Im Herzen der Hölle Das von Auschwitz-Birkenau und seine Wahrnehmung nach 1945

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Tamara GREGORC

am Centrum für jüdische Studien Begutachter: Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Gerald Lamprecht

Graz, 2020 Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...... 3 2. KL Auschwitz-Birkenau ...... 6 2.1. Die Krematorien ...... 9 3. Die „Funktionshäftlinge“ ...... 13 3.1. Hierarchie der „Häftlingsselbstverwaltung“ ...... 15 3.2. Jüdische Funktionshäftlinge ...... 17 4. Das Sonderkommando Auschwitz-Birkenau ...... 19 4.1. Die Selektion und der Zugangsschock ...... 27 4.2. Die Aufgaben ...... 34 4.2.1. Die Entkleidungsräume und Gaskammern ...... 35 4.2.2. Umgang mit den hinterlassenen Besitztümern ...... 37 4.2.3. Der Umgang mit den Leichen ...... 37 4.3. Beziehung zu anderen Sonderkommando-Häftlingen ...... 41 4.4. Die Beziehung zu den SS-Männern ...... 43 4.5. Wahrnehmung des durch andere Häftlinge ...... 44 5. Die Wahrnehmung des Sonderkommandos nach dem Krieg ...... 50 5.1. Der Widerstand ...... 55 5.1.1. Aufzeichnungen ...... 55 5.1.2. Die Fotografien ...... 56 5.1.3. Die Widerstandsbewegung des Sonderkommandos ...... 60 5.2. Schweigen gegenüber den Opfern ...... 66 6. Die Forschung ...... 70 6.1. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ...... 70 6.1.1. Die Prozesse und ihr Einfluss auf die Holocaust-Forschung ...... 73 6.2. Die Auseinandersetzung mit dem Sonderkommando ...... 83 6.2.1. Quellen der Forschung ...... 86 6.2.2. Die Forschung ...... 95 7. Conclusio ...... 108 8. Literaturverzeichnis ...... 111 8.1. Primärliteratur ...... 111 8.2. Sekundärliteratur ...... 112 9. Abbildungsverzeichnis ...... 118

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1. Einleitung

Bald werden wir mit unseren eigenen jüdischen Augen Zeugen werden und zusehen müssen bei unserer eigenen Katastrophe. Fünftausend Menschen, fünftausend Juden, fünftausend blutvolle zappelnde, blühende Leben, Frauen, Kinder, alte und junge Männer, Menschen jeden Geschlechts und Alters werden bald von den gut geschulten Verbrechern mit ihren MGs, Granaten und Gewehren […] gejagt, getrieben und mörderisch geschlagen werden, damit sie betäubt und verwirrt hastig dem Tod in die Arme laufen. Und wir, ihre eigenen Brüder, werden noch dabei helfen müssen. Helfen, sie von den Autos herunterzuholen, sie in den Bunker zu führen, sie splitternackt auszuziehen. Und dann werden wir sie, wenn sie nun ganz fertig sind, in den Todesbunker begleiten helfen – ins Grab.1 Das Konzentrationslager Auschwitz war das größte und tödlichste Todeslager und vereinte Konzentrations-, Vernichtungs- und Sklavenarbeitslager.2 In diesem „unermessliche(n) Schlachthof für Juden“3 mussten jüdische Häftlinge, die eigens selektiert wurden, im sogenannten „Sonderkommando“ arbeiten und waren gezwungen an der Ermordung ihres Volkes mitzuhelfen. Insgesamt gab es sechs Vernichtungslager, in denen jeweils Sonderkommandos eingesetzt wurden, welche den Vernichtungsprozess begleiteten. In dieser Arbeit wird zwar kurz ein Blick auf verschiedene Sonderkommandos geworfen, jedoch steht das Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau im Fokus. Der Grund dafür beruht auf der Tatsache, dass Auschwitz das größte der insgesamt sechs Vernichtungslager4 war und mit ca. einer Million Opfer „zur Metapher für das Menschheitsverbrechen“5 wurde. Laut Gideon Greif wurde der Name „Auschwitz“ zum „Synonym für die Shoah des jüdischen Volkes schlechthin“.6 Das Sonderkommando wird in vielen einschlägigen Werken zum Holocaust behandelt, jedoch wird diesen Häftlingen meistens nur ein kurzes Kapitel eingeräumt. Umfassende Bücher, die sich ausschließlich mit dem Sonderkommando beschäftigen, gibt es nur wenige. Eines der Hauptwerke, das sich mit verschiedenen Aspekten rund um das Sonderkommando beschäftigt, ist Sonja Knopps „Wir lebten mitten im Tod.“ Das „Sonderkommando“ in Auschwitz in schriftlichen und mündlichen Häftlingserinnerungen.7 Die Monografie behandelt neben der

1 Salmen Gradowski, Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos, 2019, 180. 2 Vgl. Michael Berenbaum, Preface, in: Yisrael Gutman / Michael Berenbaum, Anatomy of the Auschwitz Death Camp, Washington 1994, VI–IX, VII. 3 Rudolf Vrba, Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz, Frankfurt am Main 2010, 7. 4 Vgl. Gideon Greif, Between Sanity and Insanity. Spheres of Everyday Life in the Auschwitz-Birkenau Sonderkommando, in: Jonathan Petropoulos / John K. Roth (Hg.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in and Its Aftermath, New York–Oxford 2005, 37–60, 38. 5 Wolfgang Benz / Miriam Bistrović / Claudia Curio, Auschwitz, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 5, München 2007, 79–173, 79. 6 Gideon Greif, „Wir weinten tränenlos…“. Augenzeugenberichte des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz (Die Zeit des Nationalsozialismus), Köln 2018, 22–23. 7 Sonja Knopp, „Wir lebten mitten im Tod.“ Das „Sonderkommando“ in Auschwitz in schriftlichen und mündlichen Häftlingserinnerungen (Zivilisation & Geschichte 4), Frankfurt am Main 2009, 33. 3

Selektion für das Kommando und den verschiedenen Aufgaben auch die Sicht der Häftlinge und ihre räumliche, soziale und emotionale Isolation. Wie sich die Forschung in Bezug auf das Sonderkommando entwickelte, ist ein Teil dieser Arbeit.

Die zentrale Frage dieser Diplomarbeit lautet, wie die Häftlinge des Sonderkommandos nach 1945 von der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Die Häftlinge des Sonderkommandos gehörten zu den sogenannten „Funktionshäftlingen“, welchen vielfach die „Opferrolle“ abgesprochen und Kollaboration mit den Mördern vorgeworfen wurde. Jedoch waren die Betroffenen zunächst „normale“ Häftlinge, welche aus ihren Häusern getrieben und in Ghettos interniert wurden sowie Familienangehörige verloren und psychische Beschwerden aufgrund des Traumas erlitten haben.8 Des Weiteren waren diese „Kollaborationen“ erzwungen.9 Im Fall des Sonderkommandos wurden die Häftlinge während der speziellen „Selektion“ über die Art der zu verrichtenden Tätigkeit meistens völlig im Unklaren gelassen oder sie wurden bewusst getäuscht.10 Obwohl die zu verrichtende Arbeit, v. a. in Bezug auf die Sonderkommando-Häftlinge, traumatisierend und „unmenschlich“ war, hatten Funktionshäftlinge genug zu essen und eigene Betten in einem warmen Raum. Aus diesem Grund wurden sie oft von anderen Häftlingen beneidet, verachtet und als Kollaborateure wahrgenommen.11 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sahen sich die meisten jüdischen Funktionshäftlinge, die überlebten, mit verschiedenen Anschuldigungen konfrontiert – so auch die Sonderkommando-Überlebenden. Mithilfe verschiedener Zeitzeugeninterviews und -berichte wird zunächst die Rolle des Sonderkommandos im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau geklärt: Inwiefern gehören Sonderkommando-Häftlinge zu den „Funktionshäftlingen“? Welche Aufgaben hatten die Mitglieder dieses Kommandos zu verrichten und welche Dilemmata haben sich in Folge dieser ergeben? Damit diese Fragen geklärt werden können, wird nach einer kurzen Darstellung der Entstehung des Lagerkomplexes Auschwitz auf den Begriff der „Funktionshäftlinge“ eingegangen. In diesem Kapitel werden die verschiedenen Arten von Funktionären kurz erklärt und es wird speziell auf jüdische Funktionshäftlinge eingegangen. Anschließend wird die Selektion zum Sonderkommando sowie deren Aufgaben und soziale Beziehungen untereinander und zu den

8 Vgl. Revital Ludewig-Kedmis, Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoa (Psyche und Gesellschaft), Gießen 2001, 12. 9 Vgl. ebd., 15. 10 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 33. 11 Vgl. Gabriele von Arnim, Am Ort des Grauens, DIE ZEIT, 31.7.2008, URL: https://www.zeit.de/2008/32/P- Venezia-NL (abgerufen am 26.05.2020). 4

SS-Männern erläutert. Im Hauptteil der Arbeit geht es zunächst um die Wahrnehmung des Sonderkommandos durch andere Häftlinge. Danach folgt ein Kapitel, das sich der Wahrnehmung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs widmet. Hierbei wird vor allem auf die unterschiedlichen Anschuldigungen eingegangen, die wiederum aus der Sicht der Häftlinge näher beleuchtet werden. Im letzten Teil beschäftigt sich die Arbeit mit der Entwicklung der Holocaust-Forschung an sich und der Auseinandersetzung mit dem Sonderkommando in dieser. Dabei werden vor allem die verschiedenen Quellen, wie etwa die Handschriften der Sonderkommando-Häftlinge als auch die Zeitzeugeninterviews, näher besprochen.

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2. KL Auschwitz-Birkenau

Auschwitz war und bleibt Symbol für ein unmenschliches Verbrechen an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern; für ein Verbrechen aus einem Ausbruch von Hass und Egoismus, die zynisch zur Staatsraison, zur Weltanschauung und zum Patriotismus proklamiert wurden.12 Die polnische Stadt Oświęcim, die gerade einmal 12.000 Einwohner zählte, befand sich an der Schnittstelle der Eisenbahnlinien von Kattowitz, Krakau, Skawina und Oderberg und war bereits unter österreichischer Herrschaft in „Auschwitz“ umbenannt worden.13 Auch unter den Deutschen, welche Oświęcim am 4. September 1939 einnahmen, sollte die Stadt wieder so heißen. Die Region wurde mithilfe eines brutalen Besatzungsregimes „germanisiert“ und wirtschaftlich ausgebeutet. Aufgrund der vielen Festnahmen von polnischen Intellektuellen, Geistlichen usw. waren die örtlichen Gefängnisse bald überfüllt. Infolgedessen wurden geeignete Standorte für die Errichtung eines Konzentrationslagers gesucht. Schließlich fiel die Wahl auf das ehemalige Sachsengängerlager14 in Oświęcim, da dieses bereits aus 22 gemauerten Häusern und 90 Holzbaracken bestand15, die zur Zeit der Habsburger errichtet worden waren.16 Für die Umbauarbeiten wurden etwa 30 deutsche Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen und zwischen 200 und 300 Jüdinnen und Juden aus der Stadt Oświęcim eingezogen.17 Als offizieller Gründungstag des KL Auschwitz gilt der 14. Juni 1940, an dem 728 polnische Häftlinge aus Tarnów in Auschwitz eintrafen.18 Auschwitz war nach Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück das siebte Konzentrationslager im Deutschen Reich.19 Das Konzentrationslager Auschwitz, später „Stammlager“ oder „Auschwitz I“ genannt, war vom Mai 1940 bis ins Frühjahr 1942 gleich

12 Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990, Oświęcim 1993, 7. 13 Vgl. Jean-Claude Pressac, Die Krematorien in Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München–Zürich 1994, 10. 14 „Sachsengänger“ ist ein „umgangssprachlicher polnischer Ausdruck für in Preußen ‚arbeiten gehen‘“, d. h. es handelte sich um ein Lager, in dem etwa 12.000 Arbeiter untergebracht wurden. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 80. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Bernd C. Wagner, Gerüchte, Wissen, Verdrängung. Die IG Auschwitz und das Vernichtungslager Birkenau, in: Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Bernd C. Wagner (Hg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik (Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz 4), München 2000, 231–248, 231. 17 Vgl. Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz, 21. 18 Vgl. ebd., 81. 19 Vgl. Sybille Steinbacher, Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau 1940–1945, in: Raphael Gross / Werner Renz (Hg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition 1 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 22), Frankfurt am Main–New York 2013, 17–54, 18. 6 bzw. ähnlich wie jedes andere Lager.20 Erst zwei Jahre nach der Inbetriebnahme des KL Auschwitz wurde es zum Zentrum des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden.21 Zunächst sollte das Lager als „Quarantänelager“ für ca. 10.000 Häftlinge verwendet werden. Für den Aufbau wurde Rudolf Höß zum Kommandanten des neuen Lagers ernannt22, der durch seinen Ehrgeiz und sein Pflichtbewusstsein eine zentrale Rolle für die Entstehung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau spielte. Als Stellvertreter im KL Sachsenhausen wurde er am 29. April 1940 mit der Leitung des noch nicht in Betrieb gesetzten Konzentrationslagers Auschwitz betraut. 23 Der berühmte Eingang des Stammlagers24 mit dem zynischen Spruch „Arbeit macht frei“ über dem Eingangstor ist – nach Jean-Claude Pressac – Höß zu verdanken.25 Höß beschäftigte sich des Weiteren sehr eingehend mit den verschiedenen Erstickungsmethoden, wie z. B. der Tötung mit Karbonmonoxid, und besuchte verschiedene Orte, an denen diese angewandt wurden26, um eine geeignete Tötungsmethode für Auschwitz zu finden. Da sich alle Vorgehensweisen als zu langsam für die erwarteten Massentransporte herausstellten, wurde nach erfolgreichen Versuchen das Gas Zyklon B ausgewählt27, das in Auschwitz seit Juli 1940 für die Vernichtung von Ungeziefer eingesetzt wurde.28 Im Stammlager befand sich ein Krematorium, das bis zu den ersten Vergasungsversuchen am 3. September 1941 im Keller von Block 11 zur Einäscherung der Toten, die auf „natürlicher“ Weise gestorben waren, diente.29 Es befand sich im Pulvermagazin der Kaserne, das die SS anfangs als „Bunker“ bezeichnete, und war mit Doppelmuffelöfen eingerichtet. Am 15. August 1940 wurde das erste Mal ein Verstorbener im „Bunker“ eingeäschert.30 Nachdem sich der Keller in Block 11 aufgrund der fehlenden Lüftung als nicht optimal für die Vergasung herausstellte, wurde der Leichenraum des Krematoriums zur Gaskammer umfunktioniert.31 Doch jede Vergasungsaktion beeinträchtige den Lageralltag, weil die Umgebung des Krematoriums vollständig abgeriegelt werden musste. Aus diesem Grund wurde die Vergasung

20 Vgl. Georges Wellers, Auschwitz, in: Eugen Kogon / Hermann Langbein / Adalbert Rückerl, Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1983, 194–236, 194. 21 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 99. 22 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 81. 23 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 11–12. 24 Das Stammlager Auschwitz hatte in weiterer Folge ca. 40 weitere Nebenlager. Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 23. 25 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 12. 26 Vgl. ebd., XXI. 27 Vgl. Hans Buchheim / Martin Brosat / Hans-Adolf Jacobsen / Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, München 1994, 653. 28 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, XXI. 29 Vgl. Wellers, Auschwitz, 194. 30 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 14–15. 31 Vgl. ebd., 42–43. 7 nach Birkenau verlegt.32 Dennoch waren die Vergasungsaktionen im Stammlager aufgrund der starken Rauchentwicklung nicht unbemerkt geblieben.33 Außerdem kann angenommen werden, dass polnische Zivilarbeiter kurz nach den ersten Versuchen die Informationen über die Ermordungen außerhalb des Lagers verbreitet hatten.34 Mit dem Bau des Außenlagers Birkenau, das zunächst nur als Kriegsgefangenenlager gedacht war und drei Kilometer nordwestlich des Stammlagers lag35, wurde der SS-Hauptsturmführer Karl Bischoff betraut, weil Höß, der seit 30. Januar 1941 zum SS-Sturmbannführer befördert wurde, mit dem Ausbau des Stammlagers überfordert war. Der erste Plan für Birkenau, später auch „Auschwitz II“ genannt, stand bereits am 7. Oktober 1941 und sah drei Sektoren vor: ein Quarantänelager sowie die Wohnlager I und II. Der zweite Plan, der eine Woche später entworfen wurde, beinhaltete bereits eine Eisenbahnlinie.36 Im Aussehen und im Aufbau unterschied sich Birkenau fundamental vom Stammlager, denn es war nach verschiedenen Funktionen aufgeteilt, wobei die Hauptfunktion der Völkermord an den Jüdinnen und Juden war.37 Das KL Auschwitz wurde mehrere Male umstrukturiert, wie beispielsweise am 22. November 1943, als das Konzentrationslager in drei formal selbstständige Hauptlager mit eigener Verwaltung aufgeteilt wurde: Auschwitz I – Stammlager, Auschwitz II – Birkenau, das am 25. November 1944 wieder dem Stammlager unterstellt wurde, und Auschwitz III – das 1944 in „Monowitz“ umbenannt wurde.38 Auschwitz war das erste Konzentrationslager, das für nicht-deutschsprachige Häftlinge errichtet wurde. Das Überleben der Häftlinge hing davon ab, ob die deutschen Befehle verstanden und schnell befolgt werden konnten. In den Jahren 1940/41 bestand die Mehrzahl der Häftlinge noch aus polnischen Gefangenen, doch der Anteil der jüdischen Insassen stieg rasant und machte schließlich ab 1943 die Mehrheit aus.39 Nach eigenen Angaben betraute Heinrich Himmler Höß mit dem Befehl, einen geeigneten Ort für die Durchführung der „großen Aktion“, d. h. der vollständigen Vernichtung von Jüdinnen und Juden, zu finden. Er habe Auschwitz auserwählt, „einmal wegen der günstigen verkehrstechnischen Lage und zweitens lässt sich das Gebiet leicht absperren und tarnen“.40 Auschwitz befand sich – nach Raul Hilberg – an einer der wichtigsten Verkehrsadern. Der

32 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 43. 33 Vgl. Wagner, Gerüchte, Wissen, Verdrängung, 234. 34 Vgl. Wagner, Gerüchte, Wissen, Verdrängung, 246. 35 Vgl. Wellers, Auschwitz, 194. 36 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 31. 37 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 24. 38 Vgl. ebd., 97. 39 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 99. 40 Zit. n. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, XIX. 8

Bahnhof umfasste 44 Gleise, die ca. 3,2 Kilometer lang waren.41 So wurde es Anfang 1942 von Himmler zum Zentrum für die Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden bestimmt.42 Es sollte nach Himmler zur größten Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten werden. Diesem Zweck diente nicht nur die Vergasung der Menschen, sondern auch der Alltag im Konzentrationslager. Schon bei der Ankunft der Deportierten wurden sie in „arbeitsfähig“ und „arbeitsunfähig“ unterteilt. Zu den „Arbeitsunfähigen“ gehörten zumeist alte Menschen, Schwangere, Kinder sowie Mütter und diese wurden sogleich ermordet.43 Die „Arbeitsfähigen“ kamen zunächst in „Quarantäne“, um ihren Willen zu brechen und ihren Lebenswillen und ihre Widerstandskraft zu zerstören. Diejenigen, die die „Quarantäne“ überlebten, starben oftmals aufgrund der unzureichenden Unterkünfte, der mangelhaften Ernährung und der schweren körperlichen Arbeit.44 Das Konzentrationslager Auschwitz war mit mehr als einer Million Opfer das größte Vernichtungslager überhaupt und das mit den meisten jüdischen Opfern.45

2.1. Die Krematorien

Wie bereits erwähnt, fanden im Sommer 1941 die ersten Vergasungsversuche mit dem Giftgas Zyklon B, das bis dahin als Schädlingsbekämpfungsmittel verwendet wurde, im Keller von Block 11 (damals Block 13) statt. Nachdem sich der Ort als nicht geeignet herausstellte, wurde der Vergasungsprozess in die Leichenhalle des Krematoriums I im Stammlager verlegt. Die umfunktionierte Gaskammer war ein Jahr lang in Betrieb und wurde später nur noch als Reserveanlage verwendet. Ab Anfang 1942 wurde die Vernichtung allmählich ins Außenlager Birkenau verlegt46, weil die Vertuschung der Vergasungen zu aufwendig war:

Nun wurden die Motoren der Lastwagen angelassen, die immer noch in der Nähe standen. Ihr Lärm sollte verhindern, dass man im Lager das Geschrei der Sterbenden in der Gaskammer und ihr Pochen gegen die Türen hören konnte. […] Deshalb wurden die Kolonnen der Deportierten meistens ganz früh, wenn das Lager noch schlief, oder abends nach dem Appell ins ‚Bad‘ geführt. Im Lager wurde dann Blocksperre verhängt, und niemand durfte den Block verlassen […].47 Im Mai 1942 beschloss Höß die Vergasung der Opfer in einem Bauerngehöft, das sich am Rande eines Birkenwaldes befand, durchzuführen.48 Das aus zwei Zimmern bestehende Haus,

41 Vgl. Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz. Mit 70 Fotos, 66 Dokumenten und 7 Karten, Mainz 1981, 96. 42 Vgl. ebd., 51. 43 Vgl. Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus (Grundkurs neue Geschichte), Göttingen 2008, 175. 44 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 100–101. 45 Vgl. ebd., 79. 46 Vgl. ebd., 121–122. 47 Filip Müller, . Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz, München 1979, 62–63. 48 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 49. 9 auch „rotes Haus“ oder im Jargon der SS-Männer „Bunker 1“49 genannt, wurde mit abgedichteten Türen und zugemauerten Fenstern zur Gaskammer umfunktioniert. Um das Zyklon B in die improvisierte Gaskammer schütten zu können, wurden in Kopfhöhe abdichtbare Löcher ins Mauerwerk geschlagen. Die Inbetriebnahme erfolgte Ende Mai 1942.50 Später wurde der Bunker 1 durch eines der vier neuen Krematorien ersetzt.51 Ein zweites Bauernhaus, das nicht weit vom „roten Haus“ lag, wurde ebenfalls umfunktioniert und in vier kleine Gaskammern eingeteilt. Der „Bunker 2“, wegen des weißen Anstrichs auch „weißes Haus“ genannt, wurde Ende Juni 1942 in Betrieb genommen.52 Zunächst mussten sich die Opfer im Freien ausziehen. Nachdem Himmler das Konzentrationslager besuchte und das Auskleiden der Jüdinnen und Juden im Freien als unordentlich empfand, wurden vier Pferde-Baracken aus Holz, die als Auskleideräume53 fungieren sollten, in Auftrag gegeben.54 Eine Baracke gehörte zum Bunker 1 und die übrigen drei zu Bunker 2. Die Opfer mussten sich darin auskleiden und dann nackt zu den Bunkern gehen.55 Damit der Vernichtungsprozess schneller vonstattengeht, sollten in Birkenau vier Krematorien gebaut werden, in denen sich jeweils ein Entkleidungsraum, eine oder mehrere Gaskammern sowie Verbrennungsöfen befanden, d. h. die Vernichtung konnte an einem einzigen Ort durchgeführt werden.56 Die leistungsfähigen Krematorien versprachen einen erheblichen Fortschritt, da die Beseitigung der Leichen zuvor ein Problem darstellte. Zwischen Mai und September 1942 wurden sie vom sogenannten „Begrabungskommando“, das aus etwa 150 bis 400 Mann bestand57, vergraben. Aufgrund der Gefahr, dass die Verwesungsabsonderungen das Grundwasser verseuchen könnten, musste das Sonderkommando ab dem 21. September alle Leichen exhumieren und auf einem Scheiterhaufen verbrennen.58 Das Krematorium IV wurde mit dem 22. März 1943 als erstes fertiggestellt.59 Das Krematorium II wurde offiziell am 31. März 1943 und das Krematorium V am 4. April 1943 übergeben, wobei im letzteren die speziellen Türen für die Gaskammer noch nicht eingesetzt waren.60

49 Vgl. Wellers, Auschwitz, 209. 50 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 49. 51 Vgl. Wellers, Auschwitz, 206. 52 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 51–52. 53 Bis zum Frühjahr 1942 wurden die Opfer samt ihrer Kleidung vergast. Jedoch nahm die Entkleidung von Leichen mehr Zeit in Anspruch und die Kleidung war danach unbrauchbar. Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 21. 54 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 56. 55 Vgl. Wellers, Auschwitz, 206–207. 56 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 26. 57 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 25. 58 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 72. 59 Vgl. ebd., 97. 60 Vgl. ebd., 100. 10

Krematorium III wurde am 24. Juni, nach Wellers61 am 25., 1943 übergeben.62 Die Vernichtungsanlagen befanden sich am westlichen Rand des Lagerkomplexes63 und waren näher an den Baracken der anderen Häftlinge, als die beiden Bunker.64 Die identisch gebauten Krematorien II und III, bei welchen sich die Nebenräume, wie z. B. der Entkleidungsraum, im Keller befanden65, lagen an der im Mai 1944 erbauten Bahnrampe66 neben der Hauptlagerstraße innerhalb von Birkenau.67 Des Weiteren waren sie die größten der vier Gebäude und besaßen neben den fünf Öfen mit insgesamt 15 Muffeln68 spezielle Öfen zur Müllverbrennung, in denen die Sonderkommando-Häftlinge die bei den Opfern gefundenen Dokumente verbrannten.69 Henryk Mandelbaum beschrieb das Krematorium II wie folgt:

In der ‚Zwei‘ war das so eingerichtet, dass sich der Umkleideraum unter der Erde befand und die Gaskammer auch. Auf einem unterirdischen Niveau. Es gab auch einen Aufzug. Die Gaskammer war zweigeteilt. In dem Raum, in dem sich die Öfen befanden, war – ich erinnere mich – eine ganze Wand aus Glasbausteinen. Daran erinnere ich mich noch genau.70 Die ebenfalls identisch gebauten Krematorien IV und V, die auch „Wald-Kremas“71 genannt und ebenerdig gebaut wurden, waren nördlich72 entlang der Lagerstraße zwischen den Bauabschnitten B II und BIII situiert und besaßen jeweils einen Doppelofen mit acht Muffeln.73 Die neuen Krematorien wurden mit roten Ziegelsteinen gebaut und sahen von außen wie Fabriken aus. Um das Gelände entsprechend zu sichern, war es von einem elektrischen Stacheldrahtzaun umgeben und wurde mithilfe von Wachtürmen, die sich an der Außenseite des Zaunes befanden, kontrolliert.74 Der Bunker 1 wurde während der Bauarbeiten an den neuen Krematorien abgerissen, wohingegen Bunker 2 bis zum Ende erhalten blieb und sogar 1944 unter dem Namen „Bunker 5“ wieder für Ermordungen genutzt wurde.75 Nach Aurélia Kalisky wurde der Bunker 2

61 Vgl. Wellers, Auschwitz, 218. 62 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 102. 63 Vgl. Wellers, Auschwitz, 217. 64 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 26. 65 Vgl. Wellers, Auschwitz, 217. 66 Die sogenannte „Rampe“ befand sich zunächst zwischen dem Stammlager und Birkenau. Um den Vernichtungsprozess anzutreiben und zu vereinfachen, wurden die Bahngleise verlängert, damit die Rampe schließlich in der Nähe der Krematorien II und III verlegt werden konnte. Vgl. ebd., 199–200. 67 Vgl. Igor Bartosik / Adam Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz. Gespräch mit Henryk Mandelbaum, ehemaligem Häftling des Sonderkommandos im KL Auschwitz, Oświęcim 2017, 45. 68 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 11. 69 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 26. 70 Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 51. 71 Sie wurden „Wald-Kremas“ genannt, weil sie auf einer anmutigen Lichtung standen. Vgl: Wellers, Auschwitz, 227. 72 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 45. 73 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 11–12. 74 Vgl. ebd., 11. 75 Vgl. Wellers, Auschwitz, 217. 11 zwischen Mai und Juli 1944 aufgrund der Massentransporte aus Ungarn wieder in Betrieb genommen und „Ausweichbunker V“ benannt.76 Im Herbst 1943 wurden im Krematorium II falsche Duschbrausen installiert, um die Opfer bis zum Schluss zu täuschen. Auch der Auskleideraum wurde zu dieser Zeit mit Bänken und Kleiderhaken „dekoriert“.77 Filip Müller erzählte, dass der Auskleideraum wie ein „internationales Informationszentrum“78 gestaltet war. An den Säulen waren viele Plakate mit unterschiedlichen Slogans, wie z. B. „Rein ist fein“ oder „Eine Laus – dein Tod“ in unterschiedlichen Sprachen angebracht, um die Menschen in die Gaskammern zu locken.79 Ab März 1943 waren alle Krematorien in Birkenau unentwegt in Betrieb. Da aber die Kapazität der Öfen nicht ausreichte und es immer wieder technische Schwierigkeiten gab, dienten Gruben auf dem Hinterhof von Krematorium V zur Verbrennung der Leichen.80 Sigismund Bendel81, ein Überlebender des Sonderkommandos, beschrieb die Verbrennungsgruben des Krematoriums V in einem Bericht aus dem Jahr 1946 wie folgt:

When I entered the Sonder, the capacity of the furnaces was regarded as being insufficient, and they were replaced by three trenches, each one 12 meters long, 6 meters wide, and 1.5 meters deep. The output of those trenches was tremendous: one thousand persons per hour.82 Insgesamt wurden fünf Verbrennungsgruben im Hinterhof des Krematoriums V und vier Gruben neben dem sogenannte Bunker V83 ausgehoben, die durch Holz, Ölrückstände, Methanol und das Körperfett der Leichen brannten.84 Dabei hielt man sich an das Prinzip, das der SS-Standartenführer Paul Blobel für seine Verbrennungsanlage verwendete: Um die Verbrennung der Leichen in den Gruben zu beschleunigen, mussten „Holz und Leichen abwechselnd auf einen großen Rost aus Eisenbahnschienen geschichtet (werden), der auf niedrigen Ziegelsteinpfeilern lag“.85 Mithilfe eines Kanals wurde das Menschenfett in zwei Auffangbehälter gesammelt und immer wieder ins Feuer geschüttet.86 Die Verbrennung im Freien war jedoch sehr heikel, weil sie viel Aufsehen erregte und zudem auch sehr aufwendig war. Sogar Orte, die 15 bis 20 Kilometer vom Lager entfernt waren,

76 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 26. 77 Vgl. Wellers, Auschwitz, 230. 78 Claude Lanzmann, Shoah, Hamburg 2011, 173. 79 Vgl. ebd., 172–173. 80 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 26. 81 Bendel arbeitete als Arzt im Sonderkommando. Vgl. Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, München– Wien 1999, 285. 82 Zit. n. Carlo Mattogno, Auschwitz: Open-Air Incinerations (Holocaust Handbooks 17), Uckfield 2016, 21. 83 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 211. 84 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 25. 85 Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 73. 86 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 208. 12 konnten den Wiederschein des Feuers sehen.87 Ende November 1944 wurden die Vergasungen auf Befehl Himmlers aufgrund der herannahenden sowjetischen Truppen eingestellt und Krematorium II und III von einem „Abbruchkommando“ bis Mitte Januar 1945 abgetragen. Das Krematorium V wurde bis zu seiner Sprengung in der Nacht vom 21. auf den 22. Januar 1945 weiterhin für Einäscherungen von Toten benutzt.88

[…] am 27. Januar befreien sowjetische Soldaten die letzten Überlebenden. In den Magazinen präsentiert sich ihnen die Hinterlassenschaft deutscher Gründlichkeit: 348.820 Herrenanzüge, 836255 Damenkleider und -mäntel, 5525 Paar Damenschuhe, sieben Tonnen Frauenhaare, Berge von Kinderkleidern, Brillen und Zahnprothese.89 3. Die „Funktionshäftlinge“

Die sogenannten „Funktionshäftlinge“ bildeten eine Sondergruppe in der Häftlingsgesellschaft. Der Begriff der „Häftlingsgesellschaft“ umfasst grundsätzlich alle Häftlinge eines Lagers und grenzt diese von der Kommandantur mit dem SS-Personal, der Gestapo-Abteilung und der Wachmannschaft ab. Oftmals werden die Funktionshäftlinge als dritte Gruppe, d. h. neben dem SS-Personal und der Häftlingsgesellschaft, als „intermediäre Instanz“ verstanden, weil sie sich durch bestimmte Merkmale von den „normalen“ Häftlingen unterschieden.90 Funktionshäftlinge wurden mit spezifischen Vermittlungs- und Ordnungsfunktionen betraut, um das Leben der anderen Häftlinge zu kontrollieren.91 Sie waren für die Bewachung der Häftlinge während der Arbeit und für die Regelung des Zusammenlebens in den Baracken mit- oder alleinverantwortlich.92 Damit wurde ihnen die Kontrolle über „Leben und Sterben in den Konzentrations- und Vernichtungslagern“93 zum Teil übergeben. Primo Levi spricht davon, dass sich die Bereitschaft zu kollaborieren erhöht, je mehr Unterdrückung herrscht.94 Aufgrund der schlechten Lagerverhältnisse hatten die meisten Häftlinge mit dem Leben zu kämpfen. Einige wurden dadurch steuerbar und empfänglich für derartige Aufgaben: „Je mehr Menschen skrupellos nur das eigene Überleben im Sinn haben,

87 Vgl. Volker Ullrich, Das offene Geheimnis, in: DIE ZEITGeschichte. Epochen. Menschen. Ideen (2017) 1, 92– 97, 96. 88 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 120–121. 89 Ebd., XXIV–XXV. 90 Vgl. Kurt Pätzold, Häftlingsgesellschaft, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 1, München 2005, 110–125, 110–111. 91 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos …“, 26. 92 Vgl. Pätzold, Häftlingsgesellschaft, 117. 93 Greif, „Wir weinten tränenlos …“, 26. 94 Vgl. Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 2020, 41. 13 desto mehr werden sie zu psychologischen Marionetten eines Systems […].“95 Die SS wusste, „dass ein Häftling mit Machtbefugnissen die ihm aufgetragenen Befehle gegenüber seinen Mithäftlingen kompromisslos ausführen würde, um sein Leben zu retten“.96 Auch Rudolf Höß merkte in Bezug auf Funktionshäftlinge an, dass „nirgends der nackte Egoismus so krass zutage (tritt) wie in der Gefangenschaft. Und je härter das Leben in dieser, umso krasser das egoistische Verhalten“.97 Dadurch, dass die „normalen“ Häftlinge durch ihre Mithäftlinge bestraft werden konnten, wurden sie über die wahre Identität der Mörder getäuscht und nahmen die Funktionshäftlinge als direkte Verfolger wahr98 – sie wurden zur „unmittelbarste(n) Bedrohung, noch vor der SS“.99 Aus diesem Grund waren Funktionshäftlinge oftmals sehr unbeliebt bei den restlichen Häftlingen. Viele Kapos, Vorarbeiter etc. nutzten ihre Stellung schamlos aus und wandten gegenüber den Mithäftlingen extreme Gewalt an.100 Dieser Missbrauch war bei der SS nicht nur gerne gesehen, sondern wurde sogar von den Funktionshäftlingen erwartet. Sie sollten die Befehle mit Brutalität durchsetzen und waren diesbezüglich sogar befähigt auf Anordnung oder auf Eigeninitiative Mithäftlinge zu ermorden.101 Primo Levi spricht von einer unbeschränkten Macht, die auch Funktionshäftlinge von niederem Rang besaßen:

Ihrer Gewalttätigkeit war eine Grenze nach unten gesetzt, und zwar in dem Sinn, dass sie bestraft oder ihres Postens enthoben wurden, wenn sie sich nicht als ausreichend hart erwiesen, aber nach oben gab es keine Grenze. mit anderen Worten: Es stand ihnen völlig frei, an ihren Untergebenen zur Strafe für jede wie auch immer geartete Übertretung oder auch völlig grundlos die gemeinste Bestialität zu begehen. Bis zum Ende des Jahres 1943 war es durchaus keine Seltenheit, dass ein Häftling durch die Schläge der Kapos starb, […]. Erst später, als sich der Mangel an Arbeitskräften stärker spürbar machte, wurden einige Auflagen eingeführt: Die Misshandlungen, die die Kapos ihren Gefangenen zufügen konnten, durften deren Arbeitsfähigkeit nicht dauerhaft beeinträchtigen; aber mittlerweile war der Missbrauch längst eingerissen, und so wurde die Norm nicht immer respektiert.102 Trotz ihrer privilegierten Stellung waren die Funktionshäftlinge enormen Druck ausgesetzt: Sie standen unter besonderer Bewachung der SS und wurden zur Verantwortung gezogen, wenn Anweisungen nicht zufriedenstellend durchgeführt wurden. Auch sie waren der Willkür der Deutschen ausgesetzt und fühlten sich aus diesem Grund dazu gezwungen, „gegenüber ihren Mithäftlingen Gewalt auszuüben“.103 Auch laut Gideon Greif seien Funktionshäftlinge nichts

95 Leo Löwenthal, Individuum und Terror, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, 15–25, 18. 96 Greif, „Wir weinten tränenlos …“, 26. 97 Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, München 2019, 149. 98 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos …“, 26. 99 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 34. 100 Vgl. ebd., 35. 101 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 135. 102 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 44–45. 103 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 35. 14 anderes als „machtlose, passive Instrumente in den Händen der Deutschen“104 gewesen. Sie fanden sich zwischen Kollaboration, Selbsterhaltung und lebensrettendem Schutz anderer wieder.105 Im Auschwitz-Prozess wies eine Zeugin darauf hin, dass die Berufsverbrecher, die oftmals als Kapos eingesetzt wurden, „andere Häftlinge mit Knüppel schlagen (mussten), sonst wurden sie selbst geschlagen“.106 Ein Kapo stieg sogar im Ansehen der SS-Männer, wenn er besonders grausam war und so kam es dazu, dass sich v. a. Kapos mit ihrem Verhalten der SS annäherten. Dieser Vorgang wird von Löwenthal als „Assimilation“107 bezeichnet. Laut dem Historiker würde ein Terrorsystem erst dann seinen Höhepunkt erreichen, wenn das Opfer beginnt, sich mit den Verfolgern zu identifizieren, d. h., wenn der „archaische Mechanismus der Imitation ungehemmt in den Vordergrund“108 tritt. Diese Nachahmung ginge sogar so weit, dass die Funktionshäftlinge versuchten, nicht mehr benötigte Gestapo-Uniformstücke zu „organisieren“.109 Dennoch gab es Funktionshäftlinge, die anderen Häftlingen mithilfe ihrer Begünstigungen halfen und ihnen das Leben retteten110, wie beispielsweise Otto Küsel, der im Kommando „Arbeitseinsatz“ eine wichtige Position inne hatte. Er versuchte bis zu seiner Flucht im Dezember 1942 seinen Mithäftlingen zu helfen. Hermann Langbein schrieb über ihn:

Die bekannteste und leuchtendste Ausnahme bildete der Häftling mit der Nummer 2, Otto Küsel, der von Anbeginn an die Schlüsselposition eines „Arbeitsdienstes“ innehatte. Ich habe mit vielen Überlebenden von Auschwitz über ihn gesprochen. Von keiner Seite habe ich auch nur die Andeutung einer negativen Erinnerung an diesen außergewöhnlichen Menschen gehört.111

3.1. Hierarchie der „Häftlingsselbstverwaltung“112

Da die SS-Männer in Auschwitz, aber auch in allen anderen Lagern, zahlenmäßig unterlegen waren, wurden bestimmte Aufgaben an Funktionshäftlinge abgegeben, um die Häftlinge unterdrücken zu können. Aufgrund der dadurch entstandenen Häftlingshierarchie bewachten und kontrollierten sich die Häftlinge untereinander.113 An der Spitze der Hierarchie stand der „Lagerälteste“, der dem SS-Rapportführer untergeordnet war. Er war für die „Kapos“ und die „Blockältesten“ verantwortlich.114 Letztere waren für die

104 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 26. 105 Vgl. ebd. 106 Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation 1,Wien–Frankfurt–Zürich 1965, 117. 107 Löwenthal, Individuum und Terror, 20. 108 Ebd., 21. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 36. 111 Langbein, Menschen in Auschwitz, 231. 112 Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 135. 113 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 31. 114 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 135. 15

Organisation des Lebens in den Baracken zuständig sowie für die Kontrolle der ihnen unterstellten Hilfskräfte, dazu zählten die „Stubenältesten“, die „Stubendienste“, welche die Baracken säuberten und Essen an die Häftlinge ausgaben, und der „Schreiber“, der eine Art Gehilfe der SS-Männer war und Listen der Häftlinge führte sowie die Appelle protokollierte. Die „Kapos“ überwachten die Häftlinge bei ihrer Arbeit und organisierten diese auch. Ihnen unterstellt waren die „Vorarbeiter“ sowie ganz gewöhnliche Arbeiter. In großen Kommandos waren die „Kapos“ einem „Oberkapo“, der sie kontrollierte, untergestellt.115 Diese Funktionshäftlinge bestanden fast ausschließlich aus „Reichsdeutsche“116, die von den SS- Männern über den richtigen Umgang mit Häftlingen „erzogen“ wurden.117 Sie wurden auch als „Bindenträger“ bezeichnet, weil sie durch eine Armbinde als Funktionshäftlinge gekennzeichnet waren.118 Laut Hannah Arendt gingen die Verwaltungsaufgaben zunächst vorwiegend an die „Kriminellen“, die bis Anfang der 1940er-Jahre die „unangefochtene Lageraristokratie bildeten“.119 Da die „kriminellen“ Häftlinge ein willkürliches Regime führten, litt ihre Arbeitsleistung sowie die der „normalen“ Häftlinge darunter. Aus diesem Grund wurden immer mehr Funktionen den „politischen“ Gefangenen übertragen, die schließlich zur Elite aufstiegen.120 Die von Rudolf Höß genannten „Gefangenen-Vorgesetzten“121 hatten im Allgemeinen eine höhere Lebenserwartung als „normale“ Häftlinge, weil sie verschiedene Begünstigungen erhielten.122 Zu diesen Privilegien gehörten ein Schlafplatz, der von den übrigen Häftlingen getrennt war und somit Privatsphäre sicherte, mehr und hochwertigeres Essen sowie bessere Kleidung.123 Des Weiteren waren sie von der Arbeit in Kommandos befreit.124 Doch nur die wenigsten von ihnen waren jüdisch.125

