Einsicht 12 Bulletin des Fritz Bauer Instituts

Arbeiten für das Reich: Fritz Bauer Institut Ehre, Ausbeutung, Vernichtung Geschichte und MMitit BeiträgenBeiträgen vvonon MMichaelichael WWildt,ildt, JJuliaulia HHörath,örath, EinsichtWirkung 12 Herbst des 2014Holocaust JJens-Christianens-Christian WagnerWagner undund KiranKiran KlausKlaus PatelPat1el Editorial

Moralisch-sein, arbeiten, sich für die Volksgemeinschaft hingeben 2 DVD, 298 Min., 298 Min., 2 DVD, Booklet,ausführliches Materialien PDF Strathaus Bettina Schulte Redaktion: 45 + 180 Min., 2 DVD, Materialien PDF ergänzende 75 Min. + s/w, Farbe DVD, 85 Min. + s/w, Farbe DVD, FRITZ BAUER: AUSCHWITZ VOR GERICHT (2013) HAFEN DER HOFFNUNG SHOAH DURCH ERSCHIESSEN – und Deutsch-sein, das gehört nach dem NS-Verständnis zusammen GESPRÄCHE, INTERVIEWS UND STRAFSACHE 4 KS 2/63 (1993) Schweden und die Opfer der Shoah. IN DER UKRAINE mit dem Hass auf alles Jüdische. REDEN AUS DEN FERNSEH- Teil 1: Die Ermittlung | Teil 2: Der Prozess Die legendäre Rettungsaktion Der oft mals übersehene Beginn des Holocaust. Die Autorinnen und Autoren unseres Bulletins beleuchten die ARCHIVEN 1961–1968 Teil 3: Das Urteil der Weissen Busse. Ein Film von Romain Icard Erstveröff entlichung historischer Zwei Dokumentationen von Ein Film von Magnus Gertten Bedeutung dieser Arbeitsethik und ihrer antisemitischen Ausrichtung Fernsehaufnahmen Rolf Bickel und Dietrich Wagner für die nationalsozialistische Politik: die Erziehung von Angehörigen der eigenen Volksgemeinschaft im Arbeitsdienst, die Verfolgung von Arbeitsscheuen, der massive Einsatz von Zwangsarbeitern vor allem aus osteuropäischen Ländern und die Praxis der Vernichtung durch Arbeit. Die beiden Neuerscheinungen des Instituts vertiefen wesentli- che der hier aufgeworfenen Fragen. Das Jahrbuch 2014, herausge- geben von Werner Konitzer, geht auf Kontinuitäten im Bereich von Arbeitsethik und Arbeitsrecht ein. Der neue Band unserer Wissen-

entlichten Zeitzeugen-Gesprächs entlichten schaftlichen Reihe, herausgegeben von Jörg Osterloh und Harald Liebe Leserinnen und Leser, Wixforth, behandelt das Thema »Unternehmer und NS-Verbrechen. 4 DVD, Farbe, 9 1/2 Std., 9 1/2 Std., Farbe, 4 DVD, Booklet mit als PDF Studienausgabe 114 Min., Farbe, DVD, Bookletausführliches 97 Min., s/w, DVD, eines Booklet,ausführliches PDF-Datei unveröff Booklet mit 248 Min., s/w, 2 DVD, Wirtschaftseliten im ›Dritten Reich‹ und in der Bundesrepublik SHOAH HITLERKANTATE LEBENDE WARE (DDR 1966) DAS HAUS NEBENAN – wir befassen uns am Institut seit länge- Deutschland«. Das epochale fi lmische Holocaust-Mahnmal. Ein Film von Jutta Brückner. Ein Film von Wolfgang Luderer. CHRONIK EINER FRANZÖSISCHEN Ein Film von Claude Lanzmann Mit Hilmar Th ate, Lena Lauzemis. Budapest 1944. Die SS macht Geschäft e STADT IM KRIEG rem mit der Frage, wie weit bestimmte Unsere Ausstellung »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Ver- Eine Kantate für den 50. Geburtstag Hitlers … mit der Judenvertretung: Geld gegen Leben. Teil 1: Der Zusammenbruch, Teil 2: Die Wahl ethische oder moralische Überzeugun- brechen vor Gericht« im Jüdischen Museum Frankfurt ist im Sep- Ein Film von Marcel Ophüls gen bei der Vorbereitung, Planung und tember zu Ende gegangen. Sie war sehr gut besucht und wurde viel Durchführung der nationalsozialisti- besprochen. Nun wird die Ausstellung wandern. Wir freuen uns auf schen Verbrechen eine Rolle spielten. die erste Station im Thüringer Landtag in Erfurt. Dort wird sie vom Weiter untersuchen wir, ob und wie 9. Dezember 2014 bis zum 1. Februar 2015 zu sehen sein. solche Überzeugungen sich nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus Prof. Dr. Raphael Gross und apl. Prof. Dr. Werner Konitzer weiter tradiert haben und welche Echos Frankfurt am Main, im September 2014 daraus wir bis heute spüren. Einer der wichtigsten Begriffe in diesem Zusammenhang ist der der Ar- beit. Wie die meisten zentralen Ausdrü-

DVD, Farbe, 108 Min. Farbe, DVD, Booklet, 95 + 65 Min. Farbe, DVD, Booklet 49 Min., Farbe, DVD, 72 Min. Farbe, DVD, cke nationalsozialistischer Ideologie ist AUFSTAND IN SOBIBOR SOBIBOR, DER KARSKI-BERICHT MUT ZUM LEBEN »Arbeit« ein Terminus, in dem norma- Der erfolgreichste und am wenigsten 14. OKTOBER 1943, 16 UHR / Das legendäre Interview mit dem Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz tive und deskriptive Momente so eng EIN LEBENDER GEHT VORBEI bekannte Aufstand in einem Todeslager. Kurier des polnischen Widerstands. Ein Film von Th omas Gonschior und miteinander verschmolzen sind, dass sie Ein Film von Lily van den Bergh und Zwei Filme von Claude Lanzmann Ein Film von Claude Lanzmann Christa Spannbauer Pavel Kogan sich nur schwer voneinander abheben lassen. In der nationalsozialistischen Ideologie ist er auch dort, wo er ohne direkten Bezug auf Juden verwendet wird, durchweg antisemitisch geprägt. Deutsche und Juden unterscheiden sich, so die antisemitische Über- zeugung, grundlegend durch ihre Haltung zur Arbeit: Während die Deutschen gerne und aufopferungsvoll arbeiten, weil sie die Arbeit um ihrer selbst willen tun und auch dann arbeiten, wenn sie nicht dazu gezwungen werden, wollen die Juden nicht arbeiten, sind nur darauf aus, die anderen auszunutzen. Diese antisemitische Projektion war bereits lange vor dem Nationalsozialismus in Deutschland weit DVD, Farbe + s/w, 123 Min. + s/w, Farbe DVD, + s/w, Farbe 3 DVD, Extras + 2 Std 312 Min. 89 Min. + s/w, Farbe DVD, verbreitet. Durch sie wurden Arbeit und Moral miteinander ver- ARCHITEKTUR DES UNTERGANGS SCHATTENKAMPF – EUROPAS GEHEIMSACHE GHETTOFILM IM BUCH- ODER FACHHANDEL knüpft, so dass das eine kaum noch von dem anderen zu trennen war. Schönheitskult und Barbarei im Dritten Reich WIDERSTAND GEGEN DIE NAZIS Ein Propaganda Filmtrupp ODER DIREKT BEI Ein Film von Peter Cohen. Die Geschichte des Widerstands im Warschauer Ghetto. Sprecher: Bruno Ganz im Zweiten Weltkrieg in seiner ganzen Ein Film von Yael Hersonski absolut MEDIEN GmbH europäischen Dimension. Adalbertstr. 15, D - 10997 Berlin Einsicht 12 Herbst 2014 Abb. oben: Raphael Gross, Foto: Helmut Fricke 1 ARTE-Filmreihe von George Bernard Telefon: 030 285 398 70 www.absolutmedien.de unten: Werner Konitzer, Foto: Werner Lott Inhalt

Einsicht Nachrichten und Berichte Ausstellungsangebote Forschung und Vermittlung Information und Kommunikation Wanderausstellungen des Instituts

Arbeiten für das Reich: Ehre, Ausbeutung, Vernichtung Aus dem Institut 100 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung 14 »Arbeit« im Nationalsozialismus. Zur Bedeutung des Begriffs 92 Norbert-Wollheim-Platz. Neue Adresse der der Juden in Hessen 1933–1945 in Ideologie und Praxis des NS-Staats / Michael Wildt Goethe-Universität 101 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album. 20 Arbeit und Vernichtung im Nationalsozialismus. 93 Archiv. Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948 Ökonomische Sachzwänge und das ideologische Projekt 101 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz. des Massenmords / Jens-Christian Wagner Aus dem Förderverein Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus 28 Leistung, »Nichtarbeit«, Ausschluss. Die Verhängung 94 Mitteilungen. Bericht des Vorstands von KZ-Haft gegen »Arbeitsscheue« 1933 bis 1937/38 Julia Hörath Aus Kultur und Wissenschaft 34 Arbeit als Ehre. Der Arbeitsdienst im »Dritten Reich« 95 Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 2014 der Kiran Klaus Patel Humanistischen Union an Edward J. Snowden 102 Publikationen des Fritz Bauer Instituts 96 Mobiles Lernlabor. Was tun, bevor es brennt! Jahrbuch / Wissenschaftliche Reihe / Schriftenreihe u.a. Fritz Bauer Institut Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers 98 Zwei Internetlexika. Jüdische DP-Lager und Gemeinden 104 Impressum Im Überblick 42 Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen. in der US-Zone. Talmud Thora Schulen in Deutschland Die Ära von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1956–1968) 1945–1950 4 Das Institut / Mitarbeiter / Gremien Andreas Eichmüller 99 Landschaft des Gedenkens. Multimediale Informationsplattform zur Shoah in Dresden und Terezín 50 Jetzt oder nie! Zum 70. Jahrestag des Aufstands im Sonderkommando in Birkenau am 7. Oktober 1944 Jochen August Veranstaltungen 58 Grußwort. Zur Eröffnung der Ausstellung über Fritz Bauer Halbjahresvorschau Jan Philipp Reemtsma

6 Lehrveranstaltungen 6 European Leo Baeck Lecture Series 2014 7 Vortragsreihe: Antisemitismus und andere Feindseligkeiten 7 Ausstellung: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen Rezensionen vor Gericht Buch- und Filmkritiken 9 Wanderausstellung: Legalisierter Raub 60 Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen Bücher und Medien 62 Rezensionen: Aktuelle Publikationen Begleitprogramm in der Bildungsstätte Anne Frank Ausstellung bis 22. Januar 2015 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Donnerstag 6.11.2014 | 19.30 Uhr „Möge es die Welt wissen“ – Frühe Publi- in der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt kationen aus DP-Camps Eldad Stobezki (Übersetzer und Literaturvermittler, Neuerscheinungen Frankfurt am Main) und Dr. Susanne Urban (ITS) Donnerstag 13.11.2014 | 13.00 - 16.30 Uhr Transiträume, Identitäten und Aktuelle Publikationen des Instituts Neuanfänge: DPs als Thema in der Bildung Eine Fortbildung des Pädagogi- schen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt mit dem International Tracing Service (ITS). Weitere Informationen unter: 1946. © USHMM (89520) Zeilsheim, DP-Camp 10 Werner Konitzer (Hrsg.): Moralisierung des Rechts. www.pz-ff m.de Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialistischer Pädagogisches Zentrum Donnerstag 20.11.2014 | 19.30 Uhr Nach Hause? Zwangsrepatriierungen Normativität. Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts, 2014 durch die Sowjetunion Dr. Ulrike Goeken-Haidl (Historikerin, Nürnberg) Frankfurt am Main Donnerstag 4.12.2014 | 19.30 Uhr Einblicke: Forschungen zum DP Camp 10 Jörg Osterloh, Harald Wixforth (Hrsg.): Unternehmer und Zeilsheim und DPs in der Waldschmidtstraße Michal Grünwald (Jüdisches Museum Frankfurt am Main) NS-Verbrechen. Wirtschaftseliten im »Dritten Reich« und 90 Angebote und Kontakt Donnerstag 22.01.2015 | 19.30 Uhr Displaced – Replaced oder: wo sind welche Wurzeln? Gesprächsrunde mit Kindern ehemaliger Displaced in der Bundesrepublik Deutschland. 90 PZ-Forschungsstudie: Darstellungen jüdischer Persons Teilnehmende: Esther Alexander-Ihme, Nathan Jagoda, Gila Lustiger, Pava Raibstein. Moderation: Dr. Meron Mendel (Bildungsstätte Anne Frank) 11 Martin Liepach, Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte in Schulbüchern Bildungsstätte Anne Frank | Hansaallee 150 | 60320 Frankfurt am Main | T 069.560 00 20 | Filmvorführung im Deutschen Filmmuseum [email protected] | www.bs-anne-frank.de | Di - Fr 10 - 17 Uhr, So 12 - 18 Uhr | Eintritt frei | Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen 91 Workshops zur Ausstellung: »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt« Schaumainkai 41 | 60596 Frankfurt | www.deutsches-fi lmmuseum.de Für Gruppen nur mit Voranmeldung | Führungen und Workshops in der Ausstellung nach 11 Thomas Gnielka: Als Kindersoldat in Auschwitz. 91 Interkulturelles Projekt: »3 Tage – 3 Orte – 3 Religionen« – Donnerstag 13.11.2014 | 18.00 Uhr | LANG IST DER WEG Terminvereinbarung | weitere Informationen unter: [email protected] Die Geschichte einer Klasse eine Erfolgsgeschichte Deutschland 1948. R: Herbert B. Fredersdorf, Marek Goldstein. 78 Min. 35mm Gefördert aus Mitteln der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ)

2 Inhalt Einsicht 12 Herbst 2014 3 Fritz Bauer Institut Im Überblick

Mitarbeiter und Arbeitsbereiche

Direktor Prof. Dr. Raphael Gross

Administration Dorothee Becker (Sekretariat) Werner Lott (Technische Leitung und Mediengestaltung) Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements)

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Prof. Dr. Werner Konitzer (stellv. Direktor, Forschung) Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination) Martin Jost (Studentische Hilfskraft) Das Fritz Bauer Institut Archiv und Bibliothek Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, un- Werner Renz abhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massenver- Pädagogisches Zentrum brechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis in die des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) Dr. Türkân Kanbıçak und ist seinem Andenken verpfl ichtet. Bauer widmete sich als jüdischer Monica Kingreen Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechts- Gottfried Kößler (stellv. Direktor, Pädagogik) Stiftungsrat Wissenschaftlicher Beirat systems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt Manfred Levy hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Dr. Martin Liepach Für das Land Hessen: Prof. Dr. Joachim Rückert Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Volker Bouffi er Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ministerpräsident Prof. Dr. Moritz Epple Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben geru- Johanna Bach Boris Rhein Stellv. Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main fen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität Dr. Monika Boll Minister für Wissenschaft und Kunst Prof. Dr. Wolfgang Benz assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus Dr. Lena Folianty Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Westend in Frankfurt am Main. Dr. David Johst Für die Stadt Frankfurt am Main: Universität Berlin Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Be- Dagi Knellessen Peter Feldmann Prof. Dr. Dan Diner reiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinan- Ursula Ludz Oberbürgermeister Hebrew University of Jerusalem/Simon-Dubnow-Institut für dersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit Dr. Ingeborg Nordmann Prof. Dr. Felix Semmelroth jüdische Geschichte und Kultur e.V. an der Universität Leipzig dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut Steven Schindler Dezernent für Kultur und Wissenschaft Prof. Dr. Atina Grossmann das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das Dr. Katharina Stengel The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Die aus Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber diesen institutionellen Verbindungen heraus entstehenden Projekte Jutta Ebeling Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main sollen neue Perspektiven eröffnen – sowohl für die Forschung wie Vorsitzende Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlung. Rat der Überlebenden des Holocaust Herbert Mai Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wis- 2. Vertreter des Fördervereins Prof. Dr. Walter H. Pehle senschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin) Verlagslektor und Historiker, Dreieich-Buchschlag und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Siegmund Freund Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: Prof. Dr. Peter Steinbach Inge Kahn Prof. Dr. Werner Müller-Esterl Universität Mannheim Abb.: Das IG Farben-Haus auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Dr. Siegmund Kalinski Universitätspräsident Prof. Dr. Michael Stolleis Frankfurt am Main. Das Fritz Bauer Institut hat seinen Sitz im 5. Stock des Prof. Dr. Jiří Kosta Prof. Dr. Frank Bernstein Goethe-Universität Frankfurt am Main Gebäudes (Gebäudetrakt links vom Haupteingang, zweite Fensterreihe von oben). Rechts vom Haupteingang die Gedenktafel zum Andenken an die Opfer Katharina Prinz Dekan, Fachbereich Philosophie und des Konzentrationslagers Buna-Monowitz. Foto: Werner Lott Dora Skala Geschichtswissenschaften

4 Fritz Bauer Institut Einsicht 12 Herbst 2014 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau

toriker. In der Lehrveranstaltung soll anhand nungen nach Kriegsende verloren zahlrei- der Frage nachgegangen werden, wie sich von Selbstzeugnissen von im »Dritten Reich« che Menschen ihre Staatsangehörigkeit und verschiedene Formen gruppenbezogenen Jüdische verfolgten Juden wie auch von NS-Tätern der damit die mit ihr verknüpften Rechte. In Hasses aufeinander beziehen, durcheinander kritische Umgang mit dieser Quellengattung einer Zeit, in der staatsbürgerliche Zuge- rechtfertigen, miteinander agieren und wel- Geschichte bei V&R geübt werden. Unter anderem soll der Blick hörigkeit zunehmend bedeutsam wurde, che Funktion dem Antisemitismus in diesen den Tagebüchern des Dresdner Romanisten erfuhren viele erstmals die mit der Staa- verschiedenen Interaktionen von Ressenti- Victor Klemperer und des Breslauer Histo- tenlosigkeit verbundene Schutzlosigkeit. ments zukommt. In der Vortragsreihe soll rikers Willy Cohn, des Chefpropagandisten Zugleich nahmen sich aber übernationale diese Frage sowohl anhand von Beispielen des NS-Regimes, Joseph Goebbels, sowie Institutionen wie der Völkerbund der Pro- aus der Geschichte als auch aus der Gegen- den Aufzeichnung von Rudolf Höß gelten. blemlösung aus diplomatischer wie huma- wart diskutiert werden. Teilnahmevoraussetzung ist die Be- nitärer Sicht an. Vor allem Juden waren Das Programm der Vortragsreihe mit reitschaft, eine Quelle im Rahmen eines von dieser erneuten rechtlichen Unsicher- Terminen und Referent/-innen entnehmen Referats zu interpretieren und eine kurze heit betroffen. Sie setzten sich im Kampf Sie bitte unserer Website www.fritz-bauer- schriftliche Ausarbeitung hierzu zu verfas- um die Durchsetzung von Schutzrechten institut.de sowie unseren Programmheften. sen. Die Teilnehmerzahl ist auf 20 begrenzt; für Staatenlose ebenso ein, wie sie an den Lehrveranstaltung beschreibt, wird vorgestellt. Für die Spuren- Anmeldungen ausschließlich per Mail an: Diskussionen um die Minderheitenschutz- suche in der Region zum früheren jüdischen [email protected] rechte beteiligt waren. Jüdisches Leben und Leben werden Hinweise gegeben. Weitere In dem Vortrag wird es sowohl um die – Verfolgung in der NS-Zeit Möglichkeiten der Annäherung für ältere Einführende Literatur nicht nur jüdische – Erfahrung von Staaten- Ausstellung Grundschulkinder an diese Themen wie Dagmar Günther: »›And now for something losigkeit nach dem Ersten Weltkrieg gehen completely different‹. Prolegomena zur Autobio- SchriftenS h ift des d Simon-Dubnow-Instituts, Si D b I tit t Band B d 20. 20 als zwei unterschiedliche beispielsweise das Gedenkprojekt »Stol- als auch um die unterschiedlichen Bemü- 2014. 336 Seiten, mit 2 Stammbäumen, gebunden graphie als Quelle der Geschichtswissenschaft«, Fritz Bauer. Themen im Unterricht der persteine« werden kritisch refl ektiert. hungen, das Problem zu überwinden. € 64,99 D in: Historische Zeitschrift, 272 (2001), S. 25–61 Der Staatsanwalt ISBN 978-3-525-36998-2 Grundschule Begrenzte Teilnehmerzahl! Die Teil- Volker Depkat: »Autobiographie und die soziale eBook: € 54,99 D nahmeliste wird am Montag, den 13. Okto- Konstruktion von Wirklichkeit«, in: Geschichte und Miriam Rürup ist seit 2012 Leiterin des NS-Verbrechen vor Gericht Gesellschaft, 29 (2003), S. 441–476. Monica Kingreen, Übung/Seminar, Donnerstag, ber 2014, von 9.00 bis 13.00 Uhr im Raum Instituts für die Geschichte der deutschen 14.00–16.00 Uhr, (23. Oktober 2014 bis 12. Februar IG 3.557 zum Eintragen ausgelegt. Persön- Juden in Hamburg. In ihrer Habilitations- Dienstag, 9. Dezember 2014 bis Sonntag, 1. Februar 2015), Pädagogisches Zentrum Frankfurt, liches Erscheinen ist erforderlich! schrift beschäftigt sie sich mit Staatenlosig- 2015, Thüringer Landtag, Jürgen-Fuchs-Straße 1, Seckbächer Gasse 14 keit nach den beiden Weltkriegen. 99096 Erfurt. Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 8.00–18.00 Uhr (außer an Plenartagen). Der Besuch der Ausstellung an Wochenenden und außerhalb der In diesem Seminar wer- European Leo Baeck Lecture Series 2014 Öffnungszeiten ist nach vorheriger telefonischer den die Möglichkeiten und Absprache möglich, Tel.: 0361.3772005. Grenzen ausgelotet, mit älteren Grundschul- Lehrveranstaltung Eine neue »Klasse Weitere Ausstellungsstationen sind in Planung. kindern jüdisches Leben in Vergangenheit internationaler Personen«: Vorschau und Gegenwart sowie die Verfolgung der Fritz Bauer gehört zu den Selbstzeugnisse als Quellen Staatenlosigkeit als Erfah- Juden in der NS-Zeit zu thematisieren. Ein- zur Geschichte des Antisemitismus und juristisch einfl ussreichsten schlägige hilfreiche Kinderbücher werden rung und völkerrechtliche andere Feindseligkeiten jüdischen Remigranten im Nachkriegs- vorgestellt und kritisch betrachtet. Holocaust Herausforderung nach dem deutschland. Als hessischer Generalstaatsan- Mehrere Exkursionen zu Stätten Frank- Dr. Jörg Osterloh, Übung, Mittwoch, Ersten Weltkrieg walt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess furter jüdischen Lebens heute und in der 14.00–16.00 Uhr (22. Oktober 2014 bis 11. Februar Eine Vortragsreihe ab Januar 2015 auf den Weg brachte, hat er bundesrepub- VeröffentlichungenV öff tli h desd IInstitutstit t füfür EEuropäischeäi h Geschichte Mainz, Band 235. Vergangenheit sind ebenso vorgesehen wie 2015), Goethe-Universität Frankfurt am Main, likanische Geschichte geschrieben. Die Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.401 Vortrag von Dr. Miriam Rürup 2014. 410 Seiten, mit 1 Karte, gebunden die Begegnung mit einem Zeitzeugen. (Bitte Wie verhält Antisemitismus Ausstellung nimmt den Prozess, der sich € 79,99 D für die Exkursionen etwas mehr Zeit einpla- sich zu anderen Formen 2013 zum fünfzigsten Mal jährte, zum An- ISBN 978-3-525-10134-6 Montag, 13. Oktober 2014, 18.15 Uhr, Goethe- eBook: € 64,99 D nen.) An einem Freitagabend werden wir Der »Zeitzeuge« prägt zu- Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, gruppenbezogenen Hasses? Bisher wurde lass, Fritz Bauer einem größeren Publikum in einer Synagoge an einem Gottesdienst nehmend das Geschichtsbild Casino, Raum 1.801 in der Forschung zum Antisemitismus vor vorzustellen. teilnehmen. in den Massenmedien, vermittelt er den Zu- allem die Frage diskutiert, ob und wie weit Bauers Leben blieb nicht unberührt von Ein Kinderstadtführer zum früheren schauern, Hörern und Lesern doch das Bild Der Erste Weltkrieg rüttel- andere Formen gruppenbezogenen Hasses den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Die jüdischen Leben in einer hessischen Klein- »erlebter Geschichte«. Selbstzeugnisse – also te an den Grundfesten des mit Antisemitismus vergleichbar sind, bzw. Ausstellung dokumentiert seine Lebensge- stadt, der auch die Einschnitte für die jüdi- vor allem Autobiographien und Tagebücher noch jungen nationalstaatlichen Gefüges wo die Unterschiede, wo die Ähnlichkeiten schichte im Spiegel der historischen Ereig- www.v-r.de schen Familien durch die NS-Verfolgung – sind freilich auch wichtige Quellen für His- Europas. Infolge der territorialen Neuord- liegen. In unserer Vortragsreihe soll dagegen nisse, die ihn auch persönlich betrafen. Als

6 Veranstaltungen Einsicht 12 Herbst 2014 7 Wanderausstellung Legalisierter Raub Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945

15. September bis 30. November 2014 Kurhaus Bad Vilbel, Niddastr. 1, 61118 Bad Vilbel Öffnungszeiten: Di. bis Fr.: 17.00–19.00 Uhr, Sa.: 11.00–16.00 Uhr, So.: 12.00–17.00 Uhr und nach Vereinbarung, Eintritt: frei Anmeldung zu Gruppenführungen: Tel.: 06101.559314, (Mo. bis Fr. 10.00–12.00 Uhr), [email protected] Kosten: € 50,–/Gruppe Erwachsene, € 25,–/ermäßigt Öffentliche, kostenfreie Führungen durch die Ausstellung werden an jedem zweiten Sonntag um 14.00 Uhr angeboten (12. und 26.10., 9. und 23.11) 1. Halbjahr 2015: Rüsselsheim/Flörsheim am Main 2. Halbjahr 2015: Michelstadt CHRISTIANE FRITSCHE, JOHANNES PAULMANN (HG.) Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt, 10. April bis 7. September 2014. Foto: Norbert Miguletz Ein Klassenfoto, ca. 1930 – Manfred Rosenthal steht in der 3. Reihe rechts außen. Foto: HR/Weigand/Polzer »ARISIERUNG« UND Die Ausstellung »Legalisier- »WIEDERGUTMACHUNG« ter Raub« beschäftigt sich IN DEUTSCHEN STÄDTEN Jude blieb Fritz Bauer vom Antisemitismus Zur Ausstellung sind erschienen: mit jenen Gesetzen und Verordnungen, die versehen. Er beschäftigt sich mit der Aus- Tiefbau verpfl ichtet. Am 15. September 1942 nicht verschont. Als Sozialdemokrat glaubte Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) ab 1933 auf die Ausplünderung jüdischer plünderung der jüdischen Bevölkerung in wurden Moritz Rosenthal und seine Frau Ro- 2014. 394 S. 33 S/W-ABB. GB. Fritz Bauer. Der Staatsanwalt € 49,90 [D] | € 51,30 [A] er dennoch an den Fortschritt, dann trieben Bürger zielten. Sie stellt die Beamten der der Region und erzählt unter anderem von sa über Friedberg in ein Sammellager nach ISBN 978-3-412-22160-7 NS-Verbrechen vor Gericht ihn die Nationalsozialisten für 13 Jahre ins Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, Finanzbehörden vor, die die Gesetze in Ko- der Familie Rosenthal aus Groß-Karben: Darmstadt gebracht und von dort aus am 27. Exil. Als Generalstaatsanwalt hat er das 300 S., zahlr. Abb., € 29,90, ISBN: 978-3-5935-0105-5 operation mit weiteren Ämtern und Instituti- Moritz Rosenthal, geboren am 7. De- September nach Theresienstadt deportiert, »Arisierung« und »Wiedergutma- überkommene Bild dieses Amtes revoluti- Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 32 onen umsetzten, und sie erzählt von denen, zember 1881 in Langenhain, war von Beruf wo Moritz Rosenthal am 6. April 1944 starb. chung« werden in der historischen oniert. Nicht der Gehorsam der Bürger ge- die Opfer dieser Maßnahmen wurden. Ziegenhändler. Gemeinsam mit seiner Frau Das Vermögen des Ehepaares wurde Forschung oft getrennt voneinan- genüber dem Staat stand im Vordergrund. Gezeigt wird, wie das Deutsche Reich Rosa, die am 23. Juni 1878 als Rosa Junker vom Finanzamt Friedberg »verwaltet« und der betrachtet. Der vorliegende Bauer verstand sich stets als Vertreter der durch die Reichsfluchtsteuer, zahlreiche in Groß-Karben geboren worden war, lebte »verwertet«. Der Hausrat wurde versteigert Band nimmt beide Prozesse in Menschenwürde vor allem auch gegen staat- Sonderabgaben und schließlich durch den er in der Heldenberger Straße 3, nur wenige und erbrachte 428 RM für das »Reich«. Das den Blick und verbindet aktuelle liche Gewalt – ein großer Schritt auf dem vollständigen Vermögenseinzug sowohl an Meter von der Synagoge entfernt. Im Nach- Haus wurde ab Februar 1943 durch die Ge- Weg der Demokratisierung in der frühen den Menschen verdiente, die in die Emig- barhaus lebte Rosas Bruder Josef Junker mit meinde Groß-Karben genutzt, die es 1946 Ergebnisse zu diesen beiden Bundesrepublik. ration getrieben wurden, wie an denjeni- seiner Familie. Am 30. Mai 1920 kam Mo- auf Befehl der Militärregierung instand Forschungsfeldern. Im Mittelpunkt gen, die blieben, weil ihnen das Geld für ritz und Rosa Rosenthals Sohn Manfred, ge- setzte: Rosa Rosenthal hatte Theresienstadt steht der Umgang der deutschen Fritz Bauer. Der Staatsanwalt die Auswanderung fehlte oder weil sie ihre nannt »Fredi«, zur Welt. Manfred Rosenthal überlebt und war nach Frankfurt zurückge- Städte mit »Arisierung« und »Wie- NS-Verbrechen vor Gericht Heimat trotz allem nicht verlassen wollten. war der einzige aus der Familie, dem nach kehrt, wo sie zusammen mit 50 weiteren dergutmachung«. Die Beiträge Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, in Kooperation mit Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Nach den Deportationen kam es überall zu der Machtergreifung der Nationalsozialisten Überlebenden in der Gagernstraße 36 im spüren den lokalen Unterschieden Redaktion: Bettina Schulte Strathaus dem Thüringer Justizministerium. öffentlich angekündigten Auktionen aus die Auswanderung gelang. Am 17. August Gebäude des ehemaligen Jüdischen Kran- nach und analysieren das Verhal- Kuratorin: Monika Boll, Fritz Bauer Institut Fritz Bauer. Gespräche, Interviews und Reden »jüdischem Besitz«: Tischwäsche, Möbel, 1938 emigrierte der 18-jähige gerade noch kenhauses untergebracht war. Sie wanderte aus den Fernseharchiven 1961‒1968 ten von Stadtverwaltungen sowie Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des Kinderspielzeug, Geschirr und Lebensmittel rechtzeitig nach New York. zu ihrem Sohn Fredi in die USA aus, wo sie Bundespräsidenten Joachim Gauck. Sie wird gefördert Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017 anderen Akteuren vor Ort. durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft, die 2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90 wechselten den Besitzer. Nach der Pogromnacht wurde Moritz Anfang der 1950er Jahre starb. Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft ISBN: 978-3-8488-4017-5, www.absolutmedien.de Rosenthal, nachdem das Haus geplündert und und Kultur, das Bundesministerium der Justiz und Regionaler Schwerpunkt demoliert worden war, vom 12. November bis Weitere Informationen zur Ausstellung und für Verbraucherschutz, das Hessische Ministerium Das Grußwort von Jan Philipp Reemtsma Für die Präsentation in Bad Vilbel wurde die 14. Dezember im Konzentrationslager Bu- ihrer Ausleihe auf Seite 100. Das umfangrei- der Justiz, für Integration und Europa, die Georg WWW.BOEHLAU-VERLAG.COM und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung, die zur Eröffnung der Fritz-Bauer-Ausstellung Ausstellung wie an jedem ihrer bisherigen chenwald inhaftiert. Als er nach Groß-Karben che Begleitprogramm fi nden Sie unter: www. Fazit-Stiftung sowie Christiane und Nicolaus Weickert. in Frankfurt lesen Sie auf Seite 58 f. Standorte mit einem neuen Schwerpunkt zurückkehrte, wurde er zur Zwangsarbeit im fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html

8 Veranstaltungen Einsicht 12 Herbst 2014 9 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts

Jörg Osterloh, Harald Wixforth (Hrsg.) Und welche Erfahrungen machten die Über- › Henning Borggräfe: Deutsche Unterneh- Mitarbeiterpublikation: lebenden bei der materiellen »Wiedergutma- men und das Erbe der NS-Zwangsarbeit. Thomas Gnielka Unternehmer und chung« nach 1945? Verlauf und Folgen des Streits um Ent- NS-Verbrechen schädigung seit den 1990er Jahren Als Kindersoldat Aus dem Inhalt Wirtschaftseliten im in Auschwitz › Martin Münzel: Die jüdischen Mitglieder Jörg Osterloh, Dr. phil, ist wissenschaftli- Die Geschichte einer Klasse »Dritten Reich« und der ökonomischen Elite Frankfurts nach cher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in in der Bundesrepublik 1933. Aspekte der Ausschaltung aus dem Frankfurt am Main. Deutschland Wirtschaftsbürgertum des NS-Staats › Benno Nietzel: Verfolgung, Beraubung und Harald Wixforth, Dr. phil., ist wissen- der Kampf um die Erinnerung. Jüdische Un- schaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für ternehmer aus Frankfurt am Main zwischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Nationalsozialismus und Nachkriegszeit an der Ruhr-Universität Bochum. › Lars-Dieter Leisner: Von Entrechteten zu Berechtigten? Die Restitution des Juden Werner Konitzer (Hrsg.) Nationalsozialistische in Bremen entzogenen Umzugsguts aus Rechtstheorien hoben den der Perspektive der Opfer Moralisierung des Rechts Unterschied zwischen Moral und Sittlich- › Thomas Urban: »Wendig sein und anpas- Martin Liepach, Wolfgang Geiger Kontinuitäten und keit auf der einen Seite und Recht auf der sen!« Robert Kabelac und die Leitung der anderen Seite so weit wie möglich auf. In Bremer Vulkan-Werft im Zweiten Weltkrieg Fragen an die Diskontinuitäten den »Nationalsozialistischen Leitsätzen für › Ralf Banken: »Vergangenheitsbewälti- Romanfragment und Dokumentation, jüdische Geschichte hrsg. von Kerstin Gnielka und Werner Renz, nationalsozialistischer ein neues Strafrecht« von 1938 formulierte gung« im Degussa-Konzern. Der lange Darstellungen und Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt, 2015, Normativität Hans Frank, Hitlers Rechtsanwalt und einer Weg von der Verdrängung zur vollstän- 184 S., € 19,90, ISBN: 978-3-86393-058-5 der führenden Vertreter einer »nationalso- Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, digen Aufarbeitung didaktische zialistischen Rechtswissenschaft«, kurz ca. 412 S., € 34,90, EAN 9783593399799 › Stephan H. Lindner: Schatten der Vergan- Herausforderungen Die Geschichte einer Klas- und bündig: »Deutsches Rechtsgefühl und Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, genheit oder personeller Neubeginn? Die se ist die literarische Ver- Band 23, Erscheinungstermin: 6. November 2014, deutsches Sittlichkeitsempfi nden sind eins.« auch als E-Book erhältlich Farbwerke Hoechst nach dem Zweiten arbeitung der letzten Kriegsmonate und Was bedeutete dieses »Ideal« der Ein- Weltkrieg der bestürzend authentische Bericht eines schmelzung des Unterschieds von Sittlich- Die Verbrechen, an denen › Sebastian Brünger: Der Vergangenheit Heranwachsenden in dieser Zeit. Eine Do- keit, Moral und Recht für die nationalsozi- Unternehmer im »Dritten eine Form geben. Mentale Kontinuitäten kumentation mit Artikeln und Recherchen alistische Rechtstheorie und Rechtspraxis? Reich« beteiligt waren, reichen von heiklen nach 1945 am Beispiel des IG-Farben- von Thomas Gnielka zu den NS-Verbrechen, Was besagte sie für eine Analyse national- Rüstungsgeschäften und Transaktionen zur Prozesses und Fritz ter Meers ergänzt um einen Text von Claudia Michels, sozialistischer Vorstellungen von »Ethik« wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten › Lutz Budrass: Der Preis des Fortschritts. beschließt ein Essay über die Vorgeschichte und »Moral«? Und wie weit bestimmte das Gebiete über die skrupellose Ausnutzung Ernst Heinkels Meistererzählung über die des Auschwitz-Prozesses von Norbert Frei. Fortwirken nationalsozialistischer Moral von Zwangsarbeit bis hin zur Verfolgung, Tradition der deutschen Luftfahrtindustrie noch die Rechtsauffassungen der frühen Ausplünderung und Ermordung der euro- › Christopher Kopper: Hjalmar Schacht und Thomas Gnielka, 1928–1965, Journalist, Bundesrepublik? päischen Juden. seine »Vergangenheitsbewältigung« in der wurde im Sommer 1944 als Schüler des Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung Wie gingen Unternehmer, die sich be- frühen Bundesrepublik Berliner Kant-Gymnasiums als Luftwaffen- des Holocaust, 2014, hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Werner Konitzer, apl. Prof. Dr., ist stellver- reitwillig auch auf die verbrecherischen und › Harald Wixforth: Ein Bankier während Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2014, helfer dienstverpfl ichtet. Von dem Einsatz von Werner Konitzer tretender Direktor des Fritz Bauer Instituts rassistischen Ziele der nationalsozialisti- und nach dem Holocaust. Die wechsel- Reihe Geschichte unterrichten, 192 S., € 19,80 dieser Klasse in Auschwitz handelt seine Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014 in Frankfurt am Main. schen Wirtschaftspolitik eingelassen hatten, volle Karriere des Hugo Ratzmann ISBN: 978-3-7344-0020-9 fragmentarisch gebliebene Erzählung. ca. 230 S., € 29,90, EAN 9783593501680 nach 1945 mit ihrem »Erfolg« in der NS-Zeit › Harald Wixforth: A Man for All Seasons Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts, Band 18 Erscheinungstermin: 6. November 2014, um? Verdrängten sie ihre Kollaboration und Revisited? Anmerkungen zu Hermann Dr. Martin Liepach ist Mitarbeiter am Werner Renz, wissenschaftlicher Mitarbeiter auch als E-Book erhältlich Anpassung oder arbeiteten sie diese bewusst Josef Abs und seiner Rolle während und Pädagogischen Zentrum Frankfurt. am Fritz Bauer Institut, zahlreiche Veröffentli- auf? Welche Verhaltensweisen und Rechtfer- nach der NS-Zeit chungen zum Frankfurter Auschwitz-Prozess. Das Jahrbuch erscheint mit freundlicher Unterstützung tigungsmuster lassen sich hierbei erkennen? › Sven Keller, Jürgen Finger: Der Biele- Dr. Wolfgang Geiger ist freier Mitarbeiter des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Mitglieder des Fördervereins können das aktuelle Wie erlebten jüdische Unternehmer ihre Aus- felder Kunsthallenstreit 1968. Mäzena- am Pädagogischen Zentrum Frankfurt. Kerstin Gnielka ist eine Tochter von Tho- Jahrbuch zum reduzierten Preis von € 23,90 schaltung aus dem Wirtschaftsleben und die tentum, Memoria und NS-Vergangenheit mas Gnielka. Sie arbeitet in der Sektion Li- (inkl. Versandkosten) im Abonnement beziehen. Judenverfolgung im Nationalsozialismus? im Hause Oetker Siehe dazu: Pädagogisches Zentrum, S. 90 f. teratur der Akademie der Künste in Berlin.

10 Neuerscheinungen Einsicht 12 Herbst 2014 11 DIENSTAG, 14. OKTOBER 2014, 19.00 UHR REVOLUTION! Das Jahr 1848 Im Lesung aus dem Tagebuch von David Adolf Zunz mit Michael Quast

Höchst anschaulich und detailreich schildert der 17-jährige David Adolf Zunz (1831–1910) in seinem Tagebuch die Ereignisse rund um das Jahr 1848. Versammlungen der Turner und die Annehmlich- keiten einer neuartigen Omnibusfahrt von Bornheim nach Frank- furt finden ebenso Erwähnung wie nächtliche Illuminationen, Staatsempfänge und die Barrikadenkämpfe. Aus der Perspektive des Flaneurs erlebt der Leser die Ereignisse von 1848 hautnah mit. Illustriert mit zeitgenössischen Darstellungen, lässt die Lesung des Frankfurter Schauspielers Michael Quast das Geschehen und AUS DEM ARCHIV DES JÜDISCHEN MUSEUMS die Stimmung des Jahres 1848 wiederaufleben. Eine Kooperation mit dem historischen museum frankfurt Licht Eintritt: 5 EUR, ermäßigt: 2,50 EUR Jüdisches Leben in der römischen Provinz

MITTWOCH, 26. NOVEMBER 2014, 19.00 UHR DER ERSTE WELTKRIEG IN DEN TAGEBÜCHERN VON SIEGFRIED MORITZ AUERBACH

Lesung und Fotografien aus den Kriegstagebüchern von Dr. Siegfried Moritz Auerbach (1886–1971) Einführung: Michael Lenarz In Kooperation mit der Römisch-Germanischen Kommission Siegfried Moritz Auerbach war zwischen 1925 und 1928 einer der der 11. Dezember 2014– Direktoren der Metallgesellschaft in Frankfurt. Im Alter von 17 Jah- ren begann er, Tagebuch zu schreiben. Die zwischen 1907 und 1918 10. Mai 2015 in 26 Heften festgehaltenen Erlebnisse konnte die Gesellschaft der Jüdisches Museum Freunde und Förderer des Jüdischen Museums auf einer Auktion Dienstag bis Sonntag 10–17 Uhr Untermainkai 14/15 Mittwoch 10–20 Uhr für das Museum ersteigern. Allein zwischen 1914 und 1918 füllte 60311 Frankfurt Montag geschlossen Auer bach acht Bände mit seinen Einträgen und sammelte mehr als Tel (069) 212 350 00 juedischesmuseum.de 1.000 Fotografien dazu. Zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs sollen die Erlebnisse und Eindrücke eines Frankfurter jüdischen Soldaten des 81. Infanterieregiments vor gestellt werden.

Eine Veranstaltung der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums Menora

Mit freundlicher Unterstützung Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums e.V Einsicht Forschung und Vermittlung

Arbeit und Antisemitismus Damit lägen die Unterschiede zwischen den beiden »Rassen« offen zutage: »Ariertum bedeutet sittliche Auffassung der Arbeit und Eine seiner ersten großen programmatischen Reden hielt Adolf Hitler dadurch das, was wir heute so oft im Munde führen: Sozialismus, am 13. August 1920 im Großen Saal des Münchner Hofbräuhauses Gemeinsinn, Gemeinnutz geht vor Eigennutz – Judentum bedeu- zum Thema »Warum sind wir Antisemiten?«.3 In dieser Rede spielte tet egoistische Auffassung der Arbeit und dadurch Mammonismus »Arbeit« im Nationalsozialismus Arbeit eine zentrale Rolle. Mit diesem Begriff entfaltete Hitler seine und Materialismus, das konträre Gegenteil von Sozialismus. Und Weltanschauung von der rassistischen Superiorität der »Arier« wie in dieser Eigenschaft, über die er nicht hinaus kann, die in seinem Zur Bedeutung des Begriffs in Ideologie der Vernichtung der »Juden«. Während Arbeit als instinktmäßiger Blut liegt, er selbst erkennt das an, in dieser Eigenschaft allein schon Selbsterhaltungstrieb noch Menschen wie Tieren gemeinsam gewe- liegt die Notwendigkeit für den Juden, unbedingt staatenzerstörend und Praxis des NS-Staats sen sei, habe sich bei den Menschen eine zweite Stufe entwickelt, auftreten zu müssen. Er kann nicht anders, ob er will oder nicht.« die Arbeit aus reinem Egoismus. Auch diese Stufe sei überwunden Hitlers rassistisches, antisemitisches Arbeitskonzept war nicht worden zugunsten der Arbeit aus »sittlich-moralischem Pfl ichtge- seine eigene originäre Leistung, sondern lag in einer langen Tradition von Michael Wildt fühl«, einer Tätigkeit, »die ich nicht um meiner selbst willen ausübe, völkischen Denkens.4 In Gustav Freytags Roman Soll und Haben sondern auch zu Gunsten meiner Mitmenschen«. (1855) steht die »Arbeit auf deutsche Weise«, die sich dem Gemein- Hitler gewann seinen Begriff der Arbeit aus dem Entwurf einer wohl der Nation verpfl ichtet fühlt, der egoistischen, betrügerischen, Arbeit war ein zentraler Begriff im National- Geschichte der »nordischen Rassen«, die, weil sie im Norden der gewinnorientierten Wirtschaftstätigkeit der jüdischen Romanfi gur sozialismus. Innerhalb der »Volksgemein- Welt gelebt hätten, »in jenen unerhörten Eiswüsten, in jenen Stätten, Itzig Veitel gegenüber.5 Explizit entwickelte der Volkskundler und schaft« diente Arbeit als zentrales Praxisfeld die nur das kärglichste Dasein boten«, gezwungen gewesen wären, Publizist Wilhelm Heinrich Riehl 1861 in seinem Buch Die deutsche von Inklusion der »Volksgenossinnen und nicht nur für den Einzelnen, sondern für die ganze Sippe zu arbeiten. Arbeit eine Vorstellung von einer spezifi sch nationalen Form des Michael Wildt, Buchhändlerlehre, Volksgenossen«. Zukünftig sollte die Kluft zwischen geistiger und Während im Süden den Menschen das Lebensnotwendige nahezu Arbeitens.6 Ähnlich wie bei Freytag war Arbeit hier das Charakteris- Studium der Geschichte, Soziologie manueller Arbeit, zwischen den »Arbeitern der Stirn« und den »Ar- ohne Arbeit im überreichen Maße geboten worden wäre, hätten die tikum der Deutschen. Wieder zeichnete sich »deutsche Arbeit« durch und Theologie an der Universität beitern der Faust« überwunden werden. In den Lagern des Reichs- »nordischen Menschen« um ihre Existenz kämpfen müssen. »Dieser ihre Gemeinnützigkeit aus. Das deutsche Volk, so Riehl, denkt, wenn Hamburg; 1992–1997 wiss. Mitarbei- arbeitsdienstes, der Hitlerjugend und anderer Organisationen bildete Norden zwang die Menschen zu weiterer Tätigkeit, zur Bekleidung, es von Arbeit spricht, »an eine aus sittlichen Motiven entspringende, ter an der Forschungsstelle für Zeit- die von allen gleichermaßen geleistete Handarbeit die grundlegende zum Bau eigener Behausungen, Höhlen, später Wohnungen, kurz, nach sittlichem Ziele ringende That, die mit dem Nutzen für uns geschichte in Hamburg; 1997–2009 Praxis erlebter Gemeinschaft. Der Begriff der »deutschen Quali- er hat ein Prinzip praktisch geboren, das Prinzip der Arbeit.« Die selbst zugleich den Nutzen für andere Leute verbindet«7. wiss. Mitarbeiter am Hamburger tätsarbeit«, seit Ende des 19. Jahrhunderts von Unternehmern wie Fähigkeit zur Staatenbildung und zu einer blühenden Kultur läge, Diese Auffassung von Arbeit unterscheide sich scharf vom Institut für Sozialforschung; seit 2009 Gewerkschaften verbreitet und vom NS-Regime symbolisch über- so unterstrich Hitler, ausschließlich in der Auffassung des Begriffs »Schaffen und Raffen blos um eigennützigen Gewinns willen«8, Professor für Deutsche Geschichte höht, bot, wie Alf Lüdtke betont, Arbeitern im Nationalsozialismus Arbeit begründet. Arbeit sei nicht als Zwang, sondern als »notgebo- wofür selbstredend vor allem die »Juden« stehen, deren Arbeit Handel des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt diskursive Möglichkeiten der Bindung an das Regime und lieferte rene Notwendigkeit« verstanden worden; die unwirtlichen Lebens- und »Schacher« seien. Bäuerliche und handwerkliche Arbeit, also im Nationalsozialismus an der Hum- ihnen später als Soldaten die Begründung für die Teilnahme am Ver- umstände erforderten gemeinsames Arbeiten und Arbeitsteilung. vornehmlich manuelle Arbeit, bildeten die Grundlage; geistige Arbeit boldt-Universität zu Berlin. nichtungskrieg: Krieg als Arbeit.1 Die Feststellung von angeblicher Arbeit sei, so Hitlers Quintessenz, von den »nordischen Rassen« stand immer in Gefahr, in »jüdischen Intellektualismus« abzugleiten; Veröffentlichungen (Auswahl): Arbeits- bzw. Nichtarbeitsfähigkeit diente den Tätern als entscheiden- als »soziale Pfl icht« angesehen worden. technische und naturwissenschaftliche Berufe lagen in dieser Pers- Generation des Unbedingten. Das des Selektionskriterium über Leben und Tod von Juden, aber ebenso Ganz anders die »Juden«. Ihnen, so Hitler, sei Arbeit nicht pektive Mitte des 19. Jahrhunderts offenkundig noch außerhalb des Führungskorps des Reichssicherheits- von Roma und Sinti, sowjetischen Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen, sittliche Pfl icht, sondern höchstens Mittel zur Selbsterhaltung. So hauptamtes, 3. Aufl ., Hamburg 2008 Zwangsarbeitern. Selbst der Mord an kranken und behinderten Men- verstanden könnte aber jede Tätigkeit, die ohne Rücksicht auf die (engl. Übers. 2009); Volksgemein- schen wurde damit legitimiert, dass sie keinen produktiven Beitrag Mitmenschen dazu dient, sich zu ernähren, also zum Beispiel auch schaft als Selbstermächtigung. Gewalt zur »Volksgemeinschaft« leisteten und ihr als »unnütze Esser« zur das Ausrauben von Karawanen oder die Ausplünderung verschulde- 4 Zur rassistischen Konnotation des nationalsozialistischen Arbeitsbegriffs siehe gegen Juden in der deutschen Provinz Last fi elen. Dieses breite Bedeutungsfeld von Arbeit im National- ter Bauern, als Arbeit gekennzeichnet werden. Juden, die sich nicht auch Rüdiger Hachtmann, »Vom ›Geist der Volksgemeinschaft‹ durchpulst«, in: 1919 bis 1939, Hamburg 2007 (engl. sozialismus, das von Zugehörigkeit durch Arbeit als Dienst an der wie die nordischen Rassen »reingezüchtet« hätten, seien nicht in Zeitgeschichte-online, Themenschwerpunkt »Arbeit«, http://www.zeitgeschichte- online.de/thema/vom-geist-der-volksgemeinschaft-durchpulst [17.8.2014]. Übers. 2012); Vom kleinen Wohl- »Volksgemeinschaft« bis zur massenmörderischen »Vernichtung der Lage, Staaten zu bilden, sondern könnten nur als »Parasiten am 5 Vgl. dazu Christine Achinger, »Antisemitismus und ›Deutsche Arbeit‹. Zur stand. Eine Konsumgeschichte der durch Arbeit« reichte, soll im Folgenden umrissen werden.2 Körper anderer Völker« existieren. Selbstzerstörung des Liberalismus bei Gustav Freytag«, in: Nicolas Berg (Hrsg.), fünfziger Jahre, Frankfurt am Main Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdi- 1996. schen, Leipzig 2011, S. 361–388; sowie Heinrich Schwendemann, »Gustav Freytags Soll und Haben (1855) – Wegbereiter des ökonomischen Antisemitis- 3 Die Rede wird hier zitiert nach Eberhard Jäckel, Axel Kuhn (Hrsg.), Hitler. Sämt- mus«, in: ebd., S. 333–360. 1 Vgl. Alf Lüdtke, »›Deutsche Qualitätsarbeit‹ – ihre Bedeutung für das Mitma- liche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 184–204. Sie wurde erst- 6 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Deutsche Arbeit, Stuttgart 1861; vgl. dazu Joan chen von Arbeitern und Unternehmern im Nationalsozialismus«, in: Aleida Ass- mals abgedruckt in: Reginald H. Phelps, »Hitlers ›grundlegende‹ Rede über den Campbell, Joy in Work, German Work: The National Debate, 1800–1945, Prince- mann u. a. (Hrsg.), Firma Topf & Söhne: Hersteller der Öfen für Auschwitz: ein Antisemitismus«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 16, H. 4 (1968), ton, New Jersey 1989, S. 32–46. Pina Bock (Leipzig) arbeitet an einer Disserta- Fabrikgelände als Erinnerungsort?, Frankfurt am Main 2002, S. 123–138. S. 390–420. Vgl. auch die ausführliche Interpretation der Rede bei Klaus Holz, tion zum Topos »Deutsche Arbeit« im 19. Jahrhundert. 2 Vgl. jetzt auch Marc Buggeln, Michael Wildt (Hrsg.), Arbeit im Nationalsozialis- Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 7 Riehl, Arbeit, S. 5. mus, München 2014. 2001, S. 359–430. 8 Ebd., S. 6.

14 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 15 Horizonts. Jenseits ständischer und zünftiger Schranken insistierte 1. Mai 1933: »Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter« trat die Deutsche Arbeitsfront, die durch die Riehl darauf, dass jede »deutsche Arbeit« Anerkennung verdiene, Übernahme der Mitglieder wie des Vermö- gleich wer sie ausübe, und ehrenhaft sei. »So fordert auch das Volk, Gerade der 1. Mai 1933 sollte nach dem Willen der NS-Führung zu gens der Gewerkschaften die mitglieder- welches sich der sittlichen Kraft seiner Arbeit bewusst geworden, einer großen, reichsweiten und nachhaltigen Manifestation eines Ver- stärkste und reichste NS-Organisation wur- die Ehre dieser Arbeit als Recht.«9 ständnisses von Arbeit als Dienst an der Volksgemeinschaft, jenseits de. Sie hatte »die Bildung einer wirklichen Die Identifi zierung des Kapitalismus als »jüdisch« durchzog die klassenkämpferischer Interessenvertretung, und der Integration der Volks- und Leistungsgemeinschaft aller gesamte völkische Agitation. Kapitalismus sei »praktischer Mosais- Arbeiterschaft in den Nationalsozialismus werden. Nicht von unge- Deutschen« zum Ziel. Mit der Zerschlagung mus«, schrieb der antisemitische Publizist Theodor Fritsch in seinem fähr war es die Hitler-Regierung, die den 1. Mai, den »Kampftag der der freien Gewerkschaften wurde die Tarif- »Handbuch zu Judenfrage«, das, 1887 zuerst erschienen, bis 1944 Arbeiterklasse«, in einen »Tag der nationalen Arbeit« umdefi nierte autonomie aufgehoben; per Gesetz wurde 49 Aufl agen erlebte. Und der Ökonom Werner Sombart formuliert und zugleich diesen Tag zu einem staatlichen Feiertag erhob. »Ehret im Mai 1933 »Treuhändern der Arbeit« die in seiner 1911 erschienenen Schrift Die Juden und das Wirtschafts- die Arbeit und achtet den Arbeiter!« war das offi zielle Motto dieses rechtsverbindliche Regelung der Tarifpoli- leben, dass der Jude der »reine Geschäftsmann« sei, »der im Geist 1. Mai 1933.12 tik übertragen. Das Gesetz zur Ordnung der echt kapitalistischer Wirtschaft allen naturalen Zwecken gegenüber Hitler beschwor in seiner Rede vor – nach offi ziellen Angaben – nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 be- den Primat des Erwerbszwecks anerkennt«.10 mehr als einer Million Menschen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin stätigte die autoritäre Macht der Treuhänder. Der Tatsache, dass ein Großteil gesellschaftlich notwendiger die Einheit des deutschen Volkes, ohne die bestehenden Differenzen In den Unternehmen sollte von nun an eine Arbeit in einer modernen Industriegesellschaft Erwerbsarbeit ist, zu übergehen: »Unseres Volkes Erwachen ist da. Das Symbol des »Betriebsgemeinschaft« mit »Führer« und die mit Geld entlohnt wird, dessen Höhe Gegenstand durchaus Klassenkampfes, des ewigen Streites und Haders wandelt sich nun »Gefolgschaft« herrschen; an die Stelle be- gegensätzlicher Interessenkonfl ikte ist, versuchte Hitler mit der wieder zum Symbol der großen Einigung und Erhebung der Nation. trieblicher Mitbestimmung durch Betriebs- Unterscheidung des Arbeitswerts in einen materiellen und einen Und deshalb haben wir diesen Tag der erwachenden Natur für alle räte traten abhängige »Vertrauensräte«; ideellen Wert in den Griff zu bekommen: »So sicher der materielle kommenden Zeiten gewählt als Tag der Wiedergewinnung unserer betriebliche Konfl ikte sollten künftig durch Nutzen einer Erfi ndung größer sein kann als der eines alltäglichen eigenen Kraft und Stärke und damit auch zugleich jener schaffenden eine soziale Ehrgerichtsbarkeit geschlich- Erster deutscher Gemeinschaftsladen mit Waren aus Deutschland, 1.1.1933. Foto: Scherl/SZ Photo Handlangerdienstes, so sicher ist die Gesamtheit doch auf diesen Arbeit, die keine engen Grenzen kennt, nicht gebunden ist an die tet werden. In der Verordnung Hitlers über kleinsten Dienst genau so angewiesen wie auf jenen größten. Sie mag Gewerkschaft, an Fabriken und Kontore, einer Arbeit, die wir überall die Deutsche Arbeitsfront vom 24. Oktober materiell einen Unterschied treffen in der Bewertung des Nutzens dort anerkennen und fördern wollen, wo sie in gutem Sinne für Sein 1934 hieß es unter dem § 2: »Das Ziel der der einzelnen Arbeit für die Gesamtheit und kann dem durch die und Leben unseres Volkes geleistet wird.«13 Deutschen Arbeitsfront ist die Bildung einer wirklichen Volks- und Zwar war der Reichsarbeitsdienst zunächst offi ziell noch freiwillig jeweilige Entlohnung Ausdruck verleihen; sie muss aber ideell die Kopf- und Handarbeiter sollten zueinanderfi nden – und doch Leistungsgemeinschaft aller Deutschen. Sie hat dafür zu sorgen, dass und erst ab 1935 verpfl ichtend, aber mit einer Reihe von Maßnahmen Gleichheit aller feststellen in dem Augenblick, in dem jeder einzel- hob Hitler klar die manuelle Arbeit hervor. Das Vorurteil, dass Hand- jeder einzelne seinen Platz im wirtschaftlichen Leben der Nation in und drohendem Entzug von Arbeitslosenunterstützung brachte man ne sich bemüht, auf seinem Gebiete – welches immer es auch sein arbeit minderwertig sei, müsse in Deutschland ausgerottet werden. der geistigen und körperlichen Verfassung einnehmen kann, die ihn zahlreiche junge Männer dazu, sich für den RAD zu melden.18 Stärker mag – sein Bestes zu tun. Darauf aber hat die Wertschätzung eines »Wir wollen in einer Zeit, da Millionen unter uns leben ohne Ver- zur höchsten Leistung befähigt und damit den größten Nutzen für als der ökonomische Nutzen und die statistische Verbesserung der Menschen zu beruhen, und nicht auf der Entlohnung.«11 ständnis für die Bedeutung des Handarbeitertums, das deutsche Volk die Volksgemeinschaft gewährleistet.«16 Arbeitslosenzahl stand dabei die Formierungsabsicht im Vordergrund. In dieser Konstruktion ist der Kern nationalsozialistischer Ar- durch die Arbeitsdienstpfl icht zu der Erkenntnis erziehen, dass Hand- In einem der ersten Interviews, die Hitler als neu ernannter Reichs- beitsauffassung zu erkennen. Die Frage nach der materiellen Entloh- arbeit nicht schändet, nicht entehrt, sondern vielmehr wie jede andere kanzler einer ausländischen Nachrichtenagentur gab, hatte er im Fe- nung geleisteter Arbeit trat zurück gegenüber einer symbolischen, Tätigkeit dem zur Ehre gereicht, der sie getreu und redlichen Sinnes Arbeit als Dienst an der Volksgemeinschaft bruar gegenüber Associated Press diese Aufgabe des Arbeitsdienstes öffentlichen Anerkennung von Arbeit. Damit war auch der ideolo- erfüllt.«14 Stürmischen Beifall erhielt Hitlers Forderung: »Es bleibt unmissverständlich benannt: »Die Arbeitsdienstpfl icht verdankt als gische Weg frei, all jene gesellschaftlich geleistete Arbeit, die nicht unser unverrückbarer Entschluss, jeden einzelnen Deutschen, sei er, Handarbeit als Erziehungsmittel – dieser Gedanke stand ebenso Idee ihre Entstehung der katastrophalen wirtschaftlichen Not und der entlohnt wird, wie vor allem die Arbeit von Frauen im Haushalt und wer er sei, ob reich, ob arm, ob Sohn von Gelehrten oder Sohn von hinter der Institution des Reichsarbeitsdienstes (RAD) wie dessen daraus entspringenden Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsdienstpfl icht soll in der Familie, als gleichwertigen Dienst an der Volksgemeinschaft Fabrikarbeitern, einmal in seinem Leben zur Handarbeit zu führen, Funktion, junge arbeitslose Männer in öffentliche Arbeitsprogramme vor allem verhindern, dass Hunderttausende unserer Jungarbeiter hilf- propagandistisch anzuerkennen, ohne die sozialreformerische For- damit er sie kennenlernt.«15 einzubinden. Kollektiv verrichtete Handarbeit als Medium von Ver- los auf der Straße verkommen. Sie soll aber weiter durch eine allgemei- derung aus der Frauenbewegung nach Bezahlung dieser Tätigkeiten Am darauffolgenden Tag, dem 2. Mai 1933, besetzten SA-Stür- gemeinschaftung und Disziplinierung war das nationalsozialistische ne Erziehung zur Arbeit einer Überbrückung der Klassengegensätze zu erfüllen oder dem Drang von Frauen nach Gleichstellung und me die Gewerkschaftshäuser, verhafteten Funktionäre und beschlag- Konzept, das sich sowohl in den Lagern des Reichsarbeitsdienstes dienen. Als Nationalsozialist sehe ich auch in der allgemeinen Arbeits- gleichem Lohn in der Erwerbsarbeit nachzugeben. nahmten das Eigentum. An die Stelle der freien Gewerkschaften wie auch in den Konzentrationslagern wiederfi ndet.17 dienstpfl icht ein Mittel, um zur Achtung vor der Arbeit zu erziehen. Unsere jungen Leute sollen lernen, dass die Arbeit den Menschen adelt.«19 Die Forderung nach »Ehre der Arbeit«, nach Aufwertung der

12 Zum 1. Mai 1933 in Berlin siehe ausführlich Eberhard Heuel, Der umworbene 16 Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter in den Nationalsozialismus bis 1939, Bonn 1999, S. 182. 9 Ebd., S. 18. 1933–1935, Frankfurt am Main, New York 1988, S. 42–187. 17 Kiran Patel, »›Auslese‹ und ›Ausmerze‹. Das Janusgesicht der nationalsozialistischen 10 Fritsch und Sombart zitiert nach Heike Hoffmann, »Völkische Kapitalismus-Kri- 13 Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen. Kommentiert von einem Lager«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 54, H. 4 (2006), S. 339– 18 Vgl. Detlev Humann, »Arbeitsschlacht«. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der tik: Das Beispiel Warenhaus«, in: Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871– deutschen Zeitgenossen, Leonberg 1988 S. 259. 365; Marc Buggeln, Michael Wildt, »Lager im Nationalsozialismus. Gemein- NS-Zeit 1933–1939, Göttingen 2011, S. 365–480; Kiran Klaus Patel, »Soldaten der 1918, hrsg. von Uwe Puschner u. a., München u. a. 1996, S. 559. 14 Ebd., S. 262. schaft und Zwang«, in: Bettina Greiner, Alan Kramer (Hrsg.), Die Welt der Lager. Arbeit«. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003. 11 Adolf Hitler, Mein Kampf, 349.–351. Aufl ., München 1938, S. 483. 15 Ebd. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburg 2013, S. 217–253. 19 Zit. nach Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, S. 212.

