zusammenhang existiert. Dieser trischen Anstalten geprägt. Jedes Bun - Betreuung eingesetzt waren, in andere „Erlass“ wurde auf seinem persönlichen desland – früher quasi jedes Kronland – Einrichtungen in Oberösterreich ge - Briefpapier vermutlich Anfang Oktober verfügte über mindestens eine Heil- und bracht. Im Schloss begannen die Umbau - 1939 niedergeschrieben, aber symbol - Pflegeanstalt. Sechs dieser Anstalten arbeiten. Hierzu wurde Personal der trächtig auf den Tag des Kriegsbeginns, verfügten über 1.000 Betten: die Landes- „T4“ eingesetzt, beispielsweise der Mau - den 1. September, datiert. Mit diesem Tag Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart in rer Erwin Lambert, der auch in anderen sollte offenbar der Krieg gegen den äuße - Linz (1.100), die NÖ. Landes-Heil- und Tötungsanstalten Umbauarbeiten vor - ren wie auch den inneren Feind beginnen. Pflegeanstalt Mauer-Öhling bei Amstet - nahm. Die Firma Kori aus Berlin lieferte Dieses Schreiben Hitlers stellte die einzi - ten (2.000), die Heil- und Pflegeanstalt den Krematoriumsofen. ge „rechtliche“ Grundlage für den der Stadt Wien in Ybbs a. D. (1.650), die Ein Teil des Personals wurde von der Massenmord dar. Es wurde zwar vom Re - NÖ. Landes-Irrenanstalt Gugging bei T4-Zentrale nach Hartheim entsandt, ein gime ein Gesetz zur Regelung und Legali - Wien (1.120) und die größte psychiatri - anderer Teil wurde regional rekrutiert. sierung der Euthanasiemorde vorbereitet, sche Anstalt Österreichs – zu Zeiten der Bei der Rekrutierung des regionalen Per - aber mit Rücksicht auf die Stimmung in Monarchie angeblich sogar die größte sonals spielte die Verwaltung des der Bevölkerung nie beschlossen. Kontinentaleuropas –, die Heil- und Pfle - Reichsgaus Oberdonau eine wichtige Für die Auswahl der Tötungsmethode geanstalt der Stadt Wien Am Steinhof Rolle, vor allem die beiden Gauinspekto - waren Erfahrungen aus den ersten Mas - (4.140) sowie die Landes-Heil- und Pfle - ren. Sie griffen vor allem auf politische senmorden im besetzten Polen aus - geanstalt für Geisteskranke Am Feldhof Netzwerke aus der „illegalen Zeit“ schlaggebend. Die Tötung durch Gas in in Graz (2.110). In Gugging gab es noch zurück. Rund ein Drittel der Täter von stationären Gaskammern setzte sich eine kleinere Einrichtung für „schwach - Hartheim sollte später eine maßgebliche schließlich als Methode gegenüber ande - sinnige Kinder“. Die staat lichen Anstal - Rolle bei der Ermordung von Jüdinnen ren Formen durch. So wurden beispiels - ten in Kärnten, Salzburg und Tirol waren und Juden in den Vernichtungslagern der weise in der Diskussion auch Tötungen – entsprechend der geringeren Bevölke - „Aktion Reinhard“ (Sobibor, Belzec und durch Medikamente bzw. Spritzen in rung – kleiner. Die Landes-Heilanstalt Treblinka) spielen. einzelnen Kliniken in Erwägung gezo - für Geistes- und Gemütskranke in Salz - Wie es zur Auswahl von Hartheim als gen. Stationäre Gaskammern verspra - burg wies rund 520 Betten auf, jene in Standort kam, ist nicht zur Gänze geklärt. chen jedoch eine größere Effizienz und Klagenfurt 680, jene in Hall (Tirol) 550 Es fehlen hier die Aufzeichnungen. Es ist

2/20 26 Beiträge davon auszugehen, dass die guten Kon - noch von einem Arzt untersucht, einige Wehrmachtslazarette verwendet, auch takte der Linzer bzw. oberösterreichi - der Opfer wurden noch fotografiert, dann für die Umsiedlungsaktionen der Volks - schen Nationalsozialisten nach Berlin brachte man sie unter dem Vorwand, sie deutschen Mittelstelle und andere ausschlaggebend waren. So war beispiels - würden geduscht, in die Gaskammer, die Zwecke fanden sie Verwendung. weise Gustav Kaufmann in der oberöster - als Duschraum getarnt war. Nach der Er - Wie liefen diese Besuche der Kommis - reichischen bzw. Linzer NSDAP aktiv, in mordung durch das Einlassen von Koh - sionen in der Praxis ab? Ich möchte das der illegalen Zeit wurde er auch verhaftet. lenmonoxid brachten die Krematoriums - anhand von Beispielen zeigen. Die Lei - Kaufmann war Leiter der Inspektionsab - arbeiter die Leichen zum Ofen. tung der Anstalt Mauer-Öhling in der teilung in der „T4“ in Berlin. Diese war Auf Wunsch erhielten die Angehöri - Nähe von Amstetten erhielt im Frühling u.a. zuständig für die Einrichtung der gen Urnen mit der angeblichen Asche. 1940 von der Reichsstatthalterei Nieder - Tötungsanstalten. Zum anderen sprachen Die übrige Asche wurde in die Donau donau ein Schreiben in dem sie angewie - für Hartheim die geografische und ver - geschüttet. Später ging man aus Gründen sen wurde, die PatientInnen durch Melde- kehrstechnische Lage sowie die Eigen - der Geheimhaltung dazu über, sie im bögen zu erfassen. Der ärztliche Direktor tumsverhältnisse. Das Schloss befand Schlossgarten zu vergraben. In den Ster - Michael Scharpf wollte noch auf nähere sich bereits im Eigentum des Reichsgaus, bedokumenten und -benachrichtigungen Anweisungen warten, stattdessen er - da der vorherige katholische Träger- an die Angehörigen waren natürliche schien einige Zeit später die Gutachter - verein nach dem „Anschluss“ aufgelöst Todesursachen zu finden. kommission, der auch Obergutachter bzw. enteignet worden war. Die großen staatlichen Heil- und Pfle - Paul Nitsche angehörte. Laut Aussage Die Morde im Schloss begannen An - geanstalten waren das erste Ziel. Bei der des Direktors nach 1945 erfolgte die Be - fang Mai 1940. Die ersten Opfer stamm - Auswahl der Opfer wurde der Vorgang gutachtung in drei bis vier Tagen rein auf ten aus oberösterreichischen Einrichtun - auf dem Gebiet der „Ostmark“ rationali - Basis der Diagnosen in den Krankenge - gen, vor allem um in der Heil- und Pfle - siert und beschleunigt. Das Selektions - schichten. Auch wurde gefragt, wer von geanstalt Niedernhart in Linz Platz zu verfahren der Zentraldienststelle der den PatientInnen Besuch bekomme oder schaffen, um die Anstalt als Puffer- bzw. „T4“ war relativ kompliziert und anfällig ob sich jemand um sie kümmere. Zwischenanstalt verwenden zu können. für Verzögerungen. Das größte Problem Wenige Tage nach dem Besuch der Im Unterschied zu den anderen T4- stellte das Ausfüllen der Meldebögen Kommission kam wiederum ein Schrei - Tötungsanstalten im Reich verfügte durch die Anstaltsleitungen dar. Deren ben der Reichsstatthalterei. Darin wurde Hartheim in der Folge nur über diese Haltung reichte von gewissenhafter Be - die geplante Verlegung von PatientInnen eine Zwischenanstalt. Die Zwischen - arbeitung, über hinhaltenden Widerstand angekündigt. Kurz darauf trafen die anstalten hatten eine logistische Funkti - bis hin zum Ignorieren der Meldebögen Transportlisten und das Datum ein. Nur on. Sie sollten der zwischenzeitlichen wegen personeller Engpässe. Deshalb neun Tage, nachdem die Gutachter - Unterbringung der zur Vernichtung vor - ging man bald dazu über, Gutachter - kommission die Anstalt besucht hatte, gesehen Menschen dienen. Je nach kommissionen in Anstalten mit geringer ging am 13. Juni 1940 der erste Trans - Kapazität der Tötungsanstalt wurden die Meldequote zu entsenden. Manche port mit 140 Personen nach Hartheim Menschen mit Bussen aus Niedernhart Regionen wurden auch von diesen Kom - bzw. Niedernhart ab. Insgesamt wurden nach Hartheim gebracht und sofort nach missionen bereist, um Anstalten zu über - bis zum Stopp der „Aktion T4“ rund der Ankunft ermordet. Der Direktor von prüfen bzw. an Ort und Stelle zu begut - 1.200 PatientInnen aus Mauer-Öhling in Niedernhart, der Linzer Psychiater Dr. achten und Meldebögen auszufüllen. Hartheim ermordet. Rudolf Lonauer, war in Personalunion Dies war beispielsweise in Franken und In Wien kündigte auch ein Schreiben auch der Leiter der Tötungsanstalt Hart - in der Rheinprovinz der Fall. des Reichsstatthalters die Ankunft der heim, die offiziell unter dem Titel „Lan - In der „Ostmark“ erfolgte der erste Gutachterkommission an. Darin hieß es: desanstalt“ firmierte. Ebenso war Lonau - Einsatz einer solchen „Gutachterkom - „Aus Gründen der Reichsverteidigung er als T4-Gutachter tätig. mission“ bei der Erfassung der großen ist es erforderlich, in nächster Zeit in In Hartheim waren keine Räumlichkei - staatlichen Anstalten im Juni 1940. Frie - großem Umfang Verlegungen von An - ten für die Unterbringung der selektier - drich Mennecke, T4-Gutachter und Mit - staltsinsassen der Heil- und Pflegeanstal - ten Menschen vorhanden. Es war auch glied der Kommission, berichtete darü - ten vorzunehmen. Mit der Durchführung nicht vorgesehen, dass hier jemand von ber in einem Brief von Ende Juni 1940: dieser Verlegungen ist eine von Prof. ihnen länger bleiben sollte. Die Tötung „Im Rahmen dieser ‚Sonderaufgabe‘ war Heyde geführte Kommission beauftragt. der Menschen erfolgte in einem arbeits - ich vom 4. Juni bis gestern (3 ½ Wo - Die Kommission wird die für die Ver - teiligen, effizient organisierten Prozess, chen) mit einer Kommission aus der leg ung vorgesehenen Patienten aus - der möglichst störungsfrei ablaufen soll - Kanzlei des Führers Berlin in der Ost - wählen und die Verlegung selbst veran - te. Die Menschen wurden in einer Holz - mark. Unsere Aktion umfasste fast alle lassen. Herr Prof. Heyde wird sich in den garage an der Westseite des Schlosses ostmärkischen Anstalten, es ging von nächsten Tagen an die Anstalten ‚Am von „PflegerInnen“ empfangen bzw. von Oberdonau über Niederdonau (Wien), Steinhof“ und ‚Ybbs‘ wenden. Ich er- ihren TransportbegleiterInnen in das Steiermark, Kärnten nach Salzburg.“ suche die Leiter dieser Anstalten, Herrn Schlossinnere geführt. Dort wurde ihnen Die Stoßrichtung war dabei, möglichst Prof. Heyde jegliche Unterstützung zuteil ein harmloses Aufnahmeprozedere vor - ohne Verzögerung die großen staatlichen werden zu lassen und für die Unterbrin - getäuscht. Es war ihnen vor der Abfahrt Anstalten für andere Zwecke freizube - gung und Verpflegung der Kommission gesagt worden, dass sie in eine neue Ein - kommen. Sie waren auch vor allem und ihrer Angestellten besorgt zu sein.“ richtung kämen. Personal in weißen Kit - durch die Mitwirkung der staatlichen In der Folge waren an den Selektionen teln bzw. in Pflegerkleidung sollte den Verwaltung dem unmittelbaren Zugriff in Wien zusätzlich zur Kommission harmlosen Eindruck mit herbeiführen. der Zentraldienststelle unterworfen. Die Krankenhausärzte und Ärzte des Stein - Im „Aufnahmeraum“ wurden sie auch „freigemachten Betten“ wurden für hofs eingesetzt. In wenigen Tagen sich -

