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Studia Slavica Hung. 50/3–4 (2005) 211–233 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen?

SERHIJ WAKULENKO Харківський національний педагогічний університет ім. Г. Сковороди, кафедра української мови, вул. Блюхера, 2, Харків, 61146, Україна E-mail: [email protected]

Abstract: A number of authors have claimed that Potebnja’s linguistic theory contains evident traces of Kantian influences. In the field of epistemology, indeed, both Potebnja and Kant were convinced relativists, and a number of philosophical notions commonly associated with Kant’s doctrine are easily found in Potebnja’s works. On the other hand, direct references to Kant are extremely rare in Potebnja’s writings. In fact, according to Potebnia, the central problem of and philosophy was that of interrelation between language and thought, which had been practically ignored by Kant. A possible approach to the question of Potebnja’s supposed Kantianism implies the existence of intermediary sources instrumental in conveying some Kantian elements into Potebnja’s own theory (Humboldt, Herbart, Steinthal, etc.). Indeed, some scholars tend to regard the whole of German Roman- ticism and its psychologically-tinged positivist continuation as a sort of response to the problems left unresolved by Kant. Potebnja did receive some important stimuli this way, although they rather concerned the formulation of the problems than their solution. The main points of Potebnja’s discord with Kant concern the existence of a priori mental contents, the role of language in the transformation of sensorial data into concepts, the (non-)arbitrariness of the linguistic sign, the nature of linguistic communication, etc. Potebnja’s treatment of the distinction between synthetic and analytic judgments, as well as of their function in the formation of concepts, where Kantian echoes are particularly evident, offers a particularly good example of the wide theoretical distance separating both authors. Keywords: Immanuel Kant, Alexander Potebnja, epistemology, language and thought, schema, sensorial data, concept, category, synthetic and analytic judgments, (non-)arbitrari- ness of the linguistic signs.

In der Sekundärliteratur zu Alexander Potebnja hat eine Menge von Auto- ren, sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen, die Meinung geäußert, daß das philosophische System Kants – vor allem seine Erkenntnislehre – einen tie- fen und dauerhaften Einfluß auf das Denken des ukrainischen Philologen aus- geübt habe. Da Kant übrigens in der (reiferen) Sowjetzeit als ein subjektiver Idealist und Agnostiker negativ bewertet wurde (vgl. ŠYNKARUK 1979), blieb das nicht ohne Nebenwirkung auf die Beurteilung der theoretischen Ansichten Poteb- njas. So schrieb Solomon Kacnel´son im Jahre 1948 ganz programmatisch: Die Präsenz einiger beträchtlicher Elemente des unüberwundenen Kantianismus in der Sprachphilosophie dieses Sprachtheoretikers [d. h. Potebnjas] setzt, als eine der drin- gendsten Aufgaben der sowjetischen Sprachwissenschaft, eine kritische Umarbeitung sei- nes wissenschaftlichen Erbes aus der Perspektive des dialektischen Materialismus auf die Tagesordnung (KACNEL´SON 1948: 84). Etwas präziser warf Oleksandr Mel´nyčuk Potebnja vor, dieser habe „gar keine objektiven Analoga zu den im Bewußtsein auftretenden allgemeinen Begriffen“