16 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 17 Arbeiter als wertschaffender Kraft der Nation und nach Anerkennung besonders brutale Behandlung erleiden und häufi g die schwersten, die deutsche Kriegswirtschaft zu rekrutieren. Ende 1942 arbeiteten Zwangsarbeit für die Wehrmacht, die SS und die Zivilverwaltung von »deutscher Qualitätsarbeit«, so hat Alf Lüdtke eindrucksvoll her- mitunter völlig sinnlosen Arbeiten verrichten. etwa 4,6 Millionen Ausländer im Deutschen Reich, 1944 wuchs leisten – und waren selbst darum bemüht, Arbeit für die deutschen Be- ausgearbeitet, konnte a uch auf der Linken Resonanz fi nden.20 Aber auch die sogenannten »Arbeitsscheuen« gerieten mit Beginn die Zahl auf über 10 Millionen an. Ohne den Einsatz von Millionen satzungsmacht zu übernehmen, wurden doch die jüdischen Zwangs- des NS-Regimes in den Fokus der Verfolger. In einer großen reichsweit Zwangsarbeitern wäre die deutsche Rüstungswirtschaft nicht in der arbeiterinnen und Zwangsarbeiter – zunächst – von der Deportation angelegten Razzia hatte die Polizei bereits im September 1933 über Lage gewesen, den Krieg bis 1945 fortzusetzen.26 in den Tod ausgenommen. »Unser Weg heißt Arbeit«, formulierte Arbeit und Destruktion zehntausend Menschen, die als Bettler, Obdachlose und Landstreicher Die ausländischen zivilen Arbeiter machten den bedeutendsten der Judenratsvorsitzende des Ghettos Litzmannstadt/Lodz, Chaim angesehen wurden, kontrolliert, teilweise vor Gericht gebracht oder in Zugewinn für die deutsche Kriegsproduktion aus. Daneben holte Rumkowski. Alle »Arbeitsunfähigen«, also Kinder, alte und kranke Di e nationalsozialistische Volksgemeinschaft sollte nach dem Willen ein Konzentrationslager verschleppt.23 Im Januar 1938 erteilte Himmler man jedoch auch Millionen sowjetischer Kriegsgefangener ins Reich. Menschen, wurden aussortiert und im nahe gelegenen Chełmno in der NS-Führung auch und vor allem eine Leistungsgemeinschaft sein. den Gestapostellen im Reich und dann auch in Österreich, das im März Zudem einigten sich bereits im März 1942 Speer und Himmler darauf, Gaswagen ermordet. Ende 1942 hatte sich die Bevölkerungsstruktur Die menschliche Arbeitskraft sollte möglichst vollständig und um- angegliedert worden war, den Befehl, sogenannte »Arbeitsscheue« zu dass fortan auch KZ-Häftlinge in der Rüstungsindustrie eingesetzt im Ghetto Litzmannstadt radikal verändert, es gab kaum noch Kinder fassend zu Produktions- und Reproduktionszwecken genutzt werden. verhaften und im KZ Buchenwald zu internieren. Diese Aktion war werden sollten, die ab dem Herbst 1942 in Außenlager in der Nähe und alte Menschen, nur noch »arbeitsfähige« Frauen und Männer Wer nicht bereit war, seinen Beitrag zu erbringen, musste aus der aber nur der Auftakt für eine größere Verhaftungswelle im Juni 1938, von Fabriken transportiert wurden.27 Fast gleichzeitig versprach das zwischen 16 und 60 Jahren. Ein Überlebender schrieb: »The ghetto Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden. Diejenigen, die vermeint- bei der von der Kriminalpolizei zwischen 9.000 und 10.000 Männer Justizministerium 1942, mehr Häftlinge aus den Justizvollzugsanstal- had been turned into something like one great factory.«31 lich die Arbeit verweigerten, wurden in Arbeitshäuser, kommunale verhaftet und in Konzentrationslager gebracht wurden. Der Zweck der ten für die Kriegsproduktion zur Verfügung zu stellen und sich stärker Fürsorgelager und auch in Konzentrationslager gesperrt, um sie mit Internierung lag darin, die Häftlinge als Arbeitskräfte für den Ausbau um eine entsprechende Ausbildung der Insassen zu kümmern.28 Gewalt zur Arbeit zu »erziehen«. Wer als »unverbesserlich« einge- der Lager und für die SS-eigenen Betriebe auszunutzen; zugleich sorgte Gegen die Notwendigkeit des umfassenden Arbeitseinsatzes Fazit stuft wurde, wurde dauerhaft in einem Konzentrationslager interniert. das rassenbiologische Selektionskriterium für das gewünschte Ziel, stand gleichzeitig die rassistische Vernichtungsabsicht des Regimes. Als Anfang März 1933 unmittelbar nach dem Reichstagsbrand »Asoziale« aus dem deutschen »Volkskörper« auszusondern.24 Im Protokoll der Wannseekonferenz hieß es im Januar 1942: »In gro- Zahlreiche Elemente, die für das Feld »Arbeit« im Nationalsozialis- die massive Verfolgung von politischen Oppositionellen begann, Im Krieg verschärfte sich das Regime der Arbeitsorganisation. Prä- ßen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die mus kennzeichnend sind, sind weder neu noch genuin nationalsoziali- stand für Reichsinnenminister Wilhelm Frick fest, dass die Kom- gendster Ausdruck dessen war die Schaffung von Arbeitserziehungsla- arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei stisch. »Arbeitsehre« verbanden auch mittelalterliche Zünfte mit ihrer munisten nicht an der Eröffnung des neu gewählten Reichstages gern, die 1940 nach Absprachen zwischen SS und Wirtschaftsverbänden zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen Arbeit. »Deutsche Arbeit« war ein Topos schon bei den Völkischen im teilnehmen würden. »Diese Herrschaften«, so Frick im Völkischen unter der Leitung regionaler Gestapostellen eingerichtet wurden. Dort wird.«29 Auch gegen andere Gruppen wurde unverhohlen eine Politik 19. Jahrhundert. Dass Arbeit nicht nur Mühsal bedeutet, sondern auch Beobachter, »müssen wieder an fruchtbringende Arbeit gewöhnt wurden widerständige Arbeiter bis zu 56 Tage bei schwerster Zwangs- der »Vernichtung durch Arbeit« gefordert. Im Herbst 1942 schlug Dienst an der Gemeinschaft ist eine urchristliche Auffassung, die in werden. Dazu werden wir ihnen in Konzentrationslagern Gelegenheit arbeit und unter miserabelsten Lebensbedingungen inhaftiert. Während Joseph Goebbels dem neu ernannten Justizminister Thierack vor: allen klösterlichen Regeln zum Grundbestand gehört. Arbeit als Strafe geben. Wenn sie sich dann wieder zu nützlichen Mitgliedern der zu Beginn die Mehrheit der Inhaftierten oft aus deutschen Arbeitern »Hinsichtlich der Vernichtung asozialen Lebens steht Dr. Goebbels und Umerziehung ist seit der Einrichtung von Arbeitshäusern Ende Nation erziehen lassen, wollen wir sie als vollwertige Volksgenossen bestand, waren später ausländische Zwangsarbeiter in der Überzahl.25 auf dem Standpunkt, daß Juden und Zigeuner schlechthin, Polen, des 18. Jahrhunderts Teil der europäischen Moderne, ebenso wie die willkommen heißen, sonst werden wir sie auf die Dauer unschädlich Nachdem die Niederlage der deutschen Wehrmacht vor Moskau die etwa 3 bis 4 Jahre Zuchthaus zu verbüßen hätten, Tschechen Zwangs- und Sklavenarbeit und rücksichtslose Ausbeutung von Kriegs- zu machen wissen.«21 im Dezember 1941 die »Blitzkrieg«-Strategie scheitern ließ und sich und Deutsche, die zum Tode, lebenslangem Zuchthaus oder Siche- gefangenen Signum menschlicher Gesellschaften bereits im Altertum Was propagandistisch als »Erziehung« deklariert wurde, diente das Deutsche Reich auf einen längeren Krieg einrichten musste, rungsverwahrung verurteilt wären, vernichtet werden sollten. Der war und im Kolonialismus gang und gäbe. Und auch das Töten als Arbeit im Alltag des Konzentrationslagers der Erniedrigung und Bestrafung. wurde das Problem der dringend nötigen Arbeitskräfte zentral. Im Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste.«30 gehört zum Krieg – nicht umsonst spricht man von Kriegshandwerk. So berichtete die Münchner Illustrierte Presse am 16. Juli 1933 in März 1942 ernannte Hitler den thüringischen Gauleiter Fritz Sauckel Andererseits bedeutete die Zwangsarbeit für die Opfer noch eine Was die Arbeit im Nationalsozialismus unterscheidet, ist die einem großen Artikel mit etlichen Fotografi en über das Konzentra- zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. Von nun an Zeit des Lebens vor der drohenden Ausrottung in den Vernichtungs- entgrenzte Destruktivität. Nur im Nationalsozialismus kam das tionslager Dachau und zeigte unter anderem ein Bild, auf dem zu versuchten die deutschen Behörden in den sowjetischen Gebieten, lagern. In allen Ghettos in den besetzten Gebieten mussten die Juden Schlagwort von der »Vernichtung durch Arbeit« auf, die Vorstellung, sehen ist, wie mehrere Häftlinge eine Straßenwalze ziehen. In der Polizei und Wehrmacht, mit Versprechungen, administrativem Druck dass Menschen durch Arbeit »verschrottet« werden. Das rational- Bildunterschrift hieß es dazu: »Volksverführern, denen der Begriff und nicht zuletzt durch gewaltsame Zwangsaushebungen, die sich zynische Kalkül, das auch westlichen Gesellschaften nicht fremd ist, der Arbeit ihr Leben lang fremd geblieben ist, lernen ihn hier zum zu regelrechten Menschenjagden entwickeln konnten, Arbeiter für durch Zwang und Unfreiheit Menschen zu ökonomisch günstigen eigenen Nutzen kennen. Zum ersten Mal arbeiten sie produktiv in 26 Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländereinsatzes« in Konditionen arbeiten zu lassen und dadurch den gesamtgesellschaft- einer Gemeinschaft.«22 Vor allem jüdische Häftlinge mussten eine der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999; Mark Spoerer, Zwangsarbeit lichen Nutzen bzw. den Kapitalgewinn für einige Gruppen oder unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge Unternehmen zu steigern, stand im Nationalsozialismus hinter ras- ganda, 1933–1939. Representation and Reception«, in: Christiane Heß u. a. im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart 2001. (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche. Neue Perspektiven auf die Geschichte der NS- 27 Vgl. exemplarisch Marc Buggeln, Arbeit & Gewalt. Das Außenlagersystem des sistischen, antisemitischen Weltordnungsplänen zurück. Auch wenn Konzentrationslager, Berlin 2011, S. 99–114. KZ Neuengamme, Göttingen 2009. das NS-Regime immer wieder zu pragmatischen, der Kriegssituation 20 Alf Lüdtke, »Ehre der Arbeit«: Industriearbeiter und Macht der Symbole. Zur 23 Zur »Bettlerrazzia« siehe: Wolfgang Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, 28 Vgl. Nikolas Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im geschuldeten Entscheidungen gezwungen war, änderte das an der Reichweite symbolischer Orientierungen im Nationalsozialismus«, in: ders., Ei- Stuttgart 1995, S. 20–41; Julia Hörath, »Experimente zur Kontrolle und Repres- NS-Staat, München 2006, S. 241. rassistischen Grundhaltung, dass Juden ebenso wenig eine Existenz- gen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in sion von Devianz und Delinquenz. Die Einweisung von ›Asozialen‹ und ›Berufs- 29 Das Faksimile der Originalniederschrift über die Besprechung vom 20. Januar den Faschismus, Hamburg 1993, S. 283–350. verbrechern‹ in die Konzentrationslager 1933 bis 1937/38«, Diss. Freie Univer- 1942 ist dokumentiert auf der Website der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der berechtigung haben wie behinderte Menschen, nichts. 21 Zit. nach Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und sität Berlin, 2012, S. 163–388. Wannsee-Konferenz: http://www.ghwk.de/fi leadmin/user_upload/pdf-wannsee/ Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1934–1938, Boppard am 24 Vgl. Ayaß, »Asoziale«, S. 138–165; Christian Faludi (Hrsg.), Die »Juni-Aktion« dokumente/protokoll-januar1942_barrierefrei.pdf [4.8.2014]. Rhein 1991, S. 44–45. 1938. Eine Dokumentation zur Radikalisierung der Judenverfolgung, Frankfurt 30 Aufzeichnung Thieracks über ein Gespräch mit Goebbels am 14.9.1942, zit. nach 22 Zit. nach Hans-Günter Richardi, Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager am Main, New York 2013. Jens-Christian Wagner, »Das Außenlagersystem des KL Mittelbau-Dora«, in: Dachau, München, Zürich 1995, S. 200; vgl. ebenso Paul Moore, »›Man hat es 25 Vgl. Gabriele Lotfi , KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Ulrich Herbert u. a. (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. 31 Lucjan Dobroszycki, The Chronicle of the Łódź Ghetto 1941–1944, New Haven, sich viel schlimmer vorgestellt.‹ German Concentrations Camps in Nazi Propa- Stuttgart 2000. Entwicklung und Struktur, Bd. II, Göttingen 1998, S. 720. London 1984, S. LX.

18 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 19 Arbeitskräfte innerhalb der militarisierten und nach rassistischen allem in den zwischen 1938 und 1940 gegründeten Konzentrati- Kriterien hierarchisierten nationalsozialistischen Arbeits- und Ge- onslagern Flossenbürg, Mauthausen, Groß-Rosen und Natzweiler.4 sellschaftsordnung hatten. Es war eben ein grundlegender Unter- Die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung der Konzentrati- schied, ob ein Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes zur Arbeit onslager und damit die einsetzende Ökonomisierung der Häftlings- herangezogen wurde (in diesem Fall propagierten die Nationalsozi- zwangsarbeit führten aber zunächst nicht zu einer Modifi zierung Arbeit und Vernichtung im alisten den »Adel der Arbeit«), ob es ein West- oder Nordeuropäer der Arbeitsbedingungen. Schikane und Terror prägten weiterhin war (er war auch als Zwangsarbeiter nicht ganz rechtlos) oder ein die Arbeit der Häftlinge, dazu kam die körperliche Erschöpfung Nationalsozialismus »Fremdarbeiter« aus Polen oder der Sowjetunion (er galt als rassisch beispielsweise bei der Arbeit im Steinbruch, die ohne jegliche tech- minderwertig und war deshalb rechtlos). Am untersten Ende der nische Hilfsmittel ausgeführt wurde, sollte sie doch nach wie vor Ökonomische Sachzwänge und das Hierarchie standen Juden, Sinti und Roma und vielfach auch KZ- der »Erziehung der Erziehbaren« dienen, wie es Heinrich Himmler Häftlinge. Ihnen sprachen die Nationalsozialisten das Lebensrecht im Mai 1942 ausdrückte,5 oder sogar als Mittel der Ermordung. ideologische Projekt des Massenmords ab. Wenn sie Zwangsarbeit leisten mussten, dann entweder um vor Der ständige Zustrom neuer Häftlinge – allein 1937/38 wurden im ihrem Tod noch wirtschaftlich ausgepresst zu werden oder weil die Rahmen der Kriegsvorbereitung und der rassistischen Generalprä- Arbeit selbst als Mordinstrument eingesetzt wurde. vention in der »Aktion Arbeitsscheu Reich« (ASR) etwa 15.000 als von Jens-Christian Wagner »kriminell« und »asozial« bezeichnete Menschen, darunter viele Ju- Rund 13 Millionen Menschen mussten im den sowie Sinti und Roma, in die Konzentrationslager eingewiesen6 »Dritten Reich« Zwangsarbeit leisten. Mehr Zwangsarbeit bis in die ersten Kriegsjahre – und die Ausweitung der Häftlingsarbeit führten in dieser Phase der als zweieinhalb Millionen Männer, Frauen Entwicklung des KZ-Systems zu einer deutlichen Verschlechterung und Kinder, vor allem Kriegsgefangene und Das Wechselverhältnis zwischen Arbeit und Vernichtung war immer der Lebensbedingungen in den Lagern. Das Ineinandergreifen von Jens-Christian Wagner, geb. 1966, KZ-Häftlinge, überlebten das nicht.1 Noch höher war die Opferzahl durch eine Gemengelage aus ideologisch motiviertem genozidalen Überbelegung und der ideologisch motivierten Haltung der SS, die Studium der Geschichte und Roma- außerhalb der Reichsgrenzen, vor allem im besetzten Polen und in Programm, Utilitarismus und tatsächlichen oder vermeintlichen KZ-Arbeitskräfte als ersetzbar – wenn nicht sogar als überfl üssig – nischen Philologie in Göttingen und den besetzten Gebieten der Sowjetunion. wirtschaftlichen Sachzwängen geprägt, wobei die Bedeutung öko- anzusehen, zog mit jedem Einlieferungsschub einen dramatischen Santiago de Chile; 1999 Promotion Ohne den Einsatz der Millionen Zwangsarbeiter wäre die deut- nomischer Motive während des Krieges zunahm. In den Anfangs- Anstieg der Todesrate nach sich. Diese erreichte nach Kriegsbeginn an der Universität Göttingen mit sche Kriegswirtschaft frühzeitig zusammengebrochen. Und dennoch jahren der NS-Herrschaft, die noch durch Massenarbeitslosigkeit mit der Einweisung Zehntausender Polen und Tschechen ein vorher einer Studie zur Geschichte des KZ ermordeten die Nationalsozialisten Millionen Menschen, deren Ar- gekennzeichnet waren, spielte die Zwangsarbeit ökonomisch hin- unbekanntes Ausmaß. Kaum etwas symbolisiert die mörderischen Mittelbau-Dora, 2001–2014 Leiter beitskraft sie doch eigentlich dringend benötigten. Schlossen sich gegen kaum eine Rolle. Stattdessen wurde sie als Strafe und Erzie- Arbeitsbedingungen dieser Zeit deutlicher als die »Todesstiege«7 im der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ökonomische Zielsetzungen und das ideologische Projekt des Mas- hungsmittel eingesetzt – insbesondere in den Konzentrations- und Steinbruch des KZ Mauthausen. Im Verlauf des Jahres 1940 starben (Nordhausen), seit September 2014 senmordes gegenseitig aus? Gab es, wie Adam Tooze formuliert Strafgefangenenlagern. Deren Insassen wurden zumeist zu weitge- in Mauthausen und dessen Außenlager Gusen mehr als ein Drittel Geschäftsführer der Stiftung nieder- hat, »einen unlösbaren Widerspruch zwischen dem beabsichtigten hend sinnlosen und körperlich harten Tätigkeiten herangezogen, so aller Häftlinge.8 sächsische Gedenkstätten (Celle). rassisch begründeten Genozid und den praktischen Imperativen der etwa bei der Moorkultivierung in den Emslandlagern. Außerhalb Forschungsschwerpunkte: Geschichte Produktion«?2 der Lager spielte Zwangsarbeit noch keine Rolle.

der Konzentrationslager, Zwangs- Arbeit hatte im Nationalsozialismus viele Facetten. Ob sie nach Der Wandel der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit dem 4 Vgl. dazu detailliert Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003, arbeit im Nationalsozialismus, Ge- protestantischem Ethos »adelte«, ob sie als Instrument der Erzie- Übergang zur Kriegsvorbereitung führte zu Veränderungen auf dem S. 603–770. Zu den Arbeitsbedingungen im Steinbruch des KZ Groß-Rosen vgl. schichtspolitik und Erinnerungskultur hung und des Terrors diente, ob sie Mittel der wirtschaftlichen Aus- Arbeitsmarkt, der – etwa durch die Einführung der Dienstpfl icht Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schlesien, Köln u. a. nach 1945. beutung war oder der Vernichtung diente, war vor allem von zwei im Jahr 19383 – zunehmend militarisiert wurde. Damit ging eine 1996, S. 49 ff.; zu Flossenbürg Jörg Skribeleit, »Flossenbürg – Stammlager«, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der na- Veröffentlichungen (Auswahl): Pro- Faktoren abhängig – erstens den sich innerhalb der zwölfjährigen Modifi zierung der Zwangsarbeit einher, die angesichts des zuneh- tionalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 4, München 2006, S. 17–66; zu duktion des Todes. Das KZ Mittel- NS-Herrschaft wandelnden wirtschaftlichen, sozialen und militäri- menden Arbeitskräftemangels an ökonomischer Bedeutung gewann. Mauthausen Florian Freund, Bertrand Perz, »Mauthausen – Stammlager«, in: bau-Dora, Göttingen 2001; Ellrich schen Rahmenbedingungen und zweitens der Stellung, welche die Zugleich begann die SS eigene Wirtschaftsbetriebe aufzubauen. ebd., S. 293–346; zu Natzweiler Robert Steegmann, »Natzweiler – Stammlager«, 1944/45. Konzentrationslager und Einen wesentlichen Anteil hatte hieran die Baustoffgewinnung für in: Benz, Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Bd. 6, München 2007, S. 23–47. 5 Schreiben Himmler an den Chef des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes Zwangsarbeit in einer deutschen die unter anderen von Albert Speer betriebenen Bauprojekte der (WVHA), Oswald Pohl, 19.5.1942, Bundesarchiv Berlin, NS 19/3698. Kleinstadt, Göttingen 2009; Zwangs- unmittelbaren Vorkriegsjahre. Es ist kein Zufall, dass die ab 1937/38 6 Als Regionalstudie vgl. Franziska Schleupner, ›Arbeitsscheu Reich‹. Die Sonder- arbeit. Die Deutschen, die Zwangsar- 1 Vgl. Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilar- neu errichteten Konzentrationslager in der Nähe hochwertiger Ge- aktion der Geheimen Staatspolizei im April 1938. Ursachen. Motive. Planung – beiter und der Krieg, Begleitband zur beiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Eu- steinsvorkommen lagen und die Arbeit im Steinbruch einen Großteil und deren Umsetzung im Regierungsbezirk Mainfranken, Würzburg 2014. Vgl. ropa 1939–1945, Stuttgart 2001, sowie einführend Jens-Christian Wagner, hierzu auch den Beitrag von Julia Hörath in diesem Heft, S. 28–33. Ausstellung im LWL-Industriemuseum »Zwangsarbeit im Nationalsozialismus – ein Überblick«, in: Volkhard Knigge der von den Häftlingen geleisteten Zwangsarbeit ausmachte – vor 7 Die »Todesstiege« war eine Steintreppe, die den Steinbruch »Wiener Graben« Zeche Zollern, Essen 2012 (hrsg. u. a. (Hrsg.), Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, mit dem eigentlichen Konzentrationslager Mauthausen verband. Die Häftlinge zusammen mit Volker Knigge und Essen 2012, S. 182–195. des Steinträgerkommandos mussten mehrmals täglich Granitblöcke über die ins- Rikola-Gunnar Lüttgenau). 2 Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Natio- gesamt 186 Stufen der Treppe 31 Meter nach oben schleppen. Viele Häftlinge nalsozialismus, München 2006, S. 599. Allerdings relativiert Tooze im selben 3 Vgl. Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten verletzten sich dabei und kamen zu Tode oder wurden während des Arbeitseinsat- Buch den vermeintlichen Widerspruch mit Nachdruck; vgl. ebd., S. 603 ff., vor Reich, Stuttgart 1983, S. 79 f.; ferner Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten zes auf der »Todesstiege« durch Kapos und SS-Leute ermordet. allem S. 630. Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, 2. Aufl ., Opladen 1978, S. 290 ff. 8 Vgl. Freund, Perz, »Mauthausen«, S. 315

20 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 21 Besonders die neuen Häftlingsgruppen, also vorrangig ausländi- stehend, den »Euthanasie«-Morden an psychisch Kranken, stand die der jüdischen Zwangsarbeiter schnell nach, sche KZ-Insassen, waren in dieser Phase Arbeitsbedingungen ausge- Bezeichnung »Sonderbehandlung 14f13« für die Ermordung kranker und nach wenigen Wochen gehörten sie zu setzt, die mit der Formel von der »Vernichtung durch Arbeit« treffend und behinderter Häftlinge sowie jüdischer und nicht mehr arbeitsfä- den »Überfl üssigen«, die von den örtlichen beschrieben sind. Was mit Blick auf die Konzentrationslager in der higer Gefangener aus den Konzentrationslagern. Mindestens 10.000, SS-Kommandanten selektiert und anschlie- zweiten Kriegsphase ab 1942 in der Forschung kontrovers diskutiert vielleicht auch 20.000 Menschen fi elen diesem Mordprogramm vom ßend erschossen oder in Vernichtungslager wird, kann für die ersten Kriegsjahre mit Recht konstatiert werden: Frühjahr 1941 bis zum Frühjahr 1942 zum Opfer. abtransportiert wurden.14 Die wirtschaftliche Ausnutzung der KZ-Haft und die Abarbeitung Neben der ideologisch motivierten Absicht, behinderte Men- Diese seit dem Herbst 1941 erprobte der Häftlinge bis zum Tod durch Erschöpfung bildeten in einem schen und Juden zu töten, verfolgte die SS mit der »Sonderbehand- Praxis fi xierten die Planer des Mordes an den Lager wie Mauthausen oder auch im Steinbruch von Flossenbürg lung« auch das Ziel, sich der arbeitsunfähigen Häftlinge in den europäischen Juden im Januar 1942 schrift- tatsächlich eine Einheit – die Arbeit in den Steinbrüchen war eine überfüllten Lagern zu entledigen, in denen sie lediglich unnütze lich im Protokoll der Wannseekonferenz. Methode des systematischen Massenmords.9 Esser sah. »Unwertes Leben« sollte vernichtet werden – sei es aus In der entscheidenden Passage heißt es: Von produktiver Arbeit konnte unter solchen Umständen kaum rassistischer Motivation, sei es aus utilitaristischen Gründen. Dahin- »Unter entsprechender Leitung sollen die Rede sein, jedenfalls nicht, wenn darunter rentables Wirtschaften ter stand immer das ideologische Grundprinzip, »nützliches« von nun im Zuge der Endlösung die Juden in verstanden wird – von Bestrebungen, die Arbeitskraft der Produzen- »unwertem« Leben zu trennen. Die Praxis der Segregation, Selektion geeigneter Weise im Osten zum Arbeitsein- ten zu erhalten, ganz zu schweigen. Zwar gab es auch Ansätze einer und Ermordung nicht mehr arbeitsfähiger Häftlinge sollte in den satz kommen. In großen Arbeitskolonnen, effektiveren KZ-Arbeit in SS-Betrieben, insgesamt aber entsprach folgenden Jahren zum Organisationsprinzip der Zwangsarbeit nicht unter Trennung der Geschlechter, werden der hohe Verschleiß von Arbeitskräften in der ersten Kriegshälfte nur in den Konzentrationslagern, sondern auch in den Ghettos und die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in durchaus den politisch-ideologischen Vorgaben der SS und der Ein- Zwangsarbeitslagern für Juden und gegen Ende des Krieges auch diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein weisungsbehörden. Während den politischen Häftlingen zugestanden in Lagern für sogenannte Ostarbeiter werden. Großteil durch natürliche Verminderung wurde, »besserungsfähig« zu sein, galt dies nicht für die Gefangenen, ausfallen wird. Der allfällig endlich ver- die nach 1937 aus rassistisch-generalpräventiven Gründen eingewie- Straßenbau bei Tarnopol. SS-Foto, um 1942. Foto: Instytut Pamięci Narodowej, Warschau bleibende Restbestand wird, da es sich bei sen worden waren und ab 1938 die Mehrheit in den Lagern stellten, »… straßenbauend nach dem Osten« diesem zweifellos um den widerstandsfä- also als »kriminell«, »asozial« oder »homosexuell« Verfolgte sowie Zwangsarbeit und Massenmord im besetzten Osteuropa higsten Teil handelt, entsprechend behandelt die aus rassistischen Gründen verfolgten Juden sowie Sinti und Ro- Das Prinzip der Aussonderung erschöpfter und nicht mehr leis- werden müssen […].«15 ma. Ihr Einsatz auf »Vernichtungsarbeitsplätzen« (Falk Pingel) hatte Nach den Selektionsprinzipien der »Sonderbehandlung 14f13« ver- tungsfähiger jüdischer Zwangsarbeiter wurde nach dem Überfall auf Mindestens 25.000 Juden fi elen der mörderischen Zwangsar- mithin System. Das galt auch für die vielen nichtdeutschen Häftlinge fuhr die SS auch bei den Bauprojekten in den besetzten Gebieten die Sowjetunion weiter radikalisiert, insbesondere beim Bau der beit beim Bau der Durchgangsstraße IV zum Opfer. Der Tod der besonders aus Osteuropa, die ab 1939 in die Lager eingewiesen Polens und der Sowjetunion, bei denen jüdische Männer und Frauen »Durchgangsstraße IV«, die der Wehrmacht als Hauptversorgungs- Zwangsarbeiter wurde seitens der SS und der Behörden hier nicht nur wurden. Wenn die Arbeit dieser Gefangenen von der SS-Führung Zwangsarbeit leisten mussten. Eine Vorreiterrolle nahmen dabei die straße vom besetzten Polen bis in die östliche Ukraine dienen sollte einkalkuliert, sondern bewusst geplant: Dass die jüdischen Zwangs- dennoch als Mittel der »Erziehung« bezeichnet wurde, so konnte Lager des »Sonderbeauftragten des Reichsführers SS für den fremd- und deren Bau von der Organisation Todt (OT) geleitet wurde.13 arbeiter sterben sollten, stand außer Zweifel. Vorher sollte aber noch dieser Begriff doch kaum verbrämen, was eigentlich gemeint war: völkischen Arbeitseinsatz in Ostoberschlesien«, Albrecht Schmelt, Seit dem Herbst 1944 zogen die SS, die OT und die beauftragten »nutzbringende« Arbeit aus ihnen herausgepresst werden. die Vernichtung. ein.12 Die jüdischen Zwangsarbeiter der »Organisation Schmelt« Baufi rmen neben sowjetischen Kriegsgefangenen vor allem jüdische Die hohen Todesraten in der ersten Kriegsphase waren nicht wurden zunächst vor allem beim Bau der Autobahn in Ostoberschle- Zwangsarbeiter zum Bau der Straße heran. Letztere stammten zu- nur eine Folge mörderischer Arbeitsbedingungen, sondern auch di- sien eingesetzt, später auch in Rüstungsbetrieben. 1943 wurden die nächst aus Ostpolen und der Ukraine, später, als infolge der Mord- Ghettoarbeit rekten Mordens. Dazu zählte – neben der Erschießung sowjetischer zeitweise fast 200 Schmelt-Lager aufgelöst oder in Außenlager der aktionen von SS-Einsatzgruppen nur noch wenige ukrainische Juden Kriegsgefangener im Herbst und Winter 1941/4210 – vor allem die Konzentrationslager Auschwitz und Groß-Rosen umgewandelt. Die lebten, mussten auch rumänische Juden, die von der rumänischen Ähnlich verhielt es sich mit der Zwangsarbeit in den Ghettos, wenn »Sonderbehandlung 14f13« (eine dem Aktenplan der SS entnomme- harte Arbeit insbesondere in den Baukommandos führte schnell zur Regierung an die SS ausgeliefert und in Galizien in improvisierten sie auch zunächst nicht eine derart zentrale Funktion hatte wie in ne Ziffernfolge).11 In engem Zusammenhang mit der »« Erschöpfung der jüdischen Zwangsarbeiter. Seit November 1941 Lagern entlang der im Bau befi ndlichen Durchgangsstraße IV un- den Straßenbau-Lagern.16 Die ersten Ghettos wurden bereits Ende ließ Schmelt Selektionen in den Lagern vornehmen. Als nicht mehr tergebracht wurden, dort Zwangsarbeit leisten. Angesichts der mi- 1939 auf Initiative lokaler Besatzungsverwaltungen im besetzten Po- arbeitsfähig ausgemusterte Gefangene ließ er nach Auschwitz de- serablen Bedingungen in den Lagern, der Hungerrationen und nicht len eingerichtet. In den abgeriegelten Stadtvierteln sollte die lokale

9 Vgl. Bertrand Perz, »Der Arbeitseinsatz im KZ Mauthausen«, in: Ulrich Herbert portieren und dort ermorden. zuletzt der auszehrenden Arbeit auf den Baustellen (auf den Einsatz jüdische Bevölkerung isoliert werden und unter möglichst schlech- u. a. (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und von Maschinen wurde weitgehend verzichtet) ließ die Arbeitskraft Struktur, Göttingen 1998, S. 533–557, hier S. 534. Vgl. auch Falk Pingel, Häftlin- ge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Kon- zentrationslager, Hamburg 1978, S. 80 ff. wie die – leicht fehlerhafte – Studie von Walter Grode, Die »Sonderbehandlung 14 Vgl. Knigge (Hrsg.), Zwangsarbeit, S. 210. 10 Dem Mord an den als »politische Kommissare« klassifi zierten sowjetischen 14f13« in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs. Ein Beitrag zur Dynamik 13 Vgl. Andrej Angrick, »Annihilation and Labor: and Thoroughfare IV in 15 Protokoll der Wannseekonferenz, 20.1.1942, zit. nach: Gedenk- und Bildungsstät- Kriegsgefangenen fi elen in den Konzentrationslagern, vor allem in Sachsenhau- faschistischer Vernichtungspolitik, Frankfurt am Main u. a. 1987, außerdem Central Ukraine«, in: Ray Brandon, Wendy Lower (Hrsg.), The Shoah in te Haus der Wannsee-Konferenz (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz und der Völker- sen und Buchenwald, insgesamt mindestens 34.000 Menschen zum Opfer; vgl. Astrid Ley, »Vom Krankenmord zum Genozid. Die ›Aktion 14f13‹ in den Kon- Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington 2008, S. 190–223; mord an den europäischen Juden (Katalog der ständigen Ausstellung), Berlin Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine zentrationslagern«, in: Dachauer Hefte 25 (2009), S. 36–49. ferner Manfred Grieger, »Vernichtung und Arbeit im NS-Zwangsarbeitssystem«, 2006, S. 117. politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 122–131. 12 Vgl. Andrea Rudorff, »Das Lagersystem der ›Organisation Schmelt‹ in Schlesi- in: Volkhard Knigge u. a. (Hrsg.), Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsar- 16 Vgl. auch im Folgenden überblicksartig Dieter Pohl, »Ghettos«, in: Benz, Distel 11 Vgl. zusammenfassend ebd., S. 114–121, ferner Henry Friedlander, The Origins en«, in: Benz, Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Bd. 9, München 2009, S. 155– beiter und der Krieg (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung), Weimar 2010, (Hrsg), Ort des Terrors, Bd. 9, S. 161–191; sowie Grieger, »Vernichtung«, of Nazi Genocide. From Euthanasia to the , Chapel Hill 1995, so- 160. S. 208–220, hier S. 209 ff. S. 214–218.

22 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 23 ten Lebensumständen verfügbar gehalten Blitzkriegsstrategie im Winter 1941/42, die werden. Arbeit diente in diesen Ghettos zu- eine umfassende Reorganisation der deut- nächst vor allem der Eigenversorgung. Von schen Kriegswirtschaft zur Folge hatte. Trotz Beginn an starben auch Ghettoinsassen an wichtiger Grundsatzentscheidungen, die im den Folgen von Hunger und Misshandlun- September 1942 getroffen wurden, verlief die gen. Der Mord wurde aber noch nichts sys- Gründung von Außenlagern bei Rüstungsbe- tematisch betrieben. trieben anfangs jedoch sehr schleppend, was Das änderte sich nach dem deutschen unter anderem am Spannungsverhältnis zwi- Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni schen politisch-ideologischen Zielvorgaben 1941. Nunmehr ließen die Besatzer die ein- einerseits und pragmatisch-rationalen öko- heimischen Juden nicht langsam verhungern, nomischen Überlegungen andererseits lag. sondern ermordeten sie sofort. Hunderttau- So wurden, während der Häftlingsverleih an sende Männer, Frauen und Kinder fi elen im die Industrie langsam in Gang kam, bis zum Herbst und Winter 1941/42 innerhalb weniger Frühjahr 1943 nahezu alle jüdischen Häft- Monate hinter der Front den Erschießungs- linge aus den Konzentrationslagern in die kommandos der SS- und SD-Einsatzgruppen Vernichtungslager überstellt und ermordet, zum Opfer. Anschließend begann die drit- obwohl man ihre Arbeitskraft doch eigent- te Phase des Mordes an den europäischen lich dringend benötigte. Juden. Die Besatzungsverwaltungen ließen Erst der von Propagandaminister Jo- immer mehr Insassen der Ghettos, in die nun seph Goebbels nach der Niederlage von Sta- auch mittel- und westeuropäische Juden ver- Schusterwerkstatt im Ghetto Litzmannstadt, 1942. Als »produktive« Zwangsarbeiter waren Ausbau der Stollenanlagen im KZ Mittelbau-Dora, Sommer 1944. lingrad ausgerufene »totale Krieg« bewirkte schleppt wurden, in die neu eingerichteten Kinder über zehn Jahren zunächst vor der Deportation ins Vernichtungslager geschützt. Foto: Walter Frentz, Sammlung Hanns-Peter Frentz, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora einen tatsächlichen Wandel, indem von nun Vernichtungslager Chełmno, Bełżec, Sobi- Foto: Mendel Grosman/Henryk Ross; Archiwum Państwowe w Łodzi an pragmatisch-wirtschaftliche Überlegun- bor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz- gen zunehmend die Oberhand gewannen. Birkenau überstellen und ermorden. dem Spätherbst 1941 wurden »Arbeitsunfähige« aus dem Ghetto in Damit setzte sich ab 1943 das Prinzip des Häftlingsverleihs an die Die Auswahl derer, die aus den Ghettos in die Vernichtungslager nur darauf ankam, möglichst keine externen Ressourcen für die Ver- das nahe gelegene Vernichtungslager Chełmno gebracht und in Gas- Rüstungsindustrie wirklich durch, und bald überzog Deutschland ein abtransportiert wurden, folgte denselben Prinzipien, die bereits bei sorgung der Ghettos aufwenden zu müssen, womit die Arbeit für sie wagen ermordet. Die ständigen Selektionen hielten bis August 1944 dichtes Netz von KZ-Außenlagern, deren Insassen Zwangsarbeit in der Aktion 14f13 und beim Bau der Durchgangsstraße IV angewandt kein Argument für den Erhalt der Ghettos war (was in vielen Fällen an, als die letzten 67.000 jüdischen Ghettobewohner nach Auschwitz der Rüstungsindustrie leisten mussten.19 worden waren. Das zentrale Kriterium war das der Arbeitsfähigkeit. die Entscheidung zur Ermordung der Bewohner beschleunigte), war deportiert wurden. Die meisten wurden dort unmittelbar nach der Eine Schlüsselrolle kam in diesem Zusammenhang der Unterta- Dementsprechend waren es anfangs vor allem Alte, kleine Kinder den Judenräten daran gelegen, die Ghettoarbeiter der deutschen Ver- Ankunft im Gas erstickt, etwa 19.000 mussten als KZ-Häftlinge in geverlagerung der Rüstungsindustrie zu, die im Herbst 1943 mit der und Kranke, die ausgesondert und in die Vernichtungslager ver- waltung gegenüber als besonders produktiv und nützlich darzustellen der Rüstungsindustrie arbeiten. Insgesamt wird die Zahl der Über- Verlagerung der Raketenrüstung von Peenemünde auf der Insel Use- schleppt wurden. Zum Zynismus und zum Herrschaftskalkül der und sie damit zu überzeugen, diese Menschen aus ökonomischen lebenden unter den 230.000 Ghettobewohnern in Litzmannstadt auf dom in das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen im Südharz begann.20 deutschen Ghettoverwaltungen gehörte es, dass die Auswahl der Motiven nicht dem Hungertod oder der Ermordung in Gaskammern höchstens 7.000 geschätzt.18 Der zügige Ausbau eines unterirdischen Tanklagers zur Raketenfabrik, Todgeweihten den »Judenräten« überlassen wurde, denen von der preiszugeben. Doch diese Hoffnung war vergeblich. Angesichts dem Tausende von KZ-Häftlingen zum Opfer fi elen, entwickelte sich Sicherheitspolizei und den Besatzungsverwaltungen die innere Ver- der gezielten Unterversorgung der Ghettos schwanden die Kräfte seit dem Winter 1943/44 zum Referenzobjekt für den absurden und waltung der Ghettos übertragen worden war. auch der produktivsten Arbeiter immer mehr, und schließlich fi elen Häftlingstod und Zwangsarbeit. zugleich mörderischen Versuch, die deutsche Rüstungsindustrie in In manchen Ghettos versuchten die in jeglicher Hinsicht von den auch sie den Selektionen zum Opfer. Zudem war der SS nach dem Die Konzentrationslager seit 1942/43 bombensichere unterirdische Räume zu verlegen, um die Rüstungs- Besatzungsbehörden abhängigen Judenräte möglichst viele Ghetto- Ghettoaufstand in Warschau seit 1943 daran gelegen, die Ghettos fertigungen für die alliierten Bomberfl otten unangreifbar zu machen. bewohner in produktiver Arbeit für die deutsche Kriegswirtschaft möglichst schnell aufzulösen – und das hieß, die noch lebenden Die Überstellung der 19.000 als »arbeitsfähig« gemusterten Juden, Koordiniert durch das Reichsministerium für Rüstung und zu halten, um auf diese Weise erstens Nahrungsmittellieferungen Bewohner in die Vernichtungslager zu deportieren. So geschah es die im August 1944 von Litzmannstadt nach Auschwitz gebracht Kriegsproduktion, dessen Chef, Albert Speer, Mittelbau-Dora im ins Ghetto sicherzustellen und damit das Überleben der Bewohner auch im Ghetto Litzmannstadt, dessen »Judenältester« Chaim Rum- und dort auf KZ-Außenlager verteilt wurden, in denen sie Zwangs- Dezember 1943 inspiziert hatte, begann man im Frühjahr 1944 über- zu sichern und zweitens den deutschen Behörden die Einsicht zu kowski verzweifelt auf »Rettung durch Arbeit« gehofft hatte.17 Seit arbeit für die Rüstungsindustrie leisten mussten, verweist auf die all im Reichsgebiet mit der Schaffung neuer Untertageanlagen, ins- vermitteln, dass die Ghettoarbeiter für die deutsche Rüstungswirt- ökonomische Zielsetzung der KZ-Arbeit in der zweiten Kriegs- besondere für die Flugzeugproduktion, die unter größtem Zeitdruck schaft unverzichtbar seien. Das deckte sich mit den Planungen der hälfte – eine Reaktion des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes deutschen Ghettoverwaltungen, die »Arbeitsghettos« vorsahen, in auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel nach dem Scheitern der denen nahezu alle Bewohner »produktive« Arbeit für die Wehrmacht 17 Zum Ghetto Litzmannstadt vgl. Andrea Löw, Juden im Ghetto Litzmannstadt. Le- und für Rüstungsunternehmen verrichteten und ihre Ernährung selbst bensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006; sowie Peter 19 Vgl. Marc Buggeln, Das System der KZ-Außenlager. Krieg, Sklavenarbeit und Klein, Die Ghettoverwaltung Litzmannstadt 1940–1944. Eine Dienststelle im Massengewalt, Bonn 2012. erwirtschafteten. Die Ziele der deutschen Ghettoverwaltungen und Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, 20 Vgl. Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göt- der Judenräte waren jedoch grundverschieden: Während es Ersteren Hamburg 2009. 18 Vgl. Löw, Juden, S. 498. tingen 2001.

24 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 25 vorangetrieben wurde. Teils wurden Natur- Außenlager weitergeleitet – berufl ich Qualifi zierte und körperlich Fazit höhlen und vorhandene Tunnel- und Stollen- noch einigermaßen Leistungsfähige in Produktionskommandos der anlagen zu Untertagefabriken umgebaut, zum Rüstungsindustrie, alle anderen in die Baukommandos, in denen eine Wie in den Ghettos brachte die Zwangsarbeit für die Rüstung in den größeren Teil sollten die Untertage- und Bun- Lebenserwartung von einigen Wochen, allenfalls wenigen Monaten Konzentrationslagern nicht die Rettung, sondern den Tod. Und das keranlagen aber erst noch geschaffen werden herrschte. Wer in den Außenlagern selbst nach SS-Kriterien nicht Organisationsprinzip von Ausbeutung, Selektion und Ermordung – ein Unterfangen, dessen Realisierung von mehr arbeitsfähig war, wurde im Austausch gegen neue Häftlinge in war immer dasselbe: Wer abgearbeitet war und als »arbeitsunfähig« Beginn an nicht zuletzt wegen des nahenden das Hauptlager zurückgeschickt. In fast allen Hauptlagern richtete ausgemustert wurde, hatte keine Chance mehr auf das Überleben. Kriegsendes vollkommen illusorisch war. die SS aus diesem Grund seit 1943 Sterbezonen ein, in denen sie die Allerdings gab es auch Unterschiede. Bei den Straßenbauarbeiten Die meisten Bunker- und Untertageanlagen Häftlinge, deren Arbeitskraft nicht mehr ausgebeutet werden konnte, durch jüdische Zwangsarbeiter und in den Ghettos war seitens der wurden daher auch nie fertiggestellt. weitgehend sich selbst überließ, so etwa im »Kleinen Lager« im KZ deutschen Behörden immer klar, dass die Zwangsarbeiter früher oder Als Arbeitskräfte wurden neben aus- Buchenwald, im früheren »Jugendschutzlager« Uckermark im KZ später sterben sollten. Die Arbeit war Teil des Mordprogramms. Die ländischen Zwangsarbeitern und Kriegs- Ravensbrück, im »Sanitätslager« im KZ Mauthausen oder in großen KZ-Häftlinge, die überwiegend keine Juden waren, sollten hingegen gefangenen vor allem KZ-Häftlinge ein- Teilen des KZ Bergen-Belsen.23 nicht unbedingt sterben. Ihr Tod wurde einkalkuliert, aber nicht ange- gesetzt, für die in der Nähe der Baustellen Durch das System der räumlichen Segregation und der ständigen strebt. Allerdings trafen weder die SS noch die Firmen angesichts des KZ-Außenlager eingerichtet wurden. Ende Selektionen löste die SS den vermeintlichen Widerspruch zwischen nahenden Kriegsendes und des damit einhergehenden Verzichts auf 1944 arbeiteten über 270.000 KZ-Häftlinge, Vernichtung und Arbeit weitgehend auf, indem sie die Faktoren den Erhalt von Ressourcen irgendwelche Vorkehrungen, die Arbeits- darunter zahlreiche ungarische Juden, unter Erhalt der Arbeitskraft und Vernichtung gleitend dem jeweiligen kraft der KZ-Häftlinge und damit ihr Leben mittel- oder gar langfristig mörderischen Bedingungen auf den unter- Wert anpasste, den sie der Arbeitskraft der Häftlinge sowohl nach zu erhalten. Darin ist das eigentliche Wesen der »Ökonomisierung« und oberirdischen Baustellen, die von SS- dem Charakter ihrer Arbeit als auch nach rassistischen Kriterien der KZ-Zwangsarbeit in den letzten zwei Kriegsjahren zu sehen: Sie und OT-Baustäben geleitet wurden.21 Etwa beimaß. Adam Tooze hat dieses Prinzip treffend auf den Punkt ge- führte zur Angleichung der Überlebenschancen von Häftlingsgruppen, die gleiche Anzahl von Häftlingen musste bracht: »Dieser ständige Prozess aus Selektion und Austausch war die in der rassistischen SS-Hierarchie eigentlich unterschiedlich ange- zu diesem Zeitpunkt Zwangsarbeit in Rüs- die Essenz des gesamten KZ-Arbeitssystems.«24 siedelt waren, etwa von Franzosen, an die hoffnungslosen Bedingun- tungsbetrieben leisten. Die ältere Diskussion um den Primat von Ideologie oder Öko- gen, unter denen Sinti und Roma oder Juden litten. Während Letztere Während die Arbeitsbedingungen in nomie, die der Forschung über die NS-Konzentrationslager wichtige sterben sollten, wurde der Tod der Franzosen nur einkalkuliert. Im den Rüstungsbetrieben (zu denen im Übri- Impulse gegeben hat, erscheint vor diesem Hintergrund in Bezug auf ersten Fall war es ein intentionales Mordprogramm, im zweiten reiner gen die meisten Frauen-Außenlager gehör- Tote und sterbende Häftlinge im von amerikanischen Soldaten befreiten Außenlager Boelcke-Kaserne des die KZ-Zwangsarbeit als überfl üssig. Das ist sie vor allem, wenn sie Utilitarismus. Das Ergebnis war in beiden Fällen das Massensterben. ten) überwiegend vergleichsweise erträglich KZ Mittelbau-Dora, April 1945 (nach der Befreiung des Lagers durch amerikanische Truppen). fälschlicherweise die Begriffe Arbeit und Vernichtung geradlinig den Auf der Grundlage der NS-Ideologie bildeten Rassismus und waren, galten die Außenlager der Verlage- Foto: National Archives, Washington Feldern der Ökonomie und der Ideologie zuordnet, die sich ihrerseits Utilitarismus ein sich dem Kriegsverlauf anpassendes Spannungs- rungsprojekte – wie alle Bau-KZ – als To- vielfach überlappen und einander bedingen. Erschwerend kommt feld, in dem die Zwangsarbeit organisiert und wesentlich durch deskommandos. Zum einen lag das an der hinzu, dass vielfach mit einem positiv konnotierten Ökonomiebe- die Prinzipien der Segregation und Selektion gestaltet wurde. Am körperlich harten Arbeit selbst, zum anderen an der Ersetzbarkeit auf die Verhältnisse in den Lagern 1944 – unzutreffend, denn er griff argumentiert wird, der ausschließt, dass auch eine Abkehr von Ende dieses Prozesses drohte immer die Vernichtung – entweder der KZ-Bauarbeiter. In Rüstungsbetrieben eingesetzte Häftlinge suggeriert eine Programmatik, die es nicht gegeben hat. Außerdem Reproduktionsinteressen an der Arbeitskraft ökonomisch motivier- aus rassistischen Gründen oder wegen körperlicher Erschöpfung waren berufl ich meist qualifi ziert und mussten über einen längeren stammt der Quellenbegriff aus einem ganz anderen Zusammenhang, te Aspekte haben kann. Tatsächlich entwickelten die SS und die und damit einhergehender Arbeitsunfähigkeit. Dies betraf jüdische Zeitraum eingearbeitet werden. Ihr Verlust hätte einen ökonomischen nämlich der Überstellung von Gefängnisinsassen in die Konzentra- mit ihr zusammenarbeitenden Unternehmen auf der ideologischen Zwangsarbeiter/-innen ebenso wie Sinti und Roma, sowjetische Schaden bedeutet, also achteten SS und Firmenleitungen darauf, tionslager im Herbst 1942.22 Grundlage des Rassismus und des Antisemitismus und zugleich Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und seit 1943 auch zivile polnische dass die Arbeitskraft zumindest der als Facharbeiter bezeichneten Mit den ausufernden Außenlagerkomplexen wandelten sich radikalisiert durch situative, kriegsbedingte Faktoren ein System der und sowjetische Zwangsarbeiter/-innen – man denke nur an den Häftlinge annähernd erhalten blieb. Ganz anders war es bei den schrittweise auch das Erscheinungsbild und die Funktion der Haupt- KZ-Zwangsarbeit, das den Gegensatz zwischen Arbeit und Vernich- Umgang mit Schwangerschaften und ausländischen Neugeborenen26 berufl ich meist nicht qualifi zierten »Bauhäftlingen« (so der Quellen- lager, die zunehmend zu Drehscheiben des Häftlingsverschubs tung in perfi der Weise weitgehend aufhob. In den Konzentrations- oder die gezielte Ermordung nicht mehr arbeitsfähiger »Ostarbeite- begriff): Sie galten als ersetzbar, also ließ man sie sich bis zum Tode wurden. Unmittelbar nach der Ankunft und der Registrierung in lagern bewirkte das seit 1943 einen sich ständig beschleunigenden rinnen« in den Euthanasieanstalten.27 Letztere Fälle sind aber bislang abarbeiten, denn Nachschub schien ja in großer Zahl bereitzustehen. den Hauptlagern wurden die neu eintreffenden Transporte in die Durchlauf, der zuvor unbekannte Todeszahlen produzierte. Etwa nur ansatzweise erforscht. Angesichts der horrenden Todesraten – in manchen Lagern star- drei Viertel der insgesamt 700.000 bis 800.000 seit 1933 getöteten ben innerhalb weniger Monate zwei Drittel aller Häftlinge – scheint KZ-Häftlinge (nicht mitgezählt sind die mindestens 1,1 Millionen es auf den ersten Blick berechtigt zu sein, von »Vernichtung durch 22 Vgl. Jens-Christian Wagner, »Das Außenlagersystem des KL Mittelbau-Dora«, Toten der Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Majdanek) 26 Raimond Reiter, Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg. 25 Arbeit« zu sprechen. Analytisch ist dieser Begriff jedoch – bezogen in: Ulrich Herbert u. a. (Hrsg.), Konzentrationslager, S. 707–729, hier S. 718 ff. starben erst im letzten Kriegsjahr. Zum Spannungsverhältnis von kriegswirtschaftlichem Arbeitseinsatz und natio- Unter den als Sicherungsverwahrten an die Konzentrationslager überstellten nalsozialistischer Rassenpolitik in Niedersachsen, Hannover 1993; zusammen- Häftlingen war die Todesrate allerdings so hoch, dass hier tatsächlich von Ver- fassend Spoerer, Zwangsarbeit, S. 205–209. nichtung durch Arbeit gesprochen werden kann, vgl. ders., »›Vernichtung durch 27 Vgl. Andreas Heusler, »Die Eskalation des Terrors. Gewalt gegen ausländische Arbeit?‹ Sicherungsverwahrte im KZ Mittelbau-Dora«, in: Beiträge zur Ge- 23 Vgl. Orth, System, S. 260 ff. Zwangsarbeiter in der Endphase des Zweiten Weltkrieges«, in: Cord Arendes u. a. 21 Zur Geschichte der ungarischen Juden vgl. Götz Aly, Christian Gerlach, Das letz- schichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 11 (2009), 24 Tooze, Ökonomie, S. 613. (Hrsg.), Terror nach innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttin- te Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden, Stuttgart 2002. S. 84–93. 25 Vgl. Orth, System, S. 343–350. gen 2006, S. 172–182.

26 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 27 rassenhygienischen Theorien und Arbeitsethos zu erläutern, die (14. Juli 1933)11 und den verschiedenen Formen der extralegalen In- praktischen Verfolgungsmaßnahmen sowie die Rechtsgrundlagen ternierung von Personen, die nicht in das Bild des »wertvollen Volks- darzulegen, auf die sich das Vorgehen gegen »Nichtarbeit«5 stützte. genossen« passten, knüpfte das NS-Regime an diese Konzepte an.12 Jedoch stand die praktische Umsetzung des eugenischen Ras- sismus von jeher vor einer zentralen Schwierigkeit: Im Gegensatz Die nationalsozialistische »Volks«- und »Leistungsgemeinschaft« zu den Zielgruppen des ethnischen Rassismus, die sich relativ leicht Leistung, »Nichtarbeit«, Ausschluss anhand von Kriterien wie dem Herkunfts- bzw. Geburtsland, dem Detlev Peukert beschrieb als einer der ersten Historiker die Verfol- Glaubensbekenntnis oder dem Stammbaum bestimmen ließen, fi el Die Verhängung von KZ-Haft gegen gung von »Arbeitsscheuen« als intrinsisches Element des nationalso- die Identifi zierung der »minderwertigen«, aber dennoch »arischen zialistischen Rassismus. Dieser habe ein Modell für die »Neuordnung Volksgenossen« ungleich schwerer. Wie bereits erwähnt, verortete »Arbeitsscheue« 1933 bis 1937/38 der Gesellschaft«6 geboten, das auf der Aussonderung aller normab- man die Ursache der »Minderwertigkeit« im Erbgut oder im Blut, weichenden Elemente beruhte. Ziel war die Schaffung einer »ras- in Eigenschaften also, die äußerlich unsichtbar waren. sisch« und sozial homogenen »völkischen Leistungsgemeinschaft«.7 Um dennoch zwischen »minderwertigen« und »wertvollen von Julia Hörath Peukert unterschied zwei Varianten, den ethnischen und den Volksgenossen« unterscheiden zu können, griff man in der Pra- eugenischen Rassismus. Während sich Ersterer nach »außen«, gegen xis auf das Sozialverhalten, insbesondere die Leistungsbereitschaft Der NS-Staat forderte von seinen Bürgern »artfremde« Individuen und Gruppen richtete, zielte der eugenische zurück, die sich nach Ansicht der Zeitgenossen im »deutsche[n] die unbedingte Bereitschaft, ihre Leistungs- Rassismus nach »innen«, auf die Angehörigen der »arischen« Rasse,8 Arbeitsgeist«13 bzw. in dessen negativem Gegenbild, der »Nicht- fähigkeit auszuschöpfen und in den Dienst die er in »Wertvolle« und »Minderwertige« unterteilte. Maßstab war arbeit« oder »Arbeitsscheu«, manifestierte. Die Einschätzung des der »Volksgemeinschaft« zu stellen. Ver- der »Erbwert« des Individuums für den als organische Einheit ge- »Erbwerts« einer Person hing also wesentlich von deren Fähigkeit 14 Julia Hörath, Dipl.-Pol., studierte stöße gegen diese totale Arbeits- und Leistungspfl icht waren mit dachten »Volkskörper«. Auf diese Weise wurden missliebige soziale oder Bereitschaft ab, die Arbeits- und Leistungsnormen zu erfüllen. Politikwissenschaft und Geschichte harschen Sanktionen belegt, die schon im ersten Jahr der NS-Herr- Verhaltensweisen »erbbiologisch« defi niert und zum Gegenstand von Die diskursiven Anknüpfungspunkte des Konzepts der »deut- an den Universitäten Osnabrück und schaft bis zur KZ-Einweisung reichen konnten. Allerdings folgte die »sozialtechnischen« Lösungsangeboten gemacht.9 schen Arbeit« und ihrer negativen Gegenbilder lassen sich bis zu den Berlin. Sie war PhD-Studentin im Arbeitsdisziplinierung qua KZ-Haft keinem zentralen Plan, sondern Während die »wertvollen Volksgenossen« durch Maßnahmen der Schriften Martin Luthers zurückverfolgen, der den »deutschen Volks- Projekt »Before . Con- wurde von lokalen Akteuren eigenverantwortlich durchgeführt. An- positiven Eugenik gefördert werden sollten, wollte man die Fortpfl an- charakter« für besonders geeignet hielt, Arbeit im Sinne von »Berufs- centration Camps in Nazi Germany, gesichts der Vielzahl der Akteure und ihrer jeweiligen Politikziele zung »Minderwertiger« durch negative Eugenik verhindern. Sterilisati- arbeit« zu verrichten.15 In dieser Tradition stehend schrieb Wilhelm 1933–1939« am Birkbeck College/ war auch die Art der ergriffenen Maßnahmen überaus heterogen.1 on und Internierung galten dabei traditionell als die beiden wichtigsten Heinrich Riehl 1861 der »deutschen Arbeit« eine besondere »sittliche University of London, arbeitet als Erst der »Grundlegende Erlass über die vorbeugende Verbrechens- Instrumente. Die Einführung entsprechender Gesetze war in der Wei- Hoheit« zu.16 Demgegenüber ging man davon aus, das »arbeits- freie Mitarbeiterin der Arbeitsstelle bekämpfung durch die Polizei«2 schuf am 14. Dezember 1937 eine marer Republik jedoch aufgrund rechtsstaatlicher Bedenken geschei- scheue« Verhalten gleiche einem »krankhaften Fäulnisvorgange«,17 Nationale und Internationale Ge- reichsweit gültige Rechtsgrundlage. Die sich daran anschließenden tert.10 Mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« der auch die gesunden Teile des »Volkskörpers« anzustecken drohe: werkschaftspolitik an der FU Berlin Massenverhaftungen sind vergleichsweise gut dokumentiert.3 Daher »In der schweren Form der Arbeitsscheu«, schrieb Georg Hirsch 1931, und als Lehrbeauftragte am Institut werden sich die folgenden Ausführungen auf die kaum untersuchte »wird die Faulheit im Volk als Gefährdung des Volkslebens ange-

für Geschichtswissenschaften der HU Frühphase der Verfolgung von »Arbeitsscheuen« zwischen 1933 5 Zum Begriff »Nichtarbeit« als Gegenbild der idealisierten »deutschen Arbeit« Berlin. Ihre Dissertation über die KZ- und 1937/38 konzentrieren.4 Ziel ist es, den Zusammenhang von vgl. Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern, Bd. 2, 3. Aufl ., Einweisungen von »Asozialen« und Leipzig 1855. Im Folgenden wird statt »Nichtarbeit« hauptsächlich der Ausdruck »Berufsverbrechern« (1933–1937/38) »Arbeitsscheu« verwendet, der die Terminologie der Verfolgungsbehörden domi- nierte. 11 Vgl. Udo Benzenhöfer, Zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 6 Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze Nachwuchses, Münster u. a. 2006. 2013 ausgezeichnet. 1 Vgl. Julia Hörath, »Terrorinstrument der ›Volksgemeinschaft‹? KZ-Haft für und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 246. 12 Vgl. Ingrid Tomkowiak, »›Asozialer Nachwuchs ist für die Volksgemeinschaft Veröffentlichungen (Auswahl): »›Ar- ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ 1933 bis 1937/38«, in: Zeitschrift für Ge- 7 Vgl. Günter Morsch, Arbeit und Brot. Studien zu Lage, Stimmung, Einstellung vollkommen unerwünscht‹. Eugenik und Rassenhygiene als Wegbereiter der Ver- beitsscheue Volksgenossen‹. Leis- schichtswissenschaft, Jg. 60 (2012), H. 6, S. 513–532. und Verhalten der deutschen Arbeiterschaft 1933–1936/37, Frankfurt am Main folgung gesellschaftlicher Außenseiter«, in: Dietmar Sedlaczek u. a. (Hrsg.), 2 Im Folgenden »Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung« oder 1993, S. 33–38. »minderwertig« und »asozial«. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Au- tungsbereitschaft als Kriterium der »Grunderlass«. 8 Detlev Peukert, »Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches«, in: ßenseiter, Zürich 2005, S. 33–50. Inklusion und Exklusion«, in: Marc 3 Vgl. Wolfgang Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Thomas Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3 (1987), S. 142–153, hier S. 148; ders., »Die 13 Wilhelm Heinrich Riehl, Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861. Vgl. Sebastian Buggeln, Michael Wildt (Hrsg.), Ar- Roth, »Verbrechensbekämpfung« und soziale Ausgrenzung im nationalsozialisti- Genesis der ›Endlösung‹ aus dem Geiste der Wissenschaft«, in: Siegfried Blasche Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, beit im Nationalsozialismus, München schen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen u. a. (Hrsg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins. Chance oder Ge- S. 279–316; Peukert, Volksgenossen, S. 246, 256 f. Machtübernahme und Kriegsende, Köln 2010; Patrick Wagner, Volksgemein- fährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, 14 Vgl. Julia Hörath, »›Arbeitsscheue Volksgenossen‹. Leistungsbereitschaft als Kri- (erscheint demnächst); Kontinuitäten schaft ohne Verbrecher. Konzeption und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit Bad Homburg 1988, S. 24–48; ders., Volksgenossen, S. 247–279. terium der Inklusion und Exklusion«, in: Marc Buggeln, Michael Wildt (Hrsg.), und Brüche. Neue Perspektiven auf der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996. 9 Vgl. ders., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frank- Arbeit im Nationalsozialismus, München 2013, S. 309–328. die Geschichte der NS-Konzentrati- 4 Der vorliegende Artikel baut auf den Ergebnissen meiner Dissertation auf, die furt am Main 1987, S. 138, 142. 15 Vgl. Andrea Woeldike, »Die ›Gesundung des Volkskörpers durch Arbeit‹«, in: onslager, Berlin 2011 (hrsg. zusam- dieses Desiderat adressiert. Vgl. Julia Hörath, Experimente zur Kontrolle und Re- 10 Vgl. Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kri- Sedlaczek u. a. (Hrsg.), »minderwertig«, S. 11–30, hier S. 12. pression von Devianz und Delinquenz. Die Einweisung von »Asozialen« und minologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2004; 16 Riehl, Arbeit, S. 3. Vgl. Freytag, Soll, Bd. 2, 3. Aufl . men mit Christiane Heß, Dominique »Berufsverbrechern« in die Konzentrationslager 1933 bis 1937/38, Berlin (unver- Matthias Willing, Das Bewahrungsgesetz (1918–1967). Eine rechtshistorische 17 Georg Hirsch, Charakterologische Studien über die Faulheit, Halle an der Saale Schröder und Kim Wünschmann). öff. Diss.). Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge, Tübingen 2003. 1931, S. 8.