2/20 Beiträge 27 neten Novo Celje (deutsch ste bekannte Transport im Rahmen die - Neu Cilli) mit 89%, Ybbs mit ser Aktion ging am 11. August 1941 aus 83% und Klagenfurt mit 81%. dem KZ Mauthausen nach Hartheim. Die niedrigsten Quoten findet Diese Mordaktion gegen kranke, invali - man „Am Feldhof“ in Graz de, aber auch politisch und rassisch miss - mit 55%, in Gugging mit 50% liebige Häftlinge sollte erst im Novem - bzw. 42%, „Am Steinhof“ in ber 1944 enden. Im Rahmen von „14f13“ Wien mit 48% und in Hall – einem Kürzel aus der SS-Verwaltung (Tirol) mit 46%. In Celje der Konzentrationslager – wurden in dürfte vermutlich eine beson - Hartheim rund 10.000 Menschen durch dere rassistische Komponente Kohlenmonoxid ermordet. hinzugekommen sein, denn Luftbild der Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling die Mehrzahl der PatientIn - Dezentrale „Euthanasie“ nen waren SlowenInnen. und Hungersterben teten sie 4.000 Krankenakten. Drei Wo - Die Tötungsanstalt Hartheim war im Das Sterben von Menschen mit Behin - chen später, am 9. Juli 1940, ging der er - Jahr 1940 mit den Transporten aus den derungen oder psychischen Krankheiten ste Transport nach Hartheim. Insgesamt großen Anstalten ausgelastet. Die Trans - war mit dem Stopp der „Aktion T4“ wurden etwas über 3.200 PatientInnen porte aus kleineren, oftmals konfessio - Ende August 1941 nicht zu Ende. Nun des „Steinhofs“ – teilweise über die An - nellen Einrichtungen erfolgten daher wurde verstärkt in einzelnen Anstalten stalt in Ybbs kommend – in Hartheim er - größtenteils 1941. Das Vorgehen bei den ohne Planung der Zentraldienststelle ge - mordet. Ähnlich diesem Vorgehen be - Selektionen war ähnlich. Es reisten mordet. Zahlreiche Menschen kamen suchten in der Folge Gutachterkommis - jedoch nicht mehr Kommissionen an, auch aufgrund der schlechten Versor - sionen – nicht immer in derselben Zu - sondern einzelne T4-Gutachter bzw. die gung und Behandlung und aufgrund von sammensetzung – die weiteren Anstalten beiden Leiter von Hartheim, Dr. Rudolf Vernachlässigung ums Leben. Dies in „Niederdonau“ und in Kärnten. Zu Lonauer und Dr. Georg Renno, waren konnte beabsichtigt sein oder es wurde Graz und Salzburg gibt es derzeit keine persönlich vor Ort. Die Transporte aus auch einfach passiv hingenommen. Hinweise auf die Tätigkeit einer Gutach - den kleinen Anstalten wurden in der Fol - Es gibt noch immer keine zusammen - terkommission. Die PatientInnen könn - ge zwischen jene aus den großen Ein - fassende Darstellung dieser „dezentralen ten auf „herkömmliche“ Weise für die richtungen eingeschoben. Die Quote der Euthanasie“ für das Gebiet der „Ost - Vernichtung ausgewählt worden sein. In Ermordeten liegt bei den kleineren Ein - mark“. In einem Band der 2009 stattfin - der zweiten Augusthälfte und Anfang richtungen zwischen 87% im Fall der denden Arbeitskreistagung in Hartheim September 1940 bereiste die Gutachter - Bewahranstalt in Kramsach (Tirol) und gibt der Wiener Historiker Herwig kommission bayerische Anstalten, die 23% im Diakoniewerk Gallneukirchen Czech einen Überblick über diese Mor - zum Einzugsgebiet von Hartheim gehör - (Oberösterreich). de. Zu einigen einzelnen Anstalten wur - ten. Den Abschluss dieser Reise bildeten Derzeit sind rund 10.000 Namen und den in der jüngeren Vergangenheit For - die Tiroler und Vorarlberger Anstalten. Daten von Ermordeten aus dem Gebiet schungen durchgeführt bzw. laufen der - Nach dem Überfall auf Jugoslawien im der „Ostmark“ (exkl. der Untersteier - zeit Forschungsprojekte, so z.B. zu Hall April 1941 wurde auch die Untersteier - mark) bekannt. Bei der Betrachtung der (Tirol) oder zur Anstalt Salzburg. mark von der „Aktion T4“ erfasst. Diese Gesamtzahl der Opfer der „Aktion T4“ Die Morde an PatientInnen in den ein - Region wurde an den Reichsgau Steier - (70.273) im Verhältnis zur Einwohner - zelnen Einrichtungen begannen teilweise mark angegliedert. Die größte psychiatri - zahl des Deutschen Reichs im Mai 1939 schon während der „Aktion T4“. So er - sche Anstalt dieses Gebiets war jene in (79.375.281), ergibt sich eine überdurch - mordete der Direktor Dr. Rudolf Lonau - Celje (deutsch Cilli). Im Mai wurden die schnittliche Zahl von Ermordeten in der er in der Heil- und Pflegeanstalt Nie - Meldebögen übersandt, Anfang Juni er - „Ostmark“. Dieses Gebiet umfasste im dernhart in Linz bereits 1940 mehrere In - schien eine Ärztekommission und schon Jahr 1939 6.653.000 EinwohnerInnen. sassInnen. Ab dem August 1941 stiegen am 9. Juni 1941 ging ein Transport mit Kam im gesamten Deutschen Reich ein die Sterbezahlen rapide an und sanken fast 360 PatientInnen nach Hartheim. in der „Aktion T4“ ermordeter Mensch erst wieder mit Beginn von Lonauers Der Stopp der „Aktion T4“ am 23. bzw. auf 1.130 EinwohnerInnen, so war es in Kriegsdienst im Jahr 1943 auf ein Vor - 24. August 1941 traf den Westen Öster - der „Ostmark“ ein T4-Opfer auf 665. kriegsniveau. Nach seiner Rückkehr En - reichs mitten in Planungen für weitere Die wichtigsten Gründe für diese fast de 1944 stieg die Sterberate erneut an. Transporte. Diese Anstalten waren u.a. doppelt so hohe Opferrate dürften der Lonauer mordete vor allem mittels durch Verlegungen aus kleineren regio - Einsatz von Gutachterkommissionen so - Luminal, einem Barbiturat. Die betroffe - nalen Einrichtungen überfüllt. wie die starke Zentralisierung im Bereich nen Menschen entwickelten dabei zu - Bis zum Stopp wurden über 9.100 der psychiatrischen Versorgung sein. Ins - meist eine Lungenentzündung, die töd - Menschen aus den großen staatlichen gesamt sind die Daten von rund 16.300 lich verlief. Die genaue Opferzahl kann Heil- und Pflegeanstalten in der „Ost - Personen bekannt, die in Hartheim im nicht festgestellt werden, es dürfte sich mark“ (inkl. der Untersteiermark) in Rahmen der „Aktion T4“ ermordet wur - aber um 600 bis 800 Personen handeln. Hartheim ermordet. Auch wenn diese den. Die „Hartheim-Statistik“ weist für Seit längerem läuft ein diesbezügliches Berechnungsmethode nur eine Tendenz die „Anstalt C“ die Zahl von 18.269 aus. Forschungsprojekt am Lern- und Gedenk- aufzeigen kann und keinesfalls die To - Sie kamen aus der „Ostmark“, aus Bayern ort Schloss Hartheim. desrate korrekt wiedergibt: Dies ergibt in sowie den Sudetengebieten. In der Heil- und Pflegeanstalt Am Relation zur Bettenzahl eine Opferquote Im August 1941 begann in Hartheim Steinhof in Wien wurden nach dem aktu - von 62%. Die höchsten Quoten verzeich - die „Sonderbehandlung 14f13“. Der er - ellen Kenntnisstand keine Menschen

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r Euthanasie eingehen. Dies ist die Ermor - e b z

l dung von ZwangsarbeiterInnen („Ost - a s r arbeitern“) in einzelnen Anstalten und vor e b O

allem im Herbst 1944 in Hartheim. Kran - n o i t ke ZwangsarbeiterInnen, auch Schwange - a t n

e re, wurden anfänglich in ihre Heimat - m u

k länder abgeschoben. Von dieser Praxis o D / wurde 1942/43 Abstand genommen. Die n e h Ausbeutung der Arbeitskraft bekam abso - c n ü luten Vorrang. Psychisch kranke Zwangs - M e t

h arbeiterInnen kamen in der Folge in Heil- c i h und Pflegeanstalten zu Tode bzw. wurden c s e

g im Rahmen der dezentralen Euthanasie t i e Z

ermordet. r ü f Im September 1944 bestimmte man t u t i t einige Anstalten zu „Sammelanstalten“ s n I für „geisteskranke“ „Ostarbeiter“. Die einzige auf dem Gebiet der „Ostmark“ war Mauer-Öhling. Von dort ging auch noch Mitte November 1944 ein Trans - Karte zu den verschiedenen Orten und Aktionen der NS-Euthanasie port mit 21 Personen nach Hartheim. Verschiedenen Zeugenaussagen zufolge durch Gift oder Strom ermordet – wenn Krieges an, aber die Todesfälle dürften dürfte es sich um die letzte Mordaktion man von der „Kinderfachabteilung“ ab - auf die schlechte Versorgung und nicht in Hartheim gehandelt haben. Die Zahl sieht. Am Steinhof starben jedoch tau - auf direkte Tötungsabsicht zurück- der ZwangsarbeiterInnen in den Heil- sende PatientInnen durch Hunger, Kälte, zuführen sein. Es mangelte an Pflege- und Pflegeanstalten ist ebenfalls schwer Medikamentenknappheit und Infektions - personal, Heizmaterial und am Ende des festzustellen. Es dürfte sich für das Ge - krankheiten. Die Sterblichkeit sollte auf Krieges auch verstärkt an Nahrungsmit - biet der „Ostmark“ vorsichtig geschätzt 22% im Jahr 1944 und fast 43% im Jahr teln. Nichtdestotrotz war die Schlechter - um mehrere hundert Personen handeln. 1945 ansteigen. stellung von psychisch kranken oder be - Eine besonders verwundbare Gruppe hinderten Menschen in den Kliniken und Bilanz der NS-Euthanasie waren hier jene Menschen, die aus an - Heimen in der Versorgung auch Aus - Die „Kindereuthanasie“, die entgegen geblichen Luftschutzgründen quer durch druck des rassenhygienischen Denkens ihrem Namen zum Teil auch Jugendliche das Deutsche Reich transportiert worden der NS-Machthaber. umfasste, forderte in den Jahren 1940 bis waren. Für diese Verlegungen bürgerte Ob in einer Anstalt von ÄrztInnen und 1945 in der damaligen „Ostmark“ bzw. sich die Bezeichnung „Aktion Brandt“ dem Pflegepersonal gemordet wurde den „Alpen- und Donaugauen“ etwa 810 ein. Diese Menschen starben sowohl Am oder nicht, dürfte von der Kombination Todesopfer. Rund 10.000 psychisch Steinhof oder wurden in Anstalten wie mehrerer Faktoren abhängig gewesen kranke und behinderte Menschen aus Niedernhart ermordet. In „Niederdonau“ sein. So benötigte man keine Ermächti - diesem Gebiet wurden in den Jahren wurde Dr. Emil Gelny zur zentralen gung einer zentralen Stelle (RMdI, KdF), 1940 und 1941 im Rahmen der „Aktion Figur der dezentralen Euthanasie. Ob - aber eine unabdingbare Voraussetzung T4“ in der Gaskammer von Schloss wohl kein eigentlicher Psychiater wurde war jedoch die positive Einstellung des Hartheim ermordet. Dort wurden von er 1943 Direktor der Heil- und Pflege - Gauleiters (Reichsstatthalters bzw. 1941 bis 1944 auch mind. 10.000 kranke anstalten Gugging und Mauer-Öhling. In Reichsverteidigungskommissars) zu den oder arbeitsunfähige KZ-Häftlinge durch den beiden Anstalten ermordete er min - dezentralen Tötungen. Eine weitere Vor - Kohlenmonoxid ums Leben gebracht. destens 600 Menschen durch Medika - aussetzung war natürlich das Vorhan - ÄrztInnen sowie Pflegepersonal ermor - mente und Elektroschocks. Zu direkten densein von tötungsbereiten ÄrztInnen. deten im Rahmen der dezentralen Tötungen durch ärztliches und Pflege - Von Vorteil für derartige Maßnahmen „Euthanasie“ in einzelnen Heil- und personal kam es des Weiteren noch in war auch die Unterstützung der Gesund - Pflegeanstalten der „Ostmark“ zwischen Klagenfurt – genauer im dortigen „Sie - heits- und Sozialbehörde. 1.600 und 2.000 PatientInnen durch chenhaus“. Dort ermordeten der Psychia - Die Gesamtzahl der Opfer der dezen - Medikamente und mittels anderer Me - ter Dr. Franz Niedermoser und Pflege - tralen Euthanasie in der „Ostmark“ ist thoden, rund 5.000 weitere fielen dem kräfte mindestens 400 Menschen durch schwer zu beziffern. Nach vorsichtigen Hungersterben und der mangelnden Ver - Medikamente. Schätzungen könnte sie bei 1.600 bis sorgung und Betreuung zum Opfer. In Für die anderen Heil- und Pflege - 2.000 liegen. Hinzu kommen die rund den Jahren 1943 bis 1945 ermordete man anstalten auf dem Gebiet der „Ostmark“ 5.000 Menschen, die – vor allem am darüber hinaus mehrere hundert Zwangs - sind derzeit keine Morde an PatientInnen Wiener Steinhof – aufgrund von Hunger arbeiterInnen im Rahmen der NS- nachweisbar. Es gibt zwar zum Grazer bzw. schlechter Versorgung verstarben. Euthanasie in einzelnen Anstalten der Feldhof Hinweise, dass durch Medika - „Ostmark“ sowie in Schloss Hartheim. mente getötet wurde, aber eine Bestäti - ZwangsarbeiterInnen gung steht noch aus. In anderen Einrich - als Opfer der NS-Euthanasie Vortrag im Rahmen der General- tungen wie in Hall oder Salzburg stiegen Zum Schluss möchte ich noch kurz auf versammlung der Alfred Klahr Gesell - die Sterberaten zwar im Verlauf des eine nur wenig bekannte Aktion der NS- schaft am 4. März 2020.