0039-3363/$ 20.00 © 2005 Akadémiai Kiadó, Budapest 212 S. Wakulenko anerkannt und, „ähnlich wie I. Kant“, gemeint, „daß allgemeine Begriffe ledig- lich ideale Konstrukte des Verstandes seien“ (MEL´NYČUK 1981: 11). Insgesamt aber mangelt es den meisten Aussagen zu diesem Thema – wenn man von den sehr generellen Ähnlichkeiten, wie etwa dem erkenntnistheoretischen Skeptizis- mus bzw. Relativismus (vgl. POTEBNJA 1910: 128; KOLESOV 2004: 23) absieht – eben an der Konkretheit. So ist Potebnja für John Fizer, den amerikanischen Autor einer Monographie über seine Literaturtheorie, zweifellos ein Anhänger der Kantischen Erkenntnistheorie und sogar des Kantischen Modells vom menschlichen Verstand (vgl. FIZER 1987: 3, 4, 8). Für ebenso offenkundig hält Fizer die Tatsache, daß Potebnja „eine Menge von den ästhetischen Annahmen Kants“ geteilt habe, obgleich er sich bei der Behandlung der sogenannten „inten- tionalen Form“ (seines einzigen konkreten Beispiels) sofort gezwungen sieht, Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden zu signalisieren (ebd. 60, Anm. 25). Auch die in Großbritanien ansässige Potebnja-Forscherin Nadia Kerecuk erwähnt nur ganz generell „die Kantische Tradition“ als eine der Quellen für Potebnjas Ansichten über die Sprache (vgl. KERECUK 1992: 235). Anderes wäre übrigens kaum zu erwarten, und zwar aus zwei Gründen: Erstens sind Kants Äußerungen zum für Potebnja zentralen Thema der Sprache so sparsam, daß man – systematisch gesehen – eher von einer „Lücke“ in der kri- tischen Philosophie Kants (vgl. CASSIRER 1993: 238) bzw. von seinem „Schwei- gen“ darüber (vgl. DE MAURO 1982: 45–53) oder von einer „Verdrängung“ dieses Reflexionsgegenstandes (vgl. MARKIS 1982: 118) reden darf. Zweitens bleiben, auch wenn man bereit ist, eine Rekonstruktion der – sowieso höchst skizzen- haften – Semiotik Kants (vgl. FORMIGARI 1994: 16) zu versuchen, der Grad und das Maß von Potebnjas Vertrautheit damit sehr ungewiß. In einem späten autobiographischen Brief an Aleksandr Pypin bedauert namentlich Potebnja „ein völliges Fehlen der Philosophie“ im Unterricht während seiner Studentenzeit in Charkiw und präzisiert bei dieser Gelegenheit, daß weder er selbst noch seine Kameraden damals „von Kant und dgl. gehört hatten“ (POTEBNJA 1891: 422). Zwar behauptet Al´da Kolodna, daß Potebnja „Hegels und Kants Werke“ studiert habe (KOLODNA 1967: 101), aber sie bleibt eben bei dieser allgemeinen Aussage, ohne etwas Näheres darüber mitzuteilen. Fest steht, daß Potebnja – vermutlich durch Selbstunterricht – mindestens eine Grundkenntnis des Kantischen Systems besaß – ob jedoch aus erster oder zweiter Hand, ist unklar. In seinem theoretisch orientierten Jugendwerk Denken und Sprache zitiert er beispielsweise die An- sichten Hegels über den geschichtlichen Befreiungsprozeß des menschlichen Geistes nach deren Zusammenfassung durch Kuno Fischer (vgl. POTEBNJA 1862, CXIII: 22–23; FISCHER 1854: 37–38). Was Kant betrifft, so konnte Potebnja im Prinzip auch den 1860 erschienenen dritten Band der Fischerschen Geschichte der neuern Philosophie benutzen (FISCHER 1860), der gänzlich Kants kritischer Philosophie gewidmet ist. Anregungen zu einer Nachforschung konnten außer- dem von seinem Universitätsprofessor Mykola Kostyr gekommen sein: Auch wenn Potebnja kein fleißiger Besucher von dessen Vorlesungen war (vgl. FRANČUK 1985: 25), fand sich doch in seiner Privatbibliothek ein Exemplar von

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Kostyrs Buch Der Gegenstand, die Methode und das Ziel einer philologischen Untersuchung der russischen Sprache, in dem Kant mehrfach beifällig erwähnt wird (vgl. KOSTYR 1850: 6, 96, 322). Viel zuverlässiger scheint eine indirekte Wirkung der Kantischen Philoso- phie auf Potebnja. Obgleich Karl Rosenkranz noch im Jahre 1840 darauf beste- hen zu können glaubte, daß Kant auf die Philologie „keinen besonderen Einfluss“ gehabt habe (ROSENKRANZ 1840: 323), so darf man doch seine transzendentale Doktrin als eine Herausforderung an die herkömmliche Sprachtheorie betrachten, da sie die im 