28 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 29 sehen«.18 Abhilfe schaffen konnte nach Ansicht der Rasseexperten nur verwalteten Lager ab 1934/36 ein persönliches Machtinstrument dar. Haftstrafen und gegebenenfalls zu anschließender Arbeitshausun- die Isolierung der »Arbeitsscheuen«. Auftrieb erhielten die Diskurse Nicht selten war ein regionaler Herrschaftsträger in Personalunion terbringung. Andere lieferte man in eigens errichtete »Bettlerlager« über »deutsche Arbeit«, »Nichtarbeit« und »Arbeitsscheu« gegen oberste Instanz im Einweisungsverfahren und Dienstaufsichtsbe- oder in die frühen KZ ein.30 Ende der Weimarer Republik durch den völkischen Flügel der Ar- hörde der Lagerleitung. Ob ein frühes KZ der Zerschlagung der In den folgenden Monaten ist dann gleichermaßen eine Normali- beitsdienstbewegung und Schriften wie Ernst Jüngers Der Arbeiter.19 politischen Opposition oder auch der »Erziehung« von »Arbeits- sierung und eine Radikalisierung der Haftpraxis zu beobachten. Zum Traditionell trafen das Stigma »Arbeitsscheu« und die daran ge- scheuen« dienen sollte, hing von den Interessen seiner Betreiber ab:24 einen ging die KZ-Einweisung von Bettlern und Landstreichern in knüpften Repressionen in erster Linie die Angehörigen jener sozialer So begründete die Bayerische Politische Polizei die Verhängung von das routinemäßige Verwaltungshandeln von Wohlfahrtsbehörden, Randgruppen,20 die man im Behördenjargon auch als »Asoziale« »Schutzhaft« schon im April 1933 mit Formeln wie »arbeitsscheuer Wanderfürsorge, Polizei und Landräten über. Zum anderen weitete bezeichnete: Bettler, Landstreicher, »säumige Unterhaltszahler«, Al- Mensch und Taugenichts« oder »übelberüchtigter Mensch, […] ohne man die KZ-Haft auf andere Formen von Devianz und Kleinkrimina- koholiker und mitunter auch fahrende Gewerbetreibende, Wander- und festen Wohnsitz«.25 lität aus: In Erfurt führte die Polizei unmittelbar nach dem offi ziellen Saisonarbeiter. Auch Prostituierte und Zuhälter galten als »arbeits- Im Verlauf des Sommers 1933 kam es dann überall im Reichs- Ende der »Bettlerwoche« im örtlichen Schlachthof eine Razzia gegen scheu«, da sie ihr Brot im Sexgewerbe statt durch »ehrliche« Arbeit gebiet zu »Schutzhaftverhängungen« gegen Personen, denen man Schwarzarbeiter durch,31 und in Hamburg wies die Polizeidirektion verdienten. Selbst in der Konstruktion zentraler kriminologischer vorwarf, die Arbeits- und Leistungsnormen nicht zu erfüllen. Manch die untergeordneten Dienststellen an, Zuhälter künftig im KZ Witt- Verfolgungskategorien wie denen des »Gewohnheits«- und des »Be- örtlicher Entscheidungsträger erklärte die »Inschutzhaftnahme« von moor zu inhaftieren.32 Die Zielgruppen der Repression schienen sich rufsverbrechers« spielte das »arbeitsscheue Verhalten« eine Rolle.21 Bettlern und Landstreichern sogar ausdrücklich zum Politikziel. also nach den lokalspezifi schen sozialen Problemlagen bzw. nach Beide Gruppen galten traditionell als »arbeitsscheu«. Die erste ent- Verfolgung von Roma und Sinti, 3.8.1944: Häftlings-Personal-Karte des norwegischen den Interessen der Verantwortlichen zu richten. sprechende Anordnung stammt aus der Feder des Landrats in Görlitz, Häftlings Zolo Karoly im KZ Buchenwald, der aus dem KZ Auschwitz überstellt Im April 1934 schoben die »Schutzhafterlasse« des Reichsin- Der Auftakt der Verfolgung von »Arbeitsscheuen« Niederschlesien. Dieser ordnete am 18. Juli 1933 an: wurde. Als Grund der Verhaftung ist angegeben: Arbeitsscheu. Foto: Scherl/SZ Photo nenministeriums dieser Entwicklung einen Riegel vor, indem sie die »Schutzhaft« auf politisch begründete Fälle beschränkten.33 Doch Da die Gründungsgeschichte der frühen KZ als bekannt vorausge- »dass alle durchreisenden Wanderer, die beim Betteln ange- wichen die regionalen Behörden bald auf andere Rechtsgrundlagen setzt werden kann,22 sei hier nur auf einen Aspekt verwiesen, der troffen werden oder die öffentliche Fürsorge […] in Anspruch »Zu bemerken ist, dass S. der Polizei in Eutin als Faulenzer und aus, um Personen, die sie der »Arbeitsscheu« bezichtigten, in die im Zusammenhang mit ihrem Einsatz als Orte der Exklusion von nehmen, von den Ortspolizeibehörden in Schutzhaft zu nehmen ganz roher Patron bekannt ist. S. hält sich seit Jahren in Eutin KZ zu sperren. Neben der KZ-Einweisung sind zwei weitere Ent- »Arbeitsscheuen« von Bedeutung ist: Zentrale Merkmale der frühen und dem Konzentrationslager in Posottendorf-Leschwitz zuzu- auf, er liegt hier ständig der Wohlfahrt zur Last. Er war nur unter wicklungspfade der Haftpraxis zu beobachten, die hier aber nicht KZ waren die gravierenden Unterschiede in ihrer organisatorischen führen sind, sofern sie den Eindruck von Vagabunden […] und sehr schwierigen Umständen zur Pfl ichtarbeit heranzuziehen, er weiter verfolgt werden sollen: die Internierung von »arbeitsscheuen« Ausgestaltung. Es gab Lager, die ausschließlich der SA oder SS un- politischen Verdächtigen machen«.26 arbeitete höchstens einige Tage, dann meldete er sich krank oder Wohlfahrtshilfeempfängern in eigens errichteten Fürsorgelagern und terstanden, einige waren den Länderverwaltungen angegliedert, über hatte sonstige Einwendungen vorzubringen. […] Polizeilicher- die »Bewahrung« ohne »Bewahrungsgesetz«.34 andere führten die örtlichen Polizeipräsidenten die Dienstaufsicht.23 Zu ähnlich begründeten »Schutzhaftverhängungen« kam es im Juni/ seits musste ständig gegen ihn eingeschritten werden. […] Eine Aufgrund der Heterogenität ihrer Administration stellten die Juli 1933 im NSDAP-Gau Schleswig-Holstein. Dort nahm man Unterbringung im Konzentrationslager wird daher für dringend frühen KZ weit mehr als die von der Inspektion der Konzentrations- einen Postbeamten in »Schutzhaft«, nachdem die Reichspost ihn angebracht gehalten.«28 Die Rechtsgrundlagen der KZ-Einweisungen lager (unter Leitung von SS-Oberführer Theodor Eicke) einheitlich aufgrund seines »schlechten Lebenswandels«27 entlassen hatte. In von »Arbeitsscheuen« 1934 bis 1937/38 einer anderen »Schutzhaftanordnung« hieß es: Während sich in einigen Regionen erste Ansätze zur Verstetigung der Arbeitsdisziplinierung qua »Schutzhaft« zeigten, nahmen überall im Personen, die als »Arbeitsscheue« in das Visier der Verfolgungsbe- Reich die Forderungen nach einem verschärften Vorgehen gegen Bett- hörden gerieten, gelangten auf mehreren Wegen in die KZ. In der 18 Ebd., S. 9. Hirsch bezog sich hier auf den »volkstümlichen Begriff der Faulheit«, ler und Landstreicher zu. Am 12. Juli 1933 schaltete sich dann erstmals Anfangsphase des NS-Regimes wurden sie ebenso wie die politi- den er selbst kritisch-distanziert betrachtete. 24 Vgl. Hörath, Volksgenossen; dies., »Terrorinstrument«. eine Zentralinstanz, das Reichsministerium für Volksaufklärung und schen Gegner Hitlers in »Schutzhaft« genommen. Daneben lassen 19 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932. Vgl. Michael 25 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) München, MInn 73690, Verzeichnis 35 H. Kater, »Die Artamanen. Völkische Jugend in der Weimarer Republik«, in: der Schutzhaftgefangenen in Bayern, 1.8.1933. Propaganda (RMfVP), in die Bekämpfung des »Bettelunwesens« ein. sich Fälle nachweisen, in denen die Gestapo »Heimtückevergehen« Historische Zeitschrift, H. 213 (1971), S. 577–638; Kiran Klaus Patel, »Soldaten 26 Stadtarchiv Görlitz, Akte KZ Weinhübel, Schreiben des Landrates Görlitz, Es regte an, »schlagartig in einer bestimmten Zeitspanne mit Aufge- der Arbeit«. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 18.7.1933. Im Sommer 1933 fi nden sich in den »Schutzhaftanordnungen« auf- bot aller Polizeikräfte sämtliche bettelnde Personen«29 zu verhaften. 2003. grund von »Arbeitsscheu« häufi g auch Verweise auf eine regimefeindliche politi- Das war das Startsignal für die Vorbereitung der »Bettlerrazzia«: 20 Detlev Humann zeigt, dass sich im Nationalsozialismus die Verfolgung wegen sche Betätigung. Das ist vermutlich darin begründet, dass die »Notverordnung 30 Vgl. ders., Asoziale, S. 19–47. Verstößen gegen die Arbeits- und Leistungsnormen auch gegen Angehörige ande- zum Schutz von Volk und Staat« (28. Februar 1933) die »Abwehr kommunisti- Vom 18. bis zum 24. September 1933 durchkämmte die Polizei, 31 Erfurter Nachrichten, 28.9.1933, zit. nach Sascha Münzel, Eckart Schörle, Erfurt rer Gesellschaftsschichten richten konnte. Vgl. Detlev Humann, »Ordentliche Be- scher staatsgefährdender Gewaltakte« zur Anordnungsvoraussetzung des extrale- unterstützt von SA und SS, Treffpunkte, Herbergen, Nachtasyle Feldstraße. Ein frühes Lager im Nationalsozialismus, Erfurt 2012, S. 77. schäftigungspolitik? Unterstützungssperren, Drohungen und weitere Zwangsmit- galen Freiheitsentzugs machte. Vgl. Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 17 (1933), und Wanderhöfe und verhaftete weit über 10.000 Bettler und Land- 32 Vgl. Henning Timpke, »Das KL Fuhlsbüttel«, in: Hans Rothfels, Theodor tel bei der ›Arbeitsschlacht‹ der Nationalsozialisten«, in: Vierteljahrshefte für S. 83. Hinzu kam, dass Kommunisten und Anarchisten vor 1933 versucht hatten, streicher. Einige von ihnen verurteilten die Amtsgerichte zu kurzen Eschenburg (Hrsg.), Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Stuttgart Zeitgeschichte, H. 1 (2012), S. 33–67, hier S. 61–66. die Vagabunden als revolutionäre Kraft zu gewinnen. Bettler und Landstreicher 1970, S. 11–28, hier S. 18. 21 Vgl. Hörath, Volksgenossen, S. 320–325. galten daher per se als »kommunistisch infi ltriert«. Vgl. Walter Fähnders, »Vaga- 33 Vgl. Carina Baganz, Erziehung zur »Volksgemeinschaft«. Die frühen Konzentra- 22 Vgl. Klaus Drobisch, Günter Wieland, Das System der NS-Konzentrationslager bondage und Vagabundenliteratur«, in: ders. (Hrsg.), Nomadische Existenzen. Va- tionslager in Sachsen 1933–1934/37, Berlin 2005, S. 73–78; Drobisch, Wieland, 1933–1939, Berlin 1993; Angelika Königseder, »Die Entwicklung des KZ- gabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts, Essen System, S. 36. Systems«, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. 2007, S. 33–54, hier S. 42–50. 28 Ders., Kleinstadt und Nationalsozialismus. Ausgewählte Dokumente zur Ge- 34 Vgl. Ayaß, Asoziale, S. 57–100. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, S. 30–42. 27 Zit. nach Lawrence D. Stokes, »Das Eutiner Schutzhaftlager 1933/34. Zur Ge- schichte von Eutin 1918–1945, Neumünster 1984, S. 514. 35 Vgl. Bernward Dörner, »Heimtücke«. Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschre- 23 Vgl. Johannes Tuchel, »Organisationsgeschichte der ›frühen‹ Konzentrationsla- schichte eines ›wilden‹ Konzentrationslagers«, in: Vierteljahrshefte für Zeitge- 29 Schreiben des RMfVP, 12.7.1933, zit. nach Wolfgang Ayaß, »Gemeinschaftsfrem- ckung und Verfolgung in Deutschland 1933–1945, Paderborn u. a. 1998; Hörath, ger«, in: Benz, Distel, Ort des Terrors, Bd. 1, S. 43–57. schichte, Jg. 27 (1979), S. 570–625, hier S. 620. de«. Quellen zur Verfolgung von »Asozialen« 1933–1945, Koblenz 1998, S. 13. »Terrorinstrument«, S. 518.

30 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 31 nutzte, um Personen zu inhaftieren, die zunächst zwar wegen ei- stützungsbezug zu drängen.41 Eine Verschärfung erfuhr sie zu Beginn durch ihre Verbreitung oder Häufi gkeit. Ihre historische Relevanz »C. ist nach Mitteilung des hiesigen Wohlfahrtsamtes als ar- ner »Heimtückeäußerung« aufgefallen waren, bei denen sich aber der NS-Herrschaft, als einige Städte und Kommunen dazu übergin- ist darin zu sehen, dass sie für die weitere Entwicklung der KZ- beitsscheuer Mensch zu bezeichnen. Für seine Frau und seine während der Ermittlungen zeigte, dass andere Behörden sie schon gen, den § 19 RFV in den erwähnten Fürsorgelagern zu vollstrecken. Einweisungen von »Arbeitsscheuen« wegweisend war. 2 Kinder sorgt er nicht, so dass diese aus öffentlichen Mitteln zuvor als »arbeitsscheu« eingestuft hatten. Mitunter war für die Noch rigidere Maßnahmen zur Exklusion aufgrund von »Nicht- Wie bereits erwähnt, löste Ende 1937 der »Grunderlass vorbeu- unterstützt werden müssen. Die ihm bisher zugewiesene Pfl icht- KZ-Einweisung dann nicht die »Heimtückeäußerung«, sondern die arbeit« praktizierte man in Bayern und Baden: Der § 20 RFV legte gende Verbrechensbekämpfung« die länderrechtlichen Regelungen ab arbeit hat er nie aufgenommen. Er ist dem Trunke ergeben. »Nichtarbeit« ausschlaggebend. die Entscheidung, welche Einrichtungen als »Arbeitsanstalten« im und stellte die Haftpraxis auf eine reichseinheitliche Rechtsgrundlage. Die Unterstützungsgelder werden restlos durchgebracht. Er Einen Sonderfall stellt das Land Baden dar, wo die polizeiliche Sinne des Fürsorgerechts fungieren sollten, in die Hände der Lan- Fortan konnte die Kriminalpolizei neben »Berufs«- und »Gewohn- ist mehrmals vom Wohlfahrtsamt verwarnt worden und wird »Vorbeugungshaft« schon ab dem Frühjahr 1934 auf »arbeitsscheue desregierungen. In der Regel waren das die Arbeitshäuser. In Bayern heitsverbrechern« auch Personen in »Vorbeugungshaft« nehmen, die als der Typ des asozialen verantwortungslosen arbeitsscheuen und asoziale Personen«36 angewendet werden konnte. Vollzugsort erkannte das Innenministerium am 16. Oktober 1934 aber auch das durch ihr »asoziales Verhalten die Allgemeinheit«45 gefährdeten. Am Menschen geschildert.«50 war zunächst das Arbeitshaus, ab 1936 dann das KZ Kislau.37 KZ Dachau als Arbeitsanstalt im Sinne des § 20 RFV an. »Mit der 4. April 1938 konkretisierte eine Durchführungsrichtlinie diese Ziel- Die wichtigste Rechtsgrundlage zur Exklusion »Arbeitsscheuer« Einweisungsmöglichkeit in das Konzentrationslager«, so hieß es, gruppe. Ihr Absatz 9b kann als Inkorporation des § 20 RFV in die »vor- Ab 1939 machten die Kriegs- und Arbeitskräftemobilisierung Ver- bildete aber § 20 der »Reichsverordnung über die Fürsorgepfl icht« »ist den Fürsorgeverbänden ein neues, wirksames Zuchtmittel gegen beugende Verbrechensbekämpfung« gelesen werden. Dort hieß es, als haltensweisen, die wie Vagabondage und Bettelei dem klassischen (RFV).38 Die RFV stammte noch aus der Weimarer Republik und asoziale Personen in die Hand gegeben.« Man erhoffte sich einen »Asoziale« seien Personen anzusehen, »die sich der Pfl icht zur Arbeit Bild der »Nichtarbeit« entsprachen, zunehmend unmöglich. Selbst wurde von den Nationalsozialisten weitgehend unverändert über- doppelten Effekt: Einerseits sollten die Arbeitszwangshäftlinge unter entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit über- diejenigen, denen es in der Vorkriegszeit noch gelungen war, sich nommen.39 Ihr § 20 ermöglichte es den Fürsorgebehörden, Un- den verschärften Bedingungen im KZ an »Ordnung, Zucht und ge- lassen ( […] Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Trunksüchtige).«46 der Arbeits- und Leistungspfl icht zu entziehen, waren in den Ar- terstützungsempfänger, deren Hilfsbedürftigkeit aus »sittlichen« regelte Tätigkeit« gewöhnt werden. Andererseits glaubte man, dass Im April und Juni 1938, bei den beiden Wellen der »Aktion Ar- beitsprozess integriert, kämpften an der Front oder befanden sich Verschulden resultierte, in eine »Arbeitsanstalt« einzuweisen, statt die drohende KZ-Haft auch auf potentiell Betroffene eine »abschre- beitsscheu Reich«,47 kam diese Regelung erstmals in großem Stil zur im KZ. Hatte die Arbeitsdisziplinierung zuvor hauptsächlich auf ihnen Bargeld oder Sachleistungen auszugeben. Der entsprechende ckende Wirkung« ausüben werde.42 Für das KZ Dachau sind bis 1945 Anwendung. Insgesamt überstellten Gestapo und Kripo mindestens soziale Randgruppen gezielt, drohte nun auch Beschäftigen, denen Passus lautete: insgesamt 1.413 Einlieferungen gemäß § 20 RFV nachweisbar.43 10.500 Personen in die Konzentrationslager. Bezugnehmend auf die man aufgrund von Fehlzeiten, »bummeln« oder Nachlässigkeiten Ein knappes Jahr nach dem Vorstoß Bayerns institutionalisierte Zielgruppendefi nition im »Grunderlass« hatte Heinrich Himmler unterstellte, die Rüstungsproduktion zu sabotieren, die Einweisung »Wer obwohl arbeitsfähig infolge seines sittlichen Verschul- auch Baden ein ähnliches Vorgehen. Am 20. August 1935 ernannte den Gestapostellen bereits am 16. Januar 1938 erläutert, wer bei der in ein »Arbeitserziehungslager« der Gestapo.51 dens der öffentlichen Fürsorge selbst anheimfällt oder einen das dortige Innenministerium das Arbeitshaus Kislau, das in seinen geplanten Aktion als »arbeitsscheu« zu verhaften sei: Unterhaltsberechtigten anheimfallen lässt, [kann] […] in einer Räumen auch das erwähnte frühe KZ beherbergte, zum Vollzugsort vom Lande als geeignet anerkannten Anstalt oder sonstigen des fürsorgerechtlichen Arbeitszwangs. Spätestens ab 1936 wurden »Männer im arbeitsfähigen Lebensalter, deren Einsatzfähigkeit in Fazit Arbeitseinrichtung zur Arbeit untergebracht werden, wenn er die Arbeitszwangshäftlinge aber nicht mehr im Arbeitshaus, sondern der letzten Zeit durch amtsärztliches Gutachten festgestellt worden Arbeit beharrlich ablehnt oder sich der Unterhaltspfl icht be- im KZ Kislau untergebracht. Für dieses Jahr ist der Zugang von ist oder noch festzustellen ist, und die nachweisbar in zwei Fällen Der Nationalsozialismus verband die tradierte Idee eines spezi- harrlich entzieht«.40 97 Arbeitszwangshäftlingen belegt.44 In Baden gab es also Mitte der die ihnen angebotenen Arbeitsplätze ohne berechtigten Grund fi sch deutschen Arbeitsethos mit einer radikalen gesellschaftlichen 1930er Jahre zwei rechtliche Möglichkeiten für die KZ-Einweisung abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber nach kurzer Neuordnung nach rassistischen Kriterien. Bei der Unterteilung der In der behördlichen Praxis sah man »sittliches Verschulden« und »be- von »Arbeitsscheuen«: den § 20 RFV, der sich auf Empfänger von Zeit ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben haben.«48 Bevölkerung in »wertvolle Volksgenossen« und »Minderwertige« harrliche« Arbeitsverweigerung zumeist dann als gegeben an, wenn Wohlfahrtsunterstützung beschränkte, und die »Vorbeugungshaft«, bildete die Arbeits- und Leistungsbereitschaft ein zentrales Krite- ein Hilfsbedürftiger angebotene Arbeitsgelegenheiten wiederholt deren Anwendungsbereich keiner solchen Eingrenzung unterlag. Diese Haftkriterien orientierten sich an der Praxis der Wohlfahrts- rium. Die reichsweite Institutionalisierung der »Vorbeugungshaft« ablehnte. Um die Arbeitswilligkeit zu prüfen, nutzten viele Wohl- behörden bei der Verhängung von Pfl ichtarbeit und Arbeitszwang für »Arbeitsscheue« im »Grunderlass vorbeugende Verbrechens- fahrtsbehörden die Verhängung von fürsorgerechtlicher Pfl ichtarbeit gemäß §§ 19 und 20 RFV.49 Mehr noch, nicht selten wurden die bekämpfung« kann als maßnahmenstaatliche Transformation und nach § 19 RFV. Er ermöglichte es, die Unterstützungszahlungen von Die weitere Entwicklung Verhaftungen im Zuge der »Aktion Arbeitsscheu Reich« mit der Entgrenzung überkommener Konzepte der Arbeitsdisziplinierung der Leistung gemeinnütziger Arbeit abhängig zu machen. Diese vorangegangenen Erfolglosigkeit derartiger Maßnahmen begründet. verstanden werden, wie sie schon vor 1933, beispielsweise in Form Praxis kam Anfang der 1930er Jahre vor allem in den Großstädten Die Möglichkeit der KZ-Einweisung gemäß § 20 RFV ist angesichts In einer Haftanordnung der Kripo Duisburg gegen Oskar C., die am von Anstaltsunterbringung nach § 20 RFV, praktiziert worden waren: zur Anwendung, um missliebige Klienten gezielt aus dem Unter- fehlender Regionalstudien bislang nur für Bayern und Baden belegt. 14. Juni 1936 erfolgte, hieß es beispielsweise: Hatte der fürsorgerechtliche Arbeitszwang ausschließlich Wohl- Die Bedeutung dieser Haftpraxis begründet sich aber auch nicht fahrtsempfänger und »säumige Unterhaltszahler« betroffen, war die »Vorbeugungshaft« von derartigen Schranken befreit. Ab 1937/38

45 »Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung«, zit. nach Ayaß, Gemein- drohte die KZ-Einweisung potentiell jedem, auf den sich die unprä- 36 Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe, 233, Nr. 25984, Schreiben des Badischen schaftsfremde, S. 96. zise gefassten, jeder rechtlichen Kontrolle entzogenen Anordnungs- Ministerium des Innern (BaMdI), 9.3.1934. 41 Vgl. Ayaß, Asoziale, S. 57–61. 46 Zit. nach Vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Erlaßsammlung, [Berlin] 1941, voraussetzungen des »Grunderlasses« anwenden ließen. 37 Vgl. Hörath, »Terrorinstrument«, S. 523 f. 42 Vorangegangene Zitate in: BayHStA, MInn 71561, Durchführungsverordnung S. 71. 38 Im behördlichen Sprachgebrauch war die Abkürzung »Reichsfürsorgepfl ichtver- zum Vollzug des § 20 RFV, 22.11.1934. 47 Der Begriff geht zurück auf Hans Buchheim. Vgl. Hans Buchheim, »Die Aktion ordnung« geläufi g. 43 Diese Angabe beruht auf den Einträgen der Häftlingsdatenbank der KZ-Gedenk- ›Arbeitsscheu Reich‹«, in: Hans Buchheim u. a. (Hrsg.), Anatomie des SS-Staa- 39 Die RFV wurde während der Weimarer Republik mehrfach abgeändert. Hier liegt stätte Dachau, Stand August 2012. tes, Olten, Freiburg im Breisgau 1965, S. 189–195. die Fassung von 1932 zugrunde. Vgl. P. A. Baath, Verordnung über die Fürsorge- 44 Vgl. BaMdI, Runderlass (RdErl), 20.8.1935, in: Badisches Gesetz- und Verord- 48 Schreiben Himmlers, 16.1.1938, zit. nach Verbrechensbekämpfung, S. 47. pfl icht vom 13. Februar 1924 einschließlich der für Voraussetzung, Art und Maß nungs-Blatt, Jg. 1 (1935) 39, S. 987 f. BadMdI, RdErl, 23.1.1939, in: Ministerial- 49 Bislang ist der Umstand, dass der Himmler-Befehl auf arbeitsfähige Personen der öffentlichen Fürsorge geltenden Reichsgrundsätze und der Nebengesetze so- blatt für die Badische Innere Verwaltung, Ausgabe A, Jg. 5, Nr. 4 (1939), zielte, als Beleg für eine ökonomische Zielsetzung der Massenrazzien gedeutet 50 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen/Abteilung Rheinland, BR 1111, Nr. 144. wie der einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften, Berlin 1933. S. 120 f. GLA Karlsruhe, 309 Zug. 1996-66, Nr. 108, Tätigkeitsbericht des Be- worden. Als Überblick über die Interpretationen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« 51 Vgl. Gabriele Lofti, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, 40 Ebd., S. 16. wahrungslagers im Berichtsjahr 1936. vgl. Wagner, Volksgemeinschaft, S. 279–292. Stuttgart, München 2000.

32 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 33 Nationalsozialismus zentrale Merkmale kamen dabei in besonderem anfangs zurück, da sie für die allgemeine, gleiche und rein staatlich Maße zum Ausdruck: die phasenweise (aber keineswegs durchgän- organisierte Arbeitsdienstpfl icht unter ideologischen Vorzeichen ein- gig zunehmende) Ideologisierung des Dienstes einerseits sowie die traten. Erst als deutlich wurde, dass sie sich mit dem Selbstausschluss zahlreichen Konfl ikte mit anderen NS-Organisationen andererseits, vor allem selbst schadeten, änderten sie im Sommer 1932 ihren Kurs.5 die auf eine radikale Konkurrenz verschiedener Einrichtungen im Nach einer Anlaufphase umfasste der FAD Mitte 1932 ungefähr Arbeit als Ehre Buhlen um Hitlers Gunst hinweisen. Während diese Streitigkeiten 97.000 Freiwillige, davon circa fünf Prozent Frauen; angesichts gän- aus der Perspektive des Regimes in den ersten Jahren der NS-Zeit giger Geschlechtervorstellungen richtete sich das Angebot staatlicher Der Arbeitsdienst im »Dritten Reich« zu größeren Effi zienzverlusten führten, brachten die unmittelbare Hilfe vor allem an die männliche Jugend.6 Einen deutlichen Schub Vorkriegszeit und die Kriegsjahre eine relative Marginalisierung des brachte eine Verordnung von Brünings Nachfolger Franz von Papen Reichsarbeitsdienstes. Paradoxerweise kann man jedoch just daraus im Juli 1932. Vor dem Hintergrund des dramatischen Anstiegs der von Kiran Klaus Patel eine Radikalisierung des Nationalsozialismus ablesen: Indem das Jugendarbeitslosigkeit erleichterte sie die Zugangsbedingungen zum Regime in dieser Phase seine auf die »Volksgenossen« zielenden FAD, und zum Jahresende 1932 belief sich die Zahl der Freiwilligen erzieherischen Absichten zurückschraubte, machte es Ressourcen auf über 200.000. Der staatliche Anteil am FAD blieb jedoch klein; frei für den rassistischen Vernichtungskrieg. Oder, um die These primär das Engagement zivilgesellschaftlicher Gruppierungen be- anders zusammenzufassen: Während der Arbeitsdienst in den An- stimmte seine konkrete Ausgestaltung. Trotz – oder wegen – dieses Als den »kennzeichnendste[n] Ausdruck fangsjahren des Regimes paradigmatisch für den Übergang zum ungewöhnlichen Aufbaus war der FAD am Tag der Machtübertra- des Geistes einer neuer Zeit« – bezeichnete Arbeitszwang stand, verdeutlicht sein relativer Bedeutungsverlust gung das größte Arbeitsbeschaffungsprogramm des Reiches.7 Konstantin Hierl, Leiter des Arbeitsdiens- ab 1937 die neuen arbeitsmarktpolitischen, militärischen und ideo- tes im nationalsozialistischen Deutschland, logischen Prioritäten des Regimes.2 Kiran Klaus Patel, geb. 1971, ist seit seine Organisation auf dem Reichsparteitag 1933. Laut Hierl sollte Arbeitsdienst als Instrument völkischer Erziehung 2011 Professor für Europäische und künftig »jeder junge Deutsche eine gewisse Zeit seines Lebens als Globale Geschichte und Leiter des Handarbeiter Ehrendienst tun für sein Volk«, um so »das Wort ›Ar- Arbeitsdienst als Arbeitsbeschaffungsprogramm Nach der Machtübertragung am 30. Januar 1933 bemühten sich Fachbereichs Geschichte an der Uni- beiter‹ zum Ehrentitel für jeden Deutschen« zu machen. Für den die Nationalsozialisten nach Kräften, den Arbeitsdienst nach ihren versität Maastricht. Er promovierte an Reichsarbeitsführer – so der Titel, den Hierl sich selbst gab – bildete Reichskanzler Brüning gründete den Freiwilligen Arbeitsdienst Vorstellungen umzubauen. Wie auch andere Gruppierungen der der Humboldt-Universität zu Berlin seine Organisation deswegen einen »Eckpfeiler im Wiederaufbau (FAD) auf Grundlage der Notverordnung vom 5. Juni 1931, nachdem extremen Rechten sahen sie Arbeitsdienst primär als Instrument und habilitierte 2010 an der Univer- unseres Reiches und Volkes«.1 Gemessen an diesen weit gesteck- seit 1918 kontinuierlich über den Aufbau einer derartigen Einrich- völkischer Erziehung: Die gemeinsame harte, körperliche Arbeit sität Duisburg-Essen. 2002–2007 war ten Zielen, scheiterte der Dienst in mehrerlei Hinsicht: Nie gelang tung in Deutschland diskutiert worden war.3 Vor dem Hintergrund von jungen Erwachsenen unterschiedlichsten Hintergrunds sollte er Juniorprofessor für Neuere und es, alle junge Deutsche eines Jahrgangs Arbeitsdienst ableisten zu der Weltwirtschaftskrise richtete sich der FAD zunächst nur an einen politische und konfessionelle, regionale und soziale Unterschiede Neueste Geschichte an der HU Berlin, lassen. Eine wirklich herausragende Stellung im NS-Regime nahm genau eingegrenzten Ausschnitt der arbeitslosen Jugend und war abschleifen; »Arbeit am deutschen Boden« wurde zu Arbeit »am 2006–2007 John F. Kennedy Fellow die Institution außerdem nur phasenweise ein, und viele ihrer inhalt- organisatorisch Teil der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und deutschen Menschen« stilisiert.8 Der »Stahlhelm«, in den Monaten am Center for European Studies der lichen Ziele wurden nie verwirklicht. Dennoch erlaubt der Dienst Arbeitslosenversicherung. Die beschäftigungspolitische Perspek- nach der Machtübertragung ein durchaus gewichtiger Partner der Na- Harvard University. 2007–2011 war tiefe Einblicke in die Organisation der Arbeit und in Fragen der tive stand in der Anfangszeit im Vordergrund; Arbeitsdienst diente tionalsozialisten in Arbeitsdienstfragen, vertrat ähnliche Ideen, setzte er Professor am Europäischen Hoch- Arbeitsethik im Nationalsozialismus. primär als Arbeitsbeschaffungsprogramm zur Linderung der Not sich aber noch stärker für eine direkt paramilitärische Verwendung schulinstitut Florenz. Seit 2013 ist er Im Folgenden soll zunächst seine Geschichte am Übergang von junger Arbeitsloser. des Dienstes ein. Zielkonfl ikte zwischen den Nationalsozialisten Mitglied einer Historikerkommission, der Arbeitsbeschaffung zum Arbeitseinsatz und allgemeiner von Auffallend ist die schlanke organisatorische Struktur des FAD: und ihren konservativen Bündnispartnern lagen jedoch weniger auf die die Geschichte der Vorgängerin- normal geregelten Arbeitsverhältnissen und freiberufl ichen Tätig- Das Reich übernahm hauptsächlich die Finanzierung des Dienstes, stitutionen des Bundesministeriums keiten hin zu Dienst- und Zwangselementen umrissen werden. Einer während die freiwilligen Arbeitsdienstleistenden von den sogenann- für Arbeit und Soziales in der Zeit des knappen Analyse der Weiterentwicklung von Aufbau und Tätig- ten »Trägern des Dienstes« organisiert wurden. Alle nur denkbaren Nationalsozialismus bis in die Nach- keiten während des Krieges schließt sich dann eine Erörterung der Parteien, Vereine und Verbände bildeten in den nächsten eineinhalb dienstpfl icht«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 317–346; Henning Köhler, Arbeitsdienst in Deutschland. Pläne und Verwirklichungsformen kriegszeit beider deutscher Staaten erzieherischen Praxis und ihrer Effekte an, bevor die Ergebnisse des Jahren solche »Träger des Dienstes«. Die einzige größere gesell- bis zur Einführung der Arbeitsdienstpfl icht im Jahre 1935, Berlin 1967; jetzt auch erforschen soll. Beitrags kurz zusammengefasst werden. schaftliche Gruppierung, die sich nicht am Arbeitsdienst beteiligte, Detlev Humann, »Arbeitsschlacht«. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der Veröffentlichungen (Auswahl): Sol- waren die Kommunisten.4 Auch die Nationalsozialisten hielten sich NS-Zeit, 1933–1939, Göttingen 2011, S. 365–479; ferner zu ausgewählten Aspek- diers of Labor: Labor Service in Nazi Institutionengeschichtlich änderten sich Aufbau und Stellung des Ar- ten Christian Illian, Der Evangelische Arbeitsdienst. Krisenprojekt zwischen Wei- marer Demokratie und NS-Diktatur, Gütersloh 2005; Manfred Göbel, Katholische Germany and New Deal America, beitsdienstes zwischen seiner Gründung in den Krisenjahren der Wei- Jugendverbände und Freiwilliger Arbeitsdienst (1931–1933), Paderborn 2005. 1933–1945, New York 2005; Euro- marer Republik und dem Ende der NS-Zeit mehrmals. Zwei für den 5 Vgl. etwa Patel, »Soldaten der Arbeit«, S. 60–72. peanization in the Twentieth Century: 2 Ich werde das im Folgenden skizzenhaft umreißen. Für eine ausführlichere Dar- 6 Vgl. Leo v. Funcke, »Freiwilliger Arbeitsdienst«, in: Reichsarbeitsblatt, Teil II, Historical Approaches, New York stellung vgl. Kiran Klaus Patel, »Soldaten der Arbeit«. Arbeitsdienste in Deutsch- 10/25 (1932), S. 126–129, 361–365. land und den USA, 1933–1945, Göttingen 2003. 7 Vgl. RGBl. 1932 I, S. 352; allgemein auch Patel, »Soldaten der Arbeit«, 2010 (ed. with Martin Conway) 1 Konstantin Hierl, Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. von Herbert Freiherr 3 Vgl. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1931 I, S. 295. S. 53–56. von Stetten-Erb, 2 Bde., München 1941, Bd. 2, S. 345–349, Zitate 345, 349. 4 Vgl. dazu etwa Wolfgang Benz, »Vom freiwilligen Arbeitsdienst zur Arbeits- 8 Hierl, Schriften, Bd. 2, S. 182.

34 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 35 programmatischer Ebene als bei der machtpolitischen Frage, wer die Das Interesse der Nationalsozialisten am Arbeitsdienst für Frauen von Reichswirtschaftsminister Schacht vom 10. August 1934 über verwiesen. In den wenigen Jahren zwischen 1934 und 1937/38 Führung der Organisation übernehmen sollte. war deutlich geringer. Hierl hatte zunächst sogar eine Abwicklung den Austausch von Arbeitskräften. Danach konnten Arbeiter und entfaltete zumindest der Männer-Arbeitsdienst zunächst ein aus- Der Arbeitsdienst des »Dritten Reiches« sah sich somit nicht nur erwogen. Schließlich wurde dieser vom Männerdienst weitestgehend Angestellte unter 25 Jahren, die nicht mindestens 12 Monate im gefeiltes, primär an völkisch-erzieherischen Prämissen orientiertes als bedeutsames Instrument im Kampf gegen die Weltwirtschafts- abgekoppelt; mehrere Reorganisationsversuche scheiterten. Eine Arbeitsdienst oder der Landhilfe gedient hatten, aus ihren regulären Programm. Im Zuge der forcierten Kriegsvorbereitung, besonders krise, sondern auch als Nukleus und Vorreiter der »Volksgemein- gewisse Stabilität gab es erst ab Anfang 1934, als Gertrud Scholtz- Arbeitsplätzen entlassen und durch ältere Kräfte ersetzt werden.15 im Rahmen des Vierjahresplans, trat dagegen die praktische Arbeit in schaft«. Dabei sollte »Ehrendienst« natürlich nur »Volksgenossen« Klink, die Reichsfrauenführerin, die Leitung der nunmehr »Deutscher Damit erreichte die Dienstverpfl ichtung ein neues Niveau: Während den Vordergrund. Noch 1935 hatten die Männer lediglich circa sechs vorbehalten sein. Exklusion war wesentlicher Bestandteil des Ar- Frauenarbeitsdienst« genannten Organisation übernahm. Bis 1935 die bisherigen Regelungen vor allem auf Arbeitslose und die künftige Stunden pro Tag gearbeitet; der Rest der Zeit wurde den verschie- beitsdienstes. Zutrittsbedingung war der »Ariernachweis«, und so umfasste der Frauenarbeitsdienst jedoch nie mehr als 10.000 Stellen.12 Elite in Staat und Gesellschaft (vgl. gruppenspezifi sche Dienstpfl ich- denen erzieherischen Aktivitäten gewidmet. Bei Ernteeinsätzen ab wurde der Arbeitsdienst ab 1933 zu einem Teil eines feinmaschigen ten für Studenten, Parteinachwuchs usw.) gezielt hatten, schuf sich 1937 erhöhte sich die tägliche Arbeitszeit erstmals auf zeitweise zehn Netzes, um Juden und andere aus NS-Sicht »Gemeinschaftsfremde« das Regime nunmehr ein hochgradig interventionistisches Instrument, Stunden. Beim Bau des »Westwalls«, das heißt von umfangreichen zu identifi zieren und zu verfolgen. Vom Arbeitsdienst konnte der Der Übergang von der Arbeitsbeschaffung zum Arbeitseinsatz das weite Teile der Gesellschaft erfassen konnte. Der Übergang von Verteidigungsanlagen an der Westgrenze des Reiches, ab 1938 lag die Weg bis nach Auschwitz führen; Inklusion und Exklusion sind in der Arbeitsbeschaffung zum Arbeitseinsatz war damit vollzogen. Stundenzahl phasenweise noch deutlich darüber. Das widersprach diesem Sinne immer zusammen zu denken. In den Folgejahren bis circa 1937/38 konsolidierte sich der Männer- Zugleich band sich das Regime selbst nie durch den Aufbau grundsätzlich Hierls Ansatz vom »Ehrendienst am deutschen Volk«. Seit 1933 wurde zudem institutionell zwischen Arbeitsdienst für Arbeitsdienst, und er konnte sein erzieherisches Programm deutlich von Dienst- und Zwangsregimen, die in dieser Phase vor allem der Den zunehmenden Bedeutungsverlust und die Unterordnung seiner Männer und für Frauen unterschieden. Den stets deutlich größeren ausbauen. Eine Wegmarke dabei bildete die Einführung der staatli- kriegsvorbereitenden Berufssteuerung dienten. Wie bereits erwähnt, Organisation unter arbeitspolitische und direkt kriegsrelevante Ziele Dienst der »Arbeitsmänner« – dem im Folgenden aufgrund seiner chen Arbeitsdienstpfl icht und die Umbenennung in Reichsarbeits- brachte das RAD-Gesetz die allgemeine Arbeitsdienstpfl icht (sogar konnte er jedoch nicht verhindern. Künftig fristete der RAD in vie- höheren Bedeutung mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird – erschüt- dienst (RAD) im Sommer 1935. Die Bedeutung dieses Schrittes wird für beide Geschlechter!), aber nur auf dem Papier. Jeder »Volksge- lerlei Hinsicht ein »Schattendasein« im NS-Regime.19 terten in den ersten eineinhalb Jahren nach der Machtübertragung jedoch oft überschätzt: Im Wesentlichen sicherte Hierl damit das nosse« und jede »Volksgenossin« konnte jederzeit verpfl ichtet wer- tiefe Krisen, so dass vom NS-Erziehungsprogramm mit seinem in Machtkämpfen bislang Erreichte juristisch ab. Für Auftrag und den; umgekehrt ließ sich aber kein Anspruch auf Dienst einklagen. Ehrendienst-Ethos zunächst wenig in die Praxis umgesetzt wurde. Größe des RAD hatte das kaum Konsequenzen, da die allgemeine Dieser Befund gilt noch stärker für den Frauenarbeitsdienst, der 19 Vgl. Patel, »Soldaten der Arbeit«, S. 352–363; Manfred Seifert, Kulturarbeit im Heftige Konfl ikte um die Leitung der Organisation zwischen den Pfl icht angesichts des sich bereits abzeichnenden Arbeitskräfteman- ab 1. April 1936 zum Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend Reichsarbeitsdienst. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Kulturpfl ege im Nationalsozialisten um Hierl und dem Stahlhelm erschütterten den gels nie umgesetzt wurde.13 In den Folgejahren wurde der RAD (RADwJ) umgeformt wurde. Fortan war der Frauenarbeitsdienst ganz Kontext historisch-politischer, organisatorischer und ideologischer Einfl üsse, Dienst. Erst als Ergebnis langwieriger Konfl ikte, die sich von der ausgebaut, allerdings geschah dies lediglich parallel zur Ausweitung in die staatliche Organisation des RAD unter Hierl eingebunden, und Münster 1996. Machtübertragung 1933 bis Sommer 1934 hinzogen, gelang es Hierl des Reichsgebietes. So richtete man 1935 Abteilungen im Saarland erst jetzt wurde die Frauen-Einrichtung unter das Primat der Erziehung aufgrund seiner Beharrlichkeit und der Unterstützung Hitlers, den ein, ab 1938 auch in Österreich. Konsolidierung, nicht umfassende gestellt. Trotz der grundsätzlichen Arbeitsdienstpfl icht für Frauen seit Stahlhelm aus der Leitung des Arbeitsdienstes hinauszudrängen. Expansion prägte auch in dieser Frage den Kurs.14 1935 blieb die Zahl der »Arbeitsmaiden« gering; für Hierl war es schon Abgesehen von diesem Problemkreis stellte die ungeklärte Fi- Insgesamt steht der RAD in dieser Phase paradigmatisch für ein Erfolg, wenn Hitler ihm 1937 eine Erhöhung auf 25.000 Plätze zuge- »Nützliche Glieder des Volkskörpers« nanzlage eine große Herausforderung dar. Exorbitante Forderungen zwei Trends des NS-Regimes. Erstens läutete er den Übergang zu stand.16 Als der Chef der Vierjahresplanbehörde, Hermann Göring, 1938 Hierls standen einer dilatorischen Politik des Reichsfi nanzmini- Dienstverpfl ichtung und Arbeitszwang für immer größere Gruppen zudem als Zwangsmaßnahme für die 18- bis 25-jährigen Frauen das steriums und des Reichsrechnungshofes gegenüber. Die radikale der deutschen Gesellschaft ein. Nach der alliierten Intervention, die Pfl ichtjahr17 einführte, grub er dem RADwJ weiter das Wasser ab, zumal Arbeiter und Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten im Frühjahr und 1933 den schnellen Aufbau einer allgemeinen Arbeitsdienstpfl icht das Pfl ichtjahr im Gegensatz zum Arbeitsdienst keinen Erziehungs- Arbeiterinnen 18 Sommer 1933, die schließlich im Verbot aller bestehenden »Träger unterbunden hatte, behalf sich das Regime zwischen 1933 und 1935 anspruch hatte und so viel stärker ökonomischen Prioritäten folgte. im NS-Krieg: des Dienstes« mit Ausnahme des nationalsozialistischen gipfelte, mit der Zwangsverpfl ichtung spezifi scher Gruppen. Am 16. Juni 1933 sorgte ebenfalls für Turbulenzen.9 Eine internationale Interventi- wurde die Arbeitsdienstpfl icht für Studenten des 1. bis 4. Semesters on im Rahmen der Genfer Abrüstungsverhandlungen im Juni 1933 verkündet, und bald folgten ähnliche Regelungen für den Nachwuchs Die Ausrichtung des Arbeitsdienstes umworben torpedierte zudem die Einführung der von Hierl immer wieder pro- der Partei, der Deutschen Arbeitsfront und vieler weiterer Gruppen. an den Interessen des Militärs loyal klamierten allgemeinen Arbeitsdienstpfl icht. Krisenhaft wirkten sich Zugleich wurde dieses Regelwerk verzahnt mit einer Verordnung auch die Übernahmeversuche durch andere Organisationen im Äm- Als auf einen zweiten Trend in der NS-Geschichte, der sich am RAD widerständig terdschungel des NS-Regimes aus, vor allem durch die Hitlerjugend der Vorkriegszeit ablesen lässt, sei auf das stets variierende Verhältnis und die SA.10 Entsprechend sah es im Innern der Organisation aus. von ideologischen, arbeitsmarktpolitischen und militärischen Zie- Ein Schreiben des Sächsischen Landtags vom Oktober 1933 erklärte, 12 Vgl. Susanne Watzke-Otte, »Ich war ein einsatzbereites Glied in der Gemein- len sowie die daraus resultierenden institutionellen Konsequenzen schaft…« Vorgehensweise und Wirkungsmechanismen nationalsozialistischer Erzie- die Zustände seien von »vernichtender Natur«; scharenweise liefen hung am Beispiel des weiblichen Arbeitsdienstes, Frankfurt am Main 1999, S. 86– der Organisation ihre Angehörigen davon.11 92; Dagmar Morgan, Weiblicher Arbeitsdienst in Deutschland, Mainz 1978, S. 85–119; allgemein auch Gisela Miller-Kipp, »Erziehung durch den Reichsarbeits- dienst für die weibliche Jugend (RADwJ)«, in: Martin Kipp, dies. (Hrsg.), Erkun- 15 Vgl. RGBl. 1934 I, S. 786; vgl. auch BArch, R 2301/5648, Hierl an Seldte, dungen im Halbdunkel. Einundzwanzig Studien zur Berufserziehung und Pädagogik 23.4.1934. Vgl. zur Landhilfe Humann, Arbeitsschlacht, S. 481–591. im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1995, S. 103–129; Stefan Bajohr, 16 Vgl. Morgan, Arbeitsdienst, S. 197–440; Watzke-Otte, Glied, S. 97–126. 9 Vgl. Bundesarchiv (BArch), R 2301/5638, RK-FAD an Bezirksleitungen, »Weiblicher Arbeitsdienst im ›Dritten Reich‹. Ein Konfl ikt zwischen Ideologie und 17 Das Pfl ichtjahr war ein 1938 eingeführter Dienst für Frauen unter 25 Jahren. 21.7.1933. Ökonomie«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 28 (1980), S. 331–357. 1.512S.1.512S.| | 9898,00,00 EuroEuro ||I ISBNSBN 97978-3-8012-5038-68-3-8012-5033868-6 18 Vgl. Angela Vogel, Das Pfl ichtjahr für Mädchen, Frankfurt am Main 1997; vgl. 10 Vgl. zusammenfassend Patel, »Soldaten der Arbeit«, S. 79–90. 13 Vgl. RGBl. 1935 I, S. 769–771. dietz-verlag.de allgemein auch Dörte Winkler, Frauenarbeit im »Dritten Reich«, Hamburg 1977. 11 BArch, R 43 II/516, Landtag des Freistaats Sachsen an Lammers, 4.10.1933. 14 Vgl. Patel, »Soldaten der Arbeit«, S. 115 f.

36 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 37 Die Diagnose eines Schattendaseins trifft mehr noch für die Verlust des inhaltlichen Profi ls RADwJ zunehmend zum Instrument aggres- Kriegsjahre zu, als der Einsatz des RAD für Männer zunächst in und der institutionellen Unabhängigkeit siver NS-Volkstumspolitik, da er im Krieg direkter Kontinuität zum Westwalleinsatz des Jahres 1938 stand: »Deutschtumsarbeit« in den besetzten Terri- Wie damals bildete er im September 1939 aus vielen Abteilungen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der RAD bei Kriegs- torien leistete. Nach ethnischen Säuberungen Baubataillone, die der Wehrmacht direkt unterstellt waren. Aufgrund beginn Teil eines elaborierten und differenzierten Systems von Ar- hatten seine Lager der »Germanisierung« zu eines Gesetzes vom 9. September 1939 gehörten diese Arbeitsmän- beitskräften darstellte, die der Wehrmacht zuarbeiteten. Im Kriegs- dienen: Die Arbeitsmaiden sollten, nachdem ner zwar weiterhin zum RAD, de facto leisteten sie hinter der Front verlauf verlor er dagegen zunehmend seine Spezialisierung. Der etwa im Reichsgau Wartheland die polnische aber militärähnliche Dienste.20 Eine zweite Maßnahme verschärfte Erziehungsauftrag, der Hierl so sehr am Herzen lag, geriet zuneh- Bevölkerung vertrieben worden war, den neu die Beschränkung der Eigenständigkeit des Dienstes zusätzlich: Zu mend in den Hintergrund, und selbst die Funktion als Bautruppe angesiedelten Volksdeutschen durch ihre Ar- Beginn des Polenfeldzuges wurden ungefähr 60 Prozent des Stamm- stellte das Regime zugunsten direkt militärischer Verwendungen beitskraft und als psychologische Stütze zur personals vom RAD abgezogen und in den Wehrdienst berufen. Von im Kriegsverlauf zurück. Der RAD verlor so sein inhaltliches Profi l Seite stehen.27 Eine Ausweitung des Arbeits- einem erzieherisch ausgerichteten »Ehrendienst« konnte nicht mehr und seine institutionelle Unabhängigkeit; Ideologisierung und die dienstes brachte die Einführung der Kriegs- die Rede sein.21 Vermittlung eines spezifi schen Arbeitsethos traten ganz an den Rand. hilfsdienstpfl icht im Juli 1941. Unmittelbar Mit dem Beginn des Westfeldzuges im Mai 1940 folgten die Qualifi ziert wird dieser Befund der Marginalisierung durch ei- an die sechs Monate RADwJ schloss sich für RAD-Baubataillone wiederum dem Heer und der Luftwaffe nach ne Aufgabe, die dem Dienst seit 1942 zuwuchs: Damals verfügte junge Frauen fortan ein weiteres halbes Jahr Frankreich, und mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni Hitler, dass der RAD ab dem 1. April des Jahres junge Männer aus Dienst an, wobei die Arbeitsmaiden auch in 1941 wurde die Zahl der Abteilungen deutlich reduziert und in dem Baltikum, »die die rassischen, körperlichen, charakterlichen dieser Phase in vielen Fragen dem Arbeits- ihrer Einsatzform noch stärker an den Interessen des Militärs aus- und geistigen Voraussetzungen erfüllen«, auf freiwilliger Basis auf- dienst unterstellt blieben. Zugleich gab der gerichtet. Im Oktober 1941 gingen von den 929 Abteilungen, über nehmen solle. Dieselbe Regelung galt zeitweise auch für andere RADwJ 1941 das Primat der Erziehung auf, die der RAD im Vergleich zu rund 1.700 Abteilungen im Jahre Teile des NS-Herrschaftsgebiets.24 Zwischen August 1942 und Au- und besonders seit dem Folgejahr entwickelte 1939 noch verfügte, nur 184 Abteilungen friedensmäßiger Arbeit gust 1944 durchliefen rund 120.000 Arbeitsmänner aus dem Elsass, sich auch diese Teilorganisation trotz Hierls nach.22 Der RAD wurde immer mehr zu einer abhängigen Bau- und aus Lothringen, Luxemburg, der Untersteiermark, der Oberkrain und heftigem Widerstand zu einem Arbeitsheer. sogar Kampftruppe der Wehrmacht, die sich zumindest punktuell den besetzten Ostgebieten den RAD. Den West- und Osteuropäern Zeitverschobene Parallelen zum Arbeits- an Verbrechen des NS-Rassenkriegs beteiligte. Im Sommer 1941 wurde die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf verliehen, dienst für Männer gab es schließlich insofern, zum Beispiel übernahmen RAD-Baukommandos im Wartheland so dass »schlechte Elemente bereits vorzeitig ausgeschaltet wer- als die Arbeitsmaiden ab Oktober 1943 zu- die Überwachung jüdischer Zwangsverpfl ichteter, die die Friedhöfe den« konnten.25 Der RAD wurde damit zu einer Bewährungs- und nehmend bei direkt militärischen Aufgaben ihrer Gemeinden zu zerstören hatten. 1942 beteiligte sich der RAD Eindeutschungsinstanz im Rahmen der »Umvolkungspolitik« des zum Einsatz kamen, etwa im Flugmelde- an der Vernichtung von Lidice in Westböhmen, die nach dem At- Regimes. In Zusammenarbeit mit der SS hatte er so direkten Anteil dienst und in der Flakverteidigung. Wieder- tentat auf Reinhard Heydrich angeordnet worden war. Im weiteren an der NS-Rassenpolitik. Trotz dieser neuen Aufgabe ist festzuhal- um hatten sich militärische und ökonomische Verlauf dienten RAD-Abteilungen immer wieder an der Front bzw. ten, dass militärische Ziele vor arbeitspolitisch-ökonomischen und Interessen gegen das Erziehungsprogramm ab Sommer 1943 zunehmend bei der Flaksicherung des Reiches, ideologisch-erzieherischen Aufgaben standen.26 des Arbeitsdienstes durchgesetzt.28 und noch wenige Wochen vor Kriegsende, am 31. März 1945, gab Dass die erzieherische Aufgabe nicht ganz aus dem Arbeitsdienst Hierl den Befehl, binnen zwei Wochen drei Infanteriedivisionen verschwand, zeigt sich auch am RADwJ. Dieser wurde deutlich zöger- aus den Reihen des RAD aufzustellen. Viele der jungen Männer, licher in die Kriegsführung einbezogen als der Männer-Arbeitsdienst. Fazit die in diese Wehrmachtseinheiten eingezogen wurden, fanden kurz Noch 1940 gingen 90 Prozent der Frauen-Abteilungen ähnlichen vor Kriegsende noch den Tod.23 Arbeiten nach wie in der Vorkriegszeit. Allerdings wurde auch der Trotz all dieser Probleme und Herausfor- derungen spielte der Arbeitsdienst für das NS-Regime eine wichtige Rolle: Immerhin muss er als eine der wichtigsten Sozialisa- 20 Vgl. Seifert, Kulturarbeit, S. 87–92; Michael Jonas, Zur Verherrlichung preußi- 24 BArch, R 43 II/520, v. a. Reichsminister für besetzte Ostgebiete an Lohse, 29 scher Geschichte als Element der geistigen Kriegsvorbereitung 1933–1945 in 8.1.1942; United States Holocaust Memorial Museum, Washington, tionsinstanzen des Regimes gelten. Viele Deutschland. Organisationsspezifi sch dargestellt am Erziehungssystem des RG 18002 M, Reel 3, v. a. Reichskommissar für das Ostland an Reichskommissar Reichsarbeitsdienstes, Potsdam 1992, S. 164–173; Patel, »Soldaten der Arbeit«, in Riga, 16.11.1942, und Anlage. S. 117–121, 363–376. 25 Reichsarbeitsdienst, »Dienstbesprechung des Erziehungs- und Ausbildungsamtes, 21 Vgl. RGBl. 1939 I, S. 2465 f.; Wolfgang Scheibe, Aufgabe und Aufbau des 8.–11. August 1944«, o.O. o.J. (1944), S. 64–67. Diese Aufzeichnung war nur für Oben: Im Raum des Berliner Reichsarbeitsdienstes fi nden letzte Malerarbeiten für die Propagandaausstellung 27 Vgl. Seifert, Kulturarbeit, S. 102–106; als Erinne- Reichsarbeitsdienstes, 2. Aufl ., Leipzig 1942, S. 27 f. den internen Dienstgebrauch bestimmt und ist in BArch, RD 20/63 überliefert. »Gesundes Leben – Frohes Schaffen« statt. In der Mitte des Raums befi nden sich mehrere Fahnen, u.a. vom rungsbericht etwa Melita Maschmann, Fazit. Kein 22 Vgl. etwa BArch, R 55/601, Schaffer an Goebbels, 30.10.1944, und den beigeleg- Die »Volksliste 3« umfasste die »Volksdeutschen«, denen die deutsche Staatsan- Reichsarbeitsdienst. An der Wand hängt ein Plakat mit im Gleichschritt marschierenden oberkörperfreien Männern Rechtfertigungsversuch, 4. Aufl ., Stuttgart 1963. ten Bericht. gehörigkeit nach einer Auswahl unter rassenpolitischen Vorzeichen durch die SS mit Schaufeln unter dem Slogan »Unsere Spaten sind Waffen im Frieden«. Neben dem Plakat das Gedicht »Willst 28 Vgl. Watzke-Otte, Glied, S. 112–126; Miller-Kipp, 23 Vgl. Patel, »Soldaten der Arbeit«, S. 366–376. Dass »Partisanenbekämpfung« und nur auf Widerruf gewährt wurde. du, dass wir mit hinein in das Haus dich bauen, lass es dir gefallen, Stein, das wir dich behauen«, 24.9.1938. Erziehung, S. 103129. gerade im Osten häufi g mit willkürlichem Terror gleichzusetzen ist, zeigt etwa 26 Vgl. zum weiteren Kontext Isabel Heinemann, »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. 29 Vgl. für eine genauere Begründung dieser promi- Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernich- Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Unten: Ein Besucher der Ausstellung »Gesundes Leben – Frohes Schaffen« betrachtet in der Luftschutz-Abteilung nenten Rolle Kiran Klaus Patel, »Die ›Volkserzie- tungspolitik in Weißrußland, 1941–1944, Hamburg 2000. Europas, Göttingen 2003, wobei dort die Rolle des RAD unterbelichtet bleibt. drei Schaufensterpuppen mit Volksgasmasken, 28.9.1938. Fotos: Scherl/SZ Photo hungsschule‹ – Der Arbeitsdienst für Männer und

38 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 39 seiner Angehörigen eigneten sich vor allem den von den National- Frage, wie Menschen in einer Situation vor rund 75 Jahren ihren kam hinzu, dass sie sich im Arbeitsdienst durch das Versprechen sozialisten geforderten Gemeinschaftsbezug an; außerdem setzte der jeweiligen Handlungskontext wahrnahmen und wie sie sich darin auf größere Partizipation an der Gesellschaft und auf mehr soziale Dienst sein disziplinierendes Programm weitgehend um. verhielten.32 Anerkennung angesprochen fühlten.35 Antisemitismusforschung Methodisch – das sei hier eingeschoben – ist es geradezu unmög- Wenngleich die Probleme also immens sind, sind Tendenzaussa- Darüber hinaus leistete die Organisation einen bedeutenden lich, Aneignung und Widerstand gegenüber Programm und Praxis gen durchaus möglich. Wichtig ist dabei das Forschungsdesign, das Beitrag dazu, unter den jungen »Volksgenossen« bedingungslo- des RAD(wJ) exakt zu fassen. Wenn in einer Hamburger Dissertation man anlegt. Vielversprechender als ein klassischer Zugriff, der mit se Disziplin herzustellen. Und wenn die Forschung immer wieder Interdisziplinäre Antisemitismusforschung Antisemitismus in Interdisciplinary Studies on Antisemitism l 2 von 1938 zu lesen ist, dass im Arbeitsdienst »Erziehungsabsicht Begriffen wie »Indoktrination« arbeitet und die Insassen des Diens- festgehalten hat, dass große Teile der Jugend und der jungen Er- deutschen Parteien und Wirklichkeit« miteinander übereinstimmten, dann handelt es tes letztlich als Objekte nationalsozialistischer Gestaltungswünsche wachsenen Deutschlands zumindest bis zur Kriegswende 1942/43 Herausgegeben von Dana Ionescu 30 sich um nichts anderes als regimetreues Wunschdenken. Viele sieht, erscheint dabei ein Ansatz, der von Foucaults Machtbegriff aus- dem Nationalsozialismus und seinem Gemeinschaftsversprechen Dana Ionescu | Samuel Salzborn [Hrsg.] und Samuel Salzborn Faktoren erschweren eine Analyse der erzieherischen Effekte des geht. Dieser löst sich von der Binäropposition zwischen Herrschern sehr positiv gegenüberstanden, so war die Zeit im Arbeitsdienst ein Antisemitismus in deutschen Parteien 2014, 323 S., brosch., 59,– € Arbeitsdienstes; zumindest die wichtigsten vier seien hier benannt. und Beherrschten und versteht Macht nicht als Institution; nicht als Grund dafür. Freilich war der Arbeitsdienst nur ein Rad in diesem ISBN 978-3-8487-0555-9 Erstens lässt sich der Effekt dieser einen Institution kaum isolieren »massives und homogenes Herrschaftsphänomen«, das von außen Mechanismus – er liefert jedoch eine wichtige Teilerklärung für den (Interdisziplinäre Antisemitis- für Menschen, die auch sonst in eine durch die nationalsozialistische in das Individuum eindringt, sondern als Bezeichnung für eine kom- hohen Grad an Akzeptanz, auf die sich das nationalsozialistische musforschung/Interdisciplinary 36 Moral geprägte Lebenswelt eingebunden waren und für die der RAD plexe strategische Situation. Machtmechanismen lassen sich dann Regime die längste Zeit stützen konnte. Studies on Antisemitism, Bd. 2) lediglich eine Station in einer längeren Kette von institutionellen nicht auf Unterdrückung oder Verführung reduzieren. Interessanter Arbeitsdienst gab es nicht nur in NS-Deutschland, sondern auch Nomos www.nomos-shop.de/21103 Einbindungen (Schule, Ausbildung, Universität, Wehrmacht, Partei, ist es vielmehr, wie sie den Körper durchwirken und neue Techniken in anderen Staaten. Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der Arbeitsplatz usw.) darstellte. Zugleich knüpften die Vorstellungen hervorbringen. Das Individuum ist diesem Ansatz folgend »nicht das 1930er Jahre baute eine lange Reihe von Gesellschaften derartige Thema des Sammelbandes ist die Frage nach dem Vorkom- des Nationalsozialismus an viele Denktraditionen an, die schon vor Gegenüber der Macht; es ist eine ihrer ersten Wirkungen«.33 Oder, Organisationen auf, wobei neben dem RAD der weltweit wichtigste men von Antisemitismus in deutschen Parteien nach 1945. 1933 in der deutschen Bevölkerung verbreitet gewesen waren; auch einfacher gesagt: Zu untersuchen ist dann nicht so sehr, wie sich Arbeitsdienst das 1933 gegründete Civilian Conservation Corps Über die bisher in der Forschung zu Antisemitismus und insofern lässt sich der Einfl uss einer NS-Institution kaum isolieren. Individuen zum rassistischen Projekt des Nationalsozialismus ver- (CCC) in den USA war. Diktatur und Demokratie bedienten sich so Parteien verbreitete Fokussierung auf politische Ränder Zweitens reagiert jeder Mensch auf ein ihm gemachtes ideologisches hielten, sondern wie sie sich in ihm konstituierten und positionierten. teilweise ähnlicher Mittel, was auf das arbeitszentrierte Weltbild mo- hinaus stehen auch CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen Angebot anders; familiärer Kontext und Individualität von Millio- Bei der Vermittlung politischen Wissens blieb die Organisation derner Gesellschaften verweist: Gesellschaftliche Integration erfolgt und FDP im Blickpunkt. Denn antisemitische Äußerungen nen junger Männer und hunderttausender junger Frauen gälte es zu aufgrund vielfältiger Probleme hinter den selbst gesteckten Zielen demnach primär über Arbeit, und in Zeiten der Massenarbeitslosig- sind quer durch alle politischen Lager zu finden. berücksichtigen. Drittens unterlief der RAD – wie bereits ausgeführt zurück – inkompetentes Lehrpersonal, überforderte Arbeitsmänner keit sorgten sich gesellschaftliche Eliten weltweit um den Erhalt von – in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft enorme Veränderungen, die und zahlreiche Abweichungen von den vorgegebenen Planungen Arbeitsethos und -fähigkeit vor allem der männlichen Jugend. Was Rechtsextremismus sein erzieherisches Programm und seine arbeitspraktische und ar- weisen auf einige dieser Probleme hin. Da die NS-Ideologie aller- genau unter Arbeit und Erziehung verstanden wurde, unterschied Erscheinungsformen und beitsethische Ausrichtung maßgeblich betrafen. Selbst für die relativ dings in den gesamten Tagesablauf eingeschrieben war, darf die Prä- sich dies- und jenseits des Atlantiks. Im NS-Arbeitsdienst erschien Erklärungsansätze stabile Phase von 1934 bis 1937 im Arbeitsdienst für Männer und gekraft und Aneignung nicht unterschätzt werden. Wenn man zeitge- sie mit ihrer rassistischen, gemeinschaftszentrierten Ausrichtung Herausgegeben von von 1936 bis 1941 für Frauen liegen teilweise aus ein und demselben nössischen Aufzeichnungen von Arbeitsmännern, Arbeitsmaiden und häufi g als Selbstzweck, während Formen, Motive und der Grad der Samuel Salzborn Lagerkomplex sehr unterschiedliche Deutungen dazu vor, wie der der Memoirenliteratur glaubt, so war der Dienst zudem auf einem Produktivität nachrangig waren oder variierten. In den USA dagegen 2014, 149 S., brosch., 17,99 € Dienst seinen völkisch-ideologischen Auftrag umsetzte.31 Viertens Gebiet besonders erfolgreich: Der Arbeitsdienst trug demnach dazu zielten die praktischen Tätigkeiten primär auf die Erhaltung der ISBN 978-3-8252-4162-9 ergeben sich die üblichen Probleme mit Ego-Dokumenten. Diese bei, Klassen- und Standesdünkel und allgemein soziale Vorurteile Arbeitskraft und Arbeitskraftmotivation sowie auf Fortbildung bis (Studienkurs Politikwissenschaft) sind nur sehr ausschnitthaft überliefert, und Interviews mit den heute unter seinen Angehörigen abzubauen. Die gemeinsame Arbeit und zur Wiedereingliederung in den regulären Arbeitsmarkt; ein dem www.nomos-shop.de/22499 immer weniger werdenden Zeitzeugen stehen vor kaum lösbaren das gemeinschaftliche Leben von Deutschen mit den verschiedensten Nationalsozialismus vergleichbares rassistisches Verständnis von methodischen Herausforderungen: Wiewohl sie gute Einblicke in Hintergründen stellte eine intensive Form des Kontakts dar, die die Arbeit fi ndet sich nicht. Im »Dritten Reich« dagegen sollte Arbeit Rechtsextremismus ist ein allgegenwärtiges Thema. Was die Frage geben können, wie Zeitzeugen heute das damals Erlebte vorhandenen Vorstellungen über andere Schichten zumindest auf zu Ehre werden, wobei sie im Arbeitsdienst wie auch in vielen an- genau kennzeichnet aber Rechtextremismus? Wie tritt er erinnern und bewerten, sind sie kaum zuverlässig hinsichtlich der den Prüfstand stellte. Freilich gibt es auch Erinnerungen, aus denen deren Kontexten letztlich zwei Zielen diente: dem Rassismus und in Erscheinung? Welche Erklärungen gibt es für seine Ent- primär die Bestätigung ohnehin vorhandener Vorurteile dringt. Nicht der Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges. stehung und den Erfolg rechtsextremer Gruppierungen? wenige Arbeitsmaiden und Arbeitsmänner betonen aber, dass der Wie kann Rechtsextremismus erfolgreich bekämpft werden? Austausch den eigenen Horizont erweitert habe.34 Bei vielen Frauen Der Band liefert einen Überblick über den Forschungsstand Frauen«, in: Klaus-Peter Horn, Jörg Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im zu diesen Fragen. Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2011, S. 187–203. me Arbeit am ›Neuen Menschen‹. Insassen und Personal in den Lagern des Bitte bestellen Sie die UTB-Nomos Titel ausschließlich bei 30 Hellmut Petersen, Die Erziehung der deutschen Jungmannschaft im Reichsar- NS-Regimes«, in: Falk Bretschneider u. a. (Hrsg.), Personal und Insassen von Ihrer Buchhandlung oder unter www.utb-shop.de beitsdienst, Berlin 1938, S. 13. 32 Vgl. zu diesen methodischen Problemen bereits etwa Lutz Niethammer, Lebens- Totalen Institutionen in der Neuzeit – zwischen Konfrontation und Verfl echtung, 31 Vgl. den Kontrast zwischen der Sicht von Hoimar von Ditfurth, der im Frühjahr erfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«, Frankfurt Leipzig 2011, S. 337–357. 1939 bei Bernau seinen Arbeitsdienst leistete, und einem US-Diplomaten, der am Main 1980. 35 Vgl. Watzke-Otte, Glied, S. 259–265; beispielhaft als Quelle hierfür Maschmann, wenige Monate zuvor in demselben Lager einige Tage mitgearbeitet hatte: 33 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, Zitate Fazit. Portofreie Buch-Bestellungen unter Hoimar von Dithfurth, Innenansichten eines Artgenossen. Meine Bilanz, Düssel- S. 44 f.; vgl. etwa auch ders., Die Macht der Psychiatrie, Frankfurt am Main 2005. 36 Vgl. z. B. Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, www.nomos-shop.de dorf 1989, S. 134–141, und National Archives and Record Administration, Colle- 34 Vgl. z. B. die zahlreichen Eindrücke in Watzke-Otte, Glied, S. 137–224; Paul S. 134–206; Dietmar Süß, Winfried Süß, »›Volksgemeinschaft‹ und Vernich- Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer ge Park, Record Group 59/862.504/452; zu dem US-Report allgemeiner Patel, Seipp, Formung und Auslese im Reichsarbeitsdienst. Das Ergebnis des Dienst- tungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland«, in: dies. »Soldaten der Arbeit«, S. 289–291, 412. halbjahres 1934, 2. Aufl ., Berlin 1938; vgl. auch Kiran Klaus Patel, »Gemeinsa- (Hrsg.), Das »Dritte Reich«. Eine Einführung, München 2008, S. 79–100.