2/20 Beiträge 29 Ho Chi Minh zum 130. Geburtstag KArl wiMMler er Vietnamese Ho Chi Minh war Retuscheur bei einem Photographen, Lesen begriff ich schließlich die wichtig - einer der bedeutendsten kommu - teils als Maler ‚chinesischer Antiquitä - sten Gesichtspunkte. […] Beharrlich Dnistischen Politiker des 20. Jahr - ten‘ (Made in France!). Im Übrigen ver - brachte ich ein einziges Argument vor: hunderts. Wer mit einem solchen Satz teilte ich Flugblätter, auf denen die Ver - ‚Wenn Sie den Kolonialismus nicht ver - beginnt, erntet vermutlich zunächst brechen der französischen Kolonialisten urteilen und sich nicht an die Seite der Zweifel und Misstrauen. Waren da nicht in Vietnam angeprangert wurden. Da - unterjochten Völker stellen, was soll Ihre Spitzenpolitiker mit sowjetischen, fran - mals bejahte ich die Oktoberrevolution Revolution dann überhaupt?‘ […] Auf zösischen, deutschen, italienischen, nur aus dem Instinkt heraus; ihre volle dem Kongress in Tours stimmte ich dann tschechischen, ungarischen, jugoslawi - historische Bedeutung hatte ich noch schließlich […] für den Anschluss an die schen, spanischen, chinesischen usw. nicht erfasst. […] Der Sozialistischen Dritte Internationale.“ Namen viel bedeutsamer? Und rührt der Diese und alle folgenden Zitate finden historische Rang Ho Chi Minhs nicht vor sich in einer ausgezeichneten Auswahl allem daher, dass der Vietnamkrieg der Werke Ho Chi Minhs, die 1967 in dreißig Jahre lang, vor allem in seinem englischer Sprache und 1968 auf Deutsch letzten Jahrzehnt, das politische Welt - im Münchner Piper Verlag erschien (Ho geschehen und den Kalten Krieg mehr Chi Minh: Revolution und nationaler Be - oder weniger prägte? freiungskampf. Reden und Schriften Ich habe nicht die Absicht, eine fun - 1920 bis 1968). Sie basiert auf der in Ha - dierte Studie über die Leistungen dieses noi in den Jahren 1960 bis 1962 erschie - Revolutionärs vorzulegen. Aber einige nenen vierbändigen Ausgabe. Der Ver - Eckpunkte des Wirkens Ho Chi Minhs fasser des Vorworts, Bernard B. Fall, der scheinen mir auch anhand einiger Aus - zwei Monate nach dessen Fertigstellung züge aus seinen Schriften als wichtig ge - in Vietnam von einer Mine getötet wur - nug, um daran aus Anlass seines de, wies darauf hin, dass Ho Chi Minh im 130. Geburtstags zu erinnern. Und ich Unterschied zu anderen führenden Revo - vermeide ausdrücklich „romantische“ lutionären nie in längeren kontemplativen Reminiszenzen an den Vietnamkrieg, die Phasen die Gelegenheit zu intensiven unter alten oder ehemaligen Linken, theoretischen Studien und schriftstelleri - SozialistInnen oder KommunistInnen schen Tätigkeiten hatte, sondern als insbesondere Westeuropas noch spora - Organisator, Revolutionär und schließ - disch auftauchen. Und nicht selten ins lich Staatschef „ein Mann der Tat“ war. Zynische abgleiten, da angesichts des Dies berechtigt allerdings nicht, ihn als Vietnam von heute ein halbes Jahrhun - Partei schloss ich mich an, weil diese nachrangigen kommunistischen Denker dert danach nicht selten die Vergeblich - ‚Damen und Herren‘ – wie ich die Ge - zu sehen, wie einige Abschnitte seiner keit, ja „Sinnlosigkeit“ dieses antikolo - nossen damals anredete – Sympathie für Schriften in der Folge zeigen werden. Zu - nialen Befreiungskriegs belächelt wird. mich, für den Kampf der unterdrückten dem ist wenig bekannt, dass Ho sich im Als ob mangelnde oder andauernde „Er - Völker bekundeten. Ich verstand weder Lauf seines Lebens fünf Sprachen aneig - folge“ von Befreiungskämpfen, von etwas von Organisationen wie Partei nete, ein Kenner der klassischen Literatur Widerstand, von Revolutionen jemals oder Gewerkschaft, noch wusste ich, was Chinas war und über verschiedene ein Argument dagegen gewesen wären – Sozialismus oder Kommunismus bedeu - Aspekte europäischer Kunst und Kultur außer für die Verteidiger von Unter - teten. Zu jener Zeit diskutierte man in fachkundiger urteilen konnte als manche drückung und Ausbeutung. den örtlichen Sektionen der Sozialisti - europäischen Intellektuellen. Ho Chi Minh wurde am 19. Mai 1890 schen Partei heftig darüber, ob die Partei in einem Dorf in Zentralvietnam geboren in der Zweiten Internationale verbleiben Für eine befreiende Politik und bereits „im Alter von dreizehn Jah - sollte, ob eine ‚zweieinhalbte‘ Internatio - gegenüber den Kolonien ren vom französischen Lyzeum in Vinh nale gegründet werden oder ob sie sich Als Gründungsmitglied und Delegier - gewiesen“ – wegen „antifranzösischen der Dritten Internationale Lenins ansch - ter der Kommunistischen Partei Frank - nationalistischen Umtrieben“, wie der ließen sollte. […] Mich interessierte vor reichs hielt Ho Chi Minh am 5. Kongress US-amerikanische Herausgeber seiner allem eines – und gerade darüber wurde der Kommunistischen Internationale in Schriften Bernard B. Fall schrieb. Über auf den Versammlungen niemals präzis Moskau (Juni/Juli 1924) eine Rede „Zur weitere Stationen seines Lebenswegs gesprochen: Welche Internationale wür - Nationalen und Kolonialen Frage“. Nach verfasste Ho anlässlich des 90. Geburts - de bereit sein, für die Sache der unter - einem signifikanten zahlenmäßigen Ver - tags Lenins einen kurzen Aufsatz, der im jochten Völker einzutreten? […] Einer gleich der damals bedeutendsten Kolonial - April 1960 in der sowjetischen Zeit - gab mir Lenins ‚Thesen zur nationalen länder mit ihren Kolonien legte er damit schrift „Probleme des Ostens“ erschien. und kolonialen Frage‘ zu lesen, die von bereits zu Beginn eine wesentliche Pro - Darin heißt es unter anderem: „Nach ‚L’Humanité‘ veröffentlicht worden wa - blematik offen: „Nach dieser Übersicht dem Ersten Weltkrieg verdiente ich mir ren. Lenins Terminologie war schwer zu beuten neun Länder mit einer Bevölke - meinen Lebensunterhalt in Paris teils als verstehen, aber nach mehrmaligem rung von 320.657.000 Menschen auf

2/20 30 Beiträge einer Fläche von 11.470.200 Quadrat- zösischen Kommunisten zu bleiben und Mitglied der Kommunistischen Partei kilometern Kolonien aus, die Dutzende ohne auf dem Begriff des Leninismus Frankreichs. Zu meinem größten Bedau - von verschiedenen Nationalitäten mit ei - herumzureiten – die KPF diese eindeuti - ern muss ich feststellen, dass unsere Par - ner Bevölkerung von 560.193.000 auf ei - gen Hinweise bis zum bitteren Ende in tei für die Kolonien bisher so gut wie ner Fläche von 55.637.000 Quadrat - erster Linie ignoriert hat. Mehr noch: nichts getan hat. […] Was haben die kom - kilometern umfassen. Die Gesamtfläche Auch nach dem offiziellen Ende des munistischen Zeitungen in dieser Hinsicht ist fünfmal so groß wie die der Mutter - Kolonialismus beispielsweise in Afrika getan? Offen gesagt: nichts!“ (S. 65) länder, deren Gesamtbevölkerung nicht und der nach der Papierform „Selbststän - Dann wurde Ho Chi Minh sehr kon - einmal drei Fünftel der Bevölkerung der digkeit“ der ehemaligen Kolonien blie - kret: „Die von der Konferenz von Lyon Kolonien ausmacht. […] Die britischen ben neokoloniale, eigentlich weitgehend [3. Parteitag der KPF im Jänner 1924] Kolonien insgesamt haben z.B. achtein - altkoloniale Abhängigkeiten und Verträ - bekanntgegebenen Tagesordnungspunk - halbmal mehr Bevölkerung und sind ge zugunsten Frankreichs aufrecht (z.B. te berücksichtigen alle nur denkbaren mehr als 232 mal größer als Großbritan - der aufgezwungene „CFA-Franc“ bis politischen Fragen, nur ein Thema fehlte: nien. Frankreichs Kolonien nehmen eine zum heutigen Tag), ohne dass die franzö - die Kolonien. Zwar brachte die ‚L’Hu - Fläche ein, die neunzehnmal größer ist sischen Kommunisten dagegen offensiv manité‘ lange Artikelserien über den er - als sein Heimatterritorium. Die Bevölke - vorgegangen wären. Wie übrigens fast folgreichen senegalesischen Boxer Siki, rung der französischen Kolonien über - alle anderen Linken und Sozialisten aber als seine Brüder, die Dockarbeiter steigt die des französischen Mutterlandes auch, denen das französische Hemd im Hafen von Dakar, mitten in ihrer um 16.600.000. näher war als der kommunistische oder Arbeit festgenommen, an Händen und Daher ist es wohl keine Übertreibung, sozialistische Rock. Füßen gefesselt auf Lastwagen gezerrt folgendes zu behaupten: Solange die Ho Chi Minh fragte auf dem Komin - und anschließend ins Gefängnis gewor - französische und die englische Kommu - tern-Kongress im Jahre 1924 weiter: fen wurden, da suchte man in der glei - nistische Partei keine wirklich progressi - „Was aber haben unsere Kommunis - chen Zeitung vergeblich einen Bericht ve Politik hinsichtlich der Kolonien be - tischen Parteien in Großbritannien, darüber. Später wurden diese armen Ker - treiben, solange sie nicht einmal Kontakt Holland, Belgien und in anderen Ländern le in Garnisonen verlegt und zu ‚Vertei - mit den unterdrückten Völkern in den getan, um den Einzug kolonialistischer digern der Zivilisation‘ ausgebildet. Täg - Kolonien hergestellt haben, wird ihr Pro - Gedanken in die Hirne der Proletarier lich informierte das Zentralorgan unserer gramm als Ganzes auch in Zukunft eben - ihrer Länder zu verhindern und den Ver - Partei seine Leser über die Heldentaten so wenig wie in der Vergangenheit etwas brechen der bourgeoisen Klasse ein Ende des Piloten Uadi, der von Paris nach erreichen, weil es den Prinzipien des Le - zu bereiten? […] Was unsere Parteien in Indochina geflogen war. Als aber die ninismus in dieser Beziehung geradezu dieser Hinsicht unternommen haben, ist Kolonialbehörden die Bewohner ‚Dai entgegengesetzt ist.“ (S. 63f.) Es ist kein nahezu wertlos. Ich selbst wurde in einer Nams‘ [so die Bezeichnung Vietnams Geheimnis, dass – um nur bei den fran - französischen Kolonie geboren und bin während der Feudalherrschaft] mit Ge - walt von ihren Feldern holten, um sie französischen Profitherren zu verhökern, als sie Bomber ausschickten, die die be - Neuerscheinung dauernswerten Eingeborenen zur Raison Manfred Mugrauer: Die Politik der KPÖ 1945–1955 bringen sollten, da hielt es das Organ un - serer Partei nicht für wert, diese Nachrich - Von der Regierungsbank in die innenpolitische Isolation ten seinen Lesern mitzuteilen.“ (S. 66f.) (Zeitgeschichte im Kontext, hg. von Oliver Rathkolb, Bd. 14) Die Rede Ho Chi Minhs, die ihn weiter Göttingen: V&R Unipress 2020, 833 Seiten, 75 Euro zur Beschreibung der Zustände in Alge - Im ersten Nachkriegsjahrzehnt verfügte die KPÖ über den größten Einfluss rien, Tunesien oder Marokko führte, aber auf die politische Entwicklung Österreichs. Aufgrund der Schlüsselstellung auch afrikanische Kolonien unter italie - der sowjetischen Besatzungsmacht und infolge ihrer Rolle im antifaschis - nischer, spanischer, britischer, portugie - tischen Widerstand war die KPÖ an der ersten Regierung der Zweiten Repu - sischer und belgischer Herrschaft streif - blik als gleichberechtigte Partnerin von SPÖ und ÖVP beteiligt. Nach den te, endete schließlich mit den folgenden Novemberwahlen 1945 entwickelte sie ihre unzweideutigen Feststellungen: „Um das Politik im Spannungsfeld von Regierung erschreckende Bild abzurunden, möchte und Opposition, im Lavieren zwischen ich abschließend noch einen Punkt erör - „konstruktiver Staatspartei“ und Konfronta - tern. Die französischen Kapitalisten ha - tion mit den beiden Großparteien. Ange - ben niemals gezögert, eine Kolonie nach sichts des Kalten Krieges und des antikom - der anderem dem Hunger preiszugeben, munistisch geprägten politischen Klimas wenn sie daraus Vorteile ziehen konnten. wurde die KPÖ in die Isolation gedrängt. In vielen Gebieten, so in Réunion, Alge - Als die Partei im November 1947 aus der rien, Madagaskar und anderen, wird den Regierung ausschied, hatte sie sich zu einer Eingeborenen untersagt, Getreide anzu - Außenseiterin im österreichischen Parteien - bauen. Sie müssen zu Produkten über - system gewandelt. Ab 1947 konzentrierte gehen, die die Kolonialherren als Roh - sich die KPÖ auf außerparlamentarische stoffe für die französische Industrie Aktivitäten und profilierte sich als Haupt - benötigen. Natürlich werfen diese Pro - kraft gegen die kapitalistische Restauration. dukte für die Pflanzer höhere Gewinne ab. Dieser Umstand brachte es mit sich,