18. Jh. allgemeingültige Idee eines Isomorphismus zwischen Denk- und Sprachstrukturen in Frage gestellt hatte (vgl. FORMIGARI 1994: 9) – wenn auch nur indirekt, d. i. durch den in ihr vollzogenen Bruch mit dem aristoteli- schen Modell des Parallelismus von Sein und Denken (vgl. VILLERS 1997: 297, 400). Eine der stärksten Reaktionen darauf kam eben von seiten der idealisti- schen Sprachphilosophie, deren Paraderepräsentant (vgl. FORMIGARI 1994: 10) zweifellos eine maßgebende Autorität für Potebnja war. Humboldts Kant-Rezeption ist mit dem Prädikat „begeistert“ bezeichnet worden (ROSENKRANZ 1840: 411), und es ist sicher, daß er sich in der Tat mit den „kriti- schen“ Werken Kants dauernd beschäftigte und sie mit der Zeit immer höher einschätzte (vgl. MANCHESTER 1985: 21). Noch markanter in dieser Hinsicht ist vielleicht die Person von Johann Friedrich Herbart, der sich selbst als „den letz- ten Kantianer“ angab – auch wenn man diesen Ausspruch cum grano salis neh- men soll (vgl. ROSENKRANZ 1840: 458) – und den Potebnja weitläufig zitierte und für „einen der tiefsinnigsten Denker unseres Zeitalters“ hielt (vgl. POTEBNJA 1862, CXIII: 23, Anm. 2). Demgemäß wird Potebnjas vermeintlicher Kantianismus gelegentlich eher im Rahmen einer undifferenziert behandelten humboldtianischen Tradition postu- liert, die „mit einer Reihe von idealistischen Schlußfolgerungen im Sinne Kants belastet“ gewesen wäre (BILODID – KRYMS´KYJ 1985: 9; vgl. BILODID 1977: 15). Wegen einer solchen Sichtweise konnte z. B. Nikolaj Čemodanov behaupten, daß Potebnja, stark beeinflußt von dem „Kantianer“ Humboldt und dem „Begründer der psychologischen Richtung in der westlichen Linguistik“ , die Spracherscheinungen „hauptsächlich vom semasiologischen Gesichtspunkt aus“ erforscht habe (ČEMODANOV 1956: 24–25), was grundsätzlich falsch ist, denn es gab in Potebnjas Sprachtheorie – im Unterschied zu jener Steinthals – eigent- lich keinen Platz für eine autonome Bedeutungslehre (vgl. VAKULENKO 2004: 264–265, 273 et passim). Ein tieferer Einblick in die Sprachtheorie Humboldts bringt übrigens die Tatsache zum Vorschein, daß sich die Kantischen Elemente darin bestenfalls (wie beispielsweise bei Wilhelm Streitberg) hauptsächlich auf zwei sehr allge- meine Thesen reduzieren. Erstens könne eine Analogie zwischen Kants Seelen- und Humboldts Sprachbegriff gezogen werden, die darin bestehe, daß für jenen die Seelen- und für diesen die Spracherscheinungen im kontinuierlichen Flusse und nichts Bleibendes seien, woher u. a. die berühmte Humboldtsche dνÝργεια- Auffassung der Sprache stamme. Zweitens soll Humboldts Periodentheorie und

Studia Slavica Hung. 50, 2005 214 S. Wakulenko seine Ansicht von der fortschreitenden Sprachentwicklung in Kants Geschichts- philosophie wurzeln, die alles dafür Nötige enthalte: eine Periode der beginnen- den und eine der sich entfaltenden Vernunft, die Rolle des Antagonismus als treibende Kraft, die ständige Entwicklung hin zu einem regulativ wirkenden Ideal (vgl. STREITBERG 1909: 408–411, 415–421). Außerdem glaubt Streitberg behaup- ten zu können, daß die Idee des Sprachorganismus bei Humboldt mit Kants Definition des Organismus korreliere (vgl. ebd. 412), wobei diese Annahme jedoch dadurch ziemlich entkräftet ist, daß das Wort Organismus in dem von ihm zur Bestätigung zitierten § 65 der Kritik der Urteilskraft (Dinge, als Natur- zwecke, sind organisirte Wesen) kein einziges Mal vorkommt (vgl. KANT 1790: 285–291). Auch Ernst Cassirers programmatisch auf die Entdeckung „unterirdischer“ und „latenter“ Verbindungen zwischen Kants und Humboldts Denken abzielende Studie (CASSIRER 1993: 243) hat nur schlichte Resultate gezeitigt. Als Fazit aus seinen etwas weitschweifigen Überlegungen ergeben sich ebenfalls