40 Einsicht 12 Herbst 2014 41 Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers Ab Mitte des Jahrzehnts begann sich allerdings ein zunächst noch nicht entsprochen. Bauer selbst jedoch verfocht diesen Weg und zaghafter Wandel abzuzeichnen, der unter anderem in heftiger Kritik seine Zielsetzung, indem er versuchte, große öffentlichkeitswirk- an dem einen oder anderen Freispruch bzw. milden Urteil für NS-Täter same Prozesse zu wichtigen Bereichen der nationalsozialistischen zum Ausdruck kam. In einigen Bundesländern stieg bereits 1955 die Verbrechen in Gang zu setzen. Zahl der neu eingeleiteten NS-Verfahren wieder an, in anderen wie in Bauers herausragende Rolle in der juristischen Auseinander- Die juristische Aufarbeitung von Hessen ab 1956. Eine wirkliche Wende erfolgte allerdings erst Ende setzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik ist in- 1958. Sie ging von der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart und dessen zwischen vielfach gewürdigt worden.6 Immer wieder wurde dabei NS-Verbrechen in Hessen Leiter Erich Nellmann, einem Sozialdemokraten wie Fritz Bauer, aus. allerdings auch seine Ausnahmestellung hervorgehoben und betont, Im Laufe der dortigen Ermittlungen zum Ulmer Einsatzgruppenpro- wie allein Bauer mit seinen Bemühungen gestanden habe und wie Die Ära von Generalstaatsanwalt zess 1957/58 war deutlich geworden, dass die Ermordung der Juden wenig ihm die Justiz gefolgt sei. Vor diesem Hintergrund will die- in Osteuropa durch deutsche SD- und Polizei-Einheiten sowie deren ser Beitrag die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen Fritz Bauer (1956–1968) lokale Helfershelfer noch überhaupt nicht richtig in den Fokus der in Hessen dahingehend betrachten, ob sich zumindest für dieses westdeutschen Strafverfolgung gerückt war und es den Ermittlern Bundesland unter dem Einfl uss Fritz Bauers als oberstem Straf- vielfach an den notwendigen Kenntnissen und Fertigkeiten fehlte, verfolger eine intensivere Verfolgung feststellen lässt, ob andere von Andreas Eichmüller derartige schon länger zurückliegende und im Ausland begangene Schwerpunkte bei der Verfolgung gesetzt wurden und wie sich die Als Fritz Bauer im Frühjahr 1956 sein Straftaten aufzuklären. Da die Täter zunächst oft unbekannt waren hessischen Bemühungen um eine strafrechtliche Aufarbeitung des Amt als Generalstaatsanwalt in Frankfurt und eine örtliche Zuständigkeit einer Staatsanwaltschaft nicht bestand, NS-Unrechts im bundesdeutschen Vergleich darstellen. Hessen kann am Main antrat, hatte die strafrechtliche schlug Nellmann die Schaffung einer zentralen Ermittlungsbehörde inzwischen zwar als das Bundesland gelten, für das die juristische Verfolgung von NS-Verbrechen in Hessen, vor, die sich systematisch den wichtigsten Verbrechenskomplexen Aufarbeitung von NS-Verbrechen am besten erforscht ist7, jedoch Andreas Eichmüller, geb. 1961, zumindest in reinen Zahlen gesehen, nach einer nahezu kontinuier- widmen sollte. Auf diese Weise wäre es auch möglich, auf Seiten fehlt bislang eine Einordnung der hessischen Strafverfolgung in den Studium der Geschichte und Poli- lichen Abnahme seit 1948 ihren niedrigsten Stand seit Kriegsen- der Staatsanwälte ein entsprechendes Fachwissen zu entwickeln. Der bundesdeutschen Rahmen. Eine solche soll im Folgenden anhand tikwissenschaft in München; 1994 de erreicht. Gerade einmal elf einschlägige Ermittlungsverfahren Vorschlag fand breite Unterstützung und führte zur Gründung der eines Vergleichs der nackten Zahlen und der Betrachtung einzelner Promotion; 1994–1998 freiberufl iche waren von hessischen Staatsanwaltschaften1 1955 noch eingeleitet Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nati- Strafverfahren versucht werden. Mitarbeit in verschiedenen histori- worden, je eine Person war in demselben Jahr wegen der Beteili- onalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die am 1. Dezember schen Projekten; 1999–2012 wissen- gung an nationalsozialistischen Gewalttaten angeklagt und verur- 1958 die Arbeit aufnahm. Die Stelle zeichnete in der Folge für die schaftlicher Mitarbeiter des Instituts teilt worden.2 Diese Entwicklung war keine hessische Spezialität, Einleitung zahlreicher neuer NS-Verfahren verantwortlich, blieb je- Die hessische Zahlenbilanz im Vergleich für Zeitgeschichte München-Berlin, sondern ein bundeseinheitlich festzustellender Trend, für den ein doch weitgehend auf reine Vorermittlungen beschränkt, hatte keine seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbei- Bündel von Ursachen verantwortlich zeichnete: eine fast naturge- Anklagebefugnis und litt insbesondere zu Beginn an Personalmangel.4 In den Jahren 1956 bis 1968 leiteten hessische Staatsanwaltschaften ter des NS-Dokumentationszentrums mäß mit der zunehmenden Entfernung von der Tatzeit abnehmende Fritz Bauer gehörte zwar zu den entschiedenen Befürwortern 679 Ermittlungsverfahren gegen rund 4.600 Beschuldigte wegen München. Anzeigenzahl, die intensive Ahndungstätigkeit bezüglich lokaler der Schaffung der Zentralen Stelle, beurteilte jedoch deren Erfolgs- NS-Verbrechen ein. Ähnlich wie in den anderen Bundesländern Veröffentlichungen (Auswahl): NS-Verbrechen in den ersten Nachkriegsjahren, die Teilamnestien aussichten durchaus skeptisch. Fünfzehn und mehr Jahre vom Tat- auch wurde der allergrößte Teil dieser Verfahren zur Gänze einge- Landwirtschaft und bäuerliche Be- von 1949 und 1954, die Verjährung minderschwerer Straftaten geschehen entfernt seien »einer umfassenden Bereinigung Grenzen stellt. Nur 87 Verfahren gelangten in das Stadium einer gerichtli- völkerung in Bayern. Ökonomischer und nicht zuletzt die sich besonders zu Beginn der 1950er Jahre gesetzt«, meinte er, zumal einige grundlegende Probleme dieser chen Voruntersuchung und wiederum nur gut die Hälfte davon (44) und sozialer Wandel 1945–1970. ausbreitende Schlussstrichstimmung, die auch vor der Justiz nicht Strafverfahren und strukturelle Defi zite der Justiz nur schwer aus der endeten mit einer Anklageerhebung gegen insgesamt 141 Ange- München 1997. »Die Strafverfolgung haltmachte.3 Welt zu schaffen seien. Ebenso wichtig erschien es Bauer deshalb, schuldigte. Bei den Einstellungsgründen dominierten die fehlenden von NS-Verbrechen durch westdeut- die Öffentlichkeit über den Nationalsozialismus und seine Verbre- oder nicht ausreichenden Beweise (etwa ein Drittel der Beschuldig- sche Justizbehörden seit 1945. Eine chen aufzuklären und auf diese Weise »die vergangene und zukünf- ten) und das Ausscheiden wegen Todes oder wegen unbekannten

Zahlenbilanz«, in: Vierteljahrshefte 1 Das Bundesland Hessen hat neun landgerichtliche Staatsanwaltschaften (Darm- tige Verantwortung aller Bürger für das politische und menschliche für Zeitgeschichte, 56 (2008), stadt, Frankfurt/Main, Fulda, Gießen, Hanau, Kassel, Limburg, Marburg und Geschehen in ihrem Staat«5 im Bewusstsein zu verankern. Seinem S. 621–640. Keine Generalamnestie. Wiesbaden) sowie die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Frankfurt Vorschlag, der Zentralen Stelle deshalb einen politischen Bildungs- am Main (Generalstaatsanwaltschaft). Die Strafverfolgung von NS-Verbre- auftrag zu geben und ihr Zeithistoriker anzugliedern, wurde zwar 6 Genannt seien hier nur die drei umfangreichen Studien bzw. Biographien: Matt- 2 Die Zahlen und Angaben zu einzelnen Ermittlungsverfahren basieren hier und im hias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung chen in der frühen Bundesrepublik, Folgenden (soweit nicht anders vermerkt) auf einer Auswertung der im Institut von NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden 2001; Irmtrud Wojak, München 2012. für Zeitgeschichte in München zugänglichen Datenbank »Die Verfolgung von Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009; Ronen Steinke, Fritz NS-Verbrechen durch deutsche Justizbehörden seit 1945. Datenbank aller Straf- Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München 2013. verfahren und Inventar der Verfahrensakten«, bearbeitet im Auftrag des Instituts 4 Vgl. Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Ge- 7 Friedrich Hoffmann, Die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbre- für Zeitgeschichte München-Berlin von Andreas Eichmüller und Edith Raim. schichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008, S. 20 ff. chen in Hessen, Baden-Baden 2001; Volker Karl Hoffmann, Die Strafverfolgung 3 Vgl. Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS- 5 Fritz Bauer, »Mörder unter uns«, in: Stimme der Gemeinde, H. 22 (1958), der NS-Kriminalität am Landgericht Darmstadt, Berlin 2013; Regina Maier, NS- Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012, S. 225 ff. S. 789 ff.; vgl. auch Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, Kassel, Darmstadt-Marburg 2009; eine weitere Arbeit zum Landgericht Wiesba- S. 174 ff. den ist im Entstehen.

42 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 43 Aufenthaltes (jeweils ein gutes Viertel der Beschuldigten). Der Tabelle 2: Ermittlungsverfahren hessischer Staatsanwalt- der daraus resultierenden Gründung der Zentralen Stelle in Lud- (8,6 Prozent). Auch hinsichtlich der Verteilung der hessischen Ver- Tod von bereits angeklagten Personen oder deren Verhandlungs- schaften wegen NS-Verbrechen 1945–1970 wigsburg. 1959/60 gaben die Ludwigsburger Ermittler die ersten fahren auf die verschiedenen NS-Verbrechenskomplexe ergeben unfähigkeit waren dafür verantwortlich, dass es nur noch in 36 der dort begonnenen Verfahren an hessische Staatsanwaltschaften ab. sich keine starken Abweichungen zum Bundesschnitt. Eine im Verfahren zu einer gerichtlichen Hauptverhandlung kam, deren V * AFERV Die Masse der neuen Verfahren in diesen Jahren resultierte daraus, bundesdeutschen Vergleich außergewöhnlich hohe Zahl an neuen Beginn oder Ende dann in nicht wenigen Fällen schon jenseits des dass die Staatsanwaltschaften einerseits selbst ältere, früher einge- NS-Verfahren leiteten die hessischen Justizbehörden im Untersu- Jahres 1968 datierte. 1945 54 36 0 0 18 stellte Verfahren wieder aufgriffen und anderseits nun auch wieder chungszeitraum demnach nicht ein. Allerdings folgt die Einleitung Im Untersuchungszeitraum 1956 bis 1968 selbst ergingen vor 1946 174 314 39 2 90 deutlich mehr Anzeigen bei den Behörden eingingen. So leitete etwa von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gewissen festen Regeln hessischen Gerichten gegen 75 Angeklagte rechtskräftige Urteile die Staatsanwaltschaft Darmstadt 1958 nach einer Anzeige des in (Wohn- oder Tatortprinzip), die zumal über Ländergrenzen hinweg wegen NS-Verbrechen; 50 der Angeklagten wurden verurteilt, 21 1947 136 455 147 12 189 diesen Jahren vor allem als rebellischer Vertreter der Kleinaktionäre nur schwer zu durchbrechen sind. freigesprochen und in vier Fällen verfügten die Richter die Ein- 1948 146 974 320 27 344 bekannt gewordenen Kohlenhändlers Erich Nold 54 Ermittlungsver- Mehr Aussagekraft hinsichtlich des Ahndungswillens besitzt stellung des Verfahrens. Bei den Verurteilten (Tabelle 1) sahen die fahren gegen Personen ein, die in Eugen Kogons Buch Der SS-Staat die Anklagetätigkeit. Hier offenbaren die vergleichenden Zahlen in 1949 99 411 233 28 243 Gerichte in drei Fällen wegen geringer Schuld von einer Bestrafung (1946) Verbrechen beschuldigt wurden, darunter auch eines gegen der Tat eine besondere Rolle Hessens. Wiederum bezogen auf den ab, 21 erhielten Strafen bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug, bei elf 1950 72 123 63 118 63 drei Ärzte, die im KZ Auschwitz an Selektionen mitgewirkt hatten.8 Bevölkerungsstand 1961 ergeben die 130 hier in den Jahren 1956 Verurteilten lag die verhängte Haftstrafe zwischen fünf und zehn, bei Da im Jahr 1960 die Verjährung von Totschlagverbrechen ein- bis 1968 wegen NS-Verbrechen Angeklagten nämlich pro 100.000 1951 48 48 37 41 41 drei zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Gegen zwölf Angeklagte trat, wurden außerdem in manchen bereits eingeleiteten Verfahren, Einwohner einen Wert von 2,7 bei einem Bundesschnitt von nur sprachen die Richter eine lebenslange Haftstrafe aus, allein sechs 1952 19 41 26 26 15 in denen die Ermittlungen noch nicht weit fortgeschritten waren, 1,6. Über dem Bundesschnitt lagen neben Hessen, aber mit deutlich davon wurden im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess verhängt, 1953 29 4 8 17 10 vorsorglich ein Gerichtsstand bestimmt, um die Verjährungsfrist zu niedrigeren Werten nur noch Hamburg (1,9) und Bayern (1,7). Mit drei weitere im zweiten und dritten Auschwitz-Prozess. unterbrechen. Dass die Zahl der neuen Ermittlungsverfahren in Hes- für den hohen Wert Hessens verantwortlich war sicherlich die hier 1954 134429 sen dann 1960 so stark anstieg, lag jedoch vor allem daran, dass die besonders gepfl egte Praxis der Durchführung von großen Komplex- 1955 111221 Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main nicht zuletzt ebenfalls verfahren, die im nächsten Abschnitt noch näher beleuchtet werden Tabelle 1: Rechtskräftige Urteile hessischer Gerichte wegen aus Gründen einer Verjährungsunterbrechung an die 50 Verfahren wird. Wie im übrigen Bundesgebiet auch lag der Schwerpunkt der NS-Verbrechen 1956–1968 1956 213112 gegen Richter und Staatsanwälte einleitete, die der Beteiligung an Ahndungstätigkeit in Hessen auf den bis dahin vernachlässigten 1957 381312 Unrechtsurteilen der NS-Justiz beschuldigt wurden. In den nachfol- Massenmorden an Juden in Osteuropa. Zählt man die Auschwitz- genden Jahren ging die Zahl der neu eingeleiteten Verfahren wieder Prozesse hinzu, so entfi elen auf diesen Verbrechenskomplex allein Freisprüche 21 1958 528100 etwas zurück, pendelte sich dann einige Jahre auf einem Wert um gut zwei Drittel aller wegen NS-Verbrechen in Hessen angeklagten Einstellungen 4 1959 632702 50 ein, unterbrochen 1965, als es im Vorfeld der anstehenden Ver- Personen. An zweiter Stelle folgte der Komplex NS-Euthanasie mit jährung von Mord noch einmal zu einem Zuwachs kam. Ab 1967 elf Prozent aller Angeklagten. Verurteilungen insgesamt 50 1960 1041102 setzte dann erneut ein weiterer Rückgang der Zahlen ein. Anklagen Die vermehrte Anklagetätigkeit in Hessen führte auch zu einer davon: unter 1 Jahr Haft 1 1961 718103 und Verurteilungen folgten diesem Auf und Ab etwas zeitversetzt, überdurchschnittlich hohen Zahl an Verurteilungen: Wiederum auf 1 bis unter 2 Jahre Haft 5 1962 497001 wobei hier aufgrund der insgesamt sehr geringen Zahlen kaum noch 100.000 Einwohner umgelegt, belief sich deren Zahl bei einem Bun- ein nach den statistischen Grundregeln zuverlässiger Vergleich mit desschnitt von 0,7 in Hessen auf 1,1; auf Hessen folgten in dieser 2 bis unter 5 Jahre Haft 15 1963 5129204 der bundesweiten Entwicklung möglich ist. Rechnung Baden-Württemberg (0,9) und Nordrhein-Westfalen (0,8). 5 bis unter 10 Jahre Haft 11 1964 493000 Setzt man die Zahl der neu eingeleiteten Verfahren mit der Be- Insgesamt urteilten die Gerichte in Hessen dabei kaum anders als in völkerung des jeweiligen Bundeslandes im Jahr 19619 in Beziehung, der übrigen Bundesrepublik, die Verurteilungsquote lag hier wie dort 10 bis 15 Jahre Haft 3 1965 7193116 so zeigen sich keine Auffälligkeiten. Der Anteil der hessischen an bei zwei Dritteln. Auch hinsichtlich der durchschnittlichen Dauer Lebenslange Haft 12 1966 4316103 den in den Jahren 1956 bis 1968 bundesweit eingeleiteten Ermitt- und des Umfangs von NS-Prozessen ragte Hessen insgesamt nicht lungsverfahren wegen NS-Verbrechen (7,7 Prozent) entspricht in et- besonders heraus. Zwar war der erste, 1963 begonnene Frankfurter von Strafe abgesehen 3 1967 3524204 wa dem der hessischen an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung Auschwitz-Prozess mit einer Dauer von 609 Tagen zwischen Er- 1968 32 20 0 1 13 öffnung der Hauptverhandlung und Verkündung des ersten Urteils 1969 299402 (183 Verhandlungstage) der bei weitem längste NS-Prozess in der Für sich allein genommen sagen diese Zahlen noch wenig über Bundesrepublik bis dahin. Jedoch bildete er damit auch für Hessen hessische Besonderheiten aus, erst der Vergleich mit den Daten 1970 346305 8 Es sind dies die Verfahren 2 Js 1001/58 bis 2 Js 1054/58; die allermeisten dieser eine Ausnahme, und er sollte hinsichtlich der Dauer der Hauptver- anderer Bundesländer und den bundesdeutschen Gesamtergebnissen Verfahren mussten eingestellt werden, vor allem weil der Großteil der Beschul- handlung schon bald durch zwei 1966 in Stuttgart und Münster digten bereits tot war, vgl. etwa 2 Js 1017/58 gegen Odilo Globocnik, Staatsar- * V = Verfahren | A = Anklagen | F = Freisprüche | E = Einstellungen im selben Zeitraum lässt gewisse Schlüsse zu. In ihrem zeitlichen chiv Darmstadt, H 13 Darmstadt, Nr. 1008. Zu einer Anklage führte nur das Ver- eröffnete Prozesse übertroffen werden. Bezüglich der Zahl der Ange- RV = Rechtskräftige Verurteilungen Verlauf unterschied sich die hessische Strafverfolgung kaum von fahren 2 Js 1048/58 gegen den Kommandanten des SS-Sonderlagers Hinzert, klagten und der Verurteilten hingegen sollte der Auschwitz-Prozess der bundesdeutschen: In der ersten Hälfte der 1950er Jahre fi el Paul Sporrenberg, das an die nach dem Tatort zuständige StA Trier abgegeben auch in der Folge unerreicht bleiben. Jedoch war er auch in dieser die Zahl der neu eingeleiteten Verfahren rasant und kontinuierlich, Verantwortlich für diesen Anstieg war die Intensivierung der Er- worden war. Zu einer Hauptverhandlung gegen Sporrenberg kam es jedoch nicht, Hinsicht für Hessen außergewöhnlich. Von den übrigen 17 Verfah- weil der Angeklagte nicht verhandlungsfähig war und Ende 1961 verstarb. danach stieg sie zunächst leicht und zum Ende des Jahrzehnts stark mittlungstätigkeit in der Folge der öffentlichen Debatten um die 9 Zahlen nach der Volks- und Berufszählung vom 6.6.1961, Statistisches Jahrbuch ren, in denen bundesweit im Untersuchungszeitraum zehn und mehr an. (Tabelle 2) Defi zite der Strafverfolgung von NS-Verbrechen im Jahr 1958 und für die Bundesrepublik Deutschland 1963, Stuttgart, Mainz 1963, S. 34. Personen angeklagt wurden, entfi el nur noch eines auf Hessen, das

44 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 45 gegen Angehörige des Sonderkommandos 4a (Strafsache gegen personellen Voraussetzungen her in der Lage waren, diese zu be- in Lublin gewesen war und mehrere seiner ehemaligen Kollegen in »Klärung des ganzen Komplexes« Tschenstochau anmahnte, lehnte Kuno Callsen u.a.), in dem 1967 der Prozess vor dem Landgericht wältigen. Dabei fällt auf, dass dies meist die Staatsanwaltschaften den hessischen Polizeidienst gebracht hatte.15 die Hanauer Staatsanwaltschaft 1958 zunächst die Übernahme des Darmstadt begann. Darmstadt, Frankfurt/M. oder Wiesbaden waren. Allein auf diese drei In einem allen Bundesländern übersandten Anlageschreiben Verfahrens gegen den Mitbeschuldigten Georg Schlosser mit dem Staatsanwaltschaften und die Generalstaatsanwaltschaft selbst entfal- zum Jahresbericht der Zentralen Stelle von 1960 hob Schüle Hessen Hinweis ab, dass gegen Unkelbach bereits Anklage erhoben sei und len 88 Prozent der in den Jahren 1960 bis 1968 erhobenen einschlä- erneut heraus, da man dort »in der Erkenntnis, daß nur bei Bildung keine Wohnsitzzuständigkeit bestehe. Nachdem Hanau dann doch Die Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaften gigen Anklagen. Fritz Bauer drängte im Mai 1962 auf der jährlichen von Großkomplexen nicht nur der Sachverhalt, sondern auch die noch überzeugt werden konnte, dieses Verfahren zu übernehmen, Tagung der Generalstaatsanwälte der Bundesrepublik seine Kollegen Stellung der einzelnen Beschuldigten in diesem Sachverhalt erschöp- stimmte der dortige Behördenleiter, Oberstaatsanwalt Günther Aust, Die Ermittlungstätigkeit der hessischen Justizbehörden gegen NS- – letztlich wohl weitgehend vergeblich –, dem hessischen Beispiel zu fend erforscht werden kann, solche Großkomplexe übernommen« nach einer Besprechung bei Bauer im März 1959 schließlich auch Verbrechen wurde zumindest seit Ende der 1950er Jahre entschei- folgen und die Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen stärker habe, während andere Staatsanwaltschaften dies abgelehnt hätten.16 zu, eine Voruntersuchung gegen den Vorgesetzten Unkelbachs, den dend von Generalstaatsanwalt Bauer geprägt. Bauer holte 1959 die zu kontrollieren, um auf diese Weise eine Beschleunigung und eine Zum damals guten Verhältnis zwischen der Zentralen Stelle und den in Celle wohnhaften ehemaligen Leiter der Schutzpolizei Tschensto- im Jahr davor in Stuttgart begonnenen staatsanwaltschaftlichen bessere länderübergreifende Koordinierung zu erreichen.11 Freilich hessischen Justizbehörden dürfte auch beigetragen haben, dass die chau, Paul Degenhardt, zu beantragen. Degenhardt wurden ebenfalls Ermittlungen zum KZ Auschwitz nach Frankfurt/M. und sorgte war es auch der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft trotz Per- Generalstaatsanwaltschaft nach der Übernahme von Verfahren aus zahlreiche Tötungsverbrechen vorgeworfen.19 Das Landgericht Ha- dafür, dass sie ausgeweitet zu einem großen Komplex-Verfahren sonalaufstockung nicht möglich, alle eingeleiteten Verfahren mit Ludwigsburg die Sachbearbeiter erst einmal für einige Tage oder nau verneinte jedoch eine örtliche Zuständigkeit und lehnte diesen und unterfüttert mit historischen Gutachten zu den Grundlagen des derselben Intensität zu begleiten und zu überwachen.12 auch Wochen zwecks Einarbeitung in den Fall zum Aktenstudium Antrag ab, weshalb das Verfahren gegen Degenhardt nach Lüneburg Tatgeschehens10 in einen großen öffentlichkeitswirksamen Prozess Bauer bemühte sich, die Aufklärung der NS-Verbrechen durch zur Zentralen Stelle schickte.17 abgegeben werden musste. münden konnten. die Bildung großer Verfahren zu bestimmten Tatkomplexen voran- Auf dem ersten Treffen der NSG-Sachbearbeiter der Staats- Bemerkenswert für die damalige, wenig auf die öffentliche Außerdem übernahm die Generalstaatsanwaltschaft nicht nur zutreiben. Er wusste sich dabei im Einklang mit dem ersten Leiter anwaltschaften in Calw im April 1964 waren es dann gerade die Wirksamkeit und die politische Dimension dieser Prozesse zielende – wie in anderen Bundesländern auch – die Ermittlungen in den der Zentralen Stelle, Erwin Schüle, der die Staatsanwaltschaften anwesenden hessischen Vertreter, die Schüle in seinem erneut vorge- Sichtweise der Justiz war die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte wegen deren Beteiligung aufgrund seiner Erfahrungen bei den Ermittlungen zum Ulmer Ein- tragenen Anliegen der Durchführung von Komplexverfahren gegen beantragte, Rundfunk und Fernsehen von der Verhandlung auszu- an Unrechtsurteilen der NS-Justiz, sondern darüber hinaus in einigen satzgruppen-Prozess von Beginn seiner Tätigkeit in Ludwigsburg manche Bedenken ihrer Kollegen aus anderen Bundesländern unter- schließen. »Ein so schwieriger Prozeß wie der gegen Unkelbach weiteren Fällen, in denen es Bauer aufgrund der Bedeutung des Ge- an zur Durchführung derartiger Verfahren anhielt. In einem Brief an stützten und so die letztlich dort erreichte Übereinkunft beförderten, sollte mit den zu erwartenden tragischen Augenblicken nicht der genstandes oder personeller Engpässe bei den Staatsanwaltschaften Bauer bezeichnete Schüle die Zusammenarbeit mit den hessischen zumindest in bestimmten Bereichen wie bei Einsatzgruppenver- Erfüllung des Unterhaltungsbedürfnisses dienen«, hieß es in der notwendig schien, so etwa beim gesamten in über 20 Verfahren Staatsanwaltschaften als »sehr gut« und lobte die »vorzügliche Un- brechen möglichst Komplexverfahren durchzuführen.18 Tatsächlich aufgeteilten Euthanasie-Komplex oder den Ermittlungen gegen An- terstützung« der Zentralen Stelle durch die Sonderkommission zur setzte sich diese Praxis bundesweit immer mehr durch, ohne dass gehörige des Sonderkommandos 4a. Ermittlung in NS-Verbrechen beim hessischen Landeskriminalamt.13 sie freilich zur Regel geworden wäre. Wie die meisten anderen Bundesländer (mit Ausnahme Nord- Solche kriminalpolizeilichen Sonderkommissionen wurden in Alexander Stein rhein-Westfalens und des Landesteils Nordwürttemberg) folgte allen Bundesländern ins Leben gerufen, in Hessen, nachdem schon Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion« Hessen nicht der Anregung der Zentralen Stelle, die NS-Verfahren im September 1959 zwei Beamte des LKA speziell für diese Arbeit Komplexverfahren Herausgegeben und eingeleitet von Lynn Ciminski und Martin Schmitt. Mit einem Geleitwort von Hanna Papanek bei einer oder einigen Staatsanwaltschaften zu zentralisieren. Al- abgeordnet worden waren, zu Beginn des Jahres 1960, bestehend ‡6HLWHQ‡(XUR‡,6%1 14 lerdings übernahm die hessische Generalstaatsanwaltschaft über dann aus einem Leiter und acht Ermittlungsbeamten. Die Beset- Auch in Hessen war sie anfangs keine Selbstverständlichkeit. 1957 Hannah Arendt über dieses Buch: Die wiederholten Nachweise, ihre normale Aufsichtstätigkeit hinaus für diese Verfahren ab Ende zung solcher Sonderkommissionen mit Personen ohne NS-Belastung hatte ein auf Besuch in Deutschland weilender jüdischer Überleben- daß es sich bei den Protokollen um eine Fälschung handelt, wie auch die unermüdlichen Enthüllungen ihrer wirklichen Entstehung, der 1950er Jahre die Funktion einer zentralen Koordinierungsstelle erfolgte ebenfalls auf Anregung Ludwigsburgs und entsprang der Er- der den während des Krieges als Polizist in Tschenstochau tätigen sind ziemlich irrelevant. Es ist von weitaus größerer Wichtigkeit, und Kontrollinstanz. Sie erteilte Weisungen, wie die Ermittlungen fahrung der Ermittler, dass sich viele Polizeibeamte, die im Krieg an Wilhelm Unkelbach wegen Mordes angezeigt, woraufhin gegen daß man nicht das erklärt, was an den Protokollen offenkundig, sondern was an ihnen mysteriös ist: vor allem, weshalb sie trotz zu führen waren, ließ sich über den Fortgang der Verfahren regel- NS-Verbrechen mitgewirkt hatten, wieder im Polizeidienst befanden diesen in Hanau eine Voruntersuchung eröffnet wurde. Im Lauf der der offensichtlichen Tatsache, daß es sich um eine Fälschung han- mäßig schriftlich und teils auch mündlich berichten, informierte und die Ermittlungen behinderten. Dass eine derartige Vorsichts- Untersuchung, in der auch zahlreiche Zeugen aus dem Ausland ver- delt, andauernd geglaubt werden. Hier, und nur hier allein liegt der die Staatsanwaltschaften über weitere Ermittlungsmöglichkeiten maßnahme auch in Hessen angebracht war, sollte sich im Lauf des nommen wurden, wurden nicht nur mehrere weitere Mordbeschuldi- Schlüssel zu der Frage, die allem Anschein nach niemand mehr stellt, warum die Juden der Funke waren, an dem sich der Nazis- oder einschlägige neue Gerichtsentscheidungen, und sie wies gemäß Jahres 1960 zeigen, als der Leiter der Kripo in Limburg unter dem gungen gegen Unkelbach erhoben, sondern auch gegen einige seiner mus entzündete … (Das) beweist, wie recht Alexander Stein mit § 13 und § 145 Gerichtsverfassungsgesetz Verfahren bestimmten dringenden Verdacht der Beteiligung an der Ermordung von Juden in ehemaligen Kollegen. Obwohl die Generalstaatsanwaltschaft die seiner wissenschaftlichen Abhandlung über Adolf Hitler: Schüler der »Weisen von Zion« hatte, einer Veröffentlichung, die in den Staatsanwaltschaften zu, von denen sie glaubte, dass diese von den Lublin festgenommen wurde und sich nach und nach herausstellte, dreißiger Jahren nicht auf das geringste Echo stieß. Er weist darin dass der Mitte der 1950er Jahre pensionierte stellvertretende Leiter nach, daß die Organisation der angeblichen »Weisen von Zion« ein Modell war, dem die faschistische Organisation nacheiferte, des Landeskriminalamts früher Kommandeur der Sicherheitspolizei und daß die Protokolle all die Grundsätze enthielten, die sich der 15 Vgl. HHStAW, Abt. 468, Nr. 1373/181, Vermerk vom 29.11.1960; Weinke, Ge- Faschismus aneignete, um die Macht zu erringen. 10 Solche Gutachten wurden auf Initiative Bauers auch für einige weitere einschlä- sellschaft, S. 50. gige Verfahren beauftragt; vgl. etwa Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 16 Staatsarchiv München, Generalstaatsanwaltschaft Nr. 5198/1, Bayerisches Justiz- Gerhard Stapelfeldt (HHStAW), Abt. 468, Nr. 1373/182, Vermerk vom 12.2.1962 (Sommerland); Ver- ministerium an Generalstaatsanwaltschaft München vom 27.1.1961. Aufstieg und Fall des Individuums merk vom 21.1.1963 über Besprechung beim Institut für Zeitgeschichte; Bundes- 11 Vgl. Protokoll der Tagung, BArch B 141/29087. 17 Vgl. HHStAW, Abt. 461, Nr. 32438/168, Tätigkeitsbericht Kapfer für die Zeit 19Kritik Vgl. der HHStAW, bürgerlichen Abt. 471,Anthropologie Nr. 366/6, Besprechungsvermerk vom 24.3.1959; archiv (BArch) B 141/33711, Vermerk über Besprechung »der altpolitischen De- 12 Zumindest drängt sich dieser Eindruck nach dem Studium von Ermittlungsakten vom 28.10.–5.12.1959; Joachim Kügler, »Es hat das Leben verändert«, in: Irm- 2014Nr.‡6HLWHQ‡(XUR‡,6%1 366/7, Schreiben der GStA vom 4.12.1958 und 3.7.1959 sowie die Antwort zernenten« der Staatsanwaltschaft beim OLG Frankfurt/M. und der auf, in denen sich kaum ein Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft fi ndet; vgl. trud Wojak, Susanne Meinl (Hrsg.), Im Labyrinth der Schuld. Täter – Opfer – An- Dasder Individuum, Staatsanwaltschaft das in derdarauf Epoche vom des6.7.1959. Imperialismus Die Zentrale in der Stelle » Mas beschwerte se« sich Staatsanwaltschaften Frankfurt/M. und Wiesbaden mit Vertretern der Zentralen etwa HHStAW, Abt. 461, Nr. 33154/5 (zu Frankfurt/M. 4 Ks 1/61). kläger, Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 297–314, hier S. 298. unterging,daraufhin untermit Schreiben dem Nationalsozialismus vom 1.2.1960, dass liquidiert die zahlreichen wurde, Koordinierungsver- scheint Stelle und des Instituts für Zeitgeschichte am 7.11.1962; Meusch, Diktatur, 13 HHStAW, Abt. 505, Nr. 2599, Schüle an Bauer vom 6.5.1960. 18 HHStAW, Abt. 505, Nr. 2611, Niederschrift der Arbeitstagung vom 7. bis suche gescheitert seien, und kündigte an, nun selbst wenigstens noch einen Teil in der gegenwärtigen neoliberalen Weltordnung auferstanden. ça ira – verlag der initiative sozialistisches forum postfach 273 · 79002 freiburg 0761 / 37939 [email protected] · www.isf-freiburg.org S. 176 f. 14 Vgl. Hess. Justizministerium an Staatskanzlei vom 30.8.1960, ebd. 9.4.1964. des verantwortlichen Personals ermitteln zu wollen.

46 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 47 Begründung.20 Unkelbach wurde im Juni 1959 wegen mehrfachen von den dann angeklagten neun Personen konnte noch gegen sieben Nachweis einer individuellen Tatbeteiligung herbeizuführen, war Fritz Bauers schon 1958 geäußerte Skepsis hinsichtlich der Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, der Mitangeklagte die Hauptverhandlung begonnen werden; ein rechtskräftiges Urteil nicht erfolgreich.26 Die bundesweit festzustellenden Lücken und Möglichkeiten einer umfassenden juristischen Ahndung von NS- Schlosser mangels hinreichender Beweise freigesprochen. Allerdings erging schließlich nur noch gegen vier Beschuldigte.23 Defi zite bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen waren deshalb Verbrechen mehr als zehn Jahre nach Kriegende erwies sich demnach lagen gegen Schlosser neben den angeklagten noch zahlreiche wei- Auch in Hessen wurden die wenigsten der an den Mordaktionen auch in Hessen sichtbar, etwa die vielfach milde Bestrafung von als durchaus berechtigt. Zu hoch waren die vom Gesetz und den tere Mordvorwürfe vor. Da diese nicht in direktem Zusammenhang beteiligten Personen angeklagt. Dies hatte ermittlungstechnische wie Tätern lediglich als Gehilfen oder das Ausbleiben der Aburteilung Gerichten aufgetürmten juristischen Hürden, zu groß die Abnei- mit den Taten Unkelbachs standen, gab die Staatsanwaltschaft Ha- politische Gründe. Die Aburteilung von in die zehntausende gehen- von Verbrechen der NS-Justiz und der Wehrmacht.27 Die zahlreichen gung in Teilen der Justiz gegen NS-Prozesse, zu ausgeprägt die nau das Verfahren an die nach dem Wohnort Schlossers zuständige den, eher in untergeordneten Positionen an den Taten beteiligten von der Generalstaatsanwaltschaft eingeleiteten Verfahren gegen Widerstände in der Bevölkerung. Die unter seinem maßgeblichen Staatsanwaltschaft Bamberg ab. Personen war auch in den 1960er Jahren politisch nicht durchsetzbar. NS-Juristen wegen Beteiligung an Unrechtsurteilen stellte Bauer Einfl uss intensivierte Ermittlungstätigkeit in Hessen blieb so zwar Einige der später begonnenen Verfahren versah Bauer dann bereits Prozesse mit hunderten von Angeklagten hätten die ordentlichen alle ein, in der Regel mit dem Hinweis auf die restriktive Recht- nicht ohne, aber aufs Ganze gesehen doch nur von geringer Wir- von Anfang an mit dem Hinweis, diese seien als Komplex aufzuklären. Strafverfolgungsbehörden darüber hinaus vor kaum zu bewältigen- sprechung des Bundesgerichtshofs bezüglich Rechtsbeugung. Auch kung. Größere Bedeutung erlangten hingegen seine Anstöße zur »Untersuchung und Verfolgung sämtlicher durch Angehörige des Pol. de Probleme gestellt. Außerdem drohten wichtige und gerade bei sein ambitionierter Versuch, wenigstens die Spitzen der NS-Justiz, historischen Erforschung von NS-Verbrechen und sein Bemühen, Batl. 91 Ende 1939/Anfang 1940 in Polen begangener Verbrechen« Erschießungsaktionen vielfach unersetzliche Zeugen auszufallen, vor allem in Gestalt der Oberlandesgerichtspräsidenten und Gene- mittels öffentlichkeitswirksamer Prozesse eine intensivere Ausei- lautete zum Beispiel ein Auftrag an die Staatsanwaltschaft Wiesbaden wenn man alle am Geschehen beteiligten Personen anklagte. Zwar ralstaatsanwälte, wegen ihrer Billigung der nationalsozialistischen nandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu initiieren. Der nach im Februar 1960.21 Blieb dieses Verfahren mit 17 Beschuldigten, drei bestand weitgehend Einigkeit, dass zum Beispiel auch Polizisten, die Krankenmorde zur Verantwortung zu ziehen, scheiterte.28 einer vierjährigen Vorbereitung von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Angeklagten und einer Dauer von zwei Jahren von der Einleitung bis nicht eigenhändig an Judenerschießungen teilgenommen, jedoch am Main durchgeführte Auschwitz-Prozess ist in dieser Hinsicht als zum ersten Urteil recht überschaubar, so erreichten andere wie etwa Transport zu den Erschießungsplätzen oder an der Absperrung der nachhaltiger Erfolg Bauers zu werten. der Auschwitz-Komplex oder das ebenfalls in Frankfurt am Main Erschießungsplätze mitgewirkt hatten, objektiv Beihilfe zum Mord 26 Vgl. zuletzt Werner Renz, »Auschwitz und die deutsche Strafjustiz: keine Er- anhängige Verfahren wegen Massenmorden an Juden im Raum Pinsk geleistet hatten. In den meisten Fällen wurde diesen Männern aber folgsgeschichte«, in: Recht und Politik, Jg. 50 (2014), H. 2, S. 77–84. erheblich umfangreichere Dimensionen; im Fall Auschwitz waren es als letzte Glieder in der Befehlskette Befehls- oder Putativnotstand 27 Für ein hessisches Beispiel zu letzterem Komplex vgl. Eichmüller, Keine Gene- über 1.000 und im Fall Pinsk mehr als 900 Beschuldigte. eingeräumt oder aber nach § 153a Strafprozessordung in Verbindung ralamnestie, S. 327 f. Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung, Frankfurt am Main u. a. 1996; 28 Vgl. Hanno Loewy, Bettina Winter (Hrsg.), NS-»Euthanasie« vor Gericht. Fritz sowie Meusch, Diktatur, S. 251 ff.; Wojak, Fritz Bauer, S. 368 ff. Der Hauptnachteil von Verfahren einer derartigen Größe war mit § 47 Abs. 2 Militärstrafgesetzbuch wegen geringer Schuld von die lange Verfahrensdauer, die sich allein schon aus den zahlreichen ihrer Verfolgung und Bestrafung abgesehen. Gerade der letztgenann- notwendigen Personenermittlungen und Vernehmungen ergab. Führ- te Weg wurde in Hessen, wo man unter dem Eindruck der Ermitt- te eine Staatsanwaltschaft mehrere solcher Verfahren parallel – und lungsergebnisse immer weniger geneigt war, das Notstandsargument dies war in den 1960er Jahren die Regel –, geriet sie außerdem nicht uneingeschränkt gelten zu lassen, seit Mitte der 1960er Jahre häufi g selten personell an ihre Grenzen. Immer wieder fi nden sich deshalb beschritten.24 Im Zusammenwirken mit einer vielfach schlechten Hinweise, dass sich Verfahren verzögerten, weil die Staatsanwälte Beweislage, der schwindenden Erinnerung sowie widersprechenden Der Widerstand im Dritten Reich, der am 20. Juli 1944 schlagartig 22 und Untersuchungsrichter überlastet waren. Trotz Personalaufsto- Zeugenaussagen waren derartige Rechtsfi guren dafür verantwortlich, sichtbar wurde, ist ab spätestens 1937 als ein dynamisches Netzwerk ckung erwies es sich in dieser Situation als unumgänglich, gewisse dass Verfahren wie etwa das gegen Angehörige der Ordnungs- und faßbar. Die Menschen hinter diesem Widerstand kamen in ihrer Schwerpunkte zu setzen. Sicherheitspolizei wegen zahlreicher Erschießungsaktionen im uk- Mehrzahl aus fest umrissenen sozialen Gruppen. Eine davon bestand 25 Konnte deshalb das Auschwitz-Verfahren durch besondere An- rainischen Poltawa scheiterten und ohne Anklage blieben. aus mindestens 38 Männern, die sich als Studenten einem akademi- strengung nach der freilich zum damaligen Zeitpunkt extrem langen Bei der rechtlichen Bewertung der NS-Verbrechen hatten sich schen Corps angeschlossen hatten. Dauer von sechs Jahren 1965 zu einem erfolgreichen Abschluss die hessischen Behörden an der bundesdeutschen Rechtsprechung Im Gesamtnetzwerk des Widerstands gab es eine Vielzahl von Mehr- durch ein erstes Urteil gebracht werden, so sollten im ebenfalls 1959 zu orientieren. Der Versuch Bauers, hier im Rahmen des Auschwitz- begonnenen Fall Pinsk fast 14 Jahre vergehen, ehe 1973 das Urteil Prozesses eine Richtungsänderung bei Massenverbrechen weg vom fachbindungen in soziale Netzwerke: Viele Akteure waren miteinan- erging. Derart lange Verfahren endeten dann nicht selten insofern we- der verwandt, kannten sich aus Internaten oder trafen sich später in nig befriedigend, als mehrere der beschuldigten Personen in der Zwi- kirchlichen Kreisen wieder – und sie waren insgesamt zahlreicher als schenzeit verstorben oder wegen Verhandlungsunfähigkeit ausge- bisher bekannt. Natürlich gab es auch einige wenige Einzelattentäter schieden waren. Im Falle Pinsk verstarben bereits im Laufe der gegen 23 Vgl. Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, Gf 03.42/1-66 (StA Frankfurt/M. gegen Hitler, und sie setzten Zeichen, die bekannt und unvergessen 4 Js 901/62 und 4 Js 724/63); Torsten Schäfer, »Jedenfalls habe ich auch mitge- sind. Interessant ist aber das sieben Jahre lang operierende Netzwerk 22 Personen eröffneten Voruntersuchung vier der Angeschuldigten; schossen.« Das NSG-Verfahren gegen Johann Josef Kuhr und andere ehemalige Angehörige des Polizeibataillons 306, der Polizeireiterabteilung 2 und der SD- des Widerstands, das noch nicht vollständig erforscht ist. Durch viele Dienststelle von Pinsk beim Landgericht Frankfurt am Main 1962 bis 1973, indirekte Kontaktflächen nahmen hier die korporierten Studenten, Hamburg 2007, S. 373 ff. besonders die 38 Corpsstudenten, eine erkennbare Rolle ein. 20 Ebd., Nr. 366/6, Schreiben der Staatsanwaltschaft Hanau vom 25.5.1959. 24 Vgl. HHStAW, Abt. 461, Nr. 32438/168, Vermerk vom 6.4.1960 über eine Be- 21 Staatsarchiv München, 21859/1, Vermerk Rahn vom 27.12.1961 zu StA sprechung in Ludwigsburg; Nr. 32589/27, undatierter Vermerk (Großmann) über 511 Seiten, 16 Bildtafeln mit 36 Abb., 2014 Wiesbaden 2 Js 143/60 (Hervorhebung im Original). eine Besprechung beim Generalbundesanwalt vom 8.1.1965 und Vermerk vom ISBN 978-3-428-14319-1, geb. mit Schutzumschlag, € 39,90 22 Vgl. etwa HHStAW, Abt. 461, Nr. 32744/87, Vermerk vom 23.12.1963; 8.3.1965 über eine Besprechung bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Insge- Nr. 30855/8, Vermerk vom 2.4.1069 oder Abt. 468, Nr. 381/6, Vermerk vom samt wurde zwischen 1965 und 1968 gegen 117 Personen das Verfahren mit die- Auch als E-Book erhältlich 3.12.1963. Bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. waren Anfang 1960 acht ser Begründung eingestellt. Großverfahren anhängig, weitere sollten folgen, vgl. HHStAW, Abt. 505, Ver- 25 Vgl. HHStAW, Abt. 468, Nr. 381/6, Vermerke vom 17.2.1967 und 26.10.1967 (zu www.duncker-humblot.de merk vom 24.2.1960. StA Wiesbaden 2 Js 1025/61).

48 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 49 Am 7. Oktober 1944 geschah jedoch etwas anderes: Mehrere im Aufbau befi ndlichen Lagers Birkenau als Gaskammern (Bunker hundert der bei den Gaskammern und Leichenverbrennungsanlagen genannt) her. Nachdem ab September 1941 mehrfach große Gruppen arbeitenden Häftlinge setzten sich zur Wehr, als die SS sie wegbrin- von sowjetischen Kriegsgefangenen und Häftlingen durch Zyklon B gen und ermorden wollte, und beim Krematorium II eingesetzte ermordet worden waren, im Herbst und Winter 1941/1942 tausende Häftlinge, die wahrnahmen, dass bei den Krematorien IV und V sowjetische Kriegsgefangene starben sowie seit Anfang 1942 große Jetzt oder nie! der Aufstand begonnen hatte, holten versteckte Waffen und Draht- Gruppen von Juden zunächst im Leichenkeller des später als »Al- scheren hervor, schnitten Lücken in die Stacheldrahtumzäunung und tes Krematorium« bzw. »Krematorium I« bezeichneten Gebäudes Zum 70. Jahrestag des Aufstands versuchten in Richtung der circa 25 Kilometer südlich des Lagers vergast wurden und seit Frühjahr 1942 in den umgebauten Häusern beginnenden Gebirgskette der Beskiden zu fl iehen. Juden ermordet wurden, beschloss die Lagerführung, die Leichen im Sonderkommando in Birkenau zunächst vergraben zu lassen. Zum Herausholen der Leichen aus den Gaskammern und zum Vergraben sowie ab September 1942 am 7. Oktober 1944 Vernichtung in Auschwitz zum Öffnen dieser Massengräber und zum Verbrennen der Leichen wurden Juden eingesetzt. Die Angehörigen dieser als »Sonderkom- In ihrer Studie Werte gegen Gewalt stellt Anna Pawełczyńska fest, mando« bezeichneten Gruppen wurden zunächst nach jeder Ver- von Jochen August dass die jüdischen Häftlinge schlechtere Überlebenschancen hatten nichtungsaktion, später jeweils nach einigen Wochen oder Monaten, Nachdem die östlich der Weichsel gele- als die anderen, dass bereits bei der Ankunft die Chancen ungleich ermordet und durch jüdische »Zugänge« ersetzt. Seit 1943 setzte die genen Vernichtungslager Bełżec, Sobibór verteilt waren und dass auch die Möglichkeiten zum Widerstand SS jüdische Häftlinge auch in den beim Lager Birkenau gebauten und Treblinka 1943 abgerissen worden ungleich und damit für die Juden schlechter waren.2 Noch mehr traf vier neuen Krematorien ein.5 waren, wurde im Verlauf des Jahres 1944 dies auf die bei den Gaskammern, Krematorien und Leichenverbren- Einige dieser Häftlinge wurden jedoch länger am Leben gelas- Jochen August, geb. 1954, Politologe Auschwitz zum Zentrum der Vernichtung. Von April bis November nungsgruben eingesetzten jüdischen Häftlinge zu. sen. Dabei handelte es sich zum einen um mehrere in dem Kremato- und Übersetzer; studierte Politikwis- 1944 wurden 437.000 Juden aus Ungarn, 67.000 Juden aus dem Pawełczyńska, ab August 1942 zunächst Häftling im Warschauer rium beim Stammlager arbeitende deutsche und polnische Häftlinge, senschaften und russische Sprache Getto Litzmannstadt, 26.000 Juden aus dem Getto Theresienstadt, Gefängnis Pawiak und vom 13. Mai 1943 bis 25. Oktober 1944 in zum anderen um bereits seit 1942 diesem Krematorium zugeteilte und Literatur an der Freien Univer- 6.000 Juden aus Griechenland und mehrere zehntausend Juden Birkenau, hatte erlebt, wovon sie schrieb. Das Gefängnis stand mit- jüdische Häftlinge, die wahrscheinlich aufgrund ihrer inzwischen sität Berlin. 1988–1992 Studienleiter aus sogenannten Restgettos, Juden-Zwangsarbeitslagern und dem ten im Warschauer Getto; während der letzten vier Wochen vor dem erworbenen Fähigkeiten im Kommando belassen wurden. 1943 in der Internationalen Jugendbegeg- Konzentrationslager Płaszów sowie aus den noch dem Zugriff der Transport nach Auschwitz wurde sie Zeugin des dort am 19. April wurden diese Häftlinge im Zuge der Fertigstellung der Krematori- nungsstätte in Oświęcim (Auschwitz). Nationalsozialisten ausgesetzten Ländern Europas und dem Reichs- 1943 begonnenen Aufstands. Das Frauenlager in Birkenau grenzte ab umsgebäude nach Birkenau versetzt und bildeten den Kern des SKs.6 Forschungen zur deutschen Besat- gebiet nach Auschwitz deportiert und größtenteils in den 1942 und Juli 1943 direkt an das Gelände des Krematoriums II; seit Mai 1944 Nachdem die Leichen aus den Massengräbern bis Ende Novem- zungspolitik in Polen 1939–1945 und 1943 gebauten Gaskammern in Birkenau ermordet. Am 8. und endeten die Züge mit den nach Auschwitz deportierten Juden auf den ber 1942 verbrannt worden waren, wurden die dabei eingesetzten zur Geschichte des Konzentrationsla- 9. März 1944 brachte die SS fast 3.800 Juden aus dem Lagerab- zwischen dem Frauenlager und den Männerlagern gebauten Gleisen. Juden Anfang Dezember 1942 ermordet. Anschließend wurde ein gers Auschwitz. schnitt, in den Insassen des Konzentrationslagers Theresienstadt Als am 7. Oktober 1944 der Aufstand im Sonderkommando (fortan: neues SK gebildet, dem zunächst ab dem 6. Dezember 1942 aus Veröffentlichungen (Auswahl): Die im September 1943 verbracht worden waren (»Tschechisches Fa- SK) begann, war Pawełczyńska mit Kameradinnen ihres Arbeitskom- Gettos in Nordostpolen deportierte Juden und hundert am 4. März Auschwitz-Hefte. Texte der polni- milienlager«), in den Gaskammern um, vom 10. bis 12. Juli 1944 mandos beim Zaun zwischen dem Frauenlager und dem Krematori- 1943 mit einem Transport aus Drancy (Frankreich) angekommene, schen Zeitschrift »Przegląd Lekarski« bei der Liquidierung dieses Lagers weitere ungefähr 6.700 Juden. um II. Sie hörte Explosionen, sah aus unmittelbarer Nähe, wie die größtenteils aus Polen stammende Juden zugeteilt wurden.7 über historische, psychische und me- Am 2. und 3. August 1944 löste die SS das »Zigeunerlager« auf Männer vom SK den Stacheldrahtzaun aufschnitten und im Kugelha- dizinische Aspekte des Lebens und und tötete fast 3.000 Sinti und Roma in den Gaskammern. Im Fe- gel zu fl iehen begannen, hörte, dass sie ihnen auf Polnisch zuriefen: Sterbens in Auschwitz, hrsg. zus. mit bruar und März 1943 waren circa 20.000 Sinti und Roma nach »Frauen, fl ieht!«, und sah, wie sie von den auf den Wachtürmen um Götz Aly und Jan Philipp Reemtsma Auschwitz deportiert worden. Aus innerdeutschen Konzentrations- das Lager stehenden SS-Posten zusammengeschossen wurden.3 5 Franciszek Piper, »Vernichtung«, in: Długoborski, Piper (Hrsg.), Auschwitz vom Hamburger Institut für Sozial- lagern wurden 1944 mehrere tausend als nicht mehr arbeitsfähig Bereits ab August 1940 gab es in Auschwitz (Stammlager) einen 1940–1945, Bd. III, S. 164 f., 213–236. – Je nachdem, ob die in Birkenau gebau- forschung, Weinheim und Basel 1987, eingestufte Häftlinge nach Auschwitz überstellt und zum größten in einem früheren Magazingebäude aufgestellten Leichenverbren- ten vier Krematorien gesondert nummeriert wurden oder ob die Zählung auch das zeitlich früheste der fünf Krematorien beim Stammlager Auschwitz einbezog, 1 erw. Neuausgabe Hamburg 1994; Teil ermordet. nungsofen, bei dem ein kleines Häftlings-Arbeitskommando einge- wurden sie als Krematorium I, II, III und IV oder als Krematorium II, III, IV und »Sonderaktion Krakau«. Die Verhaf- setzt wurde; Anfang 1941 und 1942 wurden dort weitere Öfen mon- V bezeichnet. In diesem Aufsatz wird konsequent die Nummerierung II und III tung der Krakauer Wissenschaftler am tiert.4 Ab Frühjahr 1942 richtete die SS zwei Häuser in der Nähe des (die Krematorien am Ende der Gleise) sowie IV und V (die bei der »Sauna« und 6. November 1939, Hamburg 1997. dem Effektenlager stehenden Krematorien) verwendet. 1 Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz- 6 Filip Müller, Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskam- Birkenau 1939–1945, Reinbek bei Hamburg 1989; Wacław Długoborski, Francis- mern von Auschwitz, München 1979; Stanisław Jankowski (Alter Fajnzylberg), zek Piper (Hrsg.), Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrati- Protokoll der Aussage am 16.4.1945, in: Jadwiga Bezwińska, Danuta Czech ons- und Vernichtungslagers Auschwitz, Bd. I–V, Oświęcim 1999; Jean-Claude 2 Anna Pawełczyńska, Werte gegen Gewalt. Betrachtungen einer Soziologin über (Hrsg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern Pressac, Auschwitz: Technique and operation of the gas-chambers, New York Auschwitz, Oświęcim 2001, S. 91–113. des Sonderkommandos, Oświęcim 1996, S. 25–57; Henryk Tauber, Protokoll der 1989; ders., Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, 3 Dies., Dary losu [Geschenke des Schicksals], Łomianki 2013, S. 87 f., 90, Aussage am 24.5.1945, in: Piper, »Vernichtung«, S. 273–302. München 1994; Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Aufgrund 109–113. 7 Piper, »Vernichtung«, S. 215 ff.; Czech, Kalendarium, S. 352 ff., 430; der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990, Oświęcim 1993. 4 Pressac, Krematorien, S. 14 ff., 21, 29 f., 41, 47 ff. Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 62 f.

50 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 51 Den Häftlingen wurde nicht gesagt, was ihnen bevorstand. Abra- 1937/38 als Interbrigadist gekämpft und sich 1940 der Résistance Stacheldrahtzäune, Tore, auf Wachtürmen stehende bewaffnete SS- seit 1943 die konspirativen Verbindungen nach Krakau unterhielten, ham und Shlomo Dragon, die am 6. Dezember 1942 in Auschwitz angeschlossen.10 Dass auch unter den im Dezember 1942 aus Gettos Posten abgetrennt und bewacht, um die zur Vergasung gebrachten in die Struktur des polnischen Untergrundstaats eingebunden waren). ankamen, berichteten, dass ihnen einige Tage später der die Auswahl in Nordostpolen deportierten Juden kampfbereite und weitblickende Menschen am Widerstand zu hindern und das Gelände zu tarnen. Für die erwartete Zuspitzung der Lage arbeitete die KGA gezielt vornehmende Hauptscharführer Otto Moll sagte, er werde Arbeiter Männer waren, zeigen exemplarisch Lejb Langfus, Salmen Gradowski Diese bis heute sichtbaren Hindernisse sollten auch die im SK ein- darauf hin, eine auch die polnischen Offi ziere unter den Häftlin- für eine Gummifabrik aussuchen. Anschließend wurden sie in einer und Salmen Lewental, drei der Verfasser der heimlich aufgezeichne- gesetzten Häftlinge voneinander trennen, Fluchten verhindern und gen einbeziehende breitere Koordination zu bilden, die schließlich Gruppe von hundert Männern in einen Block im Lager Birkenau ten und 1944 bei den Krematorien vergrabenen Manuskripte.11 Bald ihre Kooperation erschweren. Mitte 1944 als konspirativer Rada Wojskowa Oświęcim (Militärrat gebracht: »Dieser Block gehörte einer Gruppe, die vor uns dort gehörten sie zu den Leitern der konspirativen Gruppe im SK. Die Kontakte zwischen SK-Häftlingen und anderen Häftlingen Auschwitz; fortan: MRA) gebildet wurde. gearbeitet hatte und ein oder zwei Tage zuvor umgebracht worden In Birkenau war das SK bis Mitte 1944 im Männerlager (BIId) konnten allerdings nicht vollständig unterbunden werden. Die Kapos Ab Juli 1944, nachdem keine weiteren Transporte mit Juden war. Die Kleider lagen noch dort, als ob man sie vor wenigen Au- untergebracht, so dass Kontakte mit anderen Häftlingen möglich des Kommandos gingen zu den anderen Krematorien; Kontakte mit aus Ungarn mehr eintrafen, stand den Häftlingen im SK immer genblicken abgelegt hätte. […] Wir sahen, daß dort vor kurzem noch waren. Mehr noch gilt dies für Funktionshäftlinge, vor allem den den im Effektenlager »Kanada« und den in der »Sauna« (»Bad« stärker vor Augen, dass ihnen die Vernichtung drohte. Anfang Sep- Menschen gewesen sein mußten – es lagen Essensreste herum und von mehreren Häftlingen des SKs übereinstimmend als ersten Leiter und »Entlausungsanstalt«) eingesetzten Häftlingen waren unum- tember 1944 erfuhr die Leitung der KGA von der Absicht der La- alle möglichen anderen Dinge. Wir wußten nicht, daß hier zuvor der Aufstandsvorbereitungen genannten Kapo Kaminski.12 Die als gänglich; als Essenholer eingesetzte Häftlinge gingen täglich in das gerführung, bei Frontannäherung das Lager unter massivem Waf- die Männer vom vorangegangenen Sonderkommando gelebt hatten. Stubendienste eingesetzten Brüder Dragon konnten zum Beispiel Häftlingslager; für tatsächlich erforderliche oder vorgebliche Repa- feneinsatz zu zerstören und alle Häftlinge zu töten. Dass nach diesen Man erzählte uns erst später, daß man sie von dort fortgeholt und durch diese Arbeit die Geschehnisse im SK beobachten und mit raturen konnten Häftlinge aus den Arbeitskommandos der Schlosser, Informationen mit den Vorbereitungen ausgerechnet Otto Moll be- umgebracht hatte. Uns hatte man an ihre Stelle gesetzt.«8 Gleichgesinnten Kontakte knüpfen; sie schirmten zwei Mithäftlinge Elektriker oder Dachdecker das Gelände der Krematorien betreten.15 auftragt wurde, als Chef der Gaskammern und Krematorien einer der Die Häftlinge waren damit vorgewarnt, als im Spätsommer und ab, damit sie Aufzeichnungen schreiben konnten.13 Damit konnten Häftlinge aus den konspirativen Gruppen im SK, in Hauptverantwortlichen für die Durchführung der Massenvernichtung Herbst 1944 weniger Transporte eintrafen und absehbar war, dass Am 16. April 1944, als die Leiter der konspirativen Gruppe im Birkenau und in Auschwitz miteinander in Kontakt treten. in Auschwitz, löste unter den Häftlingen, die davon erfuhren, Angst die SS sie nicht mehr brauchte. Mit der Neubildung des SKs Ende SK bereits seit über einem Jahr zunächst eine Flucht und immer und Schrecken aus. Um eine Durchführung dieser Absicht zu ver- 1942 gab es jedoch Veränderungen, die die Chancen auf Gegenwehr stärker einen Aufstand vorbereiteten, wurden dem SK neunzehn hindern, schickte die KGA-Leitung eine Nachricht über dieses als vergrößerten.9 aus Majdanek überstellte sowjetische Kriegsgefangene zugeteilt, Widerstand in Auschwitz »Plan Moll« bezeichnete Vorhaben und eine Liste der »Henker von Zu den im Dezember 1942 und im März 1943 zugeteilten Häft- die dort im Krematorium eingesetzt waren. Sie hatten die Leichen Auschwitz«, unter ihnen Moll und Josef Mengele, nach Krakau und lingen aus Polen und Frankreich gehörten Männer, die Erfahrungen der zweihundert am 24. Februar 1944 im SK selektierten und weg- Siebzig Jahre nach dem Aufstand im SK stehen vor allem die Ereig- forderte, sie unverzüglich per Funk nach London zu übermitteln.17 als Mitglieder von Arbeiterorganisationen hatten oder Soldaten der In- gebrachten Häftlinge verbrennen müssen, wussten also, was auch nisse vom 7. Oktober 1944 im Vordergrund des Interesses, sowohl Als Alarmzeichen und zugleich Beweise der Verbrechen leitete sie ternationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, der französischen ihnen drohte, und sie berichteten davon. Nachdem anfängliches wenn nach den Zielen der sich zur Wehr setzenden Häftlinge gefragt gezielt Informationen weiter, darunter Nachrichten über eingetrof- Armee oder Angehörige der Résistance gewesen waren. Unter den spä- Misstrauen überwunden war, wurden die Rotarmisten eine wichtige wird als auch bei der Erörterung der Konzeption der anderen konspi- fene Transporte mit Juden, eine auf 29. April 1944 datierte Meldung ter hinzugekommenen Juden aus Griechenland waren Offi ziere. Zwei Verstärkung der konspirativen Gruppe.14 rativen Gruppen. Ihr gemeinsamer Widerstand setzte jedoch bereits über die bevorstehenden Judentransporte aus Ungarn und Informa- der mit dem Transport aus Drancy am 4. März 1943 nach Auschwitz Die SK-Häftlinge waren für die SS gefährliche Zeugen des in früher ein, und sie versuchten seit 1942 und mehr noch im Verlauf tionen über die Zahl der ermordeten Juden.18 deportierten Juden, die bald zu Leitern der konspirativen Gruppe im Auschwitz verübten Verbrechens, und sie konnten sich zur Wehr des Jahres 1944, durch die Weitergabe von Informationen über den Zu den Versuchen, Informationen über den Massenmord in die SK wurden, Josef Dorembus (Warszawski) und Jankiel Handelsman, setzen. Deshalb wurden sie scharf bewacht, bei Widersetzlichkeiten Massenmord die freie Welt zu alarmieren und Gegenmaßnahmen freie Welt zu übermitteln, gehörte auch die Flucht von Häftlingen aus waren erfahrene Funktionäre der Arbeiterbewegung und Angehörige umgebracht und waren nie ihres Lebens sicher. Die SS-Männer und der Alliierten zu bewirken. dem Lager, die über die Verbrechen berichten konnten. Am 7. April der Résistance, Handelsman zudem 1940 Soldat der französischen ihnen hörige Funktionshäftlinge waren jedoch nicht allmächtig; mit Die Entwicklung des Widerstands kann an dieser Stelle lediglich 1944 fl ohen Walter Rosenberg (Rudolf Vrba) und Alfred Wetzler. Ihr Armee. Auch der bereits am 27. März 1942 nach Auschwitz depor- der Vergrößerung des SKs bei Beginn der Deportation der Juden aus skizziert werden.16 Hier ist festzuhalten, dass es österreichischen Ziel war, in die Slowakei zu gelangen und von dort aus Informationen tierte, aus Polen stammende Alter Fajnzylberg (Feinsilber, Stanisław dem im März 1944 von der Wehrmacht besetzten Ungarn (»Ungarn- Kommunisten und polnischen Sozialisten Mitte 1943 gelang, eine über den Massenmord nach Ungarn und in den Westen weiterzuleiten Jankowski), der zunächst Ende November 1942 dem Kommando im Aktion«) auf fast tausend Häftlinge wurde die Situation innerhalb weitgehende Zusammenarbeit der aktiven Gruppen zu erreichen. und die ungarischen Juden zu warnen. Am 27. Mai 1944 folgten Krematorium I zugeteilt und im Juli 1943 zum Krematorium V in des Kommandos und vor allem in den Unterkünften unübersichtlich. Diese lediglich intern und in späteren Berichten als Grupa Bojowa ihnen Czesław Mordowicz und Arnošt Rosin, denen ebenfalls die Birkenau versetzt wurde, war Aktivist der Arbeiterbewegung, hatte Die vier Krematorien sowie der 1944 erneut zur Verga- Oświęcim (Kampfgruppe Auschwitz; fortan: KGA) bezeichnete Flucht in die Slowakei gelang. Sie hatten zuvor von Häftlingen aus sung benutzte »Bunker« wurden nicht allein deshalb durch Konspiration war jedoch kein Zusammenschluss aller im Lager in- dem SK und dem Lager Informationen und Dokumente als Beweise haftierten Angehörigen von konspirativen Organisationen. Insbeson- über das in Auschwitz verübte Verbrechen bekommen, darunter einen dere die Armia Krajowa (fortan: AK), die seit Mitte 1940 als Armee Plan der Krematorien und den Aufkleber einer Zyklon-B-Büchse; 8 Shlomo Dragon, Protokoll der Aussage am 10., 11. und 17.5.1945, in: Piper, Zahl der Opfer, S. 203–216; Gideon Greif, Wir weinten tränenlos… Augenzeugenbe- des polnischen Untergrundstaats aufgebaut wurde, beteiligte sich als Arnošt Rosin war zudem 1942 für kurze Zeit beim Vergraben der richte der jüdischen »Sonderkommandos« in Auschwitz, Köln u. a. 1995, S. 59 f., 10 S. Jankowski (A. Fajnzylberg), Protokoll der Aussage am 16.4.1945, in: Organisation nicht an der Arbeit der bewusst über nationale Barrieren Leichen eingesetzt gewesen. Bereits am 19. November 1943 war (A. und S. Dragon). Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 25–57; Świebocki, »Widerstand«, hinweg konzipierten KGA (dem widerspricht nicht, dass Józef Cy- Jerzy Tabeau (Jerzy Wesołowki) gefl ohen, der in seinem Ende 1943/ 9 Über die Vorbereitung des Aufstands am 7.10.1944 und seinen Verlauf siehe Ber S. 140 ff.; Piper, »Vernichtung«, S. 217 f. rankiewicz, ihr maßgeblicher Leiter, und Stanisław Kłodziński, die Mark, The Scrolls of Auschwitz, Tel Aviv 1985, S. 124–154; Bezwińska, Czech 11 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 73–129, 137–172, 192–197, 202–251; (Hrsg.), Inmitten, passim; Greif, Wir weinten tränenlos…, passim; Henryk Mark, Scrolls, S. 173–240. Świebocki, »Widerstand«, in: Długoborski, Piper (Hrsg.), Auschwitz 1940–1945, 12 Müller, Sonderbehandlung, S. 95, 161, 244; Mark, Scrolls, S. 24, 129; Świebocki, Bd. IV, S. 140–146, 308–313; Eric Friedler u. a., Zeugen aus der Todeszone. Das »Widerstand«, S. 141; Jaacov Gabai nennt als seinen Vornamen Jaacov (Jakob), 17 Irena Paczyńska (Einleitung und Bearbeitung), Grypsy z Konzentrationslager jüdische Sonderkommando in Auschwitz, Gerlingen, Lüneburg 2002, S. 223–281; in: Greif, Wir weinten tränenlos…, S. 153. 15 Darüber berichten z. B. die als Schlosser eingesetzten früheren Häftlinge Ota Auschwitz Józefa Cyrankiewicza i Stanisława Kłodzińskiego [Die Kassiber von Pavel Poljan, Meždu Aušvicem i Bab’im Jarom. Razmyšlenija i issledovania o 13 Greif, Wir weinten tränenlos…, S. XL, 105 f. Kraus und Erich Kulka in ihrem Buch Die Todesfabrik, Berlin 1957, S. 10 f., Józef Cyrankiewicz und Stanisław Kłodziński aus dem Konzentrationslager Katastrofe [Zwischen Auschwitz und Babij Jar. Refl exionen und Forschungen 14 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 230 f. (Lewental); Müller, Sonderbehand- 219 f.; ebenso Müller, Sonderbehandlung, S. 236, 238. Auschwitz], Kraków 2013, S. 450 f., 476–483, Kassiber vom 6. und 16.9.1944. über die Katastrophe], Moskau 2010, S. 225–257. lung, S. 143 f. 16 Siehe Świebocki, »Widerstand«, passim. 18 Ebd., S. 21, 236, 266, 272, 275, 281, 289, 324 u. a.