2/20 Beiträge 31 Zu dieser Zeit hatte Ho aber ebenso wenig wie die Kommunistische Partei Indochinas ein spezielles Frauen- programm, sondern er beschränkte sich hauptsächlich darauf, immer wieder die besondere Unterdrückung der Frauen zum Thema zu machen. Die Durch - setzung dieser besonderen Aufmerksam - keit erwies sich allerdings als zähes Unternehmen. Das hartnäckige feudal geprägte Denken wirkte ebenso dagegen wie die patriarchalischen Traditionen im militärischen Kampf. Dennoch gelang es Ho noch Ende der 1950er Jahre, ein revolutionäres Ehe- und Familiengesetz durchzusetzen, dem vier Grundsätze zugrunde lagen: Freiheit der PartnerInnenwahl, Einehe, Gleichberech - tigung von Mann und Frau sowie Verteidi - gung der Rechte und Interessen der Kin - der. In seiner Begründung führte er unter Ho Chi Minh im Kreis „Junger Pioniere“ der Sozialistischen Republik Vietnams. anderem aus: „Das neue, hier zur Debatte stehende Ehe- und Familiengesetz, das der dass die Lebenshaltungskosten in den gedichtet vom Wiener Kommunisten Nationalversammlung vorgelegt werden Kolonien stiegen, was wiederum für die Fritz Jensen – sei hier zitiert: wird, ist Teil der sozialistischen Revolu - mittellosen Eingeborenen Hungersnot Weder hoch noch sehr weit, tion und in seiner Substanz revolutionär. bedeutete. Aber so wie der Hunger in weder Kaiser noch König, […] Das Ehegesetz zielt auf die Emanzi - den Kolonien zunimmt, so wächst auch du bist nur ein kleiner Meilenstein am pation der Frau ab, d.h. auf die Befreiung der Hass. Die eingeborenen Bauern sind Straßenrand. einer Hälfte der Gesellschaft. Die Emanzi - zur Rebellion bereit, und in vielen Den Leuten, die vorbeigehen, weist du pation der Frau muss mit dem Abbau feu - Gebieten haben sie sich auch schon die richtige Richtung, dalistischen und bürgerlichen Denkens mehrfach erhoben, aber ihre Aufstände damit sie sich nicht verirren. beim Mann Hand in Hand gehen. Was die wurden blutig unterdrückt. Wenn die Du sagst ihnen die Entfernung, die sie Frauen selbst betrifft, so sollten sie nicht Bauern dennoch im Allgemeinen passiv noch gehen müssen. auf die Direktiven von Regierung und sind und Zurückhaltung üben, so liegt Partei warten, sondern sich auf sich selbst das nur an mangelnder Führung und Der hohe Stellenwert verlassen und kämpfen.“ Organisation. Die Kommunistische der Frauenbefreiung Muss man daran erinnern, dass allein Internationale muss ihnen die Revolution Ho Chi Minh erkannte vom Beginn der Begriff „Emanzipation der Frau“ zu bringen, um ihnen damit zu ihrer Befrei - seiner politischen Tätigkeit an das be - dieser Zeit in Westeuropa wenn über - ung zu verhelfen.“ (S. 75f.) sondere und große Problem der Frauen - haupt, dann zuvörderst als Schimpfwort Nun könnte man einwenden, dies seien unterdrückung gerade in den Kolonien in Gebrauch war? Und noch Jahrzehnte alles Aussagen aus dem Jahr 1924 inner - und machte bereits in den 1920er Jahren danach wurden „Emanzen“ verächtlich halb einer noch sehr jungen kommunis - auf die „Leiden der eingeborenen Frau - gemacht. Gab es viele linke oder kom - tischen Bewegung. Aber dieses Argu - en“ durch die „Zivilisatoren“ aufmerk - munistische Politiker, ob in West oder ment geht deshalb ins Leere, weil sich in sam: „Nirgends sind sie vor ihrer Bruta - Ost, die damals solch klare Worte fanden den Jahren danach insbesondere inner - lität sicher. Gleichgültig ob im eigenen und in Gesetze gossen? Von den bürger - halb der kommunistischen Parteien der Haus oder auf dem Markt, in der Stadt lichen ganz zu schweigen... Und Ho Chi Kolonialländer nichts grundsätzlich oder auf dem Lande, überall sind sie der Minh wusste auch, dass das Gesetz allein geändert hat. Dies traf gerade auch auf Willkür von Beamten, Polizisten, Zoll- nicht genügte: „Andererseits wird es Frankreich zu, was mit ein Grund dafür und Steuerbeamten und anderen Auf - aber auch viele Schwierigkeiten geben, war, dass Ho Chi Minh 1930 Mitbegrün - sichtspersonen ausgeliefert. Häufig weil die Sitten und Traditionen im Volk der der Kommunistischen Partei kommt es vor, dass ein Europäer eine doch immer noch tief verwurzelt sind. Indochinas wurde. Es würde den Rah - Frau einfach mit ‚con di‘ (Hure) oder Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes men sprengen, hier die komplizierte per - ‚Bouzon‘ (Affe) anredet. Selbst auf dem ist daher bei weitem nicht alles getan, sönliche und Landesgeschichte bis zu Zentralmarkt von Saigon, einer sozusa - vielmehr müssen langfristige Propagan - Ende des Zweiten Weltkriegs und der gen französischen Stadt, scheuen da und Erziehung dafür sorgen, dass gute Gründung der Demokratischen Republik europäische Wachen nicht davor zurück, Ergebnisse erzielt werden.“ (S. 340) Vietnam zu referieren. Erwähnenswert eingeborene Frauen ohne jeden Anlass Ho Chi Minh starb am 2. September scheint mir, dass Ho Anfang der 1940er mit Ochsenziemern oder Gummiknüp - 1969 in Hanoi, knapp sechs Jahre vor der Jahre ein Jahr lang in einem Kuomin - peln zu schlagen.“ (S. 121f.) Und sein Befreiung des gesamten Landes. Der tang-Gefängnis zubringen musste, was Aufruf aus Anlass der Gründung der KP Präsident Vietnams war als „Onkel Ho“ ihm das Verfassen mehrerer Gedichte er - Indochinas richtete sich ausdrücklich an nicht zuletzt bei den Frauen des Landes laubte. Ein kurzes – übersetzt bzw. nach - die „Schwestern und Brüder“ (S. 147). überaus beliebt.

2/20 32 Rezensionen „Eine muss immer die erste sein“ Zur Neuauflage der „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ von Adelheid Popp rudolf Müller nter obigen Titel stellt die Her - 1889, den Victor Adler verfasst hatte, einfach, wie ein Bericht von Gabriele ausgeberin Sibylle Hamann ihren den er aber als persönliches Zugeständ - Proft zeigt: Als nach den Landtagswah - Ueinleitenden Text zur Wiederauf - nis an die Justiz, die ihn gerade wegen len 1901 für den „Verein sozialdemokra - lage der „Jugendgeschichte einer Arbei - eines politischen Delikts zu einer tischer Frauen und Mädchen“ und den terin“ von Adelheid Popp. Als Absolven - Haftstrafe verurteilt hatte, nicht offiziell „Verein der Heimarbeiterinnen und der tin von gerade einmal drei Jahren Volks - zeichnete. Als Julis Popp 1902 starb und im Hause beschäftigten Frauen und schule und als Kind einer Analphabetin am Sonntag vor Weihnachten zu Grabe Mädchen“ Vereinsstatuten eingereicht mit tschechischer Muttersprache erober - getragen wurde trauerten nicht nur Adel - wurden, dauerte es ein Jahr bis zu Ge - te Popp 1892 mit 23 Jahren ihre erste heid Popp und die beiden kleinen Söhne, nehmigung, die schließlich mit dem Ver - Funktion im Umfeld der Sozialdemokra - sondern die gesamte Sozialdemokratie merk „Bestätigung mit Ausnahme von tischen Partei: Sie wurde leitende Redak - Österreichs um ihn. Politik und Religion“ erteilt wurde. Popp teurin der Arbeiterinnen-Zeitung (1892 „Der erste Schritt für die Frauen selbst durfte zunächst also nicht Mitglied der bis 1934) und war schließlich im Jahr muss der sein, dass sie nicht eine eigene sozialdemokratischen Partei sein. 1919 im Alter von 50 Jahren die erste Frauenbewegung haben wollen: es gibt In dieser Hinsicht war Adelheid Popp Frau, die im österreichischen Parlament nur eine Arbeiterbewegung.“ Über die - ein „role model“, wie man heute sagen eine Rede hielt. Seit 1918 war sie die sen Viktor Adler zugeschriebenen Satz würde. Ihr erstes Buch, zugleich ein hi - erste Frau im Parteivorstand der SDAP. bin ich im Februar dieses Jahres in einem storischer Bestseller, liegt 110 Jahre Von 1918 bis 1923 gehörte sie dem Wie - Artikel vom Klaus Nüchtern im „Falter“ nach seinem Erscheinen nun wieder in ner Gemeinderat an, 1919/20 war sie gestolpert. Der Satz ging an die Adresse einer kommentierten Ausgabe vor. Nach Mitglied der konstituierenden National - von Adelheid Popp und war symptoma - dem einleitenden Text von Sybille versammlung sowie von 1920 bis 1934 tisch für die Haltung der nahezu aussch - Hamann skizziert die Historikerin Abgeordnete zum Nationalrat. ließlich männerdominierten politischen Katharina Prager den Weg von Popps Emma Adler, die Frau des Parteigrün - Eliten der zweite Hälfte des 19. Jahrhun - Familie, durch die Industrialisierung ver - ders Victor Adler, hatte sich des talen - derts, auch jener der Sozialdemokratie. triebene Weber aus Böhmen, anhand von tierten Mädchens angenommen und sie Popp hatte nur verlangt, dass die Forde - Personenstandsbüchern. Fast alle Kinder nicht nur Englisch, sondern sie auch in rung nach politischer Gleichheit im der Mutter (es ist unklar ob es insgesamt der deutschen Grammatik und Orthogra - sozial demokratischen Parteiprogramm 12 oder 15 waren) aus erster Ehe starben fie unterrichtet. 1 Adelheid Popp war eine um den Beisatz „ohne Unterschied des früh, dann auch der Ehegatte. Ihr zweiter emanzipierte Frau und leidenschaftliche Geschlechts“ ergänzt werde und stieß – Mann Adalbert Dwořak (der Vater Adel - Politikerin. Sie wollte in der Politik kein zunächst – auf taube Ohren. Erst 1891 heids) wird als gewalttätiger Trinker „dekoratives Versatzstück“ sein, entkam wurde der Zusatz nachgeholt. Das Ganze geschildert; er starb, als Popp sechs Jahre aber gleichwohl nicht ganz den damals soll sich am Einigungsparteitag der Par - alt war. herrschenden – von ihr aber wohl durch - tei in Hainfeld zugetragen haben. Diese Der auf diesen historischen Überblick schauten – Rollenverhältnissen, dass Begebenheit wirft ein Schlaglicht auf das folgende Originaltext von Adelheid Popp Frauen üblicherweise daheim für Kinder Dilemma der Frauen, die um notwendige (samt allen Vorworten) ist jener der vier - und Haushalt und auch in der Politik für Veränderungen, und gehe es auch nur ten Auflage aus dem Jahr 1922, die im die „Weibersachen“, nämlich Fürsorge um etwas so allgemein Einleuchtendes, sozialistischen Vorwärts-Verlag erschei - und Sozialpolitik zuständig waren. geradezu Selbstverständliches, wie die nen durfte, was Popp im Vorwort als die Dass es bei Popp im privaten Bereich Gleichstellung der Geschlechter stets in Erfüllung eines „schon immer“ bestande - zumindest für die Dauer von acht Jahren einem ganz unverhältnismäßigen Aus - nen Wunsches bezeichnet. Bis dahin war etwas anders kam, verdankte sie dem maß nach innen und nach außen kämp - ihr Buch aber international bereits ver - Umstand, dass sie in dieser Zeit einen fen mussten. breitet und in nicht weniger als elf Spra - ebenso eingefleischten und emanzipier - Was die Beziehung Popps zur „organi - chen, darunter ins Englische, Französi - ten Sozialisten, nämlich den 20 Jahre äl - sierten Sozialdemokratie“ betrifft, muss sche und Schwedische, übersetzt worden. teren Julius Popp bis zu dessen Tod im man sich vor Augen halten, dass das an Popp schrieb die „Jugendgeschichte einer Jahre 1902 zum Ehe- und Lebenspartner sich liberale Vereinsgesetz 1867 bis Arbeiterin“ als sie bereits Redakteurin hatte, der ihr für ihre politische Arbeit 1947 restriktive Sonderbestimmungen der Arbeiterinnen-Zeitung war. dadurch den Rücken frei hielt, dass er für politische Vereine enthielt. Gem. Die erste und die zweite Auflage wa - sich um die beiden kleinen Söhne des dessen § 30 durften neben Ausländern ren unter dem Titel „Jugendgeschichte Paares kümmerte. Julius Popp war nicht und Minderjährigen auch „Frauensperso - einer Arbeiterin von dieser selbst er - irgendwer: er war Vorsitzender des nen“ nicht als Mitglieder politischer Ver - zählt“ anonym in einem Münchner Ver - historischen Parteitags von Hainfeld, und eine aufgenommen werden. Diese Be - lag erschienen, erst in der dritten Auflage sein Name stand gemeinsam mit jenem stimmung stand bis zum Ende der Mon - (1910) gab Adelheid Popp ihren Namen Bretschneiders und Rudolf Pokornys un - archie in Geltung. Frauen mussten daher als Autorin preis. Das (in der vorliegen - ter dem ersten Leitartikel der ersten Aus - eigene Vereine gründen und diese als den Ausgabe ebenfalls enthaltene) Ge - gabe Arbeiter-Zeitung vom 12. Juli „unpolitisch“ deklarieren. Das war nicht leitwort zur ersten Auflage 1909 schrieb