nur zwei konkrete Parallelen: Zum einen unterstreicht Cassirer die zentrale Rolle der „Synthesis des Urteils“ in Kants Erkenntnislehre, um dann zu behaupten, daß ein ähnlicher Akt des „selbsttätigen Setzens“ nach Humboldt „überall in der Spra- che“ zu finden sei (ebd. 256, 269), wobei es ihm offensichtlich irgendwie ent- gangen ist, daß „Urteil“ und „Sprache“ kaum ein korrelatives Begriffspaar bilden können. Zum zweiten meint er, daß Kants Auffassung der Form als eines bloßen Verhältnisausdrucks ihre Leistung für die kritische Erkenntnislehre mit der Leistung der inneren Sprachform auf dem Gebiet der Humboldtschen Sprach- philosophie vergleichbar mache, da beide Formen „die Bestimmung des Gegen- standes von der Art seiner gedanklichen Erfassung abhängig und in ihr gegründet sein“ ließen (ebd. 263). Diese Übereinstimmung wäre wohl tatsächlich er- wägenswert, hätte Humboldt mehr als äußerst vage Andeutungen zum Thema „innere Sprachform“ hinterlassen – in Wirklichkeit aber ist dieser mit Humboldts Namen oft assoziierte Begriff (oder mindestens dessen theoretische Erarbeitung und Verbreitung) vielmehr seinem Nachfolger und Herausgeber Steinthal zu verdanken (vgl. z. B. HENTSCHEL – WEYDT 1990: 400, Anm. 2).1 In dieser Interpretationsstrategie muß dann Steinthal ohnedies als derjenige erscheinen, der Humboldts von Kant inspirierte „sprachliche Aktualitätstheorie“ zum Gemeinbesitz der Sprachwissenschaft gemacht hat, obwohl er sie zugleich mit Ideen Herbarts und Hegels verband und dadurch gewissermaßen umgestaltete (vgl. STREITBERG 1909: 413–414). Steinthal erkannte Kant in der Tat das größte Verdienst in der Zerstörung des Wahns „einer rein empirischen Wissenschaft“ zu und akzeptierte dessen These, „dass einerseits unsere Erfahrung ohne apriorische Momente sich gar nicht vollführen kann, dass aber andrerseits aus den letztern

1 Was Kants Einfluß auf Humboldt angeht, so wirken die von Uhlan Slagle signalisierten Parallelen zwischen der Kantischen Erkenntnislehre und der universalistischen Komponente in Humboldts Sprachdenken eigentlich am überzeugendsten (vgl. SLAGLE 1974: 341–346). Bezeich- nenderweise findet jedoch eben dieser Aspekt der Humboldtschen Theorie den geringsten Wider- hall bei Potebnja. Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 215 allein das nicht gezogen werden kann, was uns notwendig als Empfindungsstoff gegeben sein muß“, vollständig (STEINTHAL 1881: 21). Allerdings hielt er es für nötig, dazu die – keineswegs belanglose – Ergänzung hinzufügen, „dass auch die apriorischen Formen des Denkens und der Anschauung, wie die Kategorien des Verstandes, nicht ruhig in uns als gegeben vorhanden sind, sondern erst im Laufe der Entwickelung unseres Geistes gegenüber dem spröden Erfahrungsstoffe her- ausgearbeitet werden“ (ebd. 21–22). Damit steht seine „energetische“ Auffassung der menschlichen Erkenntnis in Einklang: „Das Bewusstsein ist absolut verschie- den vom Spiegel und mit diesem kaum vergleichbar. Das Bewusstsein nimmt keinen äußern Reiz auf, ohne ihn zu gestalten nach eigenem Maße“ (ebd. 12). Daraus zieht Lia Formigari die Schlußfolgerung, daß von Kant kommende Anreize die Gestaltung der sogenannten „Vorstellungstheorie“ Steinthals großen- teils mitbestimmt haben, welche letztere u. a. eine grundsätzliche Rolle in seiner Bedeutungslehre spielt (vgl. FORMIGARI 1992: 167–171), – ja diese Autorin sieht darin den Kern von Steinthals Sprachauffassung überhaupt: Wenn man tatsächlich ein vereinheitlichendes Thema in der Sprachtheorie Stein- thals suchen sollte, wäre es in jener beständigen Untersuchung des Sprachursprungs bei den Denkvorgängen zu finden, durch die sich Anschauungen in Vorstellungen verwan- deln, d. h. in analytische Übertragungen