52 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 53 Anfang 1944 im polnischen Untergrund verfassten Rapport ebenfalls Vergasen benutzten »Bunkers« auszubrechen. Später war geplant, über die Morde in den Gaskammern berichtete.19 zunächst die in den Krematorien anwesenden SS-Männer zu über- Es waren Häftlinge des SKs, die Ende August oder Anfang Sep- wältigen, deren Uniformen anzuziehen und ihre Waffen an sich zu tember 1944 die drei heute weltbekannten Fotografi en von Frauen nehmen, die zur Dienstübernahme anrückenden SS-Männer ebenfalls vor dem Betreten einer der Gaskammern und von den Verbrennungs- zu beseitigen, anschließend, bereits als größere Gruppe, die SS-Pos- gruben beim Krematorium V machten, die durch Verbindungsleute ten auf den Wachtürmen unter einem Vorwand herunterzulocken und der KGA nach Krakau gebracht wurden.20 Häftlinge des SKs nahmen unschädlich zu machen, die Stacheldrahtumzäunung aufzuschneiden das Tagebuch eines Juden aus dem Getto Litzmannstadt an sich, und mit noch mehr Uniformen und Waffen aus dem Lager zu fl iehen. das sein Verfasser bei der Deportation nach Auschwitz Mitte Au- Aus Lewentals detaillierter Beschreibung geht hervor, dass diese gust 1944 mitgenommen hatte; Lewental vergrub diese Handschrift Konzeption insofern erweitert wurde, dass bewaffnete Häftlinge des mit einem erläuternden Brief, der auf 15. August 1944 datiert ist.21 SKs die in den Blockführerstuben der Lagerabschnitte befi ndlichen Gefragt, ob man damals in Auschwitz nicht hoffte, einen allge- SS-Männer überwältigen, mit den erbeuteten Uniformen und Waffen meinen Aufstand der Häftlinge gegen die SS organisieren zu können, weiter vordringen, die Telefonleitungen durchschneiden, die Lager- sagte Józef Cyrankiewicz: »Ja und nein. Das hing mit der Entwick- tore öffnen, den Lagerzaun aufschneiden und so den Häftlingen des lung an der Front zusammen. Als die Sowjets näherrückten, planten ganzen Lagers die Flucht ermöglichen sollten. Soweit sich dies als wir den Aufstand. Zuvor hätte das nichts gebracht. Man hätte uns möglich erwies, sollten die Krematorien zerstört oder zumindest zusammengeschossen. Fertig. Das Morden wäre weitergegangen. beschädigt werden.23 Aber jetzt planten die Hitlerfaschisten die Vernichtung des Lagers, Diese Konzeption einer das ganze Lager Birkenau einbezie- um alle Spuren zu beseitigen.« Nur in »Koordination mit außen war henden Massenfl ucht zeigt, dass es im Sommer 1944 Absprachen ein Aufstand möglich. Das hatten wir abgesprochen.«22 zwischen den konspirativen Gruppen im SK und im Lager gab. Im Sommer 1944 rechnete die Leitung der KGA mit zwei Situa- Lewental schreibt direkt: »Um diese Zeit wurde unser Plan um die tionen, in denen es zu einem Aufstand kommen konnte: Zum einen, Teilnahme des ganzen Lagers vergrößert, insbesondere um die Teil- dass die SS beginnen sollte, die Häftlinge zu vernichten; dann sollten nahme des Nachbarlagers Auschwitz.«24 Dass die unmittelbar gefähr- sich die Häftlinge zur Wehr setzen, auch wenn es keine Aussicht auf deten Häftlinge im SK und die Leitung der KGA damals parallel an Hilfe gab. Zum anderen hielt sie einen Aufstand für möglich und nur unter kaum zu erwartenden günstigen Umständen realisierbare geboten, wenn sich bereits eine Annäherung der Front und damit Aufstandssituationen denken konnten, hängt mit den bereits darge- Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das Krematorium IV, 1943 von der SS fotografi ert. Foto: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau ein Rückzug der deutschen Truppen abzeichnete; für beide Fälle stellten Befürchtungen und Erwartungen zusammen. Auch die für waren Absprachen mit dem Kommando der AK für Oberschlesien diesen Zeitraum nachweisbaren Bemühungen, Waffen und Spreng- erforderlich. stoff zu beschaffen, deuten darauf hin, dass in diesen Monaten eine verhandeln. In einem Kassiber vom 26. Juli 1944 mit Anweisungen Ende Juli 1944 bildete die Rote Armee 170 Kilometer östlich Den Häftlingen im SK war angesichts des absehbaren Endes das ganze Lager einbeziehende Aufstandsaktion vorbereitet wurde. für ein erwartetes Gespräch wurde er unter anderem beauftragt, von Oświęcim (Auschwitz), am westlichen Ufer der Weichsel, einen der Vernichtungsaktionen klar, dass die SS sie nicht mehr brauchte Im Sommer 1944 bewegten sich die Ziele und Überlegungen der ein Alarmzeichen zur Auslösung einer Aktion zur Verteidigung der Brückenkopf, der in verlustreichen Kämpfen innerhalb der folgen- und als Zeugen des Verbrechens beseitigen würde. Wie Lewental konspirativen Gruppe im SK und der Leitung der KGA aufeinander Häftlinge zu vereinbaren (zwei große Feuer im Lagergelände) und den drei Wochen noch vergrößert werden konnte.26 Im August 1944 berichtete, entstand zunächst der Gedanke, im Schutz der Nacht vom zu, wie zwei einander näherkommende mathematische Kurven. Als zu fordern, neben einer (als entlastendes Störmanöver gedachten) deutete jedoch nichts auf ein weiteres Vorrücken der sowjetischen Gelände des außerhalb der Umzäunung stehenden, 1944 erneut zum sich die Situation im Verlauf der nächsten Monate änderte, liefen Beschießung des Lagers einen Hauptschlag von außen entlang des Truppen hin, und die Leitung der KGA wurde sich dessen bewusst. diese Kurven wieder auseinander. (zum Lager Birkenau verlaufenden) Eisenbahngleises und in Rich- In einem Kassiber vom 29. August 1944 schrieben Cyrankiewicz tung des Gebiets der Gaskammern und Krematorien zu führen. Die und Kłodziński: »Die Vorfälle in Warschau[,] das ist klar[,] lehren Parallele zu der von Lewental skizzierten Aufstandskonzeption ist uns viel. – Für uns, die wir in jeder Hinsicht schwächer sind als War- 19 Rudolf Vrba, Alan Bestic, Ich kann nicht vergeben, München 1964; Rudolf Vrba, Aufstand des Sonderkommandos deutlich erkennbar; eine Aktion von außen hätte den aus dem Lager schau, ist die Schlussfolgerung, daß jede Aktion größeren Maßstabs, »Die mißachtete Warnung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 44 fl iehenden Häftlingen den Weg gebahnt. In Kassibern vom 21. und damit sie nicht dieses Mal zu einem vollständigen Gemetzel wird, auf (1996), H. 1, S. 1–24; Müller, Sonderbehandlung, S. 191 ff., 208; Sandor Szenes, Frank Baron, Von Ungarn nach Auschwitz. Die verschwiegene Warnung, Münster Die wenigen erhaltenen Dokumente, aus denen sich die Überlegun- vom 22. August 1944 mit weiteren Anweisungen und Informationen das genaueste mit der militärischen Situation und den Ereignissen 1994; Henryk Świebocki (Hrsg.), London wurde informiert… Berichte von gen für einen Aufstand des ganzen Lagers erkennen lassen, enthalten für Gespräche mit einem Vertreter der AK stellten die Leitung der an der Front, die dann entsprechend nahe sein muß, synchronisiert Auschwitz-Flüchtlingen, Oświęcim 1997 (diese Edition enthält auch den Bericht deutliche Hinweise, dass die Widerständler im SK einbezogen waren. KGA und der MRA ausdrücklich fest, es sei möglich, die Krema- sein muß.«27 von Tabeau). Lucjan Motyka, der zunächst für die KGA zum MRA gehörte, fl oh torien und die Gaskammern zu sprengen und in Brand zu setzen, 20 Paczyńska, Grypsy, S. 437 ff.; Świebocki, »Widerstand«, S. 348, 353; Clément Chéroux (Hrsg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentra- am 24. Juli 1944 aus dem Lager; er sollte mit einem Vertreter der AK im entsprechenden Moment sei dies sogar notwendig; erforderlich tion et d’extermination nazis (1933–1999), Paris 2001, S. 86–89. seien Waffen und Sprengstoff.25 21 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 192–197; Mark, Scrolls, S. 236–240; Ja- 26 Henryk Stańczyk, Od Sandomierza do Opola i Raciborza [Von Sandomierz nach nusz Gumkowski u. a. (Hrsg.), Briefe aus Litzmannstadt, Köln 1967. Oppeln und Ratibor], Warszawa 1998, S. 40–47; nach S. 46 (Nr. 1) und S. 62 22 Günther Bernd Ginzel, »Unsere Waffe war unsere Moral« [Gespräch mit Józef 23 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 227, 233 f. Diese Überlegungen stellt so (Nr. 2) Karten des Frontverlaufs bei Sandomierz 13.7.–29.8.1944 und der Front- Cyrankiewicz], in: Jörn-Erik Gutheil u. a. (Hrsg.), Einer muß überleben. Gesprä- auch Müller, Sonderbehandlung, S. 232 ff., dar. linie am 10.1.1945. che mit Auschwitzhäftlingen 40 Jahre danach, Düsseldorf 1984, S. 128. 24 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 235. 25 Paczyńska, Grypsy, S. 367, 390, 410 f. 27 Paczyńska, Grypsy, S. 422.

54 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 55 Erschwerend kam noch hinzu, dass der Beauftragte des in denen gelegentlich Waffen und Munition gefunden wurden). Um für den geplanten Aufstand sei jetzt gekommen, und forderten das zu Boden. Schließlich rannte die große Masse auf den Stacheldraht Oberkommandos der AK für die Erkundung der Verhältnisse in Sprengstoff zu bekommen, nahmen Häftlinge der jüdischen Gruppe SK auf, mitzumachen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sich zu, um dort durchzubrechen.«36 Auschwitz, Stefan Jasieński (»Urban«), am 28. September 1944 Kontakt mit mehreren jüdischen Frauen auf, die in der Munitionsfa- das übrige Lager anschließe oder nicht.« Sie wussten seit mehreren Im Krematorium II wurden das Feuer und der Lärm im Krema- verhaftet und am nächsten Tag ins Lager eingeliefert wurde. Bei brik Union Zugang zu Sprengstoff hatten und trotz des Risikos kleine Tagen, was ihnen drohte, und sie waren kampfbereit. »Am nächsten torium IV als Signal zum Aufstand verstanden. Die dort eingesetzten seiner Verhaftung wurden Dokumente gefunden, darunter Kassiber Mengen an Verbindungsleute weitergaben, die sie in das Stammlager Tag, dem 7. Oktober, war der Himmel strahlend blau und wolkenlos. Häftlinge holten Waffen hervor, schnitten den Stacheldrahtzaun auf aus dem Lager, die die Planungen der KGA und des MRA aufdecken und weiter nach Birkenau brachten. Dort wurden improvisierte Hand- Gegen Mittag kamen Scharführer Busch [Hermann Buch], Unter- und brachen unter dem Kugelhagel der auf den Wachtürmen stehenden konnten. Die Leitung der KGA erfuhr zudem von Jasieński selbst, granaten hergestellt und in den Krematoriumsgebäuden versteckt.32 scharführer [Johann] Gorges, Kurschuß, einige SS-Leute von der SS-Posten in Richtung der Berge durch. Sie konnten wahrscheinlich dass durch Einheiten der AK keine Unterstützung zu erwarten war.28 Am 23. September 1944 wurden 200 Häftlinge des SKs selek- Politischen Abteilung und einige SS-Posten auf den Hof des Krema- einige der sich ihnen entgegenstellenden SS-Posten entwaffnen und Im Rückblick ist festzustellen, dass mehr noch als ein weiteres tiert und angeblich in ein anderes Lager abtransportiert. Tatsächlich toriums IV. Dort ließen sie alle Häftlinge antreten mit Ausnahme der versuchten nach Süden zu fl iehen. Bei Rajsko, rund vier Kilometer von Vorrücken der Roten Armee der Erfolg des Umsturzversuchs in wurden sie in das beim Stammlager liegende Effektenlager »Kanada Essenholer, die sich gerade im Lager befanden, und der acht Heizer, Auschwitz entfernt, wurden sie aufgehalten; es wird berichtet, dass sie Deutschland am 20. Juli 1944 zum Ende der Massenvergasungen I« gebracht und dort in einer Entwesungskammer vergast. Die Lei- die im Krematorium V den Betrieb aufrechterhalten mussten. […] sich in eine Scheune fl üchteten und dort von SS-Männern, die diese in Auschwitz geführt hätte. Vier Wochen später wurden fast alle der chen der Ermordeten wurden von SS-Angehörigen verbrannt. Die im Busch [Buch] begann nun, von der Liste die ersten Namen und Scheune in Brand setzten, ermordet wurden. An diesem Tag wurden Anfang August 1944 im Getto Litzmannstadt noch lebenden Juden SK verbliebenen Häftlinge erfuhren vom Schicksal ihrer Kameraden Nummern aufzurufen. Er hatte mit den höchsten Nummern begonnen drei SS-Männer und wahrscheinlich zwei Kapos des Kommandos nach Birkenau deportiert. Die Hoffnungen auf eine näher rückende durch eine Nachricht von der konspirativen Gruppe im Stammlager; und ging dann rückwärts zu den niedrigeren Nummern. Die Selek- getötet, mehrere SS-Männer verwundet. Noch beim Krematorium II Front hatten sich zerschlagen; die Gespräche mit dem Komman- außerdem erkannten bei den Verbrennungsöfen eingesetzte Häftlin- tierten wurden auf die andere Seite des Hofes geschickt, die nicht angetroffene Häftlinge wurden zusammengetrieben und erschossen. do der AK für Oberschlesien hatten keine konkreten Absprachen ge am nächsten Tag, dass in der Nacht die Leichen der am Vortrag Betroffenen konnten über die Lagerstraße zurück ins Krematorium V Beim Krematorium III bekam die SS die Situation schnell in den Griff, gebracht; seit Juli wurden zudem 83.000 Häftlinge nach und nach weggebrachten Häftlinge verbrannt worden waren.33 gehen. Die Gruppe der Todeskandidaten wurde immer größer. Da und in Folge wurden auch bei den Krematorien IV und V zahlreiche in Konzentrationslager im Innern des Deutschen Reichs verlegt29, Als der neue Chef des SKs, Scharführer Hermann Buch, Anfang ich die niedrigste Nummer von allen auf dem Hof Versammelten der Häftlinge zusammengetrieben und erschossen. darunter viele aus den konspirativen Gruppen30 im Lager. Oktober 1944 von den Kapos des Kommandos forderte, die Namen hatte, stand ich immer noch bei jenen, die noch nicht aufgerufen Am 7. Oktober 1944 waren im SK 663 Häftlinge eingesetzt, Es ist festzuhalten, dass es damals nicht um eine Alternative und Nummern von dreihundert angeblich zur Verlegung bestimm- worden waren. zwei Tage später zählte das Kommando noch 212 Häftlinge. Aus ging, die Lewental mit den bitteren Worten beschrieb: »Da kamen ten Häftlingen aufzuschreiben, löste dies zunächst, auch unter den Bei einzelnen Aufrufen waren keine Häftlinge vorgetreten, diesen Angaben ergibt sich, dass während des Aufstands am 7. Okto- andere zu dem Schluß […], daß es besser wäre, noch etwas zu war- Leitern der konspirativen Gruppe, heftige Diskussionen darüber aus, obwohl Busch [Buch] die Nummern mehrfach und energisch wie- ber 1944 insgesamt 451 Häftlinge des SKs umkamen. Lewental, der ten, bis sich die Front noch mehr näherte […]. Dann hätte unsere wer nicht auf diese Liste gesetzt werden sollte. Die Leitung der KGA derholte. Als kurz vor dem Ende der Selektion nur noch eine kleine noch bis November seine Aufzeichnungen fortsetzen konnte, schrieb Aktion mehr Aussicht auf Erfolg. […] Wir glaubten, daß die Deut- hatte von der geplanten Selektion Kenntnis bekommen und gab diese Gruppe von etwa zehn Mann dastand, wurde sich Busch [Buch] auf einem Blatt mit Informationen über vom 9. bis zum 24. Oktober schen jegliche Spuren ihrer bisherigen Verbrechen um jeden Preis Information an die konspirative Gruppe im SK weiter, übermittelte bewußt, daß etwas nicht stimmte und daß sich mindestens ein Dut- 1944 vergaste Transporte: »7/10 460 Rozstrzelani sonder« (7.10. verwischen wollten. Dies jedoch könnten sie nicht anders tun, als jedoch ebenso, dass es nicht zum Aufstand des ganzen Lagers kom- zend Häftlinge irgendwo versteckt haben mußte. Deshalb schickte 460 Erschossene Sonder[kommando]).37 durch die Ausrottung unseres ganzen Kommandos […]. Und deswe- men würde, unabhängig davon, ob sich das SK zur Wehr setzt. Auch er ein paar Wachtposten in das Krematorium IV, um die Gesuchten Drei Tage nach dem Aufstand wurden 14 Häftlinge des SKs gen sahen wir beim Sichnähern der Front absolut keine Chance für die Häftlinge der konspirativen Gruppe im SK versuchten, sich aus vielleicht dort aufzustöbern. in den Bunker von Block 11 (Stammlager) gesperrt, weil die SS uns selbst; im Gegenteil kamen wir zu dem Schluß, daß wir unsere den absehbaren Ereignissen herauszuhalten, um letzte Chancen für Als sich diese Posten auf den Weg machten, prasselte plötzlich herausbekommen hatte, dass sie zur konspirativen Gruppe im SK Aktion früher ausführen müßten, wenn wir noch irgend etwas im Le- eine Aktion zu bekommen.34 aus den Reihen der selektierten Häftlinge ein Steinhagel gegen die gehörten, unter ihnen Jankiel Handelsman und Wrubel (Wróbel), der ben vollbringen wollten. […] Aber leider wurde der Termin von Tag Die schließlich aufgeschriebenen Häftlinge erklärten jedoch, SS-Leute. Einige wurden verletzt und überwältigt, anderen gelang bei der Weitergabe des Sprengstoffs aus dem Union-Werk beteiligt zu Tag verschoben.«31 Die konspirative Gruppe im SK war gerade wie Müller35 berichtet, »daß keiner der dreihundert bereit sei, sich es, wegzulaufen und ihre Waffen zu zücken, um damit blindwütig auf war, sowie fünf der sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie wurden im wegen der sich ändernden Situation immer stärker gezwungen, auf ohne Gegenwehr abschlachten zu lassen. Sie meinten, der Zeitpunkt die Häftlinge zu schießen. Zwei SS-Männern war es gelungen, zur Januar 1945 ermordet. Vier der jüdischen Frauen, die den Spreng- einen Aufstand hinzuarbeiten, während die KGA die ihres Erachtens Lagerstraße zu entkommen und mit Fahrrädern, die dort abgestellt stoff beschafft hatten, verhaftete die Lagergestapo, sperrte sie in den erforderlichen Bedingungen schwinden sah. waren, in Richtung Lager davonzufahren. Bunker von Block 11, folterte sie und erhängte sie am 6. Januar 1945 Häftlinge im SK hatten inzwischen seit Monaten begonnen, Inzwischen war das Krematorium IV in Brand gesetzt worden. vor den angetretenen Häftlingen.38 Waffen und Handgranaten zu beschaffen. Filip Müller berichtet von 32 Müller, Sonderbehandlung, S. 129, 144; Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, Das Dach hatte an verschiedenen Stellen Feuer gefangen. Flam- Obwohl ihre Chancen zum Widerstand im Vergleich mit den drei bereits im »Alten Krematorium« vorhandenen Handgranaten S. 229 f., 242 (Lewental); Israel Gutman, »Der Aufstand des Sonderkomman- men schlugen heraus, und Rauchwolken stiegen hoch. Es waren Möglichkeiten der Lagerwiderstandbewegung schlechter waren, und von mehreren Revolvern und Pistolen, die aus dem Kommando dos«, in: H.G. Adler u. a. (Hrsg.), Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Frankfurt noch keine fünf Minuten seit dem Beginn der Widerstandaktion setzten sich die Häftlinge des SKs am 7. Oktober 1944 zur Wehr. Im am Main 1962, S. 273–279; ders., »Relacja dla Yad Vashem« [Bericht für Yad »Zerlegebetriebe« stammten (dort wurden Flugzeuge demontiert, Vashem], in: Midrasz, 2013, Nr. 6 (176), S. 16–18; Greif, Wir weinten tränen- vergangen, als die Lagersirene aufheulte. Wenig später schon ka- Lager zeigte ihr Aufstand, dass die Zeit der Mörder zu Ende ging. los…, S. 111 ff. (S. Dragon); Świebocki, »Widerstand«, S. 145 f. – Gutman war men Lastwagen angefahren und hielten mit quietschenden Bremsen einer der Verbindungsleute, die den Sprengstoff weitergaben. auf der Straße zwischen den Krematorien IV und V. SS-Posten mit 33 Müller, Sonderbehandlung, S. 245 ff.; Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, Stahlhelmen, viele von ihnen in Unterhemden und Hosenträgern, 28 Czech, Kalendarium, S. 889; Tadeusz Hołuj (»Robert«), »Grupa Oświęcim« [Die S. 236 (Lewental). 36 Müller, Sonderbehandlung, S. 249 ff. Auch Lewental, der während des Aufstands Kampfgruppe Auschwitz], in: Filip Friedman, Tadeusz Hołuj, Oświęcim [Au- 34 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 240 ff. (Lewental); Müller, Sonderbe- sprangen schnurstracks herunter, umstellten den Hof und brachten beim Krematorium III war, stellt den Verlauf des Aufstands beim schwitz], Warszawa, Bydgoszcz 1946, S. 121–161, hier S. 155. handlung, S. 247 ff.; Gutman, »Relacja«, S. 18. ihre Maschinengewehre in Stellung. Krematorium IV und V so dar, vgl. Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 241. 29 Andrzej Strzelecki, »Die Liquidation des KL Auschwitz«, in: Długoborski, Piper 35 Es gibt andere Darstellungen über den Beginn des Aufstands; u. a. seien Häftlin- Auch ich war noch auf dem Hof, wo die Häftlinge jetzt verstört 37 Czech, Kalendarium, S. 897 ff.; Fotokopie eines Blatts der Handschrift von Le- (Hrsg.), Auschwitz 1940–1945, Bd. V, S. 7–69, v. a. S. 23 f. ge der konspirativen Gruppe im Sonderkommando unerwartet von einem Kapo und planlos durcheinanderliefen, nachdem von allen Seiten das Feuer wental, in: Hefte von Auschwitz, Sonderheft I, »Handschriften von Mitgliedern 30 Aus der KGA z. B. Hermann Langbein am 25.8.1944 nach Bremen; siehe Lang- überrascht worden, damit sei der Beginn der Aktion unausweichlich gewesen. des Sonderkommandos«, Oświęcim 1972, S. 136. bein, Die Stärkeren. Ein Bericht, Wien 1949, S. 197. Müller war Augenzeuge, sein Bericht ist schlüssig und stimmt mit anderen Fest- eröffnet worden war. Maschinengewehre knatterten, Kugeln pfi ffen, 38 Raya Kagan, »Die letzten Opfer des Widerstandes«, in: Auschwitz. Zeugnisse und 31 Bezwińska, Czech (Hrsg.), Inmitten, S. 228 f. stellungen über die Geschehnisse bei den Krematorien IV und V überein. und einer nach dem andern fi el, wie bei einer Hasenjagd, getroffen Berichte, S. 280–286; Müller, Sonderbehandlung, S. 145, 258, 268.

56 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 57 alles andere als (nicht nur in Deutschland) unumstrittene Entscheidung befürchteten: entweder eine Antwort auf die deutschen Verbrechen, zu Stande, bestimmte Handlungen nicht mehr als »Politik« aufzufas- die eine Fortsetzung der Barbarei durch die Anderen gewesen wäre sen (und eventuell zu beklagen), sondern kriminalisierbar zu machen. oder – wenn das unterbliebe – eine Art gewissenloser Toleranz und Nürnberg hatte Vorläufer, über die sich viel sagen lässt, aber der his- internationaler Freibrief, sich ein Beispiel zu nehmen, war wiederum torische entscheidende Moment ist die Einsetzung des Nürnberger Politik, das Zusammenwirken vieler, im Einzelfall vielleicht prob- Grußwort Kriegsverbrechertribunals und die darauf folgenden Verfahren. lematischer, in summa vernünftiger und, mit Vorsicht gesprochen, Ohne die Übernahme des in Nürnberg erstmalig aufgeführten heilsamer politischer Entscheidungen. Zur Eröffnung der Ausstellung Rechtsdenkens in internationale Normen und die spät, aber doch Aber dieses politische Spiel ist riskant gewesen. Die Idee von darauf folgenden Verfahren in nationaler Justizhoheit in Deutschland Nürnberg zu bewahren, die Norm-Neu-Bildung durch Umsetzung über Fritz Bauer wäre Nürnberg ein bedeutsames Ereignis, aber nicht die Etablierung in Strafverfahren auf nationaler Ebene erst wirklich zu verankern, eines neuen Verständnisses von Verbrechen gewesen. Und dies hätte hätte gesellschaftlicher Konsens sein sollen, ist aber das Verdienst ohne Fritz Bauer anders ausgesehen. und das Resultat von Anstrengung und Unermüdlichkeit Weniger von Jan Philipp Reemtsma Die Neubewertung von massenmörderischer Politik als verbre- gewesen. Fritz Bauer war nicht nur einer dieser Wenigen, er war cherische Politik des Massenmords hat weltweit die Wahrnehmung derjenige, ohne den es die Auschwitz-Prozesse nicht gegeben hätte. politischer Gewalt verändert. Dass dies das Ziel sein sollte, hat Jack- Wir danken ihm einen kaum zu ermessenden Beitrag zur Bildung Das Fritz Bauer Institut, eine Einrichtung son in Nürnberg als die Bedeutung des Tribunals bezeichnet. Vieles einer politischen Zivilisation, in die meine Generation das Glück zur Erforschung und Darstellung der na- nimmt man wahr, als hätte es so kommen müssen. Nichts hat so hatte hineinzuwachsen. tionalsozialistischen Massenverbrechen insbesondere des Holocaust, eröffnet eine Jan Philipp Reemtsma, Prof. Dr. Ausstellung über ihren Namensgeber. Gehört das zum Aufgabenpro- phil, wurde 1952 in Bonn als Sohn des fi l dieser Einrichtung? Gehört das zur Erforschung und Darstellung Unternehmers Philipp Fürchtegott der nationalsozialistischen Massenverbrechen, insbesondere des Reemtsma geboren. Er studierte Ger- Holocaust – oder ist es bloß höfl ich? Wenn Sie meinen, es sei mehr manistik und Philosophie in Hamburg. als bloß Letzteres – warum? 1984 gründete er das Hamburger Dies ist ein Grußwort und kein Referat, also muss es bei bloßen Institut für Sozialforschung (HIS), das Stichworten bleiben. er seit 1990 als Vorstand leitet. Er ist Ein Verbrechen ist nicht an sich selbst ein Verbrechen – es ist Professor für Neuere Deutsche Litera- zunächst eine Tat, Taten –, es wird dies erst als Verstoß gegen gesell- tur an der Universität Hamburg und schaftliche – moralische, politische – Normen. Sanktionsbewehrte Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung. Normen (oder solche, die sanktionsbewehrt sein sollten, und das 2013 erfolgte seine Berufung in den kann umstritten sein). Was als Verbrechen dargestellt wird und wie Wissenschaftsrat. Neben zahlreichen es als Verbrechen dargestellt wird, ist also nur innerhalb eines be- weiteren Ehrungen erhielt er 1997 den stimmten historischen Rahmens so und nicht anders. Das hat eine Lessing-Preis der Freien Hansestadt – historische – Darstellung von Verbrechen zu refl ektieren. Und Hamburg sowie 2011 den Schiller- damit auch die Bedingungen, unter denen die Wahrnehmung, dass preis der Stadt Mannheim. etwas ein Verbrechen ist, sich herausgebildet hat – und in welcher Veröffentlichungen (Auswahl): Ver- Weise diese Einordnung von Taten als Verbrechen ihrerseits Gesell- trauen und Gewalt. Versuch über eine schaftsgeschichte geschrieben hat. besondere Konstellation der Moderne, Mit einer Ausstellung über Fritz Bauer dokumentiert das Fritz Jan Philipp Reemtsma spricht zur Eröffnung der Ausstellung »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht«. Fotos: Rafael Herlich, www.foto-herlich.de Hamburg 2008; Über Arno Schmidt. Bauer Institut nicht nur Leben und Arbeit eines Mannes, der sich in Vermessungen eines poetischen Ter- beispielloser (die Zeit zu sagen: »beispielhafter« ist vorbei) Weise rains, Frankfurt am Main 2006; Folter um die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen verdient ge- im Rechtsstaat?, Hamburg 2005; Wie macht hat – darum gekämpft hat, dass auch vollzogen wurde, was kommen müssen, wie es gekommen ist. Die Machtübernahme der Der Text basiert auf dem am 9. April 2014 im Chagallsaal der Städtischen Bühnen hätte ich mich verhalten? Und andere die anerkannte Norm gebot –, sondern dadurch auch entscheidend Nationalsozialisten ist auf Grund von Entscheidungen – Absprachen, der Stadt Frankfurt am Main gehaltenen Grußwort anlässlich der Eröffnung der nicht nur deutsche Fragen, München zu ihrer wirklichen Anerkennung beigetragen und damit Gesell- dummen und gewissenlosen Kalkülen, Unterschriften, Protokol- Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt: »Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht«. Die Ausstellung war 2001; Im Keller, Hamburg 1997; Mit- schaftsgeschichte geschrieben hat. len, Handlungsabstinenz von solchen, die anders hätten handeln vom 10. April bis 7. September 2014 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zu herausgeber der Bargfelder Ausgabe Die historiographische Erfassung des Nationalsozialismus begann können – zu Stande gekommen, die nicht notwendig gewesen sind. sehen und wird vom 9. Dezember 2014 bis 1. Februar 2015 im Thüringer Landtag der Werke Arno Schmidts. vor Gericht, in Nürnberg. Nürnberg kam durch die historische von den Es war Politik. Und dass auf die Kapitulation Deutschlands nicht in Erfurt gezeigt werden. USA initiierte und von ihnen in der Intention getragene, allerdings folgte, was etwa Thomas Mann oder Theodor W. Adorno zeitweilig Mehr zur Ausstellung lesen Sie auf den Seiten 7 f.

58 Einsicht Einsicht 12 Herbst 2014 59 Rezensionen Buch- und Filmkritiken

70 Katrin Dönges: Zerstörte Zukunft. 81 Melissa Müller, Monika Tatzkow: Verlorene Bilder, 85 Marcel Cohen: Raum der Erinnerung. Die Deportation von Oberhausener Juden nach verlorene Leben. Jüdische Sammler und was aus ihren Tatsachen dem 1938 Kunstwerken wurde Tomi Reichental: I was a Boy in Belsen von Norbert Reichling, Dorsten von Manfred Levy, Pädagogisches Zentrum Frankfurt von Alexandra Senfft, Hagenheim/Hofstetten

71 Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. 82 Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? 87 »Jugend für Dora« e.V. (Hrsg.): gemeinsam – together – Ein zeitgenössischer Bericht Wilhelm Reich und die Psychoanalyse ensemble – wspólnie – вместе: 11.4. von Wolfram Wiesemann, Wiesbaden im Nationalsozialismus Daniel Baranowski (Hrsg.): Sprechen trotz allem. von Jérôme Seeburger, Leipzig Das Videoarchiv der Stiftung Denkmal 72 Andrea Sinn: Jüdische Politik und Presse in der für die ermordeten Juden Europas frühen Bundesrepublik 83 Barry Rubin, Wolfgang G. Schwanitz: Nazis, Nicolas Apostopoulos, Cord Pagenstecher (Hrsg.): von Katharina Rauschenberger, Fritz Bauer Institut Islamists, and the Making of the Modern Middle East Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews von Mathias Schütz, München in der digitalen Welt 73 Edith Raim: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. von Gottfried Kößler, Pädagogisches Zentrum Frankfurt Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in 84 Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Rezensionsverzeichnis Westdeutschland 1945–1949 Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945 Liste der besprochenen Bücher und Filme von Annette Weinke, Jena von Kurt Schilde, Berlin/Potsdam

75 Anne-Katrin Henkel, Thomas Rahe (Hrsg.): 62 Sara Berger: Experten der Vernichtung. Publizistik in jüdischen Displaced-Persons-Camps im Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Nachkriegsdeutschland. Charakteristika, Medientypen Sobibor und Treblinka und bibliothekarische Überlieferung von Christoph Schneider, Frankfurt am Main von Siegbert Wolf, Frankfurt am Main

63 Martin Cüppers, Jürgen Matthäus, Andrej 76 Annette Dietrich, Ljiljana Heise (Hrsg.): Angrick (Hrsg.): Naziverbrechen. Täter, Taten, Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Bewältigungsversuche Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von von Alex J. Kay, Frankfurt am Main Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus Wie Hitler den Kunstraub und ihre Refl exion in der pädagogischen Praxis 64 Thomas Ammann, Stefan Aust: Hitlers Menschenhändler. von Florian Zabransky, Frankfurt am Main zur Chefsache machte Das Schicksal der »Austauschjuden« von Ladislaus Löb, Brighton 77 Benjamin Ortmeyer: Jenseits des Hippokratischen Eids. Josef Mengele und die Goethe-Universität Kunstraub war ein Kernstück der Kulturpolitik Hitlers. Mit dem »Führervorbehalt« 66 Frank Beer, Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.) von Werner Renz, Fritz Bauer Institut räumte sich der kunstbesessene Diktator das Recht ein, über jedes hochrangige Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah Kunstwerk, das beschlagnahmt wurde, persönlich zu verfügen. in Polen 1944–1947. Berichte der Zentralen Jüdischen 78 Nicolas Berg, Dieter Burdorf (Hrsg.): Textgelehrte. Was Hitler als »Geheimsache« behandelte, wird in diesem Buch erstmals aufgedeckt Historischen Kommission Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im und belegt: Der NS-Kunstraub war von Hitler zentral gelenkt. von Franziska Bruder, Berlin Umkreis der Kritischen Theorie von Monika Boll, Düsseldorf »Schwarz hat recherchiert, und nun zeigt sich: Alles ist einfacher, logischer, größer 67 Amir Haskel: The Warden of Block 11 und furchtbarer als bisher behauptet.« Der Spiegel von Jochen August, Berlin/Oświęcim 79 Eran Neuman: Shoah Presence. Architectural Representations of the Holocaust Birgit Schwarz Auf Befehl des Führers 68 Martin Cüppers: Walther Rauff – in deutschen Diensten. von Alexandra Klei, Berlin Hitler und der NS-Kunstraub Vom Naziverbrecher zum BND-Spion 320 S. mit 50 s/w-Abb., geb. mit SU von Volker Rieß, Ludwigsburg 80 Dirk Alt: »Der Farbfi lm marschiert!« € 29,95 Frühe Farbfi lmverfahren und NS-Propaganda ISBN 978-3-8062-2958-5 69 Jan Grabowski: Hunt for the Jews. 1933–1945 www.theiss.de Betrayal and Murder in German-Occupied Poland von Alfons Maria Arns, Frankfurt am Main von Dorothee Lottmann-Kaeseler, Wiesbaden

60 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 61 Auschwitz war nicht das Zentrum eingeführt.« (S. 140) Von einem Wort wie »Transportabfertigung« in arbeitsteiliges Mordhandeln involviert waren. Eine erhebliche »So ein Judenkopf zerspringt wird der Leser durch An- und Abführungszeichen distanziert. Mit Motivation durfte aus den Anreizstrukturen hervorgegangen sein: wie ein Kürbis« der Umstrukturierung unter Wirth, ab August 1942 »Inspekteur« der gute Gehälter, vermehrter Heimaturlaub, Einzel- und Kollektivbeför-

Vernichtungslager – ohne An- und Abführung –, sind unter anderem derungen. Hinzu kamen Handlungsfreiräume im Alltag, Möglichkei- die Einrichtung von Häftlingskommandos und die Einführung eines ten der Freizeitgestaltung (Kino, Sport, Ausfl üge und Trinkgelage) Sara Berger »Lazaretts« gemeint, was wiederum die Bezeichnung für einen Ort sowie das Privileg, nicht an der Front in Todesgefahr zu geraten. Experten der Vernichtung. war, an dem nicht gehfähige Personen, Kinder und manchmal auch Zugewinnmöglichkeiten ergaben sich aus Diebstählen und der Aus- Martin Cüppers, Jürgen Matthäus, Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern ein gesamter Transport, wenn er den Tätern zu klein für die Gas- nutzung lagereigener Handwerker für persönliche Zwecke. Letztlich Andrej Angrick (Hrsg.) Belzec, Sobibor und Treblinka kammern erschien, erschossen wurden. In der Einleitung bemerkt legten die »T4-Reinhardt-Männer« große Funktionslust an den Tag, Naziverbrechen. Hamburg: Hamburger Edition, 2013, die Autorin, an sprachliche Grenzen stoße man nicht nur, weil Aus- sie lebten Ehrgeiz und Perfektionsdrang aus. Täter, Taten, Bewältigungsversuche 622 S., € 28,– drücke aus der Tätersprache nicht zu umgehen seien, sondern auch, Mit Harald Welzer ist die Autorin der Auffassung, »dass der Darmstadt: Wissenschaftliche weil »negativ konnotierte Worte für die im Allgemeinen positiv Mord durch die nationalsozialistische Moral kontextualisiert und Buchgesellschaft, 2013, 397 S., € 59,90 besetzten Begriffe wie Effi zienz, Herausforderung oder Initiative das Töten daher gesellschaftlich integriertes Handeln war« (S. 319). Das Lagerleben wurde »durch zwei Arbeits- fehlen« (S. 22). Unwesentlich sei, dass die jüdische Weltverschwörung nur halluzi- abläufe strukturiert« (S. 103), den Arbeiten Da in allen Teilen des Buchs immer wieder die Namen der Be- niert war, denn der Antisemitismus habe eine Pseudowirklichkeit ge- Der vorliegende Sammelband ist dem nach Ankunft der Züge und jenen nach Ermordung der Opfer. Zu teiligten genannt und ihre Tätigkeitsgebiete beschrieben werden, ist schaffen, in der der Rassenkrieg als angemessene Antwort erschien. langjährigen wissenschaftlichen Leiter der den wenigen Orten auf der Welt, deren Arbeitsabläufe so beschrieben jeder Anklang an das metaphysisch Böse vermieden: Personen, von Hier ließe sich einwenden, dass die Täter durchaus Kenntnis von Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Klaus- werden müssen, zählen Belzec, Sobibor und Treblinka. einer Berliner Dienststelle entsandt, organisierten in Kooperation der fortdauernden Existenz einer gegenläufi gen Moral hatten, aller- Michael Mallmann, als Festschrift zum 65. Geburtstag gewidmet. Die materialreiche, vor allem auf Justizakten gestützte Studie mit Zivilverwaltung, SS, Ghettoverwaltung und Reichsbahn (die dings bis 1943 hoffen durften, nie wieder in ihren Einzugsbereich Herausgegeben wird er von seinem Nachfolger, Martin Cüppers, von Sara Berger eröffnet eine Fülle neuer Einsichten. Sie beschreibt, Studie verbirgt keineswegs, wie viele Instanzen zur Ermordung der zu gelangen. Der enorme materielle und soziale Nutzen, der aus der zusammen mit Jürgen Matthäus und Andrej Angrick. In den ins- wie und durch wen die Orte geschaffen wurden, die uns als Lager der Juden ihren Beitrag leisteten) bei größtmöglicher Geheimhaltung Tatbeteiligung zu ziehen war und der oft im Widerspruch zur na- gesamt 20 Beiträgen kommen einige der führenden deutschen und »Aktion Reinhardt« bekannt sind. In einer zunächst chronologischen unter Hinzuziehung von Trawniki-Männern und Arbeitskomman- zistischen Moral stand – Stichwort Korruption und Unterschlagung angloamerikanischen Wissenschaftler im Bereich der Holocaust- Struktur wird die »Aufbauphase» (Herbst 1941 bis Juni/Juli 1942) dos die Ermordung der jüdischen Bevölkerung erst des Distrikts –, hatte dann eventuell die Funktion, die Brüchigkeit dieser Moral und NS-Täterforschung zu Wort, wie beispielsweise Christopher von der »Konsolidierungs- und Optimierungsphase« (bis Dezem- Lublin, dann im gesamten Generalgouvernement und schließlich zu kompensieren. Solche Erwägungen, die die genannten Faktoren R. Browning, Gerhard Paul und Mark Roseman. Überhaupt sticht ber 1942) und der Phase der Restrukturierung unterschieden. Genese weit darüber hinaus. Allein in den Monaten Juli bis November 1942 aufeinander beziehen und auftretende Widersprüche diskutieren, der Band durch das – gerade bei einer Festschrift – durchgehend und Dynamik sind in diesem Zusammenhang erkenntnisstiftende wurden dabei mehr Menschen ermordet als in Auschwitz-Birkenau sind nicht Sache der Autorin. Zwar sind die vielgeschmähten mo- hohe Niveau der Aufsätze hervor. Größen, denn die Täter vermochten ihre Absichten nur umzusetzen, insgesamt, auch ließen sich die Strukturen der »Aktion Reinhardt« nokausalen Erklärungen vermieden, aber das Verstehen droht in Neben der Einleitung der drei Herausgeber (S. 7–17), die ei- indem sie Verfahrensweisen ersannen und sie im Sinne ihrer Zielset- deutlich rascher an die Erfordernisse der Vernichtungspolitik an- der Reihung von Aspekten zu versiegen. Der Versuch, mit einer nen Überblick über das wissenschaftliche Wirken von Mallmann zung verbesserten. Der Progress ist der der Vernichtung. Überfl üssig passen (vgl. S. 387). dialektischen Figur eine These zu wagen, hätte ein weiteres Tor bietet, ist der Band in drei Abschnitte aufgeteilt: »Tatumstände und zu betonen, dass die Lektüre nicht immer leichtfällt. Auf der Rückseite der nüchternen Deskription und angesichts aufstoßen können. Täterskizzen«, »Quelleninhalte und analytische Kompilationen«, Fast alle Täter kamen aus dem Kontext der »Aktion T4«. Odi- der biografi schen Gewöhnlichkeit der handelnden Personen stellt »Nachkriegsjustiz und politischer Kontext«. Von allen Beiträgen lo Globocnik, als Kopf (SS- und Polizeiführer) in Lublin, gestand sich umso dringlicher die Frage nach den Umständen, die sie hat Christoph Schneider hinterlässt derjenige von Matthäus und Browning über Fotoalben »seiner Tötungsmannschaft weitreichende Handlungsspielräume« Massenmörder werden lassen. Nichts Wesentliches ergibt eine ergän- Frankfurt am Main zum Reserve-Polizeibataillon 101 im Osteinsatz den stärksten und (S. 97) zu. Von diesen Spielräumen und den fl achen Hierarchien zende kollektiv-biografi sche Untersuchung anhand von Merkmalen nachhaltigsten Eindruck (S. 135–190). Er ist mit Abstand der längste »wurden die einzelnen Männer persönlich herausgefordert« (S. 51) wie Alter, geografi scher, konfessioneller und berufl icher Herkunft, Aufsatz im Band, enthält aber auch 25 Abbildungen. Die Autoren und reagierten mit einem hohen Maß an Eigeninitiative. Die meisten Familienstand etc. Manches folgt der Rekrutierungslogik (wie die stellen unter anderem ein 37-seitiges Fotoalbum sowie eine Samm- waren bereit, situationsbedingt wechselnde Funktionen zu überneh- geografi sche Herkunft), manches schleppt methodische Schwächen lung von Briefen und anderem Material »aus privater, einem ehe- men. Mit dem Rückgriff auf ein für NS-Studien untypisches Vokabu- mit (wie der Generationenbegriff), manches ist schlicht banal, wie maligen Hamburger Ordnungspolizisten zugeschriebener Quelle mit lar – Netzwerk, Machtkreise, Subgruppe – soll diese Konstellation die Erkenntnis, dass es sich vielfach um Familienväter handelte, Kriegsbildern aus dem Jahr 1942« vor (S. 181). Die Quelle wurde in Abgrenzung zu einer streng hierarchischen, militärischen Struktur aber nicht immer um intakte Familien. Deutlich interessanter ist die zuerst im Jahre 2010 dem United States Holocaust Memorial Muse- fassbar werden. Entsprechend grenzt sich die Autorin nicht nur von Erörterung der Bedingungen und Motive. Ein Auftrag, wenn auch um zur Kenntnis gebracht. Wie die Autoren anmerken, bleiben die dämonisierenden Täterbildern ab, sondern auch vom Bild des Täters nur in Form eines allgemein gefassten Befehls, war »notwendige Fotos »in ihrer visuellen Aussagekraft weit hinter der Radikalität der als kleinem Rädchen, das zum Teil einer anonymen Maschinerie Voraussetzung für die Bereitschaft« (S. 311). Von Befehlsnotstand Schrifttexte« zurück (S. 182). In einem Brief vom 15. Juli 1942 an wird. Verstellt werde so das Wechselspiel zwischen Akteuren und konnte keine Rede sein, gleichwohl wurde den Männern eine Rück- »meine liebe Heike« steht etwa: »Kameraden des SD zeigten uns, Organisation, und allzu leicht gerate außer Acht, dass die »Aktion versetzung nicht leicht gemacht. Eine Art moralische Unterstützung wie man ein Haus von Juden reinigt, ohne etwas zu tun. Sie tränkten Reinhardt« von einer zahlenmäßig überschaubaren Gruppe von Per- erfuhren sie dadurch, dass eine ganze Reihe Akteure von den Vor- das Haus mit Benzin, dann verriegelten sie alle Fenster. Draußen sonen geformt und entwickelt wurde. gängen Kenntnis erlangte und das Vernichtungssystem unterstütz- wurde die kleine Tochter des Hauses mit Benzin übergossen. Ein »Während der Umstrukturierungsarbeiten unter [Christian] te, etwa Dienststellen bei der Reichsbahn oder Handwerker in der Kamerad des SD steckte das Mädchen an, brennend und schreiend Wirth wurden wesentliche Änderungen in der ›Transportabfertigung‹ Umgegend. Ganz gewiss spielte eine Rolle, dass alle bereits zuvor lief es zu Ihrer [sic] Mutter ins Haus. Kurze Zeit später brannte das

62 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 63 ganze Haus nieder, wir passten auf, dass keiner der Juden entkam. Der Holocaust als Geschäft deportiert. In Bergen-Belsen wurden etwa 3.700 eingeliefert. Sie und von den NS-Bürokraten im Reichssicherheitshauptamt und Das Haus brannte bis in den Abend, es sah sehr romantisch aus. […] wurden im »Sternlager« einquartiert, wo sie den Judenstern tragen, im Auswärtigen Amt umgesetzt« (S. 10). Wie einzelne Menschen Dort habe ich das erste Mal vom ›Rösselsprung‹ gehört. Kameraden Schwerstarbeit leisten und Misshandlungen über sich ergehen lassen dieses grausame Spiel erlebten, erfährt man hauptsächlich durch legten zwei Säuglinge auf den Boden, im Abstand von 3 Metern. mussten. Sie kamen aus verschiedenen Kreisen, aber alle hatten – die Mitteilungen von fünf Zeitzeugen aus Holland und, mich ein- Dann legten zwei Kameraden mit K. [Karabiner] 98 an. Die Mutter echte oder fi ktive – Dokumente, die ihnen die Einreise in alliierte geschlossen, zwei aus Ungarn. Theoretisch kann man über eine sol- musste sich nun entscheiden[,] welches Kind sie retten würde. Ein Thomas Ammann, Stefan Aust oder neutrale Lӓnder versprachen, was aber nur in ganz wenigen che Kombination von geschichtlicher Forschung und persönlichen Gewehr war nicht geladen. Die Juden haben nicht gewonnen, es Hitlers Menschenhändler. Fällen gelang. Viele starben im Lager, andere wurden in Bergen- Erinnerungen streiten. Auch werden Kenner wenig Neues aus dem war trotzdem sehr lustig, wenn die Frauen hysterisch, kreischend Das Schicksal der »Austauschjuden« Belsen selbst oder auf dem Transport in andere Lager von alliierten Buch lernen. Aber wenn die Autoren ein barbarisches Unternehmen umherliefen. […] So ein Judenkopf zerspringt wie ein Kürbis, bei Berlin: Rotbuch Verlag, 2013, 334 S., Truppen befreit. und das Leiden seiner Opfer einem breiteren Publikum informa- den Kindern wenigstens« (S. 184). Letztlich stellt es sich jedoch € 24,99 Über die Juden in Ungarn brach die Katastrophe am 19. Mӓrz tiv und berührend vor Augen führen wollten, dürften sie ihr Ziel heraus, dass es sich bei dieser gesamten Quelle um eine Fälschung 1944 herein, als Hitlers Truppen das mit Deutschland verbündete erreicht haben. handelt. Die Infragestellung der Authentizität der Quelle beruht Land besetzten. Ihnen folgte Adolf Eichmann mit seinem Juden- allerdings keineswegs auf den grausamen und schockierenden In- Es kommt nicht oft vor, dass ein Rezensent kommando, begierig, die letzte jüdische Gemeinde Europas – mit- Ladislaus Löb halten; vielmehr stimmen diese Inhalte überein »mit dem, was als in dem zu rezensierenden Buch sich selbst hilfe vieler Ungarn – zu vernichten. Von Mai bis Juli ließ er 440.000 Brighton historisch erwiesen, historiographisch anerkannt und aufgrund des begegnet. Dieses Buch gehört zu den Ausnahmen. Hier trete ich von den 800.000 ungarischen Juden deportieren. In Ungarn hatte vorherrschenden Täterbildes zu erwarten ist« (S. 187). häufi g als Zeitzeuge auf, der als elfjähriges Kind fünf Monate im eine Handvoll Zionisten unter Führung des Journalisten Rezső Kas- Besonders erwähnenswert ist auch der Beitrag von Gerhard Paul Konzentrationslager Bergen-Belsen verbrachte. Das veranlasst mich ztner ein illegales Komitee gebildet, das sich bemühte, Juden zu über Bilder vom Pogrom gegen die jüdischen Einwohner Lembergs zu einer Berichtigung und einer Beobachtung. Die Berichtigung: retten. Das Komitee bot Eichmann Geld für jüdisches Leben an. am 30. Juni und 1. Juli 1941 (S. 191–212). Hierin plädiert Paul Ich stamme nicht aus der Slowakei, sondern aus Siebenbürgen. Eichmann seinerseits schlug vor, gegen Lieferung von 10.000 Mi- überzeugend dafür, das Fotografi eren und Filmen als Tathandeln Die Beobachtung: Die Autoren danken mehreren Holocaust-Über- litär-Lastwagen das Leben von einer Million Juden zu schonen. einzustufen, da die Täter »eine Interaktion mit den Fotografen bzw. lebenden für Gespräche, sagen aber nicht, dass diese Gespräche Wahrscheinlich erhoffte sein Vorgesetzter Heinrich Himmler, durch Kameraleuten ein[gingen], indem sie diesen die gedemütigten und erstmals in einer Fernsehdokumentation zu hören waren. Meinen diese List Kontakte mit den Westalliierten gegen die Sowjets an- nackten Opfer wie Trophäen präsentierten. Die Akteure inszenierten Beitrag entnehmen sie hauptsächlich meinem Buch Geschäfte mit knüpfen zu können. Das Komitee hoffte seinerseits, durch leere und prügelten nicht nur vor, sondern auch für die Kamera« (S. 207). dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezső Kasztner (Köln Versprechungen die Deportationen aufzuhalten. Der große Plan Der prägnante Aufsatz von Donald Bloxham über Motivation und u. a., Böhlau Verlag 2010), aber stellenweise zitieren sie mich nach misslang, aber nach langwierigen Verhandlungen gab Eichmann Umfeld der Holocaust-Täterschaft (S. 62–74) wirkt dadurch im- einem Interview, das Caroline Schmidt mit mir für die ursprüngliche einer Gruppe von knapp 1.700 Juden – eine noch immer umstrittene pulsgebend, dass der Autor anregt, die Frage, warum Menschen am Dokumentation aufnahm. Im Buch werden weder das Interview Auswahl von Reichen und Armen, Prominenten und Unbekannten, Massenmord teilnehmen, durch die Nachfrage zu ergänzen, »wie noch Caroline Schmidt erwähnt. Und wenn ich schon dabei bin: Orthodoxen und Neologen – die Erlaubnis, gegen Lösegeld Ungarn extensiv und enthusiastisch sie mitmachen« (S. 73). Außerdem, Durch ein Register und genaue Quellennachweise hätte das Buch zu verlassen. Sie sollten nach Palästina reisen, aber am 9. Juli 1944 so Bloxham, bleibe die Tatsache, dass, selbst wenn Anordnungen viel gewonnen. fanden sie sich in Bergen-Belsen wieder. Dort genossen sie eine von oben Interpretationsspielräume enthielten, Funktionäre vor Ort Es ist nicht allgemein bekannt, dass während des Zweiten Welt- Reihe von Privilegien, die allerdings die Qualen des Lagerlebens in der Regel nicht Milde zeigten, sondern sich stattdessen für ein kriegs kleine Gruppen von Juden von der »Endlösung« ausgenom- nur mӓßig erleichterten. Dank Kasztners Bemühungen wurden im radikales Vorgehen entschieden, »eines der dringlichsten Probleme men wurden, um gegen Deutsche im feindlichen Ausland ausge- August rund 320 von ihnen in die Schweiz freigelassen, die übrigen der Forschung« (S. 74). tauscht zu werden. Zu diesem Zweck wurden sie in Bergen-Belsen 1.350 folgten im Dezember. Mit dem vorliegenden Werk haben die Herausgeber wieder ein- notdürftig am Leben erhalten. Als Bergen-Belsen in den letzten Nach dem Krieg wurde Kasztner in Israel der Kollaboration mit mal eine sehr verdienstvolle Arbeit zur NS-Täterforschung vorgelegt. Kriegsmonaten zur Hölle wurde, in der Tausende an Hunger und Eichmann beschuldigt. Einen Ehrverletzungsprozess verlor er in Es mag sein, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung vermuten, Flecktyphus starben, warteten die meisten noch auf den Austausch. erster Instanz, aber die Berufung entschied das Oberste Gericht 1958 »dass die Forschungsstelle Ludwigsburg zumindest mittelfristig die Das Buch zerfällt eigentlich in zwei Teile. Der erste handelt zu seinen Gunsten. Allerdings war er damals schon tot: Ein junger einzige wissenschaftliche Institution [Deutschlands] sein könnte, von Juden aus den Niederlanden, darunter auch Flüchtlinge aus Extremist hatte ihn im Vorjahr in Tel Aviv erschossen. Das Buch die sich ausschließlich der NS-Verbrechensgeschichte und ihrer Deutschland. Der zweite, längere und dramatischere, von Juden behauptet, Kasztner sei »in vollem Umfang rehabilitiert« worden. Bewältigungsversuche widmet«. Dies stellt in der Tat »alles ande- aus Ungarn, darunter auch Flüchtlinge aus anderen osteuropäischen In Wirklichkeit blieb eine bittere Anklage an ihm hängen. SS-Ober- re als eine ermutigende Perspektive dar« (S. 17). Immerhin leistet Ländern. Die Verbindung zwischen den ungleichen Teilen wird von sturmbannführer Kurt Becher, ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, diese Institution mit ihren wichtigen Publikationen weiterhin einen Bergen-Belsen und dem Motiv des Rettungsversuchs hergestellt. hatte ihn beim Freikauf der etwa 1.700 unterstützt – allerdings zu beachtlichen Beitrag zur Geschichtsforschung. Hitlers Armeen überfi elen die Niederlande am 10. Mai 1940. seinem eigenen Vorteil. Kasztner gab ihm nach dem Krieg einen Sofort begannen Maßnahmen gegen die Juden, die, um alle ihre »Persilschein«, der ihn vor der Strafverfolgung rettete. Die Gründe Alex J. Kay Rechte und Besitztümer gebracht, in Auffanglager gesperrt und sind bis heute nicht geklärt. Frankfurt am Main in die Vernichtungslager verschleppt wurden. Das Auffanglager Das Buch berichtet ausführlich über die komplizierten Vorgänge mit dem schlimmsten Ruf war Westerbork. Von dort wurden et- des »teufl ischen Handels mit Menschenleben, vom ›Reichsführer- wa 97.000 Juden nach Auschwitz, Sobibór und Theresienstadt SS‹ Heinrich Himmler erdacht, von Hitler persönlich genehmigt

64 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 65 Den Völkermord dokumentiert drohenden Zerstörung beschreiben? Der Winter verhinderte jedes »Bunker-Jakob« besserten.«1 Haskel zitiert Berichte von Israel Gutman und Noah Ausweichen in den Wald. Das Ghetto bereitete seine passive Vertei- Zabłudowicz (beide gehörten zur jüdischen Gruppe des Lagerwi- digung vor. Praktisch in jedem Haus wurde ein Versteck vorbereitet. derstands), dass Kozelczuk eineinhalb Jahre später ein letztes Ge-

[…] Mit dieser Methode wollte das Lamm sich gegen die gierige spräch zwischen Róża Robota, einer der jüdischen Frauen, die den Bestie verteidigen. Unter der kämpferischen Jugend war der Satz zu Sprengstoff für die Häftlinge im Sonderkommando (siehe Beitrag Frank Beer, Wolfgang Benz, hören: ›Wir werden nicht aufgeben, wir werden nicht wie Vieh zur Amir Haskel über den Aufstand des Sonderkomandos in diesem Heft) besorgt Barbara Distel (Hrsg.) Schlachtbank gehen.‹« (S. 149) So schildert Datner den Vorabend The Warden of Block 11 hatten, und Zabłudowicz ermöglichte. (S. 87 ff.) Nach dem Untergang. Die ersten des Widerstands gegen die Vernichtung des Ghettos. Aus dem Hebräischen von Rachel Kessel Im Juli 1946 kam Kozelczuk mit dem Einwandererschiff »Birya« Zeugnisse der Shoah in Polen Des Weiteren sind im Band Berichte enthalten, die die große Tel Aviv: Contento de Semrik, 2014, in Haifa an. Bereits am 12. September 1946 behauptete jedoch in 1944–1947. Berichte der Zentralen Bandbreite der Erfahrungen der Überlebenden wiedergeben. So 274 S., £ 9.99 der Zeitung Ha’aretz ein Korrespondentenbericht aus Warschau Jüdischen Historischen Kommission der von Berek Freiberg: Geboren 1928 in Warschau, kam er mit (S. 205 ff.), er sei in Auschwitz Henker gewesen und habe unter Berlin: Metropol Verlag, München: Verlag 14 Jahren im Mai 1942 in das Vernichtungslager Sobibór. Er war anderem drei polnische Häftlinge gehenkt.2 Dieser Artikel passte zu Dachauer Hefte, 2014, 656 S., € 29,90 somit beim Aufstand am 14. Oktober 1943 trotz seiner Jugend ei- Verwundert, wie ein Jude im Todesblock 11 der damals verbreiteten Einstellung gegenüber den Funktionshäftlin- ner der wenigen »alten« Gefangenen, da er 18 Monate im Lager des Konzentrationslagers Auschwitz warden gen unter den aus Europa einwandernden jüdischen Überlebenden; In seiner Einleitung zu der Quellenedition skizziert Wolfgang Benz überlebt hatte. Oder der von Ber Ryczywół, dessen Bericht Bluma (so das im Buch verwendete Wort) sein konnte, begann Amir Haskel, offensichtlich wusste sein Verfasser nicht, dass in Auschwitz Hinrich- die Geschichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission: Wasser aufgenommen hat. In ihrem Vorwort kommentiert sie: »Es pensionierter Brigadegeneral der israelischen Luftstreitkräfte, über tungen in der Regel durch Erschießen, später auch durch Vergasen Direkt nach der Befreiung Ostpolens im Sommer 1944 wurde sie ist keine außergewöhnliche Geschichte. Die Geschichte des ein- diesen Mann zu recherchieren. Sein Buch über Jakob Kozelczuk durchgeführt wurden. Zwar wurden bald Erklärungen von Mithäft- von jüdischen Überlebenden in Lublin gegründet. Beteiligt waren fachen Ber Ryczywół. […] Manchmal erlaubt sich der Erzähler, klärt, ausgehend von einer Darstellung der Kindheit und Jugend, vie- lingen veröffentlicht, die diese Beschuldigungen zurückwiesen. Für professionelle Historiker und Lehrer, aber auch Künstler oder zum die Fakten zu korrigieren. Manchmal macht es der Schreiber der le Fragen über das Handeln dieses in zahlreichen Erinnerungen von Kozelczuk wurde dieser Artikel jedoch zum Sargnagel, er starb 1953. Beispiel die Erzieherin Eda Lichtman, eine Teilnehmerin des Auf- Wirkung wegen. Ich habe alles getan, das zu vermeiden. […] Herr Überlebenden als »Jakob aus dem Bunker« oder »Bunker-Jakob« Haskels Buch durchbricht ein Tabu in der israelischen Gesell- stands in Sobibór. Die Kommission setzte sich zum Ziel, Berichte Ber selbst wiederum ist gar nicht fähig, Fakten zu verändern, sie erwähnten Häftlings. schaft, nämlich die Bewertung der verkürzt als Kapos bezeichneten von Überlebenden zu sammeln, um den Völkermord zu dokumentie- zu verschönern, auszuschmücken. Er ist ein einfacher und ehrlicher Kozelczuk kam 1902 in Krynki, einem zwischen Białystok und Funktionshäftlinge.3 Die angeführten Zeugnisse sollten durch weitere ren und Material für eine Strafverfolgung der NS-Verbrecher bereit- Mensch – einer von jenen, die vor der Vernichtung des polnischen Wilna gelegenen Ort, auf die Welt, in der später zu Litauen, Belo- Recherchen ergänzt und präzisiert werden. So stammt der Ota Kraus zustellen. Etwa hundert Kommissionsmitglieder waren in Białystok, Judentums in Warschau und in der Provinz an die Hunderttausende russland und Polen gekommenen Region, die jahrhundertelang eines zugeschriebene Bericht über Hilfe für einen wegen Fluchtverdachts Warschau, Krakau, Kattowice und etwa 20 weiteren Orten an diesen gezählt haben.« der Zentren der osteuropäischen Juden war. Beide Eltern starben, als festgesetzten Häftling (S. 135 f.) von dem tatsächlich durch Kozelc- Arbeiten beteiligt. In drei Jahren konnten mehr als 7.000 Berichte, So beeindruckend die Texte sind, so wirkt der Band doch ein der Sohn acht Jahre alt war; er wuchs im Waisenhaus auf. Bereits zuk geretteten Josef Neumann.4 die meisten auf Polnisch, Jiddisch und Deutsch, aufgenommen wer- wenig mit heißer Nadel gestrickt: Drei der zwölf Texte sind nicht als Kind erregte er durch seine Größe und ungewöhnliche Kraft Fraglich ist die Terminologie: Kozelczuk war Kalfaktor im »Bun- den. Sie liegen nach wie vor im Jüdischen Historischen Institut in aus dem polnischen oder dem jiddischen Original übersetzt, sondern Aufsehen; er trat als Kraftmensch auf und war später auch in Israel ker« von Block 11, nicht »the warden« oder gar »the chief warden of Warschau (ŻIH) und sind eine kaum zu überschätzende Quelle der aus dem Englischen. Die ergänzende Kommentierung der Texte als »Samson Eisen« bekannt. 1927 wanderte er nach Kuba aus; er the block«. (S. 12) Häftlinge waren niemals »offi cials in the camps« Holocaustforschung. wirkt uneinheitlich und vor allem dem Engagement der jeweiligen war in den dreißiger Jahren in den USA zeitweilig Begleiter des (S. 188, 193, 249); Amtsträger in den deutschen Konzentrationsla- Frank Beer stellt die 39 Bücher und kleineren Schriften, die Übersetzer/-innen geschuldet. Ausführlichere Anmerkungen wären Boxchampions Max Schmeling (S. 51) und kehrte 1938 nach Polen gern waren die SS-Angehörigen. Diese Herren über Leben und Tod die Kommission publizierte, kurz vor. Zwölf wurden für den Band etwa bei Datners Text wünschenswert gewesen, in dem zum Bei- zurück. Im November 1942 wurden die Juden von Krynki, unter konnten jeden Funktionshäftling absetzen, bestrafen und umbringen; ausgewählt und erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Es handelt sich spiel zwei Organisationen nur als »zionistisch« defi niert werden, ihnen Kozelczuks Ehefrau und zwei Kinder, fast alle in Treblinka gerade die Geschehnisse im Block 11 zeigen dies. Hier geht es nicht um wissenschaftliche Abhandlungen wie die von Filip Friedman über was angesichts der politischen Unterschiede unzureichend ist. Es ermordet; er selbst wurde nach Auschwitz deportiert und am 26. Ja- um Wörter; falsche Begriffe verstellen den Einblick in die Verhält- »Die Vernichtung der Lemberger Juden« oder von Szymon Datner fi nden sich vage Formulierungen, so lässt sich kaum sagen, dass nuar 1943 als Häftling Nr. 93830 registriert. nisse in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. zum »Kampf und Zerstörung des Ghettos in Białystok«. Datner, 1902 der SS-Offi zier Josef Grzimek 1950 im Gefängnis »starb«, wenn In Birkenau fi el er den SS-Männern wegen seiner Größe und in Krakau geboren, war Lehrer für Geschichte, Musik und Sport. Er er dort hingerichtet wurde. Platz- und Straßennamen wurden in Körperkraft auf; er wurde in das Stammlager gebracht und dem Jochen August lebte mit seiner Frau und den beiden Töchtern während des Krieges der Übersetzung häufi g im Genitiv belassen, wie Wolności statt Kalfaktor der Haftzellen im Block 11, dem polnischen Häftling Berlin/Oświęcim im Ghetto Białystok. Tochter Miriam war im Ghettowiderstand aktiv. Wolność-[Freiheits-]Platz. Musiół, als Helfer zugewiesen. Jan Pilecki, der damalige Schreiber Datners Familie wurde bei der Liquidierung des Ghettos ermordet. Den Herausgebern gebührt dennoch Dank, dass sie diesen Band des Blocks, berichtet, dass es gelang, Musiół durch eine Intrige Er selbst konnte fl iehen und schloss sich jüdischen Partisanen an. veröffentlicht haben. Beeindruckende historische Abhandlungen zu entfernen. Als sein Nachfolger wurde im Mai 1943 Kozelczuk Datner verarbeitet in seiner Abhandlung persönliche Erfahrungen und Überlebendenberichte werden endlich einem deutschsprachigen eingesetzt. 1 Filip Müller, Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskam- und die Berichte anderer Überlebender, die er aufgenommen hat. Die Publikum zugänglich. Die meisten der 7.000 Berichte im ŻIH sind Prägnant schrieb der jüdische Häftling Filip Müller, zunächst mern von Auschwitz, München 1979, S. 84. 2 Tatsächlich wurden diese drei Häftlinge, W. Szumański, J. Woźniakowski und J. beiden Kriterien, zeitliche Nähe zu den Ereignissen und persönliche leider immer noch viel zu wenigen Menschen bekannt – weitere im Krematorium beim Stammlager eingesetzt und bis Mitte 1943 in Mosdorf, nicht gehenkt, sondern am 11.10.1943 im Hof von Block 11 erschossen, Involviertheit der Autoren, verleihen den Texten wie auch ihren Veröffentlichungen, mit größerer Sorgfalt kommentiert, wären daher einer der Zellen im Keller des Blocks 11 gefangen: »Dennoch gehör- siehe Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Kommentierungen der Überlebendenberichte spezifi sche Intensität. absolut wünschenswert. te Jakob zu jenen Menschen, die sich oft durch außergewöhnliche Auschwitz-Birkenau 1940–1945, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 626 f. Man spürt, wie schmerzlich genau die Autoren wissen, wovon sie Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit auszuzeichnen pfl egen. Nicht 3 Dass diese Einstellung inzwischen Veränderungen unterliegt, zeigt bereits Revital Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funkti- schreiben: »Wer kann die Qualen der Eltern, die sich des Schicksals Franziska Bruder nur wir hatten ihm zu verdanken, daß unsere Daseinsbedingungen, onshäftlinge in der Shoah, Gießen 2001. ihrer Kinder bewusst waren, und ihre Hilfl osigkeit im Angesicht der Berlin seit er im Block 11 Funktionshäftling geworden war, sich spürbar 4 Ota Kraus, Erich Kulka, Die Todesfabrik, Berlin 1957, S. 54–57.