115 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 31. 116 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 135. 117 Vgl. Höß, Kommandant in Auschwitz, 149. 118 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 135. 119 Hannah Arendt, Nach Auschwitz, Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, 21. 120 Vgl. Arendt, Nach Auschwitz, 22. 121 Höß, Kommandant in Auschwitz, 149. 122 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 28. 123 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 135. 124 Vgl. Pätzold, Häftlingsgesellschaften, 118. 125 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 28. 16

3.2. Jüdische Funktionshäftlinge

Obwohl die Funktionshäftlinge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern meistens aus deutschen oder polnischen Kriminellen und „politischen“ Häftlingen bestanden, sollen nach Aurélia Kalisky im Laufe des Jahre 1943 bis Februar 1944 bis zu 50% aller Blockältesten in Birkenau Jüdinnen und Juden gewesen sein. Des Weiteren hat es auch mehrere jüdische Kapos gegeben. Dies war aber nur in den Blocks und Arbeitskommandos der Fall, welche ausschließlich aus jüdischen Häftlingen bestanden.126 Auch Filip Müller berichtete von den „Besserungen“ hinsichtlich der Bekleidung von Funktionsämtern in Birkenau:

Neben ihren polnischen Kollegen, die schon seit Frühjahr 1942 im Häftlingskrankenbau tätig waren, erlaubte man jetzt auch einigen jüdischen Ärzten, dort zu arbeiten. Auch in anderen Lagerbereichen übernahmen jüdische Blockälteste, Schreiber und Stubendienste die Verwaltung wichtiger Funktionen. Wenn die Arbeitskommandos ausrückten, sah man jetzt hin und wieder Kapos und Vorarbeiter, die den Judenstern trugen. Das wäre 1942 nicht möglich gewesen. […] Jüdische Funktionshäftlinge waren nichts Ungewöhnliches mehr.127 Laut Primo Levi übernahmen Juden die Funktion als Kapo, weil sie darin „die einzige Möglichkeit sahen, der ‚Endlösung‘ zu entgehen“.128 Auch die Häftlinge des Sonderkommandos, die fast ausschließlich jüdisch waren, gehörten zu den Funktionshäftlingen, obwohl sie aufgrund der von ihnen zu tätigenden Arbeit eine Sonderstellung einnehmen.129 Innerhalb des Sonderkommandos gab es wiederum die Hierarchie, die von Vorarbeiter und Kapos, etc. geprägt war. Die Vorarbeiter und Kapos, welche die Sonderkommando-Häftlinge überwachten und selbst oft jüdisch waren, mussten aufgrund der besseren materiellen Bedingungen im Sonderkommando jedoch weniger systematische Gewalt anwenden.130 Dennoch kam es vor allem bei nichtjüdischen Funktionären zu Gewaltausschreitungen gegenüber den Sonderkommando-Häftlingen. Mietek Morawa ein nichtjüdischer Kapo, der dem Sonderkommando zugeteilt war, wurde durch seinen „übertriebenen Nationalismus und unerklärbaren Judenhass“ zu einem „gefürchteten Mörder“.131 Als er vom Stammlager ins Krematorium II in Birkenau kam, wo die Bedingungen besser waren und die Kapos „es verabscheuten, Häftlinge zu misshandeln“132, wurde auch er verträglicher. Einige Funktionäre beschützten die ihnen unterstellten Sonderkommando- Häftlinge vor den SS-Männern oder anderen Funktionshäftlingen, wie z. B. der Chef des

126 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 31. 127 Müller, Sonderbehandlung, 86–87. 128 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 46. 129 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 31–32. 130 Vgl. ebd. 131 Ernst Klee, Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon, Frankfurt am Main 2013, 283. 132 Müller, Sonderbehandlung, 94. 17

„Fischl-Kommandos“ Fischl Goliath, der sich für seine Gruppe, darunter befand sich auch Filip Müller, einsetzte. Müller schrieb über Fischl:

Im Gefängnis hatte er nicht nur die Mentalität der SS-Leute kennengelernt, sondern auch die Fähigkeit, sich ihnen anzupassen und sie für sich einzunehmen. Vom ersten Augenblick an zeigte er bei der Arbeit nicht den kleinsten Deut von Unentschlossenheit, Erschrockenheit oder Unsicherheit. Er reagierte augenblicklich und prompt auf alle Befehle der SS-Leute, führte sie rasch und verlässlich aus, als gehörte das, was im Krematorium vorging, zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten. […] Dabei spielte Fischl ein doppeltes, sehr gefährliches Spiel, das er im Umgang mit den SS-Männern virtuos beherrschte. Meisterhaft täuschte er auch die von ihm erwarteten unerlässliche Härte des Kapos vor, ohne aber jemals die Gesundheit, geschweige denn das Leben eines seiner Mithäftlinge zu gefährde. Fischl war kein Engel, aber auch alles andere als ein Mörder […].133 Bevor die jüdischen Funktionshäftlinge näher behandelt werden können, muss darauf hingewiesen werden, dass es sich um Häftlinge handelt, die sich oft in einer Zwischenposition als Opfer und Täter wiederfanden.134 Es darf nicht vergessen werden, dass es sich um Inhaftierte handelt, die ebenso aus ihren Häusern getrieben und in Ghettos zusammengepfercht wurden. Sie haben Familienmitglieder verloren und wurden durch die vielen schrecklichen Erfahrungen im Ghetto, auf der Zugfahrt nach Auschwitz und durch die grausame Behandlung bei der Ankunft traumatisiert.135 Alle Funktionshäftlinge, ob jüdisch oder nicht, handelten innerhalb einer

Grauzone mit unscharfen Konturen, die die beiden Bereiche von Herren und Knechten voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Sie besitzt eine unvorstellbar komplizierte innere Struktur und enthält in sich soviel, wie ausreicht, um unser Bedürfnis nach einem Urteil durcheinanderzubringen.136

133 Müller, Sonderbehandlung, 68. 134 Vgl. Ludewig-Kedmis, Opfer und Täter zugleich?, 11. 135 Vgl. ebd., 12. 136 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 39–40. 18

4. Das Sonderkommando Auschwitz-Birkenau

Die Bezeichnung „Sonderkommando“ wurde in der Sprache der SS mehrfach verwendet. Laut der „Encyclopedia of the Holocaust“ wurde ein spezielles deutsches Kommando, das eine tragende Rolle in der „Lösung der Judenfrage“ spielte, als „Sonderkommando“ bezeichnet. Insgesamt gab es 10 dieser Einheiten, wie beispielsweise das „Lange Kommando“, auch als „Sonderkommando Bothmann“ bekannt, das den Vernichtungsprozess in Chełmno durchführte. Die Bezeichnung „Sonderkommando 1005“ wurde den Einheiten gegeben, die die Spuren der Massenermordungen auslöschen sollten, indem sie die Massengräber aushoben und die toten Körper verbrannten.137 Eine weitere Gruppe, die mit diesem Namen versehen wurde, war ein Teil des jüdischen Ordnungsdienstes im Ghetto in Łódź, der sich mit Straftaten befasste. Schlussendlich wurden die vorwiegend jüdischen Häftlinge, die bei den Gaskammern und in den Krematorien im KL Auschwitz-Birkenau arbeiteten, als „Sonderkommando“ bezeichnet.138 Sonja Knopp zählt die Häftlinge des Sonderkommandos klar zu den Funktionshäftlingen, räumt aber ein, dass das Sonderkommando eine herausragende Stellung einnimmt139: „Die SS errichtete ‚ein ausgeklügeltes System der Kollaboration, indem sie einige Opfer zu Mittätern macht(e) und die Funktionselite mit beträchtlichen Vollmachten ausstattet(e)‘“.140 Sonderkommando-Häftlinge zählten zu den Opfer, die sich gegen ihren Willen direkt bei der Vernichtung beteiligen mussten und dadurch zu „Mittätern“ gemacht wurden. Das Sonderkommando erhielt laut Gideon Greif von allen Funktionshäftlingen eine „besonders menschenunwürdige Aufgabe“141, denn sie wurden nicht nur tagtäglich mit den Leichen ihres Volkes konfrontiert, sondern sollten auch alle paar Monate ausgetauscht und selbst ermordet werden.142 Der Grund weshalb die „Nazis“ die Ermordung tausender Jüdinnen und Juden nicht selbst übernommen haben, erklärt Primo Levi damit, das versucht wurde, die Last der Schuld auf die Opfer selbst abzuwälzen und ihnen damit die Unschuld zu nehmen.143 Das Sonderkommando wurde erstmals 1940 im Stammlager aufgestellt und meistens als „Heizer Krematorium“144 bezeichnet. Bis Mitte 1943 arbeiteten bis zu 20 Häftlinge in Krematorium I. Gleichzeitig wurde 1942 ein weiteres Kommando in Birkenau, das offiziell

137 Vgl. Shmuel Spector, „Sonderkommando“, in: Israel Gutman (Hg.), Encyclopedia of the Holocaust 4, New York 1990, 1378. 138 Vgl. ebd. 139 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 28. 140 Zit. n. ebd., 34. 141 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 26. 142 Vgl. Spector, „Sonderkommando“, 1378. 143 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 52. 144 Franciszek Piper, Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz 3, Oświęcim 1999, 213. 19

„Sonderkommando“ genannt wurde, von etwa 300 bis 400 Häftlingen gebildet145, das zunächst mit der Vorbereitung der Vernichtungseinrichtungen sowie mit dem Begraben von Leichen beauftragt wurde. Ab September 1942 wurde ihr Aufgabenbereich auf die Verbrennung der Vergasungsopfer und schließlich auf die Begleitung des gesamten Tötungsprozesses ausgeweitet146, d. h. sie arbeiteten direkt bei den Gaskammern.147 Da die Sonderkommando-Häftlinge, die von Primo Levi auch als „Raben des Krematoriums“148 bezeichnet wurden, von den Deutschen als „Mitwisser“ bzw. als „Geheimnisträger“ betrachtet wurden149, sollten diese alle drei Monate erschossen werden, um die Geheimhaltung des Unternehmens zu gewährleisten. Laut Else Rieger hob sich diese Häftlingsgruppe durch ihr spezifisches Wissen von den anderen Häftling ab, denn dadurch hatten die Nationalsozialisten einen tatsächlichen Grund sie zu töten.150 Lagerkommandant Höß missachtete jedoch den Befehl, der von Adolf Eichmann angeordnet wurde, weil die Erfahrung der Sonderkommando- Häftlinge gebraucht wurde, um die Vernichtung so schnell wie möglich durchführen zu können. Aus diesem Grund gab es – nach Aurélia Kalisky – am 9. Dezember 1942 die einzige, vollständig nachweisbare Beseitigung des Sonderkommandos151, das aus 400 Mann bestand. Die Gründe für die Liquidierung seien – nach Andreas Kilian – mehrfache gescheiterte Fluchtversuche sowie eine geplante Massenflucht, die jedoch verraten wurde, gewesen.152 Milton Buki berichtete im Auschwitz-Prozess, dass er am 14. Dezember 1942 für das Sonderkommando rekrutiert wurde und seine erste Aufgabe darin bestand, die Leichen des letzten Sonderkommandos zu verbrennen.153 Unter den Neulingen waren des Weiteren die beiden Brüder Shlomo und Abraham Dragon, die angaben, dass sie am selben Tag, d. h. am 9. Dezember, bereits ins Quartier des Sonderkommandos zogen und folgendes vorgefunden haben:

145 Vgl. Franciszek Piper, Die Bedeutung des KL Auschwitz im Nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparat. Das Sonderkommando, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 16–24, 21. 146 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 44. 147 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 12. 148 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 54. 149 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 12. 150 Vgl. Else Rieger, „…aber ihr seid nicht besser als wir“. Überlegungen zur Stellung der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz, in: Sabine Moller / Miriam Rürup / Christel Trouvé (Hg.), Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und der NS-Prozesse (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord 5), Tübingen 2002, 118–133, 129. 151 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 22. 152 Vgl. Andreas Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann.“ „Handlungsräume“ im Sonderkommando Auschwitz, in: Ralph Gabriel / Elissa Mailänder Koslov / Monika Neuhofer / Else Rieger (Hg.), Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager (Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord 10), Tübingen 2004, 119–139, 122. 153 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 95. 20

Shlomo: […] zum Schluss blieben noch 100 Männer übrig, die man alle in den Block 2 in Birkenau brachte. Dieser Block gehörte einer Gruppe, die vor uns dort gearbeitet hatte und ein oder zwei Tage zuvor umgebracht worden war. Die Kleider lagen noch dort, als ob man sie vor wenigen Augenblicken abgelegt hätte. Abraham: Wir wussten nicht, dass hier zuvor die Männer vom vorangegangenen Sonderkommando gelebt hatten. Man erzählte uns erst später, dass man sie von dort fortgeholt und umgebracht hatte. Uns hatte man an ihre Stelle gesetzt.154 Keiner der beiden Brüder erwähnte jedoch die Verbrennung der ehemaligen Sonderkommando- Häftlinge, wahrscheinlich deshalb, weil sie anderen Teilkommandos zugeteilt wurden. Erst etwa zwei Jahre später, im Februar 1944, sollten wieder größere Liquidierungen des Sonderkommandos folgen.155 Laut Andreas Kilian sei es aufgrund verschiedener Zeitzeugenberichte zur fälschlichen Annahme gekommen, dass „das Sonderkommando nach jeder Vernichtungsaktion ermordet worden sei“.156

Die Anzahl der Sonderkommando-Häftlinge

Die Anzahl der im Sonderkommando arbeitenden Häftlinge variierte, je nachdem wie viele Transporte ins Lager kamen. Zwischen 1940 und 1941 arbeiteten um die 20 Häftlinge im Krematorium des Stammlagers. Als die Kapazitäten der Verbrennungsanalage nicht mehr ausreichten, mussten diese Häftlinge die Leichen in Gruben in der Nähe von Birkenau vergraben. Als die Vernichtungsaktion sukzessiv nach Birkenau verlegt wurde, stieg auch die Anzahl der Sonderkommando-Häftlinge157 stark an. Die Häftlinge wurden im Frühjahr 1942 aus den Deportationszügen ausgewählt und sofort getötet, nachdem sie die in den „Bunkern“ Ermordeten begraben hatten. Erst Ende April 1942 bis Dezember 1942 konnte ein Sonderkommando über einen längeren Zeitraum bestehen, wobei es im Sommer 1942 etwa 400 Häftlinge, meistens slowakische Juden, umfasste.158 Zu ihren Aufgaben zählten die Entfernung der Leichen aus den Gaskammern der „Bunker“, das Vergraben der Leichen und das Ausheben von neuen Gruben.159 Ab September 1942 wurden die begrabenen Leichen wieder exhumiert. Nach Beendigung dieser Aufgabe wurde das Kommando fast vollständig ermordet.160 Bis Juli 1944 bestand das Sonderkommando zwischen 200 und 400 Häftlingen, wobei die

154 Gideon Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 120. 155 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 22. 156 Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 123. 157 Ab 1942 wurden die Häftlinge, die in den Krematorien und bei den Gaskammern arbeiteten, „Sonderkommando“ genannt. Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 152. 158 Zunächst bestand das Sonderkommando bei den Bunkern 1 und 2 aus etwa 100 Mann. Das „Begrabungskommando“, das die Massengräber aushob, bestand aus ca. 150 bis 200 Mann. Nachdem die Leichen exhumiert werden mussten, benötigte man das „Begrabungskommando“ nicht mehr. Deshalb wurde es im September 1942 mit dem Sonderkommando zusammengelegt. Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 8. 159 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 152–153. 160 Vgl. ebd. 21

Kranken und Schwachen laufend durch Phenolspritzen oder auf andere Weise ermordet wurden161 und durch neue Rekruten ersetzt wurden.162 Auch im Sonderkommando gab es viele Krankheiten, wie Typhus und Gelbsucht.163 Laut Igor Bartosik und Adam Willma stabilisierte sich die Anzahl der Personen bei 400 aufgrund der steigenden Transporte und der Errichtung der modernen Krematorien und Gaskammern.164 Der Höchststand von 873165 Häftlingen wurde am 28. Juli 1944 erreicht166, als auch die Vernichtungsaktion gegen die ungarischen Jüdinnen und Juden ihren Höhepunkt fand.167 Laut Filip Müller bestand das Sonderkommando zu diesem Zeitpunkt aus

etwa 450 ungarischen, 200 polnischen, 180 griechischen, drei slowakischen, fünf deutschen und einem holländischen Juden […]. Hinzu kamen die 19 sowjetischen Kriegsgefangenen, fünf polnische Schutzhäftlinge und ein reichsdeutscher Kapo.168 Nach der Beendigung der Vernichtungsaktion wurde das Sonderkommando im Herbst 1944 drastisch reduziert.169 200 Mitglieder, fast ausschließlich ungarische Juden, welche im „Bunker V“ tätig waren, wurden infolge dieser Selektion ermordet. Laut Sonja Knopp wurden sie ausgewählt, weil ihre Sprachkenntnisse nicht mehr benötigt wurden. Sie wurden im Effektenlager „Kanada I“ vergast und ihre Leichen von den SS-Männern verbrannt.170 Eine weitere Zäsur stellte der Aufstand des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944 dar, wobei 451 Häftlinge starben.171 Näheres dazu wird im Kapitel „Die Widerstandsbewegung des Sonderkommandos“ dargelegt. Insgesamt arbeiteten etwa 2100 Männer im Sonderkommando, wobei ca. 110 überlebten.172

Unterbringung/Isolation

Die Häftlinge des Sonderkommandos wurden zunächst im isolierten, gemauerten Block 2 untergebracht. Diese Häftlingsbaracke befand sich im alten Männerlager in Bau-Abschnitt I b, kurz BIb.173 Die dreistöckigen, durch Wände begrenzten Holzpritschen waren für vier Häftlinge ausgelegt, jedoch mussten bis zu acht Mann darin schlafen.174 Ab Juli 1943 wurden sie in

161 Vgl. Piper, Auschwitz, 218. 162 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 44. 163 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 262. 164 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 44. 165 Nach Gideon Greif waren es 903 Männer. Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 27. 166 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 153. 167 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 21. 168 Müller, Sonderbehandlung, 211. 169 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 44. 170 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 15. 171 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 153. 172 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 5. 173 Vgl. Piper, Auschwitz, 223. 174 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 129. 22

Pferdestallbaracken, in Baracke 13 und 11 in Bau-Abschnitt II d, kurz BIId umgesiedelt.175 Um eventuelle Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg in die Krematorien zu verhindern, wurden die Sonderkommando-Häftlinge auf ihrem Weg zur Arbeit von SS-Männern begleitet und bewacht.176 Laut Filip Müller ergaben sich dennoch, besonders beim Warten auf den Abmarsch zur Arbeit, Möglichkeiten „mit anderen Häftlingen zu sprechen und Kontakte zur Welt des ‚freien‘ Lagers anzuknüpfen“.177 Doch im Allgemeinen waren die Sonderkommando-Häftlinge vollständig von den anderen Häftlingsbaracken isoliert.178 Im Kommando galt die gleiche Hierarchie, wie auch im übrigen Lager: es gab Kapos, Vorarbeiter sowie Stubendienste.179 Viele dieser Funktionshäftlinge innerhalb des Sonderkommandos waren jüdisch und haben es meistens vorgezogen, die Sonderkommando- Häftlinge nicht zu misshandeln:

In anderen Teilen des Lagers war der Kapo das Schlimmste, was man sich überhaupt denken konnte – Schläge ohne Ende. 80 Prozent der Kapos waren immer Gojim, keine Juden. Im Krematorium dagegen war der Kapo meistens ein Jude. Der vorgesetzte der Kapos war der ‚Oberkapo‘ Jaacov Kamiński. Der war verantwortlich für die Arbeitsverteilung, ein wahrer Experte. Die Deutschen trauten ihm immer und sagten: „Was Jaacov sagt, ist richtig.“ Eines Tages standen wir beim Appell, […]. Ein gemeiner Oberfeldwebel war dabei und sagte plötzlich: „Jetzt machen wir Gymnastik“ Kamiński war mutig, setzte sich in die Mitte und fragte: „Herr Oberfeldwebel, warum Gymnastik? Wenn die Leute irgendetwas gemacht haben, was Strafe verdient – ich bin verantwortlich, ich bin bereit, die Strafe auf der Stelle zu empfangen.“ […] In der Nacht haben Sie mit Jaacov Kamiński Schluss gemacht. Danach wurde ein Deutscher mit Namen Karol zum Kapo ernannt.180 Die Isolation diente dazu, den Kontakt mit anderen Häftlingen zu minimieren, um den Vernichtungsprozess, so gut es ging, geheim zu halten.181 Aus diesem Grund wurden fast alle Mitglieder des Sonderkommandos ab dem Sommer 1944 in den Krematorien selbst untergebracht: auf den Dachböden der Krematorien II und III sowie im Entkleidungsraum des nicht mehr verwendeten Krematoriums IV. Die Sonderkommando-Häftlinge arbeiteten auch meist in dem Krematorium, in dem sie untergebracht waren und mussten es nur noch selten verlassen.182 Laut Sonja Knopp wurde dadurch eine Art Mikrokosmos geschaffen, „der einzigartige zeitliche und räumliche Verhältnisse für die Häftlinge schuf“.183 Trotz der Bemühungen der SS, gab es immer wieder Gelegenheiten, in denen die Sonderkommando-Häftlinge mit der restlichen Lagerwelt in Kontakt kamen. Das „Kanada-

175 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 34. 176 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 14. 177 Müller, Sonderbehandlung, 64. 178 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 34. 179 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 75. 180 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 219. 181 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 34. 182 Vgl. ebd., 34–35. 183 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 39. 23

Kommando“184 hatte fast täglich Kontakt mit den Sonderkommando-Häftlingen185, aufgrund der Tatsache, dass die Besitztümer der Opfer, welche an der Selektionsrampe und in den Entkleidungsräumen zurückgelassen wurden, in das „Effektenlager“ gebracht und dort sortiert wurden.186 Jakob Freimark gehörte dem „Kanada“ -Kommando an, in dem der von den Opfern zurückgelassene Besitz sortiert wurde, und kam somit regelmäßig mit Angehörigen des Sonderkommandos in Berührung.187 Er half den Sonderkommando-Häftlingen dahingehend, dass er Materialien für die Schreibtätigkeit von Salmen Gradowski, einem der fünf „Historiker“, beschaffte, wie z. B. Notizbücher und Papier.188 Eine weitere Möglichkeit, um mit dem restlichen Lager in Verbindung zu treten, waren die Häftlinge, die sich frei am Gelände bewegen durften, wie beispielsweise das „Elektrikerkommando“. Einige dieser Häftlinge pflegten konspirative Kontakte zum Sonderkommando.189 Auch durch das Handwerkerkommando hatten die Sonderkommando- Häftlinge die Möglichkeit mit dem restlichen Lager in Kontakt zu treten. Laut Filip Müller waren einige Handwerker „immer bereit, Nachrichten an die Widerstandsbewegung und auch von dort Botschaften an uns zu übermitteln“.190 Das Frauenlager war ebenfalls eine gute Möglichkeit, um mit anderen Häftlingen in Berührung zu kommen. Alle zwei Wochen wurden die Decken des Sonderkommandos von ungefähr 10 Häftlingen ins Frauenlager gebracht, wo sie desinfiziert wurden. So gelang es Jaacov Gabai sich zwei Mal mit seiner Frau zu treffen.191

Arbeitszeiten

Die Arbeitszeiten des Sonderkommandos richteten sich nach der Ankunft der Transporte192 bzw. wie viel geleistet werden musste, „um den ‚Tötungsbetrieb‘ der SS aufrecht zu erhalten.193 Eliezer Eisenschmidt berichtete, dass es „in der Anfangszeit im Lager keine festen Arbeitszeiten“194 gab. Es wäre sogar einmal geschehen, dass sie 36 Stunden ohne Pause

184 „Kanada“ wurde im Lagerjargon das Effektenlager I und II genannt, weil das Land Kanada Reichtum symbolisierte. Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 35. 185 Vgl. Gideon Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, in: Ulrich Herbert / Karin Orth / Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur 2, Göttingen 1998, 1023–1045, 1044. 186 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 35. 187 Vgl. ebd. 188 Vgl. ebd., 37. 189 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 37. 190 Müller, Sonderbehandlung, 238. 191 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 214. 192 Vgl. ebd., 371. 193 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 42. 194 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 245–246. 24 durcharbeiten mussten. Erst im Frühjahr 1943, als die Krematorien in Birkenau in Betrieb genommen wurden, veränderten sich die Arbeitsbedingungen.195 Die Sonderkommando- Häftlinge wurden in 12-Stunden-Schichten eingeteilt, d.h. sie arbeiteten abwechselnd Tag und Nacht.196 Damit die Häftlinge auch in der Nacht so effizient wie möglich arbeiteten, wurde das Gelände 24 Sunden hell beleuchtet. Dadurch wurde der natürliche Tag-Nacht-Rhythmus der Sonderkommando-Häftlinge beeinflusst, wodurch sie den Eindruck bekamen, dass sie sich in einer Endlosschleife befänden – „in einem unendlich fortdauernden Vernichtungsprozess […], dessen Bestandteil sie waren, und der ihre zeitliche und räumliche Wahrnehmung bestimmte.“197 Das Leben der Häftlinge wurde durch den Schichtwechsel, der zweimal täglich durchgeführt wurde, und die dabei vollzogenen Appelle strukturiert.198 Während der Schicht gab es laut Joseph Sackar eine Mittagspause, die jedoch aufgrund des Zeitdrucks meistens nicht eingehalten wurde: „Es gab eine Mittagspause, eine am Morgen zum Tee. Meistens kamen wir überhaupt nicht zum Essen. Nach der Arbeit haben wir gegessen.“199

„Sonderkommandos“ in anderen Vernichtungslagern

In Auschwitz wurde der Mordprozess durch das arbeitsteilige Sonderkommando und den Einsatz von industriellen Verfahren maximiert.200 Das Sonderkommando wurde nicht von Anfang an als solches bezeichnet. Als die Vergasungen noch ausschließlich im Stammlager stattfanden, wurde zwischen dem „Fischlkommando“, das nach dem Vorarbeiter des Kommandos benannt wurde, dem „Leichenkommando“ und „Krematoriumskommando“ oder auch „Heizern“, die für die Verbrennung der Leichen zuständig waren, unterschieden. Bald wurden die beiden Kommandos zusammengelegt, da sich die Aufgaben nicht mehr voneinander trennen ließen.201 Nach der Verlegung des Vernichtungsprozesses nach Birkenau wurde in den Arbeitseinsatz-Häftlingskarteien die Kommando-Bezeichnung „Sonderkdo.“ eingetragen.202 Unter den Häftlingen selbst gab es wiederum unterschiedliche Bezeichnungen für das Sonderkommando in Auschwitz: Die polnisch- und jiddischsprachigen Häftlinge nannten die Gruppe „Komando Zoder“, nur „Sonder“ bzw. „Zonder“ oder „Zonderschtik“, was so viel heißt

195 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 246. 196 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 14. 197 Ebd., 41. 198 Ebd., 43. 199 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 86. 200 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 24. 201 Vgl. ebd., 23. 202 Vgl. ebd., 24. 25 wie „Sonderstück“.203 Die dem Sonderkommando untergeordneten Arbeitsgruppen trugen eigene Namen, die teilweise „von makabrer Ironie gefärbt war(en), weil sie an die Lügen erinnerten, die zuweilen zur Rekrutierung für das Sonderkommando gedient hatten“204, wie z. B. „Friseur“. Doch auch in anderen Tötungszentren und Vernichtungslagern wurden jüdische Häftlinge für solche Aufgaben herangezogen.205 Insgesamt gab es sechs Vernichtungslager, die auch „Tötungszentren“ genannt wurden: das im Dezember 1941 in Betrieb genommene Chełmno, in dem die Opfer in Lastwagen durch Kohlendioxyd vergast wurden; Bełżec, Sobibor und Treblinka, welche im Zuge der „Aktion Reinhardt“206 geschaffen wurden, sowie die Tötungszentren, die in bereits vorhandene Konzentrationslager integriert wurden, Auschwitz- Birkenau und Lublin-Majdanek.207 In den Tötungszentren trugen die Kommandos je nach Tötungsort und Periode unterschiedliche Namen. Die Namensgebung war des Weiteren davon abhängig, ob der Name von der SS oder von den Häftlingen erfunden wurde. Die Bezeichnung „Sonderkommando“ in Auschwitz stammte höchstwahrscheinlich aus der Vernichtungslager Chełmno. Dort gab es ein SS- Kommando mit demselben Namen, das seit Januar 1940 Patienten von Heilanstalten in Gaswagen ermordet hatte. Später wurden auch der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, die für die Vernichtung verantwortlich waren, als „Sonderkommando“ bezeichnet. Dieser Terminus lässt sich auf den Begriff „Sonderbehandlung“ zurückführen, mit welchem der Mordprozess mithilfe von Gaskammern bezeichnet wurde. In Chełmno wurden die Häftlinge, die direkt mit dem Vernichtungsaktion zu tun hatten, als „Haus-“ oder „Schlosskommando“, „Waldkommando“ von der SS und „Totenjuden“ oder „Totengräber“ von den Opfern genannt. In Bełżec wurden die Sonderkommando-Häftling als „Leichenjuden“ und „Todesmannschaft“ bezeichnet. Auch in Treblinka gab es ein Sonderkommando, das nach Aurélia Kalisky ausschließlich den Namen „Leichenjuden“ trug.208 Ein weiterer Terminus, der in fast allen Vernichtungslagern verbreitet war und von den Einsatzgruppen benutzt wurde, war

203 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 24. 204 Ebd. 205 Vgl. ebd., 23. 206 Bei der „Aktion Reinhard“ handelte es sich um die Vernichtung der Jüdinnen und Juden aus dem Generalgouvernement, dazu gehörten die Distrikte Warschau, Krakau, Lublin, Radom und Lemberg, in den Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Die Aktion begann 1942 und wurde nach dem Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich benannt. Vgl. Dieter Pohl, „Dann wandert keiner mehr“, in: DIE ZEIT Geschichte. Epochen. Menschen. Ideen (2017) 1, 80–87, 85; Arad Yitzhak, Die „Aktion Reinhard“, in: Eugen Kogon / Hermann Langbein / Adalbert Rückerl (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1983, 146–193, 146–147. 207 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 263. 208 Vgl. ebd., 23. 26 die Bezeichnung „Himmelkommando“.209 Je nach Aufgabe erhielten die Sonderkommando- Häftlinge einen spezifischeren Namen, wie etwa „Grubenbaukommando“, „Begrabungskommando“, „Exhumierungskommando“, „Tarnkommando“, „Schlepper“, „Reinigungskommando“, „Heizer“, „Kleidungssortierung“ und „Knochenstampfer“.210

4.1. Die Selektion und der Zugangsschock

Meistens wurden die Häftlinge erst nach einer Quarantänephase für das Sonderkommando ausgewählt211, wie beispielsweise Jaacov Gabai, der erst nach 20 Tagen in einer weiteren, aber strengeren Selektion dem Sonderkommando zugeteilt wurde:

Zwei Ärzte kamen mit zwei Offizieren. Wir mussten uns nackt aufstellen. Ein deutscher Arzt untersuchte uns, […] und wählte die 300 stärksten und gesündesten Männer aus. […] Fünf Minuten ging er um mich herum und betastete mich am ganzen Körper.212 Wie aus der Beschreibung herausgelesen werden kann, waren ein guter physischer als auch ein psychischer Allgemeinzustand wichtige Voraussetzungen für die Auswahl. Des Weiteren wurden fast nur männliche Juden ausgewählt, wobei die Selektion, laut Aurélia Kalisky nur oberflächlich war, da hin und wieder auch Körperbehinderte, Alte sowie Jugendliche fälschlicherweise ausgewählt wurden.213 Filip Müller begegnete in Birkenau einem Sonderkommando-Häftling, der körperlich beeinträchtigt war und von einem Kapo geschützt wurde:

Dort schliefen er, sein Piepel und sein 40jähriger Vetter Berl, dessen eine Hand gelähmt war. Seine Behinderung musste bei der nächtlichen Selektion auf der Rampe der Aufmerksamkeit des selektierenden SS-Arztes entgangenen sein, sonst wäre er unweigerlich zur Vergasung geschickt worden. Damit er sich hier am Leben halten konnte, machte ihn sein prominenter Verwandter zum Vorarbeiter im Krematorium V, wo er körperlich nicht zu arbeiten brauchte.214 Die Häftlinge wussten meistens nicht, für welche Tätigkeit sie ausgewählt wurden, weil die SS sie absichtlich täuschte und mit den vermeintlichen Privilegien lockte:

Zwei „Kommandoführer“, die bei ihm standen, sagten uns dann: „Ihr werdet von heute an ziemlich schwer arbeiten, aber man wird euch genügend Kleidung und Essen geben.“ Das hatte uns beruhigt und erfreut.215

209 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 24. 210 Vgl. ebd., 23. 211 Vgl. ebd., 27. 212 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 194. 213 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 27. 214 Müller, Sonderbehandlung, 89–90. 215 Greif, „Wir weinten tränenlos…“,194. 27

Oft wurden die Häftlinge bei der Selektion mit falschen Informationen über die künftige Arbeit in die Irre geführt216, wie beispielsweise die Brüder Dragon. Sie kamen nach ihrer Ankunft in Auschwitz in Block 25, den sogenannten „Durchgangsblock“.217 Zwischen ihrer Ankunft und dem Beginn ihrer Arbeit im Sonderkommando vergingen nach eigenen Aussagen ein bis zwei Tage.218 Mithilfe einer Selektion, die Otto Moll219 durchgeführt hatte, wurden sie dem Sonderkommando zugeteilt. Moll, der innerhalb des Sonderkommandos auch „Zyklop“220, „Massenschlächter“221 oder „Schlächter von Birkenau“222 genannt wurde, versicherte ihnen jedoch, dass sie in einer Gummifabrik arbeiten würden und wiegte sie damit in Sicherheit.223 In anderen Fällen wurden die Häftlinge über die künftige Arbeit getäuscht, damit sie sich freiwillig meldeten, so wie Léon Cohen. Er hatte schon im Voraus von der Existenz des Sonderkommandos erfahren und versuchte sich und seine Kameraden davor zu schützen. Während der Quarantäne bat er einen jüdischen Arzt, der zur „Untersuchung“ in den Block kam, sie nicht für das Sonderkommando auszuwählen. Doch einige Tage später wurde Cohen von einem Deutschen befohlen, 200 starke Männer für Ladearbeiten bei der Eisenbahn auszuwählen. Cohen glaubte seinen Worten und schlug die griechischen Juden, zu denen er und seine Kameraden zählten, vor. Seine Intention war, den Deutschen ihre Tatkraft und Stärke zu demonstrieren.224 Dass er getäuscht wurde, bemerkte er erst, als es schon zu spät war:

Wir alle gingen in den Block. Drinnen waren andere Häftlinge. Sie fragten uns: „Warum seid ihr hierhergekommen?“ Wir sagten ihnen, wir seien gekommen, um ihnen bei der Arbeit bei der Bahn zu helfen. Einer sagte als Reaktion: „So ein Idiot! Hier ist das Sonderkommando. Welche Eisenbahn hast du im Kopf?!“ Ich erstarrte voller Staunen und Schrecken. Der Häftling sagte: „Man hat euch angelogen. Glaubt mir, das ist das Sonderkommando.“ So kamen wir durch Täuschung ins Sonderkommando.“225

216 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1027. 217 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 121. 218 Vgl. ebd., 122. 219 Otto Moll war SS-Hauptscharführer und ist einer der bekanntesten SS-Männer, die im KZ Auschwitz eingesetzt wurden. Er ist vor allem als Kommandoführer des Sonderkommandos bekannt, aber auch wegen seinen sadistischen Neigungen. Vgl: Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 53. 220 Müller, Sonderbehandlung, 199. 221 Ebd., 212. 222 Gerhard Zeillinger, Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl, Wien 2018, 180. 223 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 120. 224 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 339–340. 225 Ebd., 340. 28

Filip Müller berichtete ebenfalls von einem Freund226, der durch diesen „üblen Trick“227 ins Sonderkommando gelangte:

Eines Tages hatte man ihm erklärt, für eine gut entlohnte Arbeit in der 200 km entfernten Schuhfabrik Bata würden einige gesunde und kräftige Häftlinge gesucht. Arglos und erwartungsvoll meldete er sich daraufhin zu dieser Arbeit. Als er ein wenig später ins Krematorium geführt wurde und merkte, wie man ihn hereingelegt hatte, war es zu spät.228 Laut Primo Levi kam es auch vor, dass Häftlinge aus Strafe dem Sonderkommando zugeteilt wurden.229 Szyja Rosenblum beispielsweise kam im Mai 1944 in das Kommando, nachdem er versuchte, mit einer deutschen Uniform aus einem Arbeitslager zu entkommen.230 Um die neuen Rekruten besser kontrollieren zu können, initiierten die Deutschen absichtlich einen Schock231, der von Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian in ihren Studien als „Zugangsschock“ bezeichnet wird232, damit sie nicht wirklich begreifen konnten, was vorging. Aus diesem Grund wurden die Neuankömmlinge des Sonderkommandos dazu gezwungen, die älteren Sonderkommando-Häftlinge bei der Arbeit zu beobachten233 oder selbst eine Gaskammer zu leeren:

Am Anfang der Woche, am Montag, dem 15. Mai, wurde die Gruppe geteilt. Die einen gingen zum Krematorium II, uns brachte man zum Krematorium I.234 […] Man sagte uns, in der ersten Nacht bräuchten wir noch nicht zu arbeiten, nur zuzuschauen. Ich erinnere mich, gegen 17:30 Uhr kam ein Transport aus Ungarn. Die Alteingearbeiteten sagten, wir sollten uns die Neuankömmlinge gut angucken, denn in wenigen Minuten wären sie nicht mehr am Leben. Wir glaubten das nicht. Nach kurzer Zeit befahlen uns die Arbeiter hinunterzugehen, um zu sehen, was dort geschehe. Wir gingen hinunter, öffneten die Gaskammer und sahen wirklich die Leichen. Das sei nun unsere Arbeit, hieß es. Draußen stand ‚Duschen‘ dran: auf Polnisch, Deutsch, Russische und Englisch. […] Ich sah Leichen, eine auf der anderen. Es waren dort ca. 2500 Körper. Viele hatten Wunden und Blut. Ich hatte so etwas noch nie gesehen, das war

226 Eventuell handelt es sich dabei um Stanisław Jankowski (Alter Feinsilber), der in seiner Zeugenaussage direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählte, wie er sich freiwillig für die Arbeit in der Schuhfabrik meldete und somit ins Sonderkommando gelangte. Vgl. Stanisław Jankowski, Aussage von Stanisław Jankowski (Alter Feinsilber), in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 25–60, 36. 227 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 82. 228 Ebd. 229 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 50. 230 Vgl. Langbein, Menschen in Auschwitz, 287. 231 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1027. 232 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 27. 233 Joseph Sackar: „Wir waren im d-Lager, und eines Abends brachte man uns hinter das letzte Krematoriumsgebäude, wo ich das fürchterlichste Grauen in meinem Leben sah. An dem Abend war ein kleiner Transport angekommen. Wir mussten nicht arbeiten, wir wurden nur dahin gebracht, damit wir uns an den Anblick gewöhnten. Dort gab es ausgehobene ‚Bunker‘ genannte Gruben, um die Leichen zu verbrennen. Von den Gaskammern brachte man die Leichen zu diesen ‚Bunkern‘, war sie hinein und verbrannte sie im Feuer.“ Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 67–68. 234 Die Krematorien in Auschwitz-Birkenau wurden in den frühen Plänen, die in den SS-Archiven erhalten sind, mit den Nummern I bis V versehen. Krematorium I, in dem die erste Gaskammer des Lagers erbaut wurde, befand sich im Hauptlager Auschwitz und wurde bereits am 19. Juli 1943 wieder eingestellt. Die „Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei Auschwitz“ änderte daraufhin die bisherige Nummerierung. In einigen Studien wird daher das erste der insgesamt vier Krematorien in Birkenau mit „Krematorium I“ bezeichnet. Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 13. 29

grauenhaft. Ich entsinne mich, dass man uns später in den Raum brachte, in dem die Leichen waren […]. Wir sollten sehen, wie wir arbeiten mussten.235 Viele Häftlinge zögerten vor der ersten Berührung mit den toten Körpern und waren wie erstarrt. Um diesen Zustand zu unterbrechen, wurden die neuen Rekruten durch Geschrei und Schläge drangsaliert. Filip Müller berichtete von seiner ersten Begegnung mit der zukünftigen Arbeit im Krematorium I, das sich im Stammlager befand:

Vor uns lagen zwischen Koffern und Rucksäcken Haufen aufeinander- und durcheinanderliegender toter Männer und Frauen. Ich war starr vor Entsetzen. Ich wusste ja nicht, wo ich mich befand und was hier vor sich ging. Ein heftiger Schlag, begleitet von Starks Gebrüll: „Los, los! Leichen ausziehen!“ veranlasste mich das zu tun, was auch ein paar andere Häftlinge taten, die ich erst jetzt bemerkte. Vor mir lag die Leiche einer Frau. Zuerst zog ich ihre Schuhe aus. Meine Hände zitterten dabei, und ich bebte am ganzen Körper, als ich begann, ihr die Strümpfe auszuziehen. Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mit einer Leiche in Berührung. […] Die Angst vor weiteren Schlägen, der grausige Anblick der gestapelten Leichen, der beißende Rauch […] hatte meine Orientierung und mein Denkvermögen derart gelähmt, dass ich jeden Befehl wie hypnotisiert befolgte.236 Diese – im Sinne der Deutschen – effektive Herangehensweise diente dazu, die Häftlinge zu brechen.237 Nach Sonja Knopp wurden die zum Sonderkommando erwählten Häftlinge durch diesen Zugangsschock in einen Transformationsprozess getrieben, „der ihr Wesen, ihre Wahrnehmung, ihr Denken und Handeln erfasste und sie in einen Zustand vollkommener Ohnmacht versetzte“.238 Der Tod von Familienangehörigen gehörte zur ersten Gewalterfahrung der Sonderkommando-Häftlinge, weil sie ihre Familie, die mit ihnen meistens gleichzeitig angekommen war, aber auf die „linke Seite“ geschickt wurde, oft am ersten Tag im Kommando unter den ermordeten Opfern wiederfanden und sie verbrennen mussten239:

Wie tragisch und fürchterlich war dieser Anblick, als – wie es sich später zeigte – […] diese gleichen Menschen, die die Leichen herausziehen mussten und [sie verbrennen] […] das ließ vermuten, dass sie in den Baracken ihre Nächsten, ihre Familien hatten; einer den Vater, andere Frau und Kinder. Wie es sich später, nach Beginn der Arbeit zeigt, erkannte jeder seine Familie. Man hatte doch an jenem Tage dem neugebildeten Kommando Leute zugeteilt, die gerade erst mit einem Transport ins Lager gekommen waren und sie gleich [zu dieser Arbeit] getrieben. Auf diese Weise war unsere ganze Gemeinde, die ganze jüdische Siedlung unserer Stadt, unsere geliebten Eltern, Kindern, Schwestern und Brüder, vernichtet worden.240 Nachdem die neuen Rekruten begriffen, welche Tätigkeit sie zu verrichtende hatten, blieben ihnen nach Gideon Greif nur zwei Möglichkeiten: mitzumachen oder Suizid zu begehen.241

235 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 195–196. 236 Müller, Sonderbehandlung, 23. 237 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1027. 238 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 30. 239 Vgl. ebd., 52. 240 Salmen Lewental, Gedenkbuch, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 202–254, 206. 241 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1027. 30

Laut Sybille Steinbacher wählten „viele […] nach kurzer Zeit den Freitod“242, doch nach verschiedenen Zeugenaussagen, wie z. B. von Léon Cohen oder Shlomo Dragon, gab es eine relativ geringe Selbstmordrate, obwohl es natürlich sein kann, dass viele Fälle nicht beobachtet oder aufgezeichnet wurden.243 Auch Gideon Greif kann aufgrund zahlreicher Augenzeugenberichten resümieren, dass „nur wenige den Verstand verloren (haben) oder sich das Leben nahmen“244:

Im Allgemeinen kam es unter den Sonderkommando-Häftlingen nicht zu Selbstmorden. Ich erinnere mich im Augenblick eigentlich nur an drei derartige Fälle. Einer war ein jüdischer Polizist aus Maków, der 20 Tabletten Luminal schluckte, aber doch nicht starb. Darüber hinaus brachten sich während des Aufstands des Sonderkommandos im Oktober 1944 zwei jüdische Ärzte um.245 Léon Cohen berichtete ebenfalls von einem Selbstmord, der sich am Beginn seiner Zeit im Sonderkommando ereignete:

Als einer aus meiner Gruppe sah, worin „unsere Arbeit“ bestand – Verbrennen von toten Juden – , stürzte er sich selbst ins Feuer. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er fortan die Leichen seiner jüdischen Glaubensbrüder verbrennen sollte.246 Generell versuchten die Sonderkommando-Häftlinge meistens noch in der Anfangsphase sich das Leben zu nehmen.247 Auch Shlomo Dragon war am ersten Tag im Sonderkommando zum Entschluss gekommen, dass er diese Arbeit nicht fortführen könne. Deshalb versuchte er sich mit einer Glasscherbe das Leben zu nehmen, doch er starb nicht an seiner Verletzung und musste weiterarbeiten.248 Er erzählte auch, dass es Fälle gab, in denen Sonderkommando- Häftlinge die enorme psychische Belastung mit der Zeit nicht mehr ertragen konnten und am Morgen in den elektrischen Zaun gelaufen sind.249 Andere gingen freiwillig in die Gaskammern250, wie z. B. Filip Müller, der versuchte, sich aus Verzweiflung das Leben zu nehmen. Er ging mit einem Transport aus Theresienstadt in die Gaskammer, aber einige Opfer konnten ihn überreden weiterzumachen:

Diese Menschen waren ja jetzt gezwungen sich auszuziehen. Einige haben sich ausgezogen, aber nur die kleine, eine … ganz kleine Menge. Die Mehrheit, die haben … die haben nicht diesen Befehl gef… befolgt. Und plötzlich hörte ich wie ein Chor fängt … fängt an, wie ein Chor fangen an sich singen. Ein Gesang verbreitete sich in dem Auskleideraum, und da fing an

242 Steinbacher, Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau 1940–1945, 43. 243 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1027. 244 Ebd., 1025. 245 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 257. 246 Ebd., 341. 247 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 43. 248 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 133–134. 249 Vgl. ebd., 171. 250 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1029. 31

zu klingen, sich singen die tschechische Nationalhymne und die Hatikwa251. Es hat mich sehr berührt, dieser … dieser … dieser Vorfall mit meine Landsleute, und ich hab‘ mich erfasst, dass mein Leben nicht mehr kein Wert hat. Was sollte man leben, für was? Und da ging ich in die Gaskammer, mit denen, und entschieden zu sterben. Mit ihnen. Da kamen plötzlich zu mir einige Leute, die mich erkannt haben, weil ich war einige Male mit meinen Freunden von den … mit den Schlossern im Familienlager, und plötzlich kam eine kleine Gruppe von Frauen zu mir, guckte mich an und sagte […] Und zwar sagte mir also … da sagte eine: ‚Du willst ja sterben. Aber das hat doch keinen Sinn. Dein Sterben wird nicht unseres Leben bringen. Das ist keine Tat. Du musst von hier rauskomme. Du musst ja noch berichten über dem, was wir leiden, was für ein Ungerecht uns getan … geschehen ist.252 Bei den meisten jedoch setzte ein heftiger Überlebenswille ein.253 Josef Sackar antwortete auf die Frage, wie er es psychisch geschafft hat, zu überleben: „Der Wille zum Leben, damit ich weitererzählen kann, damit die Wahrheit ans Licht kommt.“254 Auch Jaacov Gabai verzweifelte nicht und blieb standhaft:

Ich verzweifelte niemals. Als ich dorthin kam, sagten alle: „Wir werden alle sterben und niemals hier herauskommen“, und ich sagte nur: „Ich will leben!“ Das habe ich von Anfang an gesagt, ich war ein Optimist. So ging ich hinein, so lief ich während der gesamten Zeit der Arbeit im Sonderkommando herum, und so kam ich wieder heraus. Ich wusste, dass ich überleben würde!255 Neben Suizid gab es noch die theoretische Möglichkeit der Flucht, doch Aufzeichnungen über erfolgreiche Fluchtversuche gibt es – laut Aurélia Kalisky – nicht. Deshalb kann angenommen werden, dass die meisten oder sogar alle Flüchtlinge gefasst, verhört und hingerichtet wurden.256 Filip Müller konnte jedoch einen Fluchtversuch des Sonderkommando-Häftlings Daniel Obstbaum miterleben. Dieser hatte sich mit Fero Langer, einem Blockschreiber, zusammengetan, der den SS-Mann Dobrowolny aus seiner Schulzeit kannte und ihn mit Brillanten, Gold und anderen Wertsachen, die von Obstbaum „organisiert“ wurden, bestechen sollte. Obstbaum und Langer wurden jedoch von Dobrowolny verraten und erschossen.257 Laut Joseph Sackar „gab es keinen Ort, wohin man hätte fliehen können. Man hätte sofort eine Kugel in den Kopf bekommen.“258 Salmen Lewental erklärte in seiner Handschrift ebenfalls die Tatsache, dass nur wenige Sonderkommando-Häftlinge die Möglichkeit der Flucht in Erwägung gezogen hatten:

Und trotzdem entstand bei niemandem der Gedanke an eine Flucht. Erstens wollte man sein Leben nicht [riskieren]. Und außerdem wollten wir das nicht tun, denn […] [Furcht] vor dem

251 Bei der Hatikwa handelt es sich um die Nationalhymne des Staates Israel. Vgl. Unbekannter Autor, Einzelheiten, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 177–183, 179. 252 Lanzmann, Shoah, 227–228. 253 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 49. 254 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 107. 255 Ebd., 222. 256 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 30. 257 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 88–89. 258 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 69. 32

Deutschen war so groß […] bei jedem Schritt von den Kommandos […] trafen sich mit ihnen allen, dass […] am Leben lag, so muss die Arbeit […] aufs Beste ausgeführt werden und um Gottes Willen darf niemand auch nur an eine Flucht denken.259 Des Weiteren gerieten viele Angehörige des Sonderkommandos – nach Andreas Kilian – aufgrund ihrer vorteilhaften Lage in einem „Lähmungszustand“.260 Salmen Lewental erwähnte in seiner Handschrift, dass es gute Möglichkeiten zur Flucht durchaus gegeben hätte, diese jedoch nicht genutzt wurden, „da immer jemand da war, der sich mit dem Lager verbunden fühlte, der eine durch das gute Essen, ein anderer durch ein Mädchen, in das er verliebt war“.261 Um Fluchtversuche im Allgemeinen zu unterbinden, wurden die Hinrichtungen der Flüchtlinge entweder vor allen anderen Sonderkommando-Häftlingen durchgeführt, als eine Art abschreckendes Beispiel, oder es wurde ein Teil des Kommandos liquidiert.262 Zwischen Obstbaum und Langer, die auf Holzschemel gesetzt wurden, stand ein Plakat mit der Aufschrift „Hurra, wir sind wieder da!“ zur Abschreckung.263 Generell wurden Häftlinge aller Konzentrations- und Vernichtungslager durch verschiedene Maßnahmen, wie Erniedrigung, harte Strafen und systematische Aushungerung in Schach gehalten und dadurch fast jeder Versuch des Widerstands verhindert. Auch die Sonderkommando-Häftlinge waren v.a. am Beginn des Massenmordes drakonischen Strafen und Willkür ausgesetzt.264 Eine besonders gefürchtete Strafe war, in den „Karzer“ gesperrt zu werden. In dieser „Stehzelle“ konnten die Häftlinge weder sitzen noch liegen und mussten nächte- und tagelang stehen.265 Auch die schwere Bestrafung von Unschuldigen als abschreckendes Beispiel war eine gängige Methode, um die normalen Häftlinge als auch die Sonderkommando-Häftlinge unter Kontrolle zu halten.266 Vor allem die neu Rekrutierten wurden vermehrt Gewalt angetan, um ihnen klar zu machen, dass sie nicht unentbehrlich waren.267 Außerdem wurde dadurch der Zugangsschock verstärkt, weil sie keine Zeit zur Reflexion hatten268:

In den ersten Tagen standen wir völlig unter Schock. Ich erinnere mich, dass alle 150 Leute zur Arbeit gingen, begleitet mit 12-15 SS-Leuten mit Hunden. Jeder Hund war furchtbarer als drei SS-Leute. Wir konnten an gar nichts denken. Die Deutschen setzten schrecklichen Terror ein, um jeden Gedanken und jedes Gefühl zu unterdrücken. Als wir die ersten Male die uns aufgetragene Arbeit durchführten, schlugen sie ununterbrochen mit Stöcken auf uns ein. Das

259 Lewental, Gedenkbuch, 214–215. 260 Andreas Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 128. 261 Zit. n. ebd. 262 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 30. 263 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 89. 264 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1026. 265 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 142. 266 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1038. 267 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 44. 268 Vgl. ebd., 50. 33

einzige, was wir selbständig machten, war, zur Seite zu blicken, um den furchtbaren Schlägen von der Seite auszuweichen. Wir wollten nur den Schlägen ausweichen, und was wir machten, das machten wir, ohne nachzudenken.269 Erst nach und nach wurde die Gewalt gegenüber den Sonderkommando-Häftlingen weniger.270

4.2. Die Aufgaben

Die Aufgaben des Sonderkommandos waren laut Gideon Greif mit keinen anderen zu vergleichen, weil die Mitglieder des Sonderkommandos dazu gezwungen wurden, am mörderischen Prozess teilzunehmen und ihre eigenen Brüder und Schwestern zu ermorden. Darüber hinaus mussten sie Aufgaben verrichten, die „so grauenhaft und entwürdigend“ waren, dass die Deutschen sie nicht selbst erledigen wollten.271 Somit gaben sie den Häftlingen zu verstehen, dass sie über ihnen standen:

Wir, das Herrenvolk, sind eure Vernichter, aber ihr seid nicht besser als wir. Wenn wir es wollen, und wir wollen es, sind wir nicht nur in der Lage, eure Körper zu vernichten, sondern auch eure Seele, so wie wir unsere eigene Seelen vernichtet haben.272 Die Aufgaben des Sonderkommandos waren vielfältig: sie beruhigten die Menschen in den Auskleideräumen, entfernten die Leichen aus den Gaskammern, verbrannten die Körper, zertrümmerten die Knochen und verteilten die Asche in den Flüssen.273 Aufgrund verschiedener Aussagen kann nicht klar gesagt werden, ob es eine fixe Aufgabenzuteilung gegeben hat. Oft wurde die Häftlinge für unterschiedliche Arbeiten eingeteilt. Henryk Mandelbaum arbeitete nach eigenen Angaben im Krematorium II nur an den Öfen. Im Krematorium V wurde er anscheinend auch bei der Gaskammer eingesetzt.274 Laut Igor Bartosik und Adam Willma gab es in den Krematorien II und III eine strikte Arbeitsteilung, weil diese aufgrund der modernen Technik eine gewisse praktische Erfahrung zu ihrer Bedienung benötigten275:

Cohen war oben und zog die Zähne heraus. Andere nahmen die Leichen und trugen sie auf Bahren zu den Verbrennungsanalagen. Ich war immer unten – im Entkleidungsraum und um die Leichen herauszuholen.276

269 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 256–257. 270 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 60. 271 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1023. 272 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 52–53. 273 Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1023. 274 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 57. 275 Vgl. ebd., 67. 276 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 95. 34

Des Weiteren erzählte Sackar, dass jeder seine Pflichten hatte. Beispielsweise arbeitete ein Teil des Sonderkommandos beim Aufzug des Krematoriums III und eine andere Gruppe brachte sie zu den Verbrennungsöfen.277 Jaacov Gabai beschrieb die Arbeitsteilung folgendermaßen:

Die Arbeitsteilung sah so aus: zunächst arbeiteten zehn Männer oben bei den Öfen. Sobald der Aufzug oben ankam, machte man die Tür auf, vier Männer holten die Leichen heraus, verteilten sie zu je vieren und begannen, jeweils vier Körper vor den Ofentüren anzuordnen. Es gab zwei Gruppen zu fünf Männern. Die Gruppe „Nummer 1“ trug die Bahren nach vorn vor die Öfen. Die Gruppe „Nummer 2“ nahm – von beiden Seiten der Bahre – mit Hilfe eines Stockes die Leiche auf. Vorne, an der Bahre, waren Rollen angebracht.278 Durch die Arbeitsteilung war es für die Sonderkommando-Häftlinge leichter, sich an die schreckliche Arbeit zu gewöhnen. Außerdem hatten sie somit nicht mehr das Ganze im Blick.279 Im Krematorium V hingegen konnten die Häftlinge die verschiedenen Aufgaben unter sich aufteilen. Diesbezüglich wurde immer wieder getauscht, damit die körperlich anstrengendsten Arbeiten nicht an einzelnen hängenblieben280: „Wir wechselten uns ab. Einmal arbeitete man als Frisör, dann wieder als Zahnarzt, und ein andermal am Scheiterhaufen …“.281

4.2.1. Die Entkleidungsräume und Gaskammern

In den Entkleidungsräumen war immer eine Gruppe von Sonderkommando-Häftlingen anwesend, die die Opfer betreute. Laut Leon Cohen, der im Krematorium II eingesetzt wurde, bestand die Einheit ungefähr aus 15 Häftlingen.282 Neben Aufgaben, wie beispielsweise ältere Menschen, körperlich und geistig beeinträchtige Menschen und Kindern bei der Entkleidung zu helfen283, war die Beruhigung der Opfer essentiell, denn Aufregung und Unordnung wurde von den Deutschen nicht geduldet.284 Zu diesem Zweck wurden die Opfer von einer Gruppe des Sonderkommandos bis in die Räume begleitet. Des Weiteren achteten die Sonderkommando-Häftlinge darauf, dass sich die Menschen möglichst schnell auszogen, damit sie wenig Zeit zur Reflexion hatten.285 Generell war es den Sonderkommando-Häftlingen verboten, mit den Opfern zu sprechen.286 Dennoch kam es immer wieder zu kurzen Gesprächen zwischen den Sonderkommando-Häftlingen und den Opfern. In diesem Fall mussten die Mitglieder des Sonderkommandos sie mit falschen Informationen täuschen:

277 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 98. 278 Ebd., 208–209. 279 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 64. 280 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 67. 281 Ebd. 282 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 342. 283 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 44. 284 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 342. 285 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 192–194. 286 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 250. 35

Wir antworteten ihnen, dass sie einer Desinfektion unterzogen werden und später ihre Kleider und Gegenstände wiederbekommen würden, um dann zur Arbeit eingeteilt zu werden. Solche und ähnliche Antworten. Ich glaube, wir hatten keine andere Wahl, anders zu antworten, um die Befürchtungen vor dem Unbekannten zu zerstreuen.287 Laut verschiedener Zeitzeugenaussagen konnten sie die Opfer nicht warnen, da „die Methode so raffiniert war, dass man nichts machen konnte.288 Insgesamt verbrachten die Opfer zwischen 20 und 30 Minuten im Entkleidungsraum. Dabei mussten die Sonderkommando-Häftlinge stets darauf achten, dass eine gute Atmosphäre im Raum herrschte, damit die Menschen nicht erschraken und sich sicher fühlten. Mit dieser Taktik wurden diese dann unauffällig in die Gaskammer geschickt. Theoretisch sollten Frauen und Kinder zuerst in den Entkleidungsraum geschickt werden. Nachdem sie in der Gaskammer waren, kamen die Männer in den Raum und wurden anschließend weiter in dieselbe Gaskammer gedrängt.289 Da diese Ordnung sehr zeitaufwendig war, wurden die Familien häufig zusammen in die Krematorien geführt.290 Josep Sackar, der erst im Mai 1944 für das Sonderkommando ausgewählt wurde, berichtete, dass ausschließlich ganze Familien in die Gaskammern gebracht wurden.291 Die Gaskammer wurde als Baderaum getarnt. Aus diesem Grund gab es in den Ecken Rinnen sowie realistische Duschen, damit jeder überzeugt war, „dass er dort duschen werde, und dass das Ganze der Desinfizierung diene“.292 Insgesamt hatten im Krematorium I maximal 2000 Menschen Platz. Der Raum war beleuchtet und wurde sogar im Winter beheizt.293 Nachdem die Menschen in der Kammer waren, verriegelten SS-Angehörige294 die Türen. Nach einer kurzen Wartezeit, die wahrscheinlich aufgrund der benötigten Wärme von 25,7 °C getätigt werden musste295, wurde das Gas, „das wie kleine, blau-grüne Steine aussah“296, durch eine Luke in der Decke in den Raum geschüttet. Dieser Vorgang wurde laut Léon Cohen ausschließlich von Deutschen ausgeführt. Der ehemalige Sonderkommando-Häftling Shlomo Venezia berichtete in einem Zeitzeugeninterview, dass es vorkam, dass Angehörige des

287 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 343. 288 Ebd. 289 Vgl. ebd., 344. 290 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 61. 291 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 89. 292 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 344–345. 293 Vgl. ebd., 345. 294 Laut Szlama Dragon wurde die Tür zur Gaskammer immer von Wärtern oder von Moll persönlich geschlossen. Vgl. Wellers, Auschwitz, 232. 295 Vgl. ebd. 296 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 346. 36

Sonderkommandos die Abdeckung der Luke hochheben mussten.297 Somit wurden sie direkt in den Mordprozess miteingebunden.

4.2.2. Umgang mit den hinterlassenen Besitztümern

Während dem Vergasungsprozess begannen die Sonderkommando-Häftlinge die hinterlassenen Besitztümer der Menschen auf Wertsachen und Lebensmittel zu durchsuchen. Damit die Sonderkommando-Häftlinge körperlich stark blieben, um die schwere Arbeit durchführen zu können, bestand zwischen ihnen und der SS ein „stillschweigendes Übereinkommen, dass letztere die Lebensmittel an sich nehmen und essen durften“.298 Laut Gideon Greif wurde Nahrung als eine Art Bestechung eingesetzt, mit dem die Loyalität der Sonderkommando-Häftlinge erkauft werden sollte.299 Nach Aurélia Kalisky durften sie nur gelegentlich die von den Opfern mitgebrachten Lebensmittel für sich beanspruchen, v. a. zwischen Mai und September 1944.300 Wertsachen durften weder von der Lager-SS noch vom Sonderkommando in Besitz genommen werden. Dennoch kam es des Öfteren dazu, dass Sonderkommando-Häftlinge das Verbot missachteten, mit SS-Männern darüber verhandelten oder diese auf dem Schwarzmarkt eintauschten bzw. verkauften.301 Einige nahmen kein fremdes Eigentum an sich, da es dem moralischen Kodex, nach dem sie aufgewachsen waren und erzogen wurden, widersprach.302 Die Sonderkommando-Häftlinge mussten das von den Opfern Zurückgelassene sortieren und in Bündeln zusammenbinden. Mithilfe von Lastwägen wurden diese dann ins Effektenlager „Kanada“ gebracht303 und später mithilfe der Deutschen Reichsbahn nach Deutschland, wo die Hinterlassenschaften an verschiedene Empfänger verteilt wurde, transportiert.304

4.2.3. Der Umgang mit den Leichen

Der Vergasungsprozess dauerte ca. 20 bis 30 Minuten.305 Danach mussten die Sonderkommando-Häftlinge die Leichen mit ihren Händen aus der Gaskammer ziehen.306 Einige Häftlinge entwickelten verschiedene Arten, um die toten Körper leichter transportieren

297 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 27. 298 Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1033. 299 Vgl. ebd. 300 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 28. 301 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1033. 302 Vgl. ebd., 1034. 303 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 62. 304 Vgl. Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, 89. 305 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 13. 306 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 21. 37 zu können und nahmen z. B. Haken und Gurte zur Hilfe.307 Henryk Mandelbaum, der im Krematorium V sowie in Krematorium II, das mit besseren Vernichtungstechniken ausgestattet war, eingesetzt wurde308, erzählte in einem Zeitzeugeninterview von seiner Technik:

Ich wollte die Leichen nicht an der Hand packen, denn sie warteten schon längere Zeit auf die Verbrennung und es kam vor, dass die Haut von der Hand abfiel wie ein Handschuh. Daher kam ich auf die Idee, eine besondere Schlinge aus Hemden anzufertigen. […] Also nahm ich mir ein Hemd, zerriss es und machte mir daraus so etwas wie einen Strick und konnte die Leichen dann mit Hilfe dieser Schlinge heranziehen. Das heißt, wir zogen sie zu zweit, denn wenn man sie an der Hand packt, stört der Kopf des Toten.309 Joseph Sackar310 und Shaul Chasan311 hingegen erzählten von „Großvaterstöcken“, die beim Leeren der Gaskammer im Krematorium III zum Einsatz kamen. Die Körper konnten mithilfe des Stockes leichter voneinander gelöst werden. Filip Müller benutze die Schlaufe eines Lederriemens, der um das Handgelenk der Leiche gelegt wurde.312 Da die Blutgefäße aufgrund der Gaseinwirkung platzten und die Menschen im Todeskampf sich gegenseitig verletzten, war die Gaskammer oft blutbefleckt. Um den Raum für die nächste Gruppe vorzubereiten, musste er von den Sonderkommando-Häftlingen gesäubert werden.313 Auch die toten Körper waren voller Blut, Urin und Kot. Laut Jaacov Gabai mussten die Sonderkommando-Häftlinge die Leiche mit einem Wasserschlauch reinigen, damit sie sauber in den Öfen verbrannt werden konnten.314

Das Sonderkommando […] stellt sich rings um den Leichenberg auf und bespritzt ihn mit einem starken Wasserstrahl. Das muss sein, weil sich beim Gastod als letzte Reflexbewegung der Darm entleert. Jeder Tote ist beschmutzt. Nach dem „Baden“ der Toten werden die verkrampften Leiber voneinander gelöst.315 Vor der Verbrennung der Leichen untersuchten die Sonderkommando-Häftlinge die Körper nach wertvollen Dingen, wie beispielsweise Goldzähnen.316 Bereits im Krematorium I wurden die Leichen mithilfe einer Eisenstange, die zur Öffnung der Münder diente, nach Goldzähnen untersucht: „Dort ging Fischl von einem Toten zum anderen und stemmte jedem mit einer Eisenstange den Mund auf. Wenn er einen Goldzahn entdeckte, riss er ihn mit einer Zange heraus und warf ihn in eine Blechbüchse.“317 Mithilfe von Salzsäure wurden die Fleisch- und

307 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 13. 308 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 46. 309 Ebd., 47. 310 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 97. 311 Vgl. ebd., 313. 312 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 185. 313 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 207–208. 314 Vgl. ebd., 208. 315 Miklos Nyiszli, Sonderkommando, in: Hans Günther. Adler / Hermann Langbein / Ella Lingens-Reiner, Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Hamburg 2014, 64–74, 68. 316 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 22. 317 Müller, Sonderbehandlung, 25. 38

Knochenreste entfernt.318 Als die Vernichtung der Jüdinnen und Juden im Sommer 1944 ihren Höhepunkt erreichte, arbeiteten laut Verena Walter mindestens 40 Sonderkommando-Häftlinge als sogenannte „Zahnärzte“319, auch „Dentisten“320 genannt, in den Krematorien. Die Goldzähne wurden zu Barren eingeschmolzen und an die Reichsbank geliefert, wobei sich immer wieder SS-Männer daran bereicherten.321 Ein weiteres wertvolles Material waren die Haare der Ermordeten. Himmler ordnete 1942 an, dass die Haare der Opfer, meistens die von Frauen322, abgeschnitten und verwertet werden müssen. In weiterer Folge wurden diese im Lager gesammelt, getrocknet und im Dritten Reich, d. h. an verschiedene deutsche Firmen, verkauft, die daraus Filz oder Garn hergestellten.323 Filip Müller erzählte vom sogenannten „Haartrockenraum“:

Frauenhaare der verschiedensten Farben […] waren auf einer Fläche von vielleicht 150 Quadratmetern auf dem warmen Ziegelboden ausgebreitet, der sich über den Öfen des darunterliegenden Krematoriums befand. […] Zwischen den Wänden waren Wäscheleinen gespannt, auf denen nasse Haare wie Wäsche zum Trocknen aufgehängt waren. Man hatte sie vorher in einer verdünnten Salmiaklösung gewaschen, um sie von Schmutz und anderen Verunreinigungen zu säubern. Wenn sie einigermaßen trocken waren, wurden sie noch eine Zeitlang auf den warmen Fußboden gelegt. Dann kämmten sie einige Häftlinge mit Metallkämmen auf zwei Tischen aus und stopften sie in Papiersäcke. […] Erst nach Kriegsende wurde bekannt, dass man diese Frauenhaare für Industriefilze und Garne verwendete, aus denen Haargarnfüßlinge für Unterseebootsbesatzungen und Haarfilzstrümpfe für die Reichsbahn hergestellt wurden. Nur wenige wussten, dass für die Bearbeitung des Rohmaterials fünfzehn Häftlinge ständig im Krematorium beschäftigt waren.324 Nach der Befreiung wurden auf dem Gelände des KL Auschwitz ca. sieben Tonnen Haare gefunden.325 Nachdem Teile der Leichen verwertet wurden, mussten die Angehörigen des Sonderkommandos die Leichen in den Verbrennungsgruben oder den Krematorien verbrennen. Es wurden im Durschnitt drei Leichen gleichzeitig in die Öfen geschoben, wobei die Körper immer wieder gewendet werden mussten. Nach ca. 30 Minuten konnten die nächsten Leichen verbrannt werden.326 Die übergebliebenen Knochen wurden zermahlen und zusammen mit der Asche zunächst in Gruben auf dem Gelände gelagert und später in einem Teich bei den Krematorien IV und V oder in die Flüsse Soła oder Weichsel geschüttet. Ab Mai 1944 wurde

318 Nyiszli, Sonderkommando, 69. 319 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 128. 320 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 210. 321 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 13. 322 In anderen Vernichtungslagern, wie z. B. Treblinka oder Sobibór, wurden den Frauen und Mädchen schon vor der Vergasung die Haare abgeschoren. Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 65. 323 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 128. 324 Müller, Sonderbehandlung, 103–104. 325 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 65. 326 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 13. 39 die Asche aus den Öfen und ab September 1944 die Asche aus den Sammelgruben ausschließlich in die Weichsel geschüttet.327 Des Weiteren wurde die Asche im Straßenbau als Füllmaterial oder als Düngemittel auf den Feldern eingesetzt.328 Jehuda Bacon, der mit 20 weiteren Jugendlichen im Rollwagenkommando war, berichtete, dass sie öfters zum Krematorium fuhren, um dort Asche für die vereisten Wege zu holen.329 Diese Arbeit musste täglich verrichtet werden und das machte es für die Sonderkommando- Häftlinge umso schwieriger, nicht gleichgültig gegenüber den Leichen zu werden. Laut Gideon Greif versuchten viele den Leichen mit Respekt zu begegnen und sich streng an den Ehrenkodex zu halten, auch wenn die SS-Männer sie ständig zur Eile antrieben. Beim Transport von der Gaskammer zum Krematorium bemühten sie sich deshalb, die Leichen nicht anzusehen oder zu beschädigen.330 Im Gegensatz dazu stellt Salmen Gradowski den „Verwertungsprozess“ als sehr grob dar:

Drei Menschen stehen und bereiten den Körper zu. Einer hat eine kalte Zange, schiebt sie in den schönen Mund und sucht nach einem Goldzahn, und wenn er einen findet, reißt er ihn mit Fleisch heraus. Ein zweiter schneidet die gelockten Haare ab – die Krone der Frauen, und der dritte reißt schnell die Ohrringe herunter, wobei oft Blut fließt. […] Und jetzt wird sie zum Aufzug gebracht. Wie Holzklötze werden von zwei Männern die Körper daraufgeworfen, […] wird mit einem Stock ein Zeichen gegeben, und der Aufzug fährt hoch. Dort oben stehen vier Menschen am Aufzug. Zwei schleppen von der einen Seite des Aufzugs Körper zum ‚Reserve‘-Raum. Und zwei, die die Körper gleich zu den Öfen ziehen. Sie werden zu je zweien vor die Öfen gelegt. […] dann wird das Höllenmaul aufgemacht und das Brett in den Ofen geschoben.331 Natürlich gab es einige, die aufgrund der ständigen Konfrontation mit den Toten abstumpften und jegliche Empfindungen verloren. So kam es dazu, dass sie sogar auf Leichen saßen und ihre Mahlzeiten zu sich nahmen,332 wie beispielsweise Shaul Chasan:

Ich weiß nicht. Ich habe keine Erklärung. Ich aß, trank Kaffee, trank Tee, alles zwischen den Leichen. Tausende, viele Tausende Leichen. Dort, wo man die Leichen aus der Gaskammer herausholte, aß man auch, trank – mit den Leichen. Jetzt wo ich dran denke, weiß ich wirklich nicht, wie ein Mensch unter diesen Bedingungen leben kann.333 Dieses Verhalten scheint zunächst unvorstellbar. Jedoch befanden sich die Sonderkommando- Häftlinge in einer Extremsituation, in der sie sich ihrer Handlungen nicht immer bewusst waren. Gideon Greif erklärt dieses Verhalten als psychischen Defensivmechanismus, der das einzige

327 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 22. 328 Vgl. Benz / Bistrović / Curio, Auschwitz, 128. 329 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 113. 330 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1034. 331 Gradowski, Die Zertrennung, 215. 332 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1034. 333 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 321. 40

Mittel war, damit die Sonderkommando-Häftlinge nicht ihren Verstand verloren oder sich umbrachten.334

4.3. Beziehung zu anderen Sonderkommando-Häftlingen

Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass in der Unterkunft der Sonderkommando- Häftlinge wenig geredet wurde. Nach Henryk Mandelbaum hätte es keine Gelegenheit gegeben sich gemeinsam hinzusetzen und miteinander zu reden.335 Natürlich waren die Häftlinge nach der Arbeit erschöpft und gingen nach dem Essen sofort ins Bett.336 Dennoch wird des Öfteren genau das Gegenteil behauptet. Salmen Gradowski schrieb, dass sich die Häftlinge untereinander über ihre missliche Lage austauschten und sogar über „die ihnen verbleibenden Möglichkeiten […], über die ethischen und theologischen Implikationen ihrer Handlungen, über die Notwendigkeit, Rache zu üben und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen“337, debattierten. Die Häftlinge konnten in ihrer freien Zeit demzufolge Konversationen führen. Sie konnten über ihre Situation reflektieren und über das, was man ihnen tagtäglich antat. In ihrer Unterkunft konnten sie aufhören „Roboter“ zu sein.338 Im Gegenteil dazu behauptete Andreas Kilian, dass es innerhalb des Sonderkommandos keine umfassende Solidarität gegeben hätte, sondern vielmehr Konflikte, unterschiedliche Interessen und Ansichten aufgrund der verschiedenen familiären und kulturellen Hintergründe der einzelnen Inhaftierten.339 Die verschiedenen Aufzeichnungen und Interviews von Zeitzeugen entkräften diese Behauptung jedoch vielfach. Jaacov Gabai erzählte im Interview mit Gideon Greif, dass die Beziehungen untereinander freundschaftlich und loyal waren. Nach der Arbeit hätten sie gesellig zusammengesessen.340 Es gab sogar Anlässe, zu denen gesungen wurde. Yehuda Bacon erwähnte an dieser Stelle, dass es sich dabei um sentimentale Lieder über ihr vergangenes Leben und über Freiheit handelte. Viele andere Überlebenden betonten, dass griechische Juden regelmäßig gesungen hätten, wobei sogar einige SS-Männer anwesend waren.341 Die Überlebenden des Sonderkommandos bezeugten, dass die Kameradschaft zwischen den Sonderkommando-Häftlinge aufgrund der Isolation und des gemeinsamen Schicksals größer war als im restlichen Lager.342 Sie halfen sich

334 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1034. 335 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 57. 336 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 55. 337 Gradowski, Die Zertrennung, 35. 338 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 55. 339 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 130. 340 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 216–217. 341 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 55. 342 Vgl. ebd., 54. 41 gegenseitig, um zu überleben. Eisenschmidt erzählte in diesem Zusammenhang, dass an Malaria erkrankten Häftlingen geholfen wurde. Diese mussten eine strenge Diät einhalten, wobei dies im Umfeld des Vernichtungslagers sehr schwer möglich war. Aus diesem Grund hätten einige Sonderkommando-Häftlinge versucht, in den Besitztümern der Opfer die richtigen Lebensmittel zu finden. Diese legten sie dann auf die Seite, obwohl sie selbst hungrig waren.343 Das Sonderkommando war trotz des gemeinsamen Schicksals und des Zusammenhalts keine homogene Gruppe. Die unterschiedliche Herkunft und die Sprachbarrieren erschwerten oftmals die Kommunikation untereinander. Das Sprachproblem konnte oft dadurch überwunden werden, dass die meisten – zumindest ein wenig – Jiddisch sprechen konnten. Die einzige Ausnahme stellten die griechischen Juden dar, die ausschließlich Griechisch oder Ladino sprachen und eine relativ geschlossene Gruppe waren. Dennoch war die Beziehung zwischen den einzelnen Gruppen entspannt und freundlich.344 Obwohl die Verständigung untereinander schwierig war, wurden immer wieder Wege gefunden:

We got along fine with all the people from different countries. We communicated [with the Greeks] largely by using gestures. They could do as much physically demanding work like us, because they had suffered at home and had become hardened. People from Germany or France could not work as hard, and the Kapo arranged for them to work as hair cutters or sorting clothes, things that did not involve hard physical labor.345 Die Solidarität untereinander erlaubte religiösen Juden die Traditionen weiterzuführen. Drei Mal am Tag konnten sie zum Beispiel Minjan in einem der Krematorien abhalten.346 Dennoch kam es laut Knopp neben verwandtschaftlichen Bindungen, wie z. B. die Brüder Dragon, zu Freundschafen unterschiedlicher Art. Es bildeten sich sprachlich-kulturell homogene Gruppen heraus, die sich durch ihre Identität verbunden fühlten347:

Wir taten uns auch nach Herkunftsorten zusammen: Juden aus Polen, aus Litauen, aus Slowakien. […] Wir, die litauischen Juden, organisierten uns in einer Gruppe von 30 Leuten und riefen bei dem Rest der Häftlinge ziemliche Furcht hervor. Alle fürchteten sich vor uns, denn bei uns galt der Slogan: „Alle für einen, und einer für alle!“348 Andere Freundschaften wurden ungeachtet der Herkunft oder der zugeteilten Arbeitsgruppe geschlossen349, wie z. B. bei Eisenschmidt, der zwar zur Gruppe der polnischen Juden gehörte, jedoch auch außerhalb dieser sechs gute Freunde hatte. Sie vertrauten sich gegenseitig und teilten sich sogar das Essen.350 Auch Shaul Chasan konnte im Sonderkommando

343 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 279. 344 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 55. 345 Zit. n. ebd. 346 Vgl. ebd. 347 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 93–94. 348 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 272–273. 349 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 94. 350 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 274. 42

Freundschaften mit Josef Sackar, Leon Cohen, Jaacov Gabai, Shlomo Venezia und vielen mehr aufbauen. Er betonte in diesem Zusammenhang, dass sie weniger Freunde als Brüder waren.351

4.4. Die Beziehung zu den SS-Männern

Nachdem der Vernichtungsprozess nach Birkenau verlegt worden war, wurden die Lebensbedingungen der Mitglieder des Sonderkommandos zunehmend besser. Sie mussten nicht mehr im Freien arbeiten und ihnen standen beheizte Räume sowie Sanitäranlagen mit fließendem Wasser zur Verfügung. Des Weiteren nahm die Gewalt der SS gegenüber den Häftlingen immer weiter ab352, vor allem dadurch, dass die SS-Bewacher immer aus den gleichen etwa 24 Männern bestanden, wobei die Sonderkommando-Häftlinge pro Schicht von zwei bis drei SS-Angehörigen und einem Krematoriumsleiter bewacht wurden.353 Die Beziehung zwischen den Mitgliedern des Sonderkommandos und den SS-Männern war durch die im Lager vorherrschende Korruption geprägt.354 Um die SS jedoch zu bestechen, benötigten die Sonderkommando-Häftlinge Wertsachen, Zigaretten oder Alkohol, die sie meistens aus den hinterlassenen Besitztümer der Opfer stahlen. Auch mit anderen Häftlingen aus dem Lager, die zeitweise das Krematoriumsgelände aus verschiedenen Gründen betreten durften, wurde gehandelt und „organisiert“.355 Müller behauptete, dass „fast alle Häftlinge im Sonderkommando […] einen großen Teil ihrer Energien für das ‚Organisieren‘ (aufwandten), weil es nicht nur half, die harten Lebensbedingungen zu erleichtern, sondern auch von den Schrecken des Alltags ablenkte“.356 Die Bewacher bekamen für ihren „unangenehmen“ Posten in den Krematorien Sonderrationen, dennoch vergriffen sie sich immer wieder an den hinterlassenen Besitztümer der Opfer. Diesbezüglich mussten sie sogar am 22. Mai 1944 einen Verpflichtungsschein unterzeichnen, der sie darüber in Kenntnis setzte, dass sie mit dem Tode bestraft werden, falls sie sich am „Judeneigentum“ bereicherten.357 Dennoch hielten die meisten der Versuchung nicht stand und beschafften sich mit Hilfe der Sonderkommando-Häftlinge, die diese Schwäche zu ihrem Vorteil und zum Vorteil des Widerstands im Sonderkommando, den sie dadurch finanzierten358, ausnutzten, verschiedene Wertsachen.359 Da die SS-Männer der Krematorien, die aufgrund

351 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 318. 352 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 127. 353 Vgl. ebd., 134–135. 354 Vgl. ebd. 355 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 97–98. 356 Müller, Sonderbehandlung, 98–99. 357 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 134–135. 358 Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1033. 359 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 135. 43 ihres Einsatzgebiets eine Außenseiterrolle einnahmen und von den anderen SS-Männern isoliert waren, dadurch gegen das Gesetz verstießen, gelangten sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Häftlingen360 und ermöglichten diesen eine gewisse Handlungs- und Bewegungsfreiheit, die sie für konspirative Tätigkeiten nutzten. Des Weiteren tranken viele SS-Männer regelmäßig und viel Alkohol, wodurch die Disziplin verloren ging361:

Gorges trank viel, meistens Schnaps. Wenn er getrunken hatte, wurde er auch uns gegenüber redselig. Dann erzählte er viel von seinem Sohn, auf den er sehr stolz war. Er schwärmte auch oft von Frankreich, besonders von Paris, wo er wohl bessere Tage verlebt hatte. Das lange Zusammenleben und die vielen Nächte, die wir gemeinsam im Krematorium verbrachten, hatten zwischen ihm und uns Heizern beinahe so etwas wie eine menschliche Beziehung entstehen lassen.362 Abraham Dragon behauptete hingegen, dass es zwischen den Sonderkommando-Häftlingen und den SS-Männern keinen persönlichen Kontakt gegeben hätte: „Nein, persönliche Kontakte gab es nicht und konnte es auch nicht geben. Das ließen die Deutschen nicht zu. Und wir hatten ja auch vor ihnen Angst.“363

4.5. Wahrnehmung des Sonderkommandos durch andere Häftlinge

Wie schon im Kapitel „Selektion und der Zugangsschock“ beschrieben, erfuhr Léon Cohen noch während seiner Quarantäne vom „berüchtigten“364 Sonderkommando. Obwohl das Sonderkommando vom restlichen Lager isoliert wurde, wussten einige Häftlinge über die Existenz des Kommandos Bescheid. Die Häftlinge aus dem Effektenlager „Kanada“ kamen des Öfteren mit den Sonderkommando-Häftlingen in Kontakt und waren selbst bei den Ankünften der Transporte anwesend. Natürlich schwiegen sie nicht über das Gehörte und Gesehene und so verbreiteten sich „vage, verstümmelte Gerüchte“365, die sich oftmals als wahr herausstellten. Des Weiteren kam es des Öfteren vor, dass Häftlinge in der Nähe der Krematorien arbeiteten und die schrecklichen Vorgänge beobachten konnten366:

Nach einigen Tagen warnten uns Freunde aus dem Block vor dem Sonderkommando. Sie sagten uns, wenn wir dort arbeiteten, würde man uns nach einigen Monaten umbringen. Wer ins Sonderkommando käme, hätte nahezu keine Überlebenschancen. Die Deutschen seien nicht daran interessiert, dass es für ihre Verbrechen Augenzeugen gäbe.367

360 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 129–130. 361 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 136–137. 362 Müller, Sonderbehandlung, 148. 363 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 159. 364 Lewental, Gedenkbuch, 207. 365 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 51. 366 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 339. 367 Ebd. 44

Laut diesem Bericht war es einigen Häftlingen bekannt, dass die Mitglieder des Sonderkommandos regelmäßig ausgetauscht wurden. Es gibt jedoch wenige Quellen darüber, wie das Sonderkommando von den restlichen Häftlingen wahrgenommen wurde. Dennoch kann angenommen werden, dass sie aufgrund der kursierenden Gerüchte, ihres Aussehens, das sich vor allem durch den relativ gute physische Zustand von den „normalen“ Häftlingen abhob, und der vielen Privilegien, die die Mitglieder des Sonderkommandos genossen, einen schlechten Ruf hatten. Laut Greif wurde ihr starker Körper zu ihrem Erkennungsmerkmal und diese Tatsache brachte ihnen viel Kritik von den übrigen Häftlinge.368 David Szmulewski, welchem nach dem Krieg fälschlicherweise die Urheberschaft der vier Fotografien des Sonderkommandos zugesprochen wurde und Mitglied der jüdischen Widerstandsbewegung in Birkenau war, schrieb in seinem Tagebuch:

Es gab dort solche, die nur ein Ziel hatten, und das war: Noch ein Teller Suppe, ein Glas Kaffee oder Tee und die Wertsachen der Toten. Ihre Gefühle stumpften ab. Es waren primitive Menschen, die zu Tieren geworden waren.369 Szmulewski beschuldigte die Sonderkommando-Häftlinge gierig nach Essen und Wertsachen zu sein. Seiner Meinung nach würden sie alles dafür tun – sogar ihr eigenes Volk ermorden. Natürlich kann davon ausgegangen werden, dass es die von Szmulewski beschriebenen Häftlinge gab, jedoch darf an dieser Stelle nicht verallgemeinert werden. In Bezug auf die von den Opfern hinterlassenen Besitztümer wurden einige Sonderkommando-Häftlinge habgierig und korrupt, andere hatten kein Interesse an den Wertsachen370, wie z. B. Josef Sackar, der erzählte, dass er nicht nach Wertvollem gesucht habe und auch niemals etwas mitgenommen hätte außer Nahrungsmitteln.371 Des Öfteren nahmen Sonderkommando-Häftlinge hinterlassene Wertsachen an sich, um mit ihnen zu handeln und Waffen oder dergleichen für die Widerstandsbewegung zu erhalten oder die SS-Männer zu bestechen. Wurden die Häftlinge jedoch mit Wertsachen erwischt, wurden sie hart bestraft. Ein Bekannter von Filip Müller wurde überraschend durchsucht und mit Dollarnoten erwischt. Moll bestrafte ihn vor den Augen seiner Mithäftlinge:

Er trieb Mendele zu einer der Gruben, auf deren Oberfläche Hunderte von eingeäscherten Skeletten herumlagen. Die obere Aschenschicht war noch am Glühen. Am Rand der Grube zog Moll seien Pistole und wandte sich zynisch an Mendele: „[…] Ich lass dich laufen, wenn du barfuß durch die Grube läufst.“ In seiner Verzweiflung schöpfte Mendele wohl noch einmal Hoffnung, sein Leben retten zu können. Er streifte seien Schuhe ab, sprang unerschrocken in die Grube und versuchte, um sein Leben zu laufen und das Unmögliche zu schaffen. Als er mit

368 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1033. 369 Zit. n. ebd. 370 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 46. 371 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 84. 45

einem markerschütternden Schrei in der höllischen Glut zusammensackte, gab ihm Moll den Gnadenschuss.372 Gideon Greif betont die Tatsache, dass einige Sonderkommando-Häftlinge die zusätzliche Lebensmittel an ihre ebenfalls im Lager lebenden Familien verteilten.373 Joseph Sackar beispielsweise versuchte seinen Schwestern im Frauenlager, das gegenüber des Krematoriums I lag, immer wieder Brot und dergleichen zuzuwerfen. Er wurde dabei auch von SS-Männern erwischt und verprügelt.374 Auch Jaacov Gabai bemühte sich seiner Frau, die im ebenfalls Frauenlager inhaftiert war, Lebensmittel zu bringen.375 Henryk Mandelbaum versuchte Häftlinge mit alltäglichen Gegenständen zu helfen. Er packte kleine Bündel mit Seife, Zahnbürste und einem Kleidungsstück zusammen und war dieses über den Zaun in das Lager BIIc, in dem – laut ihm – Frauen aus Ungarn einquartiert waren, die ihm leid taten.376 Die Sonderkommando-Häftlinge waren generell nicht dazu bestimmt sogenannte „Muselmänner“377 zu werden – jedenfalls nicht so schnell – weil sie für ihre Arbeit Kraft benötigten.378 Dennoch war relativ gute Versorgung des Kommandos nicht von Anfang an gegeben. Bevor die vier moderneren Krematorien gebaut wurden, erhielten die Häftlinge im Sonderkommando meistens nur die ganz normalen Lebensmittelrationen, wie das restliche Lager. Die sowieso schon ungenügenden Verpflegung war für die Sonderkommando-Häftlinge besonders schwierig, weil sie schwere körperliche Arbeit zu verrichten hatten. Deshalb waren sie auf die RSHA379-Transporte abhängig. Doch wenn Jüdinnen und Juden aus Ghettos deportiert wurden, hatten sie meistens wenige bis gar keine Nahrungsmitteln mit.380 Dies war vor allem bei Transporten aus Polen der Fall, welche schon im Ghetto hungern mussten.381 Anders war es bei Transporten mit europäischen Jüdinnen und Juden, vor allem wenn diese aus Regionen kamen, in denen die jüdische Bevölkerung noch nicht verarmt war. Diese brachten viele Lebensmittel mit, die den Sonderkommando-Häftlingen zugutekam382, und aus den

372 Müller, Sonderbehandlung, 225–226. 373 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1033. 374 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 88. 375 Vgl. ebd., 214. 376 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 74. 377 „So wurden Häftlinge genannt, die seelisch und vor allem körperlich vollkommen heruntergekommen waren. Sie bestanden nur noch aus Haut und Knochen und waren ohne Muskeln und ohne Fett. Ihre dünne, pergamentartige Haut war von den spitzen Knochen des Skeletts oft durchgescheuert, so dass sich schwärende, entzündliche Wunden gebildet hatten.“ Müller, Sonderbehandlung, 72. 378 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 40. 379 „RSHA“ ist die Abkürzung für „Reichssicherheitshauptamt“, das mit der Judenvernichtung beauftragt war. Vgl. Klee, Personenlexikon, 491. 380 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 87–88. 381 Vgl. Michael Berenbaum, Sonderkommando. Testimony from Evidence, in: Jonathan Petropoulos / John K. Roth (Hg.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath, New York–Oxford 2005, 61–69, 67. 382 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 87–88. 46 jeweiligen Gegenden kamen. Beispielsweise kamen die Sonderkommando-Häftlinge in den Genuss von Oliven und Datteln als die griechischen Jüdinnen und Juden 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. Jüdinnen und Juden, die am Abend des Passahfests ankamen, hatten oft Matzen/Mazzen bei sich.383 Besonders als die Krematorien II bis V in Betrieb genommen wurden, d.h. im Frühjahr 1943, war die Versorgung der Häftlinge für Lagerverhältnisse überdurchschnittlich gut. Ab Mai 1944 steigerte sich sogar die Lebensmittelversorgung noch einmal. Der Grund dafür war, dass die Häftlinge in den Krematoriumsgebäuden selbst untergebracht waren.384 Dadurch hatten die Sonderkommando-Häftlinge bei den anderen Lagerhäftlingen das Image von „gestopften und übersättigten Leuten, die nicht wissen, was Hunger ist“.385 Tadeusz Joachimowski war Rapportschreiber, d.h. er war Leiter der Häftlingsschreibstube, im sogenannten „Zigeunerlager“386 und berichtete:

Als ich in den Block 3 ging und in die Stube, welche der Lagerälteste und der Lagercapo innehatten, kam, war dort ein großer, mit weißem Leinen bedeckter Tisch aufgestellt, an welchem ungefähr zwanzig Juden aus dem Sonderkommando saßen. Karl Seefeld brachte Schüsseln mit ausgesuchtem Schinken, Wurst, Fischen und dergleichen Esswaren auf den Tisch, und die Herumsitzenden ließen es sich gut schmecken. Als Leckerbissen folgten noch Schokolade und verschiedenes Obst. Die Anwesenden, mit Ausnahme der Juden, suchten sich nach Geschmack Esswaren heraus und stopften sich ihre Bäuche voll. Erst als auf dem Tisch Sprit und Kognak erschien, erheiterten sich die Juden und tranken, um ihren Kummer zu beseitigen.387 Laut Hermann Langbein äußerte sich ein Mitglied des Sonderkommandos gegenüber Erich Altmann, ein Überlebender des KL Auschwitz, wie folgt: „Endlich wieder einmal ein anständiger Transport in Aussicht. Ich habe schon nichts Vernünftiges mehr zu essen!“388 Letztlich hing ihr Leben von den Transporten ab. Aus diesem Grund war es in ihrem Interesse, dass möglichst viele Transporte in Auschwitz-Birkenau eintrafen. Jede Unterbrechung stellte nämlich eine Bedrohung für das Überleben der Sonderkommando-Häftlinge dar.389 Blieben die Transporte aus, war das wie ein Todesurteil.390 Neben der Tatsache, dass die Mitglieder des Sonderkommandos meistens genug zu essen

383 Vgl. Berenbaum, Sonderkommando, 67. 384 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 87–88. 385 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 36. 386 Vgl. Klee, Personenlexikon, 199. 387 Zit. n. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 36–37. 388 Zit. n. Langbein, Menschen in Auschwitz, 289. 389 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1026. 390 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 6. 47 hatten, durften sie auch persönliche Gegenstände besitzen391, Zivilkleidung tragen und sich regelmäßig waschen.392 Josef Sackar schildert die Verhältnisse in einem Zeitzeugeninterview:

Es gab Decken und Kopfkissen. Die Matratze war aus Stroh, aber wir konnten sie mit Kleidungsstücke beziehen. Wir hatten alles, uns fehlte nichts – weder Kleider noch Essen oder Schlaf. Wir litten nicht unter Hunger oder Schlaflosigkeit, wir hatten Kleider und Schuhe während der ganzen Zeit. Natürlich hatten nur wir vom Sonderkommando diese Vergünstigungen, alle anderen konnten davon nur träumen. Die Bedingungen in unserem Block waren ausgezeichnet. Wir hatten Wannen zum Baden im Krematorium und in unseren Blöcken im Lager. Im Krematorium hatten wir ein Bad auf dem Stockwerk der Wohnstuben. Auch Toiletten hatten wir im Block. […] Wir trugen normale, zivile Kleidung.393 Auch Jaacov Gabai erwähnte die gut Versorgung mit Kleidung, die sie aus den zurückgelassenen Besitztümer der Opfer nehmen durften:

Wir hatten warme Kleidung, das Beste. Wir hatten Hosen und Hemden mit Futter, Unterhemden aus Wolle, Jacketts, Hut und Mantel. Später half uns diese Kleidung, als wir von Auschwitz nach Mauthausen gebracht wurden. Die Leute starben auf dem Weg, und wir waren völlig gesund.394 Einige Sonderkommando-Häftlinge waren sogar Besitzer eines Messers.395 Des Weiteren gab ein Ärzteteam, dass eigens dem Sonderkommando zugewiesen wurde – dennoch war die medizinische Versorgung unzureichend.396 Ab 1944 durften die Sonderkommando-Häftlinge in ihrer „Freizeit“ Aktivitäten ausüben, die im übrigen Lager verboten waren, wie beispielsweise Karten oder Fußball spielen, lesen und musizieren.397 Zu den „Privilegien“ des Sonderkommandos gehörte auch der Überfluss an Alkohol:

Einige Zeugen haben berichtet, dass diesen Unglücksmenschen große Mengen Alkohol zur Verfügung gestellt wurden und sie sich permanent in einem Zustand totaler Abgestumpftheit und Niedergeschlagenheit befanden.398 Jaacov Gabai399 und Shaul Chasan400 berichteten, dass das Sonderkommando tatsächlich die Möglichkeit hatten Alkohol zu trinken und sogar von der SS die Erlaubnis dazu hatten, doch dass der Alkohol von den Deutschen zur Verfügung gestellt wurden, können sie nicht bezeugen. Henryk Mandelbaum wies darauf hin, dass man mit jemanden Handel betreiben hätte müssen, um an Alkohol heranzukommen und dass sich während der Arbeit niemand erlaubt hätte zu

391 Es gibt nur eine Quelle, die genaue Angaben zu den Besitzverhältnissen macht. Eliezer Eisenschmidt berichtete in einem Interview mit Gideon Greif, dass die Sonderkommando-Häftlinge Rucksäcke besaßen, mit denen sie zur Arbeit gingen und in denen sie Essensreste aufbewahrten. Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 86. 392 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 28. 393 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 86–87. 394 Ebd., 213. 395 Vgl. Berenbaum, Sonderkommando: Testimony and Evidence, 67. 396 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 28. 397 Vgl. ebd., 29. 398 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 51. 399 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 212. 400 Vgl. ebd., 316. 48 trinken.401 Tatsächlich wurde Alkohol nicht als Genussmittel von den Häftlingen getrunken, sondern um die grausame Arbeit ertragen zu können.402 Laut Igor Bartosik und Adam Willma wird dieses Thema in vielen Quellen behandelt, jedoch könne es nicht generalisiert werden. Dov Paisikovic merkte an, dass Alkohol durchaus vorkam, doch es wäre niemals ein Häftling völlig betrunken zur Schicht angetreten. Dies hätte nämlich den Tod bedeutet.403 Nach Bernhard Mark hatte die Arbeit im Sonderkommando nicht nur Auswirkungen auf die Seele, sondern auch auf ihr Aussehen. Dadurch dass die Häftlinge ständig von Leichen umgeben waren, lange Schichten im Krematorium abarbeiten mussten und ihren eigenen moralischen Verfall bemerkten wurde das Grauen in ihren Gesichtern widergespiegelt. Laut Mark wurden sie zu „groben, abstoßenden und widerwärtigen Menschen“404, die sich selbst verachteten. Auch am Geruch konnten die Mitglieder des Sonderkommandos erkannt werden. Aufgrund der Verbrennungsöfen und der Scheiterhaufen entstand ein unerträglicher Gestank, der sich nicht nur auf dem Gebiet, wo sich die Krematorien befanden, ausbreitete, sondern im ganzen Lager. Laut Igor Bartosik und Adam Willma erinnerten sich viele Häftlinge aus Birkenau an diesen Geruch und an die Häftlinge des Sonderkommandos, die an diesem zu erkennen waren.405 Henryk Mandelbaum bestätigte im Zeitzeugeninterview mit den beiden Historikern diese Annahme:

Tatsächlich waren wir von diesem Rauch völlig durchtränkt. Wer wollte, wechselte die Kleidung, aber das machte nur Mühe, […] Manche nahmen Kosmetika mit ins Bad. Aber ich habe keine verwendet. Wie hätte ich den Geruch verbrannten Rauches mit so etwas übertönen können? Was für ein Geruch wäre das denn geworden? Selbst wenn es „Soir de Paris“ gewesen wäre, hätten Sie diesen Geruch nicht übertönen können.406 Aufgrund der verschiedenen Vorteile, die die Männer des Sonderkommandos für ihre Arbeit bekamen, wurden sie von manchen „normalen“ Häftlingen beneidet und als Kollaborateure verachtet.407 Obwohl in vielen Zeugnissen das Sonderkommando in Zusammenhang mit ihren sogenannten „Privilegien“ bearbeitet wird, kann laut Aurélia Kalisky408 nur schwerlich von Privilegien die Rede sein, denn in Anbetracht der zu verrichtenden Tätigkeiten des Kommandos erscheinen diese Vorteile für die Sonderkommando-Häftlinge als nichtig. Das konnten jedoch

401 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 70. 402 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 212. 403 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 70. 404 Zit. n. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1024. 405 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 55. 406 Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 55. 407 Vgl. von Arnim, Am Ort des Grauens. 408 Gradowski, Die Zertrennung, 29. 49 nicht alle „normale“ Häftlinge wissen oder verstehen, weil sie die Wahrheit nicht kannten.Henryk Mandelbaum ist der Meinung, dass nur Häftlinge bzw. Menschen sie als „Helfer“ oder „Mittäter“ sahen, die die Wahrheit nicht kannten. Ihm selbst gegenüber verhielten sich die anderen Häftlinge im Lager „normal“ .409 Ein Schlüsselerlebnis für viele Häftlinge, die sich nicht im Sonderkommando befanden, war der Aufstand im Oktober 1944, der im späteren Kapitel noch genauer behandelt wird. Die Sonderkommando-Häftlinge setzten mit ihrem Widerstand ein eindeutiges Zeichen und ernteten – laut Greif – im Außenlager von Auschwitz Buna-Monowitz, in das einige Überlebende des Aufstandes gebracht wurden, Bewunderung wie auch Bedauern von anderen Häftlingen. Seiner Meinung charakterisiert diese Aussage die Einstellung gegenüber dem Sonderkommando.410

5. Die Wahrnehmung des Sonderkommandos nach dem Krieg

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges mussten sich die ehemaligen Sonderkommando- Häftlinge, die es geschafft hatten, während der „Todesmärsche“ zu flüchten411 oder die im KL Mauthausen befreit worden waren, wieder ins Leben finden. Die Rückkehr in den Alltag war aufgrund der Erinnerungen an die schreckliche Arbeit erschwert und auch ihr Umfeld machte es ihnen nicht leicht, weil die Menschen den ehemaligen Funktionshäftlingen oftmals mit Unglauben oder Verständnislosigkeit begegneten. Abraham Dragon äußerte sich zu diesem Thema wie folgt:

Um die Wahrheit zu sagen: ich schämte mich. Die Leute hier in Israel sahen die Sonderkommando-Häftlinge schief an. Sie verstanden nicht die schreckliche Realität, in der wir leben mussten. Sie verstanden nicht, dass wir uns diese furchtbare „Arbeit“ nicht selbst ausgesucht hatten. Man begriff hier nicht, dass es zu unserem Schicksal geworden war, in diese Hölle von Auschwitz hineingeraten zu sein. […] Wir waren nicht im Sonderkommando, weil wir es wollten. Das Schicksal hatte uns dort hingestellt. Man soll uns nicht beneiden, wir hatten keinen Ausweg. Glauben Sie mir, das war die furchtbarste Arbeit, die Menschen sich für andere Menschen ausdenken konnten.412 Des Weiteren wurde ihnen vorgeworfen „Kollaborateure“ oder „Mittäter“ zu sein, die halfen, „die Todesmaschinerie der Deutschen zu bedienen“.413 Neben anderen Funktionshäftlingen

409 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 70. 410 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1045. 411 Unter anderem konnten Szlama Dragon, Henryk Tauber, Stanisław Jankowski (Alter Feinsilber) und Henryk Mandelbaum flüchten. Vgl. Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech, Vorwort Handschrift Lejb (Langfus), in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 61–67, 66. 412 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 186. 413 Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1024. 50 wurden sie für den Mord an tausenden Jüdinnen und Juden mitverantwortlich gemacht und ausgegrenzt:

Sicherlich dachte man, wir seien die Mörder, wir hätten die Morde eigenhändig ausgeführt und wir seien schuldig. Als ob wir die Verbrechen aus eigener Initiative begangen hätten. Die Menschen informierten sich nicht ausreichend darüber, was in Auschwitz geschehen war, und dachten wohl, dass wir an den Verbrechen beteiligt waren. Das ist schrecklich absurd. In Wahrheit wurden wir doch gezwungen, diese Arbeit für die Deutschen auszuführen. Wir hatten keine andere Wahl, als zu gehorchen. Nicht wir vergossen das Blut, sondern die Deutschen. Wir waren nur ein Instrument in ihren Händen. Sie sind die Mörder, und sie verdienen die schwersten Strafen. Auch dafür, was sie uns angetan hatten – dass sie Juden zwangen, die Leichen ihrer Geschwister zu verbrennen; dass sie Juden zwangen, die Überreste zu Staub zu zermalmen; dass sie Juden zwangen, die Leichen ihrer Geschwister aus den Gaskammern zu holen – das ist das große Verbrechen der Deutschen.414 Nach dem Krieg blieb die schlechte Meinung einiger ehemaliger Auschwitz-Häftlinge gegenüber den Sonderkommando-Häftlingen bestehen. Abraham Dragon berichtete von einer Begegnung mit einer ehemaligen Auschwitz-Inhaftierten in Tiberias, wo er auf Urlaub war:

Dort begann eine Überlebende aus Auschwitz in aller Öffentlichkeit von ihren Eindrücken aus ihrer Häftlingszeit im Lager zu erzählen. Unter anderem äußerte sie sich auch: ‚Die jüdischen Sonderkommando-Häftlinge waren große Mörder und sind zu bestrafen. Sie waren fast so schrecklich wie die Deutschen.‘ Derartige Ansichten hatte ich schon in der Vergangenheit gehört. Und sie sind heute noch in gewissem Maße verbreitet. Wir glauben zwar, dass die Mehrheit der Bevölkerung hier nicht mehr so denkt. Und wir können nur hoffen, dass unsere Arbeit in Birkenau richtig verstanden wird – nicht wir waren für die „Endlösung der Judenfrage“ verantwortlich.415 Überlebende, wie Primo Levi, als auch die Öffentlichkeit stellten sich die Frage, wie jemand diese Arbeitsbedingungen verrichten konnte, ohne verrückt zu werden oder den Tod vorzuziehen.416 Viele verrichteten diesen unerträglichen Job tagelang, monatelang und sogar jahrelang und überlebten. Wie schon in einem früheren Kapitel erwähnt, entschlossen sich viele Mitglieder des Sonderkommandos nicht sofort aufzugeben, sondern auf ein Wunder zu hoffen, das sie lebend aus dieser Hölle bringen würde.417 Die Angst vor dem Tod war – nach Franciszek Piper – verständlicherweise der primäre Grund, weshalb die Sonderkommando-Häftlinge die Arbeit in den Gaskammern und Krematorien ausübten.418 Dennoch entwickelten einige die Theorie, dass sie dazu auserwählt wurden, um den Mord am jüdischen Volk zu bezeugen und später ihr Wissen zu verbreiten.419 Viele haben sich während ihrer Zeit im Sonderkommando menschliche als auch moralische Werte bewahrt, indem sie versuchten, „Mensch“ zu bleiben. Aus diesem

414 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 187. 415 Ebd., 188. 416 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 57. 417 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1028. 418 Vgl. Piper, Die Bedeutung des KL Auschwitz im Nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparat, 22. 419 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1028. 51

Grund haben sie so viele Aufzeichnungen wie möglich gemacht: Aufzeichnungen über die „Endlösung“ in Birkenau, über das Lager selbst und über die Aufgaben des Sonderkommandos. Diese Häftlinge, die sogenannten „Geschichtsschreiber“, beteiligten sich oftmals in der Widerstandgruppe des Sonderkommandos, die den Aufstand in Auschwitz-Birkenau im Oktober 1944 organisierte und durchführte.420 Auf die Aufzeichnungen und den Aufstand des Sonderkommandos wird an einer anderen Stelle genauer eingegangen. Dennoch gab es vereinzelt Sonderkommando-Häftlinge, die nach Gideon Greif eine „Psychologie des ‚Lebens für den Augenblick‘ praktizierten und sich von den Vorteilen blenden ließen“.421 Neben der Tatsache, dass die Sonderkommando-Häftlinge schlicht und einfach überleben wollten, spielte die Routine eine wichtige Rolle, d. h. die Häftlinge gewöhnten sich stufenweise an die Arbeit in den Krematorien: „the tears dried up over time, the mind grew numb, cries of the murdered were ignored, and the corpses became like pieces of wood.“422 Abraham Dragon antwortete auf die Frage, ob man sich überhaupt an eine derartige Arbeit gewöhnen könne:

Das ist leider möglich. Wie kann man sonst in den Krieg ziehen und Menschen erschießen? Man gewöhnt sich daran. Am ersten Tag ist es besonders schwierig, aber nachher gewöhnt man sich daran. Der erste Tag ist kritisch und entsetzlich. An anderen Tagen war es schon leichter. Auch ein Arzt gewöhnt sich an allerlei unangenehme Arbeiten.423 Um die belastende Arbeit zu ertragen mussten die Sonderkommando-Häftlinge jegliche Empathie, jegliche Gefühle abtöten, um die Aufgaben zufriedenstellend erfüllen zu können. Dadurch sicherten sie ihr Überleben. Aurélia Kalisky nimmt hierbei einen Vergleich mit dem SS-Mann vor, der ebenso mit Tausenden Leichen konfrontiert war, betont jedoch einen bedeutenden Unterschied: Anders als der SS-Mann wird der Sonderkommando-Häftling „als Opfer zur aktiven Teilnahme am Prozess der Vernichtung gezwungen“.424 Die Mitglieder des Sonderkommandos wurden ständig gezwungen sich mit der Ermordung ihres Volkes auseinanderzusetzten, hatten jedoch keine Zeit, um diese schrecklichen Erfahrungen zu verarbeiten:

Es gibt keinen Augenblick, in dem du dich in deine eigene Ecke setzen und weinen könntest, weinen über die Katastrophe. Der ständige systematische Tod, der hier das einzige Leben im ganzen Leben ist, überschreit, verwirrt, betäubt dir die Gefühle. Du kannst dich auch zu den schlimmsten Leiden nicht mehr hinfühlen, hinspüren. Die individuelle Katastrophe ist verschlungen worden von der allgemeinen.425

420 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1026. 421 Ebd., 1025. 422 Greif, Between Sanity and Insanity, 39. 423 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 171. 424 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 327. 425 Gradowski, Die Zertrennung, 144. 52

Verschiedene Zeitzeugenberichte bezeugten, dass die fürchterliche Arbeit zu einer totalen moralischen Verrohung geführt habe und die Häftlinge wie Roboter ihre Arbeit verrichteten, welche jeden Kontakt zur Realität verloren hätten.426

[…] wir waren damals wie Roboter. Wir konnten uns überhaupt nicht der Gewalt der Gefühle, die sich bei unserer Arbeit einstellten, aussetzen. Ein Mensch kann diese Gefühle, […], eigentlich nicht ertragen. In dem Augenblick, in dem wir diese Gefühle verdrängten und so fühlten wie „normale Menschen“, betrachteten wir alle diese Handlung(en) als „Arbeit“, die wir nach den Anweisungen der Deutschen ausführen mussten. […] Wir hatten eigentlich gar keine Gefühle mehr. Wir hatten die Gefühle noch in ihren Anfängen erstickt.427 Eliezer Eisenschmidt hingegen spricht in einem Interview von „Gleichgültigkeit“:

Im Laufe der Zeit gewöhnten wir uns an die Routine. Ich würde unsere seelische Lage als „Gleichgültigkeit“ bezeichnen. Ich stimme zu, dass das eine ‚Gleichgültigkeit‘ war, die man nicht definieren und sicherlich auch nicht verstehen kann angesichts dessen, was dort jeden Tag von uns gefordert wurde.428 Doch an dieser Stelle darf nie vergessen werden, welche seelischen Schmerzen die Sonderkommando-Häftlinge tagtäglich erleiden mussten, bis diese „Gleichgültigkeit“ eintrat. Es gibt Zeugnisse, die über Fälle berichten, in welchen die Mitglieder des Sonderkommandos ihre eigene Familie in den Öfen verbrennen oder ihrer eigenen Mutter die Goldzähne ziehen mussten.429 Der Kommandant Robert Höß beschrieb eine solche Situation in seinen Memoiren:

Einen Fall erlebte ich selbst. Beim Herausziehen der Leichen aus einer Kammer der Freianlage stutzte plötzlich einer vom Sonderkommando, stand einen Augenblick wie gebannt still, zog aber dann mit seinen Genossen mit der Leiche ab. Ich frug den Capo, was mit dem los sei. Er stellte fest, dass der stutzende Jude seine Frau unter den Leichen entdeckt hätte.430 Die meisten Überlebenden des Sonderkommandos berichteten, dass das Handeln sinnlos gewesen wäre. Die Arbeit zu verweigern wäre bedeutungslos gewesen, weil sie nicht wichtig genug waren – sie waren „kein lenkendes Glied des Vernichtungsprozesses“.431 Nach Hannah Arendt ist ein wichtiger Aspekt der „Totalen Herrschaft“ die Reduktion jedes einzelnen Menschen „auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen […], so dass jedes dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist“.432 Hätten vereinzelte Häftlinge des Sonderkommandos bei der Arbeit Widerstand geleistet, wären sie auf der Stelle ermordet und ersetzt worden.433 So passierte es mit einer Gruppe, die aus 400 Juden aus Korfu bestand,

426 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 39. 427 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 347. 428 Ebd., 257. 429 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 41. 430 Höß, Kommandant von Auschwitz, 196. 431 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 77. 432 Hanna Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München–Zürich 2006, 907. 433 Vgl. Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 77. 53 die im Juli 1944 dem Sonderkommando zugeteilt wurde und sich weigerten die Arbeit auszuführen – sie wurden sofort vergast.434 Milton Buki berichtete im Auschwitz-Prozess von zwei Sonderkommando-Häftlingen, die sich geweigert hatten. Hauptscharführer Moll, der von Mai bis September 1944 Chef der Vergasungsanlagen war435, hatte sie „in ungeheizte Öfen gesteckt, sie dann ins Wasser geworfen und schließlich mit seiner Pistole erschossen“.436 Die Vernichtung konnte „von keinem Häftling je durch sein Tun und Widersetzen in Frage gestellt werden.“437 Wie bereits in einem anderen Kapitel erwähnt, war das Ziel der Täter den Jüdinnen und Juden die Last der Schuld aufzubürden. Die Sonderkommando-Häftlinge waren bloß Marionetten, nur Sklaven, die gezwungen wurden, in der Todesfabrik in Auschwitz-Birkenau zu arbeiten. Sie hatten keine Wahl: Weigerung führte automatisch zum Tod, während die Fortführung der Arbeit bedeutete, in der Hölle zu leben438 und am Ende dennoch ermordet zu werden.439 Lawrence Langer prägte diesbezüglich den Begriff „choiceless choices“, der dafür verwendet wird, die von den Nazis und deren Kollaborateuren geschaffenen Dilemmata zu identifizieren. Diese Zwangslagen bestanden darin, dass sich Jüdinnen und Juden sowie andere Opfer in Situationen wiederfanden, in denen sie gezwungen waren, sich zwischen zwei schrecklicheren Optionen zu entscheiden440: „Choiceless choices, […], do not ‚reflect options between life and death, but between one form of abnormal response and another, both imposed by a situation that was in no way of the victim’s own choosing‘“.441 Ein weiterer Grund weshalb es für die Sonderkommando-Häftlinge schwer war, aktiven Widerstand zu leisten, war, dass die NS- Schergen jede Gelegenheit dazu, zu verhindern wussten. Sie trieben die Häftlinge unentwegt mithilfe von Hunden und Schlägen an, so dass die Häftlinge jede Arbeit im Laufschritt durchführen mussten. Dadurch hatten sie, wie schon erwähnt, keine Zeit zur Reflexion und führten ihre Arbeit wie Roboter oder Maschinen aus. Außerdem wurde das System der Bevorzugung durch bestimmte Privilegien, wie zusätzliche Nahrungsmittel und Kleidung, absichtlich eingeführt, um ihre Arbeitsmotivation zu steigern. Des Weiteren wurden alle

434 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und Geretteten, 57–58. 435 Vgl. Klee, Personenlexikon, 282. 436 Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 96. 437 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 77. 438 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 39. 439 Vgl. John K. Roth, Gray-Zoned Ethics. Morality’s Double Binds During and After the Holocaust, in: Jonathan Petropoulos / John K. Roth (Hg.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath (Studies on War and Genocide 8), New York–Oxford 2012, 372–389, 373–374. 440 Vgl. Jonathan Petropolous / John K. Roth, Prologue. The Gray Zones of the Holocaust, in: Jonathan Petropoulos / John K. Roth (Hg.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath (Studies on War and Genocide 8), New York–Oxford 2012, XV–XXII, XXI. 441 Zit. n. Petropolous / Roth, Prologue, XXI. 54 entscheidenden Handlungen im Mordprozess, wie z. B. der Einwurf von Zyklon B oder das Anzünden des Feuers in den Gruben, von den Nazis selbst durchgeführt, weil diese Aufgaben am ehesten zu Widerstand geführt hätten.442 Trotz der Maßnahmen der SS und entgegen der Anschuldigungen nach Beendigung des Krieges kam es durchaus zu kleineren als auch großen Widerstandsaktionen.

5.1. Der Widerstand

Laut verschiedenen Zeitzeugenaussagen kam es immer wieder zu kleineren, aktiven Widerstandaktionen während der Arbeit. Meistens handelte es sich dabei um Sabotage. Henryk Mandelbaum berichtete zum Beispiel, dass sie die gezogenen Goldzähne der Toten oder andere Wertsachen in den Teich warfen, damit die SS sie nicht erhält. Diese meist spontanen Aktionen waren mit einem sehr großen Risiko verbunden, weil die SS Sabotage sehr schwer bestrafte.443 Es kam auch zu Fällen, in denen Wertsachen aus den hinterlassenen Besitztümern der Opfer gestohlen wurden – nicht um sich selbst zu bereichern, sondern damit die Gegenstände nicht in die Hände der Deutschen gelangten.444

5.1.1. Aufzeichnungen

Darüber hinaus nutzten einige Sonderkommando-Häftlinge jede Chance, um Tagebuch zu schreiben, Pläne vom Lager anzufertigen oder Transportlisten zu verfassen. Dadurch hinterließen sie ein dokumentarisches Zeugnis ihrer Glaubensgenossen und gewährten der Nachwelt einen Einblick in ihr Innerstes.445 Einige Häftlinge führten die Aufzeichnungen bewusst aus und teilten sich die Themen untereinander auf. Zu den sogenannten „Historikern“446 oder „Chronisten des Sonderkommandos“447 zählten Lejb Langfus, Salmen Gradowski, Salmen Lewental, Chaim Herman, Marcel Nadjary, der als einziger überleben konnte, und ein unbekannter Autor. Sie verfolgten mit ihrem Vorhaben ausschließlich das Ziel der Unterrichtung der Nachwelt über die schreckliche Wahrheit von Auschwitz-Birkenau. Sie wollten ihre Taten, zu denen sie gezwungen wurden, nicht rechtfertigen, sondern lediglich als Zeugen auftreten. Das ist vor allem bei Gradowski zu erkennen, der sich im Manuskript nicht namentlich nennt, obwohl er darin den Finder oder die Finderin bittet, seinen Onkel, der in New

442 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 31. 443 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 66. 444 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1033. 445 Vgl. ebd., 1035 446 Gradowski, Die Zertrennung, 55. 447 Knopp, „Wir lebten mitten im Tod“, 21. 55

York lebt, aufzusuchen, um ein Foto von ihm selbst zu erbitten. Das Manuskript sollte dann zusammen mit diesem Foto veröffentlich werden. Der Name des Autors konnte nur ermittelt werden, weil sich in zwei der insgesamt drei Briefe eine Zahlenreihe befindet, die aufgrund der Gematrie448 entschlüsselt werden konnte.449 Die Autoren der Handschriften waren im Schreibprozess nicht auf sich alleine gestellt, sondern bekamen Hilfe von den anderen Sonderkommando-Häftlingen, indem sie den „Historikern“ Papier und Schreibmaterial besorgten und ihre Schichten übernahmen450 oder sie wurden für Arbeiten eingeteilt, die ihnen ermöglichten die Aufzeichnungen zu tätigen.451 Auf die Entdeckung der Manuskripte und ihre Bearbeitung in der Forschung, wird im Unterkapitel „Die Manuskripte“ eingegangen.