2/20 Rezensionen 33 kein geringerer als August Bebel, enger Freund Viktor Adlers sowie Mitbegrün - der und einer der bedeutendsten Führer der deutschen Sozialdemokratie. Der Autor des 1879 erschienenen Werks „Die Frau und der Sozialismus“ bezeich - net den Text als vorbildhaft für viele Frauen und wünschte ihm große Verbrei - tung. Noch 1910 waren eine zweite und eine dritte Auflage erforderlich gewor - den. Das Buch wurde damit zu einem „Kultbuch“ der sozialdemokratischen Frauenbewegung. Dieser Erfolg ist gut nachvollziehbar: Sich aus diesen trostlosen, von Hunger und Armut gekennzeichneten Verhält - nissen, in denen Adelheid Popp als Ab - solventin von nur drei Klassen Volks - schule aufgewachsen ist, aus eigener Kraft zu befreien und eine Politikerin dieses Formats zu werden, versteht sich alles andere als von selbst. Popps Bericht dem zehnten Lebensjahr) verhindert oder mals als Autorin genannt wird, nahm sie umspannt die etwas mehr als dreißig Jah - rückgängig gemacht wurden. – der Herausgeberin zufolge – am Text re von 1872 bis zur Jahrhundertwende Sofern die Kinder überhaupt das dafür nur wenige Änderungen vor. Sie wollte mit einem Schwerpunkt ab ihrem zehn - erforderliche Alter erreichten: Die weiterhin bloß „die Fabrikarbeiterin“ ten Lebensjahr, als die Autorin nach durchschnittliche Säuglingssterblichkeit sein, als die sie uns im Buch entgegen - Abschluss der dritten Klasse Volks - lag im letzten Viertel des 19. Jahrhun - tritt, allerdings ergänzt um die berühren - schule aufgrund des frühen Todes ihres derts bei etwa 30 bis 40 Prozent, im Pro - de Erzählung über ihren Ehemann, die Vaters vom Schulbesuch befreit wurde, letariat allein war sie wohl deutlich sie vorerst hatte aussparen müssen. um durch Arbeit zum Familienunterhalt höher. Man kann aus den in unserer Zeit Einmal mit dem Lesen begonnen, legt beizutragen. wieder aufgelegten Reportagen von Max man das Buch nicht so schnell wieder Was das damalige sozialpolitische Um - Winter („Das schwarze Wienerherz“) aus der Hand: Man schmunzelt über die feld betrifft sei daran erinnert, dass es zu und Emil Kläger („Durch die Quartiere Vorlieben der pubertierenden 12-Jähri - diesem Zeitpunkt noch keine allgemeine der Not und des Verbrechens“) über die gen für „Schundromane“, die sie offen - Krankenversicherung gab. Wie Popp Elendsquartiere der Ziegeleiarbeiter bar geradezu verschlungen hat, damit schildert, musste von dem wenigen durch gleichsam Standbilder der desaströsen, aber auch ihr Lesen trainierend und eine jegliche erreichbare Arbeit verdienten menschenunwürdigen Zustände dieser gewisse sprachliche Geschicklichkeit er - Geld, das nicht reichte, um vor dem Hun - Zeit gewinnen; der Text der Adelheid werbend. Durch die Schinderei in der gern zu schützen, noch etwas gespart Popp entrollt hingegen einen Film, der Arbeit eine eher unklare Gemütskrank - werden, um Arzt und Apotheke bezahlen den zeitlichen Verlauf dieses Elends heit entwickelnd (heute würden wir ein zu können. Die Mutter betet um einen ra - einer Arbeiterfamilie über die Jahrzehnte frühes Burn-out vermuten), erleben wir schen Tod ihres siechenden zweiten Ehe - vor Augen führt. die 14-Jährige in einer Anstalt für Geis - manns, da das Geld für seine ärztliche Der auf den ersten Blick merkwürdig teskranke, in der sie aber immerhin Versorgung nicht reicht. Solche und noch anmutende Umstand, dass der Text zwar durch Vermittlung eines freundlichen erschütterndere Einblicke gibt das Buch biografisch angelegt ist, man aber so gut Arztes „höhere Literatur“ wie Schiller in das Leben des Proletariats im letzten wie nichts über die politischen Funktio - und Daudet kennenlernt. Viertel des 19. Jahrhunderts in Wien. nen und das persönliche politische Um - Die Schrift gewährt aber auch einen Wer sich mit der Entwicklung der An - feld der Autorin erfährt, ist wohl dem Einblick in das Fürsorgewesen der da - fänge des Arbeits- und Sozialrechts im Umstand geschuldet, dass die beiden ers- maligen Zeit. Als man sie nicht weiter 19. Jahrhundert beschäftigt, wird in die - ten Auflagen – wie bereits erwähnt – für behandlungsbedürftig erachtete, fand sem Text keinen Niederschlag davon fin - anonym erschienen waren. Der Text sie sich zunächst in einem Armenalters - den: Es ist die Macht des Faktischen, die bleibt örtlich und zeitlich daher immer heim wieder, wo sie offenbar auf Fürsor - aus dem Text der Popp über einen her - im Ungefähren – das gilt auch für den gekosten untergebracht wurde und wo einbricht. Der Alltag einer Arbeiterin Bericht über Popps Haftzeit im Jahre sie die Vergangenheit als Angehörige ei - hatte nicht im Entferntesten mit den oh - 1895 wegen kritischer Äußerungen über ner Zuwandererfamilie einholte: Als da - nehin nur rudimentären Ansätzen eines die katholische Ehe, aus dem man z.B. mals noch Minderjährige war sie plötz - Arbeitsnehmerschutzes zu tun, der da - nicht erfährt, dass sie diese als verant - lich bedroht von einer Abschiebung in mals immerhin schon auf dem Papier wortliche Redakteurin der Arbeiter- die „Heimatgemeinde“ der Mutter nach stand. Kinderarbeit war die Regel, nicht innen-Zeitung erlitten hat, wohl aber, Böhmen, deren Sprache sie nicht einmal etwa die Ausnahme. Kaiser, Hof und dass sie im Arrest wissenschaftliche konnte. Man kommt nicht umhin, Paral - Unternehmerverbände achteten darauf, Bücher und heimlich das von ihrem Ehe - lelen zur Flüchtlingsproblematik der Ge - dass bescheidene Versuche einer Ein - mann zugesteckte Parteiblatt gelesen hat. genwart zu erkennen. Popp stellt denn schränkung von Kinderarbeit (üblich ab Obwohl sie in der dritten Auflage erst - auch in ihrem Text „mit Erbitterung“ die

2/20 34 Rezensionen Frage, was als knapp Fünfzehnjährige Unternehmerin und sexuelle Belästigun - sind nur exemplarisch. An dieser Folie aus ihr geworden wäre, hätte man sie in gen durch einen Angestellten gegenüber entfaltet sich die Kritik an den gesell - die Heimatgemeinde verbracht und sie dem auf diesem Gebiet noch völlig schaftlichen Verhältnissen; zugleich begann „über das Verbrecherische der ahnungslosen Kind prägten die weitere wird die Aufforderung zur politischen bürokratischen Schablone nachzuden - Zeit. Schließlich kam die Mutter in ein Aktivität von Frauen als deutliches Ge - ken, die mich, ein Kind, ein von frühe - Alter, in dem sie keine Gelegenheits - bot zur Erlangung einer eine besseren ster Kindheit an durch Arbeit und Hun - arbeiten mehr fand, sodass die Tochter Zukunft aufgestellt. An das Ende ihrer ger um alle Kinderfreuden gebrachtes ihre Anstrengungen verdoppeln muss, Schrift stellt Adelheid Popp gleichsam Geschöpf, in ein Haus für Greise und um die Mutter zu erhalten. als Aufruf denn auch Georg Herweghs Sieche steckte und die mich, wenn nicht Adelheid Popp las mittlerweile Lenau bis heute berühmten Vierzeiler „Was wir wenigstens ein denkender Beamter da und Wieland. Sie verstärkte zwar begehren von der Zukunft Fernen?“ der gewesen wäre, einem ungewissen, aber zunächst noch ihre familiär verwurzelten mit der Zeile endet „[dass] unsere Greise sicher für viele Jahre fürchterlichen katholischen Bemühungen durch wieder - nicht mehr betteln gehen“. Eine Alters - Schicksale überliefert hätte“. Dem „den - holte Wallfahrten, ehe sie sich aber versicherung blieb bekanntlich für die kenden Beamten“ fiel das Kind auf. Er ernüchtert von Kirche und Religion ab - weit überwiegende Zahl der Arbeitneh - sprach es an, stellte dadurch fest, dass wandte: als sie begann, Leitartikel in merInnen bis 1927 eine Zukunftsvision. die Mutter in Inzersdorf wohnte und Zeitungen zu lesen, fand sie abfällige Und Popp schreibt: „Wenn es mir gelin - sorgte dafür, dass das Kind wieder zu Bemerkungen in katholischen Blättern gen wird, in diesem Sinne mit meiner seiner Mutter kam. über die Arbeiter, die sie empören. Sie bescheidenen Arbeit zu wirken, dann ha - Die Mutter investierte Lehrgeld für ei - befasste sich mit der Geschichte der be ich mein Ziel erreicht.“ ne Lehrstelle für Weißnäherei bei einer französischen Revolution des Jahres Am Ende des Buches folgt zur Abrun - Zwischenmeisterin. Von dieser Zwi - 1789 und der Wiener Märzrevolution dung ein lesenswerter Essay von Sibylle schenmeisterin wurde Adelheid Popp von 1848 und kam über die „Anarchis - Hamann mit dem Titel „Adelheid Popp aber um die Lehre betrogen: statt ausge - tenprozesse“, die sie interessiert verfolg - und wir“, in dem sie den von Popp ver - bildet zu werden, wurde sie als Haus - te, zur Sozialdemokratie. Sie las das Par - fassten Text analysiert und Parallelen zur hälterin und Kindermädchen ausgebeutet teiblatt, ging häufig in Versammlungen aktuellen politischen Lage in Europa und schließlich zugunsten eines anderen und erzählte das dort Gehörte zunächst zieht. Und sie mündet in dem „Zauber - Mädchens entlassen. Dass man in einer nur ihren politisch passiven begriff“, den Popp schon 1911 in einem Zuckerwarenfabrik in den Wochen vor Arbeitskolleginnen in der Fabrik. In „Mädchenbuch“ vermitteln wollte: die Weihnachten keine Arbeit finden konnte, einem Artikel mit dem Titel „Das Weib Solidarität der arbeitenden Menschen weil diese schon erledigt und die gesam - im XIX. Jahrhundert“ erkannte sie ihr untereinander. Man muss Hamann und te Belegschaft bis auf weiteres daher ent - eigenes und das Schicksal vieler anderer dem Wiener Picus-Verlag gratulieren, lassen ist, erfuhr die Fünfzehnjährige Frauen, denen sie auf ihrem leidvollen diesen Text aus Anlass des 150. Geburts - ebenfalls schmerzlich. Eine Glas- und Weg durch Kindheit und Jugend begeg - tags der Autorin 110 Jahre nach seinem Schmirgelpapierfabrik, eine trinkende net war. Das war für sie gleichsam ein Entstehen aus den Archiven gehoben „Erweckungserlebnis“ und Motivation, und mit begleitenden Erläuterungen wie - ZZurur Lage der sich aktiv zu politisieren und sich mit der der einer breiteren Öffentlichkeit zu - Frauenfrage zu beschäftigen. Eines gänglich gemacht zu haben. Popp tritt arbeitenden Tages bestieg sie in einer der zahlreichen uns darin nicht nur als eine des Erinnerns Klasse in der Versammlungen, die sie besuchte, im werte sozialdemokratische Heroine ent - (Cor(Corona-)ona-) Anschluss an einen Vortrag zur Diskus - gegen (die auch erklärtes Vorbild und Krise sion das Podium und sprach erstmals vor Leitfigur für viele andere, wie z.B. für einem vollen Saal. Und sie wurde dar - die unvergessliche KZ-Überlebende

200 Seiten/Sonderheft aufhin gebeten, ihren ersten Zeitungsarti - Rosa Jochmann, war), sondern als eine und Ausgabe 4_2020 kel zu schreiben: „Zur Lage der in den frühe Frauenpolitikerin mit hoher Stand -

Mit Beiträgen von Wolfgang Albers (MdA Die Fabriken beschäftigten Arbeiterinnen“. festigkeit auch gegenüber den eigenen LINKE), Rolf Becker, Hans-Peter Brenner, Raimund Einladungen zu zahlreichen Vorträgen Parteigenossen. Sie ist damit nicht Ernst, Glen Ford (USA), Wolf-Dieter Gudopp von Behm, Lothar Geisler, Nina Hager, Kai Köhler, Dieter folgten. Sie entfremdete sich immer unähnlich ihrer späteren, dieser Tage Kraft, Stefan Kühner, Lena Kreymann//AAndrea Hor- mehr von der katholischen und schick - durch einen Film zurecht wieder in Erin - nung (SDAJ), Robert Krotzer (KPÖ Graz), Francesco Maringiò (Italien), Hans Modrow, Christian Müller salsergebenen Mutter, die nicht einmal nerung gerufenen „Nachfolgerin im (Schweiz), Claudio Ottone, (KP Argentinien) Karl- ein Besuch zweier politischer Größen Geiste“, Johanna Dohnal. Heinz Peil, Rainer Perschewski, Ronald Pienkny, Anne Rieger (KPÖ Graz), Weerrner Rügemer, Eduardo dieser Zeit, Friedrich Engels (der Popp Goncalves Serra (Brasilianischhee KP), Regina Schmidt- seit dem Sozialistenkongress von Zürich Ad elheid Popp: Jugend einer Arbeiterin, Kühner, Franziska Schneider, Ulrich Schneider (F.I.R.), Volkmar Schöneburg, Conrad Schuhler, Man- im Jahr 1893 kannte) und August Bebel, hg. von Sibylle Hamann. Mit Essays von fred Sohn, Shashi Tharoor (Indischer Nationalkon- beeindrucken kann, die sich für Popp ins Sybille Hamann und Katharina Prager. gress), Klaus Wagener, Rob Wallace (USA), Andreas Wehr, Holger Wendt, Sebastian Wisiak (KPÖ Graz), Zeug legten und ihrer Mutter zu vermit - Wien: Picus Verlag 2019, 158 S., 20 Euro Lucas Zeise, Werner Zimmer-Winkelmann Neue teln suchten, welch politisch wichtigen Impulse Weg ihre Tochter ging. Anmerkung: Verlag War die „Jugend einer Arbeiterin“ als 1/ Die folgenden biografischen Angaben stützen Einzelpreis 12,50 € Hoffnungstraße 18 Autobiografie gedacht oder als eine poli - sich auf: Gabriele Proft: Adelheid Popp in: Nor - Jahresabo 48,00 € 45127 Essen tische Agitationsschrift? Ich denke: bert Leser (Hg.): Werk und Widerhall. Große ermäßigtes Abo 32,00 € TTel.el. 0201 | 23 67 57 Letzteres. Die biografischen Erlebnisse, Gestalten des österreichischen Sozialismus. www.marxistische-blaetter.dewwwwww.marxistische-blaetter.marxistische-blaetter.marxistische-blaetter.de.de die von der Autorin geschildert werden, Wien 1964, S. 297–306.