66 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 67 Rauff Reloaded El Alamein sei greifbar gewesen, ganz Ägypten zu erobern und in Judenjagd Deutschen lassen sich in jedem einzelnen Schicksal der Verfolgten Palästina einzumarschieren. Am Vormittag des 1. Juli 1942 habe Schel- erkennen: Höchstens 30.000 bis 40.000 Juden überlebten diese Phase lenberg »Himmler über die Lage in Ägypten« informiert. Tatsächlich der Shoah. Grabowski hat sich auf einen ländlichen Kreis konzentriert.

hatte der SD-Führer und Chef des Auslandsnachrichtendienstes mit Er reagierte damit auf die Kritik, dass die bisherige Forschung sich Himmler telefoniert, so die Telefonnotiz Himmlers, »Bericht über auf die wenigen großen Städte bezogen habe. Martin Cüppers Einsatz Zeppelin« (neue Zeile) »Einsatz in Ägypten«, in der auch von Jan Grabowski Verteilt auf die Kreisstadt Dąbrowa Tarnowska und zahlreiche Walther Rauff – in deutschen Diensten. Cüppers angeführten Edition (S. 148).1 Schon angesichts des Wortlauts Hunt for the Jews. Betrayal and Murder Dörfer, hatten circa 6.000 Juden gelebt. Die massenhafte Verfolgung, Vom Naziverbrecher zum BND-Spion erscheint die Interpretation als Lagemeldung fraglich. Eher dürfte in German-Occupied Poland Ermordung und Deportation 1941/42 waren weitgehend von den Deut- Darmstadt: Wissenschaftliche es um das geheimdienstliche Vorgehen des für Ägypten geplanten Bloomington: Indiana University Press, schen durchgeführt worden. Polnische Helfer beteiligten sich, waren Buchgesellschaft, 2013, 438 S., € 49,90 Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD gegangen sein. 2013, 288 S., $ 35,– auch dafür verantwortlich, die übrigen Polen fernzuhalten, nicht zuletzt Nachmittags habe Himmler, so Cüppers, Hitler eine Stunde vor- um die Kontrolle über Hab und Gut zu sichern. getragen, und Himmler habe »bei dieser Gelegenheit die Entsendung Der Autor hat umfangreiche Quellen berücksichtigt. Er behandelt Walter Rauff wurde schon im Nürnberger eines SS-Kommandos« zu Rommel angeregt. Mit den »Vorschlägen Ein Teil der Forschungsergebnisse des Po- die verschiedenen Akteure: deutsche Verwaltung und Polizei, soge- Hauptkriegsverbrecherprozess als Verant- Himmlers« habe sich Hitler einverstanden erklärt. Eine »grundsätz- lish Center for Holocaust Research sind nur nannte »Blaue« (polnische) Polizei, lokale polnische Verwaltung, die wortlicher für Bau und Wartung von Gaswagen genannt. 1906 liche Entscheidung zur Entsendung von Sicherheitspolizei und SD denen zugänglich, die des Polnischen mächtig sind. Eine Sammel- sogenannten »Yunakis« (zwangsrekrutierte junge Polen unter deut- geboren, schlug er zunächst eine Marinekarriere ein. Wegen Ehe- zu Rommel nach Afrika dürfte damit bei der Unterredung am 1. Juli rezension von Grzegorz Rossolinski-Liebe1 hatte 2012 auf zwei schem Kommando) im paramilitärischen »Baudienst«. Ferner erfasste scheidung nahm er seinen Abschied, fand eine Anstellung beim […] gefallen sein«. Als Beleg dient der »Terminkalender RFSS« vom wichtige Neuerscheinungen aufmerksam gemacht. Einbezogen hatte er die Einwohnerdaten einschließlich der Zahlen der dort lebenden SD, stieg rasch auf und hatte im Reichssicherheitshauptamt der 1. Juli 1942 in NS 19/1447 des Bundesarchivs. (S. 148 f.) Tatsächlich er auch das neueste Buch von Jan Gross, das in Polen eine heftige Juden. Er nutzte polnische Gerichtsakten, aber auch deutsche Akten, SS verschiedene Positionen inne. Nach Kriegsende gelang es ihm, enthält der Band Notizen Himmlers für Vorträge bei Hitler. Die vom Debatte auslöste.2 Sie bezog sich aber nicht nur auf die bekannten Ermittlungen gegen Polizisten betreffend. sich Gefangenschaft und Strafverfolgung zu entziehen und zuerst in 1. Juli sind in der oben genannten Edition vollständig abgedruckt – es Kontroversen über Ansatz und Arbeitsweise von Gross, sondern Seine wichtigsten Quellen sind jedoch 19 frühe, 1946/1947 ge- Syrien, dann in Südamerika zu leben. Während seiner Zeit in Chile fehlt darin jeder Hinweis auf das von Cüppers Gesagte!2 auch auf den Vorwurf des polnischen Antisemitismus. Das erkennt sammelte Zeugnisse Überlebender, außerdem auch etliche in späteren arbeitete er für den Bundesnachrichtendienst. Versuche, Rauff zur Zu Rauffs Tätigkeit in Tunis (Ende 1942 bis Frühjahr 1943) man schon in der Einleitung von Grabowskis Buch »Judenjagd« Jahren niedergeschriebene Erinnerungen und einige eigene Interviews. Verantwortung zu ziehen, wurden durch den Obersten Gerichtshof konnte Cüppers unbekannte Quellen einsehen. Sie belegen Rauffs (so der polnische Titel), das nun in englischer Übersetzung vorliegt. Elf Zeugnisse sind in dem Buch veröffentlicht. Die tabellarischen von Chile ein Ende gesetzt. Rauff starb 1984 als freier Mann. Judenpolitik durch Zwangsarbeit und Raub. Neue Quellen konnte »During the war, the Poles (and other bystanders, to use a term that Übersichten mit den Namen der Versteckten geben Aufschluss über Martin Cüppers hat schon vor dem vorliegenden Band gemeinsam der Autor auch in Form von Nachkriegsbriefen Rauffs an Verwandte is slowly becoming obsolete) had little to say in matters of life and die Schicksale; dazu gehören oft Einzelheiten, wie Namen der Retter mit Klaus-Michael Mallmann zwei Aufsätze und ein Buch veröffent- erschließen. Der Inhalt wird leider meist nur schlicht nacherzählt. death of the Jews. The only exception was the period of the Judenjagd, bzw. die Orte und Verantwortlichen für die Morde. So kann Grabowski licht. Darin beschäftigen sie sich zum Teil mit Rauff. 2009 folgte ein Quellenkritische Überlegungen dazu fehlen. when the only way to salvation led through the hearts of Poles. This schließlich auch die Statistik zusammenfassen: 337 versteckte Juden, Beitrag Cüppers zu Rauff. 2011 legte Heinz Schneppen eine Biogra- Immer wieder fällt auf, dass Rauff in eine Schablone aus Ver- was the only time, and the only situation, when Poles […] decided von denen nur 51 überlebt haben. 112 bezahlte und 48 altruistische phie Rauffs vor, und der BND edierte wichtige Dokumente zu ihm. halten und Einstellung eines NS-Täters hineingepresst wird. So ist which Jews would live or die. And, as we know today, many failed Helfer sowie weitere 117 unbekannte Unterstützer halfen den Juden. In den ersten Kapiteln trägt Cüppers wenig Neues bei. Er unter- zum Beispiel unklar, worauf Cüppers’ Urteil beruht, dass Rauff eine this test of humanity.« (S. 5) (S. 137) Bei bezahlten Helfern überlebten nur zehn Juden, mithilfe von füttert die spärlichen Informationen zu Rauffs Jugend und Ausbildung »gleichberechtigte Partnerschaft […] nie imstande« war zu führen Schwerpunkt von Grabowskis Studie ist das Schicksal der we- selbstlosen Rettern konnten immerhin 27 überleben, für 14 Überleben- mit breiten Darstellungen des allgemeinen historischen Hintergrunds (S. 397). Das wenige, was über Rauffs Verhältnis zu seiner zweiten nigen Juden, die bei der Einrichtung und späteren Räumung der de liegen keine weiteren Informationen vor. 33 weitere Juden konnten und mutmaßt, wie Rauff die Zeitereignisse erlebt habe beziehungs- Frau, die – wenig SS-gemäß – acht Jahre älter und in einer früheren Ghettos nicht ermordet oder deportiert wurden. In seinen auf das sich außerhalb des Kreisgebietes verbergen oder überlebten in Lagern. weise von ihnen geprägt worden sei. So wird zum Beispiel ohne Quel- Ehe mit einem jüdischen Mann verheiratet gewesen war, erwähnt ganze Land bezogenen Schätzungen geht er davon aus, dass von Sein letztes Kapitel widmet der Autor den wenigen Gerechten. Etli- lenbelege über antisemitische Ansichten Rauffs und seiner Familie, wird, stützt diese Annahme nicht. Am Ende geht Cüppers nur kaum den etwa 3,3 Millionen Juden in Polen höchstens zehn Prozent nach che wurden mit den Versteckten oder kurz nach deren Entdeckung regelmäßige Prügelstrafen durch den Vater oder über das Tragen eines über seinen letzten Beitrag hinaus. Die Biographie Schneppens wird Osten fl iehen konnten. Somit waren drei Millionen der deutschen ermordet, alle mussten um ihr Leben fürchten. Nach 1945 wurden Matrosenanzuges spekuliert. Oder es wird mehrfach länger aus Se- nicht wirklich kritisch rezipiert. Der wissenschaftliche Mehrwert des Besatzung ausgeliefert; 1942 versuchten dann etwa 250.000 Juden sie in ihren Wohnorten angefeindet – wenn überhaupt, so erfolgte bastian Haffners Autobiographie zitiert, jeweils mit der Hinzufügung, vorliegenden Werkes ist gering; handwerkliche Mängel sind auffal- unterzutauchen. Die »Judenjagd« der Deutschen galt den versteck- ihre Anerkennung Jahrzehnte später. dass Rauff dieselben Empfi ndungen und Einsichten wie Haffner geteilt lend. Weshalb dieses Buch den Anforderungen einer Habilitation an ten Opfern der deutschen Vernichtungspolitik: Die bis dahin Ent- habe. Bemerkenswert auch, dass laut Cüppers seit Januar 1933 die NS- der Universität Stuttgart gerecht werden und dort zur Übernahme kommenen sollten bei den Polen und mit deren tatkräftigen Hilfe Dorothee Lottmann-Kaeseler Führung einen eigenen Repressionsapparat geschaffen habe, »der mit einer einschlägigen Leiterstelle befähigen konnte, ist unverständlich. aufgespürt werden. Hier ging es um mehr als Kollaboration. Das Wiesbaden der Zeit jeglicher parlamentarischen Kontrolle enthoben war« (S. 73)! Spannungsverhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit, tief sit- Zu den Gaswagen werden vorwiegend literaturbekannte Quel- Volker Rieß zende Vorurteile, aber auch Habgier, Angst vor Nachbarn und den len benutzt. Die Vorgeschichte des Sonderkommandos Lange wird Ludwigsburg praktisch ausgeblendet und die Rolle des Kriminaltechnischen Insti- tuts der Sicherheitspolizei als Versuchs- und Entwicklungsabteilung unterschätzt; umso wichtiger muss so Rauff erscheinen. 1 http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-050. 1 Peter Witte u. a. (Hrsg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, 2 Jan Tomasz Gross, Irena Grudzińska-Gross (Hrsg.), Złote żniwa. Rzecz o tym, co Zu Rauffs Einsatzkommando »Afrika« und seinen Judenvernich- Hamburg 1999, S. 473. się działo na obrzeżach zagłady Żydów [Goldene Ernte. Bericht darüber, was am tungsplänen ist Altbekanntes zu lesen. Mit Rommels Vorrücken auf 2 Ebd., S. 473–475. Rande der Judenvernichtung geschah], Krakau 2011.

68 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 69 Eine Deportation und 25 Kontexte Entgegen landläufi gen Thesen kann die Autorin hier keine größere Novemberpogrome Das überzeugende Ergebnis von Heidens Bericht besteht darin, Mobilität der Jüngeren feststellen. dass er bereits 1939 als Erster quellengestützt nachgewiesen hat, Selbstverständlich reichen die geschilderten Erfahrungen über dass es sich bei den Novemberpogromen nicht – wie von Goeb-

Individuen hinaus: Die Dezimierung und Auslöschung hat Familien bels behauptet – um einen »spontanen Wutausbruch des deutschen über mehrere Generationen hinweg involviert und beschädigt. Und Volkes« als Folge der Ermordung eines deutschen Botschaftsange- Katrin Dönges jeder der 25 Lebenswege wird von Katrin Dönges unter einem ex- Konrad Heiden hörigen in Paris durch einen jüdischen Emigranten gehandelt hat, Zerstörte Zukunft. Die Deportation von emplarischen Blickwinkel geschildert und dokumentiert, so dass sich Eine Nacht im November 1938. sondern um eine planmäßig organisierte Terroraktion von SA, SS Oberhausener Juden nach dem Pogrom die in solcher Reihung drohende Gleichförmigkeit nicht einstellt. Die Ein zeitgenössischer Bericht und Parteiangehörigen – eine Weichenstellung für den Holocaust. 1938 gewählten Perspektiven heben Dimensionen der Verfolgung, Orte Göttingen: Wallstein Verlag, 2013, 189 S., Hierfür wertete er die Erkenntnisse des Amsterdamer Jewish Central Oberhausen: Verlag Karl Maria Laufen, und Wege der Verfolgten (Łódź/Litzmannstadt, Auschwitz-Birkenau, € 19,90 Information Offi ce aus sowie die Berichte der NS-Presse, die Schil- 2013, 280 S., € 22,– Dachauer Außenlager Kaufering, Schanghai, Israel), aber auch Akte derung ausländischer Zeitungen und die Mitteilungen der in Paris der Selbstbehauptung sowie Prozesse der Erinnerung und »Aufar- gut vernetzten Exil-SPD. Mit der für ihn typischen Akribie verband Kann es noch gelingen, eine Lokalstudie beitung« hervor. Damit führt die Autorin beiläufi g eine mehrfache Aus der Vielzahl von Neuerscheinungen zum er die so gewonnenen einzelnen Fakten zu einem überzeugenden zu den antijüdischen Pogromen und De- Perspektivität, die oft geforderte, aber kaum praktizierte Abkehr 75. Jahrestag der Novemberpogrome ist das Gesamtbild, mit dem er Goebbels’ Legende widerlegte. portationen 1938 lesenswert und anregend zu schreiben – 30 bis von der bloßen Verfolgungserzählung sowie geschichtskulturelle Buch eines Autors hervorzuheben, dessen Leben bereits ungewöhnlich Heiden dokumentiert unter Verwendung seiner Quellen die 35 Jahre nachdem die kritische Lokalgeschichte Neugier für diese Refl exionen in ihren Text ein, der nichtsdestoweniger unangestrengt- war. Konrad Heiden (1901–1966) stammte aus einem jüdisch-sozial- nächtlichen Überfälle. Nationalsozialistische Kampfgruppen dran- Zäsur entwickelte? Das Buch von Katrin Dönges über die Oberhau- unakademisch ausfällt. demokratischen Umfeld, lebte mit seinen früh verstorbenen Eltern in gen in jüdische Wohnungen und Geschäfte ein und zerschlugen sener »Aktionsjuden«, also die ausgewählten jüdischen Männer, die Die jeweils etwa zehnseitigen Skizzen transportieren mit dem Frankfurt am Main, wo er 1919 sein Abitur bestand und ein Jurastu- Einrichtungen und Auslagen mit Beilen und Äxten. Bereits bei die- nach den Exzessen des November 1938 in Konzentrationslager des Doppelblick auf Biografi e und Rahmenbedingungen eine Fülle zu dium begann. Er zog jedoch bald nach München, von wo aus er als sen Überfällen kam es zu massiven Körperverletzungen und ers- Deutschen Reichs verschleppt wurden, beweist die Möglichkeit. Im wenig bekannter Tatsachen. Dies kann nur an wenigen Beispielen Journalist ab 1923 unter anderem in der Frankfurter Zeitung über die ten Todesfällen, über die ins Ausland gefl ohene Opfer berichteten, ersten Band einer neuen Schriftenreihe der Gedenkhalle Oberhausen benannt werden: etwa zum Funktionswandel jüdischer Sportvereine Anfänge der NSDAP und über den Aufstieg Adolf Hitlers berichtete. wobei Heiden deren Namen und die der Tatorte anonymisiert hat, legt die Autorin eine Kollektivbiografi e der 25 Männer vor, die in in den 1930er Jahren, zum örtlichen »Judenreferat«, zur Erzwingung Sein erstes Buch veröffentlichte er unter dem Titel Die Geschichte des um die in Deutschland gebliebenen Angehörigen der Zeugen nicht Oberhausen betroffen waren. »jüdischer« Zusatzvornamen (letztlich auch für die durchaus bereits Nationalsozialismus (Rowohlt Verlag), ein Werk, dessen scharfsinnige zu gefährden. Dem lebensgeschichtlich fokussierten Hauptteil geht eine Ein- kenntlichen Isidor, Rachel, Rifka und Saul) seit Januar 1939, zu kon- und kritische Analysen über Anhänger und Programm der NSDAP Weiter beschrieb er, wie zahllose, ausschließlich männliche führung voran, die refl ektiert, wie das Thema seit seiner Entdeckung kreten Abläufen des Aprilboykotts 1933 und der Verfolgung derer, ihn schlagartig bekannt machte. Aus naheliegenden Gründen fl oh Juden in »Schutzhaft« genommen und in die Konzentrationslager in den 1980er Jahren bearbeitet wurde. Angesichts der nachfolgen- die damals noch aus der »Volksgemeinschaft« auszuscheren wagten. Heiden kurz nach Hitlers Machtergreifung zunächst nach Zürich, wo Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert wurden, wo sie den Verbrechensdimensionen sind die Wochen und Monate nach dem Die Arbeit der jüdischen Volksschule (in Oberhausen seit 1909 eine er in seinem zweiten Buch, Die Geburt des 3. Reiches, die Geschichte unvorstellbaren, unmenschlichen Torturen durch die Bewachungs- nun beachteten November-Datum, abgesehen von den »Kindertrans- öffentliche Schule!), jüdische Hilfestrukturen in Schanghai, Entlas- des Machtwechsels detailgetreu beschrieb und hellsichtig die Folgen mannschaften ausgesetzt waren. Insgesamt haben 2.000 Juden die porten«, etwas aus dem Blick geraten – immerhin die Zeitspanne, die sungen aus dem öffentlichen Dienst ungeachtet »Mischehe« und des Antisemitismus vorhersah. Über das Saarland kam er nach Paris. Novemberpogrome nicht überlebt und circa 30.000 wurden in den für die Mehrzahl der Betroffenen den endgültigen Abschied von der Konversion, der Ablauf von Todeserklärungen nach dem Mai 1945, Dort veröffentlichte er seine berühmte Hitler-Biografi e, die in viele Lagern festgehalten. Einzelne fl ohen nach ihrer Entlassung ins Aus- Hoffnung brachte, in Deutschland weiter leben zu können. Über die die jahrelange Mühsal der Rückerstattungen, die Transiträume der Sprachen übersetzt und in hohen Aufl agen publiziert wurde. Als Folge land und schilderten die Ereignisse, wobei Heiden stets nachdrück- Empirie der 26.000 Verhaftungen deutscher Juden, der Wege nach mehr als 700 Displaced-Persons-Lager oder die Erinnerungsarbeit dieses Buches, dessen Inhalt Joseph Goebbels mit dem Ausspruch: lich die Objektivität der Berichte hervorhob, etwa die Erwähnung Dachau, Buchenwald, Sachsenhausen und danach besteht somit der Gedenkstätte Yad Vashem sind Beispiele für die herbeigezoge- »Welch ein Unrat, welch ein Schmutz« einordnete, entzogen ihm die der guten Qualität des Essens in Dachau oder die Behandlung der noch Informationsbedarf. nen, wahrnehmungsschärfenden Kontexte. NS-Machthaber die deutsche Staatsangehörigkeit. Kranken in Sachsenhausen. Die Oberhausener Gruppe – eine heterogene Mischung aus Insbesondere die Einbeziehung der »zweiten Geschichte», also Nach dem Überfall auf Frankreich fl üchtete Heiden über Portu- Die Berichte der Zeugen und Korrespondenten sind besonders Schlosser und Professor, Kaufl euten und Beamten, Weltkrieg-I- der Aspekte von Erinnerung, lückenhafter Quellenüberlieferung gal in die Vereinigten Staaten. Da seine Bücher in den USA in hohen berührend, soweit sie die Zerstörung der Synagogen darstellen. Die Veteranen und Oberschülern – erlitt kein untypisches Schicksal, und Wissenslücken, »Wiedergutmachung« und Geschichtspolitik, Aufl agen erschienen, gehörte er bald zu den privilegierten Exilanten. körperliche Gewalt gegen die Rabbiner, die sinnlose Zerstörung das hier mit den Stationen Verhaftung, Transport, Aufnahmeproze- macht den Band zu einer sehr anregenden und refl exiven Lektüre. Er publizierte 1944 eine Neufassung seiner Hitler-Biografi e unter sakraler Gegenstände und der Vandalismus gegen die Synagogen duren, Lageralltag umrissen wird. Die unterschiedliche Haftdauer Seine Quellenbasis (Forschungsliteratur, lokal, regionale und inter- dem Titel Der Fuehrer. 1966 starb Heiden, hierzulande vergessen, selbst werden beklemmend eindrucksvoll beschrieben. Hierbei ist zwischen 18 Tagen und 4 Monaten ging wohl auch auf familiäre nationale Archive) ist breit, die Darstellung ist forschungsnah und in New York. von besonderer Bedeutung, dass diese Berichte unmittelbar nach Bemühungen um Freilassung zurück, hatte aber ebenso viel mit lesbar. Dönges’ Zugangsweise zum Thema verkennt die Grenzen So ist auch die Geschichte seines wohl bedeutendsten und wich- dem eigentlichen Tatgeschehen aufgeschrieben wurden. In allen Dar- den folgenden »Arisierungen« zu tun, die nicht behindert werden des biografi schen Zugangs nicht, sondern legt sie vielmehr offen tigsten Buches außergewöhnlich. Das jetzt erstmals in deutscher stellungen wird die passive Rolle von Polizei und Feuerwehr bei der sollten. Dreizehn der Zurückgekehrten verblieben in Oberhausen, dar. Mit dem genannten Doppelblick auf Lebenswege und Lebens- Sprache veröffentlichte Werk über den November 1938 ist zwar im Bekämpfung der Brände hervorgehoben, die schon an anderen Stel- unterlagen den weiteren Repressionen, wie etwa der Konzentration (und Sterbens-)Bedingungen rückt das Buch Differenzierungen in Herbst 1939 auf Englisch, Französisch und Schwedisch in hohen len auch von unbeteiligten Zeitzeugen empört geschildert wurden. in »Judenhäusern«, der Zwangsarbeit für die Stadtverwaltung, dem den Blick, die über die Erweiterung lokalen Wissens hinausgehen. Aufl agen erschienen – eine deutsche Fassung hat es bisher aber nicht Verlust aller geschäftlichen Spielräume schon Anfang 1939 und den gegeben. Es ist das Verdienst der Mitarbeiter der »Arbeitsstelle für Wolfram Wiesemann Deportationen nach Łódź und Theresienstadt 1941/42. Die anderen Norbert Reichling Holocaustliteratur« der Universität Gießen, diesen nur 99 Seiten Wiesbaden machten sich (nach ihrer Ausplünderung) auf nach Palästina, Süd- Dorsten starken Bericht entdeckt, vorzüglich redigiert und mit umfangreichen amerika und den anderen verbliebenen Auswanderungsoptionen. Erläuterungen versehen zu haben.

70 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 71 Die Entstehung jüdischer Institutionen Dabei gelingt es ihr, die Porträts ihrer Protagonisten ohne Ideali- Van Dam und Marx waren sich bewusst, wie stark der Antise- Frühe NS-Strafverfolgung im Nachkriegsdeutschland sierungen nüchtern und distanziert nachzuzeichnen. Für die beiden mitismus in der deutschen Bevölkerung nach 1945 weiter wirkte. späteren Meinungsführer der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Hervorzuheben ist das Kapitel zur Auerbach-Affäre5. Es schildert

war kennzeichnend, dass sie Deutschland bereits 1933 verlassen hat- eindrucksvoll das taktische Agieren der beiden Interessenvertreter ten und unmittelbar nach Kriegsende wieder dorthin zurückgekehrt in der deutschen Öffentlichkeit. Sinn rekonstruiert die kontroversen waren. Ihre Motive dafür waren ähnliche: Beide wollten sie dazu Einstellungen zu Auerbach seitens der Zentralratsfunktionäre ei- Edith Raim Andrea Sinn beitragen, die Lebensbedingungen für Juden in Deutschland wieder nerseits und die Furcht vor den starken antisemitischen Reaktionen Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Jüdische Politik und Presse in der annehmbar zu machen; zudem wollten sie den Demokratisierungspro- im Prozess gegen Auerbach andererseits. Sie drängten die Vertreter Wiederaufbau und Ahndung von frühen Bundesrepublik zess in Deutschland unterstützen. Die britische Militärregierung ließ des Zentralrats in die Defensive und stürzten ihn in eine tiefe Krise. NS-Verbrechen in Westdeutschland Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, zu diesem frühen Zeitpunkt vor allem Juristen und Journalisten nach Dabei waren van Dam und Marx gleichermaßen bemüht, nach außen 1945–1949 2014, 400 S., € 59,99 Deutschland zurückkehren und favorisierte insbesondere deutsche das Bild der Geschlossenheit und Einheit zu wahren, um keinen München: Oldenbourg Verlag, 2013, Emigranten, weil sie davon überzeugt war, dass diese »während der »ungünstigen Eindruck« hervorzurufen und die Vorwürfe gegen 1.237 S., € 148,– Nach 1945 bestand die jüdische Gemein- Jahre im Exil demokratische Erfahrung gesammelt hatten, was sie Auerbach vom jüdischen Kollektiv fernzuhalten (S. 203). schaft in Deutschland aus wenigen deutsch von anderen, insbesondere osteuropäisch-jüdischen Überlebenden, Sinn gelingt es sehr gut, das Agieren van Dams und Marx’ in ihren Edith Raims umfangreiche Studie zur Ge- geprägten Überlebenden der Shoah oder die diese Zeit in Lagern verbracht hatten, abhob« (S. 181). vielfältigen Verfl echtungen zu zeigen. Zum einen waren sie aus ihrer schichte der frühen NS-Strafverfolgung füllt Rückkehrern aus dem Exil und der großen Mehrheit von Displaced Das Kernthema für die jüdischen Interessenvertreter in der un- eigenen berufl ichen und politischen Biographie heraus motiviert, eine eine seit langem bestehende Forschungslücke. Freilich handelt es Persons (DPs) aus Osteuropa. Diese Zweiteilung lässt sich auch re- mittelbaren Nachkriegszeit war die Wiedergutmachung des national- zentrale Rolle in der neuen Bundesrepublik zu spielen. Zum anderen sich um eine Lücke, von deren Existenz bislang nur wenig Notiz gional in einer Nord-Süd-Ausrichtung nachvollziehen.1 Während die sozialistischen Unrechts an den Juden. Eine entscheidende Rolle auf handelten sie in Auseinandersetzung mit der jüdischen Gemeinschaft genommen wurde. Während es mittlerweile üblich geworden ist, Aufmerksamkeit der Forschung in den letzten Jahren vorrangig den dem Weg zum Luxemburger Abkommen 1952 misst die Autorin Karl in Deutschland insbesondere den DP-Gemeinden, die die Einrichtung die großen NS-Prozesse der sechziger Jahre als Faktor der inneren DPs2 galt, richtet Andrea Sinn ihren Blick auf die deutschen Juden Marx bei. Er sei es gewesen, der in seiner Zeitung eine Regelung neuer jüdischer Gemeinden auf Dauer ablehnten. Auch gegenüber den Demokratisierung zu behandeln, fristen die frühen westdeutschen und hier vor allem auf zwei für die Anfangsjahre entscheidenden der Wiedergutmachung immer wieder eingefordert und sie mit dem internationalen jüdischen Organisationen mussten sie sich behaupten, Nachkriegsprozesse immer noch ein Schattendasein.1 Dass diese Repräsentanten: den ersten Generalsekretär des Zentralrats der Juden Erfolg des Demokratisierungsprozesses in Verbindung gebracht habe. um deren Anerkennung sie jahrzehntelang rangen. Und schließlich Nichtkenntnisnahme in jeder Beziehung ungerechtfertigt ist, macht in Deutschland, Hendrik George van Dam, und den Gründer und Marx trat in den Anfangsjahren als Vermittler zur deutschen Politik, waren ihre Bedingungen durch die politische Entwicklung in der Raims Arbeit in beeindruckender Weise deutlich. Nicht nur die Zahl Herausgeber der Jüdischen Allgemeinen, Karl Marx. Damit folgt sie besonders zu Theodor Heuss, Kurt Schumacher und Konrad Adenau- Bundesrepublik Deutschland und den beginnenden Kalten Krieg vor- an Ermittlungsverfahren und rechtskräftig abgeschlossenen Prozes- der in der Forschung vorherrschenden Einschätzung, dass die große er, auf und stellte Kontakte zu politischen Vertretern aus Israel her. gegeben. Indem die Autorin diese Beziehungsgeschichten eingehend sen, sondern auch die Intensität und Zielstrebigkeit, mit der die da- Mehrheit osteuropäischer Juden von einer kleinen Minderheit deut- Marx habe, urteilt Sinn, früh eine Strategie der Nähe zur Bundesre- analysiert, kommt sie nicht zu einer grundsätzlichen Neubewertung malige Strafjustiz den nach 1933 verübten Gewalttaten an politischen scher Juden vertreten wurde, was große Spannungen mit sich brachte.3 gierung entwickelt. Gezielt versorgte er Politiker der demokratischen der jüdischen Nachkriegsgeschichte. Mit ihrem Blick auf die Institu- Gegnern und Minderheiten nachging, wurde in den nachfolgenden Es erstaunt, dass die Geschichte des Zentralrats und die der Jü- Parteien mit Freiexemplaren der Jüdischen Allgemeinen und brachte tionen zeigt sie jedoch, wie die deutschen Juden van Dam und Marx Jahrzehnten nicht einmal mehr ansatzweise erreicht. dischen Allgemeinen sowie ihrer prominenten Vertreter nicht schon jüdische Themen so in den politischen Alltag in Bonn ein. die Grundlagen legten, die nicht nur für einen dauerhaften Verbleib Bei der Bearbeitung ihres Themas konnte die Verfasserin früher Gegenstand einer umfassenden Analyse geworden sind.4 Auf Gleichermaßen war der Jurist van Dam nach Deutschland zu- von Juden in Deutschland erforderlich waren, sondern die die späte- quellenmäßig aus dem Vollen schöpfen. So stützt sich die Arbeit der Basis umfassenden Quellenstudiums legt Sinn die Geschichte bei- rückgekehrt, um sich an entscheidender Stelle für die Rechte der ren osteuropäischen Vertreter des Zentralrats übernahmen. Mit ihrer vorzugsweise auf NSG-Verfahrensakten, die das Institut für Zeitge- der Institutionen vor und verbindet sie mit den Biographien van Dams Juden einzusetzen. Auch für ihn war die Wiedergutmachungsge- Konfl iktgeschichte der Juden in Deutschland nach 1945, in die der schichte für ein umfassendes Inventarisierungs- und Verfi lmungs- und Marx’, die die Einrichtungen in den ersten Jahrzehnten prägten. setzgebung das zentrale Thema seiner Arbeit. Als Generalsekretär Zentralrat und die Jüdische Allgemeine eingebunden waren, schließt projekt erfasst und inhaltlich erschlossen hat. Da die Akten der des Zentralrats war er viel stärker als Marx darauf bedacht, Distanz Sinn eine Lücke in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte. westzonalen Justizverwaltungen lediglich bruchstückhaft überliefert gegenüber der Bundesregierung zu wahren und sich nicht für de- sind, wurden ersatzweise die Bestände der alliierten Rechtsabtei-

1 Dan Diner, »Im Zeichen des Banns«, in: Michael Brenner (Hrsg.), Geschichte der ren Interessen instrumentalisieren zu lassen. Infolgedessen setzte Katharina Rauschenberger lungen herangezogen. Wie Raim in ihrer Einleitung betont, handelt Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart, München 2012, S. 15–66, er durch, dass er als Vertreter des Zentralrats an den Gesprächen Fritz Bauer Institut es sich dabei um eine Gegenüberlieferung, die von der Forschung hier: S. 32. im Vorfeld des Luxemburger Abkommens teilnehmen konnte. So bislang kaum beachtet worden ist. (S. 8) Die Fülle dieser unter- 2 Atina Grossmann, Jews, Germans, and Allies, Close Encounters in Occupied Ger- war gewährleistet, dass auch die Juden in Deutschland bei den Ver- schiedlichen Materialien zu ordnen und in eine erzählerische Form many, Princeton 2007; Tamar Lewinsky, Displaced Poets. Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945–1951, Göttingen 2008; Avinoam Patt, Michael handlungen der Bundesregierung mit den internationalen jüdischen zu bringen, stellt zweifellos eine beachtenswerte Leistung dar. Dass Berkowitz (Hrsg.), »We are here«. New Approaches to Jewish Displaced Persons Organisationen und den Vertretern Israels eine Stimme erhielten. 5 Philipp Auerbach war ein deutscher Holocaustüberlebender, der 1946 als bayeri- die Umsetzung dieses Vorhabens letztlich über zehn Jahre in An- in Postwar Germany, Detroit 2010. Zwar war das Verhältnis zwischen van Dam und Marx kein unge- scher Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in München spruch nahm, dürfte allerdings nicht – wie die Verfasserin etwas 3 Michael Brenner, Norbert Frei, »Zweiter Teil: 1950–1967. Konsolidierung«, in: trübtes, und es gab Rivalitäten darüber, wer als Sprecher der Juden in das Amt für Wiedergutmachung führte. 1951 wurde er vom CSU-Vorsitzenden Jo- frivol anmerkt – auf ausgeprägten »Wagemut« oder auf »Kühnheit« Michael Brenner (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland. Von 1945 bis zur sef Müller beschuldigt, Dokumente zugunsten von NS-Verfolgten gefälscht, Kon- Gegenwart, München 2012, S. 153–293, hier: S. 158; Y. Michal Bodemann, Deutschland auftreten durfte, schildert Sinn. Einig seien sie sich jedoch takte zur KPD unterhalten, seinen Doktortitel erschlichen und Wiedergutma- »Mentalitäten des Verweilens. Der Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland«, darin gewesen, das Verbleiben in Deutschland für diejenigen, die das chungsgelder veruntreut zu haben. Die Amtsräume seiner Behörde wurden besetzt, in: Julius H. Schoeps (Hrsg.), Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegs- wollten oder nicht anders konnten, möglich zu machen und gegenüber Material wurde beschlagnahmt und Auerbach kam in Untersuchungshaft. Im April deutschland (1945–1952), Berlin 2001, S. 15–29. der Kritik der DP-Gemeinden und der ausländischen jüdischen Institu- 1952 wurde ihm der Prozess gemacht. Nach fünfmonatiger Verhandlungsdauer 1 Exemplarisch für diese Diskrepanz ist die Gesamtgeschichte Ulrich Herberts, in 4 Eine Ausnahme bildet die Monographie von Jay Howard Geller, Jews in Post- wurde er zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Auer- der die deutschen NS-Prozesse unter alliierter Besatzungsherrschaft in einem Holocaust Germany, 1945–1953, Cambridge 2005, die jedoch nur eine kurze tionen zu verteidigen. Beide waren nach Deutschland zurückgekehrt, bach, der vor diesen Ereignissen einer der bekanntesten jüdischen Repräsentanten Satz abgehandelt werden; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahr- Zeitspanne behandelt. um hier zu bleiben und ein neues jüdisches Leben aufzubauen. war, konnte dieses Urteil nicht ertragen und nahm sich im August 1952 das Leben. hundert, München 2014, S. 567.

72 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 73 zurückzuführen sein. (S. 13) Vielmehr ist dies eher ein Indiz dafür, und bayerische Justizminister Wilhelm Hoegner darin zeigte, ehr- Displaced Publizistik Giere (Wiesbaden) über die Presse in den jüdischen DP-Camps der dass sich lange Zeit niemand darum gekümmert hat, den Einsatz geizige und qualifi zierte Juristen zunächst nach Bayern zu ziehen, amerikanischen Besatzungszone. (S. 61 ff.) Thomas Rahe (Gedenk- öffentlicher Forschungsressourcen und deren wissenschaftlichen um ihnen sodann den Weg für höhere und einfl ussreiche Posten stätte Bergen-Belsen) und Anne-Katrin Henkel (Hannover) widmen

Ertrag in eine vernünftige Balance zu bringen. zu ebnen. So schaffte er es beispielsweise im Frühjahr 1946, den sich der Publizistik im DP-Camp Bergen-Belsen anhand der Zeitung Die Studie, die sich als Beitrag zur Rechtsgeschichte und zeithis- früheren Reichsgerichtsrat Hermann Weinkauff mit Zustimmung Unzer Sztyme (S. 75 ff.) und mittels der entsprechenden Bestände torischen Kriminalitätsforschung versteht (S. 15), ist in drei Hauptab- der Amerikaner zum Präsidenten des Bamberger Landgerichts zu Anne-Katrin Henkel, der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek Hannover (S. 97 ff.). Je- schnitte untergliedert. Im ersten Teil, der allein 500 Seiten umfasst, machen, obwohl dieser erst ein Jahr später den begehrten Entnazi- Thomas Rahe (Hrsg.) hoshua Pierce (Washington, D.C.) stellt in seinem aufschlussreichen widmet sich die Verfasserin ausführlich dem institutionellen und fi zierungsbescheid als »nicht Betroffener« erhalten sollte. Bamberg Publizistik in jüdischen Displaced- Beitrag am Beispiel des DP-Lagers Föhrenwald die Frage: »Was personellen Wiederaufbau der westzonalen Justiz. Der zweite Teil stellte für Weinkauff eine wichtige Zwischenstation auf seinem Weg Persons-Camps im Nachkriegsdeutschland. defi niert einen DP-Druck?« (S. 137 ff.) Dabei handelt es sich um untersucht ein Spezialthema des frühen westdeutschen Umgangs als späterer Präsident des Bundesgerichtshofs dar. Auch Thomas Charakteristika, Medientypen und Druckerzeugnisse, »die in den DP-Lagern selber erschienen sind mit NS-Kriminalität. Im Blickpunkt steht die Frage, wie deutsche Dehler, der erste Bundesjustizminister, wurde von Hoegner geför- bibliothekarische Überlieferung oder von Insassen in den umliegenden Städten in Auftrag gegeben Justizbehörden, aber auch die sich wieder formierende deutsche dert. Über die Gründe und Zielsetzungen hätte man gerne Genaueres Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, wurden« oder von jüdischen Organisationen stammten (S. 138). Rechtswissenschaft auf den Umstand reagierte, dass zumindest im erfahren. Doch leider schweigt sich Raim darüber aus. 2014, 194 S., € 59,– Eva-Maria Thimme, Sophia C. Fock (beide Berlin) und Stefan Jakob britischen und französischen Besatzungsgebiet rückwirkendes alli- Die Neigung, den Leser durch ein Panoptikum von Akteuren und Wimmer (München) berichten über die Sammlungen der DP-Drucke iertes Recht anzuwenden war, wenn es um die Ahndung typischer Schauplätzen zu führen, deren Stellenwert für das Gesamtnarrativ Seit den 1980er Jahren sind die jüdischen Displaced-Persons-Camps an der Staatsbibliothek zu Berlin (S. 157 ff.) und der Bayerischen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen ging. Schließlich handelt man allenfalls erahnen kann, durchzieht auch den Rest des Buches. Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung. Grundlegende Staatsbibliothek (S. 169 ff.). Raim im dritten Abschnitt nacheinander die verschiedenen Verbre- So berichtet Raim in einem der folgenden Kapitel en passant von Studien stammen von Wolfgang Jacobmeyer, Angelika Königseder, Mit seinem Beitrag über das hebräisch- und jiddischsprachige chenskomplexe ab, die in den späten vierziger Jahren die Schwer- einem Konfl ikt, der sich Ende der vierziger Jahre zwischen dem Juliane Wetzel, Jacqueline Giere und Jim G. Tobias. Bis zu 200.000 Unterrichtsmaterial in den jüdischen DP-Camps der amerikanischen punkte der juristischen Aufarbeitung bildeten. Wegen der damals bayerischen Justizminister Josef Müller und Philipp Auerbach zu zumeist aus Osteuropa stammende Überlebende der Shoah mussten Zone beschreitet Jim G. Tobias (Nürnberg) bisher kaum behandeltes noch geltenden Kompetenzbeschränkungen durfte die westzonale entspannen begann. Auerbach, seit 1946 bayerischer Beauftragter sich »jahrelang in den DP-Camps und -Communities im besetzten Forschungsneuland. (S. 119 ff.) Detailliert beschreibt er, welche Justiz nur ausnahmsweise in Fällen tätig werden, in denen die Opfer für Wiedergutmachungsfragen, war besorgt darüber, dass die Staats- Deutschland aufhalten«, bis sie in Eretz Israel, Kanada, Australien erheblichen Schwierigkeiten überwunden werden mussten, um keine alliierten Staatsbürger waren. anwaltschaft Nürnberg-Fürth, die nach dem Willen der Amerikaner oder in den USA eine neue Heimat fanden: Damals »entstand tem- im Rahmen schulischer Bildungsvermittlung Lernen und Lehren Obwohl die Bearbeitung jedes dieser drei Themenfelder aus- die politisch bedeutsamen Restverfahren aus den Nürnberger Nach- porär eine nahezu autonome Gesellschaft mit Selbstverwaltungsko- überhaupt erst wieder neu zu organisieren: »Die meisten der osteu- gereicht hätte, um damit eine eigene Monographie zu füllen, ist es folgeprozessen übernehmen sollte, dieser Aufgabe nicht mit dem mitees, Synagogen, politischen Parteien, Sport- und Kulturvereinen, ropäischen Jungen und Mädchen hatten weder einen Kindergarten nachvollziehbar, dass sich Raim für die Verknüpfung in einer über- nötigen Verfolgungswillen nachkam. Seine Befürchtung bestätigte Bibliotheken, Theatern, Zeitungen sowie allgemeinbildenden und noch eine Schule besucht. Nach den langen Jahren ohne Zugang greifenden Untersuchung entschieden hat. Wie sie in der Einleitung sich kurze Zeit später, als das Nürnberger Landgericht drei schwer berufskundlichen Schulen« (Tobias, S. 120). Seit 2011 bemüht sich zu jeglicher Bildung und Kultur stand daher die Organisation eines zu Recht betont, waren die einzelnen Bereiche eng miteinander belastete Angeklagte aus der Untersuchungshaft entließ und ihnen ein internationales akademisches Netzwerk um die Zusammenfüh- Erziehungswesens ganz oben auf der Agenda.« (S. 122) Anfänglich verwoben. So hing einerseits eine effektive NS-Strafverfolgung von dadurch die Flucht ermöglichte. Auch hier belässt es Raim dabei, rung der vielfältigen Forschungsansätze über DPs im Nachkriegs- fehlte es an ausreichendem Lehrpersonal und -material, vor allem einer rechtsstaatlichen Justiz ab, während andererseits die Blindstel- weitschweifi g aus den Akten zu referieren, ohne sich mit der dazu deutschland. an hebräischen Lehr- und Wörterbüchern, so dass der Unterricht len beim Umgang mit NS-Tatverdächtigen nicht selten das Resultat vorliegenden Literatur auseinanderzusetzen. Der inhaltliche Schwerpunkt des informativen Sammelbandes zunächst häufi g nur mündlich abgehalten werden konnte. Um Ab- einer nur halbherzig durchgeführten Entnazifi zierung waren. Doch Stellt man die hohen Ansprüche in Rechnung, kann das Ge- liegt auf der Publizistik in den jüdischen DP-Camps: »Das Spektrum hilfe zu schaffen, trat die jüdische Kulturverwaltung an deutsche leider deutet sich bereits in den ersten Hauptkapiteln an, dass sich samturteil daher allenfalls zwiespältig ausfallen: Obwohl die dichte der Beiträge reicht von der bibliothekarischen Überlieferung und Bildungseinrichtungen heran und suchte ebenso »in den USA, in die Verfasserin mit dem selbst gesetzten Anspruch übernommen hat. Quellengrundlage auf den ersten Blick besticht, vermag die Untersu- ihren Bedingungsfaktoren, ihren formalen und inhaltlichen Cha- England und in der Schweiz sowie bei den Behörden in Palästina So fehlt der Studie nicht nur ein roter Faden, auch der integrative chung dennoch nur bedingt die Geschichte der frühen westdeutschen rakteristika, den Akteuren und Kontexten der Publikationstätigkeit, dringend um die Lieferung von Lehrbüchern« nach. (S. 121) Schließ- Ansatz aus Rechts-, Politik- und Sozialgeschichte wird nicht adäquat Justiz als Forschungsfeld zu erschließen. den Funktionen dieser Publikationen in den jüdischen DP-Camps, lich gelang es, Lehrbücher auch mithilfe von nichtjüdisch-deutschen umgesetzt. Stattdessen verliert sich die Untersuchung alsbald in einer ihrer historischen und historiographischen Bedeutung bis hin zu ihrer Druckereien zu erstellen. Das seit Frühjahr 1947 bestehende Board Fülle von atmosphärischen Beschreibungen und Einzelproblemen, Annette Weinke Stellung in der Kontinuität deutsch-jüdischer Geschichte.« (S. 15) for Education and Culture schuf eine »eigene Abteilung für das Ver- ohne dass deren Relevanz hinreichend dargelegt wird. Im Großen Jena Eröffnet wird der Band von Juliane Wetzel (Berlin) mit einem lagswesen […], die sich vordringlich um den Druck von hebräischen und Ganzen dominiert ein faktologischer Umgang mit dem Material, konzisen Überblick über die jüdischen DP-Camps der Jahre 1945 Schulbüchern« bemühte. (S. 128) Trotz Papiermangels konnten fer- der darauf setzt, dass sich der Leser dasjenige heraussucht, was er bis 1957. (S. 21 ff.) Anne-Christin Saß (Essen) dokumentiert die ner religiöse Schriften sowie Fachmagazine für die Berufsschulen selbst als wichtig erachtet. Bedeutung der jiddischen Publizistik in Deutschland vor und nach und Lehrbauernhöfe bereitgestellt werden. Besonders negativ schlägt allerdings zu Buche, dass durchaus 1945. (S. 37 ff.) Ein Vergleich der jiddischen Publizistik in den naheliegende Themenfelder und Fragestellungen teilweise entweder DP-Lagern mit derjenigen im Kaiserreich und in der Weimarer Re- Siegbert Wolf nur gestreift oder gleich ganz ausgeklammert werden. Ein markantes publik führt die Autorin zu dem Ergebnis, dass diese im Nachkriegs- Frankfurt am Main Beispiel dafür ist der personelle Wiederaufbau der Justiz in der ame- deutschland nicht länger ein »integraler Bestandteil einer weltweit rikanischen Besatzungszone, die in gewisser Weise die Keimzelle vernetzten, transnationalen jiddischen Presselandschaft« (S. 57) für die spätere Bundesjustiz bildete. Dank der Forschungen Klaus- war, sondern »auf den eigenen kulturellen Wiederaufbau und ihre Detlev Godau-Schüttkes sind wir mittlerweile zumindest in groben Reterritorialisierung in der transnationalen jiddischsprachigen Welt Zügen darüber informiert, welches Talent der Jurist, SPD-Politiker gerichtet« (S. 58) blieb. Daran anschließend berichtet Jacqueline

74 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 75 Männlichkeitskonstruktionen gegenüber Polen und die Selbstdarstellung als Eroberer auf Fotos Aufwasch, keine Aufklärung Ermittlungsverfahrens der Frankfurter Staatsanwaltschaft gegen Men- von Wehrmachtssoldaten sowie die Konstruktion von Männlichkeit gele auszuwerten. Die Akten werden im Hessischen Hauptstaatsar- im 3. Ravensbrücker Prozess 1948. chiv in Wiesbaden verwahrt. Sich allein auf Sekundärliteratur und auf

Dabei richtet der Sammelband den Blick nicht nur auf die he- nicht immer zuverlässige Zeugnisse von Überlebenden zu stützen, ist gemoniale Männlichkeit der Mitglieder der Volksgemeinschaft, son- nicht ausreichend. Das Studium der Akten hat sich Ortmeyer gespart. Annette Dietrich, Ljiljana Heise (Hrsg.) dern erweitert die Analyse auf Verfolgte des Regimes: Marginalisier- Benjamin Ortmeyer Ihm reicht die einschlägige deutschsprachige Literatur aus, um seiner Männlichkeitskonstruktionen im te Männlichkeit, die beispielsweise durch Kategorien wie »Rasse/ Jenseits des Hippokratischen Eids. Empörung über Mengele und die unzureichende Aufarbeitung der Nationalsozialismus. Ethnie« oder Klasse zugeschrieben wird. Zwei Beiträge widmen Josef Mengele und die Goethe-Universität NS-Vergangenheit an der Goethe-Universität den Anstrich von Wis- Formen, Funktionen und Wirkungsmacht sich der Konstruktion von Männlichkeit(en) im Konzentrationsla- Unter Mitarbeit von Katharina Rhein senschaftlichkeit zu geben. Die 100-Jahrfeier der Frankfurter Univer- von Geschlechterkonstruktionen im ger: zum einen Hintergründe über den Boxsport und Männlichkeit und Mirja Keller sität ist ihm Anlass, auf Defi zite hinzuweisen und das »Gewicht der Nationalsozialismus und ihre Refl exion im Konzentrationslager mit der ausführlichen Analyse des Films Frankfurt am Main: Protagoras NS-Zeit für die Goethe-Universität zu unterstreichen« (S. 15). Metho- in der pädagogischen Praxis TRIUMPH OF THE SPIRIT (1989) über den Boxer Salamo Arouch, der Academicus, 2014, 154 S., € 14,80 disch unzulässig an seiner Darstellung ist freilich, von Kausalitäten zu Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang, in Auschwitz um sein Leben boxte. Der Autorin zufolge bezieht sprechen, wo keine bestehen. Ortmeyer zufolge hat Mengele an der 2013, 290 S., € 49,95 sich der Titel des Films auf den Film TRIUMPH DES WILLENS von Leni Adornos allererste Forderung an Erziehung, Goethe-Universität »für seine Experimente an Menschen in Auschwitz Riefenstahl über die Olympischen Spiele 1936 (S. 195), tatsächlich dass Auschwitz sich nicht wiederhole (S. 51), vorgearbeitet« (S. 16). Hier stellt sich die Frage, ob Mengele als As- Beeinfl usst durch feministische Bewegungen etabliert sich seit ge- handelt es sich dabei jedoch um den Film über den Reichsparteitag macht sich der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer zu sistent Verschuers bereits um seine späteren Verbrechen in Auschwitz raumer Zeit ein Forschungsfeld, das Geschlecht bzw. Weiblichkeit im der NSDAP von 1934, der 1935 veröffentlicht wurde. Zum anderen eigen. Freilich ist das von ihm eingeforderte Gedenken an Auschwitz gewusst hat und deshalb »Vorarbeiten« erbringen konnte? Weiter ist in Nazismus als Untersuchungsgegenstand wahrnimmt. Dennoch bleibt die Männlichkeitskonstruktionen von in Konzentrationslagern inhaf- eng mit dem Wissen um Auschwitz verknüpft. Ortmeyer hat sich Josef Ortmeyers retrospektiver Betrachtung Mengeles 1936 durchgeführtes die Kategorie Geschlecht innerhalb der Geschichtswissenschaften tierten jüdischen Häftlingen, die sich nach dem Novemberpogrom Mengele (1911–1979) vorgenommen, der ab Januar 1937 am Univer- Praktikum an der »Kinderklinik der Universität Leipzig […] nicht ohne bislang meist marginalisiert und erfolgt überwiegend als Geschichte 1938 als Revolutionäre, Bürgerliche und Soldaten darstellten. Diese sitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt am Main Bedeutung […] wegen […] dessen späteren Experimenten an Kindern über Männer. Die Kategorie der Männlichkeit bleibt dabei jedoch un- Perspektive ist sehr zu begrüßen: So werden Männlichkeitsentwürfe eine Stelle innehatte. Von Ende Mai 1943 bis Mitte Januar 1945 war in Auschwitz« (S. 19). Mit der nämlichen Logik ließe sich das Nicht- sichtbar und wird nicht explizit in Bezug auf Geschlecht analysiert. marginalisierter Inhaftierter dargestellt, die der Selbstbehauptung im er Lagerarzt in Auschwitz. SS-Mediziner wurden als Truppen- und vorhandensein eines Schwimmbads in Mengeles Geburtsort Günzburg Dieser Vernachlässigung der Analyse der Geschlechterverhältnisse Konzentrationslager dienten. Lagerärzte eingesetzt. Sie kümmerten sich um SS-Personal im SS- mit seinem Badeunfall im Jahr 1979 in Zusammenhang bringen. im Nazismus tritt das vorliegende Buch entgegen. Männlichkeitsfor- Die Stärke des Bandes liegt neben der historischen Analyse Lazarett oder waren in den Häftlingskrankenbauten (HKB) tätig. Dort Als Dokument für Mengeles Verbrechen druckt Ortmeyer den schung widmete sich seit ihrem Entstehen vor etwa 50 Jahren über- auch darin, Erkenntnisse für die Gedenkstättenpädagogik sowie den übten sie kein heilendes, sondern ein mörderisches Handwerk aus. Haftbefehl ab, den das Landgericht Frankfurt am Main 1981 gegen wiegend der weißen Mittelschicht. Seit einem Paradigmenwechsel in geschlechterspezifi schen Umgang mit Rechtsextremismus fruchtbar Mengele war ein überzeugter Nationalsozialist, der sich die den gesuchten, mittlerweile bereits verstorbenen Massenmörder er- den 1990er Jahren sind intersektionale Formen der Ungleichheit, wie zu machen. Die AutorInnen kritisieren dabei aktuelle Formen des öf- Rassenideologie der Nazis zu eigen gemacht hatte. Als Lagerarzt lassen hat. Die darin aufgeführten Taten, derer der Gesuchte dringend Sexualität, Alter, Religion, »Ethnie«, in den Mittelpunkt der Analyse fentlichen Geschichtsbewusstseins, die oft durch Abwehr gegenüber führte er Selektionen im HKB, in den Häftlingsunterkünften (Block- verdächtig war, geben dem Autor zufolge »einen kompakten Über- kritischer Männlichkeitsforschung gerückt. Hauptgegenstand sind der Geschichte und dem Thema Männlichkeit in den Gedenkstätten selektionen) und in den Lagerabschnitten (Lagerselektionen) durch. blick über klar gegliederte Anklagepunkte gegen Josef Mengele« »die normativen Setzungen männlichen Verhaltens und männlicher selbst gekennzeichnet sind. Die Relevanz der Gedenkstättenpädago- Er tat sich auch bei Rampenselektionen hervor. Mit Zügen der Deut- (S. 107). Dass ein Haftbefehl keine Anklageschrift und eine Anklage- Identität [zu] hinterfragen, vorrangig männliche Lebenswelten und gik wird dabei betont, jedoch auch die Grenzen, die ihr in der Arbeit schen Reichsbahn nach Auschwitz deportierte Juden wurden auf schrift kein Gerichtsurteil ist, in dem durch richterliche Erforschung männliche Wert- und Symbolordnungen nicht länger als neutrale gegen Rassismus oder Antisemitismus gesetzt sind: »Vielmehr wird den Rampen, der sogenannten Alten Rampe am Güterbahnhof und der Wahrheit zweifelsfreie Tatsachenfeststellungen vorkommen (sol- und allgemeingültige [zu] präsentieren und Geschlechterhierarchien dafür plädiert, sie als Teil eines Gesamtkonzeptes in der Auseinander- der Neuen Rampe ab Mai 1944, selektiert. Alte und Kranke, Frauen len), scheint den Autor nicht zu kümmern. An Quellenkritik mangelt – statt sie weiter fortzuschreiben – [zu] benennen« (S. 10). setzung mit diskriminierenden Einstellungen und Verhaltensweisen mit Kindern und als »arbeitsunfähig« betrachtete Juden kamen von es ihm überhaupt. So wurde zum Beispiel der Sinto Ricky Adler in In ihrem Beitrag beschreibt Raewyn Connell den Versuch des heutiger Jugendlicher zu verstehen« (S. 241). Darüber hinaus werden der Rampe weg in die Gaskammern. »Arbeitsfähige« Männer und Auschwitz unter der Nummer Z-2784 registriert. Er kam mithin Mitte Regimes durch Institutionen wie die Hitlerjugend eine hegemoniale geschlechterrefl ektierte Ansätze in der Praxis sowie eine intensive Frauen wies die SS ins Lager zur Vernichtung durch Arbeit ein. März 19431 in Auschwitz an, will aber bei seiner Ankunft vor Mengele Männlichkeit durch »making masculinity« (S. 40) zu etablieren. Selbstrefl ektion gefordert, die die Geschlechternormen und Vorstel- Mengele hatte in Auschwitz auch »wissenschaftliche« Ambitionen (S. 41), der ab Ende Mai 1943 in Auschwitz war, gestanden haben. Die Analyse der Autorin verdeutlicht jedoch, dass sich hegemoni- lungen von Geschlechtsidentitäten von MuseumspädagogInnen mit und führte an Häftlingen, die ihm bloßes »Menschenmaterial« waren, »Aussagen über Mengele«, schrieb Ernst Klee in seinem letzten Werk ale Männlichkeit im Nazismus nicht wie ein autoritärer Charakter einbezieht. So ist in Ausstellungen Männlichkeit oft unsichtbar und Experimente durch. Der Massenmörder war ein studierter Mann. In über Auschwitz-Täter, »sind mit höchster Vorsicht zu behandeln«.2 manifestiert, sondern eine Konstruktion in einem komplexen, auf als Norm gesetzt. In der Praxis könnte auf diesen Umstand durch München hatte er am Anthropologischen Institut zum Doktor der Philo- Aufklärung und Wissensvermittlung ist nur durch sorgfältige For- verschiedenen Ebenen eingebetteter Prozess war, der bis zur Befrei- Irritationen aufmerksam gemacht werden. Zusätzlich ermöglicht die sophie promoviert, an der Goethe-Universität zum Doktor der Medizin. schung möglich. Ortmeyer beherzigt den Grundsatz unzureichend. ung umkämpft blieb (etwa gegenüber den Kirchen). gendersensible Refl exion von MuseumspädagogInnen die Nichtre- Mengele war in Frankfurt Assistent von Otmar von Verschuer, dem Die weiteren Beiträge beschreiben Formen hegemonialer Männ- produzierung von Männlichkeit(en). Leiter des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene. Verschuers Werner Renz lichkeit als soldatische Männlichkeit einhergehend mit sexueller Mitarbeiter schickte seinem Lehrer, mittlerweile Direktor des Kaiser- Fritz Bauer Institut Gewalt gegen Männer und Frauen im »Unternehmen Barbarossa«; Florian Zabransky Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Euge- als Männerbund und »Sippengemeinschaft« in der SS; aus der Pers- Frankfurt am Main nik in Berlin, »Proben« von seinen Experimenten zu. Meist stammten pektive von Deserteuren, die ihre Tapferkeit und Männlichkeit beto- sie von Häftlingen, die er, um sie sezieren zu können, hatte töten lassen. 1 Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, nen; in einer Biographie, geprägt durch Kameradschaft, Sport, Treue Will man Mengeles Verbrechen in Auschwitz erforschen, ist es München 1993, Bd. II, S. 892 f. 2 Ernst Klee, Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein sowie Entschlossenheit; durch die rassifi zierenden Zuschreibungen unerlässlich, neben der Literatur die sehr umfangreichen Akten des Personenlexikon, Frankfurt am Main 2013, S. 274.