dessen, was in der Anschauung mit aller Kom- plexität des Wirklichen erscheint (FORMIGARI 1992: 167). Die Zentralität der Vorstellung in Steinthals Theorie steht tatsächlich außer allem Zweifel. Ebenso unzweifelhaft ist jedoch auch die Tatsache, daß zwischen ihr und der Behandlung der Vorstellung bei Kant prinzipielle Unterschiede bestehen. Steinthal selbst äußert sich dazu ganz entschieden: „Kant unterscheidet Anschauung und Begriff, wie wir; Vorstellung aber ist ihm der Allgemeine Aus- druck für jene beiden zugleich, sie umfassend, ihnen untergeordnet“ (STEINTHAL 1855: 329–330; vgl. KANT 1800: 139). Dieser Auffassung stellt er seine eigene klar gegenüber: Uns ist Vorstellung eine coordinirte mittlere Stufe der Seelenempfängnisse zwi- schen den Stufen der Anschauung und des Begriffs. Urtheil ist eine Form der Denk- thätigkeit, die sich, verschieden gestaltet, auf allen drei Stufen findet. Das Urtheil ist je nach der Stufe, auf der er auftritt: Anschauung der Anschauung (Wort), Vorstellung der Vorstellung (Satz), Begriff des Begriffs (logisches Urtheil) (STEINTHAL 1855: 330). Diese Divergenz ist keine zufällige oder rein terminologische; sie wurzelt vielmehr in der verschiedenen Funktion, die beide Autoren der Sprache in der geistigen Ökonomie beimessen. Bei Steinthal heißt es in der radikalsten Prägung: „Stilles Denken ist gedachtes Sprechen, Sprechen nur gesprochenes Denken“ (ebd. 153), – freilich mit dem Vorbehalt, daß man daraus nicht auf ihre „Einheit und Selbigkeit“, sondern höchstens auf ihre „Unzertrennlichkeit“ schließen dürfe (vgl. ebd.). Etwas umständlicher und ausgewogener wird dieselbe Auffassung in folgenden Worten formuliert: Die Sprache an sich ist […] nicht mit Denken identisch; sondern sie ist eine bestimmte Weise des Denkens und ist unter den umfassenderen Begriff Denken als eine Besonderheit desselben zu bringen; sie ist Denken in der Bestimmung der Selbstan-

Studia Slavica Hung. 50, 2005 216 S. Wakulenko schauung, der Vorstellung. Eben darum ist sie aber zugleich Form und Aeusserung des Denkens (STEINTHAL 1860: 102–103). Was Kant angeht, so hat die Sprache in seiner Erkenntnistheorie bestenfalls eine marginale Stellung. Schon Johann Georg Hamann hat bemerkt, daß die von Kant vorgenommene „Reinigung der Philosophie“ nur dann komplett sein könn- te, wenn sie neben zwei vollgezogenen Elementen – Befreiung von der Überlie- ferung bzw. von der Erfahrung – noch ein drittes enthielte, namentlich den „höchsten und gleichsam empirischen Purismus“, der die Sprache betreffen solle (HAMANN 1951: 284). Hamanns ironische Empfehlung hat übrigens denselben Sinn wie die direkte Kritik von seiten mancher moderner Autoren, die meinen, die Berücksichtigung der Sprache sei ein fehlender Bestandteil in Kants System, dessen Einfügung äußerst wünschenswert wäre. Die tatsächliche Lage erweist sich aber als ganz konfus, und die bei Kant in dieser Frage herrschende Ver- worrenheit wird im folgenden Zusammenfassungsversuch von Marcelo Dascal und Yaron Senderowitcz ziemlich getreu widergespiegelt: […] es ist klar, daß Sprache in Kants Erkenntnistheorie eine wesentliche Rolle spielen sollte, deren Wichtigkeit jedoch von ihm nicht völlig anerkannt wurde. Diese Rolle kann aus manchen über alle seine Schriften verstreuten Textstellen ermittelt wer- den. Trotzdem würden weder diese Schlußfolgerung noch die dazu führenden Prämissen von Kant selbst leicht akzeptiert werden (DASCAL – SENDEROWITCZ 1992: 142). Eine Inventarisierung aller vorhandenen – oder, wenn man will, nicht weg- purifizierten – Aussagen Kants über die Sprache ermöglicht tatsächlich eine genauere Einschätzung ihrer Kompatibilität mit der späteren von Humboldt initiierten Richtung im Rahmen der Sprachwissenschaft. Von