2/20 Nachruf 35

Erich Sameck (1928–2020) it Erich Sameck verliert die stadt. Er verband dabei seine kommu - Lebens in Wiener Neustadt hervor - Kommunistische Partei nalpolitische Arbeit geschickt mit sei - gehoben. MÖsterreichs einen ihrer profi - nem Journalistenberuf. Sameck agier - Als die KPÖ nach dem Einmarsch liertesten Journalisten und die Alfred te nicht nur als Chefredakteur der Wr. der Warschauer Vertragsstaaten in die Klahr Gesellschaft einen ihrer wich - Neustädter Nachrichten , sondern auch Tschechoslowakei im August 1968 in tigsten Autoren. Geboren am 31. Au - im Wiener Neustädter Gemeinderat eine tiefe Krise schlitterte, gehörte gust 1928 in Wiener Neustadt, ver - wortgewaltig im Interesse der arbei - Sameck zu jenen Kräften, die sich brachte Sameck seine Kindheit und tenden Menschen. Seine Unnach - einer strikten Frontstellung „Revisio - Jugend im so genannten „Kriegs- giebigkeit und sein bedingungsloser nisten“ versus „Dogmatiker“ ent - spital“, eine Barackensiedlung am Einsatz waren bei der „Obrigkeit“ ge - zogen. Trotz seiner berechtigten Kri - Stadtrand von Wiener tik an der sowjetischen Neustadt. Sein Vater Politik und daraus resul - Gustav war Kompanie - tierender Meinungsver - kommandant des Repu - schiedenheiten innerhalb blikanischen Schutz - der KPÖ gelang es ihm, bundes, der nach den als kommunistischer Februarkämpfen 1934 Funktionär aktiv zu blei - zu zweieinhalb Jahren ben. Er legte zwar seine schweren Kerkers ver - Funktionen in der nie - urteilt wurde. Nach der derösterreichischen Lan - Schule absolvierte desleitung und im Lan - Erich Sameck eine dessekretariat der KPÖ kaufmännische Lehre in zurück, führte aber in den Wiener Neustädter den folgenden Jahren die Flugzeugwerken. Im Wr. Neustädter Nach - Jänner 1945 zur Wehr - richten zu neuen Höhen. macht eingezogen, de - Als „linkes Boulevard - sertierte Sameck kurz blatt“, wie Sameck vor Kriegsende. Nach selbst die Zeitung cha - seiner Rückkehr aus der rakterisierte, stiegen die amerikanischen Kriegsgefangenschaft fürchtet, wenn es darum ging, Unrecht Wr. Neustädter Nachrichten zur trat er im Juli 1945 der Freien Öster - und Missstände aufzuzeigen. Sameck meistgelesenen und auflagenstärksten reichischen Jugend (FÖJ) und der sah zwar Kritik, Kontrolle und Infor - Zeitung der Region auf. KPÖ bei. Als Mitglied der FÖJ- mation als die wichtigsten Säulen sei - Sein angeschlagener Gesundheits- Leitung beteiligte er sich aktiv am ner politischen und journalistischen zustand zwang ihn Mitte der 1980er Wiederaufbau von Wiener Neustadt. Tätigkeit an, gleichzeitig zeichnete er Jahre zum Kürzertreten. 1985 legte er Nach kurzzeitiger Tätigkeit als Kul - sich durch eine hohe Bereitschaft zur seine Funktion als Chefredakteur turreferent im Wiener Neustädter Zusammenarbeit aus, wenn es galt, zurück, ein Jahr später schied er aus Rax-Werk und als Sekretär der Öster - die lokalen Probleme zu bewältigen. dem Gemeinderat aus. Sameck blieb reichisch-Sowjetischen Gesellschaft Sein konsequentes und seriöses aber auch in den folgenden Jahrzehn - (ÖSG) in Wiener Neustadt wurde Wirken hat ihm Anerkennung über ten ein Aktivist und wichtiger Berater Sameck 1949 Redakteur der Wr. Neu - den Kreis seiner WählerInnen hinaus seiner Partei. Vor allem in den letzten städter Nachrichten , die er bis 1985 gebracht. Erich Sameck wurde zu Jahren griff er wieder verstärkt zur als Chefredakteur leitete. Seine spitze einer „politischen und medialen Le - Feder. In den Mitteilungen der Alfred Feder beim Aufzeigen der Sorgen und gende“, wie in einem Nachruf des Klahr Gesellschaft erschienen mehrere Nöte der „kleinen Leute“ hat Sameck Wiener Neustädter Bezirksblatts zu autobiografisch geprägte Beiträge von über die Grenzen der Stadt hinaus be - lesen ist. Von der breiten gesellschaft - Sameck, zuletzt im Dezember 2019 kannt gemacht. Unter seiner Leitung lichen Anerkennung Samecks zeugen über die Schließung des Rax-Werks wurden die von der KPÖ herausgege - zahlreiche ihm verliehene Auszeich - im Jahr 1966. Als sich im April 2016 bene Wochenzeitung zum Sprachrohr nungen, etwa das Goldene Verdienst - in Wiener Neustadt ein international der Bevölkerung und ihrer Probleme. zeichen der Republik Österreich, das bekannter Literaturwissenschafter in Auch als Kommunalpolitiker hat Verdienstzeichen des Landes Nie - antikommunistischen Tiraden übte, Erich Sameck mehr als 20 Jahre lang derösterreich und das Stadtwappen lief Sameck in einem Beitrag für unser die Politik der Statutarstadt entschei - von Wiener Neustadt. In der Begrün - Mitteilungsblatt zu alter journalis - dend mitgeprägt. Von 1964 bis 1986 dung zur Verleihung dieser Ehrenzei - tischer Höchstform auf. Erich Sameck war er Gemeinderat, von 1967 bis chen wurde insbesondere seine Tätig - starb am 17. März in Wiener Neustadt 1970 auch Stadtrat in Wiener Neu - keit zur Belebung des kulturellen im 92. Lebensjahr. M.M.

2/20 36 Rezensionen Werner Anzenberger, Anja Grabuschnig, Am 20. Februar 1920 wurde in der de - Juli, die erste Vollversammlung Ende Heimo Halbrainer (Hg.): Festschrift mokratisch gewählten Nationalver - September mit Otto Möbes als Präsiden - Arbeiterkammer Steiermark. 100 Jahre sammlung die Errichtung der Kammern ten. Da Wahlen nicht möglich waren, Gerechtigkeit. Graz, Wien: Leykam für Arbeiter und Angestellte beschlos - einigten sich die Gründungsparteien der 2020, 256 S., 30 Euro sen. Ihre Aufgaben war es, die sozialen, Republik auf einen provisorischen Ver - wirtschaftlichen, kulturellen Interessen teilungsschlüssel 63 SPÖ, 27 KPÖ, 18 00 Jahre Arbeiterkammer umfassen der Arbeiter und Angestellten zu vertre - ÖVP. 1947 gab es bereits Amtsstellen in 1„nahezu die gesamte Lebensspanne ten. Darunter fielen u.a. die Berichte, mehreren Bezirksstädten. Die Zerstörun - der Republik Österreich“, leitet Werner Vorschläge, Gutachten über die Rege - gen waren enorm, die Not der Menschen Anzenberger, der Leiter der Bereiche lungen der Arbeitsverhältnisse, des groß. So war die erste Aufgabe der steiri - Recht, Sozialpolitik und Außenstellen Arbeitsschutzes, der Arbeiterversiche - schen Arbeiterkammer die Unterstüt - der Arbeiterkammer Steiermark und rungen und des Arbeitsmarktes, Woh - zung beim Wiederaufbau, der Hebung einer der drei Herausgeber des Bandes, nungsfürsorge, Volksfürsorge, -gesund - der Kohleförderung, um die Stromver - die vorliegende Festschrift ein. Was das heit, -bildung. Nach einem harten Wahl - sorgung sicher zu stellen, der Verteilung Buch so spannend macht, ist die durch - kampf mit einer 70-prozentigen Wahl - von Lebensmittel und Kleidung. Versor - gängige Darstellung der politischen beteiligung erreichten die Freien Ge - Kräfteverhältnisse, auf denen die Sozial- werkschaften in der Steiermark im März , Rechts-, Bildungs- und Frauengesetz - 1921 58 der 64 Mandate. Im Mai 1921 Materialien zur Familie gebung mit Einsatz der Arbeiterkammer begann die Arbeit der Kammer mit neun für die arbeitenden Menschen entwickelt Beschäftigten, bis 1938 wurden es 170. Strasser gesucht wurden. Heimo Halbrainer, Historiker Die politischen Verhältnisse der Folge - niv.-Prof. Dr. Gabriella Hauch und einer der Mitherausgeber, über - zeit schlugen sich auch in den Möglich - U(Institut für Geschichte der Uni - schreibt seinen Beitrag mit Worten des keiten der Arbeiterkammer in der Ersten versität Wien) sucht zu einem For - damaligen Ministers für soziale Verwal - Republik nieder. War es 1920 noch die schungsprojekt über die Linke in tung, im Arbeiterkammerwahlkampf des „Gefahr der Bolschewisierung“ Öster - Österreich im europäischen Kontext Jahres 1921: „Ein Teil des Generalstabs reichs, die es der Sozialdemokratie er - am Beispiel der Familie Strasser per - der sozialen Revolution“. möglichte, eine europaweit beispiellose sönliche Materialien (wie etwa Erin - Die Fakten über 100 Jahre politisches Gesetzgebung zu verwirklichen, u.a. das nerungen, Korrespondenzen oder Fo - und soziales Auf und Ab für die „arbei - Gesetz zur Errichtung der Arbeiter - tos) über: tende Klasse“ werden attraktiv und in - kammern, verloren die Freien Gewerk - formativ dargelegt, umfangreich bebil - schaften bei den zweiten Wahlen 1926 Josef Strasser (1870–1935) dert und ergänzt mit Faksimiles von Ge - an Stimmen, obwohl sie sich gegen die Nadja Strasser (1871–1955) setzen, Zeitungsartikel oder Flugblättern. Abschaffung der sozialpolitischen Er - Alexander Strasser (1898–1974) Arbeiterkammerwahlergebnisse und Ar - rungenschaften stemmten. Sie blieben Isa Strasser (1891–1970) beitslosenstatistiken seit 1946, 20 Seiten aber tonangebende Fraktion in der Ar - Peter Strasser (1917–1962) Quellenangaben verbunden mit Namen beiterkammer. Die KommunistInnen Lieselotte Strasser (1919–1949) und Fotos der AkteurInnen machen die kandidierten zum ersten Mal und wurden Jenny Strasser, geb. Berger (1913– Festschrift zu einem Geschichtslexikon zweitstärkste Fraktion bei den Arbeitern. 2009) erster Güter über die gesetzlichen Belan - Bereits vor Beginn der Weltwirt - Maria Strasser, geb. Potocki ge der arbeitenden Menschen. Ein leben - schaftskrise wurde in der Alpine Mon - diges Buch, bestens geeignet sowohl für tangesellschaft den Mitgliedern der Frei - Josef Strasser die gewerkschaftliche politische Bil - en Gewerkschaften gekündigt. Nur noch (Foto links) dungsarbeit als auch als Ergänzung für Arbeiter, die der Heimwehr oder den gehörte der den Schulunterricht. „Unabhängigen Gewerkschaften“ an - KPÖ seit An - Heimo Halbrainer führt angenehm les - gehörten, wurden eingestellt. Letztere fang 1919 an, bar auf 80 Seiten durch die Geschichte waren im Mai 1928 – mit Unterstützung war Mitglied und Entwicklung der Arbeiterkammer. der Alpine – gegründeten worden. Um - des Parteivor - Schon 1848 wurde überall in den Indus - fassend wird der Kampf gegen die stands bzw. triestaaten Europas die Forderung nach Arbeiterkammern und die Freien Zentralkomi - Arbeiterkammern erhoben. Nachdem das Gewerkschaften durch Gleichschaltung tees und Che - Begehren der ArbeiterInnen Jahrzehnte und Auflösung unter austrofaschistischer fredakteur der lang von den herrschenden Regierungen Herrschaft und nationalsozialistischer Roten Fahne . kurzweg abgelehnt worden war, kam Machtübernahme erläutert. Im Juni 1938 Seine Frau Isa Strasser war nach 1917 die Forderung nach der Errichtung wird als letzter Schritt das Vermögen ihrem Ausschluss aus der KPÖ im von Arbeiterkammern als „völlig gleich - von über 33 Millionen Reichsmark der Jahr 1929 schriftstellerisch tätig. Ihr wertig gestellt den Kammern der Landeskammern und Gewerkschaften Sohn Peter Strasser war von 1945 bis gewerblichen Unternehmer“ zur Debatte geraubt und von der Deutschen Arbeits - 1954 Vorsitzender der Sozialis- in den Reichstag. Auslöser waren die rie - front angeeignet. tischen Jugend und von 1949 bis zu sigen Streiks- und Massenaktionen, mit Im Juli 1945 wurde das Gesetz zur seinem frühen Tod 1962 Nationalrat. denen die Menschen auf die unerträg- Wiedererrichtung der Arbeiterkammern lichen wirtschaftlichen und gesellschaft - beschlossen. In der Steiermark begann Hinweise bitte an: lichen Zustände im dritten Kriegsjahr die provisorische Tätigkeit im Februar [email protected] reagierten. 1946, die Konstituierung erfolgte Ende