76 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 77 Textgelehrte: Vielfach codiert Im Fall Scholem hat die Zuschreibung jüdischer Textgelehrter Architektur, Repräsentation, Erinnerung Orte/Museen begrenzt, sondern ihrer Entwicklung, damit den sich mehr als metaphorischen Charakter. Vom traditionellen Schriftge- verändernden Nutzungen, Bedürfnissen, Erzählungen und Wahr- lehrten trennt Scholem jedoch das Selbstverständnis als Historiker nehmungen einen breiten Raum gibt.

und Philologe, das keinen ungebrochenen Zugang zu Wahrheit und Neuman zielt weniger auf einen Vergleich zwischen den Bei- Autorität der Schrift mehr erlaubt. Für ihn blieb die Herausforderung spielen ab oder darauf, eine chronologische Geschichte der Reprä- Nicolas Berg, Dieter Burdorf (Hrsg.) der Moderne somit zentral. Er wollte bewusst Wissenschaft des Ju- Eran Neuman sentation der Shoah in der Architektur von Holocaust-Museen zu Textgelehrte. dentums betreiben, jedoch, wie er 1944 schrieb, nicht um den Preis Shoah Presence. erzählen. Vielmehr eröffnet sein Zugang einen Blick auf Strate- Literaturwissenschaft und literarisches der »Entfernung des irrationalen Stachels und der Austreibung der Architectural Representations of the gien, Inhalte und Mittel, die mithilfe von Architektur zum Tragen Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie dämonischen Glut der jüdischen Geschichte« (S. 284). Scholems Holocaust kommen. So zeichnet er für den Ghetto Fighter Kibbuz (Lochamej Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Biographie spiegelt diese Herausforderung der Moderne zugleich Surrey: Ashgate Publishing Limited, 2014, haGeta’ot) und die auf seinem Areal situierten Museen (Ghetto Figh- 2014, 454 S., € 69,99 auf anderer Ebene. Anders als viele jüdische Gelehrte seiner Zeit 204 S., € 77,20 ters House Museum und Yad Layelad) explizit ihre Entstehungs- und eignete er sich die Kabbala nicht vom selbstverständlichen Boden Baugeschichte von 1949 bis zu den letzten Umbauten 2002–2006 Unter dem Titel Textgelehrte fi ndet sich in einer jüdischen Sozialisation an, sondern aus der Erfahrung von Auseinandersetzungen über die Repräsenta- nach. Neben dem Fokus auf einen in der Forschung vernachlässigten diesem Sammelband vieles vereint, viel- Säkularisation und Assimilation. Die konzisen Beiträge von Daniel tion der nationalsozialistischen Verbrechen Erinnerungsort kann er die veränderte Bedeutung, die Architektur für leicht am Ende zu viel? Zum einen steht der Textgelehrte für den Weidner und Ottfried Fraisse tarieren all dies an der »Figur eines sind für Medien wie Literatur, Film oder Denkmal nicht neu. Auf- die Repräsentation und Erinnerung innehat, herausarbeiten. Für Yad säkularisierten Erben des jüdischen Schriftgelehrten. Der Kosmos modernen jüdischen Textgelehrten« (S. 261) aus. fällig ist, dass trotz aller Bezüge zu einem »Gedächtnis der Orte« Vashem stehen die Bedeutung und Indienstnahme von Landschaft/ beider Gelehrtentypen ist die Textexegese. Beim modernen Text- Anders Szondi, der 1965 als Ordinarius an der FU Berlin das Architektur als materieller Träger von Informationen und Zuschrei- Territorium im Zentrum, die Weise, in der Geschichte und Erinne- gelehrten verlagert sie sich von der religiösen auf die literarische »Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft« bungen außen vor bleibt. Zwar rückte in den 1990er Jahren mit dem rung mithilfe von Architekturen in die Natur eingebettet werden, Tradition, deren Sinn durch geschulte Lektüre und Kommentar im- gründete und damit die Germanistik aus ihren nationalen Begrenzun- Bau des Jüdischen Museums in Berlin von Daniel Libeskind die sich in ihrer Bedeutung gegenseitig bedingen in einem Raum, der mer wieder neu zum Sprechen gebracht werden soll. Nimmt man gen löste. Szondi nannte sich selber einen Gelehrten. Beim Entwurf Architektur als Träger einer Erzählung jüdischer Geschichte in den sich in großer Distanz zu den Orten befi ndet, an denen die Verbre- hinzu, dass für alle deutschsprachigen Gelehrten dieser Generation seiner Philologie berief er sich jedoch nicht wie Scholem auf die Fokus unter anderem des US-amerikanischen Historikers James E. chen selbst begangen wurden. Mit dem dritten Beispiel, dem US literarisches Wissen ein hohes kanonisches Bildungsgut darstellte, Tradition jüdischer Auslegung, sondern auf den protestantischen Young, allerdings beließen es die Beiträge – neben Untersuchungen Holocaust Memorial Museum rückt der Autor »Authentizität« in fällt die These, dass die Vertreter der Kritischen Theorie literarische Theologen und Begründer der Hermeneutik, Friedrich Schleierma- zur Entstehungsgeschichte – bei Darstellungen der Intentionen und den Mittelpunkt, einen Terminus, der im Kontext der europäischen Textgelehrte waren, nicht überraschend aus. Die AutorInnen des cher. Daran anknüpfend entwarf er seine textimmanente Philologie, Wirkungsabsichten. 2011 legte der US-amerikanische Historiker Erinnerungsorte auf den vormaligen Lagergeländen zum festen Be- Bandes folgen dazu den Lektüren und den Literaturtheorien ihrer die alle Arten von außerliterarischer Interpretation strikt verwarf. Gavriel D. Rosenfeld mit seiner Studie Building After Auschwitz. standteil des hiesigen Vokabulars gehört. Für den in Washington Protagonisten. So etwa liest Andreas B. Kilcher mit Walter Benjamin Und dennoch war Szondis Philologie, und darum geht es im Beitrag Jewish Architecture and the Memory of the Holocaust (New Haven umgesetzten Entwurf des Architekten James Freed zeigt Neuman Franz Kafka, Susanne Zepp folgt Max Horkheimers Montaigne- von Andreas Isenschmid, eine lebensnotwendige Camoufl age für and London: Yale University Press) eine umfangreiche Auseinan- auf, dass das Konzept »Authentizität« nicht im Objekt oder in der Lektüre, Dieter Burdorf Peter Szondis Hölderlin-Studien, und Sigrid den Überlebenden des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Der dersetzung darüber vor, auf welche Arten Gebäude von jüdischer Rezeption subjektiver Gefühle und Gedanken beim Betrachter selbst Weigel liest mit Hannah Arendt Walter Benjamin. Gerhard Scheit Holocaust blieb für ihn die Erfahrung, über die er nicht sprechen historischer Erinnerung durchdrungen sind und wie ihnen Bedeu- angelegt ist, als vielmehr zwischen dem Objekt und dem Subjekt, stellt Georg Lukacs’ Theorie des Romans als Inkunabel kritischer mochte, die er aber noch weniger verschweigen konnte. Szondi tungen zugeschrieben werden. Allerdings unterlässt auch er es, die zwischen Raum und Bewohner, Material und Gebrauch. Das letzte Literaturtheorie vor, und Hans Joachim Hahn zeigt, wie Leo Lö- entwarf deshalb gegen die Maxime seines Lehrers, des Theologen Architektur in ihrer Materialität zu untersuchen. Beispiel, das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wenthal in der Literatur ein Asyl für das Utopische fand. und Germanisten Emil Staiger, derzufolge Philologie und Geschich- Die Studie des israelischen Architekten Eran Neuman ver- ordnet der Autor in das architektonische Denken und Verständnis Textgelehrsamkeit will hier aber mehr als Philologie sein. In te unvereinbar seien, seine »historische Formensemantik, die es spricht nun, sich dieser Leerstelle in der Rezeption von Archi- von Peter Eisenman ein, für das schematische (»diagrammatic«) ihrer Einleitung legen die Herausgeber Wert auf die Feststellung, sie ihm erlaubt, von all seinen Themen in Gestalt streng philologischer tekturen, die für eine Vermittlung des und die Erinnerung an den Arbeiten die Grundlage bilden. Für das Mahnmal bedeute dies, dass sei »Denkstil« und »Lebensweise« zugleich. (S. 9) Eine der Brücken, Analyse reden zu können, ohne die Zeitdiagnose, die doch alles im nationalsozialistischen Massenmord errichtet wurden, anzunehmen. der architektonische Text keine Vorstellungen des historischen Er- die vom Schriftgelehrten zur Kritischen Theorie führen soll, ist die Inneren trägt, direkt ansprechen zu müssen« (S. 408). Zunächst widmet er sich in seiner Einleitung der Bedeutung, die eignisses repräsentiert. Die damit entstehende Konstruktion eines jüdische Erfahrung ihrer Protagonisten. Damit begibt sich der Band Und noch ein drittes semantisches Feld schlagen die Herausge- der Architektur für eine rekonstruierende Erzählung der Geschichte offenen Endes diktiere keine Bedeutung und Erfahrung, sie erlaube auf das Feld der Geschichts- und Kulturwissenschaft und eröffnet ber vor. Die hier Porträtierten sollen zugleich sein, was an sich als zukommt. Er tut dies explizit im Vergleich zu einer historischen es stattdessen, neue Ideen unserer Beziehung zum Holocaust zu neben der literaturwissenschaftlichen eine Fragestellung der Intel- Gegenteil des Textgelehrten gilt, nämlich öffentliche Intellektuelle Quellenforschung sowie zu Medien wie Film(-dokumentationen) erfassen. Die Abbildungen tanzender und feiernder BesucherInnen lectual History. Im Unterschied zur philologischen Disziplin zielt und Wegbereiter einer Theorie der Gesellschaft. Leider bleiben je- und Literatur. Damit arbeitet er nicht nur die Funktion von Archi- zeigen auf, welche Konsequenzen in der Aneignung dies auch nach diese auf die Analyse von Theorieentwürfen vor dem Hintergrund der doch die Bezüge zur Soziologie, deren Forschungsfeld die Kritische tektur heraus, sondern gleichzeitig auch Grenzen und Chancen sich zieht. konkreten politisch-historischen Konstellation ihrer Protagonisten. Theorie seit den 1920er Jahren mitgestaltet hat, eher marginal. dieses Ansatzes. Anschließend untersucht Neuman vier Beispiele. Es ist sowohl ein Verdienst der Publikation von Eran Neuman, Sie ist Intellektuellengeschichte, nicht Ideengeschichte. Nicht allen Dafür konzentriert er sich auf die Architektur, das heißt auf ihre dass er der Annäherung an die vorgestellten Orte einen weiteren Beiträgen des Bandes gelingt dieser Brückenschlag. Das mag daran Monika Boll Baugeschichte, auf Aspekte ihrer Etablierung, auf ihre Materia- Zugang eröffnet, als auch der, dass er eine Forschung, die sich der liegen, dass die AutorInnen, die in der Mehrzahl der Literaturwis- Düsseldorf lität und Form, auf unterschiedliche Entwurfsansätze und eine Bedeutung und Aussage von Architektur im Kontext von Erinnerung senschaft angehören, deren methodisches Ideal Textimmanenz heißt, tatsächliche Umsetzung und Nutzung, auf architekturhistorische und Repräsentation widmet, befördert. schon von Berufs wegen mit der hybriden Methode der Intellectual und -theoretische Bezüge ebenso wie auf biografi sche und auf History fremdeln müssen. Besonders gelungen sind jedoch die Ka- (stadt-)räumliche. Eine Bereicherung für die Forschung ist zudem, Alexandra Klei pitel zu Scholem und Szondi. dass Neuman seine Studie nicht auf die Initiierung der jeweiligen Berlin

78 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 79 Das Braun von Agfacolor zu ihrer Entstehungszeit als unpolitisch wahrgenommenen Filmen Von Kunsthändlern zu Kunsthehlern prominenten Bilder in kalter Gleichgültigkeit. Ihre Direktoren er- verleitet« habe. (S. 29) wiesen sich als verlässliche Erfüllungsgehilfen, die ihre Häuser mit Alt selbst operiert mit einem verharmlosenden Propaganda- der Beute füllten, die waggonweise aus Frankreich, Österreich und

begriff, wenn er, der NS-Terminologie folgend, den Begriff des allen Teilen Deutschlands zusammengerafft worden war. »Zeitgeistes« heranzieht, um schließlich in relativierender Weise Mit Gustav Klimts »Goldener Adele« wird ein Rekorderlös in Dirk Alt den Terminus des »Tendenzfi lms« in Abgrenzung zum »Propagan- Melissa Müller, Monika Tatzkow dreistelliger Millionenhöhe verbunden, mit Ernst Ludwig Kirchners »Der Farbfi lm marschiert!« dafi lm« zu etablieren: »Der Zeitgeist begünstigte den unrefl ektierten Verlorene Bilder, verlorene Leben. »Straßenszene« das um eine Ikone des Expressionismus ärmer ge- Frühe Farbfi lmverfahren und Gebrauch heute verfemter weltanschaulicher Schlagworte wie dem Jüdische Sammler und was aus ihren wordene Land Berlin – wer aber weiß etwas über die rechtmäßigen NS-Propaganda 1933–1945 vom Lebensraum oder dem Kampf ums Dasein, ohne dass diese Kunstwerken wurde Besitzer, die Familien Bloch-Bauer und Hess? Die aktuellen Dis- München: belleville Verlag Michael Farin, zwingend Ausdruck nationalsozialistischer Gesinnung oder ideolo- Unter Mitarbeit von Thomas Blubacher. kussionen um die Nazi-Raubkunst kann nur derjenige einordnen, 2013, 635 S., 106 Abb., € 58,– gischer Indoktrination sein mussten.« (S. 29 f.) Und so kommt auch Mit einem Nachwort von Gunnar der das Schicksal der Sammler und ihrer Bilder kennt. Nur so lässt er zum Ergebnis, dass der Anteil der NS-Propagandafi lme bei den Schnabel. Aktualisierte Neuaufl age sich nachvollziehen, wann und warum Forderungen auf Rückgaben Es war ein Wendepunkt im kollektiven Farbfi lmen »durchgängig äußerst gering war« (S. 412). Außer KOL- München: Elisabeth Sandmann Verlag begründet sind. Die exemplarischen Biografi en stellen Sammler Bildergedächtnis, als 1999 der Spiegel-TV- BERG (1945) handele es sich bei allen anderen »um Ablenkungs- und GmbH, 2014, 272 S., 180 Abb., € 39,95 vor, die sich der Kunst als Förderer, Bewahrer, Wegbereiter oder Journalist Michael Kloft erstmals öffentlichkeitswirksam mit aus der Zerstreuungsfi lme, die im Inland als Bestandteil des kriegswichtigen einfach Liebhaber widmeten. Heute sind die Familien in ihren Hei- NS-Zeit stammendem Amateur-Farbfi lmmaterial »Das Dritte Reich Unterhaltungsangebots eine systemstabilisierende, aber keine pro- Das Naziregime stahl zwischen 1933 und 1945 rund 600.000 Kunst- matstädten ausgelöscht. Sie alle waren Juden oder galten wie Alma in Farbe« präsentierte und so eine ungewohnte emotionale Nähe zur pagandistische Funktion erfüllten«. (ebd.) werke aus jüdischem Besitz. Seit 1945, also fast 70 Jahre lang, Mahler-Werfel und Sophie Lissitzky-Küppers in den Augen der Vergangenheit erzeugte. Parallel dazu beschäftigte sich die Film- Alts Dissertation mit seinen 2.060 Anmerkungen ist so gewisser- bemühen sich Geschädigte und Erben um die Erstattung ihrer »ver- Nationalsozialisten als »jüdisch versippt«. geschichtsschreibung intensiver mit dem von der NS-Propaganda maßen das fi lmwissenschaftliche Pendant zu Koshofers opulentem lorenen« Bilder – meist mit mäßigem Erfolg. Erst der Bilderfund An Traurigkeit kaum zu überbieten ist auch die Skrupellosigkeit, forciert geförderten Farbfi lmverfahren Agfacolor mit Gert Koshofer Coffee table book, ein handbuchartiges Nachschlagewerk mit einer bei Cornelius Gurlitt hat die Debatte um die schleppende, oft ver- mit der sich der Kunsthandel in der jungen Bundesrepublik schwung- als Experten, der im selben Jahr eine Geschichte dieser »technischen 750 Titel umfassenden Filmografi e, das allen Genres des deutschen schleppte Rückgabe der Kunstwerke neu entfacht. haft entwickelte. Müller und Tatzkow haben nach der Aufdeckung Pionierleistung für das Kino« unter dem Titel Die Agfacolor Sto- Farbfi lms ein Buch-Denkmal setzt mit der überraschend soldatischen Den Autorinnen Melissa Müller und Monika Tatzkow geht es in des Gurlitt-Skandals die Neuaufl age um das Kapitel »Von Kunst- ry vorlegte. So rückte auch die Tatsache in den Vordergrund, dass Widmung: »Dem unbekannten Kameramann.« der überarbeiteten Neuaufl age ihres Werks Verlorene Bilder, verlore- händlern zu Kunsthehlern« über den internationalen Kunsthandel seit zwischen 1939 und 1945 13 farbige Spielfi lme entstanden waren Die deutsche Farbfi lmproduktion war von Goebbels als direkte ne Leben um die rechtmäßigen ehemaligen Besitzer der Sammlungen 1933 erweitert. Das zermürbende Ringen um Gerechtigkeit dauert (u. a. DIE GOLDENE STADT, 1942; MÜNCHHAUSEN, 1943; OPFERGANG, Antwort auf amerikanische Großfi lme wie VOM WINDE VERWEHT und um ihren künstlerischen Weitblick. In ausgewählten Biografi en, an: Kulturtempel wie das Madrider Museo Thyssen-Bornemisza 1944), die dem »Dritten Reich« als Schaufenster einer vermeintlich (1939) oder DER DIEB VON BAGDAD (1940) konzipiert: eben als »Ag- so spannend und mitreißend geschrieben, so sorgsam illustriert, ignorieren selbst akribisch belegte Restitutionsansprüche wie den harmlos-eskapistischen Kulturproduktion dienten. facolor Story« gegen die Dominanz von Technicolor. Wie Paul Vi- dass jede für sich Grundlage eines Buches sein könnte, stellen sie von Lilly Cassirers Urenkeln auf Pissarros Meisterwek »Rue de Zehn Jahre später legte Koshofer (mit Friedemann Beyer u. rilio in Krieg und Kino – Logistik der Wahrnehmung (1984/1986) bekannte und vergessene Sammler vor und geben tiefe Einblicke Saint Honoré«. Michael Krüger) eine bilderreiche Dokumentation aller deutschen schreibt, ist es »durchaus kein Zufall, daß der Anstieg der Farbfi lm- in die Problematik der Wiedergutmachung. Sie zeigen auch, wie Eine richtungweisende Dokumentation, gründlichst recherchiert Agfacolor-Spielfi lme vor (UFA in Farbe. Technik, Politik und Star- produktion mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenfällt«. Gehörte Kunsthändler zu Kunsthehlern im Auftrag der Nazis wurden, die und mit Liebe zum Thema geschrieben: Die Autorinnen schaffen kult zwischen 1936 und 1945. München: Collection Rolf Heyne, doch der Film, von dem Moment an, da er in der Lage war, tech- ihren Berufen auch nach Kriegsende ungestört nachgehen konnten. es auch mithilfe vieler privater Fotos, die Schicksale der Sammler 2010), in der aber vor lauter Farb-Faszination der politisch-ästhe- nische und psychologische Überraschungen hervorzurufen, selbst Immer wieder handelten sie mit Bildern ungeklärter Herkunft. und ihrer Bilder dem Vergessen zu entreißen. Kurzweilig, aber nie tische Gehalt der Filme aus dem Blick geriet. Mit Ausnahme des in die Kategorie der Waffen: »Mitten im totalen Krieg versprachen Die aktualisierte Neuausgabe des Standardwerks greift die Ver- oberfl ächlich. Mit einem Wort: gelungen! Kriegs- und Propagandafi lms KOLBERG seien alle Produktionen als sich Goebbels und Hitler selbst eine stimulierende Wirkung da- strickungen des Kunsthandels mit dem NS-Regime auf. Ohne die »unpolitische und fast ideologiefreie Spielfi lme konzipiert« (S. 57), von, vom Schwarzweißfi lm wegzukommen – die deutschen Filme Kollaboration der sachverständigen Kunsthändler im In- und Aus- Manfred Levy womit die Autoren die propagandistische Selbstdarstellung des NS- sollten den Schwung der amerikanischen einholen.« (S. 15) Dies land wäre der größte Kunstraub aller Zeiten nicht möglich gewesen. Pädagogisches Zentrum Frankfurt Regimes einfach nur reproduzierten. gelang mit großem Publikumserfolg vor allem in den besetzten und Am Handel mit Raubkunst ließ sich hervorragend verdienen – ohne Exakt diese unkritische, apologetische Grundhaltung über- mit Deutschland verbündeten Ländern, allerdings nicht im aggres- Investition, Risiko oder eigenen Einsatz. nimmt nun auch die ansonsten in vieler Hinsicht sachliche und siven Tonfall eines Eroberers, sondern passend zur pastellartigen Wie eng dieser Raub mit dem Holocaust verknüpft war, kann quellenfundierte Studie von Dirk Alt. Er zeichnet die personen-, Farbästhetik von Agfacolor ideologisch-subtil. Etwa so wie einer den skrupellosen Goldgräbern der Kunstwelt nicht entgangen sein – technik- und fi rmengeschichtliche Entwicklung der verschiedenen Sonderausgabe der Illustrirten Zeitung Leipzig von Ende 1944 mit weder während des »Dritten Reichs« noch danach. Die Journalistin Farbfi lmverfahren und ihre Politisierung minutiös nach, mit den dem Titel »Der europäische Mensch« zu entnehmen ist, wo es in Müller und die Provenienzforscherin Tatzkow haben 15 Schicksale Phasen einer experimentellen Entwicklung von 1933 bis 1940 und einer Reklame heißt: »Deutsche Farbfi lme schenken den Völkern jüdischer Kunstsammler sorgfältig recherchiert. Sie verhelfen dem einer industriellen Anwendung von 1941 bis 1945. Zwar sieht Alt Europas Freude und Entspannung und damit neue seelische Kräfte Leser zu einer wichtigen Perspektive auf den Fall Gurlitt. Indem sie grundsätzlich die propagandistische Vereinnahmung durch den NS- im Ringen um die Neugestaltung und Zukunft unseres Kontinents.« Sensationslust und voreilige Schlüsse vermeiden, gelingt ihnen ein Staat, doch wendet er sich gegen die »Vorstellung von der codierten Paradigmenwechsel. Die ganze Grausamkeit der sogenannten »Ju- Propaganda mit der sämtliche zwischen 1933 und 1945 hergestell- Alfons Maria Arns denauktionen« kristallisiert sich heraus, und Sammler wie Gurlitt zei- ten Filme kontaminiert seien«, die »die kritischen Betrachter von Frankfurt am Main gen sich in all ihrer Dreistigkeit. Nicht nur die Händler des Unrechts, NS-Filmen immer wieder zur Enthüllung ideologischer Subtexte in auch Museen und Galerien ignorierten die Herkunftsgeschichte ihrer

80 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 81 Der Stachel Reich kommunistischen Dissidenten schon früh kritisiert und inzwischen Deutsches und arabisches Erwachen den eigenen Reihen nutzte, als Vorreiter einer panarabischen und auch wissenschaftlich erhellt. Dieser Forschung bietet Peglau mit panislamischen Anlehnung an das »Dritte Reich«, als Mitinitiator der Untersuchung des besonderen Falls Reich weiteres aussage- des prodeutschen Putsches in Bagdad 1941, als Ehrengast Hitlers

kräftiges Material. Noch ertragreicher ist Peglaus Untersuchung der und der SS in Berlin, als Mitwisser und Mitverantwortlicher der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung: Hier bringt er, getreu Vernichtung der europäischen Juden steht al-Husseini zu Recht im Andreas Peglau seinem Anspruch, nicht nur Vergessenes, sondern auch Verdrängtes Barry Rubin, Wolfgang G. Schwanitz Zentrum der Untersuchung. Etwas weniger »Muftismus« sowie eine Unpolitische Wissenschaft? ans Licht, das sich mit der immer noch verbreiteten Auffassung, Nazis, Islamists, and the Making of the nähere Darlegung der nur oberfl ächlich behandelten historischen Wilhelm Reich und die Psychoanalyse die Psychoanalyse sei im Nationalsozialismus verfolgt worden, Modern Middle East Kontinuitätslinien hätten der Studie hingegen mehr analytische und im Nationalsozialismus nicht verträgt. Dies ist Peglau nur möglich, weil er einen Wesens- New Haven & London: Yale University argumentative Schärfe verliehen und möglicherweise den Fehler Gießen: Psychosozial-Verlag, 2013, zug der nationalsozialistischen Herrschaft erkannt hat, nämlich den Press, 2014, 340 S., € 25,95 verhindert, dem Gegenstand eine Bedeutung zuzuschreiben, die er 635 S., € 44,90 polykratischen einer Bande, deren Mitglieder beständig um Macht ideologisch und planerisch unwidersprochen hatte, realhistorisch konkurrierten. Dieser anarchische Bandenkampf brachte systema- jedoch keineswegs. tisch Widersprüche zwischen öffentlichen Inszenierungen und der In den vergangenen zehn Jahren sind zahl- Denn die Herausstellung von Übereinstimmungen und Kontinui- Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich tatsächlichen Politik hervor. reiche Forschungsarbeiten erschienen, die täten führt letztlich zu einer Überschätzung der Wirkungsmacht des war lange Zeit durch Ressentiments auf der So entdeckt Peglau im Schatten der spektakulären Bücherver- sich mit dem Verhältnis zwischen arabisch-islamischen Bewegun- deutsch-arabischen Bündnisses, die, wie Rubin und Schwanitz selbst Seite seiner Gegner und ergebener Bewunderung auf der Seite seiner brennung, deren vierter Feuerspruch ursprünglich nicht nur Sig- gen und dem Nationalsozialismus auseinandersetzen.1 Nicht zu- schreiben, dieses Verhältnis seit jeher geprägt hatte. Gerade weil die Verehrer bestimmt. Der Psychoanalytiker Andreas Peglau möchte mund Freud, sondern dessen ganzer Schule gelten sollte, eine vom letzt durch eingehende Untersuchungen einzelner arabischer Länder Autoren die wahnwitzigen Pläne einer »Befreiung« der arabisch- mit der vorliegenden Dissertation sowohl den Verzerrungen wie Nationalsozialismus geduldete, angepasste Psychoanalyse, die sich wurde versucht, einen differenzierten Blick auf dieses Verhältnis islamischen Länder und einer Ausweitung des Holocaust auf diese den Verklärungen entgegenwirken und einen Beitrag zur sachlichen ohne Nachteil auch auf Freud und dessen Begriffe beziehen konnte. zu werfen, mit teilweise leider apologetischen Zügen. Die beiden Gebiete detailliert herausarbeiten, gerade weil sie das weitgespannte Diskussion des Reich’schen Werkes, besonders dessen antifaschis- Dies ist das Ergebnis einer von Peglau durchgeführten quantitativen Nahostwissenschaftler Barry Rubin und Wolfgang Schwanitz haben Netzwerk des Mufti in der arabischen wie in der Nazi-Elite offenle- tischen Engagements, leisten. und qualitativen Inhaltsanalyse psychologischer Zeitschriften, da- nun die umfassendste Studie zu diesem Thema vorgelegt, die den gen, gerade weil sie aufzeigen können, wie die Bewunderung von und Dies gelingt Peglau gerade deshalb, weil er nicht versucht, Un- runter das Zentralblatt für Psychotherapie, und seiner Analyse der Untersuchungszeitraum vom wilhelminischen Deutschland bis in Kollaboration mit Faschismus und Nationalsozialismus nach 1945 voreingenommenheit vorzutäuschen. Er benennt, was er an Reich Richtlinien und Praxis der nationalsozialistischen Zensur. Peglaus die Gegenwart spannt. die Entwicklung in Ländern wie Ägypten, Syrien, dem Irak und nicht schätzt und kritisiert, und legt sein Forschungsinteresse offen, Forderung der gründlichen und differenzierten Untersuchung der Rubin und Schwanitz eröffnen dem Leser einen erschreckenden zuletzt in der palästinensischen Nationalbewegung prägten – gerade wodurch seine Urteile nachvollziehbar werden. Peglaus Interesse psychoanalytischen Schriften, die im Nationalsozialismus veröffent- Einblick in die projektive Faszination, die deutsche Großmachtpoli- deswegen verlieren sie den Blick für die Gesamtentwicklung des besteht insbesondere in der Würdigung Reichs als einzigen Psycho- licht worden sind, verdient Unterstützung. In seinen Porträts einiger tik und »arabisches Erwachen« (George Antonius) seit dem späten Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Für diese blieb das beschrie- analytiker, der öffentlich gegen den Nationalsozialismus auftrat und Autoren werden die Konturen der Indienstnahme der aufklärerischen 19. Jahrhundert aufeinander ausübten. Wilhelm II. sah im »furor bene Verhältnis, dank Stalingrad und el-Alamein, letztlich marginal. der als Mitglied der KPD 1933 mit seiner Massenpsychologie des Lehre Freuds für die Gegenaufklärung und den Irrationalismus sicht- islamiticus« ein geeignetes Mittel zur Destabilisierung der britischen, Nur so wird begreifl ich, dass das Buch mit einem regelrechten Faschismus den Versuch unternahm, den massenhaften Erfolg der bar. Zu kritisieren ist hier allerdings Peglaus Würdigung der Abwei- französischen und russischen imperialen Peripherie, und an dieser Paukenschlag auf den ersten zehn Seiten eingeleitet und dieser im faschistischen Bewegungen sozialpsychologisch zu erklären. Reichs chung einiger der von ihm untersuchten geduldeten psychoanalyti- grundlegenden Perzeption sollte sich bis 1945 nichts ändern. Für achten Kapitel wiederholt wird. Rubin und Schwanitz behaupten, Hoffnung, mit diesem Werk die antifaschistische Theoriebildung und schen Autoren vom »im Psychoanalysehauptstrom vorherrschenden die Nationalsozialisten waren jedoch ideologische Übereinstimmun- das Treffen zwischen Hitler und Amin al-Husseini am 28. Novem- Politik insbesondere der kommunistischen Arbeiterbewegung zu be- pessimistischen Menschenbild« (S. 360). Eine Würdigung, die wohl gen entscheidend. Als Alfred Rosenberg über die »heftige geistige ber 1941 habe den Ausschlag gegeben für die auf der Wannsee- einfl ussen, wurde enttäuscht: Die KPD schloss ihn 1933 als Dissiden- in Peglaus Adaption des Reich’schen positiven Menschenbilds, samt Angriffsstimmung in den islamischen Zentren […], geführt vom Konferenz beschlossene »Endlösung der Judenfrage«. Nonchalant ten aus, kurz nachdem er wegen seiner sozialistischen Parteiarbeit der problematischen Vorstellung eines »guten Kerns«(S. 475), grün- fanatischen Geiste Mohammeds«2 schrieb, basierte seine Anerken- gehen sie über sämtliche Debatten hinweg, die über die Entschei- und seiner Kritik an der Lehre Sigmund Freuds die Mitgliedschaft in det. Anstatt die Abweichung der geduldeten Analytiker zum Anlass nung auf einer gemeinsamen Feindbestimmung: Juden und Briten. dungsprozesse geführt wurden und werden, welche den Weg nach allen psychoanalytischen Organisationen eingebüßt hatte. Es handelt zu nehmen, den guten Kern Reichs zu hinterfragen, bleibt dieser Die Autoren zeigen vor allem am Beispiel des Großmufti von Auschwitz (und nicht in die schon längst in Gang gesetzte Juden- sich bei Peglaus Studie um wesentlich mehr als eine weitere politi- unhinterfragt Maßstab des Urteils. Die Abweichung vom Psycho- Jerusalem, Amin al-Husseini, die Folgerichtigkeit der nazistischen vernichtung!) markierten. Nun muss man selbstverständlich nicht sche Biografi e Wilhelm Reichs, auch wenn sie die Struktur einer sol- analysehauptstrom wird als »wissenschaftlich produktiv« (ebd.) Wahrnehmung auf: Als Führer der von ihm selbst ins Leben geru- refl exhaft Forschungsstände paraphrasieren, wo dies nichts zur Sache chen aufweist. Durch das Prisma Reich erhellt Peglau die Geschichte gewürdigt, ohne in Erwägung zu ziehen, dass sie wohl zum nati- fenen und islamistisch vorgeprägten palästinensischen National- tut; in diesem Fall hinterlässt solch eine argumentative Leerstelle der psychoanalytischen und der sozialistischen Bewegung, indem er onalsozialistischen Hauptstrom drängte, der darauf hintrieb, den bewegung, die den Kampf gegen die britische Mandatsmacht und jedoch den Eindruck, dass die Autoren selbst nicht so recht glauben, deren Auseinandersetzung mit und über Reich rekonstruiert. Dafür eigentlichen, »arischen« Menschen von allem Uneigentlichen, Jü- die zionistische Besiedlung zu einem Krieg gegen Abweichler in was sie schreiben. Auch wenn das Buch daher mitunter kritisch greift der Autor auf umfangreiches Quellenmaterial zurück, worin dischen zu befreien. In jedem positiven Menschenbild verbirgt sich gelesen werden muss: Es stellt den bisher wichtigsten Beitrag zum der seit 2007 zugängliche und bisher wenig erforschte Nachlass das Schreckbild der Verfolgung dessen, was von jenem abweicht. Kollaborationsverhältnis zwischen arabisch-islamischer Politik und Reichs eine besondere Stellung einnimmt. Im Anhang des Buches Nationalsozialismus dar. Barry Rubin, der im Februar dieses Jahres sind einige anschauliche Dokumente zusammengestellt. Jérôme Seeburger 1 Verwiesen sei hier lediglich auf die Schwerpunktausgaben der Zeitschriften Ge- verstarb, hat seiner Erforschung der autoritären Verhältnisse in der So streitbar Reich auch ist, so fällt durch das Prisma auf beide Leipzig schichte und Gesellschaft 37 (2011), H. 3 sowie Die Welt des Islams 52 (2012), arabischen Welt einen würdigen Schlusspunkt gesetzt. Bewegungen, deren Theorien er zu amalgamieren suchte, kein gutes H. 3–4, in denen einige der Ergebnisse zusammengetragen wurden. 2 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch- Licht. Der Konservativismus, der Autoritarismus und das Unver- geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit [1930], 125.–128. Aufl age, München Mathias Schütz ständnis des Nationalsozialismus aufseiten der KPD wurden von 1938, S. 664 f. München

82 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 83 »Ich muss es einfach nur überleben« Ab 1943 führt Marie Jalowicz ein »beinahe normales Leben« Den Raum der Erinnerung füllen (S. 259 ff.) mit dem niederländischen Zwangsarbeiter Gerrit Burgers, Exilforschung in der edition text + kritik mit dem sie zusammen wohnt und der allmählich zu einem Ver-

trauten wird: »Wenn er nicht gerade seine Tobsuchtsanfälle bekam, konnte er sehr nett, aufmerksam und rücksichtsvoll sein.« (S. 308) Marie Jalowicz Simon Bei diesen Streitereien wird sie wiederholt verprügelt: »Ich hatte Marcel Cohen Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt danach längere Zeit ein sogenanntes Veilchen, ein tief dunkelblau- Raum der Erinnerung. Frauen und Exil Irene Below Irene Inge Hansen-Schaberg (Hg.) Maria Kublitz-Kramer in Berlin 1940–1945 es Auge. Anfangs war mir das sehr peinlich. Dann aber bemerkte Tatsachen Band 7 Mit einem Nachwort von Hermann Simon ich, dass ich erst jetzt genau in das Milieu hineinpasste, in das ich Berlin: Edition Tiamat, Verlag Klaus Irene Below / Inge Hansen-Schaberg / Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, geraten war: Mein blaues Auge fi el nicht auf, sondern machte mich Bittermann, 2014, 160 S., € 16,– n e Das Ende des Exils? Maria Kublitz-Kramer (Hg.) u Briefe von Frauen nach 1945 2014, 416 S., € 22,99 unauffällig. Es gehörte sozusagen dazu.« (S. 272) Mit solchen und DAS ENDE DES EXILS? ähnlichen Beschreibungen kann nachvollzogen werden, wo und mit Briefe von Frauen nach 1945 wem sie lebt – und schließlich überlebt. etwa 200 Seiten, zahlreiche Marie Jalowicz Simon überlebt die Haupt- An Absurditäten hat es in dem Leben im Untergrund nicht ge- s/w-Abbildungen stadt des »Dritten Reiches« als untergetauch- mangelt: »Ich war bei einer nazistischen Erpresserin untergetaucht Tomi Reichental ca. € 24,– te Jüdin. Erst ein halbes Jahrhundert später hat sie ihrem Sohn Her- und bekam von ihr Konsumgüter, an die selbst Privilegierte kaum I was a Boy in Belsen ISBN 978-3-86916-373-4 mann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum noch herankamen.« (S. 298) Sie hat viel Glück, ohne das sie nicht Dublin: O’Brien Press, 2011, 283 S., In den Beiträgen des Sammelbandes geht es um Briefe von Judaicum, von ihren Erlebnissen zwischen 1940 und 1945 berichtet. hätte überleben können. Da sich einige der Helferinnen und Helfer € 17,43 Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Lage, politi- Die von ihr besprochenen 77 Tonbänder hat er mit Irene Stratenwerth untereinander kannten, blieben Schwätzereien nicht aus: »Es war scher Überzeugung und beruflicher Ausbildung und Perspek- bearbeitet. Die Protagonistin ist 1922 als einziges Kind von Hermann also mal wieder eifrig über mich getratscht worden«, bemerkt Ja- tive: Sie schreiben über traumatische Erfahrungen, über die und Betti Jalowicz auf die Welt gekommen. Nach dem Tod der Mutter lowicz Simon und kommentiert, es sei »wirklich erstaunlich«, dass NS-Verbrechen, die Entfremdung und auch über ihre Akkultu- ration im Exilland, über ihre Pläne und die Vorbereitung einer 1938 und des Vaters 1941 ist sie 19 Jahre alt und ganz allein. sie »nie denunziert wurde« (S. 313). Die Kinder der Holocaust-Opfer sind mitt- möglichen Rückkehr sowie über ihre Hoffnungen und Enttäu- Als die Deportationen in die Konzentrationslager drohen, be- Als der Krieg zu Ende ist, heißt es lapidar: »Aus. Die Russen lerweile alt geworden. Viele von ihnen ha- schungen nach der Remigration. schließt sie: »Ich muss es einfach nur überleben.« (S. 9) Am 23. Juni sind da.« (S. 356) Wie viele andere Frauen ist sie von einem Soldaten ben ihr Leben lang über ihre Verluste, ihre 1942 klingelt es früh um sechs Uhr bei ihr, und ein Mann in Zi- vergewaltigt worden: »Es machte mir nicht viel aus.« (S. 358) Als sie Trauer oder gar ihre Kindheitserfahrungen vilkleidung will sie zum Deportationssammelpunkt bringen. Auf ihre alte Wohnung in Pankow wieder erreicht hat, legte sie sich auf nicht gesprochen. Marcel Cohen aus Paris und Tomi Reichental aus abenteuerliche Weise gelingt ihr die Flucht. Sie übernachtet erst ein den Fußboden »und fi el sofort in einen sehr tiefen Schlaf« (S. 388). Dublin haben ihr Schweigen spät gebrochen und ihre Erinnerungen paar Tage bei einer Bekannten, später auch bei Verwandten, einige Nachdem Marie Jalowicz Simon eingangs auf ihre Kindheit und in sehr lesenswerten Büchern festgehalten. n e Wochen oder Monate bei einer Frau oder einem Mann, bei normalen Jugend in Berlin eingegangen ist, beschreibt sie in ihrem schonungs- Marcel Cohen kam 1937 in Frankreich zur Welt. Er ist der einzi- u Helferinnen und manchmal etwas seltsamen Helfern. Von einem wird losen Bericht mit großer Offenheit die Zwangsarbeit bei Siemens, ihr ge Überlebende seiner engeren Familie, die 1943 in Paris vor seinen Exilforschung sie schwanger und muss abtreiben: »Moralische Bedenken hatte ich Untertauchen, die Verfolger, Helferinnen und Helfer sowie Verräter. Augen von französischen Polizisten verhaftet und in den Tod depor- Ein internationales Jahrbuch 32 nicht. Ich wollte leben, und das ging nun mal nicht anders. Aber Sie schildert diese Menschen mit ihren Widersprüchen, Ambivalen- tiert wurde. Der damals Fünfjährige hatte Glück, denn er war gerade Band 32 Sprache(n) im Exil traurig war ich schon.« (S. 123) Als sie eine Chance sieht, mit ihrem zen und teilweise sehr bizarren Verhaltensweisen. Ihre Erzählung mit seinem Kindermädchen unterwegs, das ihn auch danach noch Doerte Bischoff / damaligen bulgarischen Freund nach Sofi a zu entkommen, besorgt über die Abgründe des Alltags als untergetauchte Jüdin ist nüchtern beschützte, so dass er überlebte. Seiner Mama Marie konnte er noch Christoph Gabriel / sie sich Papiere und eine Fahrkarte. Aber als dauerhaft erweist sich und frei von Tabus, mal ist sie sarkastisch und mal humorvoll. ein paar Mal von der Straße aus zum Krankenhausfenster zuwinken. Esther Kilchmann (Hg.) dieser Weg nicht, und so kehrt sie nach sieben Wochen nach Berlin Im Nachwort informiert Hermann Simon, wie es ihm gelungen Sie war kurzzeitig ins Hôpital Rothschild geschafft worden, weil SPRACHE(N) IM EXIL etwa 300 Seiten, ca. € 30,– zurück. Sie fi ndet weitere Mittel und Wege des Überlebens. Manch- ist, seine Mutter ihre »dramatische Überlebensgeschichte« (S. 389) ihre Tochter Monique als Säugling noch zu winzig war, um ins KZ ISBN 978-3-86916-374-1 mal bekommt sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie jemandem etwas erzählen zu lassen: »Weil es mir nicht in den Kopf wollte, dass ich deportiert zu werden. Marie, so weiß Cohen, gingen vor Kummer Traditionelle Vorstellungen von sprachlicher Verwurzelung und wegnimmt. Dagegen entwirft sie eine »Reichsmundraubordnung für es als Historiker nicht schaffte, meine eigene Mutter zum Sprechen dort die Haare aus. Vier Monate später wurde sie mit ihrer Tochter einer zwingenden Verbindung von Sprache und Nation werden untergetaucht lebende Personen« (S. 180) und verschafft sich durch zu bringen, stellte ich am 26. Dezember 1997 ohne jede Ankündi- nach Auschwitz abgeholt. Dem Sohn blieben nichts als Maries trä- im Exil infrage gestellt. Die Beiträge dieses Bandes erkunden, diese – natürlich nicht schriftlich niedergelegte – Verspottung der gung ein Aufnahmegerät auf den Tisch der elterlichen Wohnung nenverschmierter Abschiedsbrief und Moniques Armkettchen – einer auf welche Weise das Exil »in fremden Sprachen« Einstellungen Behörden »etwas Erleichterung« (S. 180). und sagte: ›Du wolltest doch immer deine Geschichte erzählen.‹« der wenigen Hinweise, dass seine Schwester überhaupt existiert hat. gegenüber einzelnen Sprachen, aber auch gegenüber Fragen Eine ihrer Helferinnen ist Gertrud Neuke – natürlich Trude (S. 391) Herausgekommen ist dieser – mit einem Personenregister Der Pariser Schriftsteller, ausgezeichnet mit dem renommier- von Ein- und Mehrsprachigkeit auf spezifische Weise prägt und genannt –, die ihr verspricht: »Ab sofort bis zum Sieg der Roten versehene – interessante und lesenswerte Erinnerungsband. ten Prix Wepler und dem Prix Jean Arp de littératur francophone, verändert. Armee übernehme ich die Verantwortung für dein Leben und für wechselt immer wieder zwischen der Perspektive des Kindes von deine Rettung vor unseren gemeinsamen Feinden.« (S. 208) Trude Kurt Schilde damals und dem Erwachsenen von heute. »Es gibt zur Vergangenheit Neuke gehört einer kommunistischen Widerstandsgruppe an, die ihr Berlin/Potsdam nicht die Grenzen, die Sie sich ausmalen« (S. 53), schreibt er an den Levelingstraße 6 a [email protected] allerdings verübelt, dass sie sich um das Überleben einer unterge- Leser gewandt. Umso unwirklicher erscheint ihm eine Gedenkfeier 81673 München www.etk-muenchen.de tauchten Jüdin bemüht. in dem Krankenhaus, in dem seine Mutter vor der Deportation so

84 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 85 gelitten hatte: »Die Reden entbehrten nicht des Sinns. Sie waren die Gaskammern in Auschwitz bereits zerstört hatten. »Wir hatten Im Übergang. Publikationen zum Diese auf den Fotos erkennbaren, zumeist freundlichen, oft sogar zutreffend. Nur – die allgemeine Betrachtung zur Geschichte, Glück, ein Wort das allerdings nicht wirklich passt« (S. 81, Übers. Thema Zeitzeugen – gedruckt und online auch freundschaftlichen, manchmal auch verschlossenen Begeg- zur Menschheit, zum Verbrechen, sie waren so feierlich schwer, A.S.), so Reichental. Fünfunddreißig seiner Verwandten wurden nungen spiegeln sich nicht in allen Texten. Vielmehr werden in den dass niemand an die Einsamkeit einer stillenden jungen Mutter ge- ermordet, einigen von ihnen widmet der Autor ein eigenes Kapitel. gedruckten kurzen Abschnitten oft eine Vorsicht und eine Ehrfurcht dacht hätte […]. Der Redner vor dem Mikrofon sprach also in der Rosalia, seine Großmutter, starb kurz vor der Befreiung an Hunger erkennbar, die einen so offenen und gelegentlich vertrauten Um- Vergangenheit, jedoch so, als wäre die Vergangenheit nie an die und Schwäche: »Der Karren bog sich bereits unter dem Gewicht gang miteinander nicht erklärt. Erst recht sind die ausgewählten Gegenwart gekoppelt.« (S. 54) Ritualisiertes Gedenken, so wird an der anderen toten Insassen, meine Großmutter wurde einfach auf »Jugend für Dora« e.V. (Hrsg.) Aussagen der Überlebenden, die im Zentrum der Broschüre auf dieser Szene abermals deutlich, geht meist an der Realität und der sie hinauf geschmissen. Es ist ein Bild, das ich nie vergessen werde gemeinsam – together – ensemble – einer Doppelseite versammelt sind, eher die bekannten Aufträge wahren Erinnerung an die Geschehnisse von damals vorbei. […] [ihr] Ruheplatz war in einem Stapel – sie war nicht in Erde, wspólnie – вместе: 11.4. der Überlebenden an die Nachgeborenen, Verantwortung für eine Cohen stellt acht Mitglieder seiner Familie vor: Er komponiert sondern unter den Körpern anderer Häftlinge begraben. Es war bar- Nordhausen: Selbstverlag, 2014 menschliche Zukunft zu übernehmen, das Unrecht der Vergangenheit ein Bild aus Fragmenten – Fotos, Briefe, die Geige seines Vaters oder barisch.« (S. 165) zu beziehen über: »Jugend für Dora« e.V., nicht zu vergessen. das mit Rosshaar gefüllte Stoffhündchen, das dieser ihm gebastelt Reichental beschreibt die Misshandlungen durch die SS-Frauen c/o KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, So richtig und ehrenwert diese Statements sind, so wenig er- hatte. Es sind gerade die scheinbar trivialen Gegenstände, die im ebenso wie die sich immer weiter verschlechternden Lebensumstän- Kohnsteinweg 20, 99734 Nordhausen, fassen sie das Geschehen der Begegnungen, das sich immer wieder Zusammenhang mit den Toten stehen, die als Tatsachen den »Raum de im Lager – Hunger, Typhus, Latrinendreck und der unsägliche Tel.: 03631.495817, [email protected] ereignet, wenn Überlebende mit Menschen zusammentreffen, die der Erinnerung« füllen. Cohen begibt sich zudem auf »olfaktori- Gestank der sich immer höher türmenden Berge von Toten. »Merk- sich ehrlich und unverstellt für ihr Schicksal interessieren, die ihnen sche Entdeckungen« (S. 135) und beschreibt Düfte als Träger der würdig: Die Apathie und überall vorhandene physische Schwäche Daniel Baranowski (Hrsg.) zuhören und nachfragen. Die Begeisterung für diese Erfahrung ist Erinnerung. Das Parfum seiner Mutter sei in ihm so fest verankert, schufen eine friedliche und tadellose Atmosphäre. Wir lebten von Sprechen trotz allem. in der Kombination aus Bild und Text in dieser Publikation unge- dass er es seit seiner Kindheit bei jeder Frau wiedererkenne: »Daher einer Minute zur nächsten. […] Wir hatten keine Sorgen mehr« Das Videoarchiv der Stiftung Denkmal wöhnlich direkt aufbewahrt. will ich mir nicht vorstellen, was dieses Parfum ohne mein Wissen (S. 157), sagt der 79-Jährige. Die Ignoranz der Kindheit habe ihn für die ermordeten Juden Europas alles entschieden hat – an erster Stelle in meinen Beziehungen mit damals in gewisser Weise vor dem Grauen geschützt, vor allem aber Berlin: Stiftung Denkmal für die Das Interviewprojekt der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Frauen.« (S. 23) hätte seine Mutter Judith niemals Schwäche gezeigt und ihre Angst ermordeten Juden Europas, Europas ist in seiner Sorgfalt der Aufzeichnungen und der Gründlich- Seine klaren, ruhigen Sätze wecken beim Leser Assoziationen, vor den Kindern so gut wie möglich verborgen. Ihre Liebe und Kraft 2014, 188 S., € 15,– keit der Dokumentation der Interviews im Internet außerordentlich. es entsteht hier ein Duft, dort ein Klang, dann wieder ein Bild. In waren rettende Faktoren. Cohens Sprache liegt die Trauer über der »ohrenbetäubenden Stille«, Reichental berichtet in seinem Buch, das in diesem Juli bereits Nicolas Apostopoulos, die der Holocaust hinterlassen hat. »Wir müssen nicht sprechen, um in der vierten Aufl age erschienen ist, über die Nachkriegszeit hinaus. Cord Pagenstecher (Hrsg.) uns zu verstehen«, sagte die Frau seines ermordeten Onkels stets zu »Wir sprachen kein einziges Mal mehr über unsere Kriegserlebnis- Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen- ihm, »und in der Tat habe ich mich außerhalb der Familie immer für se.« (S. 200) Der gelernte Ingenieur und Werkzeugmacher gründete Interviews in der digitalen Welt Christlich-jüdischer Dialog Medien - Materialien - Informationen die Ignoranz derer geschämt, die ihr Fragen stellten.« (S. 146) Der mit seinem Bruder in Israel eine bis heute erfolgreiche Fabrik. 1959 Berlin: Metropol Verlag, 2013, 296 S., Autor weist darauf hin, dass sich die unmittelbare Erfahrung dessen, wanderte er nach Irland aus, wo er mit Unterbrechungen seither € 22,– ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch was damals an Verbrechen passiert ist, nur begrenzt vermitteln lässt zu Hause ist. Seine Frau und drei Söhne erfuhren von ihm nicht in Hessen und Nassau www.ImDialog.org – die Leerstellen, die das Todeserleben hinterlassen hat, sind durch mehr, als dass er ein Überlebender des Holocaust ist. Erst vor zehn Die Publikation gemeinsam – together – ensemble – wspólnie – Sprache nicht zu füllen. Der taz sagte Cohen (5.7.2014), sein Buch Jahren begann Reichental mit seiner persönlichen Aufarbeitung, вместе: 11.4. ist eher eine Broschüre, kein Buch. Es ist ein kleiner Predigthilfen • Gottesdienstideen • sei – ein Grab. »Meine Eltern haben keine andere Gedenkstätte. Ich sein »Coming-out« war ein schmerzhafter Prozess. Seit 2007 hat er Bildband, kein privates Fotoalbum. Leicht hätte daraus eine An- Materialien für Schule und Gemeinde habe ihnen gegenüber damit eine Pfl icht erfüllt.« mittlerweile über 60.000 irischen Schülern von seinen Erfahrungen sammlung von Eindrücken und Erinnerungsfotos werden können. berichtet. Auch die Slowaken erinnert er immer wieder an ihre Mit- Denn es geht um das Festhalten von Erlebtem. Die Mitglieder des zum Download für 3 bis 9 € Dieser innerlichen Pfl icht ist auch Tomi Reichental nachgekommen. schuld am Judenmord: »Die Slowakei war das einzige europäische Vereins »Jugend für Dora« betreuen seit fast 20 Jahren die Überle- in unserem Online-Shop Seine Erinnerungen haben den Charakter von »Oral History«, sind Land, das die Deutschen dafür bezahlt hat, die Juden abzuholen.« benden des KZ Mittelbau-Dora, die zu den jährlichen Gedenkfeiern www.imdialog-shop.org aber historisch fundiert und bestechen durch die präzisen Details (S. 48) Im Jahr 2008 erschien der erste Dokumentarfi lm, TILL THE im April anreisen. Sie bleiben aber nicht bei der emotionalen, tätigen seiner dichten, lebhaften Erzählung. 1935 in der Slowakei geboren, TENTH GENERATION, über den außergewöhnlichen Tomi Reichental, Hinwendung stehen. Sie refl ektieren diese Aufgabe und legen in Ausstellungen zum Ausleihen: ist Reichental als Neunjähriger im Herbst 1944 mit seiner Mutter am 1. September 2014 war die Premiere von CLOSE TO EVIL (Regis- dieser Broschüre Zeugnis ab von ihrer Auseinandersetzung mit der Judith, seinem Bruder Miki, seiner Großmutter Rosalia und seiner seur Gerry Gregg, RTE 1) über seine bemerkenswerten Bemühungen eigenen Rolle im Prozess der Tradierung der Erzählungen aus dem • Luthers Sündenfall gegenüber den Juden Tante Margo in Bratislava verhaftet und nach Bergen-Belsen depor- um einen Dialog mit der Täterseite. Die BRD hat ihn 2013 mit dem Konzentrationslager. • Die Bibel. Buch der Juden, Buch der Christen tiert worden. Sein Vater Arnold war im Dorf Merašice geblieben, Bundesverdienstkreuz geehrt. Dieses Zeugnis wird auf der Ebene der Fotografi en und auf der • Stationen des Antijudaismus um seinen landwirtschaftlichen Betrieb aufrechtzuerhalten, wurde Reichental und Cohen haben wichtige Beiträge zur Dokumen- Ebene kurzer Texte festgehalten. So lesen wir, welche Erinnerungen an • Jüdische Feste und Riten jedoch von der slowakischen Hlinka-Garde aufgegriffen. Er konnte tation der Judenvernichtung geliefert und den Toten ihre Namen und die Begegnung mit den alten Männern oder auch welche Refl exionen • Stationen des Holocaust sich aus dem Deportationszug retten und schloss sich bis Kriegsende ihre Würde zurückgegeben. den jüngeren Deutschen wichtig waren – und sehen zugleich, wie sie den Partisanen an. in dem Umfeld der Gedenkfeierlichkeiten agieren. Vor allem sehen wir Tomi und seine nächste Familie überlebten, weil die Nazis Alexandra Senfft als Betrachter die emotionale Qualität der Beziehungen zwischen den www.ausstellungen.imdialog.org zum Zeitpunkt ihrer Deportation angesichts der nahenden Russen Hagenheim/Hofstetten Alten und den Jungen, den Überlebenden und den Nachgeborenen.

86 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 87 Wie sehr dies in der freundschaftlichen Beziehung zwischen den nun sachgerecht archiviert, digital erfasst und erschlossen. Dieser Ein zentraler Gesichtspunkt bleibt kontrovers, innerhalb des brachte, ein irrationaler Grundzug manifestiert. Die Überlebenden Interviewten und den Interviewern begründet ist, zeigen die ein- hochkomplexe interdisziplinäre Arbeitsprozess wird in der Publi- Bandes und erst recht in der pädagogischen Praxis. Authentifi ziert der Shoah und der Zwangsarbeit sterben. Wir Nachgeborenen müssen drucksvollen Fotografi en in der Publikation Sprechen trotz allem. kation aus den Perspektiven der beteiligten Fachleute beleuchtet. das Video die erzählte Geschichte? Barricelli/Lücke beenden ihren Abschied nehmen. Die Rede von einer virtuellen Begegnung sollten Das Videoarchiv der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Das beginnt mit einem Aufsatz von Constantin Goschler über Beitrag mit den emphatischen Worten, »etwas in digitalen Zeiten wir der Fantasie überlassen. Heutige Jugendliche in eine erfundene Europas. Es geht um einen aufmerksamen, konzertierten Dialog, so den Zusammenhang von Entschädigungsdebatte und Medialisierung so Kostbares wie – über die Zeitgrenzen hinweg aufrecht erhaltene affektive Nähe zu den Menschen der Vergangenheit zu bringen ist kein scheint es. Aber die Interviews sind selbstverständlich gleichzeitig von Zeitzeugen und der Auffächerung grundsätzlicher Fragen zum und damit eben verbindlich gemachte – soziale Wirklichkeit kann Projekt, das der Entwicklung historischer Kompetenz dient. Zeugnis – also Totenklage – und Quelle. So funktioniert denn auch Umgang mit videographierten Interviews aus der Sicht der Projekt- durch dieses Medium betrachtet werden« (S. 58) Das Vergangene Diese Figur des Annäherns an das Vergangene steht einem ko- die Website funktional als Portal zu den Quellen: Sie ist klar struk- leitung, der digital History, der Didaktik und der Museographie. Das soll nicht Gegenstand refl ektierender Aneignung werden, es soll gnitiven historischen Zugang zur Geschichte des Holocaust häufi g turiert und bietet Hintergrundinformationen. Diese Haltung, um Projekt »Zwangsarbeit 1933–1945« wird sodann im Detail entfaltet, bleiben wie es war – ein alter positivistischer Traum. im Weg. Auch wenn sie mit Bezug auf psychoanalytische Literatur, all die Ebenen und Untiefen der Erzählung wissend und trotzdem wobei sich die spezifi schen Perspektiven der Übersetzung, des Lek- Wie erleichternd, dass in dem Beitrag von Pagenstecher und wie zum Beispiel von Geoffrey Hartman, entwickelt wird, geht es eine möglichst sachliche Dokumentation der Erzählungen zu er- torats und der Informationstechnik als Grundlage für ein Verständnis Schikorra zur Vorbereitung von Gedenkstättenbesuchen unter Verwen- doch in erster Linie um die eigenen Probleme mit dem Verlust der möglichen, prägt den Text, mit dem Daniel Baranowski das Projekt der Quelle erweisen. Es erscheint vor dem Hintergrund dieser hoch dung von Interview-Material aus dem Zeitzeugen-Portal eine andere Opferzeugen – oder womöglich mit der unverarbeiteten Nähe zu vorstellt. Das Ziel der Interviews beschreibt er darin, »einen Raum refl ektierten Konstruktion einer Gedächtnismaschinerie kaum mög- didaktische Überlegung formuliert wird: »Vielmehr sollen Fragen den eigenen Tätervorfahren? zu öffnen, in dem der Interviewte seine Lebensgeschichte entfalten lich, ein derart durchgearbeitetes Medienerzeugnis als unmittelbares angeregt werden, die während des Rundgangs in der Gedenkstätte auf- Die oft enge emotionale Beziehung zwischen Nachgeborenen kann« (S. 21). Die Interviews wurden für diese Nutzung geführt. Zeugnis zu begreifen. gegriffen, beantwortet und diskutiert werden können.« (S. 264) Das ist der NS-Volksgemeinschaft und Überlebenden der Shoah war ein Das Projekt stellt sich in die Reihe der großen Interview-Samm- Aber eben das geschieht in einem der in dem Band publizierten historisches Lernen als Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Re- kaum ermessbar wertvolles Geschenk. Das wird in dem schmalen lungen. Aber im Unterschied zu den Interviews zum Beispiel der Aufsätze aus pädagogischer Sicht. Mit der Arbeit am Online-Archiv präsentationen von Geschichte, mit dem Ziel, das zu entwickeln, was Heft von »Jugend für Dora« nachvollziehbar. Aber ihre Zeit ist fast Shoah Foundation oder aus der Sammlung des Yale Archive waren verbindet Christina Brüning als Lehrerin die Erwartung, dass es die Geschichtslehrpläne derzeit »Orientierungskompetenz« nennen. vorbei. Die digital aufbereiteten Erzählungen haben ihre eigene Form bei der Produktion sowohl den Interviewten als auch den Inter- »so über den Tod der letzten Überlebenden hinaus die Möglich- Es gibt einige Beiträge, die das Interview als Quelle und die ihm und ihre eigenen didaktischen Implikationen. viewern die medialen Möglichkeiten der Online-Nutzung und der keit« bietet, »die ›Kommunikation‹ mit den Zeitzeug_innen fort- inhärente Authentitätsfi ktion kritisch refl ektieren. Es ist aber verstö- Archivierung digitaler Video-Aufzeichnungen bewusst. Sie stehen zusetzen« (S. 275). Diese Erwartung, die durch den Bezug auf den rend, wie sich in diesem fachlich hoch kompetenten Band, der ein Pro- Gottfried Kößler jetzt sowohl in der Ausstellung im Denkmal für die ermordeten Aufsatz von Aleida Assmann und Juliane Brauer (»Bilder, Gefühle, jekt präsentiert, das Forschung, Archiv und Pädagogik in Interaktion Pädagogisches Zentrum Frankfurt Juden Europas als auch online zur Verfügung. Die Funktionalität Erwartungen. Über die emotionale Dimension von Gedenkstätten der Datenbank ist auch für Laien – also für die Nutzung in der Bil- und den Umgang von Jugendlichen mit dem Holocaust«, in: Ge- dungsarbeit sehr zugänglich. Eine Recherche nach Schlagworten, schichte und Gesellschaft, H. 37 [2011], S. 72–103) belegt wird, Kapitelüberschriften und Orten wird angeboten. steht im offensichtlichen Widerspruch zu dem Ziel, die Dekonst- Aber nicht nur die technischen Möglichkeiten sind als kulturelles ruktionskompetenz der Lernenden zu bilden. Es ist zu befürchten, Fritz Bauer Institut Hintergrundwissen beim Interview andere als in den 1990er oder gar dass diese Erwartung die Verwendung der Datenbank – wie auch 1980er Jahren. Auch die Refl exion auf die situative Gestalt der bio- anderer Zeitzeugeninterviews – im pädagogischen Kontext stärker Geschichte und graphischen Erzählung selbst teilen Interviewer und Zeitzeugen. Len- prägt als die geschichtsdidaktische Refl exion auf die Konstruktion Wirkung des Holocaust nart Bohne zitiert Zvi Harry Likwornik, der in einem Telefongespräch in Dekonstruktion von Erzählungen, die im Grundsatzkapitel des nach seinem Interview sagte: »Hättet Ihr mich zu einem anderen Bandes von Michele Barricelli und Martin Lücke entfaltet wird. Zeitpunkt interviewt, hätte ich etwas anderes erzählt.« (S. 177) Für Allerdings wird auch dort die Perspektive der Opfer als Gegener- Hier könnte Ihre die Besucherinnen und Besucher des Denkmals für die ermordeten zählung zu einer Darstellung des Nationalsozialismus aus Sicht der Juden Europas werden Projekttage und Workshops angeboten. Täter beschrieben, die gängige Praxis sei. Dieser Befund ist doch be- Anzeige stehen! fremdlich angesichts der breiten Verwendung von Erzählungen von Die beiden Portale »Zwangsarbeit 1939–1945« (www.zwangsar- Verfolgten im Literatur- und Ethikunterricht. In der Sache wird hier Anzeigenformate und Preise* beit1933-1945.de) und »Zeugen der Shoah« (www.zeugendershoah. aber klargestellt, dass es »nicht um ein Hineinversetzen in fremde Umschlagseite U 4 230 x 295 mm + Beschnitt € 950,– de) sind bereits seit einigen Jahren online. Sie eignen sich ebenso Erfahrungen« geht, sondern darum, »für sich selbst ein Verhältnis zu Umschlagseite U 2 / U 3 230 x 295 mm + Beschnitt € 850,– wie die Website www.sprechentrotzallem.de hervorragend für die dem Erkannten zu fi nden« (S. 58); auch hier wird auf einen Aufsatz Ganzseitige Anzeige 230 x 295 mm + Beschnitt € 680,– gezielte Recherche und auch für pädagogische Praxis. Diese bei- von Juliane Brauer verwiesen. den Online-Publikationen werden in dem Tagungsband Erinnern Die pragmatischen Beiträge zu pädagogischen Konzepten für 1/2-seitige Anzeige vertikal 93 x 217 mm € 380,– an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt von die Arbeit mit dem Material dieser Datenbank, aber auch anderer, 1/2-seitige Anzeige horizontal 192 x 105,5 mm € 380,– Apostopoulos und Pagenstecher vorgestellt. ähnlich gelagerter Online-Angebote sind refl ektiert und praxisnah. 1/3-seitige Anzeige vertikal 60 x 217 mm € 300,– Im Oktober 2012 fand eine Konferenz mit dem Titel statt, unter Der Einblick in das Portal IWitness zeigt dem deutschsprachigen 1/4-seitige Anzeige vertikal 93 x 105,5 mm € 250,– dem nun der Tagungsband erschienen ist. Sie stellte das Projekt der Leser, wo die digitale Reise hingeht, nicht zuletzt durch die um- Aufl age: 5.500 Exemplare *zuzügl. gesetzl. MwSt. Erschließung der Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern vor, standslose Kontextualisierung des Holocaust mit anderen Genozi- das seit 2005 an der FernUniversität Hagen unter Leitung von Ale- den. Aber es wird vor allem deutlich, wie sachlich und offen eine Kontakt: Dorothee Becker, Tel.: 069.798 322-40, [email protected] xander von Plato durchgeführt wurde. Die fast 600 Interviews sind konstruktivistisch konzipierte Pädagogik funktioniert.