Interesse wäre zu- nächst eine wenig beachtete, aber höchst symptomatische Stelle aus Kants Aus- einandersetzung mit der Geisterseherei Swedenborgs – eines Autors, mit dem er sich intensiv und wiederholt beschäftigt hat, dessen Ansichten mehrere unerwar- tete Parallelen zu seinen eigenen Konzeptionen aufweisen (vgl. HEINRICHS 1979: 141; BENZ 1979: 53; FLORSCHÜTZ 1992: 36–37, 40, 54–55, 157, 164, 168) und von dem er sogar – wenn auch indirekt – „wesentliche Impulse zur Ausarbeitung seines Erkenntnissystems“ in der Kritik der reinen Vernunft gewonnen haben mag (FLORSCHÜTZ 1992: 95). Swedenborgs bemerkenswertes Werk enthielt eben u. a. auch eine detaillierte Behandlung der Engels- und Geistersprache, die als der Inbegriff einer sich seit der Antike entwickelnden Auffassung der (univer- salen) lingua mentalis gelten kann (vgl. VAKULENKO 1999: 200–201). Obwohl Kant auf Swedenborgs Anspruch, die Grenzen der Vernunft überschritten zu haben, insgesamt äußerst scharf reagiert, beschränkt er sich in dieser Frage auf eine kritiklose Wiedergabe der Berichte seines Opponenten: „Die Geistersprache ist eine unmittelbare Mittheilung der Ideen […] Ein Geist liest in eines andern Geistes Gedächtniß die Vorstellungen, die dieser darin mit Klarheit enthält“ (KANT 1766: 103). Mit der Annahme einer solchen – idealen oder rein geistigen – Sprache stim- men bei Kant die Erwägungen über die im 18. Jh. sehr verbreitete Idee einer

Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 217 allgemeinen Grammatik überein, die ihm aber bezeichnenderweise lediglich als ein Anhaltspunkt für die Erklärung des Wesens der Logik dient. So schreibt er in der Einleitung zu seiner Logik:

[…] wir können uns […] eine Idee von der Möglichkeit einer solchen Wissenschaft [d. h. der Logik] machen, so wie von einer a l l g e m e i n e n G r a m m a t i k , die nichts weiter als die bloße Form der Sprache überhaupt enthält, ohne Wörter, die zur Materie der Sprache gehören (KANT 1800: 4). In demselben Sinn parallelisiert er andernorts die herauszuarbeitenden Re- geln der Logik mit den als schon vorhanden betrachteten Regeln der allgemeinen Grammatik: So wie man eine allgemeine Grammatik der Sprachen hat, sucht man auch eine des Denkens zu erfinden, welche gewisse allgemeine Regeln des Denkens erhalten sollte. Eine allgemeine Grammatik enthält allgemeine Regeln der Sprachen, ohne auf das Besondere derselben, z. E. die Wörter etc., zu sehen (KANT 1961: 55). Der Bau der natürlichen Sprachen ist für Kant von noch geringerem Inter- esse. Einmal läßt er eine beinahe skandalös dilettantische Bemerkung um die Sprachkunde fallen, indem er meint: „Die lateinische Grammatik schickt sich für alle Sprachen, weil sie am besten ausgearbeitet ist“ (ebd.). Im ganzen Werk Kants gibt es augenscheinlich nur eine einzige Stelle (vgl. FORMIGARI 1994: 25), wo er die Möglichkeit des Auseinandergehens von Logik und Sprache einräumt. Im § 31 der Logik behandelt er die sogenannten exponiblen Urteile, d. h. solche, die eine Bejahung und eine Verneinung zugleich beinhalten. So liegt z. B. in der Aussage Wenige Menschen sind gelehrt neben dem bloßliegenden affirmativen Urteil Einige Menschen sind gelehrt noch ein verstecktes negatives: Viele Menschen sind nicht gelehrt. Sein Kommentar dazu lautet: Da die Natur der exponiblen Sätze lediglich von Bedingungen der Sprache abhängt, nach welchen man zwey Urtheile auf Einmal in der Kürze ausdrücken kann: so gehört die Bemerkung, daß es in unserer Sprache Urtheile geben könne, die exponirt werden müs- sen, nicht in die Logik, sondern in die Grammatik (KANT 1800: 171, Anm.). Übrigens hat Kant auch die Ähnlichkeit zwischen der Erforschung einer natursprachlichen Grammatik und der Analyse der