5.1.2. Die Fotografien

Des Weiteren gab es einen Versuch, „die freie Welt durch Fotos über die Ereignisse zu informieren“.452 Im Sommer 1944 gelang es den Sonderkommando-Häftlingen insgesamt 7 Fotos, wobei nur 4 veröffentlicht wurden, aufzunehmen.453 Diese Aufnahmen wurden von den Anführern des polnischen Widerstands, mit dem Häftlinge des Sonderkommandos in Kontakt standen, erbeten. Es wird davon ausgegangen, dass ein Arbeiter in Zivil den Fotoapparat in das Lager schmuggelte.454 Es ist unumstritten, dass diese Bilder nur aus einem Grund geschossen wurden: Um die Öffentlichkeit über die schrecklichen Geschehnisse in Auschwitz-Birkenau zu unterrichten. Diese Bilder zeigen Momente unmittelbar vor und nach der Vergasung.455 Es ist nicht vollständig geklärt, wer die Fotos gemacht hat, jedoch wurde lange Zeit Dawid Szmulewski dafür verantwortlich gemacht.456 Szmulewski, der eine wichtige Verbindungsperson zwischen der Widerstandsgruppe des Sonderkommandos und der nichtjüdischen in Auschwitz war457 und als Dachdecker das Gelände der Krematorien für Reparaturen betreten durfte, gab 1961 zu Protokoll, dass er von der nichtjüdischen Widerstandsbewegung in Auschwitz einen Fotoapparat bekommen hätte und zwei Fotos durch

448 „In der jüdischen Tradition beruht die Gematrie auf der Tatsache, dass im hebräischen Alphabet keine Ziffern existieren, stattdessen wurden die Buchstaben verwendet, so dass jedes Wort als eine Gruppe von Ziffern gelesen werden kann.“ Gradowski, Die Zertrennung, 12. 449 Vgl. ebd. 450 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1035. 451 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 133. 452 Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1035. 453 Vgl. Andreas Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz 35 (2016), 9–19, 9–11. 454 Vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem (Bild und Text), München 2007, 26. 455 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1036. 456 Vgl. Janina Struk, Photographing the Holocaust. Interpretations of the Evidence, New York 2004, 114. 457 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 133. 56 ein Knopfloch aufnehmen konnte.458 Laut Andreas Kilian habe Szmulewski von einem Loch im Dach der Gaskammer gesprochen. Diese Aussage wurde von Alfred Woycicki, der die Fotos selbst entwickelte und als Zeuge im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess aussagte, bestätigt.459 Doch Szmulewski sprach nur von zwei Bildern460, obwohl es ursprünglich 7 Aufnahmen gegeben hatte. Später wurde aufgrund einer Zeugenaussage von Stanisław Jankoswki (Alter Feinsilber)461, der sich selbst als „Co-Autor“ der Aufnahmen bezeichnete462, angenommen, dass es sich beim Urheber um einen griechisch-jüdischen Häftling namens Alex handeln würde. An den Nachnamen könne er sich nicht mehr erinnern.463 Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Alberto Errera464, der – nach Andreas Kilian – in den Zeitzeugeninterwies und -berichten auch mit den Vornamen Alekos oder Alex erwähnt wird.465 Er sei nach Jankoswki der Einzige gewesen, der sich mit dem Fotoapparat auskannte.466 Die Annahme, dass es sich beim griechischen Juden namens Alex um Allberto Errera handelte, wurde jedoch von einigen Historikerinnen und Historiker angezweifelt, wie z. B. von Nicholas Chare und Dominic Williams, die behaupteten, dass Alberto Errera zu bekannt gewesen sei, um sich nicht mehr an den Nachnamen zu erinnern.467 Die 100%ige Identifikation des Urhebers wird wahrscheinlich aufgrund der Quellenlage niemals erfolgen. Jean-Claude Pressac, dem die Geschehnisse im Holocaust zunächst als unglaubwürdig vorkamen, bearbeitete als erster die vier Fotografien hinsichtlich Beschaffenheit und Aufnahmeorte und konnte durch den Vergleich mit Bauplänen des Lagers in Birkenau analysieren, dass es sich um das Gelände von Krematorium V handeln musste, weil es das einzige Krematorium war, das von Bäumen umgeben war. Zwei Aufnahmen wurden aus der

458 Vgl. Miriam Yegane Arani, Holocaust. Die Fotografien des „Sonderkommando Auschwitz“, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder 1900 bis 1949, Göttingen 2009, 658–665, 660. 459 Vgl. Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, 13. 460 Vgl. Arani, Holocaust, 660. 461 Vgl. ebd., 663. 462 Vgl. Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, 15. 463 Vgl. Struk, Photographing the Holocaust, 114. 464 Alberto Errera wurde 1912 in geboren und im April 1944 nach Auschwitz deportiert. Errera war – nach Kilian – an einem der berühmtesten Fluchtversuche aus dem Lager beteiligt, in dem er die Weichsel durchschwimmen wollte, jedoch dabei erschossen wurde. Um das restliche Sonderkommando von derartigen Versuchen abzuschrecken, wurde sein Leichnam zur Schau gestellt. Vgl. Andreas Kilian, Der Auschwitz- Flüchtling Alberto Errera. Zur Mythologisierung eines griechischen Helden des Widerstands, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz 37 (2017), 31–35, 32–33. 465 Vgl. ebd., 31. 466 Vgl. Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, 16. 467 Vgl. Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, 19. 57 nördlichen Gaskammer heraus aufgenommen und zeigen Leichen, die von den Sonderkommando-Häftlingen in Verbrennungsgruben eingeäschert werden.468

Abbildung 1: Sonderkommando-Häftlinge bei Abbildung 2: Sonderkommando-Häftlinge bei den Verbrennungsgruben (Nr. 1) (Quelle: Arani den Verbrennungsgruben (Nr. 2) (Quelle: Arani, Holocaust, 659) Holocaust, 159) Zwei weitere Fotos wurde im Südosten des Geländes in Richtung Süden geschossen.469 Eines dieser Bilder zeigt nackte Frauen470, die darauf warten, in die Gaskammer zu kommen. Die zweite Aufnahme zeigt Bäume und einen Gegenstand, der nicht genau bestimmt werden kann.471 Es wird angenommen, dass letztere unabsichtlich ausgelöst wurde.472

468 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1036. 469 Vgl. Arani, Holocaust, 660. 470 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1036. 471 Vgl. Arani, Holocaust. Die Fotografien des „Sonderkommando Auschwitz“, 660–661. 472 Vgl. ebd., 663. 58

Abbildung 3: Frauen warten im Wald (Quelle: Arani, Abbildung 4: Fehlschuss (Quelle, Arani, Holocaust, 660) Holocaust, 661) Um diese Bilder anzufertigen mussten viele Sonderkommando-Häftlinge, darunter die Brüder Dragon, als auch andere Funktionshäftlinge zusammenarbeiten, um den Fotoapparat zu „organisieren“ und die Fotos danach aus dem Lager zu schmuggeln. Laut Hermann Langbein wurde der Film von der Polin Helena Datoń, die in einer SS-Kantine arbeitete, in einer Zahnpastatube aus dem Konzentrationslager nach Brzeszcze gebracht.473 Angesichts der Tatsache, wie viele jüdische als auch nichtjüdische Häftlinge ihr Leben für diese Fotos riskierten, ist es umso erschreckender, dass die Bilder oftmals mithilfe von Vergrößerungen und Retuschierungen „den Qualitätserwartungen und Wahrnehmungskonventionen ihrer Betrachter angepasst“ 474 wurden, um sie dadurch zu „icons of horror“475 zu verwandeln. Häufig wurde dabei die Tür bzw. der Rahmen der Tür, die auf den beiden Fotos Abbildung 1 und Abbildung 2 zu sehen ist, entfernt und somit ein wichtiger Aspekt verfälscht, der über die Aufnahmesituation Auskunft gibt. Auch das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau bediente sich (Stand 2001) der vergrößerten Fotos. Aufgrund fehlender historischer Informationen haben die Aufnahmen des Sonderkommandos, die in der alten Dauerausstellung im Stammlager ausgestellt wurden/sind, nach Dan Stone nur die Funktion die Besucherinnen und Besucher zu schockieren. Diese Absicht sei so auffällig, so dass die Aufnahmen als „Pornographie der Gewalt“ bezeichnet werden.476 Aufgrund dessen wurde der

473 Vgl. Arani, Holocaust. Die Fotografien des „Sonderkommando Auschwitz“, 664. 474 Ebd., 662. 475 Nicholas Chare, On the Problem of Empathy: Attending to Gaps in the Scrolls of Auschwitz, in: Nicholas Chare / Dominic Williams (Hg.), Representing Auschwitz. At the Margins of Testimony, New York 2013, 33–57, 36. 476 Vgl. Dan Stone, The Sonderkommando Photographs, in: Jewish Social Studies 7 (2001) 3, 131–148, 141. 59

Fehlschuss in der Ausstellung gar nicht, die Fotografie mit den nackten Frauen nur vergrößert und die beiden Aufnahmen mit den Verbrennungsgruben nur ohne Türrahmen ausgestellt. Laut Stone zeigt diese Vorgangsweise des Museums noch einmal deutlich, dass Bedeutung größten Teils gesellschaftlich konstruiert ist.477 Erst 1985 gelangten die Fotografien in ihrer ursprünglichen Form an die Öffentlichkeit.478 Diese „Originale“ bezeugten ein weiteres Mal, dass Szmulewski nicht der Urheber sein konnte, da die Perspektiven der Fotos nicht mit seinen Angaben übereinstimmten.479 Davor erschienen erstmals Mitte der 1950er Jahre vergrößerte Ausschnitte in juristischen Publikationen sowie 1959 im Bildband „1939-1945. Wir haben nicht vergessen“.480 Doch die Bilder wurden von einigen Ländern als kommunistische Propaganda aufgenommen, wie z. B. in Westdeutschland. Erst 1979, als die amerikanische Serie Holocaust in Westdeutschland ausgestrahlt wurde und die Fotos des Sonderkommandos beinhaltete, stieg das Interesse.481

5.1.3. Die Widerstandsbewegung des Sonderkommandos

Im Laufe der Zeit, vermutlich im Herbst 1943, entwickelte sich in den Kreisen des Sonderkommandos eine Untergrundbewegung482, die nicht nur den Aufstand organisierte, der die Zerstörung der Krematorien sowie eine Massenflucht zur Folge haben sollte483, sondern auch versuchte, Informationen aus dem Lager hinauszuschaffen.484 Laut Aurélia Kalisky intendierten die Mitglieder der Widerstandsbewegung die Information und Alarmierung der Außenwelt, insbesondere der in den Ghettos lebenden Jüdinnen und Juden, sowie die Sicherung der Beweise für die Massenvernichtung.485 Aus diesem Grund wurden immer wieder Fluchtversuche von verschiedenen Häftlingen unterstützt, damit diese verschiedene Dokumente als Beweisstücke in der Welt verbreiten konnten. Filip Müller, der als Mitglied der Widerstandsbewegung immer wieder verschiedene Dinge „organisierte“, war Alfred Wetzler und Walter Rosenberg (Rudolf Vrba) bei ihrer Flucht486 behilflich und händigte ihnen

477 Vgl. Stone, The Sonderkommando Photographs, 141. 478 Vgl. Arani, Holocaust, 664. 479 Vgl. Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, 16. 480 Vgl. Arani, Holocaust, 664. 481 Vgl. ebd., 665. 482 Die Mitglieder dieser Widerstandbewegung können nicht vollständig nachvollzogen werden. Auf jeden Fall waren einige Juden, die aus Frankreich deportiert wurden, wie Jankiel Handelsman, Jozef Warszawski, Herman Strasfogel, Leon Guz, Chaskl Lemberger, Daniel Obstbaum sowie Juden aus Polen, wie Jaacov Kaminsky, Salmen Gradowski, Leyb Langfus und Salmen Lewental, beteiligt. Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 30. 483 Vgl. Steinbacher, Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau 1940– 1945, 44. 484 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 30. 485 Vgl. ebd. 486 Wetzler und Vrba unternahmen wohl den berühmtesten Fluchtversuch aus dem KL Auschwitz-Birkenau. Ihr Ziel war es, die ungarischen Jüdinnen und Juden vor der Deportation und somit vor dem Tod zu bewahren. Obwohl 60 verschiedene Beweisstücke aus: einen Plan der Krematorien mit den Gaskammern, eine Liste mit den Namen der SS-Leute, verschiedene Aufzeichnungen und ein Etikett der Zyklon B Dose.487 Des Weiteren wurden verschiedene Dokumente, wie Listen von Transporten und Zeugnissen, aber auch Überreste von Leichen, vergraben, damit den Finderinnen und Findern die Dimension der Verbrechen deutlich wird488:

Auch viele Zähne liegen begraben. Die haben wir Arbeiter vom Sonderkommando speziell auf dem Platz verschüttet, soviel nur möglich war. Die Welt soll lebendige Zeichen von den Millionen Getöteter finden. Wir selbst hoffen nicht, dass wir den Augenblick der Freiheit erleben können.489 Neben der Information der Außenwelt über die Verbrechen, die in Auschwitz-Birkenau begangen wurden, stand ein Aufstand im Vordergrund, obwohl den Sonderkommando- Häftlingen bewusst war, dass eine Niederlage die Ermordung aller Sonderkommando-Häftlinge bedeutete.490 Zu diesem Zweck besorgten sich die Mitglieder des Widerstands Monate vor dem Aufstand Waffen und wurden von Frauen491, die in der Rüstungsfabrik der Weichsel-Metall- Union arbeiteten, durch den Schmuggel von Schwarzpulver unterstützt492, indem sie diese im Saum ihrer Kleider versteckten.493 Shlomo Dragon wirkte bei der Vorbereitung zum Aufstand mit und versteckte die aus den Sprengstoff angefertigten Granaten:

Aber nachdem ich mich dem Widerstand angeschlossen hatte, brachte er mir ab und zu […] Sprengstoff, aus dem unsere Kameraden aus Blechdosen Handgranaten bauten. Den Sprengstoff erhielten wir von den jüdischen Frauen, die in der Waffenfabrik „Union“ arbeiteten. Ich versteckte die improvisierten Handgranaten in meiner Matratze. […] Später, als es zu viele Handgranaten waren, versteckte ich sie im inneren Teil des Stützpfeilers, der das Dach des Gebäudes trug.494 Laut Shlomo Dragon wurden die Granaten aus Fischbüchsen, Nägeln und Scherben hergestellt, mit Gips verschlossen und mit einem Zünddocht aus Decken versehen.495

sie Ende April 1944 dem slowakischen über die Geschehnisse in Birkenau berichteten und dieser Bericht von London, Washington und dem Vatikan als authentisch eingestuft wurde, konnten sie die Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden nicht verhindern. Vgl. Vrba, Ich kann nicht vergeben, 7. 487 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 193–194. 488 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 30. 489 Ebd., 70. 490 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1038. 491 Bekannte Namen von Frauen, die die Sonderkommando-Häftlinge geholfen haben, sind Ella Gärtner, Regina Safirsztain und Esther Wajsblum sowie Róza Robota aus dem Effektlager. Diese vier Frauen wurden am 6.1.1945 gehängt, nachdem ihnen nachgewiesen werden konnten, dass sie für den Aufstand des Sonderkommandos Waffen „organisiert“ hatten. Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 41; Vgl. Alter Silbereisen, Aussage des Stanisław Jankowski, 56. 492 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 45. 493 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 175. 494 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 174. 495 Vgl. ebd. 61

Des Weiteren berichtete Shlomo Dragon, dass es in jedem Block des Sonderkommandos einen Häftling gab, der das Verstecken der Granaten über hatte und diese auch bewachen musste. Da es in jedem Block Häftlinge gab, die dem Widerstand angehörten, halfen sie bei der Geheimhaltung und Bewachung. Dragon erwähnte, dass sie die 28 bis 30 Handgranaten mithilfe von Taschen sogar umsiedeln mussten, als sie vom Block 13 in das Dachgeschoss der Krematorien zogen. Das war möglich, weil sie nicht von den Deutschen kontrolliert wurden.496 Eine weitere wichtige Rolle sollte der Kontakt zur Widerstandsbewegung im Stammlager, zur „Kampfgruppe Auschwitz“, spielen, da diese Organisation wichtige Verbindungen zur Außenwelt sowie bessere Möglichkeiten zur Beschaffung von Waffen hatte.497 Das oberste Ziel war die Widerstandaktion des Sonderkommandos mit einem allgemeinen Aufstand im übrigen Lager zu koordinieren.498 Jedoch verfolgte die „Kampfgruppe“ vor allem die Information der Außenwelt über die Geschehnisse, wohingegen die Gruppe des Sonderkommandos vor allem die Stilllegung und Zerstörung der Krematorien durch die Revolte anstrebte.499 Es kam besonders aufgrund der Unstimmigkeit über den Zeitpunkt des gemeinsamen Aufstands zu Differenzen, die Salmen Lewental in seinen Aufzeichnung schildert:

Unmittelbar danach wurde bekannt, dass sie die Vergasung der ungarischen Juden vorbereiteten. Diese Nachricht, dass wir etwa eine Million ungarischer Juden verbrennen sollten, demoralisierte uns völlig. […] wir würden nun dazu gezwungen werden unsere Hände in das Blut der Juden Ungarns zu tauchen. […] die Situation hatte den Punkt erreicht, wo das gesamte Kommando, unabhängig von Klassenunterschieden, und selbst die korruptesten von uns, wie wild darauf drank, diesem Spiel ein Ende zu setzen, diese Arbeit zu stoppen und sogar unser Leben zu beenden, wenn es sein musste. […] Zu dieser Zeit hatte der große Angriff im Osten begonnen und jeden Tag sahen wir, wie die Russen uns näher kamen, so dass andere dachten, unser Aufstand würde unnötig sein; es wäre besser zu warten, besser so lange alles aufzuschieben, bis die Front nah genug an uns herangerückt wäre, denn dann würde ihre Moral soweit gesunken sein und die SS in sich zusammenbrechen, so dass wir in die Lage kämen unsere Chancen für eine erfolgreiche Aktion zu verbessern. Es stimmt, von ihrem Standpunkt aus hatten sie Recht. […] Wir aber sahen im Verlauf unserer Arbeit die Wirklichkeit: Zeit verging und nichts wurde unternommen. Gerade wir, das Kommando, hielten die Gefahr, in der wir uns ständig befanden, sogar noch größer als die Gefahr, in der sich andere im Lager befanden, sogar noch größer als die Gefahr, in der die anderen Juden im Lager waren. Wir wussten, dass die Deutschen die Spuren ihrer Taten unter allen Umständen verbergen würden und sie konnten das nicht tun, außer wenn sie das gesamte Kommando vernichteten […]. Darum dachten wir nicht, dass das Herannahen der Front uns irgendeine Chance geben würde. Ganz im Gegenteil, sahen wir es als notwendig an, unsere Aktion so schnell wie möglich voranzutreiben, wenn wir noch irgendetwas erreichen wollten solange wir selber noch am Leben waren. Unter dem Druck des gesamten Kommandos versuchten wir, das Lager zu überzeugen, dass dies nun die letzte Stunde war. Aber leider vertrösteten sie uns von einem Tag auf den anderen. schließlich holten wir die wenigen Dinge hervor, die wir hatten und bauten zusammen, was wir

496 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 174. 497 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1037. 498 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 32. 499 Vgl. ebd., 32–33. 62

brauchten. Wir unternahmen alles, um die Balance im Kommando zu erhalten, wir taten alles mit ganzer Hingabe, aber …500 Lewenthal beschreibt die Lage, in der sich das Sonderkommando befand, sehr anschaulich und nachvollziehbar. Den Sonderkommando-Häftlingen ging es primär darum, den Vernichtungsbetrieb zu beenden. Ihr eigenes Überleben war für sie zweitrangig.501 Doch durch das Hinauszögern der „Kampfgruppe Auschwitz“ mussten die Mitglieder des Sonderkommandos noch bei der Vergasung des gesamten tschechischen Familienlagers (März und Juli 1944) und des Zigeunerlagers (August 1944) mithelfen sowie bei der Massenvernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden (Mai bis Juli 1944).502 Als sich die Gerüchte um die bevorstehende Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden als wahr erwiesen, setzten sich die Sonderkommando-Häftlinge abermals mit der Widerstandsbewegung in Auschwitz in Kontakt, um endlich den Aufstand durchzuführen. Sie wurden abermals vertröstet:

Als wir entgegenhielten, diese Einstellung bedeute nicht anderes, als dass wir nochmals Hunderttausende einäschern müssten, gab man uns zu verstehen, dass es für diese Menschen sowieso keine Rettung gebe. Diese Hinhaltetechnik der Widerstandsbewegung ließ uns immer mehr daran zweifeln, ob ihre Führer wirklich bereit waren, nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch zur Rettung Tausender anderer Menschen zu kämpfen und Opfer zu bringen. Nach allen Erfahrungen, die wir gemacht hatten, waren wir jetzt überzeugt, dass sie ihre Überlebenschance von Stunde zu Stunde größer werden sahen und deshalb immer weniger entschlossen waren, ihr eigenes Leben durch ein risikoreiches Unternehmen aufs Spiel zu setzten. Wer hätte ihnen eine solche Haltung auch verübeln wollen, wo die Befreiung für sie in greifbare Nähe gerückt war?503 Laut Raul Hilberg kamen zwischen Mai und Juli 1944 etwa 147 Transporte mit vorwiegend ungarischen Jüdinnen und Juden in Auschwitz-Birkenau an.504 Die Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden musste besonders verstörend für die Sonderkommando- Häftlinge gewesen sein. Da das Zyklon-B-Gas langsam ausging, wurde den verantwortlichen SS-Männern – laut Hermann Langbein – befohlen, weniger Gas für die Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden zu verwenden. Aus diesem Grund wurden viele Opfer nur betäubt und kamen lebend in die Öfen der Krematorien505 oder in die Verbrennungsgruben.506 Jean-Claude Pressac bezeichnete die Deportation und Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden als „wohl […] ungeheuerlichstes Kapitel in der Geschichte von Birkenau“.507

500 Zit. n. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1038–1039. 501 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 121. 502 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 45. 503 Müller, Sonderbehandlung, 198. 504 Vgl. Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, 89. 505 Vgl. Hermann Langbein, Die Stärkeren. Ein Bericht aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern (Dokumente – Bericht – Analysen 15), Wien 2008, 238. 506 Vgl. Pressac, Die Krematorien in Auschwitz, 116–117. 507 Vgl. ebd., 115. 63

Nach Gideon Greif bezeugen die gefundenen Manuskripte der „Historiker“, dass die Widerstandsbewegung im Sonderkommando von der nichtjüdischen im Stich gelassen worden wäre und dadurch gezwungen war den Aufstand allein durchzuführen.508 Laut Dori Laub wurde auf einer Konferenz zu Fragen der Erziehung nach Auschwitz die Rolle des polnischen bzw. nichtjüdischen Widerstands von einem Historiker thematisiert:

Der Aufstand wurde nicht nur niedergeschlagen und alle beteiligten Häftlinge hingerichtet, sondern der jüdische Untergrund wurde zudem vom polnischen Widerstand verraten, welcher den Rebellen Unterstützung zugesagt hatte, dieses Versprechen dann aber nicht einhielt. Als die jüdischen Häftlinge versuchten, aus dem Lager auszubrechen, fanden sie sich plötzlich völlig auf sich allein gestellt. Niemand schlug sich auf ihre Seite, und sie stürzten sich allein und verzweifelt in den Tod.509 Salmen Gradowski erwähnte im Brief an die Finderin oder den Finder der ersten Handschrift, wie er diesen Konflikt empfunden hat:

Wir, das Sonderkommando, wollten schon lange unserer grausamen, schauerlichen, durch Tod erzwungenen Arbeit ein Ende machen. Wir wollten eine große Sache durchführen. Aber die Lagermenschen, sowohl ein Teil der Juden, Russen als auch Polen, haben uns mit allen Mitteln zurückgehalten und es uns aufgezwungen, dass wir den Termin unserer Revolte hinausschöben. Der Tag ist nahe, kann sein heute, kann sein morgen.510 Polnische Historikerinnen und Historiker sind im Gegensatz dazu der Meinung, dass zwischen den beiden Bewegungen dauerhaft Kontakt bestanden hat. Es habe jedoch Unstimmigkeiten bezüglich des Zeitpunkts des Aufstandes gegeben. Der Kontakt wurde abgebrochen, nachdem sich die Sonderkommando-Häftlinge zu einem alleinigen Aufstand entschlossen hätten.511 Der Ausbruch des Aufstandes hing unmittelbar mit einer Selektion zusammen: Laut Filip Müller hätten die Kapos des Krematoriums V und Bunkers V den Auftrag erhalten, eine Liste von 300 Mann zu erstellen, die in ein „Trümmerbeseitigungskommando“ versetzt werden sollten. Natürlich wussten alle Mitglieder des Sonderkommando, dass das eine Lüge war und die 300 Häftlinge ermordet werden würden. Schlussendlich wurden die Häftlinge auf die Liste gesetzt, die sich im Falle eines Aufstandes als unbrauchbar erweisen würden. Schon vor der direkten Selektion war den Opfern ihr Schicksal bekannt und sie versicherten, dass sie sich nicht kampflos ergeben würden.512 Am 7. Oktober 1944513 begann schließlich der Aufstand im Hof des Krematoriums IV während

508 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1037. 509 Dori Laub, Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens, in: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, 68– 83, 73. 510 Gradowski, Die Zertrennung, 71. 511 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1045. 512 Vgl. Müller, Sonderbehandlung, 247–249. 513 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 33. 64 eines Appells, bei dem die 300 Mitglieder des Sonderkommandos liquidiert werden sollten. Einige ausgewählte Opfer griffen die SS-Männer mit Steinen, Äxten und Stichwaffen an, während andere das Krematorium in Brand steckten und durch den elektrischen Zaun fliehen konnten.514 Die Sonderkommando-Häftlinge des Krematoriums II unternahmen ebenfalls einen Fluchtversuch, indem sie den Stacheldraht durchtrennten515 und sich in einer Scheune im benachbarten Ort Rajsko verbarrikadierten. Die SS-Männer steckten die Scheune jedoch in Brand und ermordeten somit die Häftlinge.516 Der Aufstand des Sonderkommandos verlief aufgrund der mangelnden Planung unkoordiniert und chaotisch.517 Außerdem gab es Kommunikationsprobleme zwischen den einzelnen Krematorien. Dadurch wurden die Sonderkommando-Häftlinge des Krematoriums III und V nicht in den Aufstand miteinbezogen518, sondern – nach Langbein – von SS-Männern die ganze Nacht in den Krematorien eingesperrt.519 Des Weiteren war der Zeitpunkt der Durchführung schlecht gewählt: Laut Milton Buki wurde die SS in Birkenau an diesem Tag aufgrund angekündigter Transporte verstärkt.520 Am Tag des Aufstands wurden insgesamt 451 Sonderkommando-Häftlinge der Krematorien II und IV ermordet521, wobei – nach Henryk Mandelbaum – sich die Überlebenden des Aufstands mit dem Gesicht zur Erde hinlegen mussten und jeder dritte erschossen wurde.522 Einige wurden nach Buna-Monowitz, ein weiteres Außenlager von Auschwitz, deportiert.523 Trotz der großen Verluste konnten das Krematoriumsgebäude IV zerstört, drei SS-Männer524 getötet und 12 verletzt werden.525 Doch diese kleinen Errungenschaften konnten dem Vernichtungsprozess nichts mehr anhaben:

Eines der Krematorien war bei dem Aufstand zerstört worden, einige SS-Männer waren ums Leben gekommen, ein paar andere verwundet worden. Aber auch diese Ereignisse blieben ohne Einfluss auf die weitere Vernichtungsprozedur. Selbst wenn es gelungen wäre, alle Gaskammern und Vernichtungsöfen zu sprengen, wäre damit kaum etwas erreicht worden; denn die von Moll in Gang gesetzte Massenvernichtung hatte gezeigt, dass es auf die Krematorien nicht entscheidend ankam. Waren die Opfer erst einmal auf der Rampe angekommen, dann war

514 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 42. 515 Vgl. Steinberger, Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, 49. 516 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 42. 517 Vgl. ebd. 518 Vgl. Piper, Auschwitz 1940–1945, 223. 519 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 130. 520 Vgl. ebd. 521 Vgl. Piper, Die Bedeutung des KL Auschwitz im Nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparat, 23. 522 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 80. 523 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1045. 524 Laut Alter Silbereisen waren es Rudolf Erler, Willi Freese und Josef Purke. Vgl. Jankowski, Aussage, 56. 525 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 42. 65

es zu spät, weil ihre Vernichtung nur noch die allerletzte Phase im Ablauf der „Sonderbehandlung“ bildete.526 Obwohl der Aufstand – nach Gideon Greif – zu spät kam, weil die Vergasungen ohnehin einige Wochen später eingestellt wurden und somit die meisten Sonderkommando-Häftlinge auch im Falle eines Erfolges getötet worden wären527, behaupteten Ota Kraus und Erich Kulka, „dass der Aufstand in den Krematorien, […], auf den Beschluss, den Betrieb in der Todesfabrik in Birkenau zu beenden, einen Einfluss gehabt hat“.528 Die beiden Historiker räumen jedoch ein, dass diese Annahme nicht bewiesen werden kann. Dennoch hatte der Aufstand als einzige bewaffnete Widerstandsbewegung im KL Auschwitz529 für viele Juden eine große Bedeutung: Sie positionierten sich dadurch bewusst als Widerstandskämpfer gegen die Vernichtung.530 Israel Gutman, der den Sonderkommando- Häftlingen bei der Vorbereitung des Aufstandes half, indem er sich am Pulverschmuggel beteiligte531, schrieb:

Trotzdem wurde dieser Aufstand des Sonderkommandos zu einem Symbol. An der Stelle, wo Millionen unschuldiger Opfer ermordet wurden, fielen durch die rächenden Hände von Häftlingen die ersten SS-Mörder. Und es waren Juden, die das vollbrachten. Dieser Aufstand hat den nichtjüdischen Schicksalsgenossen in Auschwitz gezeigt, was Juden zu tun vermochten. Dieser Aufstand hat den nichtjüdischen Schicksalsgenossen in Auschwitz gezeigt, was Juden zu tun vermochten.532 5.2. Schweigen gegenüber den Opfern

Eine weiteres Dilemma, mit dem sich die Sonderkommando-Häftlinge fast tagtäglich auseinandersetzen mussten, war der Kontakt mit den noch lebenden Opfern. Oftmals wurden sie von Menschen angesprochen und gefragt, wo sie wären und was auf sie zukommt. Wie bereits in der ersten Hälfte der Arbeit besprochen, wurde den Häftlingen befohlen zu schweigen oder falsche Auskünfte zu geben. Diesbezüglich wurde ihr Verhalten gegenüber den Opfern nach dem Krieg von Außenstehenden angeprangert. Die Überlebenden wurden wegen ihres Schweigens, aber auch wegen Irreführung der Opfer, oft als Mittäter beschuldig, da sie dadurch tausende Jüdinnen und Juden auf dem Gewissen hätten. Die Entscheidungen der Sonderkommando-Häftlinge und ihr Verhalten in dieser Situation ist aus heutiger Sicht nicht vollständig nachvollziehbar, weil sie sich in einer einzigartigen Situation wiederfanden. Aus

526 Müller, Sonderbehandlung, 258. 527 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 43. 528 Ota Kraus / Erich Kulka, Die Todesfabrik Auschwitz, Berlin 1991, 360. 529 Vgl. ebd., 359. 530 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 43. 531 Zit. n. Langbein, Menschen in Auschwitz, 302. 532 Israel Gutman, Der Aufstand des Sonderkommando, in: Hans Günther Adler / Hermann Langbein / Ella Lingens-Reiner (Hg.), Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Hamburg 2016, 213–219, 216. 66 den Zeitzeugeninterviews und -berichten können Gründe analysiert werden, die ihr Verhalten womöglich erklären, jedoch wird eine klare Zuordnung von richtig oder falsch nicht möglich sein. Laut Greif ist es unrealistisch zu erwarten, dass Menschen, die tagtäglich mit Massenmord, Gaskammern und Leichen zu tun hatten, sich so benehmen, wie sie es unter normalen Umständen getan hätten. Wenn sie überleben wollten, mussten sie die Befehle ausführen, obwohl diese ihren moralischen Werten widersprachen. Das hatte eine Umformung ihrer Seele zur Folge.533 Hätten die Häftlinge die Menschen gewarnt, wären sie selbst ermordet worden, die Menschen wären in Panik geraten und am Ende dennoch in den Tod gegangen. Nach Léon Cohen gab es keine Möglichkeit von dort zu entkommen – es gab kein Entrinnen.534 Gideon Greif ist aufgrund verschiedener Zeitzeugenaussagen zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Sonderkommando-Häftlinge es vorzogen, zu schweigen bzw. nichtssagende Antworten zu geben.535 Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz-Birkenau, wertete dieses Verhalten als eine Art Kollaboration mit den Deutschen536:

Überhaupt war die eifrige Mithilfe des Sonderkommandos bei dem Entkleiden und dem Hineinführen in die Gaskammern doch eigenartig. Nie habe ich erlebt, aber auch nie davon gehört, dass sie den zu Vergasenden auch nur das geringste von dem ihnen Bevorstehenden sagten. Im Gegenteil, sie versuchten alles, um sie zu täuschen, vor allem die Ahnenden zu beruhigen. Wenn sie den SS-Männern nicht glaubten, aber den eigenen Rassegenossen […] glaubten sie zuversichtlich. Sie ließen sich von dem Leben im Lager erzählen und fragten zumeist nach dem Verbleib Bekannter oder Familiengehöriger aus früheren Transporten. Was die vom Sonderkommando denen alles vorlogen, mit welcher Überzeugungskraft, mit welchen Gebärden sie das Gesagte unterstrichen, war interessant.537 Jedoch muss die Situation, in der sich die Sonderkommando-Häftlinge befanden, dabei beachtet werden. Die Häftlinge hatten oft mit Sprachschwierigkeiten zu tun, da die Opfer aus zwölf verschiedenen Ländern nach Auschwitz gebracht wurden. Aus diesem Grund konnten sie sich nicht mit allen Jüdinnen und Juden verständigen. Des Weiteren waren Gespräche mit den Opfern offiziell verboten und wurden streng bestraft. Außerdem konnten längere Gespräche das „Fließband“ der Todesfabrik nicht aufhalten. Davon abgesehen wurden die Sonderkommando-Häftlinge von den Deutschen ständig angetrieben und bewacht.538 Diese Umstände erklären jedoch nicht das Schweigen. Aus den Zeitzeugenberichten geht eindeutig hervor, dass die Angst vor harten Strafmaßnahmen und die Sprachschwierigkeiten nicht die

533 Vgl. Greif, Between Sanity and Insanity, 38. 534 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 343. 535 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1029. 536 Vgl. ebd., 1031. 537 Höß, Kommandant in Auschwitz, 192. 538 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1031. 67

Ursache des Schweigens gegenüber den Opfern waren. Die Sonderkommando-Häftlinge gingen davon aus, dass es keine Möglichkeit der Flucht gab. Sie waren davon überzeugt, dass jemand, der das Gelände betreten hat, es auch nicht mehr lebend verlassen würde. Das galt für sie selbst und auch für die Opfer, die im Auskleideraum ihre letzten Minuten verbrachten. Aus diesem Grund verschwiegen die Sonderkommando-Häftlinge die Wahrheit, um den Opfern ihre letzten Augenblicke nicht noch schwerer zu machen.539 Nach Gideon Greif gab es noch einen weiteren Grund: Die Sonderkommando-Häftlinge wollten um jeden Preis Aufregung vermeiden. Bei Panik würden sie gezwungen sein, Gewalt anzuwenden.540 Auch Höß erwähnt in seiner Autobiographie, wie mit Unruhen im Entkleidungsraum umgegangen wurde:

Machte sich Unruhe bemerkbar, so wurden die Unruheverbreiter unauffällig hinter das Haus geführt und dort mit dem Kleinkalibergewehr getötet, das war von den anderen nicht zu vernehmen.541 Die Sonderkommando-Häftlinge wurden selbstverständlich dazu gezwungen, den SS-Männern bei dieser Art der „Panikvermeidung“ zu helfen, denn sie mussten die Opfer festhalten, die durch Genickschuss getötet werden sollten.542 Vereinzelt gab es Fälle, in denen die Mitglieder des Sonderkommandos den Opfern die Wahrheit verrieten.543 Laut Gideon Greif kam es vor allem dazu, wenn die Häftlinge auf Familienangehörige trafen oder wenn jemand intensiv nachfragte.544 Jaacov Gabai verriet zwei seiner Cousins, die in den Gastod gehen sollten, die Wahrheit, um sie auf das Kommende vorzubereiten. Die beiden waren schon eine Zeit lang im KL Auschwitz-Birkenau und wurden als sogenannte „Muselmänner“ ins Gas geschickt. Damit sie nicht leiden mussten, verriet ihnen Gabai die Stelle, wo das Gas hineinströmte.545 Das Durchbrechen ihres Schweigens hatte gelegentlich kleinere Widerstandsrevolten im Entkleidungsraum zur Folge, die jedoch sofort niedergeschlagen wurden und den Vernichtungsprozess kaum störten.546 Israel Gutman, ein Überlebender von Auschwitz, erwähnte, dass die Sonderkommando- Häftlinge hin und wieder den Opfern die Wahrheit mitteilten, aber diese nicht geglaubt

539 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1032. 540 Vgl. ebd. 541 Höß, Kommandant von Auschwitz, 191–192. 542 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 28. 543 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1032. 544 Vgl. ebd. 545 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 202. 546 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 29. 68 wurde.547 Abraham und Shlomo Dragon erzählten den Häftlingen, aus dem tschechischen Familienlager, dass sie ermordet werden würden. Doch diese glaubten ihnen nicht und verrieten sie:

Shlomo: […] Irgendwer von uns erzählte ihnen, dass sie umgebracht werden würden. Anstatt das so hinzunehmen, liefen sie zu den Deutschen und fragten: „Die Häftlinge vom Sonderkommando erzählen, dass wir sterben müssen. Ist das richtig oder nicht?“ Indem wir ihnen die Wahrheit erzählten, haben wir unser eigenes Leben gefährdet. Abraham: Ich denke, sie haben uns nicht geglaubt und sind deshalb zu den Deutschen gelaufen, um uns zu verraten.548 Filip Müller berichtete ebenfalls davon, dass sie die Häftlinge im tschechischen Familienlager schon vor der Liquidierung gewarnt hätten und zum Aufstand ermutigten. Als das Sonderkommando in dieser Nacht nicht zur Schicht ausrücken musste, weil der Termin verschoben wurde, verloren die Mitglieder des Sonderkommandos ihre Glaubwürdigkeit:

Aber viele der Häftlinge, auch von den tschechischen im Familienlager, machten uns Vorwürfe, dass wir Pan… Panikmacher waren, dass wir da etwas, also, dass wir da etwas gesagt haben, was nicht der Wahrheit entspricht.549 In einem anderen Zusammenhang erzählte Müller ein weiteres Mal von einem Vorfall, der zeigte, dass es sinnlos war, den Opfern die Wahrheit zu sagen:

Es war sinnlos, die Wahrheit überhaupt zu sagen jedem, der die Schwelle des Krematoriums übertrat. Da konnte man nichts retten. […] Im Jahre 1943, als ich schon im Krematorium V war, kam ein Transport aus Bialystok. Und da fand ein Häftling vom Sonderkommando in dem Auskleideräume eine Frau, die Frau von seinem Freund war. Da hat er ganz klipp und klar gesagt: „Ihr wird’s vernichtet. In drei Stunden geht’s ihr zur Asche.“ Diese Frau, die hat ihm geglaubt, weil sie hat ihn gekannt. Und sie ist herumgelaufen und hat es erzählt den anderen Frauen. […] Und die haben geglaubt, dass diese Frau verrückt ist. […] Nicht, dass die das nicht geglaubt hätten, […] Aber wer wollte schon so was hören! […] Und was war der Ende? Die gingen in der Gaskammer, aber die Frau hat man dagelassen. Und jetzt müssten wir alle antreten, vor den Öfen. Vorher haben sie sie gequält, schrecklich gequält, weil sie wollte nicht verraten. Und dann hat sie auf ihn gezeigt. Man hat ihn herausgenommen und lebendig in’s Ofen. Wurde uns gesagt: „Wer so was sagen würde, endet so.“550 Aus vielen Zeugnissen geht hervor, dass es ein „Akt der Barmherzigkeit“551 war, die Opfer im Unklaren zu lassen, weil ihr Schicksal besiegelt sei. Denn das Gelände wurde streng von SS- Männern bewacht und war mit elektrischem Stacheldrahtzaun umgeben. Sollten die Opfer es aus dem Gelände der Krematorien schaffen, wären immer noch die Wachposten und die Patrouillen, die überwunden werden müssten. Des Weiteren wurde den Mitgliedern des Sonderkommandos unter Androhung von schweren Strafen verboten, den Opfern die Wahrheit

547 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 34–35. 548 Ebd., 166. 549 Lanzmann, Shoah, 218. 550 Lanzmann, Shoah, 177–178. 551 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 35. 69 zu sagen.552 Zum Schluss darf der natürliche Mechanismus des Selbstschutzes der Sonderkommando- Häftlinge bei all dem nicht ignoriert werden. Es musste schrecklich gewesen sein, tausende Menschen in den Tod gehen zu sehen, ohne ihnen helfen zu können. Ein Gespräch, auch wenn es noch so kurz war, gab der anonymen Menschenmasse ein Gesicht und bedeutete eine höhere psychische Belastung für die Sonderkommando-Häftlinge, der sie natürlich versucht haben zu entgehen.553

6. Die Forschung

6.1. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust

Laut Pressac kam es in der Bundesrepublik Deutschland schon sehr früh zur Verleugnung der Geschehnisse, weil geglaubt wurde, dass das die beste Möglichkeit wäre, „den Herausforderungen einer neuen Realität zu begegnen“.554 Dennoch wurden unmittelbar nach dem Krieg verschiedene Prozesse gegen Naziverbrechen eingeleitet, wie z. B. die Nürnberger Prozesse, in denen der Holocaust jedoch nur am Rande verhandelt wurde. Im Gegensatz dazu kam es in der Forschung zu ersten Versuchen, sich mit dem Thema des Holocausts zu beschäftigen, wie etwa durch Eugen Kogon, der in den 1940er-Jahren ein erstes Werk, „SS- Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“555, dazu lieferte556, das nach Marion Gräfin Dönhoff, der Herausgeberin der ZEIT, das „wahrscheinlich […] präziseste Zeugnis über die hitlerschen Konzentrationslager“557 ist. Die erste wissenschaftliche Bearbeitung des Holocausts und vor allem des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erfolgte ausschließlich durch ehemalige Häftlinge und einige Forschungsinstitute in Israel und Polen.558 Laut Katharina Stengel fühlten sich die Auschwitz-Überlebenden dafür verantwortlich, das KL Auschwitz „im kollektiven Bewusstsein zu verankern“.559 Doch der Großteil der Öffentlichkeit verdrängte die Vergangenheit.560

552 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 35. 553 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1032. 554 Pressac, Die Krematorien von Auschwitz, X. 555 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. 556 Vgl. Raul Hilberg / Alfons Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen. Ein Gespräch über Franz Neumann und die Entwicklung der Holocaust-Forschung, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, 175–200, 185. 557 Marion Gräfin Dönhoff, Eugen Kogon. Der SS-Staat, Die ZEIT, 28.1.1983, URL: https://www.zeit.de/1983/05/der-ss-staat (abgerufen am 11.6.2020). 558 Vgl. Katharina Stengel, Einleitung zur Neuausgabe, in: Hans Günther Adler / Hermann Langbein / Ella Lingens-Reiner (Hg.), Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Hamburg 2014, I–VI, I–II. 559 Stengel, Einleitung zur Neuausgabe, III. 560 Vgl. ebd. 70

Nach den anfänglichen Prozessen gegen SS-Männer und den ersten wissenschaftlichen Werken wurde, v.a. die deutsche, Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Laufe der 50er Jahre immer geringer. Ein Grund dafür war, dass die Besatzungsmächte, vor allem seit der Gründung der Bundesrepublik, keinen Druck mehr hinsichtlich der Verfolgung der Verbrecher ausübten. Der Wunsch nach einem Abschluss – nach einem „Schlussstrich“ – wurde immer größer.561 Es herrschte praktisch ein Redeverbot, d. h. in der Öffentlichkeit konnten die Menschen nicht das aussprechen, was sie wirklich dachten.562 Es ging sogar so weit, dass sich die Architektur, v. a. in Deutschland, veränderte: Die neuen Bauten sollten nicht mehr massiv sein, denn sonst würden sie an die Nazi-Zeit erinnern. Des Weiteren gab es „keine Rede-Kunst mehr, weil sie als solche nationalsozialistisch verdächtig war; hier manifestierte sich ein bewusster und angestrengter Wille, von der Vergangenheit loszukommen.“563 Söllner spricht davon, dass es in den 50ern und 60ern ein Versäumnis gegeben hätte, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: „Verdrängung […] war ein absolut verbreitetes und allgemeines Phänomen“.564 Mit der Reorientierung und dem wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands ab 1950 sowie in Amerika wurde versucht, die Vergangenheit zu vergessen und eine zukunftsorientierte Gesellschaft zu entwickeln.565 Im Angesicht dessen hatte die deutsche Zeitgeschichtsforschung als wissenschaftliche Disziplin Schwierigkeiten, sich allgemeine Anerkennung zu verschaffen.566 Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand auf Betreiben der Alliierten, besonders der Amerikaner, eine Zeitgeschichtswissenschaft, welche die „Epoche des ‚Dritten Reiches‘“567 erforschen sollte. Doch die Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager, wie Auschwitz, wurde beinahe komplett ignoriert und es wurde auch wenig Initiative diesbezüglich gezeigt. Aufgrund dessen, dass dieser Aspekt der Vergangenheit international zu einem Tabuthema wurde, nahmen Überlebende die Aufarbeitung selbst in die Hand,568 wie beispielsweise Primo Levi569 mit seiner Autobiographie, Hermann Langbein570 und Lucie Adelsberger571. Erst mit der