88 Rezensionen Einsicht 12 Herbst 2014 89 Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main

PZ-Forschungsstudie Untersucht wurden 71 Schulbücher der Workshops zur Ausstellung Interkulturelles Projekt Darstellungen jüdischer jüngsten Generation für die Sekundarstufe I, »Fritz Bauer. »3 Tage – 3 Orte – die im Zeitraum von 2004 bis 2012 erschie- Geschichte in Schulbüchern nen sind. Das Sample beinhaltet Bücher für Der Staatsanwalt« 3 Religionen« – eine Gymnasien sowie Haupt- und Realschulen Erfolgsgeschichte Martin Liepach, Wolfgang Geiger: im gleichen Maße. Bei der Auswahl wurden Die pädagogische Arbeit mit Fragen an die jüdische Geschichte. die Kriterien der Repräsentativität beachtet. der Ausstellung »Fritz Bau- Das Projekt »Interkulturel- Darstellungen und didaktische Herausforderungen Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2014, Alle relevanten Schulbuchverlage wurden in er. Der Staatsanwalt« zeigte, wie stark die ler Dialog« eröffnet Schü- Reihe Geschichte unterrichten, 192 S., € 19,80 die Untersuchung einbezogen. Ebenso wur- zentrale Botschaft, die Bauers volkspädago- lerinnen und Schülern aller Schulformen ISBN: 978-3-7344-0020-9 de auf die Größe der Bundesländer geachtet. gische Intentionen prägt, in der Gegenwart die Chance, die drei monotheistischen Re- Die Studie ist die erste umfassende Analyse gehört wird. Es ist die Betonung des Wider- ligionen Christentum, Judentum und Islam Jüdische Geschichte wird seit der Untersuchung von Wolfgang Mari- standsrechtes in der Demokratie. Die Diskus- besser kennenzulernen und gegenseitige im Geschichtsunterricht enfeld aus dem Jahr 2000. sionen mit Schulklassen im Anschluss an den Vorurteile abzubauen. vorrangig in Verbindung mit dem National- Die Ergebnisse liegen nun in einem Besuch der Ausstellung waren für alle ange- Der Lions Club Frankfurt Museums- sozialismus und dem Holocaust vermittelt. Buch vor, das die qualitativen Ergebnisse sprochenen Themen – also die NS-Prozesse, ufer hat das Projekt initiiert und das Bibel- Pädagogisches Zentrum dieser eingeschränkte Blick verzerrt auch Die Materialien in den gegenwärtig verwen- bündelt und in inhaltlich systematischer den Jugendstrafvollzug, die Erfahrung des haus Erlebnismuseum, die Ditib-Moschee Angebote und Kontakt die Wahrnehmung der Vergangenheit. Das deten Schulbüchern werfen dazu zahlreiche Form die Stärken und Schwächen bishe- Exils – offen. Das Interesse der Jugendlichen und das Jüdische Museum, vertreten durch Pädagogische Zentrum hat die Aufgabe, die- Fragen auf. Aber nicht nur für diese Epoche riger Behandlung jüdischer Geschichte fokussierte sich aber auf die Möglichkeiten das Pädagogische Zentrum, als Partner ge- se Themen voneinander abzugrenzen, und gibt es Fragen an die jüdische Geschichte: in den Schulbüchern beschreibt. Auf der des Einzelnen, Entscheidungen zu treffen, wonnen. Diese drei Institutionen haben das Das Pädagogische Zentrum so zu helfen, sie genauer kennenzulernen. Wie werden Antisemitismus und Verfol- Grundlage einer umfangreichen und reprä- die von humanitären Werten getragen sind. Projekt bereits im vergangenen Jahr ver- Frankfurt am Main ist eine Das Pädagogische Zentrum unterstützt gungsgeschichte im Vergleich zur allge- sentativen Schulbuchuntersuchung bietet es Um diese Verbindung politischen Ler- suchsweise eingeführt – mit großem Erfolg. gemeinsame Einrichtung des Fritz Bauer In- Schulen bei der Beschäftigung mit jüdischer meinen jüdischen Geschichte thematisiert einen Gang durch die Epochen jüdischer Ge- nens für die Gegenwart mit historischen The- Während ihrer Projektwochen beschäftigten stituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. Geschichte und Gegenwart sowie bei der und in welchem Verhältnis stehen sie zuei- schichte von der Antike bis zur Gegenwart men bemühen sich auch die Workshops des sich die Schulklassen mit der christlichen, Das Pädagogische Zentrum verbindet Annäherung an die Geschichte und Nach- nander? Erscheinen Juden nur als Objekte und enthält zahlreiche Hinweise auf didak- Pädagogischen Zentrums, die unabhängig von islamischen und jüdischen Religion, aber zwei Themenfelder: jüdische Geschichte geschichte des Holocaust. Hierzu bietet es und Opfer von Geschichte oder werden sie tische Fallstricke und Herausforderungen. dieser Sonderausstellung angeboten werden. auch mit Antisemitismus und Islamfeind- und Gegenwart sowie Geschichte und Nach- Lehrerfortbildungen und Lehrveranstaltun- auch als Träger einer eigenen Kultur und lichkeit. Von Februar bis Juli 2014 nahmen geschichte des Holocaust. Sein zentrales gen an der Goethe-Universität Frankfurt, Mitgestalter der Moderne vorgestellt? Er- Abb.: Schulbücher für den Geschichtsunterricht Workshop-Angebote des PZ: www.pz-ffm.de elf Klassen aus verschiedenen Frankfurter Anliegen ist es, Juden und jüdisches Leben Workshops und Studientage an Schulen folgt die Thematisierung auf der Grundlage Schulen an dem Projekt teil. Anfang Juli nicht ausschließlich unter dem Gesichts- und für Institutionen der Jugend- und Er- einer Wissenschaftsorientierung, um gegen fand eine Pressekonferenz statt, und die drei punkt der Verfolgung und des Antisemitis- wachsenenbildung sowie themenbezogene stereotype Bilder anzugehen, oder werden großen Frankfurter Tageszeitungen berich- mus zu betrachten. Ein gemeinsames päda- Führungen, Vorträge, Unterrichtsmaterialien diese unkritisch zitiert und damit reakti- teten sehr positiv darüber. gogisches Zentrum für jüdische Geschichte und Beratung an. Begleitend zu den aktuel- viert? Dies sind nur einige der Fragen, die Je mehr die Schüler über die Gemein- und Gegenwart auf der einen und Geschich- len Ausstellungen des Jüdischen Museums in einem umfangreichen Forschungsprojekt samkeiten und Unterschiede wissen, desto te und Nachgeschichte des Holocaust auf der Frankfurt gibt es Fortbildungen mit Pers- untersucht wurden, das vom Pädagogischen stärker wächst die Toleranz im Umgang anderen Seite bietet die Chance, folgende pektiven für den Unterricht. Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des miteinander. Der »Interkulturelle Dialog« Themen differenziert zu bearbeiten: Jüdischen Museums Frankfurt in Koopera- trägt aktiv dazu bei, Konfl iktpotenziale in › Deutsch-jüdische Geschichte im europä- Kontakt tion mit dem Georg-Eckert-Institut für In- der Gesellschaft abzubauen. Die Kosten ischen Kontext Pädagogisches Zentrum Frankfurt ternationale Schulbuchforschung seit 2009 für die Workshops werden vom Lions Club › Jüdische Gegenwart – Religion und Kultur Seckbächer Gasse 14 durchgeführt wurde. Frankfurt Museumsufer und dem Amt für 60311 Frankfurt am Main › Holocaust – Geschichte und Nachge- Tel.: 069.212 742 37 Schulbücher gelten trotz aller Mo- Integration übernommen. Somit entstehen schichte [email protected] dernisierungen im Medienbereich als das für die Schulen keine Kosten. Auch im neu- › Antisemitismus und Rassismus www.pz-ffm.de »Leitmedium« für den Geschichtsunterricht. en Schuljahr soll das Programm weiterge- Dementsprechend bedeutsam und prägend führt werden. Dafür gibt es bereits weitere Die deutsch-jüdische und europäisch-jüdi- sind die Inhalte der Schulgeschichtsbücher Anmeldungen. sche Geschichte wird meist vom Verbrechen und die damit transportierten Geschichts- des Holocaust aus betrachtet, das ist gerade bilder. Schulbücher sind Ausdruck gegen- Kontakt in Deutschland nicht anders denkbar. Die wärtiger Geschichtskultur, da sie einen Spie- Pädagogisches Zentrum Frankfurt Manfred Levy Dominanz des Holocaust prägt die An- gel für gesellschaftlich relevant erachtetes Tel. 069.212 707 26 näherung an alle genannten Themen, und Wissen darstellen. [email protected]

90 Pädagogisches Zentrum Einsicht 12 Herbst 2014 91 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation

dass der Beschluss von den zuständigen Aus dem Institut städtischen Gremien auch in dieser Form umgesetzt werden wird. Archiv Mit der Umbenennung des Grüneburg- Fritz Bauers Briefe platzes in Norbert-Wollheim-Platz kommt an Thomas Harlan die Universität den langjährigen Forderun- gen von Überlebenden des Arbeitslagers Bu- na/Monowitz und einer Studierendeninitiati- Von Fritz Bauer ist kein ve nach. Im Januar 2014 wurde die Frage der Nachlass erhalten. Umso Umbenennung durch eine erneute Initiative wichtiger war es für die bisher vorgeleg- des Studienkreises Deutscher Widerstand ten Bauer-Biographien – Irmtrud Wojak: 1933–1945 wieder in die öffentliche Diskus- Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie sion gebracht. Nachdem der Ortsbeirat die (München 2009) und Ronen Steinke: Fritz Umbenennung bereits beschlossen hatte, die Bauer oder Auschwitz vor Gericht (Mün- Universität jedoch weiter Vorbehalte geltend chen 2013) – auf einen Bestand zurück- Aus dem Institut › Der zentrale Universitätsplatz zwischen machte, wandte sich der Rat der Überleben- greifen zu können, den Thomas Harlan Casinoanbau und Hörsaalzentrum wird den des Holocaust am Fritz Bauer Institut, (1929–2010) glücklicherweise aufbewahrt Norbert-Wollheim-Platz Theodor-W.-Adorno-Platz genannt. die Conference on Jewish Material Claims hat: Bauers Briefe an ihn aus den Jahren Neue Adresse der › Die heutige Lübecker Straße im Osten Against Germany und der Förderverein Fritz 1962 bis 1968. Goethe-Universität des Campus Westend erhält den Namen Bauer Institut e.V. in einem gemeinsamen Max-Horkheimer-Straße. offenen Brief an das Präsidium der Uni-

Mit der ebenfalls beschlossenen Festschrei- versität, um der Umbenennungsinitiative Das Gelände des Norbert-Wollheim-Memorials vor dem IG Farben-Haus, im Vordergrund die Fototafel Der Senat der Goethe-Uni- bung der Benennung des IG Farben-Hauses Nachdruck zu verleihen. Auch die Überle- mit Norbert Wollheim. Foto: Werner Lott versität Frankfurt am Main wird auf die frühere Nutzung des Gebäu- benden aus dem »Treffpunkt«, Zentrum für hat in seiner Sitzung vom 23. Juli 2014 mit des als Konzernzentrale der IG Farbenin- Überlebende der Shoah und ihre Familien, großer Mehrheit die Neubenennung wesent- dustrie verwiesen, die vielfältig mit den machten ihre Unterstützung für die Umbe- Professor für Philosophie und Soziologie Jean-Christophe Ammann im Gespräch licher Straßen und Plätze auf dem Campus Menschheitsverbrechen des Nazi-Regimes nennung öffentlich. an der Goethe-Universität Frankfurt sowie mit Heiner Blum zu dessen Konzeption Westend beschlossen. Namensgebungen verstrickt war. Die Bezeichnungen IG- einer der Direktoren des wiedereröffneten des Norbert-Wollheim-Memorials: nach Theodor W. Adorno, Max Horkheimer Hochhaus oder die auf den Architekten ver- Norbert Wollheim: 1913–1998, war Wirt- Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Der Schweizer Kunsthistoriker Jean- und Norbert Wollheim werden im Rahmen weisenden Benennungen Poelzig-Bau und schaftsprüfer, Steuerberater, ehemaliges Christophe Ammann war von 1991 bis 2002 eines Gesamtplans erfolgen, der eine ein- Poelzig-Ensemble werden zukünftig nicht Direktoriums-Mitglied des Zentralrats der Max Horkheimer: 1895–1973, Sozial- Direktor des Frankfurter Museums für Mo- Thomas Harlan, 1960er Jahre. Foto: Ingrid Letto deutige Zuordnung aller Gebäude auf dem mehr verwendet. Juden in Deutschland. 1943 Deportation philosoph, Hauptvertreter der Frankfurter derne Kunst. Heiner Blum ist Professor für Campus vorsieht. »Mit der Umbenennung signalisiert die nach Auschwitz; Zwangsarbeit für die I.G. Schule, ehemaliger Rektor der Goethe- Gestaltungsgrundlagen und Experimentelle Thomas Harlans Testamentsvollstre- »Damit wird 13 Jahre nach der Über- Goethe-Universität in ihrem Jubiläumsjahr, Farben, 1945 erfolgreiche Flucht auf dem Universität Frankfurt; 1919–1922 Studium Raumkonzepte an der Hochschule für Ge- cker, Dr. Michael Farin (München), und gabe des IG Farben-Hauses sowie des um- dass sie sich nicht nur mit ihrer eigenen Ver- Todesmarsch, einziger Überlebender sei- in München, Frankfurt und Freiburg, 1922 staltung, Offenbach am Main. Lutz Seybold, Bruder von Harlans Ehefrau liegenden Areals an die Goethe-Universität gangenheit auseinandersetzt, sondern sich ner Familie. Die 1950 eingereichte Klage Promotion in Frankfurt bei Hans Corneli- Das Gespräch auf der Website von Katrin Seybold (1943–2012), haben dem erstmals ein aufeinander abgestimmtes als Nutzer der Liegenschaften des ehemali- gegen die IG Farben auf Entschädigung us, 1925 Habilitation, 1930 Ernennung zum Heiner Blum: www.heinerblum.de/arbeiten/ Fritz Bauer Institut Bauers Briefe großzügi- Konzept vorgelegt, das historische Persön- gen IG Farben-Konzerns auch der kritischen für geleistete Zwangsarbeit war das erste Ordinarius für Sozialphilosophie an der Phi- situative-projekte/wollheim-memorial gerweise überlassen. Das Fritz Bauer Institut lichkeiten der Goethe-Universität sowie ein Aufarbeitung dieser Konzerngeschichte ver- Musterverfahren in der deutschen Nach- losophischen Fakultät in Frankfurt sowie ist Herrn Dr. Farin und Herrn Seybold zu prominentes Opfer des IG Farben-Konzerns pfl ichtet sieht«, sagte Müller-Esterl. »Wir kriegszeit. Ernennung zum Direktor des Instituts für Norbert Wollheim Memorial tiefem Dank verpfl ichtet. Im Herbst 2015 würdigt«, lobte Universitätspräsident Prof. hoffen nun auf eine einvernehmliche Rege- Sozialforschung bis zu dessen Schließung Ort des Gedenkens und der Information wird das Institut Bauers Briefe an Harlan Werner Müller-Esterl die Senatsentschei- lung mit dem zuständigen Ortsbeirat.« Theodor W. Adorno: 1903–1969, deut- durch die Nationalsozialisten. 1933 Emig- über die Zwangsarbeiter der I.G. Farben herausgeben. dung. Der Ortsbeirat Westend hatte die Um- scher Philosoph, Soziologe, Musiktheore- ration in die USA, 1949 Rückkehr auf den www.wollheim-memorial.de Beschlossen wurde die Umbenennung benennung des Grüneburgplatzes allerdings tiker und Komponist; zählt zu den Hauptver- Doppellehrstuhl für Philosophie und Sozio- Kontakt folgender Wege, Straßen und Plätze im Rah- bereits auf seiner Sitzung im Juni 2014 be- tretern der Frankfurter Schule. 1921–1934 logie. 1950 Wiedereröffnung des Instituts Kontakt Fritz Bauer Institut men eines Gesamtkonzepts: schlossen. Das jetzt vom Senat beschlossene Studium und Habilitation in Frankfurt/ für Sozialforschung unter seiner Leitung Goethe-Universität Frankfurt am Main Werner Renz, Archiv und Bibliothek Grüneburgplatz 1 › Der Grüneburgplatz und dessen Zufahrts- Konzept wurde laut Müller-Esterl bereits Tätigkeit als Privatdozent, 1934–1945 Ver- (mit Adorno als stellvertretendem Direk- Pressestelle Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main wege von Ost und West heißen künftig in Vorgesprächen mit Vertretern des Orts- treibung und Exil in England und den USA, tor), 1951 Wahl zum Rektor der Goethe- 60323 Frankfurt am Main Tel.: 069.798 322-25 Norbert-Wollheim-Platz. beirats besprochen. Es ist also zu erwarten, 1953 Rückkehr nach Deutschland, bis 1969 Universität. www.muk.uni-frankfurt.de [email protected]

92 Nachrichten und Berichte Einsicht 12 Herbst 2014 93 Aus dem Förderverein und des Fördervereins wie auch die sehr en- KZ-Wärter von Auschwitz stellen, stieß auf Aus Kultur und Wissenschaft gagierte Initiative der Studierenden waren großes Interesse auch der Studierenden. Mitteilungen erfolgreich. In seiner Sitzung am 23. Juli Am 18. Mai fand die diesjährige Mit- Verleihung des Bericht des Vorstands 2014 hat der Senat der Goethe-Universität gliederversammlung statt, gefolgt von einem Fritz-Bauer-Preises 2014 der zuvor schon vom zuständigen Ortsbeirat gut besuchten Jubiläumsfest unter dem der Humanistischen Union beschlossenen Umbenennung zugestimmt. Moto »Der Blick zurück – der Blick nach Der Förderverein ist einer der (siehe S. 92 f.) vorne. 21 Jahre Förderverein Fritz Bauer an Edward J. Snowden vier Träger des Fritz Bauer Erinnerung braucht Orte! Eine neue Ge- Institut e.V.«. In einer Gesprächsrunde lie- Auszeichnung für einen Instituts, neben dem Land Hessen, der Stadt denktafel im Plenarsaal des Frankfurter Rö- ßen Werner Schneider-Quindeau, Brigitte wertvollen Beitrag Frankfurt am Main und der Goethe-Universi- mers erinnert an die Auschwitz-Prozesse, die Tilmann und Jutta Ebeling, ehemalige und zur Wahrung unserer tät. Er hält zurzeit den Vorsitz im Stiftungsrat. dem unerschrockenen Einsatz des General- amtierende Vorsitzende des Fördervereins, Wir, der Vorstand, sehen unseren Auftrag in staatsanwalts Fritz Bauer zu verdanken sind. die Ereignisse der Gründungsjahre und die Grundrechtsordnung der Vermittlung der exzellenten Arbeit des Ursula Krechel las im Oberlandesge- seither geleistete Arbeit Revue passieren. Fritz Bauer Instituts in den außeruniversitä- richt Frankfurt aus ihrem Buch Landgericht. Dabei wurde deutlich, dass der Gründungs- »Gesetze sind nicht auf Pergament, ren Raum, im Aufgreifen bürgerschaftlichen Trude Simonsohn ließ in einem über- impuls – das Engagement aus der Bürgerge- sondern auf empfi ndliche Engagements und im Einmischen in gesell- füllten Hörsaal am 27. Januar die Zuhö- sellschaft – das Institut bis heute trägt. Der Menschenhaut geschrieben.« schaftliche Debatten, die einen Bezug zur rerInnen an ihren Lebenserinnerungen Höhepunkt des Festes und reiner Genuss Fritz Bauer Wirkungsgeschichte des Holocaust aufwei- teilnehmen. Erfreulicherweise hatten sich war das Konzert von Emil Mangelsdorff sen. Dabei unterstützt der Verein die Arbeit auch viele junge Menschen zu diesem ein- (selbst Gründungsmitglied), begleitet von In einem Festakt am 21. Ju- des Instituts inhaltlich, in Kooperationen und dringlichen Zeitzeugenbericht eingefunden. Thilo Wagner. Jazz vom Feinsten, der noch ni 2014 in der Erinnerungs- fi nanziell. In diesem Engagement ist uns der Im Anschluss an die Vorführung des lange nach Veranstaltungsende nachklang. stätte für die Freiheitsbewegungen in der Edward J. Snowden, geboren am 21. Juni 1983 in Elizabeth City, North Carolina, USA. Snowden war Angestellter der Central Intelligence Agency (CIA) und der National Security Agency (NSA). Namensgeber des Instituts eine Verpfl ichtung. Films DER EINZELKÄMPFER – RICHTER HEINZ Trotz des großen Zuspruchs bei den Ver- deutschen Geschichte im Schloss Rastatt hat Seine Enthüllungen als Whistleblower gaben Einblicke in das Ausmaß der weltweiten Überwachungs- Unsere Aktivitäten der letzten Monate: DÜX gab es ein interessantes Gespräch mit anstaltungen fehlen noch 100 neue Förder- die Bürgerrechtsorganisation Humanistische und Spionagepraktiken von Geheimdiensten – überwiegend der Vereinigten Staaten und Großbritanniens. Der Förderverein hat in der Debatte dem Regisseur Wilhelm Rösing und Dr. mitglieder, um das selbstgesteckte Ziel von Union ihren diesjährigen Fritz-Bauer-Preis Diese lösten so im Sommer 2013 eine globale Überwachungs- und Spionageaffäre aus. um die Umbenennung des Grüneburgplat- Heinz Düx, der als Untersuchungsrichter 1.000 Mitgliedern zu erreichen. Mitmachen an den ehemaligen Geheimdienstmitarbei- Edward Snowden befi ndet sich seit Juli 2013 im politischen Asyl in Russland. zes in Norbert-Wollheim-Platz Position die gerichtliche Voruntersuchung zum ersten und Weitersagen! Die nächste Mitglieder- ter Edward J. Snowden verliehen. Damit Foto: Screenshot, INSIDE THE MIND OF EDWARD SNOWDEN, NBC News Exclusiv, Mai 2014 bezogen, mit dem Ziel, in der Adresse der Frankfurter Auschwitz-Prozess geführt hat. versammlung mit Wahl des Vorstands wird würdigt die Bürgerrechtsorganisation des- Goethe-Universität die Geschichte des IG Die Podiumsdiskussion »NS-Prozesse: im ersten Viertel des Jahres 2015 einberufen. sen Verdienst, die Weltöffentlichkeit über Farben-Hauses aufgehoben zu sehen. Der Warum erst jetzt, warum jetzt noch?« um die das massenhafte und anlasslose Ausspähen, uns auf systematische Rechtsbrüche, auf Veränderungen in der Politik als wegen der gemeinsam vorgebrachte Appell des Rats juristischen und politischen Fragen, die sich Jutta Ebeling, Vorsitzende Speichern und Auswerten von Kommunika- kontrollfreie Räume und die grenzenlose Veränderung unseres Bewusstseins in Erin- der Überlebenden, der Claims Conference bei der Ermittlung und Anklage der letzten Für den Vorstand tionsdaten und -inhalten durch amerikani- Datengier der Geheimdienste hingewiesen. nerung behalten«. Es werde »immer klarer, sche und andere Geheimdienste informiert Mit seinen Enthüllungen hat er eine längst dass die Arbeit einer Generation begonnen zu haben. überfällige Debatte über die Grenzen des hat«. Dabei seien die Anwesenden »die Vor- »Edward Snowden steht für eine außer- Sicherheitswahns, die demokratischen An- hut im Kampf um unsere Rechte. Eine Ver- gewöhnliche Zivilcourage bei der Aufde- sprüche an die Kontrolle der Geheimdiens- einigung von Menschen, die daran erinnern, ckung grund- und menschenrechtswidriger te sowie die Notwendigkeit internationaler dass noch nie in der Geschichte Sicherheit Überwachungspraktiken. Gemeinsam mit Regeln der Überwachung angestoßen«, so um den Preis verlorener Freiheit erkauft anderen Engagierten enthüllte er, in wel- Koep-Kerstin. worden ist.« In Dankbarkeit für die ihm chem Ausmaß die geheimdienstliche Über- In seinem am 21. Juni in Moskau ver- erwiesene Ehre und Unterstützung schließt wachungspraxis heute rechtliche Schranken, fassten Grußwort an die Humanistische Snowden sein Schreiben mit dem Appell: die Grenzen des Vorstellbaren sowie des Union bedauert Edward Snowden, dass er »Gemeinsam können wir das Gleichgewicht moralisch Vertretbaren überschreitet«, so der Verleihung nicht persönlich beiwohnen von Freiheit wiederherstellen, nicht nur für begründet der Bundesvorsitzende der Hu- könne, da ihm weiterhin die Einreise nach unsere Staaten oder uns selbst, sondern für manistischen Union, Werner Koep-Kerstin, Deutschland verwehrt sei. »In jeder Hinsicht zukünftige Generationen und die Gesamt- die Vergabe des Preises. Snowdens Handeln war das letzte Jahr für die Zivilgesellschaft heit der Menschheit.« folge dem politisch-ethischen Vermächtnis bedeutungsvoll«, so Snowden, »aber es war Der Bundesvorstand der Humanisti- Fritz Bauers, »dass es in unserem Leben nur ein Anfang und unsere wichtigste Ar- schen Union beschloss bereits im Juli 2013 eine Grenze gibt, wo wir nicht mehr mit- beit liegt noch vor uns.« Er vermute, »dass die Vergabe des Fritz-Bauer-Preises an Ed- Thilo Wagner (Klavier) und Emil Mangelsdorff (Saxophon) / Vorstandsmitglieder Dr. Rachel Heuberger und Gundi Mohr, Vorsitzende Jutta Ebeling. Fotos: Katharina Rauschenberger machen dürfen«. »Edward Snowden hat wir das vergangene Jahr weniger wegen der ward Snowden. Die jetzige Preisverleihung

94 Nachrichten und Berichte Einsicht 12 Herbst 2014 95 soll an den prekären Aufenthaltsstatus Aus Kultur und Wissenschaft Konfrontation mit gängigen Alltagsgewiss- immer wieder feststellen müssen, wenn sie Snowdens und die Verantwortung der Bun- heiten und Normvorstellungen. Es vermittelt zu Beratungen in akuten Konfl iktfällen – oft desregierung für dessen Schutz erinnern. Mobiles Lernlabor nicht Wissen von oben nach unten, sondern mit rechtsextremem Hintergrund – in Dör- Geschichte und »Es ist Aufgabe der Bundesregierung und Was tun, bevor es brennt! möchte sein Publikum herausfordern, irri- fer und Gemeinden gerufen werden. »Das aller westlichen Demokratien, die weitere tieren – und aktivieren. Lernlabor hat einen präventiven Charakter«, Gegenwart Aufklärung der Vorwürfe voranzubringen. An zahlreichen Stationen werden die sagt Saba Nur Cheema. »Wir wollen inter- Das kann nicht gelingen, solange Edward Menschenrechtsmemory und Mehr: BesucherInnen aufgefordert, über Identitä- venieren, bevor es brennt.« Snowden in Moskau festsitzt und nur ein- Das Mobile Lernlabor »Mensch, Du ten und Zuschreibungen nachzudenken. Ist Um die Jugendlichen abzuholen und geschränkt aussagefähig ist. Als Whistleblo- hast Recht(e)!«, der Bildungsstätte Anne es okay, von »Farbigen« zu sprechen? Was neugierig zu machen, ist das Mobile Lern- wer der NSA-Affäre verdient Herr Snowden Frank, trägt die Auseinandersetzung mit halten wir für »normal«: Mutter und Vater, labor – anders als gängige Ausstellungen einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland Rassismus, Diskriminierung und Men- zwei Mütter oder zwei Väter? Das Leben in – interaktiv konzipiert. »Es ist weniger ein oder einem anderen Mitgliedsstaat der Euro- schenrechten in den ländlichen Raum. der Kleinfamilie oder in der WG? Wer ent- klassisches Format der Wissensvermittlung päischen Union.« Die Humanistische Uni- scheidet, was »normal« ist? Warum laufen als Anlass zu Refl exion, Gesprächen und zur on fordert zudem die Bundesregierung auf, Beginnen wir an der Klang- in Deutschland zum Beispiel kaum Werbe- Auseinandersetzung«, sagt Nicole Broder. das Kommunikations- und Datengeheim- dusche: Dort kann man hö- spots, die Frauen mit Kopftuch zeigen? Schülergruppen werden von eigens geschul- nis aller Bürgerinnen und Bürger – nicht ren, was Prominente wie Angela Merkel »Das Lernlabor zeigt, wie sich Debatten ten TeamerInnen durch die Ausstellung be- 2014 nur der Kanzlerin – zu schützen. Mit den und der Fußballer Kevin-Prince Boateng über Lebensgestaltungen und gesellschaft- gleitet. An der Diskriminierungspinnwand 365 Seiten rechtspolitischen Konsequenzen, die aus zu Rassismus sagen. Dann geht es weiter, liche Leitbilder auf öffentliche Räume und beispielsweise ist die Gruppe gefordert, zu € 24,90 ISBN 978-3- den bisher bekannt gewordenen Fakten der zur Diskriminierungspinnwand, zum Men- damit das Zusammenleben auswirken«, sagt überlegen, ob sie bestimmte Aussagen der 593-50163-5 NSA-Affäre zu ziehen wären, befasste sich schenrechtsmemory oder zur Schublade mit Nicole Broder, die das Lernlabor leitet. Es Alltagssprache (»farbig«, »Zigeunersoße«, Anders Rydell erzählt in seinem fulmi- eine Fachtagung der Humanistischen Union den Bildern, die zeigen, wie diskriminierend geht darum, Jugendliche für Rassismus und Mobiles Lernlabor »Mensch, Du hast Recht(e)!« »Schwarzarbeit«) als diskriminierend erken- nanten Buch von dem großen Beutezug, im Vorfeld der Preisverleihung. Werbung oftmals ist. Diskriminierung in ihrem direkten Umfeld Fotos: Bildungsstätte Anne Frank e.V. nen oder nicht. Es geht nicht um »richtig« mit dem Hitler und seine Helfershelfer riesige Kunstsammlungen anhäuften. Mit dem Fritz-Bauer-Preis würdigt Das Mobile Lernlabor »Mensch, Du zu sensibilisieren und sie mit dem Thema oder »falsch«, sondern darum, dass sich Dabei veranschaulicht er eindrücklich, die Humanistische Union herausragende hast Recht(e)!«, das die Bildungsstätte Menschenrechte vertraut zu machen. Lernlabor mit konzipiert hat. Abseits der ur- die Jugendlichen Gedanken machen – auch welche Anstrengungen man heute noch Verdienste um die Humanisierung, Libera- Anne Frank mit Unterstützung von Akti- »Wir füllen mit dem Mobilen Lernlabor banen Zentren gebe es kaum innovative Bil- über das Vokabular, das sie mithin leicht- immer unternimmt, um die geraubten Werke aufzufinden und sie den recht- lisierung und Demokratisierung der Rechts- on Mensch als Wanderausstellung für den eine Lücke – das gilt insbesondere für den dungsangebote für Jugendliche zum Thema fertig verwenden. Im Mobilen Lernlabor mäßigen Besitzern zurückzugeben. ordnung. Der Preis ist benannt nach dem frü- ländlichen Raum konzipiert hat, ist mehr ländlichen Raum«, sagt Saba Nur Chee- Rassismus. Das jedenfalls hätten die Mitar- wird hinterfragt und nicht selten rege disku- heren Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz als eine typische Ausstellung. Es ist eine ma von der Bildungsstätte, die das Mobile beiterInnen der Bildungsstätte Anne Frank tiert, wobei die Jugendlichen stets von den Bauer, der als Wegbereiter einer juristischen Aufarbeitung des NS-Unrechts und Refor- mer des Strafrechts wie des Strafvollzuges gilt. Bauer gehörte zu den Mitbegründern der Humanistischen Union. Der Preis wurde im Juli 1968, wenige Wochen nach dem Tod 2014 Fritz Bauers, von der Humanistischen Union 371 Seiten gestiftet. Zu den bisherigen Preisträgerin- 10 Abb. € 45,– nen und Preisträgern gehören u. a. Gustav ISBN 978-3- Heinemann (1970), Peggy Parnass (1980), 593-50096-6 Regine Hildebrandt (2000), Dieter Schenk Am Beispiel des Imperial War Museum in London und des Deutschen Historischen (2003), Burkhard Hirsch (2006), Helmut Museums in Berlin fragt Angelika Schoder, Kramer (2010) und Joachim Perels (2012). mit welchen museumsspezifischen und didaktischen Methoden die Vermittlung der nationalsozialistischen Verbrechen Kontakt erfolgt und welche Ausstellungskonzep- Humanistische Union e.V. tionen und pädagogischen Ansätze sich vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initiative hinter dieser Vermittlung verbergen. – Bundesgeschäftsstelle – Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin Tel.: 030.204 502-56, Fax: -57 [email protected] campus.de www.humanistische-union.de

96 Nachrichten und Berichte Einsicht 12 Herbst 2014 97 TeamerInnen begleitet werden. »Bislang hat Leihgebühr: € 300,– Das zweisprachige (deutsch/englisch) Aus Kultur und Wissenschaft zahlreichen Veranstaltungen wird jedes es in den meisten Gruppen Aha-Erlebnisse Tourdaten: Weilburg, 19. September bis Internetlexikon verzeichnet alle diese »War- Jahr daran erinnert. Die Tagebuchaufzeich- gegeben«, berichtet Nicole Broder. Einmal 6. Oktober 2014; Marburg-Biedenkopf, tesäle«: Man kann nach Orten oder Gemein- Landschaft des Gedenkens nungen Viktor Klemperers aber zeigen, hatten SchülerInnen um die Frage gestritten, 1. bis 22. November 2014; Rödermark, den suchen und erhält Adressen, Informatio- Multimediale Informations- was diesen Ereignissen vorausging – Aus- wie man dunkelhäutige Menschen bezeich- 24. November bis 5. Dezember 2014; Groß - nen zur Infrastruktur (Sportvereine, Schulen, plattform zur Shoah in grenzung, Verfolgung und Deportation der nen solle: Während der 18-jährige Johannes Gerau, Januar 2015; Korbach, Februar 2015; Zeitungen, politische Organisationen etc.), jüdischen Bevölkerung Dresdens. Kaum in Ordnung fand, wenn man ihn »schwarz« Kassel, März 2015; Wiesbaden, Mai 2015 Dauer der Existenz sowie die Anzahl der Dresden und Terezín 100 Kilometer von Dresden entfernt, dient nennt, beschreibt die gleichaltrige Fati- Mitglieder/Bewohner. Das kostenlos zu- die Gedenkstätte am Ort des ehemaligen ma sich selbst lieber als »farbig«. Eine Buchung und Anfragen gängliche Nachschlagewerk wurde 2012 mit www.gepam.eu Konzentrationslagers Theresienstadt im Teamerin gab zu bedenken, dass der Begriff Bildungsstätte Anne Frank ersten Einträgen online geschaltet. Nachdem tschechischen Terezín als Erinnerungsort Nicole Broder »farbig« aus der Kolonialzeit stamme und Bildungsreferentin Menschenrechtsbildung Bayern und Württemberg/Baden jetzt kom- »Landschaft des Geden- an die Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland in den fünfziger Jahren das Hansaallee 150, 60320 Frankfurt am Main plett verzeichnet sind, werden nun die jüdi- Mitglieder eines religiösen Kibbuz beim Gebet kens. Dresden und Terezín in Mittel- und Osteuropa. Sie ist fester Be- Wort »Neger« ersetzt habe. Tel.: 069.56000234 schen Gemeinden und Lager im Land Hes- Foto: US National Archives and Records als Erinnerungsorte der Shoah« ist eine In- standteil der sächsischen Bildungsarbeit Im Mobilen Lernlabor werden nicht [email protected] sen recherchiert. Ende 2014 soll das Lexikon Administration (Public Domain) formationsplattform zum Thema Shoah, die und soll die Verständigung zwischen Deut- www.bs-anne-frank.de zuletzt Handlungsmöglichkeiten vorgestellt fertiggestellt sein. (s. a.: »Internetlexikon – Informationen, historische Quellen und 3D- schen und Tschechen vertiefen. Durch das und diskutiert: Wie fi nden wir ein Ziel für Jüdische Displaced Persons in Bayern«, in: www.talmud-thora.de Modelle in einer multimedialen Dokumenta- Projekt werden die beiden Erinnerungsor- die Klassenfahrt, auf das alle Lust haben? Einsicht 08, Herbst 2012, S. 104) »Kampf um die Seelen« – Wiedergeburt tion bündelt und aufbereitet. Sie ist das Er- te miteinander verbunden und sächsisch- Setzen wir auf Konsens, Kompromiss oder des traditionellen Judentums gebnis des Projekts »GePam« (GEdenken/ böhmische Geschichte im »Dritten Reich« den Mehrheits-Entscheid? Wie funktioniert Aus Kultur und Wissenschaft PAMatovat). Das Mitteleuropa-Zentrum auf eine neue Art erfahrbar gemacht. eigentlich Demokratie? Und was tun wir, Zwischen 1945 und 1950 und das Medienzentrum der Technischen Die Informationsplattform »Landschaft des wenn Neonazis in unserer Gemeinde zu ei- Zwei Internetlexika unterstützte die orthodoxe Universität Dresden arbeiten seit Juli 2012 Gedenkens« ist zum einen über die Website ner Demonstration aufrufen? An wen kön- Jüdische DP-Lager und Hilfsorganisation Vaad Hatzala (Rettungs- gemeinsam mit der Gedenkstätte Theresien- »www.gepam.eu« aufrufbar, zum anderen nen wir uns wenden? Das Lernlabor bietet Gemeinden in der US-Zone komitee) die Überlebenden der Shoah bei stadt und der Westböhmischen Universität gibt es lokale digitale Infokioske im Stadt- außerdem Raum, über Alternativen nach- ihrem Versuch, ein Leben getreu den Vor- Pilsen an diesem Projekt. Den Rahmen dazu museum Dresden und in der Gedenkstätte zudenken. Es stellt den BesucherInnen die Talmud Thora Schulen in schriften der Thora zu etablieren. Ende 1947 bildet das »Ziel 3«-Programm zur Förde- Theresienstadt. Für Gäste aus aller Welt, vor Frage: In welcher Welt wollen wir eigentlich Deutschland 1945–1950 unterhielt der Vaad Hatzala in der US-Zone rung der grenzübergreifenden Zusammen- allem für die junge Generation, wird so ei- leben? 14 Jeschiwot, an denen über 1.500 Studen- arbeit zwischen dem Freistaat Sachsen und ne langsam verschwindende Vergangenheit Das interaktive Angebot der Bildungs- www.after-the-shoah.org ten Talmud und Thora lernten, sowie zahl- der Tschechischen Republik. wieder zum Sprechen gebracht und neu in stätte Anne Frank richtet sich an Jugendliche Neues Web-Angebot dokumentiert den reiche Religionsschulen, koschere Küchen Am 23. Juni 2014 wurde das Ergebnis das Bewusstsein gerückt. ab 14 Jahren. orthodox-religiösen Neubeginn religiöse Kibbuzim und weitere soziale der Arbeit im Stadtmuseum Dresden der Eingang zum DP-Kinderlager Lindenfels (Odenwald). Partner vor Ort: Gemeinden, Kommunen, Institutionen. Die Website bietet lexikali- Öffentlichkeit vorgestellt. Im Zentrum der Kontakt Die hebräische Inschrift lautet: Bruchim Habajim zivilgesellschaftliche Initiativen, Vereine, In der unmittelbaren Nach- sche Basisinformationen und ergänzende Informationsplattform steht eine dreidimen- Sven Hacker, M.A., Projektkoordinator (Herzlich willkommen) Technische Universität Dresden Kirchen und weitere Institutionen oder kriegszeit siedelten sich auf Foto: Dietrich Kohlmannslehner/Eliezer Rabinowitz Hintergrundtexte über alle diese religiösen sionale Karte der beiden Erinnerungsorte Gruppen in Hessen und angrenzenden Re- dem Gebiet der US-Besatzungszone rund DP-Einrichtungen. Theresienstadt und Dresden. Dazu wurden Professur für Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte am Institut für Germanistik gionen können das Angebot buchen. 160.000 Juden in über 250 Displaced Per- Beide Web-Portale ergänzen die Sekun- 3D-Stadtmodelle entwickelt und mit histo- 01062 Dresden Ablauf vor Ort: Das Lernlabor ist je nach sons Communities und Camps an. Diese därliteratur um eine wichtige Faktensamm- rischen Materialien zu Personen, Gebäuden, Tel: 0351.463-31663, Fax: -37769 Bedarf zwei bis sechs Wochen vor Ort. Die vornehmlich aus Osteuropa stammenden lung und bieten eine Grundlage für weitere Straßen und Orten jüdischen Lebens ver- [email protected] Bildungsstätte bietet an jedem Ort einen Menschen waren Überlebende der NS- Forschungen im Bereich der Displaced Per- knüpft, um so den stadt- und zeitgeschicht- regulären Informationsabend für LehrerIn- Konzentrations- und Arbeitslager sowie sons und der jüdischen Nachkriegsgeschich- lichen Hintergrund zu erschließen. Die nen und BegleiterInnen an. Dort erhalten Flüchtlinge aus Osteuropa, die sich vor te in Deutschland. eingebundenen Informationstexte, Quel- Sie eine Handreiche, wie Sie den Besuch antisemitischen Übergriffen in ihren Hei- len, Bilder, Audio- und Videomaterialien im Lernlabor vor- und nachbereiten können. matländern in den Westen gerettet hatten. Kontakt erzählen die Geschichte der Verfolgung der Workshops/Begleitung: Gruppen können Die US-Militärregierung gestattete den Nürnberger Institut für NS-Forschung jüdischen Bevölkerung – und persönliche und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V. zusätzlich eine Begleitung und/oder einen Menschen weitreichende Selbstbestim- Postfach 210312, 90121 Nürnberg Geschichten von Ausgrenzung, Verfolgung Workshop buchen, um die Themen Diskri- mungsrechte: Die DPs betrachteten ihren Tel.: 0911.519 3737 und Deportation. minierung, Rassismus und Menschenrechte Aufenthalt in Deutschland jedoch nur als [email protected] Die Dresdner Erinnerungskultur ist zu vertiefen. Auskunft über Inhalte und Kos- zeitweilig; sehnsüchtig warteten sie auf eine Koschere Küche der DP-Gemeinde Dachau. Die www.nurinst.org besonders durch die traumatisierende jiddische Inschrift lautet: Vad Hazala Kich be Dachau ten erhalten Sie auf Anfrage. Möglichkeit zur Auswanderung nach Israel (Küche des Vaad Hatzala in Dachau) Zerstörung der Stadt in der Bombennacht Ausstellungsfl äche: ca. 100 qm oder Übersee. Foto: nurinst-archiv vom 13. auf 14. Februar 1945 geprägt. Mit

98 Nachrichten und Berichte Einsicht 12 Herbst 2014 99 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Fritz Bauer Instituts

Waren es bei der Erstpräsentation 15 Vitri- Die IG Farben und das nen, die die Geschichten der Opfer erzähl- KZ Buna/Monowitz ten, sind es heute weit über sechzig. Sie ent- stehen auf der Basis weiterer Recherchen Wirtschaft und Politik und an manchen Orten in Zusammenarbeit im Nationalsozialismus mit Schülerinnen und Schülern. Das Konzentrationslager Publikationen zur Ausstellung der IG Farbenindustrie AG › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung. in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Kooperation zwischen Wirtschaft und Politik Hessen-Thüringen, Heft 8, 2002, 72 S., € 5,– › Legalisierter Raub – Materialmappe zur Vor- im Nationalsozialismus. Die komplexe Ge- und Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs. schichte dieser Kooperation, ihre Widersprü- Hrsg. von der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung che, ihre Entwicklung und ihre Wirkung auf zu Lich und dem Fritz Bauer Institut. Gießen: die Nachkriegszeit (die Prozesse und der bis Book-xpress-Verlag der Druckwerkstatt Fernwald, 2002, € 8,50 in die Gegenwart währende Streit um die IG Legalisierter Raub › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. Farben in Liquidation), wird aus unterschied- Der Fiskus und die Ausplünderung Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialis- lichen Perspektiven dokumentiert. Struktu- mus durch die Reichsfi nanzverwaltung in Hessen. riert wird die Ausstellung durch Zitate aus der der Juden in Hessen 1933–1945 Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus Literatur der Überlebenden, die zu den einzel- Verlag, 2004, 748 S., € 44,90 nen Themen die Funktion der einführenden Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. »Ein Leben aufs neu«, Ausstellung im Hessischen Landtag in Wiesbaden, Januar 2012. Foto: Werner Lott Texte übernehmen. Gezeigt werden Repro- mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen Die staatliche Enteignung der Juden im National- duktionen der Fotografi en, die von der SS an- sozialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main, lässlich des Besuchs von Heinrich Himmler in New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90 Ein Leben aufs neu zuvor eingewandert war –, hinterließ er nicht Auschwitz am 17. und 18. Juli 1942 ange- › D ER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN nur viele hunderte Aufnahmen, sondern auch fertigt wurden. Die Bildebene erzählt also AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning Das Robinson-Album. 15. September bis 30. November 2014: bis 1941 nach. Im nachgebauten Zimmer ein Album, das die Geschichte der jüdischen durchgängig die Tätergeschichte, der Blick Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, Kurhaus Bad Vilbel, Niddastraße 1, 61118 Bad Vilbel DP-Lager: Juden auf deut- eines Finanzbeamten können die Ausstel- 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 10,– DPs in exemplarischer Weise erzählt. auf die Fabrik und damit die Technik stehen 1. Halbjahr 2015: Rüsselsheim/Flörsheim am Main lungsbesucher in Aktenordnern blättern: Sie Über das vertraut erscheinende Medi- im Vordergrund. Die Text ebene hingegen 2. Halbjahr 2015: Michelstadt schem Boden 1945–1948 Ausstellungsexponate (siehe auch »Veranstaltungen«, S. 8 f. in diesem Heft) enthalten unter anderem Faksimiles jener um des Albums führt die Ausstellung in ein wird durch die Erzählung der Überlebenden Vermögenslisten, die Juden vor der Depor- Die Ausstellung besteht aus circa 60 Rahmen im Nach Ende des Zweiten den meisten Menschen unbekanntes und von bestimmt. Format 100 x 70 cm, 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, Die Ausstellung gibt einen tation ausfüllen mussten, um den Finanzbe- 2 Installationen und Lesemappen zu ausgesuchten Weltkriegs fanden jüdische vielen verdrängtes Kapitel der deutschen Die Ausstellung ist als Montage im Einblick in die Geschichte hörden die »Verwaltung und Verwertung« Einzelfällen. Für jede Ausstellungsstation besteht die Überlebende der NS-Terrorherrschaft im und jüdischen Nachkriegsgeschichte ein: fi lmischen Sinn angelegt. Der Betrachter des legalisierten Raubes, in die Biografi en ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu Möglichkeit, interessante Fälle aus der Region in das Nachkriegsdeutschland Zufl ucht in soge- Fotografi en von Familienfeiern und Schul- sucht sich die Erzählung selbst aus den Ein- von Tätern und Opfern. erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich Konzept zu übernehmen. nannten Displaced Persons (DP) Camps. Die unterricht, Arbeit in den Werkstätten, Sport zelstücken zusammen. Um diese Suche zu Die Tafeln im Hauptteil der Ausstel- mit den kooperierenden Interessengruppen www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html Fotoausstellung porträtiert das tägliche Le- und Feste, Zeitungen und Theater, zionisti- unterstützen, werden in Heftern Quellentex- lung entwickeln die Geschichte der Täter- in Politik und Wirtschaft, aber auch mit ben und die Arbeit der Selbstverwaltung in sche Vorbereitungen auf ein Leben in Paläs- te angeboten, die eine vertiefende Lektüre gesellschaft, die mit einem Rückblick auf dem »deutschen Volksgenossen« als Profi - dem in der amerikanischen Besatzungszone tina – Manifestationen eines »lebn afs nay«, ermöglichen. Dazu bietet das Fritz Bauer die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung teur. Schließlich wird nach der sogenannten gelegenen DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim. das den Schrecken nicht vergessen macht. Institut einen Reader zur Vorbereitung auf nach einer Enteignung der Juden gab es Wiedergutmachung gefragt: Wie ging die Der aus Polen stammende Ephraim »Ein Leben aufs neu« ist ein gemeinsa- die Ausstellung an. nicht erst seit der Machtübernahme der Na- Rückerstattung vor sich, wie erfolgreich Ausstellungsausleihe Robinson hatte seine ganze Familie im Ho- mes Projekt des Fritz Bauer Instituts und des tionalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf konnte sie angesichts der gesetzlichen Aus- Unsere Ausstellungen können gegen Gebühr locaust verloren. Als DP kam er 1945 nach ehemaligen Jüdischen Museums (1989–98) Ausstellungsrealisation Konzept: Gottfried Kößler; Recherche: Werner Renz; weitverbreitete antisemitische Klischees zu- gangslage und der weitgehend ablehnenden ausgeliehen werden. Wir beraten Sie gerne Frankfurt-Zeilsheim. Seinen Lebensunter- in der Maximilianstraße in München. Gestaltung: Werner Lott rückgreifen, insbesondere auf das Bild vom Haltung der Bevölkerungsmehrheit sein? bei der Organisation des Begleitprogramms. halt im Lager verdiente er sich als freibe- Unterstützt von der Conference on Jewish Material »mächtigen und reichen Juden«, der sein Die Ausstellung wandert seit dem Jahr Weitere Informationen und ein Ausstellungs- rufl icher Fotograf. In eindrücklichen Bildern Ausstellungsexponate Claims Against Germany, New York. › Albumseiten mit Texten (64 Rahmen, 40 x 49 cm) Vermögen mit List und zum Schaden des 2002 sehr erfolgreich durch Hessen. Da für angebot senden wir Ihnen auf Anfrage zu. hielt er fest, wie die geschundenen Menschen › Porträtfotos (34 Rahmen, 40 x 49 cm) Ausstellungsexponate deutschen Volkes erworben habe. Vor die- jeden Präsentationsort neue regionale Vitri- ihre Belange in die eigenen Hände nahmen, › Ergänzende Bilder (15 Rahmen, 40 x 49 cm) › 57 Rahmen (Format: 42 x 42 cm) sem Hintergrund zeichnet das zweite Kapitel nen entstehen, die sich mit der Geschichte Kontakt ihren Alltag gestalteten, »ein Leben aufs › Erklärungstafeln (13 Rahmen, 24 x 33 cm) › ein Lage plan des Lagers Buna/Monowitz Fritz Bauer Institut, Manuela Ritzheim › Titel und Quellenangaben (7 Rahmen, 24 x 33 cm) › ein Lage plan der Stadt Oświęcim die Stufen der Ausplünderung und die Rolle des legalisierten Raubes am Ausstellungs- Tel.: 069.798 322-33, Fax: -41 neu« wagten. Als Ephraim Robinson 1958 der Finanzbehörden in den Jahren von 1933 ort beschäftigen, »wächst« die Ausstellung. [email protected] in den USA verstarb – in die er zehn Jahre www.fritz-bauer-institut.de/ein-leben-aufs-neu.html www.fritz-bauer-institut.de/ig-farben.html

100 Ausstellungsangebote Einsicht 12 Herbst 2014 101 Fritz Bauer Institut, Katharina Rauschenberger (Hrsg.) Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.) Pädagogische Materialien Sonstige Veröffentlichungen Publikationen Rückkehr in Feindesland? Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Kommentierte Quellenedition des Pädagogisches Zentrums des Fritz Bauer Nachkriegsgeschichte Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2013, Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt des Fritz Bauer Instituts Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, 1.398 S., Hardcover, gebunden, Edition in zwei Kersten Brandt, Hanno Loewy, Krystyna Oleksy (Hrsg.) 240 S., € 29,90, EAN 9783593399805 Teilbänden, € 78,–, EAN 9783593399607 Vor der Auslöschung… Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2013, Band 17 Wissenschaftliche Reihe, Band 22 Fotografi en gefunden in Auschwitz Mirjam Thulin Hrsg. im Auftrag des Staatlichen Museums Auschwitz- Von Frankfurt nach Tel Aviv Frfi tz Bauer Institut, Werner Konitzer (Hrsg.) Jörg Osterloh, Harald Wixforth (Hrsg.) Birkenau. Gina Kehayoff Verlag, München, 2001, Die Geschichte der Erna Goldmann Moralisierung des Rechts Unternehmer und NS-Verbrechen 2. überarb. Aufl ., Bildband, 492 S., ca. 2.400 Farbabb. Materialheft zum Filmporträt Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialisti- Wirtschaftseliten im »Dritten Reich« und in der und Textband, 158 S., € 124,95; ISBN 3-934296-13-0 scher Normativität Bundesrepublik Deutschland Redaktion: Gottfried Kößler und Manfred Levy Frankfurt am Main, 2012, 48 S., € 5,– Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag 2014, Hrsg. von Irmtrud Wojak ISBN 978-3-932883-34-7 230 S., € 29,90, EAN 99783593501680 ca. 412 S., € 34,90, EAN 9783593399799 im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Pädagogische Materialien Nr. 01 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2014, Band 18 Wissenschaftliche Reihe, Band 23 Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main Katalog zur gleichnamigen historisch-dokumentari- Wolfgang Geiger, Martin Liepach, Thomas Lange (Hrsg.) Das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des schen Ausstellung des Fritz Bauer Instituts Verfolgung, Flucht, Widerstand und Hilfe Holocaust erscheint mit freundlicher Unterstützung Snoeck Verlag, Köln, 2004, 872 S., 100 farb. und außerhalb Europas im Zweiten Weltkrieg des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Mitglieder 800 s/w Abb., € 49,80, ISBN 3-936859-08 Das Fritz Bauer Institut ver- Jahrbuch zur Geschichte des Fördervereins können das aktuelle Jahrbuch zum Unterrichtsmaterialien zum Ausstellungsprojekt »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« öffentlicht mehrere Publika- reduzierten Preis von € 23,90 (inkl. Versandkosten) Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Schriftenreihe Frankfurt am Main, 2013, 76 S., € 7,– und Wirkung des Holocaust im Abonnement beziehen. Auschwitz- Birkenau (Hrsg.): tionsreihen, darunter das Jahrbuch und die ISBN 978-3-932883-35-4 Der Auschwitz-Prozess Wissenschaftliche Reihe, jeweils im Cam- Pädagogische Materialien Nr. 02 Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente pus Verlag, und die Schriftenreihe, die in Katharina Stengel und Werner Konitzer (Hrsg.) Raphael Gross Anständig geblieben DVD-ROM, ca. 80.000 S., Directmedia Verlag, verschiedenen Verlagen erscheint. Daneben Opfer als Akteure Nationalsozialistische Moral Berlin, 2004, Digitale Bibliothek, Band 101, € 45,– gibt es Publikationsreihen, die im Eigenver- Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010, 288 S., ISBN 978-3-89853-801-5. Nachkriegszeit. Wissenschaftliche Reihe € 19,95, ISBN 978-3-10-028713-7; Eine Neuaufl age der DVD ist für € 10,– (zzgl. Versand) lag verlegt sind, darunter die Pädagogischen Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2008, Schriftenreihe, Band 26 zu beziehen bei Versand-AS, Berlin: www.versand-as.de Materialien und die Reihe Konfrontationen. 308 S., € 29,90, EAN 978-3-593-38734-5; Reihe »Konfrontationen« Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2008, Band 12 Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.) Eine Rettergeschichte. Arbeitsvorschläge zum Film Video-Interviews, Ausstellungskataloge und Bausteine für die pädagogische Annäherung Micha Brumlik, Karol Sauerland (Hrsg.) »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« »Schindlers Liste« andere Einzelveröffentlichungen ergänzen an Geschichte und Wirkung des Holocaust Werner Konitzer und Raphael Gross (Hrsg.) Umdeuten, verschweigen, erinnern Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945 Pädagogisches Begleitheft zum Oskar und Emile das Publikations-Portfolio des Instituts. Moralität des Bösen Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2013, Schindler Lernzentrum im Museum Judengasse Frank- Eine komplette Aufl istung aller bisher Ethik und nationalsozialistische Verbrechen Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, 384 S., € 14,99, ISBN: 978-3-596-18909-0 furt am Main erschienenen Publikationen des Fritz Bau- Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2009, 257 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39271-4 Schriftenreihe, Band 28 Gottfried Kößler, Petra Mumme Hrsg.: Jüdisches Museum Frankfurt und Fritz Bauer er Instituts fi nden Sie auf unserer Website: 272 S., € 29,90, EAN 978-3-59339021-5; Wissenschaftliche Reihe, Band 18 Identität / Konfrontationen Heft 1 Institut. Texte ausgewählt und bearbeitet von Gottfried Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2009, Band 13 Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin Frankfurt am Main, 2000, 56 S., ISBN 3-932883-25-X Kößler und Martin Liepach. Pädagogische Schriften- www.fritz-bauer-institut.de Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.) und Raphael Gross (Hrsg.): reihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Ulrich Wyrwa (Hrsg.) »Der Letzte der Ungerechten« Bild dir dein Volk! Jacqueline Giere, Gottfried Kößler Band 5. Frankfurt am Main 2005, DIN-A 4 Broschüre, Bestellungen bitte an die Einspruch und Abwehr Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in Filmen Axel Springer und die Juden Gruppe / Konfrontationen Heft 2 28 S., € 4,– (zzgl. Versand), ISBN 3-9809814-1-X. Karl Marx Buchhandlung GmbH Die Reaktion des europäischen Judentums auf die 1942–1975 Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 224 S., 64 überw. Frankfurt am Main, 2001, 56 S., ISBN 3-932883-26-8 Zu beziehen: www.juedischesmuseum.de/408.html Entstehung des Antisemitismus (1879–1914) Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2011 farb. Abb., € 19,90, ISBN: 978-3-8353-1081-0 Publikationsversand Fritz Bauer Institut Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, 208 S., 30 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39491-6 Schriftenreihe, Band 29 Heike Deckert-Peaceman, Uta George, Petra Mumme Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.) Jordanstraße 11, 60486 Frankfurt am Main 372 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39278-3; Wissenschaftliche Reihe, Band 19 Ausschluss / Konfrontationen Heft 3 Ausgerechnet Deutschland! Tel.: 069.778 807, Fax: 069.707 739 9 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2010, Band 14 Raphael Gross November 1938 Frankfurt am Main, 2003, 80 S., ISBN 3-932883-27-6 Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik [email protected] Werner Renz (Hrsg.) Die Katastrophe vor der Katastrophe Essayband zur Ausstellung des Jüdischen Museums Liliane Weissberg (Hrsg.) Interessen um Eichmann München: Verlag C. H. Beck, 2013, 128 S., € 8,95 Frankfurt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, www.karl-marx-buchhandlung.de Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler, Oliver Tauke Affi nität wider Willen? Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Beck`sche Reihe: bsr – C.H. Beck Wissen; 2782 Ghetto / Konfrontationen Heft 4 2010, 192 S., 100 farb. Abb., € 24,95, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Kameradschaften ISBN 978-3-406-65470-1; Schriftenreihe, Band 31 Frankfurt am Main, 2002, 88 S., ISBN 3-932883-28-4 ISBN 978-3-89479-583-2 Liefer- und Zahlungsbedingungen Frankfurter Schule Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2012, Eine Publikation des Leo Baeck Institute London Lieferung auf Rechnung. Die Zahlung ist sofort fällig. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2011 332 S., € 34,90, EAN 9783593397504 Verena Haug, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler Fritz Backhaus, Liliane Weissberg, Bei Sendungen innerhalb Deutschlands werden ab 236 S., 18 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39490-9; Wissenschaftliche Reihe, Band 20 Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) Deportationen / Konfrontationen Heft 5 Raphael Gross (Hrsg.) einem Bestellwert von € 50,– keine Versandkosten be- Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2011, Band 15 Fritz Bauer. Der Staatsanwalt Frankfurt am Main, 2003, 64 S., ISBN 3-932883-24-1 Juden. Geld. Eine Vorstellung rechnet. Unter einem Bestellwert von € 50,– betragen Katharina Stengel NS-Verbrechen vor Gericht Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen die Versandkosten pauschal € 3,– pro Sendung. Für Fritz Bauer Institut, Sybille Steinbacher (Hrsg.) Hermann Langbein Begleitband zur Ausstellung des Fritz Bauer Instituts Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer Museums Frankfurt und des Fritz Bauer Instituts. Lieferungen ins Ausland (Land-/Seeweg) werden Ver- Holocaust und Völkermorde Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungs- und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, in Todesmärsche und Befreiung / Konfrontationen Heft 6 Ausstellung vom 25. April bis 6. Oktober 2013 im sandkosten von € 5,– pro Kilogramm Versandgewicht Die Reichweite des Vergleichs politischen Konfl ikten der Nachkriegszeit Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium Frankfurt am Main, 2003, 56 S., ISBN 3-932883-29-2 Jüdischen Museum Frankfurt am Main. in Rechnung gestellt. Besteller aus dem Ausland erhal- Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2012, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2012, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, ten eine Vorausrechnung (bei Zahlungseingang wird 248 S., € 24,90, EAN 9783593397481 635 S., € 34,90, EAN 9783593397887 300 S., zahlr. Abb., € 29,90 Alle Hefte der »Konfrontationen«-Reihe sind zum 436 S., zahlr. Abb., € 19,90 das Paket versendet). Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2012, Band 16 Wissenschaftliche Reihe, Band 21 ISBN: 978-3-5935-0105-5; Schriftenreihe, Band 32 Preis von € 7,60 (ab 10 Hefte € 5,10) erhältlich. ISBN 978-3-59339-923-2

102 Publikationen Einsicht 12 Herbst 2014 103 Impressum Fördern Sie mit uns das Nachdenken

Kontakt: über den Fritz Bauer Institut Grüneburgplatz 1 Holocaust D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de

Bankverbindung: Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Frankfurter Sparkasse Foto: Schindler-Foto-Report BLZ: 500 502 01, Konto: 321 901 SWIFT/BIC: HELADEF1822 IBAN: DE91 5005 0201 0000 3219 01 Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19 Einsicht 12 Finanzamt Frankfurt am Main III Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13. Vorstand des Fördervereins Bulletin des Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut, Jutta Ebeling (Vorsitzende), Brigitte Tilmann (stellvertretende Vor- Direktor: Raphael Gross (V.i.S.d.P.) Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung sitzende), Gundi Mohr (Schatzmeisterin), Prof. Dr. Eike Hennig Fritz Bauer Instituts Redaktion: Werner Konitzer, Werner Lott, des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung (Schriftführer), Beate Bermanseder, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger, unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Mai, Klaus Schilling, David Schnell (Beisitzer/innen) Herbstausgabe, Oktober 2014 Werner Renz Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen 6. Jahrgang Anzeigenredaktion: Dorothee Becker Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust ISSN 1868-4211 Lektorat: Gerd Fischer, Renate Feuerstein Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Gestaltung/Layout: Werner Lott Main. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürger- Titelabbildung: Herstellung: Vereinte Druckwerke schaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stif- Zwangsarbeiter bei Aufbauarbeiten Frankfurt am Main Aufgaben des Fördervereins tungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. auf dem Werksgelände des Daimler Erscheinungsweise: zweimal jährlich Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegrün- Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören Groß-K-Werkes in Minsk – beaufsichtigt (April/Oktober) det worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des durch einen Mitarbeiter der deutschen Aufl age: 5.500 dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und Organisation Todt, September 1942. ideelle und fi nanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlreicher Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. Foto: Mercedes-Benz Classic Manuskriptangebote: Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Der Textangebote zur Veröffentlichung in Verein sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und Werden Sie Mitglied! Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts die Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– bitte an die Redaktion. Die Annahme Öffentlichkeit die Erkenntnisse, die das Institut im universitären Raum Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer mit hohen wissenschaftlichen Standards erarbeitet hat. Er schafft Frankfurter Sparkasse, SWIFT/BIC: HELADEF1822 Begutachtung durch die Redaktion. Für neue Kontakte und stößt gesellschaftliche Debatten an. IBAN: DE43 5005 0201 0000 3194 67 unverlangt eingereichte Manuskripte, Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei zunehmend knapper wer- Werben Sie neue Mitglieder! Fotos und Dokumente übernimmt das denden öffentlichen Mitteln –, die Projekte und den Ausbau des Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die Fritz Bauer Institut keine Haftung. Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Bestand langfristig Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Gerne senden wir zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial zur Fördermit- Copyright: gliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. QR-Code: Link zu allen © Fritz Bauer Institut Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust bisher erschienenen Stiftung bürgerlichen Rechts Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene Ausgaben von Einsicht. Förderverein Bulletin des Fritz Bauer Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Fritz Bauer Institut e.V. Instituts als pdf-Dateien. mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden [fritz-bauer-institut.de/ Einsicht erscheint mit Unterstützung des und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Grüneburgplatz 1 einsicht.html] Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über 60323 Frankfurt am Main Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen Telefon: +49 (0)69.798 322-39 refl ektieren und bereichern sollen. Telefax: +49 (0)69.798 322-41 Mitglieder des Fördervereins können das Jahrbuch des Fritz Bauer [email protected] Instituts zum Vorzugspreis im Abonnement beziehen. www.fritz-bauer-institut.de 104 Impressum Einsicht 12 Herbst 2014 105 Wolfgang Benz Günter Morsch · Imke Hansen · Enrico Heitzer · Izabela A. Dahl · Sinti und Roma: Agnes Ohm (Hrsg.) Katarzyna Nowak (Hrsg.) Jorunn Sem Fure (Hrsg.) Die unerwünschte Minderheit Terror in der Provinz Brandenburg Ereignis & Gedächtnis Skandinavien als Zuflucht für Über das Vorurteil Antiziganismus Frühe Konzentrationslager 1933/34 Neue Perspektiven auf die Geschichte der jüdische Intellektuelle 1933–1945 ISBN: 978-3-86331-205-3 ISBN: 978-3-86331-211-4 nationalsozialistischen Konzentrationslager ISBN: 978-3-86331-194-0 315 Seiten · 22,– € 176 Seiten · 19,– € ISBN: 978-3-86331-190-2 326 Seiten · 22,– € Die Minderheit der »Zigeuner« erfuhr seit Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanz- 284 Seiten · 22,– € Nach der Machtübernahme der Nationalsozia- jeher Diskriminierung und Verfolgung. Im ler am 30. Januar 1933 setzte auch der Terror Die Beiträge des 16. Workshops zur Geschichte listen sahen sich Tausende Juden und Regime- »Dritten Reich« gipfelten sie im Völkermord, gegen politische Gegner ein. Örtliche SA- der Konzentrationslager untersuchen national- gegner zur Flucht gezwungen und damit vor den die Mehrheitsgesellschaft vergessen oder Standarten, SS und Polizei verschleppten vor sozialistische Lager samt ihrer Nachgeschichte die Herausforderung gestellt, sich in der Frem- nie wahrgenommen hat. Die Ausgrenzung allem Kommunisten und Sozialdemokraten in und nehmen Lebensläufe von Überlebenden, de eine neue Existenz aufzubauen. Verglichen der Sinti und Roma dauerte auch nach 1945 provisorische Haftstätten. Bis Sommer 1933 von Orten und Geschichtsbildern aus einer mit ihren europäischen Nachbarn nahmen die an: Tradierte Vorurteile sind weiter wirksam entstanden allein in der preußischen Provinz wahrnehmungs- und erfahrungsgeschichtlichen skandinavischen Länder nur wenige Flücht- und richten sich heute gegen zuwandernde Brandenburg neun Konzentrationslager in Perspektive in den Blick. Die Konfrontation von linge auf. Dennoch wurden sie zu wichtigen Roma aus Südosteuropa, die als Gefahr für leer stehenden Fabrikgebäuden, Garagen, Ereignis und Gedächtnis, von Erfahrung und Er- Zentren des Exils. Emigranten leisteten be- Gesellschaft, Sozialsystem und Arbeitsmarkt Schulen oder Kellern. Viele der Inhaftierten innerung gewährt neue Einsichten in ein immer deutende Beiträge zu Kunst, Kultur, Wissen- empfunden werden. überlebten die Torturen nicht. noch nicht ausreichend erforschtes Themenfeld. schaft und Politik der Aufnahmeländer.

Sophie Wagenhofer Manfred Scheck Peter Seibert · Jana Piper · René Moehrle Ausstellen, Verorten, Zwangsarbeit und Massensterben Alfonso Meoli (Hrsg.) Judenverfolgung in Triest während Partizipieren Politische Gefangene, Fremdarbeiter und Anne Frank Faschismus und Nationalsozialismus Das Jüdische Museum in Casablanca KZ-Häftlinge in Vaihingen an der Enz 1933 bis 1945 Mediengeschichten 1922–1945 ISBN: 978-3-86331-198-8 ISBN: 978-3-86331-200-8 ISBN: 978-3-86331-199-5 ISBN: 978-3-86331-195-7 264 Seiten · 22,– € 295 Seiten · 22,– € 272 Seiten · 22,– € 520 Seiten · 24,– € Das 1998 eröffnete Musée du Judaïsme Ma- Vaihingen an der Enz war eng in das natio- Kaum eine andere Erzählung des 20. Jahrhun- Juden waren seit Jahrhunderten fester Be- rocain ist die bisher einzige Institution dieser nalsozialistische Terrorsystem eingebunden. derts ist so oft und in so unterschiedlichen standteil der nordadriatischen Hafenstadt. Art in einem arabischen Land. Angesichts Das Arbeitshaus auf Schloss Kaltenstein war Medien realisiert worden wie die von Anne Antisemitismus war in den über 500 Jahren des Nahostkonflikts hat es einen besonderen Sammelpunkt für das KZ auf dem Heuberg. Frank. In Theater und Film, in Büchern, digi- Habsburgerherrschaft ein wiederkehrendes Stellenwert und eine komplexe politische Di- 1944 begannen nahe der Stadt Arbeiten für das talen Medien, Graphic Novels, in der Musik, Thema. In Italien, dem Triest nach dem Ersten mension. Sophie Wagenhofer beschreibt das Rüstungsprojekt »Stoffel«. Ein alter Steinbruch in Ausstellungen, Gedenkstätten, Denkmälern Weltkrieg zufiel, waren Juden emanzipiert. In Museum, die Ausstellung und die Veranstal- sollte zum »Bunkerwerk« ausgebaut werden, in ist die Geschichte des jüdischen Mädchens Triest hatten sie hohe Positionen in der Wirt- tungen und fragt, welches Bild von jüdischer dem KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aus der adaptiert worden. Der Band befasst sich mit schaft inne, einige machten als Faschisten Kar- Kultur in Marokko gezeichnet wird und wie Sowjetunion eingesetzt wurden. Bis zur Befrei- Medialisierungen einer Erzählung, die fester riere. Dennoch wurde die Stadt Versuchslabor Juden innerhalb der Geschichte und Gesell- ung am 7. April 1945 starben im später errich- Bestandteil der übernationalen Erinnerung an eines Staatsantisemitismus, den Mussolini schaft des Landes verortet werden. teten Krankenlager rund 1500 Menschen. den Holocaust ist. 1938 von Triest aus ankündigte.

Ansbacher Straße 70 Metropol Verlag D–10777 Berlin 106 Telefon (030) 23 00 46 23 Neuerscheinungen Herbst 2014 (Auswahl) Telefax (030) 2 65 05 18 Alle Titel unter: www.metropol-verlag.de [email protected]