2/20 Rezensionen 37 gungsausschüsse und Umschulungskurse beim Einkommen der Spitzen und der Andrea Hurton: Vom in den wurden eingerichtet. Ziel war die Forcie - Ausweitung der Kammerzugehörigkeit, Widerstand. Walter Felix Suess (1912– rung des Wideraufbaus und jungen Men - ergab die kurz danach durchgeführte 1943): Musiker – Arzt – Gestapo-Opfer. schen eine Existenz zu bieten. Mitgliederbefragung eine Beteiligung Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag Im Oktober 1949 fand dann – fast ein von 68 Prozent und 91 Prozent Zustim - 2020, 128 S., 19,90 Euro Vierteljahrhundert nach der letzten Wahl mung für die Arbeiterkammern. im Jahr 1926 – die erste Arbeiter- Als nach der Nationalratswahl 1999 m 5. April 1941 um 6.30 Uhr früh kammerwahl in der Zweiten Republik die schwarzblaue Regierung die Absen - Astanden der Kriminalsekretär Josef statt. Bei einer 80-prozentigen Wahlbe - kung sozialstaatlicher Leistungstrans - Wedl und zwei weitere Beamte der Wie - teiligung erhielt die SPÖ 73 Mandate, fers, insbesondere die Kürzung der Pen - ner Gestapo vor der Wohnungstür der der Verband der Unabhängigen, der zum sionen plante, kritisierten die Arbeiter - Familie Suess in der Molkereistraße 7 im ersten Mal kandidierte, erhielt 16 Man - kammern das Regierungsprogramm 2. Bezirk. In den folgenden beiden Stun - date, der von der KPÖ initiierte Links - scharf. Erneut wurde im Nationalrat be - den führten sie eine Haus- und Personen - block elf und der ÖAAB zehn Mandate. antragt, die Kammerumlage von 0,5 auf durchsuchung durch, die mit der Verhaf - Willy Scholz vom Linksblock forderte in 0,3 Prozent, also um 40 Prozent ihres tung des Zahnarztes Dr. Walter Felix der konstituierenden Sitzung, keinen Budgets, abzusenken und damit die Ar - Suess und seiner Frau Gertrude endete. Vertreter des VdU, der zweitstärksten beiterkammern zu schwächen. Eine Mil - Diese Festnahmen waren Teil einer kon - Fraktion, in den Vorstand bzw. die Aus - lion Menschen folgten im Juni 2003 dem zertierten Aktion der Gestapo gegen den schüsse zu wählen: „Faschisten haben in Streikaufruf gegen die Pensionskürzung, kommunistischen Widerstand in Wien: der Arbeiterkammer nichts zu suchen.“ die damit abgeschwächt werden konnte. Zwischen 5.und 7. April 1941 verhaftete Da Teile der Sozialisten dem Antrag zu - Auch die Kürzung der Kammerumlage die Gestapo noch elf weitere Personen stimmten und sie tatsächlich nicht ge - war vorerst vom Tisch. Während dieser aus dem Umfeld von Walter Suess, zum wählt wurden, legten sie beim Bundes - Regierungszeit setzte die Arbeiterkam - größten Teil Mitglieder der KPÖ- minister Beschwerde ein und wurden mer den Ausbau ihrer Serviceleistungen, Bezirksleitung für die Leopoldstadt. Sie schließlich im Februar 1950 doch noch wie z.B. die Bildungsoffensive mit Bil - alle wurden Opfer eines Gestapospitzels, in die Ausschüsse nominiert. dungsgutscheinen, die Konsumentenun - der die Widerstandsgruppe im 2. Bezirk Ausführlich werden die Auswirkungen terstützung mit Preisvergleichen und der sys tematisch unterwandert und plan - der Abwälzung der Kosten der kapitalis - Steuerberatung fort und punktete damit mäßig „aufgerollt“ hatte. tischen Restaurierung auf die arbeiten - in der Öffentlichkeit. Seit 2008 sind die Gertrude Suess kam nach fast einjähri - den Bevölkerung, die Lohn-Preis Ab - freien Dienstnehmer Mitglieder der AK. ger Untersuchungshaft im März 1942 kommen und die größte Streikbewegung Die kapitalistische Krise 2008 führte frei, Walter Suess wurde hingegen der Zweiten Republik, der Oktoberstreik erneut zu hoher Arbeitslosigkeit, die in wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ 1950 und die daraus entwickelte institu - der Steiermark um rund 27 Prozent an - angeklagt. Das Verfahren fand vor dem tionalisierte Sozialpartnerschaft dar - stieg, Tausende mussten in Kurzarbeit, Fünften Senat des Volksgerichtshofs in gelegt. Neben der Beratung in sozial- in der Steiermark gab es Proteste mit Wien statt. Vor dies er Instanz wurden ei - und arbeitsrechtlichen Fragen werden 15.000 DemonstrantInnen gegen Kür - ne Reihe von Verfahren gegen prominen - auch die Leistungen der Arbeiterkammer zungen im Sozialbereich und bei der te österreichische Widerstandskämpfer von der Preisüberwachung hin zum Kon - Pendlerpauschale, bei denen sich der abgehandelt, zu den bekanntesten gehörte sumentenschutz dokumentiert. ÖGB beteiligte. 2015 legte die AK ein die Gruppe Maier/Messner. Mit Senat - Bis 1974 entwickelte sich die öster - Memorandum für arbeitsplatzschaffende spräsident Albrecht und Landgerichtsrat reichische Wirtschaft günstig, mit der Investitionen für ein Sanierungs - Zmeck waren in diesem Verfahren – wie dann folgenden ökonomischen Krise programm in Richtung Vollwärmeschutz in zahlreichen anderen Prozessen gegen veränderten sich jedoch die politischen oder den Ausbau der Verkehrsinfra - Widerstandsgruppen in Österreich – zwei Verhältnisse. Die FPÖ initiierte 1987 mit struktur vor. Die regelmäßig durch - der Richter beteiligt, die auch gegen Wal - Jörg Haider ein „Antiprivilegien-Volks - geführten Umfragen ergaben für die AK ter Suess und seine Mitangeklagten begehren“ und forderte ein Ende der ein positives Bild. (Robert Kurz, Ludwig Nemeth, Otto Pflichtmitgliedschaft in der Arbeiter - Mit dem Wahlkampf 2017 begann Kubak und Erwin Kritek) die Urteile fäll - kammer. Es wurde erfolgreich abge - erneut die Diskussion um die Kammer - ten. Das Gericht verurteilte Suess (eben - wehrt, nur 4,5 Prozent sprachen sich umlage. Die in der Folge installierte so wie Kurz und Kubak) am 4. Novem - dafür aus. 1989 und 1994 standen die ÖVP/FPÖ-Regierung initiierte und ver - ber 1942 wegen „Vorbereitung zum Bezüge der Spitzen der steirischen Ar - abschiedete mehrere gegen die arbeiten - kommunis tischen Hochverrat“ zum Tod. beiterkammer im Visier von Haider, der den Menschen gerichtete Gesetze, die Der von Andrea Hurton überaus detail - sie medienwirksam präsentierte. Zudem Kürzungen und eine Entmachtung bei liert dargestellte Lebensweg dieses kom - sank die Wahlbeteiligung bei den Kam - den Sozialversicherungen brachten. Tief - munistischen Aktivisten ist in mehrerer merwahlen auf 31 (in der Steiermark auf ster Einschnitt, trotz hunderttausender Hinsicht ungewöhnlich und bemerkens - 29,5) Prozent und das Wahlergebnis der DemonstrantInnen, war die Einführung wert: Walter Suess hatte keine Sozialisa - Sozialdemokraten auf ihren niedrigstes des Zwölfstunden-Arbeitstags. Den An - tion in den Strukturen der Kommunis- Stand von 54 Prozent, während die Auf - griffen auf die Arbeiterkammer begegne - tischen Partei hinter sich. Seine Liebe decker auf 15 Prozent hochschnellten. te diese mit der 4,3 Mio Euro Digitalisie - galt der Musik, er war neben seiner be - Im Zuge einer „gläsernen Kammer“ wur - rungsoffensive und der Ausweitung der ruflichen Tätigkeit (Zahnarzt) als Diri - de größere Reformen angegangen und Unterstützung in den Bereichen Bildung, gent tätig und hatte neben seinem akade - die Sozialpartnerschaft immer wieder Pflege und Wohnen. mischen Abschluss als Mediziner (Pro - hervorgehoben. Nach den Reformen z.B. ANNe rieger motion 1937) an der Staatsakademie für

2/20 38 Rezensionen Musik die Staatsprüfung als Kapell- anderen Volksgerichtssenaten glegent - stimmt. Dabei handelt es sich, so der Au - meister abgelegt. lich vor, dass Angeklagte in bitterem tor, keineswegs um „die Vernunft“ Suess war ein „unbeschriebenes Blatt“ Wissen um die Verratstätigkeit ver - schlechthin, sondern um eine spezielle in der kommunistischen Bewegung, der meintlicher Genossen deren Infiltra - Ausprägung derselben, um die bürgerli - sich zuerst bewähren musste, bevor ihm tionstätigkeit im Gerichtssaal zur Spra - che Zweckrationalität. Sie ist nicht „frei wichtige Funktionen bei der Herstellung, che brachten (oder dies zumindest ver - schwebend“, sondern wird von den ge - Lagerung und dem Vertrieb kommunis - suchten), doch geschah dies praktisch sellschaftlichen Rahmenbedingungen tischer Flugschriften anvertraut wurden. immer – mit der Ausnahme Walter Suess determiniert. Zunächst stellte er seine Wohnung in der – unter Verwendung des jeweiligen Die – später vom Kapitalismus als Molkereistraße (gleichzeitig die Zahn - Decknamens. Walter Suess kannte je - herrschendes Paradigma etablierte – arztpraxis) einer Reihe von Funktionären doch den richtigen Namen des Spitzels: funktionale Rationalität musste sich frei - für konspirative Treffen zur Verfügung – Franz Pachhammer. lich erst, so meint der Autor, gegen ande - und ging damit ein ziemliches Wagnis Aus der Zusammenschau von Gestapo- re Typen von Vernunft durchsetzen. Das ein. Diese Personen kannten seine wahre bzw. NS-Justizakten und dem fast 1.000- Mittel, der Transmissionsriemen, dazu Identität, er selbst jedoch bloß die Deck - seitigen Volksgerichtsakt aus 1947 war die genuin europäische Universität, namen seiner kurzfristigen „Gäste“. gegen die Spitzel Eduard Pamperl, Franz wie sie sich im 12. und 13. Jahrhundert Der unpolitische, künstlerisch orien - Pachhammer und andere resultiert eine herausbildete, und die aus ihr entsprin - tierte Walter Suess hatte weniger aus von Hurton hervorragend genutzte Mög - gende „moderne Wissenschaftlichkeit“. ideologischer Überzeugung, sondern lichkeit, die organisatorischen und perso - Die aktuelle Frage lautet nun: Brauchen vielmehr wegen fortgesetzter Demüti - nellen Binnenstrukturen einer Gruppe wir im 21. Jahrhundert wie damals wie - gungen und existenzieller Angriffe, die fassbar zu machen. Diese gelungene der einen neuen Typ von Vernunft, und er als „jüdischer Mischling I. Grades“ Kombination aus unterschiedlichen zwar jenseits bürgerlicher Zweckrationa - unter der nationalsozialistischen Herr - Quellen erlaubte es, persönliche Bezie - lität? Eine Vernunft, die am Menschen schaft erleiden musste, Sympathien für hungskonstellationen sichtbar zu selbst und seinem Fortkommen orien - den Widerstand und die illegale kommu - machen, die sich ansonsten der histori - tiert? Fundierte Antwort darauf wird nistische Bewegung entwickelt. Der schen Forschung zumeist nicht er - allerdings nur möglich sein, wenn wir Ausschluss aus der Reichskulturkammer schließen: etwa das unterschiedliche, uns intensiv mit den Wurzeln unseres im Spätherbst 1938 setzte seinem Traum teils von Arg losigkeit und Misstrauen, bisherigen Denkens beschäftigen. von einer Musikerlaufbahn ein jähes En - teils von Unvorsichtigkeit und Vertrauen Da die Rationalität ein Pfeiler der bür - de. Kurze Zeit später wurde er Opfer der gekennzeichnete Verhältnis von einzel - gerlichen Gesellschaft ist, bezeichnet der Novemberpogrome in Bad Gastein, wo nen Mitgliedern der Widerstandsgruppe Kampf um sie, so der Autor, das Voran - eine brachiale SA-Horde seine neu ein - um Suess gegenüber den beiden schreiten des städtischen Bürgertums gerichtete und noch nicht abbezahlte Or - Gestapo spitzeln, die suk zessive die ebenso wie das Brechen feudaler Domi - dinationseinrichtung zerstörte und in die Gruppe um ihn infiltrierten. nanz. Untersucht wird in dem Buch die Ache warf. Zurück in Wien; scheiterten Die skizzierten Aspekte stellen nur Gewordenheit des neuen Wissens, seine auch die Emigrationspläne nach Argenti - zwei von mehreren thematischen Relevanz und seine gesellschaft lichen nien, die er mit seiner Frau als letzten Schwerpunkten dar, die Andrea Hurtons Legitimierung – in Verbindung mit der Ausweg ins Auge gefasst hatte. In einem Darstellung des politischen Lebenswegs Lebenswelt, die es hervorbringt. Zu zei - Gnadengesuch, das er in seiner Zelle im von Walter Suess äußerst anschaulich gen ist die Universität als Rahmen, in Landesgericht Wien verfasst hatte, führte erscheinen lassen. Diese plastische Dar - dem die Vernunft, gemäß den gesell - er diese Umstände an - vergeblich. Auch stellung wird ergänzt und bestärkt durch schaftlichen Erfordernissen, modelliert in seinem Schlusswort vor dem Volksge - die Aufnahme vieler Fotos, die den werden konnte. Als Triebkraft fungiert richtshof versuchte Suess auf seine aus - Lebensweg von Suess begleiten. dabei ein frühes, an rationalen Abläufen sichtslose persönliche Situation hinzu - HANS ScHAfrANeK interessiertes Bürgertum. Es sorgte für weisen, die ihm den Weg in den Wider - eine Ära des Wandels, der sowohl die stand quasi als letzten Ausweg gewiesen Michael Wengraf: Institutionalisierung materiell-ökonomische Ebene wie die habe: „Ich bin vom Judentum ausge - der Vernunft. Zur Genese der Europäi - der geistigen Reflexion erfasste. Die schlossen und auch von der deutschen schen Universitäten. Kassel: Mangroven „Institutionalisierung der Vernunft“ ist Volksgemeinschaft. Ich suchte eine Ge - Verlag 2019, 486 S., 27 Euro deshalb vor allem ein formations- meinschaft, um in ihr und mit ihr zu geschichtlich geprägtes Werk. leben, um in ihr tätig zu sein, da sie sich in interessantes Exempel marxis - Wie hängen frühes Bürgertum, geisti - um rassische Dinge nicht kümmerte.“ Etischer Geschichtsbetrachtung er - ger Wandel (von der mystischen Spiritu - Dieses Zitat stammt aus dem umfangrei - schien im Kasseler Mangroven Verlag. alität zur Rationalität) und die Genese chen Akt des Volksgerichtshofs (Bun - Mit „Institutionalisierung der Vernunft“ der Universität zusammen, was war Be - desarchiv Berlin), der quellentechnisch begibt sich der Wiener Historiker und weggrund für die Entwicklung der so das Kernstück des Buches bildet. Ebenso Wissenschaftstheoretiker Michael Wen - spezifischen europäischen Hohen Schu - Walter Suess’ Eingabe vor dem Volks - graf aus historisch-materialistischer Per - len? Ausgangspunkt ist eine Zeit, in der gerichtshof, in der er den Namen des spektive auf die Suche nach den Veränderung prinzipiell verpönt war; in Spitzels, der ihn an die Gestapo verraten Ursprüngen des abendländischen Para - der ein mystisch-spirituell bestimmter hatte, nannte – ein in der Widerstandsge - digmas der Rationalität. Es ist dies jene Logos für immer herrschen wollte. Jed - schichte beinahe singulärer Vorgang. Es an den Universitäten modellierte wissen - weder Wandel – vor allem in politischer kam zwar bei Verfahren gegen Wider - schaftstheoretische Leitvorstellung, die Hinsicht – wurde als negatives Attribut standskämpfer in Wien, Berlin und vor bis heute unser Leben umfassend be - des minderwertigen Diesseits gesehen.