561 Vgl. Norbert Frei, Der Frankfurter Auschwitz-Prozess und die deutsche Zeitgeschichtsforschung, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung. Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main–New York 1997, 123–138, 124. 562 Vgl. Hilberg / Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, 188. 563 Ebd. 564 Ebd. 565 Vgl. ebd., 179. 566 Vgl. Frei, Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, 125. 567 Steinberger, Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau 1940–1945, 53. 568 Vgl. Steinberger, Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau 1940– 1945, 53. 569 Primo Levi, Ist das ein Mensch?, aus dem Ital. von Heinz Riedt, Frankfurt am Main 1961. 570 Hermann Langbein, Die Stärkeren. Ein Bericht über Auschwitz und andere Konzentrationslager, Wien 1949. 571 Lucie Adelsberger, Auschwitz. Ein Tatsachenbericht. Das Vermächtnis der Opfer für uns Juden und für alle Menschen, Berlin 1956. 71

Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen 1958, die grundlegende Arbeit bezüglich der Erforschung des Holocausts leistete, wurde ein erster großer Schritt in Richtung der Aufarbeitung der Vergangenheit gemacht.572 In Israel musste sich die „ansässige“ jüdische Bevölkerung unmittelbar nach dem Krieg mit den zugewanderten Holocaust-Überlebenden auseinandersetzen. Laut Gideon Greif sei die Begegnung dieser beiden Gruppen noch lange Zeit von Fremdheit, Missverständnissen und Konflikten geprägt gewesen.573 Eine weit verbreitete These besagt, dass die Shoah in den 40er und 50er Jahren in Israel tabuisiert wurde und es keinerlei öffentliche Debatten darüber gegeben hätte. Doch laut Greif wurden vor allem Widerstandskämpfer, wie etwa Ruzhka Korczak, Abba Kowner, Zivia Lubetkin und Yitzhak Zuckermann, als Helden gefeiert. In den 50er Jahren waren sie es auch, die die ersten Bücher zum Thema Holocaust – mit einem starken Fokus auf dem jüdischen Widerstand – veröffentlichten.574 Außerdem kam es zur selben Zeit aufgrund der öffentlichen Diskussionen und Projekte, die vorwiegend von Überlebenden-Organisationen geplant und durchgeführt wurden, dazu, dass die Shoah einen „offiziellen“ Status erlangte.575 Dennoch war das Verhältnis zwischen den Überlebenden und der restlichen jüdischen Bevölkerung in Israel angespannt. In den 50ern und 60ern kam es – nach Gideon Greif – vor, dass die Menschen öffentlich Witze über die sogenannten „Seifen“ machten. Dieser Ausdruck bezeichnete die Menschen, die nicht in Israel geboren wurden – „die Schwächlinge, die Unmutigen“576 – und kommt von dem Gerücht, dass die Deutschen aus jüdischem Fett Seife hergestellt hatten. Noch heute ist die Shoah eine sensible Angelegenheit in Israel, die immer noch nicht vollständig auf- und verarbeitet wurde. Die jüdische Historikerin Nili Keren äußerte sich Ende der 90er Jahre zum Thema der Auseinandersetzung:

Über Jahre versuchten wir, als Gesellschaft und als Individuen, [die Shoah] zu ignorieren und zu verdrängen, über sie zu schweigen oder sie zu verschweigen. Aber das Wesen des Geschehenen, seine starke Verbindung zu uns und unserer menschlichen Natur ermöglichen langfristig keine solche Flucht. […] Die Shoah ist immerfort hier anwesend; sie betrachtet uns von außen und verstört uns von innen, auch wenn wir uns dessen erst nach einiger Zeit bewusst werden. Selbst wenn wir uns von ihr loslösen wollten – wir können es gar nicht.577

572 Vgl. Frei, Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, 125. 573 Gideon Greif, Stufen der Auseinandersetzung im Verständnis und Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft 1945–2002, in: psychosozial 93 (2003) 3, 91–105, 91. 574 Vgl. ebd., 92. 575 Vgl. ebd., 95. 576 Ebd., 99. 577 Zit. n. Moshe Zuckermann, Zwischen Historiographie und Ideologie. Zum israelischen Diskurs über den Holocaust, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz, Geschichte, Rezeption und Wirkung. Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main–New York 1997, 55–74, 62. 72

6.1.1. Die Prozesse und ihr Einfluss auf die Holocaust-Forschung

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es laut Telford Taylor zu einer regelrechten „Flut von Kriegsverbrechensprozessen“578 in ganz Europa. Otto Moll wurde beispielsweise im Dachau- Hauptprozess am 13. Dezember 1945 zum Tode verurteilt und am 28. Mai 1946 in Landsberg hingerichtet.579 Rudolf Höß wurde hingegen infolge des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses an Polen ausgeliefert580, erhielt dort am 02. April 1947 sein Todesurteil und wurde schließlich am 16. April 1947 auf dem Gelände des KL Auschwitz hingerichtet.581 Neben dem Dachauer-Prozess582 und den Nürnberger Prozessen ist der Belsen Prozess583, der von 17. September bis 17. November 1945 in Lüneburg durchgeführt wurde, zu erwähnen, da er als erster Auschwitz-Prozess gilt. Viele der Angeklagten hatten nicht nur im KL Bergen-Belsen Verbrechen begangen, sondern auch in Auschwitz, wie z. B. der Hauptangeklagte Josef Kramer, der seit Sommer 1944 Kommandant in Auschwitz war und ab 2. Dezember 1944 das KL Bergen-Belsen übernahm.584 Die Nürnberger Prozesse585 von 1945 bis 1946 behandelten zwar die Tötungsaktion mithilfe von Giftgas, doch laut Hermann Langbein war die Öffentlichkeit von der Fülle an Fakten zu schockiert, um von den Gaskammern Notiz zu nehmen.586 Erst der Ärzteprozess in Nürnberg 1946 bis 1947 wurden Medizinverbrechen in den Vordergrund gerückt. Dieser Prozess war der erste der insgesamt 12 „Nachfolgeprozessen“ in Nürnberg.587 Ende der 50er Jahre wurden wieder Verfahren gegen Täter aufgenommen, wie etwa der Ulmer -Prozess 1958, der Bonner Chełmno-Prozess von November 1962 bis März 1963, der Treblinka-Prozess in Düsseldorf von Oktober 1964 bis Dezember 1966 sowie der

578 Telford Tylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994, 36. 579 Vgl. Klee, Personenregister, 283. 580 Vgl. Höß, Kommandant von Auschwitz, 8. 581 Vgl. Klee, Personenregister, 183. 582 Der Dachau-Prozess begann am 15. November 1945 und dauerte bis zum 13. Dezember des gleichen Jahres. Jedoch kam es zu 121 Nachfolgeprozessen in denen etwa 500 VerbrecherInnen angeklagt wurden. Vgl. Jürgen Zarusky, Die juristische Aufarbeitung der KZ-Verbrechen, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager I, München 2005, 345–362, 349. 583 Zwei weitere Belsen-Prozesse fanden im Mai 1946 und im April 1948 statt. Vgl. ebd., 348. 584 Vgl. ebd. 585 Nach dem ersten Nürnberger Prozess folgten 12 weitere Nachfolgeprozesse von 1946 bis 1949. Vgl. ebd., 351. 586 Vgl. Hermann Langbein, Einführung, in: Eugen Kogon / Hermann Langbein / Adalbert Rückerl (Hg.), Nationalsozialistische Massentötung durch Giftgas, Frankfurt am Main 1983, 9–15, 9. 587 Vgl. Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Schriften aus dem Sigmund-Freud- Institut 2), Berlin 2013, 9–10. 73

Sobibór-Prozess von September 1965 bis Dezember 1966.588 Erst im Eichmann-Prozess, der von April bis Dezember 1961 stattfand, und im Frankfurter Auschwitz-Prozess, der später noch näher behandelt wird, bekam der schreckliche Vernichtungsvorgang in den Lagern die verdiente Aufmerksamkeit. Die in diesen Gerichtsverfahren Angeklagten als auch ihre Verteidiger bestritten die Verwendung von Gaskammern zur Ermordung von Menschen nicht.589Augenzeugen und ihre Berichte über das Gesehene bildeten eine wichtige Quelle, um die Verbrechen zu beweisen. Dabei unterscheidet Langbein zwischen zwei Gruppen: dem Täterkreis, d. h. auch Personen, die indirekt zu Tätern bzw. Mittätern wurden, und den Opfern.590 Laut Hermann Langbein unterschieden sich die Prozesse in Deutschland, in denen hohe Persönlichkeiten des Nationalsozialismus bis hin zu AufseherInnen in Konzentrationslagern angeklagt wurden, maßgeblich von anderen Kriminalverfahren. Denn die Verbrechen wurden nicht nur von Adolf Hitler, d. h. vom Oberhaupt des nationalsozialistischen Staates, befohlen, sondern blieben auch „formal eindeutige kriminelle Delikte“ 591, weil es im Dritten Reich kein Gesetz gegeben hat, das den Mord an hilflosen Jüdinnen und Juden, Polen, Zigeunern oder kriegsgefangenen Russen legalisierte. Eine weitere Besonderheit der Prozesse war ihre politische Wirkung. Zum einen wurden die betroffenen Menschen sowie die Öffentlichkeit dadurch zur Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts gezwungen und zum anderen waren die Richter, Geschworenen, Staatsanwälte und Verteidiger, die an den Gerichtsverfahren aktiv beteiligt waren, sowie Journalisten und Beobachter meistens selbst während der „Nazi-Zeit“ aufgestiegen und laut Hermann Langbein eher in der Täter- als in der Opferrolle zu sehen. Außerdem wurde die Öffentlichkeit während der Verhandlungszeit mit Geschehnissen bezüglich des Holocausts konfrontiert, die zuvor nicht beachtet oder geglaubt worden waren.592

588 Vgl. Raphael Gross / Werner Renz, Vorwort, in: Raphael Gross / Werner Renz (Hg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition 1 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Institut 22), Frankfurt am Main–New York 2013, 7–16, 7. 589 Vgl. Langbein, Einführung, 9–10. 590 Vgl. ebd., 13. 591 Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 9. 592 Vgl. ebd., 9–10. 74

Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

Der erste Nürnberger Prozess fand gegen die Hauptkriegsverbrecher „Nazi-Deutschlands“ vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946 in Nürnberg statt593, da es dort noch ein intaktes Gerichtsgebäude – den großen Justizpalast – gab.594 Die Stadt galt als Symbol der nationalsozialistischen Zeit595, in der – laut Taylor – die „Nazipartei ihre jährlichen Massenauftritte“ inszenierte. Des Weiteren wurden die Rassengesetzte, die „Nürnberger Gesetze“, nach ihr benannt.596 Das Verfahren basierte auf dem „Londoner Statut“, das kurze Zeit vor Beginn, am 8. August 1945, in Artikel 6 drei Straftatbestände festgelegt hatte597:

Artikel 6a: Verbrechen gegen den Frieden, d. h. Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges; Artikel 6b: Kriegsverbrechen, d. h. Verletzung der Kriegsgesetze oder -gebräuche; Artikel 6c: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, d. h. Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation und ähnliche Handlungen gegen die Zivilbevölkerung vor und während des Krieges.598 Außerdem wurde das „Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen“599 aufgehoben und das führte zu kritischen Debatten über die Rechtmäßigkeit des Prozesses. Laut Ernst Benda wurde die Verfolgung gegen Oppositionelle und vor allem gegen Jüdinnen und Juden in den Straftatbeständen nicht ausreichend berücksichtigt.600 Dan Diner ist sogar der Meinung, dass die Verfolgung des ersten Straftatbestandes, d. h. die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges, im Mittelpunkt stand und Auschwitz „in der Tat außerhalb des Kontextes kriegerischer Ereignisse – gleichsam im Schatten des Krieges“ stand.601 Demzufolge sei der systematische Massenmord an Jüdinnen und Juden ein „industrieller Mord – kein Kriegsakt“.602 Im Laufe des Prozesses nahm der Holocaust an sich nur eine untergeordnete Rolle ein.603 Auch die problematische Berichterstattung über den Prozess erschwerte die Unterrichtung der

593 Vgl. Dietmar Riedl, Die Behandlung des Holocaust im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die Wahrnehmung in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit, in: historia scribere 10 (2018), 143–158, 143– 144. 594 Vgl. Ernst Benda, Der Nürnberger Prozess. Grundlage eines neuen Völkerrechts?, in: Uwe Schultz (Hg.), Große Prozesse, Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, München 1996, 340–350, 341. 595 Vgl. ebd., 340. 596 Vgl. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, 83. 597 Vgl. Riedl, Die Behandlung des Holocaust im Nürnberger Prozess, 143–144. 598 Zit. n. ebd., 146. 599 Ebd., 144. 600 Vgl. Benda, Der Nürnberger Prozess, 343. 601 Dan Diner, Gedächtnis und Methode. Über den Holocaust in der Geschichtsschreibung, in: Fitz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt am Main–New York 1997, 11–22, 13. 602 Ebd. 603 Vgl. Riedl, Die Behandlung des Holocaust im Nürnberger Prozess, 144. 75 deutschen Bevölkerung. Aufgrund des Papiermangels konnten Zeitungen nur maximal dreimal pro Woche mit wenigen Seiten herausgebracht werden. Deshalb stieg die Bedeutung der Rundfunkberichterstattung, jedoch besaßen nur die Wenigsten einen Radioapparat. Des Weiteren gab es aufgrund der Zensur keine Pressefreiheit.604 Nach Benda rückte der Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in den Nachfolgeprozessen immer mehr in den Mittelpunkt.605 Erst im Eichmann-Prozess und im Auschwitz-Prozess bekamen die Überlebenden eine Stimme.

Der Eichmann Prozess

Die Verhaftung Adolf Eichmanns606, der als „Strohkopf […] zwar organisieren aber nicht denken kann“607, am 23. Mai 1960 und die Ankündigung eines Gerichtsverfahrens in Israel sorgten weltweit für Aufruhr. Mit der Verhaftung begannen die Diskussion um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden und das Wort „Auschwitz“ war – nach Rudolf Vrba – in aller Munde.608 Als der Prozess schließlich begann, erfuhr das Verfahren große mediale Aufmerksamkeit und beherrschte die Zeitungen und Zeitschriften609 sowie die Radiosender610. Für die Überlebenden des Holocausts als auch für den Staat Israel selbst war dieser Prozess von großer Bedeutung, weil dieses Verfahren den Überlebenden die Möglichkeit bot, sich zu äußern. Laut Peter Krause sei durch den Eichmann-Prozess das „Gespräch zwischen den Generationen“ angeregt worden und hätte zum „neuen Selbstbild Israels“ beigetragen.611 Des Weiteren wurde die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den begangenen Verbrechen, vor allem dem Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden, angekurbelt.612 Das Besondere an diesem Prozess war, dass es im Gegensatz zu den Nürnberger Prozessen oder zu den späteren Auschwitz-Prozessen nur einen Angeklagten gab613: Adolf Eichmann, dessen

604 Vgl. Riedl, Die Behandlung des Holocaust im Nürnberger Prozess,153. 605 Vgl. Benda, Der Nürnberger Prozess, 343. 606 Eichmann geriet unmittelbar nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft, jedoch wurde er nicht erkannt und konnte schließlich fliehen. Bis 1960 konnte er in Argentinien unter dem falschen Namen Ricardo Klement leben, bis er schließlich auf Betreiben Fritz Bauers verhaftet wurde. Vgl. Peter Krause, „Eichmann und wir“. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit und der Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961, in: Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 45), Göttingen 2011, 283–306, 287–288; Vgl. Lisa Hauff, „Die Augen der Welt schauen nach Jerusalem“. Der Prozess gegen Adolf Eichmann, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 3 (2011) 5, 42–46, URL: https://www.fritz-bauer- institut.de/fileadmin/editorial/publikationen/einsicht/einsicht-05.pdf (abgerufen am 08.6.2020), 42. 607 Hans E. Holthusen, Hanna Arendt. Eichmann und die Kritiker, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13 (1965) 2, 178–190, 182. 608 Vgl. Vrba, Ich kann nicht vergeben, 14. 609 Vgl. Krause, „Eichmann und wir“, 283. 610 Vgl. Greif, Stufen der Auseinandersetzung, 98. 611 Krause, „Eichmann und wir“, 284. 612 Ebd., 285. 613 Vgl. ebd. 76

Name bis zu seiner Verhaftung den meisten unbekannt war.614 Außerdem sollte es in diesem Prozess „um die Tragödie des Judentums in allen seinen Teilen“615 gehen und – nach Arendt – als solcher inszeniert werden. Adolf Eichmann war – gemäß Krause – der wichtigste „Schreibtischtäter“616 des NS- Regimes.617 Er war als Leiter des Referats IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) für das „Wiener Modell“618 verantwortlich und organisierte damit die „Auswanderung“, d. h. die Vertreibung, der österreichischen Jüdinnen und Juden.619 Im Oktober 1939 wurde er schließlich zum Leiter des Referats IV D 4 (Räumungsangelegenheiten und Reichszentrale für jüdische Auswanderung), das ab 1941 aufgrund des Verbots der jüdischen Auswanderung einen anderen Aufgabenbereich erhielt. Ab diesem Zeitpunkt war Eichmann für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden verantwortlich. Er organisierte die Deportationen und die Vernichtung. Krause zufolge sei sein „Meisterstück“ die Deportation und Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden gewesen.620 Der Eichmann-Prozess begann am 11. April 1961 in Jerusalem und endete am 15. Dezember des gleichen Jahres mit dem Todesurteil, das in der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 1962 vollzogen wurde.621 Im Rahmen des Verfahrens wurden etwa 100 Zeuginnen und Zeugen angehört622, wobei die Gruppe der Holocaust-Überlebenden die größte bildete.623 Laut Lisa Hauff spielten die Aussagen der Überlebenden für das Urteil Eichmanns, der aufgrund der ca. 1.500 vorgelegten Dokumente überführt wurde, jedoch nur eine nebensächliche Rolle.624 Der Eichmann-Prozess hatte positive Auswirkungen auf die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Shoah in Israel625: Yad Vashem sowie die Holocaust-Forschung an sich gewannen zunehmend an Bedeutung und Prestige.626

614 Vgl. Krause, „Eichmann und wir“, 290. 615 Zit. n. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (Geschichte im Wandel), München 1964, 30. 616 Darüber hinaus wurde Eichmann aufgrund seines Auftretens als „mittlerer Angestellten“ und durch seine „kalte und bürokratische Sprache“ zu einem „Musterexemplar des nationalsozialistischen Schreibtischtäters“. Krause, „Eichmann und wir“, 289. 617 Vgl. ebd., 285. 618 „Alle an der ‚Auswanderung‘ beteiligten Ämter und Dienststellen wurden in einer ‚Zentralstelle‘ unter seiner Kontrolle zusammengefasst und in einem gemeinsamen Gebäude untergebracht. Dies ermöglichte einen ‚fließbandartigen Schalterbetrieb‘, wodurch das Prozedere zur Erlangung der für die ‚Auswanderung‘ nötigen Papiere auf wenige Tage verkürzt werden konnte.“ Ebd., 285–286. 619 Vgl. ebd., 286. 620 Vgl. ebd. 621 Vgl. ebd., 288. 622 Vgl. ebd., 288–289. 623 Vgl. Hauff, „Die Augen der Welt schauen nach Jerusalem“, 43. 624 Vgl. ebd., 46. 625 Vgl. Frei, Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, 126. 626 Vgl. Greif, Stufen der Auseinandersetzung, 98. 77

Auch viele Auschwitz-Überlebende begannen nach dem Eichmann-Prozess an die Öffentlichkeit zu gehen, wie z. B. Rudolf Vrba.627 Der ehemalige Auschwitz-Häftling hatte 1963 mit seinen Aufzeichnungen begonnen. Davor versuchte er das Thema zu meiden, da es in Tschechien, wo er bis 1957 lebte628, als auch in Israel, wo er zwischen 1958 und 1960 arbeitete629, tabuisiert wurde und auch mangelndes Interesse daran bestand. In Deutschland war – nach Norbert Frei – der Frankfurter Auschwitz-Prozess „die erste Frucht einer Veränderung des vergangenheitspolitischen Klimas“.630 Erkennbar sei die Veränderung vor allem an der Prozessvorbereitung, für die eigens Historiker eingeschaltet wurden.

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, auch „Strafsache gegen Mulka und andere“ genannt, nimmt – nach Raphael Gross und Werner Renz – unter all den Prozessen erinnerungspolitisch wie auch rechtshistorisch eine besondere Position ein. Dieses Gerichtsverfahren erhielt die größte mediale Aufmerksamkeit nicht nur, weil Auschwitz die meisten Opfer nach sich zog, sondern weil eine relativ große Anzahl an Überlebenden die Verbrechen bestätigen konnte.631 Die Reportagen über den Prozess von Bernd Naumann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelten laut Arendt als die angesehensten Berichte.632 Hermann Langbein ist ebenfalls der Meinung, dass es sich beim Auschwitz-Prozess um den größten und gewichtigsten von allen handelte – aufgrund seines besonderen Ausmaßes und aufgrund dessen, dass sich „nur“ 20 Angeklagte vor Gericht verantworten mussten.633 Die Zahl der Angeklagten wurde willkürlich beschränkt, indem Beschuldigte ohne maßgebenden Grund von der Liste gestrichen und einige Tatverdächtige erst in den nachfolgenden Auschwitz- Prozessen in Frankfurt vor Gericht gestellt wurden.634 Die Besonderheit des Auschwitz- Prozesses zeigt sich darin, dass sich ein deutsches Gericht, nämlich das Frankfurter Landesgericht635, in der fünfeinhalbjährigen Vorbereitungszeit intensiv mit der individuellen Schuld der Angeklagten beschäftigen musste. Laut Wolfgang Benz wurde „der Auschwitz- Prozess […] zur Herausforderung an die Deutschen, den schrecklichsten Teil ihrer Geschichte

627 Vgl. Vrba, Ich kann nicht vergeben, 7. 628 Vgl. ebd., 11. 629 Vgl. Vrba, Ich kann nicht vergeben, 13. 630 Frei, Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, 126. 631 Gross / Renz, Vorwort, 7. 632 Vgl. Arendt, Nach Auschwitz, 100. 633 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 10–11. 634 Vgl. ebd. 635 Vgl. ebd., 30. 78 wahrzunehmen“.636 Aufgrund der 248 ehemaligen Häftlinge – 96 davon jüdisch637 – die als Zeugen für den Prozess aussagten, wurden erstmalig umfangreiche Materialien zusammengetragen, wodurch es zur Rekonstruktion der Geschichte des größten Konzentrations- und Vernichtungslagers kam.638 Unter den Zeugen befanden sich ehemalige Häftlinge, die aufgrund einer besonderen Stellung im Lager einzigartige Erfahrungen machen konnten, wie beispielsweise Ärzte, Häftlinge in der „Politischen Abteilung“, Kapos, Blockälteste oder Häftlinge des „Sonderkommandos“.639 Zu den ersten Angeklagten gehörte Wilhelm Boger640, ein ehemaliger SS-Oberscharführer, welcher seit 1949 unter seinem richtigen Namen lebte, aber nie verhaftet wurde. Arendt zufolge ist es erschreckend, dass mehrere Angeklagte, die unter ihrem richtigen Namen lebten, nicht von ihren Gemeinden ausgestoßen wurden.641 Erst ein Hinweis in Form eines Briefes von Adolf Rögner, ein ehemaliger Auschwitz-Häftling, der laut Devin O. Pendasein „notorischer Straftäter“ war, hat zur Verhaftung Bogers geführt.642 Hermann Langbein spielte dabei als Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees in Wien eine wichtige Rolle.643 Rögner hatte auch Langbein diesen Brief zukommen lassen, welcher sich für ihn einsetzte und den Fall bei der Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde vorantrieb.644 Mit dem Gerichtsverfahren gegen Boger, der am 8. Oktober 1958 verhaftet wurde645, begann „das umfangreichste Verfahren […], das jemals die deutsche Justiz beschäftigt hat“.646 1958 wurde mit der Gründung der Zentralen Stelle zur Verfolgung der Naziverbrechen durch den Landesjustizminister ein wichtiger Meilenstein gelegt. Ab diesem Zeitpunkt wurden Anschriften ehemaliger SS-Männer laufend ermittelt und diese anschließend verhaftet, wie beispielsweise Hans Stark, der ebenso wie Boger der Politischen Abteilung angehörte.647 Dabei war die Zentralstelle nicht auf sich alleine gestellt, sondern wurde vom Internationalen

636 Wolfgang Benz, Bürger als Mörder und die Unfähigkeit zur Einsicht. Der Auschwitz-Prozess, in: Uwe Schultz (Hg.), Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, München 1996, 382–392, 391. 637 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 44. 638 Vgl. ebd., 11–12. 639 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 18. 640 „Boger, der Schlimmste unter ihnen – der Lagerexperte für ‚verschärfte Verhöre‘ mit Hilfe der ‚Boger- Schaukel‘.“ Arendt, Nach Auschwitz, 102. 641 Vgl. ebd., 101. 642 Devin O. Pendas, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965. Eine historische Einführung, in: Raphael Gross / Werner Renz (Hg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition 1, (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Institut 22) Frankfurt am Main–New York 2013, 55–88, 58. 643 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 22. 644 Vgl. Pendas, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, 59. 645 Vgl. Bernd Naumann, Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt, Frankfurt am Main–Bonn 1965, 14. 646 Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 26. 647 Vgl. ebd., 29–30. 79

Auschwitz-Komitee648 von Anfang an unterstützt. Auch ehemalige Auschwitz-Häftlinge beteiligten sich daran, wie z. B. ein Überlebender aus Katowice, der die Berliner Adresse des Rapportführers Oswald Katuk kannte und somit zu seiner Verhaftung beitrug.649 Eine weitere wichtige Persönlichkeit, die für den Auschwitz-Prozess eine tragende Rolle spielte, war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer650, dem wichtige Dokumente aus dem KL Auschwitz in die Hände fielen. Aufgrund seines Engagements konnte sich das Gerichtsverfahren „zu einem systematischen Komplexverfahren entwickeln, das eine umfassende Darstellung des größten NS-Tötungszentrums bieten sollte“.651 Für Bauer sei das primäre Ziel des Prozesses die „Bewältigung der Vergangenheit“652, das nur durch umfassende Bearbeitung des historischen Kontextes der Verbrechen erreicht werden könne. Ihm ging es – nach Werner Renz – nicht um Vergeltung oder Sühne, sondern „um das Verbrechen als solches und die Aufrechterhaltung der Normen, die die Gemeinschaft zum Schutz ihrer Existenz und Entwicklung aufgestellt hat“.653 Nach der Übernahme des Verfahrens im Jahr 1959 durch das Landgericht in Frankfurt am Main654 wurde beim Internationalen Auschwitz-Komitee um Unterstützung bezüglich der Kronzeugen, die außerhalb von Deutschland lebten, angesucht, d. h. ehemalige Auschwitz- Häftlinge wurden „offiziell von einer Oberstaatsanwaltschaft in die Bundesrepublik Deutschland eingeladen“.655 Während der Vorbereitungsphase, die am 19. Oktober 1962 abgeschlossen wurde, konnten insgesamt etwa 1500 Überlebende von Auschwitz angehört werden, deren Aussagen in 96 Aktenbänden gesichert wurden.656 Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt das Gerichtsverfahren657 gegen 22 Angeklagte658 und erhielt große Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit, so dass das Verfahren zunächst in den Frankfurter Römer und schließlich, im April 1964, ins Gallushaus, das ursprünglich für

648 1954 wurde das Internationale Auschwitz-Komitee von Auschwitz-Überlebenden unterschiedlicher Herkunft gegründet und kümmerte sich u. a. um das Gedenken an die Opfer, an die Gestaltung des Lagergeländes sowie um die Erforschung der Lagergeschichte, um die Aufklärung der Öffentlichkeit und um die Strafverfolgung der Verbrecher. Vgl. Stengel, Einleitung zur Neuausgabe, II–III. 649 Vgl. Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 30. 650 Vgl. Werner Renz, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG-Verfahrens, in: Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hg.), NS- Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR (Schriften des Hannah- Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 45), Göttingen 2011, 349–362, 349. 651 Pendas, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, 58. 652 Frei, Der Frankfurter-Prozess, 127. 653 Zit. n. Renz, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit, 350. 654 Vgl. Pendas, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, 62. 655 Langbein, Der Auschwitz-Prozess, 31. 656 Vgl. ebd., 33. 657 Vgl. Pendas, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, 68. 658 Darunter Robert Karl Ludwig Mulka, Karl Höcker, Friedrich Wilhelm Boger, Hans Stark, Pery Broad, Oswald Kaduk, Heinrich Bischoff, Dr. Victor Capesius, etc. Vgl. Naumann, Auschwitz, 15–16. 80 kulturelle Veranstaltungen genutzt werden sollte, verlegt wurde.659 Im Oktober 1964 konnten ehemalige Mitglieder des Sonderkommandos, wie z. B. Filip Müller und Milton Buki, das erste Mal im Prozess ihre Erinnerungen schildern. Milton Buki berichtete, dass er und die anderen Häftlinge sofort nach ihrer Selektion die Leichen der alten, bereits ermordeten Sonderkommando-Häftlinge verbrennen mussten.660 Er gab sofort nach der Befreiung hinsichtlich seiner Erfahrungen als ehemaliger Sonderkommando-Häftling eine Erklärung ab, die im Rahmen des Auschwitz-Prozess vorgelesen wurde. Darin lastete Buki den Oberscharführer Muhsfeld661, der jedoch nicht im Auschwitz-Prozess angeklagt wurde, folgende Verbrechen an:

„Linz, den 14. Februar 1946. Der Oberscharführer Muhsfeld war als Chef der Krematorien I und II mein Vorgesetzter. Er allein hat mindestens 300 Häftlinge erschossen. Einmal befahl er einem Mann, bei den Erschießungen einen Walzer zu singen und versprach ihm, ihn dafür am Leben zu lassen. Schließlich hat er ihn auch erschossen. Bei den Erschießungen waren nicht immer alle Opfer tot, aber alle kamen zu den Öfen. Muhsfeld hatte eine Stahlrute, mit der er uns und auch die Opfer schlug. Schließlich hat er auch unseren Capo Kaminski662 erschossen. Damals sagte er: ‚So mache ich es auch mit euch!‘“663 Im Auschwitz-Prozess wurde das erste Mal die Aufgabe bzw. die Rolle des Sonderkommandos umfangreicher behandelt. Die Zeugen, darunter auch Alter Feinsilber, Szlama Dragon, Henryk Tauber, Charles Bendel, Dov Paisikovic und Miklós Nyiszl664, wurden nach dem Vergasungsvorgang, nach ihrer Unterkunft, der Selektion zum Sonderkommando und nach der Verbrennung und Entsorgung der Asche gefragt. Ihre Aussagen waren so einzigartig, weil sie direkt in den Vernichtungsprozess involviert waren. In diesem Prozess konnten sich die Überlebenden endlich Gehör verschaffen, ohne dass sie jemand als „verwirrt“ beschimpfte und sie verleugnete. Dieser Prozess war ein wichtiger Schritt in Bezug auf die Erforschung des Sonderkommandos. Nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess folgten zwei weitere Folgeprozesse665, die jedoch weitaus weniger mediale Aufmerksamkeit erhielten als der erste Prozess. Laut Arendt habe das die Staatsanwaltschaft damit begründet, dass „die Mehrheit des deutschen Volkes […] heute keine Prozesse gegen NS-Gewaltverbrecher mehr führen“666 will.

659 Vgl. Benz, Bürger als Mörder und die Unfähigkeit zur Einsicht, 390. 660 Naumann, Auschwitz, 426. 661 Milton Buki meinte Erich Muhsfeldt, der ab September 1944 Kommandoführer der Krematorien war. Laut Ernst Klee tötete er zahlreiche Häftlinge per Genickschuss und wurde im Flossenbürg-Hauptprozess am 22. Jänner 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt und anschließend an Polen ausgeliefert, wo er durch ein Gericht in Krakau zum Tode verurteilt wurde. Vgl. Klee, Personenlexikon, 293. 662 Laut Filip Müller war Kaminski einer der wichtigsten Widerstandskämpfer. Vgl. Lanzmann, Shoah, 218. 663 Langbein, Auschwitz-Prozess, 96. 664 Vgl. Piper, Die Bedeutung des KL Auschwitz im Nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparat, 24. 665 Vgl. Zarusky, Die juristische Aufarbeitung der KZ-Verbrechen, 355. 666 Arendt, Nach Auschwitz, 99. 81

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess spielte dennoch eine wichtige Rolle für die Aufarbeitung der Geschehnisse im Holocaust von Seiten der Forschung. Im Jahr 1965, in dem die Urteilsverkündung stattfand, wurde der Prozess bereits in zwei Dokumentationen verarbeitet: In Hermann Langbeins „Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation“667 in zwei Bändern sowie in Bernd Naumanns „Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt“668. In beiden Büchern wird das Sonderkommando jedoch nur am Rande bearbeitet. Des Weiteren wurde der Frankfurter Prozess im selben Jahr im Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ von Peter Weiß verarbeitet, das im letzten „Gesang“ Gesang von den Feueröfen die Zeugen des Sonderkommandos behandelt. Neben Details des Vergasungsprozesses selbst wird die Stärke des Sonderkommandos, seine Aufgaben sowie der Aufstand erfragt und genau beschrieben.669 Im Rahmen des Auschwitz-Prozesses wurden eigens Historiker bestellt, die den zeitgenössischen Kontext rekonstruieren sollten, in dem die Beschuldigten ihre Verbrechen begangen hatten. Die Ergebnisse wurden von den Historikern Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick670 in zwei Bänden veröffentlicht. Sie hatten in der Vorbereitungsphase mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen, denn sie konnten sich auf keine umfangreiche historische Auschwitz-Forschung stützen. Zu Beginn der Verhandlung bestand die Forschung aus zwei kurzen Publikationen671 aus Polen, den Heften von Auschwitz, die vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau herausgegeben wurden, der Monografie von Ota Kraus und Erich Kulka672 sowie dem Augenzeugenbericht von Lucie Adelsberger673 aus dem Jahr 1956 und der Autobiographie von Rudolf Höß, die 1958 das erste Mal als Band 5 in der Zeitschrift Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte und dann 1963 als Buch veröffentlicht wurde. Auf Betreiben Fritz Bauers sollten im Zuge der Vorbereitungsphase des Prozesses sieben

667 Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation, 2 Bde., Wien–Frankfurt am Main 1965. 668 Bernd Naumann, Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt, Frankfurt am Main–Bonn 1965. 669 Vgl. Peter Weiß, Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, Frankfurt am Main 1965, 179–181. 670 Hans Buchheim / Martin Broszat / Hans-Adolf Jacobsen / Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, 2 Bde. Olten–Freiburg 1965. 671 Zentralkommission für die Untersuchung der Nazi-Verbrechen in Polen (Hg.), Konzentrationslager Oswiecim (Auschwitz-Birkenau), Warschau 1955; Zentralkommission für die Untersuchung der Nazi-Verbrechen in Polen (Hg.), Konzentrationslager Oświęcim-Brzezinka (Auschwitz-Birkenau), auf Grund von Dokumenten und Beweisquellen, bearbeitet von Jan Sehn, Warszawa 1957. 672 Ota Kraus / Erich Kulka, Die Todesfabrik, Berlin 1957. 673 Lucie Adelsberger, Auschwitz. Ein Tatsachenbericht. Das Vermächtnis der Opfer für uns Juden und für alle Menschen, Berlin 1956. 82 grundlegende Gutachten, die den historischen Hintergrund der Verbrechen behandeln sollten, zu verschiedenen Themen674 erstellt werden675. Laut Norbert Frei gehörten

die im Frankfurter Römer und im Haus Gallus verlesenen historischen Gutachten zu dem Besten […], was die deutsche Zeitgeschichtsforschung in den sechziger Jahren zu den nationalsozialistischen Verbrechen an Juden, Zigeunern und den Völkern Osteuropas zuwege gebracht hat.676 Unmittelbar nach Beendigung des Prozesses wurden die Gutachten in einer zweibändigen Buchausgabe mit dem Titel „Anatomie des SS-Staates“ veröffentlicht und waren schnell vergriffen.677 Das Thema „Sonderkommando“ in Auschwitz-Birkenau wird im Werk jedoch ausgespart. Helmut Krausnick erwähnt im Kapitel „Judenverfolgung“ zwar die jüdischen Arbeitskommandos bzw. Sonderkommandos in Chełmno Belzec, Sobibor und Treblinka678, doch die Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau bleiben völlig ungenannt, obwohl die Aussagen der Zeugen diesbezüglich im Prozess sehr eindringlich und wichtig waren. Trotz des großen Interesses der Öffentlichkeit am Prozess und der umfassenden Auseinandersetzung der Historiker mit dem historischen Hintergrund blieb die zeitgeschichtliche Forschungswelle nach dem Verfahren aus. Erst Anfang der 80er Jahre wurde mit der Forschung „von unten“ der Blick wieder auf die Opfer gelenkt.679

6.2. Die Auseinandersetzung mit dem Sonderkommando

Schon während des Krieges war die Existenz des Sonderkommandos, trotz der vergeblichen Versuche der Vertuschung von Seiten der SS, im Lager Auschwitz-Birkenau bekannt. Nach der Befreiung und nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges ging dieses Wissen natürlich nicht verloren, dennoch wurde diesem Teil der Vergangenheit zunächst keine Beachtung geschenkt. Nach Aurélia Kalisky habe die zögerliche Auseinandersetzung mit dem Sonderkommando vor allem mit der Wahrnehmung der Häftlinge dieses Kommandos zu tun, die oftmals als Kollaborateure, „Mittäter“ oder „Helfer“ bezüglich der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden beschuldigt wurden. Dieser Aspekt der Vergangenheit wurde nicht nur in Israel tabuisiert, sondern auch in den europäischen Ländern.680 Das

674 Die Gutachten sollten die Judenpolitik 1933–1945, die nationalsozialistische Polenpolitik seit 1939, das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen, den Aufbau der SS- und Polizeihierarchie, den Aufbau des KZ- Systems mit Fokus auf die wirtschaftliche Ausbeutung und der Vernichtung durch Arbeit, den Aufbau und die Aufgaben der SS-Einsatzgruppen und das Problem des Befehlsnotstandes behandeln. Vgl. Frei, Der Frankfurter- Prozess, 129. 675 Vgl. ebd. 676 Frei, Der Frankfurter-Prozess, 130. 677 Vgl. ebd., 130–131. 678 Vgl. Buchheim / Broszat / Jacobsen / Krausnick, Anatomie des SS-Staates, 648–651. 679 Vgl. Frei, Der Frankfurter-Prozess, 130–131. 680 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 52. 83

Sonderkommando wurde anfänglich nur in einigen Zeitzeugenberichten von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen erwähnt, wie beispielsweise in Miklos Nyiszlis681 Bericht „Ich war der Pathologe von Dr. Mengele im Auschwitz Krematorium“, der bereits 1946 auf Ungarisch – erst 1992 auf Deutsch – veröffentlicht wurde; in Hermann Langbeins Autobiographie „Die Stärkeren“682 und in den bereits erwähnten Werken von Lucie Adelsberger von 1956 und dem Kommandanten von Auschwitz Rudolf Höß683 1958. Letzterer stellte die Mitglieder des Sonderkommandos praktisch als Kollaborateure dar, obwohl ihm die Selektion zu diesem Kommando sowie die Strategien der SS, um die Häftlinge zu brechen und gefügig zu machen, nur allzu gut bekannt waren. Laut Georges Wellers gibt es keine Berichte von ehemaligen Häftlingen aus Auschwitz, die nicht die Gaskammern und Krematorien erwähnten, d. h. die Existenz dieser war im gesamten Lager Auschwitz bekannt.684 In den Erinnerungsschriften wird das Sonderkommando unterschiedlich dargestellt. Laut Andreas Kilian habe Miklos Nyiszlis dem Kommando zunächst sehr kritisch gegenübergestanden. Jedoch veränderte sich seine ablehnende Haltung im Laufe des Buches685: „Zuerst hatte ich keine klare Meinung zum Handeln des Sonderkommandos. Ich konnte es moralisch nicht einordnen. Nach einigen Tagen aber, als ich die Situation besser überblickte, bejahte ich diese Handlungsweise.“686 Lucie Adelsberger, die als Lagerärztin das KL Auschwitz-Birkenau überlebte, widmete ein ganzes Kapitel den „Sonderkommandos“, meint damit aber nicht nur die Einheit, die für die Verbrennung der Vergasten zuständig war, sondern verschiedene Arbeitskommandos in Auschwitz, wie z.B. „Kanada“ oder die Musikkapelle. Dabei betont sie, dass es gute als auch schlechte Kommandos, wie z. B. das Sonderkommando, gibt.687 Sie erzählt in ihrem Bericht, wie sie in Kontakt mit den Sonderkommando-Häftlingen gekommen ist und wie sie sie wahrgenommen hat:

„Manchmal kamen sie, scharf von der SS mit geladenem Revolver bewacht, von den großen bissigen Hunden umringt, in unser Lager zum Baden. Das waren keine menschlichen Antlitze mehr, sondern verzerrte, irre Gesichter, dass man vor Entsetzen hätte brüllen mögen. Sie wurden

681 Miklós Nyiszli wurde am 29.5.1944 mit seiner Frau und seiner Tochter, welche Ernst Klee zufolge beide überlebten, nach Auschwitz deportiert. Dort wird Nyiszli Mengeles Obduzent und schließlich im Krematorium I beim Sonderkommando untergebracht. Vgl. Klee, Personenlexikon, 301–302. 682 Hermann Langbein, Die Stärkeren. Ein Bericht, Wien 1949. 683 Die Autobiographie von Rudolf Höß war in der Bundesrepublik Deutschland das meistverkaufte und -gelesene Buch zum Thema Auschwitz und erfuhr weitaus größeres Interesse von der Öffentlichkeit als die Berichte der Auschwitz-Überlebenden. Vgl. Stengel, Einleitung zur Neuausgabe, II. 684 Vgl. Wellers, Auschwitz, 204. 685 Vgl. Andreas Kilian, Erinnerungsbericht. Im Jenseits der Menschlichkeit. Hintergrundinformationen. Als Arzt im Zentrum der Massenvernichtung, Sonderkommando-Studien 9.12.2004, URL: https://sonderkommando- studien.de/publikationen/#hintergrundinformationenmenschlichkeit (abgerufen am 1.6.2020). 686 Zit. n. ebd. 687 Lucie Adelsberger, Auschwitz. Ein Tatsachenbericht. Das Vermächtnis der Opfer für uns Juden und für alle Menschen, Bonn 2005, 68–69. 84

übrigens für ihre Arbeit gut bezahlt. Sie durften sich aus den Sachen alles nehmen, was sie wollten, auch Zigaretten und Schnaps. Überdies hatten sie ihr Todesurteil in der Tasche.“688 Trotz der Zeugenaussagen einiger Sonderkommando-Überlebenden bei den Verhandlungen in den 60er Jahren änderte sich nichts an den moralischen Verurteilungen.689 Es dauerte sehr lange, bis dieser Themenkomplex die notwendige (wissenschaftliche) Aufmerksamkeit erfuhr. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sonderkommando war die Quellenlage in der Nachkriegszeit problematisch. Die Sonderkommando-Häftlinge waren dazu gezwungen worden, jegliche Spuren der Vernichtungsprozesse zu tilgen. Als immer deutlicher wurde, dass die Deutschen den Krieg verlieren würden und die sowjetische Armee immer weiter Richtung Auschwitz vorrückte, wurde aus einem Teil des Sonderkommandos ein eigenes „Abrisskommando“ für die Verwischung der Spuren gebildet. Diese Gruppe musste die Krematorien demontieren, die letzte Asche aus den Verbrennungsgruben beseitigen und die Gruben einebnen.690 Des Weiteren konnten nur wenige Sonderkommando-Häftlinge überleben. Die Historikerinnen und Historiker, die meistens selbst Auschwitz-Überlebende waren, waren somit mit einem lückenhaften Quellenkorpus konfrontiert, das erschlossen werden musste. Die einzigen Details über das Sonderkommando stammten schließlich von den auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau gefundenen Handschriften bzw. Manuskripten sowie den vier bereits erwähnten Fotos des Sonderkommandos; von den Zeitzeugen, die sich für ein Interview bereit erklärt haben; von den Geständnissen der Kommandanten, die für das Sonderkommando verantwortlich waren und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor Gericht angeklagt wurden, und von Beobachtungen und Aussagen von Deutschen und Polen, die zwar nicht im Lager inhaftiert waren, aber auf irgendeine Weise mit dem Kommando in Kontakt gekommen sind.691 Das öffentliche Bild der Sonderkommando-Häftlinge hat sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten, aufgrund der einschlägigen Forschungen einzelner Historikerinnen und Historiker, wie z. B. Gideon Greif, Andreas Kilian, Eric Friedler, Barbara Siebert und Nathan Cohen, zum Besseren gewandelt.692

688 Adelsberger, Auschwitz, 71. 689 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 52. 690 Vgl. Franciszek Piper, Die Bedeutung des KL Auschwitz im Nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparat, 22. 691 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 49–50. 692 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 52. 85

6.2.1. Quellen der Forschung

Die Manuskripte

Die Manuskripte, auch „Scrolls of Auschwitz“693 genannt, der sechs „Historiker“ Salmen Gradowski694, Lewental, Herman, Lejb (Langfus), Nadjari und des unbekannten Autors wurden nach dem Krieg zwischen 1945 und 1980 auf dem Gelände der Krematorien von Birkenau gefunden.695 Diese Funde sind vor allem Henryk Porebski zu verdanken, der als Elektriker Zugang zum Krematoriumsgelände hatte, konspirative Kontakte zum Sonderkommando pflegte und somit über die heimlichen Aufzeichnungen einiger Mitglieder Bescheid wusste.696 Historikerinnen und Historiker nehmen aufgrund verschiedener Aussagen von Zeitzeugen und aufgrund von Hinweisen in den Handschriften an, dass am Gelände vom KL Auschwitz noch mehr Aufzeichnungen vergraben bzw. versteckt sein könnten.697 Nach konservatorischen Maßnahmen wurden alle Handschriften übersetzt und schließlich veröffentlicht: Sie erschienen in verschiedenen Ausgaben des „Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego“698 zwischen 1954 und 1969 sowie in den „Zeszyty Oświęcimskie“699 des Verlags der Gedenkstätte Auschwitz zwischen 1971 und 1975. Laut Danuta Czech seien diese Ausgaben der „Hefte von Auschwitz“ auf großes Interesse gestoßen, da die Edition innerhalb weniger Monate ausverkauft war.700 Die Manuskripte unterscheiden sich voneinander grundlegend, da jede Handschrift einen

693 Die Bezeichnung „Scrolls of Auschwitz“ wurde von Ber Marks Werk „The Scrolls of Auschwitz“ (1985) geprägt. Vgl. Dan Stone, The Harmony of Barbarism. Locating the Scrolls of Auschwitz in Holocaust Historiography, in: Nicholas Chare / Dominic Williams (Hg.), Representing Auschwitz. At the Margins of Testimony, New York 2013, 11–32, 27. 694 Salmen Gradowski wurde um 1910 in Suwał (Polen) geboren und wurde im Dezember 1924 mit seiner Familie aus dem Ghetto Lunna nach Auschwitz deportiert, wo er sogleich für das Sonderkommando selektiert wurde. Im Laufe der Zeit engagierte sich Gradowski im Widerstand und nahm aktiv am Aufstand des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944 teil und kam dabei ums Leben. Vgl. Nathan Cohen, Diaries of the Sonderkommando, in: Yisrael Gutman / Michael Berenbaum (Hg.), Anatomy of the Auschwitz Death Camp, Washington 1994, 522–534, 523. 695 Dan Stone, The Harmony of Barbarism, 14. 696 Vgl. Langbein, Menschen in Auschwitz, 286. 697 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 36. 698 „W otchłani zbrodni (Kronika oświęcimska nieznanego autora) [Im Abgrund des Verbrechens (Chronik aus Auschwitz eines unbekannten Autors)], in: Biuletyn Żydowskiego instytutu Historycznego [weiter: Biuletyn ŻIH], Nr. 9–10, Warschau 1954, S. 303–309; Szukajcie w popiołach. Papiery znalezione w Oświęcimiu [Suchet in der Asche. In Auschwitz gefundene Papiere], Łódź 1965; Salmen Lewental, Pamiętnik członka Sonderkommando Auschiwtz II [Tagebuch eines Angehörigen des Sonderkommandos Auschwitz II], in Biuletyn ŻIH, Nr. 65–55, Warschau 1968, S. 211–233; Salmen Gradowski, Pamiętnik [Tagebuch], in: Biuletyn ŻIH, Nr. 71–72, Warschau 1969, S. 172–204.“ Czech, Vorwort, 8. 699 Im Jahr 1971 wurden unter dem Titel Wśród koszmarnej zbrodni. Rękopsy czlonków Sonderkommando die Manuskripte von Gradowski, Lewental, Herman und des unbekannten Autors als Sonderheft II der polnischsprachigen Serie der „Zeszyty Oświęcimskie“ veröffentlicht. Ein Jahr später erschien die erste Veröffentlichung der Handschrift von Lejb [Langfus] in der „Zeszyty Oświęcimskie 14“. Vgl. ebd., 7. 700 Vgl. Danuta Czech, Vorwort, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 7–15, 8. 86 anderen Aspekt aus dem Leben „Im Herzen der Hölle“701 behandelt. Deshalb wird von Historikerinnen und Historikern angenommen, dass sich die „Chronisten“ die einzelnen Bereiche untereinander aufgeteilt haben, damit der Nachwelt ein möglichst detailliertes und vollständiges Bild von den Geschehnissen während des Holocausts vermittelt werden konnte.702 Aus diesem Grund handelt es sich bei den Manuskripten um wertvolle Quellen: Es konnten neben Details zum Ablauf des Vernichtungsprozesses und zum Schicksal der Sonderkommando-Häftlinge auch Ursachen erkannt werden, weshalb sich die Opfer nicht gewehrt hatten.703 Salmen Gradowski, der zwei Handschriftensammlungen704 hinterließ, behandelte vor allem die Transporte aus dem Durchgangslager in Kiełbasin nach Auschwitz sowie die Selektion auf der „Judenrampe“705 im literarischen Stil. Die erste Handschrift wurde am 5. März 1945706 und die zweite im Sommer 1945 gefunden. Letztere wurde erst 1977 von Chaim Wolnermann publiziert. Aufgrund mangelnden Interesses an einer solchen Handschrift musste Wolnermann die Kosten für die Edition mit dem Titel In harz fun gehinem [Im Herzen der Hölle] selbst tragen. Laut Kateřina Čapkoá sind die Gründe für die problematische Publikation der Handschrift von Gradowski in der israelischen Öffentlichkeit, die sich mit der Wirklichkeit der „Shoah“ nicht auseinandersetzen wollte, zu finden.707 Der unbekannte Autor beschäftigte sich im Gegensatz dazu mit Vorfällen, „die sich vor der Vergasung der aus verschiedenen Ländern Europas gebrachten Menschentransporten zugetragen hatten“.708 Seine Handschrift wurde im Sommer 1952 am Gelände von Krematorium III ausgegraben. Aus den Aufzeichnungen, die im Gegensatz zu den anderen Handschriften vollständig lesbar waren, kann entnommen werden, dass es sich bei dem Autor, dessen Name bis heute nicht bekannt ist, um einen „alten Auschwitz-Häftling und (ein) Mitglied des Sonderkommandos“ handelte, der „aus einem Kreis orthodoxer Juden“ stammte.709 Eine Handschrift, die zunächst Salmen Lewental710 zugesprochen wurde, wurde in einem

701 Cohen, Diaries of the Sonderkommando, 522. 702 Vgl. Czech, Vorwort, 11. 703 Vgl. Czech, Vorwort, 8. 704 1. Handschrift: „Brief vom 6. September 1944“ und „Komm hierher, Du Mensch“; 2. Handschrift: „Eine Mondnacht“, „Der tschechische Transport“ und „Die Zertrennung“. Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 355. 705 Vgl. Bezwińska / Czech, Vorwort, 64. 706 Vgl. Cohen, Diaries of the Sonderkommando, 523. 707 Kateřina Čapkoá, Das Zeugnis von Salmen Gradowski, in: Theresienstädter Studien und Dokumente (1999), 105–111, 106. 708 Bezwińska / Czech, Vorwort, 64. 709 Bernard Mark, Über die Handschrift eines unbekannten Autors, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 175–176, 175. 710 Salmen Lewental wurde 1918 in Tschechanov (Polen) geboren und wurde am 10. Dezember 1942 zusammen mit seiner Familie nach Birkenau deportiert. Am 10. Januar 1943 wurde er dem Sonderkommando zugeteilt und 87

Metallbehälter im Zuge der Suchgrabungen von Vertretern der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen und des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim zwischen dem 26. und dem 28. Juli 1961 ebenfalls am Gelände des Krematoriums III gefunden. Nach der Übersetzung der Aufzeichnungen wurde jedoch erkannt, dass der Inhalt ausschließlich das Ghetto von Łódź behandelt. Salmen Lewental fand diese Aufzeichnungen in den hinterlassenen Besitztümern der Opfer aus diesem Ghetto und beschloss, es samt einem persönlichen sechsseitigen Kommentar für die Nachwelt zu vergraben.711 In seinem Kommentar weist er außerdem auf andere Verstecke hin, an denen weitere Berichte verborgen wurden.712 Aufgrund seiner Hinweise konnte 1962 sein eigenes Tagebuch, das in einfacher Sprache geschrieben wurde, in einem Glasgefäß ebenfalls auf dem Gelände des Krematoriums III gefunden werden.713 Darin geht es um die Lebensbedingungen im Sonderkommando als auch im restlichen Lager. Des Weiteren können in den Aufzeichnungen eine „Analyse des seelischen Zustandes“714 der Sonderkommando-Häftlinge, Details zur Vernichtungsaktion sowie zur Kontaktaufnahme mit der Widerstandsbewegung im Lager gefunden werden. Auch die Vorbereitung und der Verlauf des Sonderkommando-Aufstands werden in Lewentals Aufzeichnungen umfangreich bearbeitet.715 Lejb (Langfus) beschäftigte sich vor allem mit den Ereignissen im Ghetto vor seiner Ankunft im Lager.716 Des Weiteren legte er eine Liste über die Transporte von Menschen bei, die in den Krematorien zwischen dem 9. und 24. Oktober 1944 eingeäschert wurden.717 Gustaw Borowczyk fand das stark beschädigte Notizbuch von Lejb im April 1945 auf dem Gelände des zerstörten Krematoriums III in einem Einmachglas. Für Borowczyk waren die Aufzeichnungen unlesbar. Der Fund blieb fast 15 Jahre lang unbeachtet am Dachboden des Hauses seiner Familie. Erst 1970 wurde die Handschrift von seinem jüngeren Bruder Wojciech Borowczyk an das Staatliche Auschwitz-Museum weitergereicht.718 Bis zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, wer diese Aufzeichnungen vorgenommen hatte. Es erwies sich erst später als ein Tagebuch eines Mitglieds des Sonderkommandos namens Lejb.719 Aufgrund verschiedener

arbeitete zuletzt in Krematorium III, weshalb er nicht aktiv am Aufstand teilnahm. Vgl. Cohen, Diaries of the Sonderkommando, 527, 529. 711 Vgl. Danuta Czech, Über den Kommentar von Salmen Lewental, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 189–191, 190. 712 Vgl. ebd., 191. 713 Vgl. Cohen, Diaries of the Sonderkommando, 527–528. 714 Bezwińska / Czech, Vorwort, 65. 715 Vgl. ebd. 716 Vgl. ebd., 66. 717 Vgl. Stone, The Harmony of Barbarism, 24. 718 Vgl. Bezwińska / Czech, Vorwort, 61. 719 Vgl. ebd., 62. 88

Lagerdokumente, der anderen Handschriften der „Historiker“ sowie unterschiedlicher Aussagen und Berichte konnte ermittelt werden, dass es sich höchstwahrscheinlich um Lejb Langfus handelte.720 Laut Dan Stone entdeckte Ber Mark’s Frau, Esther Mark, Lejbs Identität.721 Ein weiterer Kassiber stammte von Marcel Nadjari722, der jedoch erst 1980 gefunden wurde und kaum lesbar war.723 Die insgesamt 13 Seiten wurden von Lesłayw Dyrcz im Zuge von Grabungsarbeiten in der Nähe des zerstörten Krematoriums III in einer Thermosflasche, die sich wiederum in einer Ledertasche befand, ausgegraben. Das auf Neugriechisch geschriebene Manuskript, wovon jedoch nur etwa 10% lesbar waren, wurde ein Jahr später von Theodoros Alexiou übersetzt und 1982 erstmals in der griechischen Zeitung Risopasti veröffentlicht. 1991 erschien das Zeugnis in englischer Sprache, 1996 auf Deutsch sowie auf Italienisch und in den 2010er Jahren auf Russisch.724 Erst 2015 wurde mithilfe des Verfahrens der „Multispektralaufnahme“725 die Lesbarkeit auf 90% gesteigert.726 Nadjaris Aufzeichnungen beinhalten vor allem einen Bericht über das Sonderkommando in Birkenau, aber auch Schilderungen seiner Erlebnisse in Griechenland.727 Chaim Herman Strasfogels728 Aufzeichnungen wurden bereits 1945 in einer Halbliterflasche, die sich auf einem Haufen aus Menschenasche bei dem Bahngleis hinter den Krematorien befand, von Dr. Andrzej Zaorski gefunden.729 Es handelte sich um einen auf Französisch

720 Vgl. Bezwińska / Czech, Vorwort, 63. 721 Vgl. Stone, The Harmony of Barbarism, 24. 722 Nadjari wurde am 1. Jänner 1917 in Thessaloniki geboren. In der griechischen Stadt befand sich mit 60.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde in Griechenland. Im Herbst 1943 schloss sich Nadjari den Truppen der ELAS („Griechische Volksbefreiungsarmee“) an und nahm eine neue Identität unter dem Namen Manolis Lazaridis an. Nachdem er jedoch erkrankte, wurde er nach Athen zur Behandlung geschickt, dort von einer SS- Einheit verhaftet und nach einem zweimonatigen Aufenthalt im Durchgangslager Chaidari am 2. April 1944 nach Auschwitz deportiert (Ankunft 11. April). Nach einer einmonatigen Quarantäne wurde Nadjari dem Sonderkommando im Krematorium III zugeteilt. Nadjari kam nach der Evakuierung des Konzentrationslagers Auschwitz zwischen dem 17. und 21. Jänner 1945 ins KL Mauthausen und von dort als „Elektriker“ ins Außenlager Gusen II. Vgl. Pavel Polian, Das Ungelesene lesen. Die Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, und ihre Erschließung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017) 4, 597–618, 598–600. 723 Vgl. ebd., 597. 724 Vgl. ebd., 601–602. 725 Im Zuge des Multispektralverfahrens werden digitale Bildaufnahmen mit einer Spezialkamera angefertigt, die „Licht unterschiedlicher Wellenlänge aus dem sogenannten ‚optischen Bereich‘ zwischen Ultraviolett- und Infrarotstrahlung“ verwendet. Anschließend werden mithilfe einer Kontrastbearbeitung Konturen einzelner Buchstaben hervorgehoben und dadurch die Rekonstruktion des Textes ermöglicht. Vgl. ebd., 600, 604. 726 Vgl. ebd., 603. 727 Vgl. ebd., 607. 728 Herman wurde am 3. Mai 1901 in Warschau geboren und am 4. März 1943 aus dem Durchgangslager Drancy ins KL Auschwitz deportiert. Dort wurde er sogleich dem Sonderkommando zugeteilt. Vgl. Danuta Czech, Über die Handschrift von Chaim Herman, in: Jadwiga Bezwińska / Danuta Czech (Hg.), Inmitten des grauenvollen Verbrechens, Oświęcim 1996, 255–258, 257. 729 Vgl. ebd., 255–256. 89 geschriebenen Abschiedsbrief an seine Ehefrau und seine Tochter730, in dem er über sein Schicksal als Sonderkommando-Häftling und über seine Gewissheit, dass er und seine Kameraden umkommen würden, berichtete.731 Des Weiteren bat er seine Familie, nicht schlecht von ihm und über das Sonderkommando zu denken, egal was darüber erzählt wird.732 Zaorski übergab dem Brief anschließend der französischen Mission in Warschau. Erst drei Jahr später wurde dem Staatlichen Museum in Oświęcim eine Kopie des Typoskripts des Briefes übermittelt.733

Die Zeitzeugen

Seit Ende der 40er Jahre wurden zunehmend die Erinnerungen von nichtjüdischen als auch jüdischen Auschwitz-Überlebenden in Form von Autobiographien und Zeitzeugenberichten veröffentlicht, die immer mehr an Aufmerksamkeit bekamen.734 Aurélia Kalisky ist der Meinung, dass ein regelrechter „Kanon“ der Überlebenden-Literatur entstand, wobei laufend neue Veröffentlichungen hinzukamen und andere an den Rand gedrängt wurden.735 Laut Raphael Gross und Werner Renz erschienen zwischen 1946 und 1959 um die 15 Zeitzeugenberichte von Auschwitz-Überlebenden.736 Besonders nach dem Eichmann-Prozess sei die „Erinnerungswelle“ – nach Geoffrey Hartman – sowie die Anzahl der Zeitzeugenberichte immer größer geworden.737 Doch diese Zeugnisse wurden von manchen Historikerinnen und Historikern skeptisch betrachtet, da die Zeugen oftmals wichtige Details, die für sie als entwürdigend aufgefasst wurden, verschwiegen. Durch die Subjektivität solcher Zeitzeugenaussagen würden sie nicht zur „historischen Faktenlage“ beitragen.738 Des Weiteren wurde die Meinung vertreten, dass die Geschehnisse in Auschwitz nicht dargestellt werden könnten. Mit dieser aufgefassten „Unsagbarkeit“ oder „Undarstellbarkeit“ von Auschwitz wurde die verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den Zeitzeugenaussagen gerechtfertigt.739 Obwohl immer mehr Zeitzeugenberichte publiziert wurden, hüllten sich die Überlebenden des Sonderkommandos zunächst in Schweigen – oftmals auch gegenüber ihren Familien. Marcel

730 Gradowski, Die Zertrennung, 36. 731 Vgl. Czech, Über die Handschrift von Chaim Herman, 255–256. 732 Vgl. Chare, On the Problem of Empathy, 44. 733 Vgl. Czech, Über die Handschrift von Chaim Herman, 255–256. 734 Vgl. Gross / Renz, Vorwort, 7. 735 Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 269. 736 Vgl. Gross / Renz, Vorwort, 10. 737 Vgl. Geoffrey Hartman, Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah, in: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, 35–52, 38. 738 Vgl. Ulrich Baer, Einleitung, in: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, 7–34, 10. 739 Vgl. ebd., 12. 90

Nadjari, der einzige „Historiker“, der überlebte, schwieg gegenüber seiner Familie, vor allem gegenüber seinen Kindern, obwohl diese bereits von seiner Vergangenheit wussten.740 Ihre Erfahrungen öffentlich mitzuteilen war für diese Zeitzeugen besonders problematisch, da sie immer wieder Kollaborationsvorwürfen und dem Unglauben ihrer Mitmenschen ausgesetzt waren.741 Damit wurde eine Taktik der Nazis bestätigt: Diese haben den Sonderkommandohäftlingen suggeriert, dass ihnen nach dem Krieg niemand glauben würde, da ihre Erzählungen zu grausam wären742 – und genau das ist eingetreten. Hannah Arendt formulierte diesbezüglich eine passende These, obwohl die Philosophin und Historikerin für ihre kritische Haltung gegenüber „jüdischen Kollaborateuren“, zu denen oftmals auch die Sonderkommando-Häftlinge gezählt werden, bekannt ist:

„[…] die Ungeheuerlichkeit der begangenen Untaten schafft automatisch eine Garantie dafür, dass den Mördern, die mit Lügen ihre Unschuld beteuern, eher Glauben geschenkt wird als den Opfern, deren Wahrheit den gesunden Menschenverstand beleidigt.“743 Nach Gideon Greif schuf die nachkriegszeitliche Umgebung mit der öffentlichen Diffamierung kein sicheres Umfeld für die Sonderkommando-Häftlinge, sondern reagierte mit unangemessenen Wertungen, wie z. B. „Er ist durch das Leiden verrückt geworden“ oder „Die Jahre im Lager haben ihm das Gehirn ausgetrocknet“.744 Außenstehende wollten nicht zuhören und vor allem den Schilderungen nicht glauben, doch „ohne eine zuhörende Person kann eine Aussage nicht zum Zeugnis werden“.745 Deshalb wurden die Überlebenden als „kriegsgeschädigte Narren, die Fantasiegeschichten erzählten“746 dargestellt. Dies führte dazu, dass die Zeugen keine Motivation verspürten, sich der Welt mitzuteilen.747 Shaul Chasan berichtete, wie er von seinem Onkel in Jerusalem behandelt wurde:

Als ich in Eretz Israel kam, besuchte ich einen Onkel in Jerusalem, und die gleiche Geschichte wie in Griechenland spielte sich auch hier ab. Ich begann zu erzählen, und er wollte nichts hören: ‚Red nicht solche Sachen! Meinst du, ich glaube dir?!‘ Auch er glaubte mir nicht, und wieder galt ich als unzurechnungsfähig. […] Er wollte überhaupt nicht darüber reden! Weil man das im Kopf nicht begreifen kann, versteht man das nicht. […], seither bin ich vorsichtig.748

740 Vgl. Polian, Das Ungelesene lesen, 601. 741 Vgl. Rieger, „…aber ihr seid nicht besser als wir“, 126–127. 742 Vgl. Lawrence Douglas, Der Film als Zeuge. vor dem Nürnberger Gerichtshof, in: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, 197–218, 199. 743 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 909. 744 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 7. 745 Baer, Einleitung, 16. 746 von Arnim, Am Ort des Grauens. 747 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 8. 748 Ebd., 326. 91

Anzumerken ist, dass einige wenige der überlebenden Sonderkommando-Häftlinge bereits unmittelbar nach Kriegsende eine offizielle Zeugenaussage gemacht hatten, wie z. B. Stanisław Jankowski, der drei Jahre lang im Sonderkommando arbeiten musste und am 16. April 1945 seine Aussage in Kraków tätigte.749 Weitere Zeugenaussagen wurden von Szlama Dragon, am 10. Mai 1945, und von Henryk Tauber, am 24. Mai 1945, aufgenommen.750 Zu diesem Zeitpunkt wurde weder in der Presse von den Gaskammern berichtet noch hatten in irgendeinem Land Prozesse gegen die Verbrecher begonnen.751 Wie bereits erwähnt, spielte der Frankfurter Auschwitz-Prozess eine wichtige Rolle bezüglich des Schweigens der Sonderkommando-Überlebenden. Dieses Verfahren hatte auf Filip Müller einen großen Einfluss, denn im Zuge dieses Verfahrens wurde Müller die „vorwurfsvolle Frage (gestellt), wie er denn nur als ‚Geheimnisträger‘ habe überleben können“.752 Bis dahin war – nach Naumann – nur bekannt, dass die Mitglieder des Sonderkommandos alle drei bis vier Monate ermordet wurden. Deshalb war für Außenstehende ein Überlebender des Sonderkommandos nicht begreifbar. Müller rechtfertigte sich mit der Tatsache, dass er mit 20 Jahren jung war und vor allem leben wollte. Die Vorbereitungen für den Aufstand hätten ihn dabei bestärkt.753 Dieser Zwischenfall vor Gericht veranlasste Müller, seine bisherigen Aufzeichnungen, die er 1963 aufgrund der Gerüchte begonnen hatte, die in der Nachkriegszeit über den Vernichtungsprozess im KL Auschwitz-Birkenau kursierten, bewusst zu einem Erlebnisbericht zusammenzufassen. Der ehemalige Sonderkommando-Häftling wollte damit nicht sein Überleben rechtfertigen, sondern er beabsichtigte, Klarheit über die Vorgänge innerhalb der Krematorien zu schaffen. Der Überlebende erzählte bereits 1946 über seine Erfahrungen, welche im Buch „Todesfabrik“ von Ota Kraus und Erich Kulka auf Tschechisch veröffentlicht wurden.754 Seine Autobiographie „Sonderbehandlung“, die schließlich 1979 erschien, stellte einen wichtigen Meilenstein dar. Müllers Erinnerungsschrift ist aufgrund zweier Aspekte einzigartig: Zum Ersten handelte es sich um den ersten Zeitzeugenbericht eines ehemaligen Sonderkommando-Häftlings, der in Deutschland veröffentlicht wurde. Zum Zweiten konnte Filip Müller aufgrund seiner 32-monatigen Tätigkeit im Sonderkommando ein besonders

749 Vgl. Jankowski, Aussage, 25. 750 Vgl. Wellers, Auschwitz, 203. 751 Vgl. ebd. 752 Andreas Kilian, Erinnerungsbericht: „Sonderbehandlung“. Literaturwissenschaftliche Betrachtung. Sonderkommando-Studien, 9.10.2004, URL: https://sonderkommando- studien.de/publikationen/#literatursonderbehandlung (abgerufen am 31.5.2020). 753 Naumann, Auschwitz, 333. 754 Vgl. Kilian, Erinnerungsbericht: „Sonderbehandlung“. 92 umfassendes Bild der Lebensbedingungen und der Aufgaben des Kommandos schaffen.755 Müllers Erinnerungsschrift sollte für die nächsten 15 Jahre der einzige gedruckte Zeitzeugenbericht bleiben. Trotz dieses umfangreichen Zeugnisses bestanden verschiedene Vorurteile weiter.756 In den 80er und 90er Jahren trat nicht nur wegen dem wachsenden wissenschaftlichen Interesse von Historikerinnen und Historiker, Soziologinnen und Soziologen, etc., sondern auch wegen dem Erstarken der Holocaust-Leugnung in Europa und den USA eine Wende ein. Diese Umstände veranlassten Überlebende, vermehrt über ihre Vergangenheit zu berichten. Die Form der Erinnerung David Oléres757 unterschied sich dabei fundamental von den anderen Sonderkommando-Überlebenden. Als Maler verarbeitete er seine schrecklichen Erfahrungen in über 50 Bildern, die erst 1985 Beachtung fanden und schließlich 1989 unter dem Titel Un génocide en héritage veröffentlicht wurde. Doch laut Serge und Beate Klarsfeld wendeten die Betrachter ihre Blicke vom künstlerischen Werk ab und verweigerten die Auseinandersetzung mit diesem.758 Erich Kulka, der selbst Auschwitz überlebte, war der erste Historiker, der sich Anfang der 80er Jahre auf die Suche nach ehemaligen Angehörigen des Sonderkommandos machte.759 Er reiste dafür nach Israel und in die USA und führte zahlreiche Interviews durch. Gideon Greif führte diese Arbeit 1985/86 in Zusammenarbeit mit Kulka weiter. Greif stieß während der Vorbereitung für eine Radiodokumentation, die am Gedenktag des Holocausts in Israel ausgestrahlt wurde, auf das Sonderkommando. Laut eigener Aussage war ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass einige ehemalige Sonderkommando-Häftlinge überlebt hatten, und er erkannte, dass bisher keine Anstrengungen unternommen worden waren, um diese Aussagen aufzunehmen und zu sichern. Nachdem er kurze Zeit später bereits zwei Überlebende, Mr. Hasan und Mr. Sackan, befragen konnte, wurden Greif immer mehr Namen von Überlebenden zugetragen. Doch die Suche nach den Überlebenden sowie die Zustimmung dieser, interviewt zu werden, gestaltete sich problematisch. Innerhalb von 15 Jahren konnte

755 Vgl. Kilian, Erinnerungsbericht: „Sonderbehandlung“. 756 Vgl. ebd. 757 David Olére wurde am 19. Jänner 1902 in Warschau geboren und war schon sehr früh als Künstler aktiv. Am 20. Februar 1943 wurde er in Frankreich, wo er mit seiner Frau und seinem Sohn lebte, von der französischen Polizei verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Dort war er in erster Linie als Künstler für die SS tätig, wobei er manchmal bei den Krematorien aushelfen musste. Nach dem Todesmarsch wurde er schließlich am 6. Mai 1945 in Ebensee befreit. Vgl. Alexandre Oler / David Olére, Vergessen oder vergeben. Bilder aus der Todeszone, Hannover 2004, 8. 758 Vgl. ebd., 9. 759 Vgl. Andreas Kilian, Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“ von Gideon Greif. Buchbesprechung. Das Schweigen wird gebrochen, Sonderkommando-Studien, 18.7.2004, URL: https://sonderkommando- studien.de/publikationen/#buchbesprechung (abgerufen am 31.5.2020). 93

Greif etwa 24760 Überlebende interviewen. Die Aufnahmen, Ton- und Videokassetten wurden am Ende des Projekts dem Yad Vashem Archiv in Jerusalem zur Verfügung gestellt.761 Gideon Greif erkannte während seiner Forschung die Besonderheiten, aber auch die Schwierigkeiten dieser Interviews762, denn die normalen Methoden des Interviewens reichten bei den Sonderkommando-Überlebenden aufgrund ihrer schmerzvollen Erfahrungen und ihrer Sensibilität diesbezüglich nicht aus.763 Laut Ulrich Baer wirkt die Mitteilung schmerzhafter Erinnerungen nicht immer befreiend, sondern kann auch selbst als traumatisch erlebt werden, da alte Wunden wieder aufgerissen werden.764 Dori Laub wies ebenfalls darauf hin, dass der Erzählvorgang, ohne dass die andere Person wirklich zuhört, als „Wiederkehr des Traumas […] als Wiederholung der Erfahrung des ursprünglichen Ereignisses“ 765 wahrgenommen werden kann. Deshalb ist ein empathischer Zuhörer, zu dem ein Vertrauensverhältnis besteht766 und der den Opfern mit Verständnis und Ernsthaftigkeit begegnet, essenziell: „Mit der Vernichtung der Erzählung, die keinen Zuhörer und keinen Zeugen findet, wiederholt sich die Vernichtung des Überlebenden.“767 Viele der Zeugen hatten bis zu dem Interview mit dem Historiker über ihre Erlebnisse geschwiegen. Aufgrund dessen musste Greif besonders vorsichtig vorgehen:

The questions had to be phrased in the most delicate manner and could only occasionally be direct or to the point. Sometimes, a twisted road led to the accepted answer. The interviewees had to feel the open and undisguised sympathy on behalf of the interviewer, who had to gain not only their trust but also their friendship.768 Als Gideon Greif 1995 sein Werk „Wir weinten tränenlos…“, für das er sieben Zeitzeugeninterviews von Überlebenden des Sonderkommandos auswählte, publizierte, wurde die „Forschungslücke in der Historiographie des größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers“769 etwas kleiner. Aufgrund der verschiedenen sozialen und nationalen Herkunft der Zeitzeugen und ihrer unterschiedlichen Aufgaben im Sonderkommando konnte Greif ein umfassendes Bild des Kommandos, des Vernichtungsprozesses und der -technik darstellen.770

760 Vgl. Kilian, Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“. 761 Vgl. Gideon Greif, Unique Testimonies. The Worldwide Project of “Sonderkommando” testimonies, in: International Journal on the audio-visual Testimony 8 (2002), 31–36, 32. 762 Kilian, Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“. 763 Vgl. Greif, Unique Testimonies, 33. 764 Vgl. Baer, Einleitung, 15, 17. 765 Laub, Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens, 76–77. 766 Vgl. ebd., 79. 767 Ebd., 77. 768 Greif, Unique Testimonies, 33. 769 Kilian, Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“. 770 Vgl. ebd. 94

Erst 13 Jahre später wurde der Zeitzeugenbericht771 von Shlomo Venezia772, ein weiterer Überlebender des Sonderkommandos, publiziert. 60 Jahre lang hatte er über seine Erfahrungen geschwiegen und diese nie vollständig verarbeiten können: „Man kommt nie mehr wirklich aus dem Krematorium heraus.“773 Ein Jahr später kam die Autobiographie774 von Henryk Mandelbaum775 heraus. Aufgrund der zahlreichen Beschuldigungen „Kollaborateure, Verräter, Denunzianten und Diener des Teufels“776 gewesen zu sein, kann immer wieder beobachtet werden, dass Zeitzeugeninterviews und -berichte von Apologetik geprägt sind. Immer wieder wird von Seiten der Zeitzeugen bewusst oder auch unbewusst auf den Zwang und die Gewalt hingewiesen, mit der sie ständig konfrontiert waren, und auf die Unmöglichkeit der Verweigerung und der Flucht.777 Mandelbaum beispielsweise äußerte sich u. a. zu seiner Selbstwahrnehmung hinsichtlich der Anschuldigungen von außen:

Ich bin eine bekannte Person. Ich verstecke mich nicht, ich lebe unter meinem wahren Namen. Jeder kann herausbekommen, wo ich wohne. Ich habe ein reines Gewissen. Wenn jemand irgendwelche Vorbehalte gegen mich hätte, dann könnte er mir das direkt sagen.778 […] Ich konnte entweder zustimmen oder eine Kugel in den Kopf bekommen. Ist das eine Wahl? So ist das Leben. Wenn ich nicht zugestimmt hätte, würde ich heute nicht hier bei euch sitzen und euch das alles erzählen.779 6.2.2. Die Forschung

Mit Gideon Greifs Buch „Wir weinten tränenlos…“ konnte ein wichtiger Meilenstein für die Forschung gesetzt werden. Des Weiteren fand sein Werk – nach Else Rieger – große Beachtung.780 Gideon Greif befasste sich auch noch nach der Veröffentlichung der sieben Zeitzeugeninterviews mit dem Sonderkommando und veröffentlichte laufend Aufsätze und kleinere Beiträge diesbezüglich. Oftmals wurde er von anderen Historikerinnen und Historikern

771 Shlomo Venezia, Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz. Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden, München 2008. 772 Venezia wuchs in Saloniki auf. Nachdem er zusammen mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern nach Auschwitz kam, wurde er mit 21 Jahren dem Sonderkommando zugeteilt. Vgl. von Arnim, Am Ort des Grauens. 773 Zit. n. ebd. 774 Igor Bartosik / Adam Willma, Ja z krematorium Auschwitz. Rozmowa z Henrykiem Mandelbaumem, byłym więźniem, członkiem Sonderkommando w KL Auschwitz, Bydgoszcz 2009 (auf Deutsch: Igor Bartosik / Adam Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz. Gespräch mit Henryk Mandelbaum, ehemaligem Häftling des Sonderkommandos im KL Auschwitz, Oświęcim 2017). 775 Henryk Mandelbaum wurde am 15. Dezember 1922 in Olkusz in Polen geboren und war Fleischhändler. Am 22. April 1944 kam er ins KL Auschwitz, wo er zwei Monate später dem Sonderkommando zugeteilt wurde. Vgl. Klee, Personenlexikon, 268. 776 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 45. 777 Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 45. 778 Vgl. Bartosik / Willma, Ich aus dem Krematorium Auschwitz, 88. 779 Vgl. ebd., 96–97. 780 Vgl. Rieger, „…aber ihr seid nicht besser als wir“, 127–128. 95 kritisiert, wie beispielsweise von Lutz Niethammer, dem zufolge Greif in seinen Beiträgen einen „verzweifelten Versuch einer ‚rettenden Kritik‘ […] des Auschwitzer ‚Sonderkommandos‘“ unternehmen würde.781 Denn in der jüdischen Welt würde das Sonderkommando als Extremform der Kollaboration gelten. Die Häftlinge hätten, um ihr eigenes Leben zu verlängern, den Opfern die Wahrheit verschwiegen und sich danach „in der Abräumung und Ausplünderung der Leichen vollends“782 vertieren lassen. Greif würde zwar nicht wie Claude Lanzmann im Film „Shoah“783 solche Wirklichkeiten ignorieren, aber er verteidige die Angehörigen des Sonderkommandos und würde Argumente für ihre Moralität hervorheben: „[…] wo nichts zu ändern war, hätten sie bei denen, die die Gaskammern betreten mussten, Angst und Krampf vermindert.“784 Seiner Meinung nach entkräften neben der Tatsache, dass sich die Sonderkommando-Häftlinge in der „gray zone“ befanden und mit „choiceless choices“ konfrontiert waren, die Bemühungen einzelner Sonderkommando- Häftlinge, die Aufzeichnungen versteckten und sich in einem Aufstand gegen die SS auflehnten, die Anschuldigungen der Kollaboration.785 Bereits 1957 legten Erich Kulka und Ota Kraus mit ihrem bereits erwähnten Buch „Die Todesfabrik Auschwitz“ ein einschlägiges Werk bezüglich des Sonderkommandos vor. Die Veröffentlichung des Buches erfolgte jedoch in Ost-Berlin, wodurch es im Westen kaum rezipiert wurde.786 Die beiden Historiker und ehemaligen Auschwitz-Häftlinge behandeln in ihrem Buch umfassend Aspekte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, u. a. die Lebensbedingungen der männlichen und weiblichen Inhaftierten sowie den Vernichtungsprozess. Dabei gehen sie in einem Kapitel auf das Sonderkommando ein, wobei sie die Unterbringung, Zusammensetzung und Aufgaben besprechen. Auch der Aufstand wird als wichtige Widerstandsbewegung eingestuft. Obwohl die Historiker die Thematik so objektiv wie möglich darstellen, wird einem Teil des Sonderkommandos vorgeworfen, sich im Zuge eines Zwischenfalls auf die Seite der Täter gestellt zu haben. Es ging dabei um eine Schauspielerin, die mit etwa 2000 weiteren Jüdinnen und Juden amerikanischer Staatsbürgerschaft 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. Die Menschen waren im Glauben, dass sie in die Schweiz fuhren, um dort gegen deutsche Gefangene eingetauscht zu werden.