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Richard Wadani (1922–2020) NS-Militärjustiz ein. Seinem Engage - Mit diesen Aktivitäten einher gingen ment sind das Rehabilitierungsgesetz auch die über lange Jahre am Nach - ichard Wadani wurde 1922 in von 2009, mit dem Deserteure als NS- mittag des 1. Mai im Kommunis- RPrag geboren. Not und Armut so - Opfer anerkannt wurden, und die Er - tischen Kulturkreis (KKK) abgehalte - wie die revolutionäre Prager Atmos - richtung eines Denkmals für die Ver - nen Versteigerungen von Kunstwer - phäre der 1920er und 1930er prägten folgten der NS-Militärjustiz (2014) zu ken bekannter, linker KünstlerInnen, seine politische Sozialisation. Er war verdanken. Wadani starb am 18. April deren Erlös immer Solidaritätsprojek - im „Arbeiter-Turn- und Sportver - dieses Jahres in Wien. ten zugute kam. Ulli Jenni starb am band“ aktiv und wurde 1935 Mitglied 22. April dieses Jahres in Wien. des Kommunistischen Jugendver - bands. 1938 übersiedelte er mit seiner Ulrike Jenni (1945–2020) ufgewachsen in Vorarlberg, kam Gisela Streiter (1926–2020) AUlrike Jenni zum Studium der isi Streiter war eine Funktionärin Kunstgeschichte und Archäologie Gder ArbeiterInnenbewegung, wie nach Wien. Nach dem Studium war es zu ihrer Zeit nicht allzu viele gab. sie als Spezialistin für Handschriften Sie kam aus einer ArbeiterInnenfami - an der Akademie der Wissenschaften lie und engagierte sich nach der Be - tätig. Danach wechselte sie als Kusto - freiung vom Faschismus in der Freien din ins Kupferstichkabinett der Aka - Österreichischen Jugend (FÖJ), deren demie der Bildenden Künste. Bis zu Bundesleitung sie zwischen 1946 und ihrer Pensionierung arbeitete sie er - 1951 angehörte. Von 1953 bis 1982 neut für die arbeitete sie im Globus-Verlag tätig, Akademie wo sie Betriebsratsobfrau der Ange - der Wis - stellten war. Seit den 1980er Jahren senschaf - war sie Mitglied der Bundesleitung ten, wo sie des Gewerkschaft lichen Linksblocks . Mutter nach Wien und begann eine ihre Arbeit Im ÖGB vertrat sie den GLB im Lehre als Automechaniker. 1939 wur - an Hand - de er zur Wehrmacht eingezogen. Be - schriften reits 1942 versuchte Wadani das erste fortsetzte. Mal zu desertieren. Als dies scheiter - Zahlreiche te, begann er aktiv die russische Zivil - Publikatio - bevölkerung mit Lebensmittel zu un - nen weisen terstützen. Im Oktober 1944 gelang es sie als profunde Kennerin insbesonde - ihm, an der Westfront zu den Ameri - re der frühen Neuzeit aus. kanern überzulaufen. Er trat darauf in In ihrer späten Studienzeit politisier - die tschechoslowakische Exilarmee te sich Ulli Jenni im Kommunistischen ein und kehrte nach Kriegsende nach Studentenverband (KSV), trat 1974 Wien zurück. der KPÖ bei und beschäftigte sich in Von 1946 bis 1970 war Wadani in weiterer Folge mit fortschrittlichen der KPÖ aktiv, in der Jugendarbeit, Kunstschaffenden, u.a. mit dem Werk auf betrieblicher Ebene und vor allem von Helmut Kurz-Goldenstein, Gerda im Bereich des Sports. Er war ein Pio - Fassel, vor allem aber von Alfred nier des österreichischen Volleyball - Hrdlicka. Eine enge Freundschaft ent - sports, u.a. als Trainer und Bundes - stand bereits Mitte der 1970er Jahre kapitän der Nationalmannschaft. 1964 mit Margarete Schütte-Lihotzky, die Bundesfrauen ausschuss. Gisis politi - wurde er Sportreferent der Wiener sie bald in den Vorstand des von ihr sche Heimat war der dritte Bezirk in KPÖ. 1970, nach der Niederschla - gegründeten Urania Frauenkomitees Wien, wo sie der Bezirksleitung der gung des „Prager Frühling“, verließ er holte. Ulli gehörte auch zu jenen Frau - KPÖ angehörte. Am 24. und 25. Par - die KPÖ und arbeitete bis zu seiner en, die 2013 den Margarete Schütte- teitag der KPÖ wurde Gisi Streiter in Pensionierung als Bundestrainer an Lihotzky Club ins Leben riefen. das Zentral komitee gewählt, dem sie der Bundeslehranstalt für Leibeserzie - Ulli Jenni war im Bund demokrati - von 1980 bis 1987 angehörte. Gisi hung. Parallel dazu baute er im Pen - scher Frauen aktiv und arbeitete auf Streiters Leben war dem Kampf für sionistenverband der SPÖ den Seni - kunsthistorischem Gebiet zu femini - die Besserstellung der österreichi - orensport auf. stischen Themen. Während ihrer schen ArbeiterInnenklasse, dem Richard Wadani war lange Jahre als Tätigkeit in der Galerie Rotpunkt tru - Kampf für Frieden und Sozialismus Zeitzeuge an Schulen aktiv. Seit den gen ihre vielfältigen Kontakte zu „ar - gewidmet. Der Alfred Klahr Gesell - 1990er Jahren setzte er sich unermüd - rivierten“, aber auch jungen, linken schaft gehörte sie seit ihrer Gründung lich für die Rehabilitierung und öf - KünstlerInnen maßgeblich zu deren als Mitglied an. Gisi Streiter starb am fentliche Anerkennung der Opfer der Akzeptanz und Breitenwirkung bei. 18. Juni in Wien.

2/20 40 Rezensionen Solch eine Haltung entspricht durchaus Franz Mikusch: Für die Freiheit Öster - dem Grundbesitz als herrschender Pro - reichs! Bei den slowenischen Partisanen duktivkraft, ist dieser doch relativ unver - und im Ersten Österreichischen Batail - lierbar und unvermehrbar, beharrende lon, hg. und mit einer Einleitung sowie Substanz. einem Nachwort versehen von Heimo Warum kam es trotz dieses herrschen - Halbrainer und Alex Mikusch. Graz: den Beharrungsvermögens zum Paradig - CLIO 2020, 184 S., 18 Euro menwechsel? Die Antwort, die der Autor in seinem Werk gibt, ist lakonisch: Die ranz Mikusch floh im März 1944 ge - auf geistig-ideologischem Gebiet so Fmeinsam mit seiner Frau Aurelia Mitteilungen der vehement bekämpfte Veränderung setzte („Zlata“) von Graz aus zu den sloweni - Alfred KlAHr geSellScHAft sich in der gesellschaftlichen Praxis schen Partisanen, da die Widerstands - durch. Das ist der Grund, weshalb Vor - gruppe, der beide angehörten, von der Herausgeber und Medieninhaber: stellungen von Wandel und Bewegung Gestapo aufgedeckt worden war. Franz ALFRED KLAHR GESELLSCHAFT sich allmählich auch auf der Überbau - Mikusch gehörte seit 1934 der KPÖ an ebene etablierten. Außerdem: Im Gegen - und war am Aufbau einer kommunis - Präsident: Walther Leeb satz zur grundherrlichen Welt war das tischen Widerstandsorganisation in Graz Redaktion und Grafik: Manfred Mugrauer städtische Bürgertum des 12. und und Kapfenberg um Maximilian Haitz - MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Heimo 13. Jahrhunderts als Klasse an gesell - mann, Otto und Frieda Hauberger betei - Halbrainer, Manfred Mugrauer, Rudolf schaftlicher Bewegung interessiert. Es ligt. Franz und Aurelia Mikusch fungier - wollte teilhaben an den Entscheidungen ten als Kontaktpersonen zwischen der Müller, Alfred J. Noll, Elke Renner, Anne auf ökonomischer, sozialer und politi - Steiermark und den Partisanen. Im Rah - Rieger, Hans Schafranek, Florian Schwan - scher Ebene. men der jugoslawischen Volksbefrei - ninger, Robert Streibel, Karl Wimmler Die Wiedergeburt der Städte, das Auf - ungsarmee wirkte Franz Mikusch Adresse: Drechslergasse 42, 1140 Wien kommen von Gewerbe und Handel, kurz zunächst in der Propagandaabteilung, bis Telefon: (+43–1) 982 10 86 das Durchsetzen von frühbürgerlichen er ab März 1945 als Sanitäter im 1. Öster - Verhältnissen, die eine grundherrlich reichischen Freiheitsbataillon tätig wur - E-Mail: [email protected] dominierte Welt nun ergänzten, erforder - de, das im November 1944 auf Initiative www.klahrgesellschaft.at ten unbedingt ein „Neues Denken“. Die der KPÖ im slowenischen Partisanen- „Institutionalisierung der Vernunft“ ver - gebiet gebildet worden war. Im April Vertragsnummer: GZ 02 Z 030346 S sucht diesen Prozess nachzuvollziehen. 1945 wurde auch Aurelia als einzige Frau Österreichische Post AG Es soll aus historisch materialistischer dem Freiheitsbataillon zugeteilt. Sponsoring-Post Sicht ein Stück beigetragen werden zum Der vom Grazer Historiker Heimo Verständnis des Formationswechsels, Halbrainer gemeinsam mit Alex P.b.b., Verlagspostamt 1140 Wien der von feudalen zu frühbürgerlichen Mikusch herausgegebene Band vereint Lebensumständen führte. In den Mittel - zeitgenössische Artikel von Franz punkt rückt dabei mit dem Bürgertum Mikusch für Partisanenzeitungen und AKG-Spendenkonto ein kollektives Subjekt, das den Durch - Flugblätter mit dem Tagebuch-Journal IBAN: AT66 6000 0000 9202 3930 bruch dessen, was wir unter moderner des Partisanen, in das er von März 1944 Wissenschaftlichkeit verstehen, im Zuge bis Juli 1945 (bis zu seiner Rückkehr reichischen Bergbaus. Er starb im Juni des Etablierens seiner Produktionsweise, nach Graz) Notizen und auch längere 1996 in Graz, acht Jahre vor seiner Frau. aktiv betrieben hat. Reportagen schrieb. Einige Artikel von Der Sozialpädagoge Alex Mikusch hat Der Soziologe Karl Mannheim sagte Mikusch wurden nach der Befreiung im für den Band ein persönlich gehaltenes einmal, das bürgerlich-kapitalistische Dreiparteienblatt Neue Steirische Zei - Vorwort über seine Großeltern beige - Bewusstsein ist dadurch charakterisiert, tung veröffentlicht. Zwei in den 1970er steuert und überrascht dabei mit der dass es prinzipiell keine Grenzen der Jahren verfasste Manuskripte waren für Information, dass sich diese bewusst Rationalisierung kennt. Das führte zu eine vom Spanienkämpfer Max Bair ge - dafür entschieden hätten, ihre Erlebnisse einer Intellektualisierung, die Max plante Materialsammlung über die Frei - 1944/45 in der Familie kaum zu themati - Weber als „Entzauberung der Welt“ cha - heitsbataillone vorgesehen, die jedoch sieren. Alex Mikusch ist in der Jugend - rakterisierte. Diesen Entwicklungsgang letztlich nicht zustande kam, weshalb sie arbeit und antirassis tischen Bildungs- verfolgte der Autor mit der „Institutiona - nun erstmals zum Abdruck gelangen. In arbeit tätig und knüpft damit an das lisierung der Vernunft“ aus marxisti - seiner Einleitung skizziert Halbrainer antifaschis tische Engagement seiner scher Perspektive auf ansprechende Wei - den Forschungsstand über die Öster - Großeltern an. Er führt ihren Kampf mit se ein Stück weit mit. Wengraf zeigt in reichischen Freiheitsbataillone, sein den „Waffen der Aufklärung und Bil - seinem gegenständ lichen Werk anschau - Nachwort ist ein biografisches Doppel - dung“ fort, wie er schreibt. lich, dass materielle Verhältnissen die portrait von Franz und Aurelia Mikusch. Das Büchlein ist reich bebildert und jeweilige ideologische Begleitmusik be - Neben eigenen Forschungen kann er sich schön ausgestattet. Es ist ein wichtiger stimmen. Dass der Autor lange als Jour - dabei auch auf Dokumente aus dem Beitrag zum antifaschistischen Wider - nalist gearbeitet hat, kommt dem schwie - Nachlass von Mikusch stützten. stand in der Steiermark, zur Geschichte rigen Gegenstand zugute, denn trotz der Aurelia Mikusch arbeitete nach 1945 des slowenischen Partisanenkampfes inhaltlichen Anforderungen bleibt das bei der Steirischen Gebietskrankenkasse und zur Geschichte der österreichischen Buch gut lesbar. als Röntgenassistentin, Franz Mikusch Freiheitsbataillone. elKe reNNer bei der Versicherungsanstalt des öster - MANfred MugrAuer

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