781 Lutz Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. Kommentierende Bemerkungen, in: Ulrich Herbert / Karin Orth / Christoph Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur 2, Göttingen 1998, 1046–1062, 1057. 782 Ebd. 783 „Shoah“ ist das hebräische Wort für „Holocaust. Vgl. Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 16. 784 Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager, 1057. 785 Vgl. Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager, 1057. 786 Vgl. Stengel, Einleitung zur Neuausgabe, 1. 96

Doch sie fanden sich in Birkenau wieder.787 Die Schauspielerin konnte im Entkleidungsraum eines Krematoriums die Pistole des Rapportführers Schillinger an sich nehmen und diesem in den Bauch schießen. Wie es genau dazu kam, ist nicht ganz geklärt. Gemäß Kraus und Kulka befahl Schillinger ihr, ebenfalls ihren Büstenhalter auszuziehen. Infolgedessen hätte die Schauspielerin ihm diesen ins Gesicht geschleudert.788 Doch laut Filip Müller bemerkte die hübsche Schauspielerin, dass sie von den SS-Oberscharführern Josef Schillinger und Walter Quakernack beobachtet wurde und nutze ihre Chance:

Die Frau entledigte sich nun ihrer Bluse und stand jetzt im Büstenhalter vor ihren geilen Zuschauern. Dann lehnte sie sich mit dem linken Arm gegen einen Betonpfeiler, bückte sich und hob den linken Fuß etwas hoch, um den Schuh auszuziehen. […] Mit einer reflexartigen Bewegung schlug sie Quackernack mit dem Absatz ihres Stöckelschuhes wuchtig gegen die Stirn. […] In diesem Augenblick stürzte sich die junge Frau auf ihn und entriss ihm mit einem raschen Griff die Pistole. Dann fiel ein Schuss. […] Im Auskleideraum brach Panik aus.789 Kraus und Kulka zufolge hätten die SS-Leute darauf ihre Waffen weggeworfen und die Flucht ergriffen. Die Angehörigen des Sonderkommandos wären für zusätzliche Lebensmittel den Befehlen der SS nachgekommen und hätten die Waffen genommen, um die Opfer in die Gaskammer zu treiben.790 Müller berichtete jedoch, dass im Raum, in dem sich die Opfer samt den Sonderkommando-Häftlingen befanden, das Licht abgedreht und die Tür von außen verriegelt wurde:

Auch ich hatte Angst, dass es heute mit uns allen zu Ende gehen könnte. […] Die Dunkelheit wirkte lähmend. Ich tastete mich der Wand entlang zum Ausgang. Dort hatten sich fast alle vom Sonderkommando eingefunden. […] Ein Mann in unserer Nähe, der offenbar bemerkt hatte, dass wir nicht zu ihrem Transport gehörten, sprach uns im Dunklen an. Er wollte wissen, woher wir kämen. „Aus der Todesfabrik“, antwortete ihm einer. […], aber plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Grelles Scheinwerferlicht blendete mich. Dann hörte ich Voß791 rufen: „Sonderkommando rauskommen!“ […] Dann hörte ich die Maschinengewehre rattern und ein schreckliches Blutbad unter den Menschen im Umkleideraum anrichten.792 Rudolf Höß hingegen schrieb in seiner Autobiographie, dass die Häftlinge in eine Ecke des Raumes gedrängt wurden und einzeln in einem Nebenraum erschossen wurden.793 Woher Kraus und Kulka die Informationen über die Mithilfe des Sonderkommandos in dieser Angelegenheit haben, ist nicht ersichtlich. Einige Zeugenaussagen und -berichte weisen dennoch darauf hin, dass die Häftlinge des Sonderkommandos meistens nichts mit der direkten

787 Vgl. Kraus / Kulka, Die Todesfabrik Auschwitz, 203. 788 Vgl. ebd. 789 Müller, Sonderbehandlung, 138. 790 Vgl. Kraus / Kulka, Die Todesfabrik Auschwitz, 204. 791 Müller meinte höchstwahrscheinlich Peter Voss, der vom Frühjahr 1943 bis Mai 1944 Kommandoführer der vier Krematorien in Birkenau war. Vgl. Klee, Personenlexikon, 419. 792 Müller, Sonderbehandlung, 139–140. 793 Vgl. Langbein, Menschen in Auschwitz, 181. 97

Ermordung der Jüdinnen und Juden zu tun hatten. Weitere Historiker, die sich in den 50er Jahren mit dem Sonderkommando beschäftigten, jedoch in Deutschland kaum bzw. gar nicht rezipiert wurden, waren etwa der Franzose Léon Poliakov mit seinem Buch „Harvest of Hate“, das bereits 1951 auf Französisch und 1956 auf Englisch publiziert wurde, und Gerald Reitlinger mit seinem Buch „The “ (1953). Diese Werke behandelten zwar das Sonderkommando mit seinen Aufgaben sowie den Aufstand, ignorierten jedoch die bereits aufgefundenen Manuskripte.794 Wie schon mehrmals erwähnt, wurden die Sonderkommando-Häftlinge oftmals als Mittäter verstanden und dargestellt. Deshalb kann die Forschung über dieses Kommando nicht losgelöst von der Forschung über jüdische Kollaborateure betrachtet werden. Diese Forschung wurde maßgeblich von den sogenannten „jüdischen Ehrengerichten“ beeinflusst, die aus jüdischer Sicht Gerechtigkeit bringen sollten. Es muss jedoch angemerkt werden, dass Sonderkommando-Häftlinge, obwohl sie oftmals als Mittäter und Kollaborateure hingestellt wurden, nie für ihre „Taten“ in einem solchen Gericht angeklagt wurden. Schon während des Zweiten Weltkrieges wurde an jüdischen Kollaborateuren, zu denen ehemalige Mitglieder der Judenräte, die Mitglieder der jüdischen Polizei in den Ghettos sowie Funktionshäftlinge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern zählten, von ihren Glaubensgenossen Rache geübt, weil sie in ihren Augen das jüdische Volk verrieten.795 Dieses Verhalten verursachte tiefe Brüche in den jüdischen Gemeinden und Widerstandsgruppen. Jüdinnen und Juden in ganz Europa fühlten sich nach dem Krieg dazu gezwungen, mit den jüdischen Funktionshäftlingen, denen sie die Schuld am Völkermord zuschrieben, abzurechnen, ungeachtet der Tatsache, dass auch sie Opfer waren.796 Aus diesem Grund wurden jüdische Kollaborateure nicht nur ausgeschlossen und daran gehindert, Führungsrollen in den jüdischen Gemeinden auszuüben797, sondern zeitweise schikaniert, gejagt und sogar getötet.798 Viele Jüdinnen und Juden, unabhängig von ihren Erlebnissen im Holocaust, waren deshalb der Meinung, dass etwas unternommen werden musste, damit die Gewalt innerhalb der Gemeinschaft ein Ende findet.799 Mit der Einrichtung der Ehrengerichte, die sich mit der Frage beschäftigten, ob der Angeklagte das Vertrauen des jüdischen Volkes verraten hatte800, kam die

794 Vgl. Stone, The Harmony of Barbarism, 15. 795 Vgl. Laura Jockusch / Gabriel N. Finder, Introduction. Revenge, Retribution, and Reconciliation in the Postwar Jewish World, in: Laura Jockusch / Gabriel N. Finder (Hg.), Jewish Honor Courts. Revenge, Retribution, and Reconciliation in Europe and Israel after the Holocaust, Detroit 2015, 1–28, 2. 796 Vgl. ebd., 9. 797 Vgl. ebd. 798 Vgl. ebd., 5. 799 Vgl. ebd. 800 Vgl. ebd. 98

Selbstjustiz in jüdischen Gemeinden praktisch zum Erliegen.801 Dennoch wurde den jüdischen Kollaborateuren die Mitschuld an der Ermordung des jüdischen Volkes gegeben. Vor allem die Mitglieder der Judenräte standen dabei oftmals im Fokus.802 Diese mussten während der Konzentrationsphase die deutschen Forderungen an die jüdische Bevölkerung weitergeben, den Deutschen die jüdischen Vermögenswerte aushändigen.803 Des Weiteren lag es in ihrer Verantwortung, die Ghettomauern zu finanzieren, für Ordnung im Ghetto zu sorgen804 und die Deportationslisten zu erstellen. 805 In einem Prozess habe eine Zeugin in Bezug auf die Ghetto-Polizei in Warschau behauptet, dass sie schlimmer als die Deutschen seien. Für viele Überlebende waren die Mitglieder der Judenräte als auch die jüdische Ghettopolizei das Symbol der jüdischen Kollaboration und des Verrats.806 Obwohl zunächst auch im Rahmen der Ehrengerichte Vergeltung gefordert wurde, wenn die Fakten dies rechtfertigten, wurde nach einiger Zeit die Versöhnung mit verdächtigen Kollaborateuren gesucht, da nach und nach die Umstände, in denen die Angeklagten gezwungen waren, mit den Nazis zu kooperieren, und selbst keine Kontrolle über die Situation hatten, verstanden wurden.807 Die Gründung der jüdischen Ehrengerichte geht darauf zurück, dass jüdische Kollaborateure in den verschiedenen Ländern, wie z. B. in Griechenland, den Niederlanden, in Österreich oder Polen, angeklagt und verurteilt wurden. Doch die jüdischen Gemeindevorsteher waren der Meinung, dass es die Sache der Jüdinnen und Juden sei, über ihresgleichen zu urteilen. In Polen beispielsweise wurde ein Ehrengericht eingerichtet, weil die jüdische Führung ahnte, dass die staatlichen Gerichte die jüdischen Angeklagten, die im öffentlichen Leben standen, nicht schuldig sprechen würden. Im Gegensatz dazu wurde in Israel im Jahr 1950 ein Gesetz über Nazis und Nazi-Kollaborateure verabschiedet, das darauf abzielte, jüdische Kollaborateure unter den Einwanderern zu identifizieren und zu bestrafen.808 Worin sich das jüdische Ehrengericht in Israel am meisten von denjenigen in Europa unterschied, war die Tatsache, dass eine staatlich sanktionierte Befugnis vorherrschte, d. h. verdächtige Kollaborateure waren in

801 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 5. 802 Vgl. Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich?, 34. 803 Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, 704. 804 Vgl. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 704. 805 Vgl. Revital Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich?, 9. 806 Martin Dean, Life and Death in the “Gray Zone” of Jewish Ghettos in Nazi-Occupied Europe. The Unknown, the Ambiguous, and the Disappeared, in: Jonathan Petropoulos / John K. Roth (Hg.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath (Studies on War and Genocide 8), New York–Oxford 2012, 205– 221, 214. 807 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 5. 808 Ebd., 4. 99

Israel dazu gezwungen, vor dem Gericht zu erscheinen.809 Direkt nach dem Krieg fand das Thema der jüdischen Kollaboration und der Auseinandersetzung mit diesem in der jüdischen Welt großes Interesse810, obwohl man laut Greif die Prozesse in Israel gegen ehemalige jüdische Funktionäre besonders schnell zu beenden versuchte.811 Erst in den 1960er und 1970er Jahren wurde es infolge des Eichmann- Prozesses tabuisiert.812 Der Eichmann-Prozess war das erste Holocaust-Verfahren, das sich mit der jüdischen Opferschaft und dem Verbrechen gegen das jüdische Volk beschäftigte813, weshalb er von Gideon Greif als Endpunkt der Zeit der Verdrängung aufgefasst wird.814 Doch während des Prozesses wurden – nach Jockusch und Finder – die Opfer- und Täterrollen statisch festgelegt: jüdische Opfer und Nazitäter. Dadurch wurden Diskussionen um jüdische Kollaboration oder Kooperation von der jüdischen Gesellschaft als inakzeptabel bewertet.815 Auch die heftigen Angriffe auf Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“, das kurz nach dem Prozess erschien, deuten darauf hin, dass das Thema der jüdischen Kollaboration von der jüdischen Gesellschaft als sehr unangenehm aufgenommen wurde816: Wenn die Funktionshäftlinge „mitschuldig waren, implizierte dies, dass die Deutschen weniger schuldig wären.“817 Mit der Zeit wurden ebenfalls immer mehr jüdische Ehrengerichte aufgelöst. In Deutschland ging die jüdische Gemeinde sogar so weit, dass sie Akten der Gerichtsverfahren vernichteten, um laut Jockusch und Finder die unbequeme und schmerzliche Auseinandersetzung mit der jüdischen Kollaboration zu beenden.818 Das Thema der Vergeltung in der jüdischen Nachkriegswelt ist laut Jockusch und Finder ein wenig erforschtes Thema und wurde kaum historisch bearbeitet, obwohl es für den Wiederaufbau des jüdischen Lebens in der Nachkriegszeit eine wesentliche Rolle spielte.819 Laut Ludewig-Kedmi sei das Thema der jüdischen Kollaboration in den Büchern von Yad Vashem, „der nationalen Gedenkstätte in Israel“, bis 1998 nicht zu finden. In seinem Buch „Opfer und Täter zugleich?“ aus dem Jahr 2000 schreibt der Historiker, dass Funktionshäftlinge in den jüdischen Gemeinden in Israel immer noch tabuisiert werden, weil diese „zu einem Teil

809 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 5. 810 Vgl. ebd., 12. 811 Vgl. Greif, Stufen der Auseinandersetzung, 96–97. 812 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 12. 813 Vgl. ebd. 814 Vgl. Greif, Stufen der Auseinandersetzung, 100. 815 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 12. 816 Vgl. ebd. 817 Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich?, 36. 818 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 12. 819 Vgl. ebd., 6–7. 100 des Vernichtungssystems (wurden) und eine Thematisierung ihres Tuns […] die Thematisierung einer Schattenseite der Opfer (ist) – die Frage der Mitschuld“.820 Die ersten Historiker, die sich mit jüdischer Kollaboration und Kooperation beschäftigten, waren selbst Überlebende und setzten sich in den jüdischen Geschichtskommissionen und Dokumentationszentren, die in den 1940ern entstanden, für die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während der „Shoah“ ein. Raul Hilberg wurde zum Pionier der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocausts. Schon in seiner Studienzeit auf der Columbia University821, in der Franz Neumann sein akademischer Betreuer war, beschäftigte er sich vorwiegend mit der Massenvernichtung des Judentums.822 Als er Neumann seine Arbeit zu dieser Thematik, welche damals tabu war823, vorlegte „verweigerte (Neumann) Hilberg die Annahme des Kapitels über das Verhalten der Jüdinnen und Juden angesichts der Ausrottungspolitik der Nazis mit den Worten: ‚Das kann man nicht ertragen, das müssen Sie herausnehmen‘“.824 Hilberg behauptete darin, dass „der signifikanteste Aspekt des Vernichtungsprozesses“ jener wäre, dass „er die Opfer zu Agenten ihrer eigenen Vernichtung machte“.825 Das Kapitel fand später wieder einen Platz in Hilbergs Doktorarbeit. Neumann warnte Hilberg jedoch, dass seine Karrierechancen mit dieser Art von Dissertation „gleich Null sein würden. Also, er warnte mich, und er hatte recht damit“.826 Die Publikation seines späteren Buches „Die Vernichtung der europäischen Juden“827, das schließlich zu den umfassendsten und einschlägigsten Werken bezüglich des Holocausts wurde, verzögerte sich immer wieder, weil sich in den 50er Jahren weder der Universitätsverlag noch eine wissenschaftliche Zeitschrift mit diesem Thema beschäftigen wollte.828 Gemäß Hilberg verfolgte Deutschland bei der Aufarbeitung der Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges nur einen Kurs: Distanzierung. Es wurden sogar die Untaten „in der einen oder anderen Form“ bestritten oder „sogar gerechtfertigt, doch in der Hauptsache wollte man mit ihnen nichts zu tun haben.“829 Schließlich erschien sein Werk im Jahr 1961 auf Englisch und lieferte einen wesentlichen Beitrag zur Debatte über die jüdische Kollaboration. Detailliert schildert er darin den Vernichtungsprozess

820 Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich?, 9. 821 Hilberg / Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, 176. 822 Vgl. Dan Diner, Vorwort des Herausgebers, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, 7–14, 8. 823 Vgl. Raul Hilberg / Alfons Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, 176. 824 Dan Diner, Vorwort des Herausgebers, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, 7–14, 8. 825 Zit. n. Hilberg / Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, 178. 826 Ebd., 179. 827 Vgl. ebd., 178. 828 Vgl. Christopher R. Browning, Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt am Main 2001, 8. 829 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 714–715. 101 angefangen von den Ghetto-Bedingungen bis hin zu den Transporten und zur Verwertung und Verbrennung der Leichen. Im Gegensatz zu den Judenräten wird das jüdische Sonderkommando nur am Rande erwähnt.830 Hilberg ist der Meinung, dass das Ausmaß der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden durch ihr politisches Verhalten, das geprägt war durch Nachgiebigkeit, Duldung und Verhandlungen mit ihren Unterdrückern, beschleunigt wurde. Er verweist dabei auf die Geschichte der jüdischen Bevölkerung, die seit jeher mit Verfolgungen und Diskriminierungen zu kämpfen hatte und der Gefahr durch „Beschwichtigung und Besänftigung ihrer Feinde“ entkommen war. Sie hätte über die Jahrhunderte gelernt, dass Unterwerfung das Überleben sicherte und Widerstand ins Verderben führe. Doch der „moderne“ Vernichtungsprozess des Zweiten Weltkrieges war anders und schrecklicher, als es das Judentum jemals erlebt hatte.831 Der Umstand, dass Hilbergs Werk lange Zeit nicht ins Deutsche übersetzt wurde, schrieb Söllner dem „auffälligen Desinteresse des deutschen Publikums“832 zu. Der Verlag Droemer- Knaur gab die enthaltene „Kollaborations-Theorie“ Hilbergs als Grund für die zunächst ausbleibende Übersetzung an: „Die Tatsache, dass, und die Art und Weise, wie ich über das Verhalten der Juden spreche, seien geeignet, die antisemitischen Ressentiments etwa der ‚Deutschen Nationalzeitung‘ zu wecken“.833 Laut Hilberg seien jedoch die Kontroversen rund um Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ und die zu dieser Zeit aktuelle Frage nach der Verjährung oder der Fortsetzung der Prozesse gegen Naziverbrecher die eigentlichen Gründe dafür gewesen.834 Laut Saul Friedländer behandle Hilbergs Werk vor allem die deutsche Maschinerie der Vernichtung und weniger die Opfer.835 Hannah Arendt vertrat in ihrem umstrittenen836 Buch „Eichmann in Jerusalem“ eine ähnliche Meinung wie Hilberg: „To a Jew this role of the Jewish leaders in the destruction of their own people is undoubtedly the darkest chapter of the whole dark story”.837 Laut Arendt hatten die Deutschen mit der Illoyalität einiger Juden, die sich gegen ihre Mithäftlinge wendeten, einen großen Erfolg erzielt.838 Des Weiteren wies sie der jüdischen Führung, den Judenräten, eine besondere Schuld zu:

830 Vgl. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 660. 831 Vgl. ebd., 705. 832 Hilberg / Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, 184. 833 Ebd., 186. 834 Vgl. ebd. 835 Vgl. Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte (Vorträge und Kolloquien 2), Göttingen 2007, 102. 836 Vgl. ebd., 13. 837 Zit. n. Jockusch / Finder, Introduction, 8. 838 Vgl. ebd., 9. 102

Wäre das jüdische Volk wirklich unorganisiert und führerlos gewesen, so hätte die „Endlösung“ ein furchtbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet, aber […] die Gesamtzahl der Opfer hätte schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht.839 Auch in Bezug auf das Sonderkommando hätte – laut Andreas Kilian – Arendts Buch die schlechten Meinungen von vielen Außenstehenden gegenüber dem Sonderkommando bestätigt840:

Die Artikel 10 und 11 des Gesetzes zur Bestrafung von Nazis und ihrer Helfershelfer von 1950 sind offenbar im Hinblick auf jüdische „Kollaborateure“ entworfen worden. Überall waren beim eigentlichen Vernichtungsprozess jüdische Sonderkommandos beschäftigt gewesen, sie hatten strafbare Handlungen begangen, um sich vor einer unmittelbaren Lebensgefahr zu retten, […].841 […] Das alles war zwar grauenhaft, aber ein moralisches Problem war es nicht. Die Selektion und Klassifikation der Arbeiter in den Lagern wurde von der SS getroffen, die eine ausgeprägte Vorliebe für kriminelle Elemente hatte; es konnte sich da in jedem Fall nur um die Auswahl der Schlechtesten handeln.842 Hannah Arendt, die sich als eine der ersten mit der Frage der jüdischen Kollaboration auseinandersetzte, polarisierte auch in Bezug auf den jüdischen Widerstand, den sie als „unsagbar klein […] unglaublich schwach und im Grund harmlos“843 einstufte, vor allem in der jüdischen Gesellschaft. Der österreichische Schriftsteller Jean Améry beispielsweise bezeichnete das Werk Arendts als „bemerkenswert verständnislose(s) und nicht einmal relevante Sachkenntnis enthaltende(s)“844 Buch. Auch Hilberg kritisiert Arendts Werk: „Ich habe dieses Buch weggeworfen. […] für mich war es nutzlos. […] Das Buch ist eigentlich gar keines über den Totalitarismus, es gibt wohl einiges Material darüber, es spricht darüber, aber es kennt keine Struktur…“845 Laut Friedländer sei Arendts These unbegründet, weil der Einfluss der Judenräte sowie anderer „Kollaborateure“ auf die Viktimisierung und schließlich auf die Vernichtung des Volkes nur gering war.846 Aber auch Hans E. Holthusen, ein deutscher Kritiker, äußerte sich überaus empört über Arendts Werk. Laut ihm ist es voller „Irrtümer, Ungenauigkeiten und fragwürdiger Deutungen“.847 Die Auffassung von Hilberg und Arendt, dass die jüdischen Funktionäre „Instrumente des Mordes“ waren, blieb in den gesamten 1960er

839 Arendt, Eichmann in Jerusalem, 162. 840 Vgl. Kilian, Interview-Sammlung: „Wir weinten tränenlos…“. 841 Arendt, Eichmann in Jerusalem, 125–126. 842 Ebd., 159. 843 Vgl. ebd., 158. 844 Jean Améry, Im Warteraum des Todes (1969), in: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.), Jean Améry. Werke (Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte 7), Stuttgart 2005, 140–474, 455. 845 Hilberg / Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, 183–184. 846 Vgl. Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006, 22. 847 Holthusen, Hanna Arendt, 180. 103

Jahren bestehen.848 Erst Isaiah Trunks Studie „Judenrat: The Jewish Councils in Eastern Europe Under Nazi Occupation” aus dem Jahr 1972 brachte einen Wendepunkt. Anders als Hilberg und Arendt zog er für seine Studie interne jüdische Quellen heran und differenzierte zwischen historischen Formen korporativer jüdischer Führung und den Judenräten. Er kam zum Entschluss, dass ein jüdisches Organ zum ersten Mal in der jüdischen Geschichte gezwungen wurde, bei der Vernichtung des eigenen Volkes zu helfen. Trunk erkannte den enormen Druck, unter dem die Mitglieder der Judenräte standen, und betonte diesen.849 Auch andere Historikerinnen und Historiker begannen diese Sichtweise zu unterstützen und sogar Hilberg – obwohl er Friedländer zufolge durch die Jahrzehnte eine abwertende Meinung gegenüber den Judenräten beibehielt850 – nahm in der zweiten Ausgabe seines Buches 1985 einige stilistische Änderungen vor. Primo Levis Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“, das erstmals 1986 erschien, brachte schließlich ein völliges Umdenken – auch in der jüdischen Gesellschaft. Levi spielte eine ungemein wichtige Rolle nicht nur in Bezug auf die Holocaust-Forschung, sondern auch hinsichtlich der Erforschung jüdischer Kollaboration, v. a. auch des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. In „Die Untergegangenen und die Geretteten“, woraus mehrfach in den zuvor bearbeiteten Kapitel zitiert wurde, charakterisierte er die Situation, in der Funktionshäftlinge Entscheidungen treffen und handeln mussten, als „Grauzone“. Dieser Bereich liegt zwischen dem Gutem und dem Bösen und ist nicht klar entzifferbar.851 Deshalb wird dieser Terminus – nach Sonja Knopp – in der Erforschung des Holocausts für Fälle verwendet, die nicht eindeutig der Täter- oder Opferrolle zugeordnet werden können. Funktionshäftlinge waren auf einer Seite Häftlinge, d. h. Opfer, aber auf der anderen Seite mussten sie die Befehle durchführen. Primo Levi war der Meinung, dass das Verhalten in der „Grauzone“ in Bezug auf richtig oder falsch nicht vollständig analysiert werden kann, weil die Funktionäre zu diesen schrecklichen Taten gezwungen wurden.852 Dennoch war er – nach Petropoulos und Roth – besonders beeindruckt von der Art und Weise, wie die deutsche Organisation der Konzentrationslager Juden – unfreiwillig – zu Komplizen in der Vernichtung ihrer eigenen Leute machte.853 Vor allem die Lage der Sonderkommando-Häftlinge war besonders schwierig, weil die Organisation und Zusammenstellung dieser Einheiten – laut Levi – das größte Verbrechen des

848 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 9. 849 Vgl. ebd. 850 Vgl. Friedländer, Den Holocaust beschreiben, 111. 851 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 40. 852 Vgl. Roth, Gray-Zoned Ethics, 373–374. 853 Petropolous / Roth, Prologue, XVII. 104

Nationalsozialismus war und nichts die „Grauzone“ mehr aufzeigt als die Misere des Sonderkommandos.854 Diesbezüglich spricht er vom „wirklichen Befehlsnotstand“855 und sieht das Kommando als „Grenzfall der Kollaboration“856, über das niemand ein Urteil fällen kann:

„Ich glaube, niemand ist dazu berechtigt, über sie zu Gericht zu sitzen, weder jemand, der die Erfahrung des Lagers durchgemacht hat, geschweige denn jemand, der eine solche Erfahrung nicht durchgemacht hat […]857 Jedes Individuum ist ein so komplexes Wesen, dass es sinnlos ist, sich einzubilden, man können sein Verhalten voraussagen, besonders in extremen Situationen. Deshalb bitte ich, dass die Geschichte der »Raben des Krematoriums« sowohl mitfühlend als auch streng überdacht werde, dass jedoch das Urteil über sie in der Schwebe bleibe“.858 Bereits in Levis Autobiographie „Ist das ein Mensch?“859 von 1961 bezieht er sich kurz auf den Aufstand des Sonderkommandos und begegnet den Häftlingen diesbezüglich mit Respekt:

Im vergangenen Monat ist in Birkenau eines der Krematorien in die Luft gesprengt worden. Keiner von uns weiß (und vielleicht wird es auch keiner jemals wissen), wie das Unternehmen im Einzelnen durchgeführt wurde: es ist die Rede vom Sonderkommando, das den Gaskammern und den Öfen zugeteilt ist, das in periodischen Zeitabständen selbst vernichtet wird, und das man in strengster Absonderung vom übrigen Lager hält. Tatsache ist, dass in Birkenau einige hundert Menschen, wehrlose, schwache Sklaven wie wir, in sich selbst noch die Kraft gefunden haben zu handeln, die Frucht ihres Hasses zur Reife zu bringen.860 Claude Lanzmanns Film „Shoah“ von 1985, der wie bereits erwähnt von Lutz Niethammer scharf kritisiert wurde, bildet dennoch einen weiteren Meilenstein nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust – der „Shoah“ – sondern auch mit jüdischer Kollaboration und den Sonderkommandos in den verschiedenen Vernichtungslagern.861 Lanzmann versuchte diesbezüglich vor allem Zeugen zu finden, die sich „an den zentralen Stellen der Massenvernichtung befunden hatten“862, und dazu zählten die Mitglieder der verschiedenen Sonderkommandos, wie z. B. Filip Müller, ein ehemaliges Mitglied des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau.863 Sie waren als unmittelbare Zeugen der Vernichtung die „Sprecher der Toten“.864 Der Film verzichtet auf jegliches Archivmaterial und

854 Vgl. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 52. 855 Primo Levi meint damit die Tatsache, dass sich die Nazis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dadurch rechtfertigten, dass sie nur auf Befehl gehandelt hätten. Vgl. ebd., 59. 856 Ebd., 48. 857 Ebd., 58–59. 858 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 60. 859 Primo Levi, Ist das ein Mensch?, Frankfurt am Main–Hamburg 1961 (Original: Se questo é un uomo, Torino 1947). 860 Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 1992, 177–178. 861 Vgl. Lanzmann, Shoah, 172. 862 Vgl. Claude Lanzmann, Der Ort und das Wort, in: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, 101–118, 104. 863 Vgl. Lanzmann, Shoah, 172. 864 Ebd., 284. 105 setzt sich ausschließlich aus Zeugenaussagen und Landschaftsaufnahmen zusammen.865 Bezüglich der Zeitzeugen äußerte sich Lanzmann in einem Interview wie folgt:

Zunächst stand ich vor der Schwierigkeit, sie zum Reden zu bringen. Nicht, dass sie sich weigerten zu reden. Manche sind verrückt geworden und kommunikationsunfähig. Aber sie hatten solche Grunderfahrungen erlebt, dass es ihnen unmöglich war, sie mitzuteilen.866 Laut Lanzmann wurde der Film Shoah nicht von allen Jüdinnen und Juden gut aufgenommen. Viele hätten sich – mit der Begründung „Wir wissen das doch alles“ – geweigert, den Film anzuschauen. Laut Lanzmann „wissen (sie) gar nichts, sondern kennen lediglich ein Resultat: Sie wissen, dass sechs Millionen Juden umgebracht worden sind, das ist alles“.867 Auch Else Rieger zufolge wurde der Film nur wenig beachtet.868 Ein weiterer Auschwitz-Überlebender und Historiker, der die Holocaust-Forschung mit seiner Autobiographie und mit seinen Werken prägt, ist der bereits genannte Hermann Langbein. Ein besonders umfassendes und einschlägiges Werk hinsichtlich der Geschehnisse und vor allem der Häftlingsgesellschaft ist sein Buch „Menschen in Auschwitz“ aus dem Jahr 1995, das neben den „Bewachern“ auch die „Gefangenen“ einschließlich „jüdischer Prominenz“ und „Sonderkommando“ behandelt. Im Buch enthalten ist ein detailliertes und durchaus kritisches Kapitel über das Sonderkommando, in dem Langbein auf den Alltag der Sonderkommando- Häftlinge sowie auf die Wahrnehmung derer durch andere Häftlinge eingeht und diesbezüglich verschiedene Perspektiven anhand von Zeitzeugenaussagen sowie -berichten berücksichtigt. Im Kapitel „Häftlinge nach der Befreiung“, in dem er verschiedene Häftlingserfahrungen hinsichtlich ihres Lebens nach dem Krieg darstellt und erörtert, wie „normale“ Häftlinge als auch Funktionshäftlinge unmittelbar nach dem Krieg wahrgenommen wurden, wird die Gruppe der überlebenden Sonderkommando-Häftlinge nicht erwähnt. Erst als Langbein den ersten Auschwitz-Prozess behandelt, wird Filip Müllers Aussage kurz angeführt.869

Obwohl sich das Thema der jüdischen Kollaboration in der jüdischen Gesellschaft immer weiter enttabuisierte, blieb es dennoch ein sensibler Aspekt in der jüdischen Geschichte. Erst die zeitliche und damit verbundene emotionale Distanz ermöglicht es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, dieses Thema angemessen zu untersuchen. Jedoch sei – nach Jockusch und Finder – ein anderer Zugang gewählt worden: der wissenschaftliche Diskurs verlagerte sich von

865 Vgl. Shoshana Felman, Im Zeitalter der Zeugenschaft. Claude Lanzmanns Shoah, in: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für die Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, 173–196, 174. 866 Lanzmann, Der Ort und das Wort, 104. 867 Claude Lanzmann, Der Ort und das Wort, 103. 868 Vgl. Rieger, „…aber ihr seid nicht besser als wir“, 127–128. 869 Vgl. Langbein, Menschen in Auschwitz, 728–729. 106 einer moralischen Ebene, welche u. a. die Frage der Schuldzuweisung beinhaltete, auf eine historische.870 Auch Else Rieger, die sich in ihrem Beitrag „‚…aber ihr seid nicht besser als wir“871 mit der Stellung des Sonderkommandos in Auschwitz beschäftigt, ist der Meinung, dass in Bezug auf das Sonderkommando nicht die Frage der Schuld gestellt werden sollte, „sondern jene, wie es überhaupt dazu kommt, dass die Frage nach Schuld gestellt werden kann“.872 Rieger behandelt des Weiteren den Aspekt der Zuteilung zu diesem Kommando als auch die Aufgaben, wobei verschiedene Unregelmäßigkeiten vorkommen. Die Historikerin behauptet, dass die Häftlinge nach den Kriterien der physischen Stärke und der Glaubenszugehörigkeit zum Judentum ausgewählt wurden.873 Doch sie missachtet dabei die Tatsache, dass es vereinzelt auch nichtjüdische Sonderkommando-Häftlinge gegeben hat. Des Weiteren schreibt sie den Angehörigen des Sonderkommandos zu, dass sie unentwegt mit wertvollen Gegenständen, wie z. B. Papier und Schreibutensilien, versorgt wurden, wobei auch hier wieder außer Acht gelassen wurde, dass auch diesen – nach Rieger „außerordentlich privilegierten“874 – Häftlingen persönliche Besitztümer verboten waren und Schreibmaterialien nur durch das sogenannte „Organisieren“ erstanden werden konnten. Aufzeichnungen zu tätigen, egal auf welche Art und Weise, war strikt verboten, weil die SS jegliche Spur der Vernichtung tilgen wollte. Die Historikerin spricht ebenfalls von „Wohnungen“, welche die Häftlinge im Dachgeschoss der Krematorien beziehen durften bzw. mussten. Die Bezeichnung dieser Unterkünfte als „Wohnungen“875, welche normalerweise über eine Küche, ein Badezimmer, etc. verfügten, ist wahrlich überzogen, da es sich in Wirklichkeit um Dachböden handelte. Natürlich waren diese Unterkünfte bei Weitem besser als jene im übrigen Lager, doch von Wohnungen kann auch an dieser Stelle nicht die Rede sein. Die ständige Betonung der „zahlreichen Vergünstigungen“876 von Seiten der Historikerin lässt vergessen, dass diese „Privilegien“, wie bereits erwähnt, nicht wirklich „Privilegien“ waren, sondern nur dazu dienten, den physischen Zustand der Häftlinge sowie ihre Motivation aufrecht zu erhalten. Die Vorteile, welche die Sonderkommando-Häftlinge erfuhren, dienten in Anbetracht ihrer schrecklichen Arbeit nur der Bestechung.

870 Vgl. Jockusch / Finder, Introduction, 15. 871 Rieger, „…aber ihr seid nicht besser als wir“, 118–133. 872 Ebd., 120. 873 Vgl. Rieger, „…aber ihr seid nicht besser als wir“, 122. 874 Ebd., 125. 875 Vgl. ebd. 876 Ebd., 121. 107

7. Conclusio

Primo Levi formulierte einen allzu passenden Satz bezüglich der Existenz des Sonderkommandos: „Die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen.877 Die Angehörigen des Sonderkommandos mussten bis zu ihrem Tod oder bis zu ihrer Befreiung schreckliche Aufgaben verrichten: Sie mussten die Opfer in die Entkleidungsräume begleiten, sie beruhigen und wenig später ihre Leichen aus den Gaskammern schaffen, in den Öfen oder Gruben verbrennen und ihre Asche verschwinden lassen. Diese Erfahrungen gingen nicht spurlos an ihnen vorüber. Das Trauma, das sie dadurch erlitten, beschäftigte die Überlebenden bis zu ihrem Tod:

[…] wir hörten laute Schreie. Alle schrien in der Gaskammer, denn sie waren völlig verzweifelt und riefen um Hilfe. Sie verstanden nun, dass der Tod nahe war. Ich kann diese Schreie noch heute hören. Mein ganzes Leben lang werden sie mich verfolgen und nicht verlassen.878 Nicht nur die schrecklichen Aufgaben, welche die Sonderkommando-Häftlinge erledigen mussten, waren für sie zermürbend, sondern auch das Wissen, dass sie (praktisch) keine Überlebenschancen hatten und jederzeit getötet werden konnten.879 Für die Sonderkommando-Überlebenden war es besonders schrecklich nach der Befreiung zu erkennen, dass der Kampf noch nicht vorbei war, denn sie mussten sich mit ihren eigenen Erinnerungen, mit dem Unglauben ihrer Mitmenschen und darüber hinaus mit zahlreichen Anschuldigungen auseinandersetzen. Der Vorwurf, dass die Häftlinge des Sonderkommandos zu wenig bzw. keinen Widerstand geleistet hätten, war ungerechtfertigt, da zahlreiche kleinere Aktionen im Geheimen durchgeführt wurden, wie z. B. die Sabotagen. Des Weiteren pflegten die Widerstandskämpfer des Sonderkommandos konspirative Kontakte zur Widerstandgruppe in Auschwitz und trugen zur Finanzierung von Fluchten sowie zu Fluchtvorbereitungen bei, unterstützten die Häftlinge des restlichen Lagers mit Kleidung und Lebensmitteln und besorgten Medikamente für den Krankenbau.880 Darüber hinaus vergruben sie verschiedene Beweise, wie Zähne oder Knochen, sowie die Handschriften der sechs „Chronisten“. Zu guter Letzt beteiligten sie sich an der Planung für einen allgemeinen Häftlingsaufstand und führten schließlich allein den einzigen bewaffneten Aufstand im KL Auschwitz durch. Jeder noch so kleine Widerstand von einzelnen Sonderkommando-Häftlingen war eine Meisterleistung, wenn

877 Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 52. 878 Greif, „Wir weinten tränenlos…“, 346. 879 Vgl. Greif, Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge, 1028. 880 Vgl. Kilian, „…so dass mein Gewissen rein ist“, 128. 108 die Situation bedacht wird, in der sie sich befanden. Diese unglaublichen seelischen Qualen, die die Häftlinge ausstehen mussten, können von niemandem jemals nachvollzogen werden. Salmen Gradowski versuchte in seiner Handschrift „Komm hierher, Du Mensch“881, der Welt diese psychischen Schmerzen begreiflich zu machen:

„Du lieber Freund, Du bist schon bereit zu der Reise; nur noch eine Bedingung will ich machen. Verabschiede dich von deiner Frau und Deinem Kind, [vier Wörter fehlen] denn Du wirst nach diesen grausamen Bildern nicht mehr leben wollen auf der Welt [vier Wörter fehlen] wo solche teuflischen Taten getan werden können. [drei Wörter fehlen] Verabschiede Dich von Deinen Freunden und Bekannten, denn Du wirst sicherlich, wenn Du die schauerlichen, sadistischen Taten des angeblich kultivierten Teufelsvolks gesehen hast, Deinen Namen aus der Menschenfamilie auslöschen wollen, Du wirst den Tag Deiner Geburt bedauern. Sag ihnen und Deiner Frau und Deinem Kind, dass, falls Du von dem Spaziergang nicht zurückkommst, das deshalb sein werde, weil Dein Menschenherz zu schwach gewesen ist, den Druck der grausamen, viehischen Taten auszuhalten, die Dein Auge gesehen hat. Sag ihnen, Deinen Freunden und Bekannten, falls Du von dem Spaziergang nicht zurückkommst, so wird das deshalb sein, weil Dein Blut erstarrt sei und aufgehört habe zu funktionieren, als Du die schauerlichen, barbarischen Bilder sahst, wie die unschuldigen, schutzlosen Kinder meines elenden Volkes umgekommen sind.“882 Dieser ergreifende Ausschnitt aus seinem Manuskript veranschaulicht, in welcher außerordentlichen Situation diese Menschen agieren mussten. Vielfach wurde den Sonderkommando-Häftlingen während als auch nach dem Krieg mit Misstrauen und Abneigung begegnet. Sie wurden als Kollaborateure, Mittäter, Mithelfer etc. beschimpft und in der Forschung zunächst kaum bis gar nicht beachtet. Doch die Außenstehenden hatten nicht das Recht, über ihre Entscheidungen zu urteilen und sie wegen dieser anzuprangern, denn die Mitglieder des Sonderkommandos hatten schlicht und einfach keine Wahl. Dennoch taten einige Häftlinge das Unmögliche und leisteten Widerstand – auch wenn es im Geheimen geschah. Nur langsam hat sich die europäische als auch israelische Öffentlichkeit mit den Erinnerungen der Sonderkommando-Überlebenden auseinandergesetzt und diese auch angenommen. Die ehemaligen Auschwitz-Häftlinge, wie z. B. Filip Müller, die Brüder Dragon, León Cohen und Henryk Mandelbaum, haben mit ihrer Bereitschaft, sich zu öffnen, sobald ihr Umfeld dies erlaubte, unglaublichen Mut bewiesen und einen wesentlichen Teil zur Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus beigetragen. Obwohl der Weg zu einer umfassenden und angemessenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Sonderkommando lange auf sich warten ließ, ist der heutige Forschungsstand durch einige einschlägige und umfassende Werke geprägt. Dennoch ist dieses Kapitel nicht abgeschlossen. Obwohl es immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt,

881 Der Titel der Handschrift stammte nicht von Gradowski selbst. Vgl. Gradowski, Die Zertrennung, 55. 882 Gradowski, Die Zertrennung, 79. 109 bleibt für jüdische Familien der Holocaust immer präsent, da dieser eine schreckliche Zäsur in der jüdischen Geschichte bildet. Des Weiteren gehört Antisemitismus und Rassismus keineswegs der Vergangenheit an. Deshalb darf der Holocaust und das Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau in unserer Gesellschaft nicht in Vergessenheit geraten.

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Abbildung 1: Sonderkommando-Häftlinge bei den Verbrennungsgruben (Nr. 1) (Quelle: Arani Holocaust, 659) ...... 58 Abbildung 2: Sonderkommando-Häftlinge bei den Verbrennungsgruben (Nr. 2) (Quelle: Arani, Holocaust, 159) ...... 58 Abbildung 3: Frauen warten im Wald (Quelle: Arani, Holocaust, 660) ...... 59 Abbildung 4: Fehlschuss (Quelle, Arani, Holocaust, 661) ...... 59

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