Begriffe anerkannt, wobei die Tatsache augenfällig ist, daß ihn weder das Woher noch das Wozu der Sprach- erscheinungen interessiert, sondern nur die Regeln der Aneinanderreihung der Elemente, welche auf rein kombinatorischer Ebene behandelt werden sollen. Im § 39 der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik heißt es nämlich: Aus dem gemeinen Erkentnisse die Begriffe herauszusuchen, welche gar keine besondere Erfahrung zum Grunde liegen haben, und gleichwohl in aller Erfahrungser- kenntniß vorkommen, von der sie gleichsam die bloße Form der Verknüpfung ausma- chen, setzte kein grösseres Nachdenken, oder mehr Einsicht voraus, als aus einer Sprache Regeln des wirklichen Gebrauchs der Wörter überhaupt herauszusuchen, und so Elemen- te zu einer Grammatik zusammentragen (in der That sind beyde Untersuchungen ein- ander auch sehr nahe verwandt), ohne doch eben Grund angeben zu können, warum eine jede Sprache gerade diese und keine andere formale Beschaffenheit habe, noch weniger

Studia Slavica Hung. 50, 2005 218 S. Wakulenko aber, daß gerade so viel, nicht mehr oder weniger, solcher formalen Bestimmungen derselben überhaupt angetroffen werden können (KANT 1783: 118). Dabei handelt es sich also im Prinzip um eine Bloßlegung der unreflek- tierten sprachlichen Kompetenz, wie sie jedem durchschnittlichen Sprecher zukommt: „Man spricht aber auch, ohne Grammatik zu kennen; und der, welcher, ohne sie zu kennen, spricht, hat wirklich eine Grammatik und spricht nach Regeln, deren er sich aber nicht bewußt ist“ (KANT 1800: 2).2 Ob es sich nun um eine allgemeine oder eine einzelsprachliche Grammatik handelt, sie hat Kant zufolge an einer wesentlichen, mit der Logik gemeinsamen Eigenschaft teil, indem sie beide in bezug auf den Gebrauch (Sprach- bzw. Denkgebrauch) eine regulatorische Funktion erfüllen: Wir sollen denken und auch unser Denken berichtigen lernen. Die Wissenschaft, die vom Denken überhaupt ohne Ansehen des Objekts handelt, heißt die Logik. Die Logik lernt uns also von keinem Gegenstande etwas, auch nicht vom Verstande. In Ansehung der Gegenstände werden wir also nichts lernen. Sie ist dahero kein Organon, sondern eine Analysis des gemeinen Verstandes. Was die Grammatik in Ansehung der Sprache ist, das ist sie in Ansehung des Gebrauchs des Verstandes. Diese Analytik des gemeinen Verstandes und der Vernunft enthält den Kanon des Gebrauchs des Verstandes und der Vernunft überhaupt. Ein Organon ist sie nicht. Denn ein Organon dient zur Vollendung, ob es gleich scheint, daß es zum Anfange diene (KANT 1961: 39). Die Gegenüberstellung von Organon und Kanon ist für Kant ein prinzi- pielles Moment, das in mehreren seiner Schriften auftaucht. In der Logik erklärt er kurz und bündig – aber zugleich nuanciert – eine Zusammenfassung seiner Stellung in dieser Hinsicht: Unter einem O r g a n o n verstehen wir nemlich eine Anweisung, wie ein gewisses Erkentniß zu Stande gebracht werden solle. Dazu aber gehört, daß ich das Object der, nach gewissen Regeln hervorzubringenden Erkenntniß schon kenne. Ein Organon der Wissenschaften ist daher nicht bloße Logik, weil es die genaue Kenntniß der Wissen- schaften, ihrer Objecte und Quellen voraussetzt. So ist z. B. die Mathematik ein vortreff- liches Organon […] Die Logik hingegen, da sie als allgemeine Propädeutik alles Ver- standes- und Vernunftgebrauchs überhaupt, nicht in die Wissenschaften gehen und deren Materie anticipiren darf, ist nur eine allgemeine Vernunftkunst (Canonica Epicuri), Erkenntnisse überhaupt der Form des Verstandes gemäß zu machen, und also in so ferne ein Organon zu nennen, das aber nicht zur Erweiterung, sondern bloß zur Beurtheilung und Berichtigung unsers Erkenntnisses dient (KANT 1800: 5). Wenn also Kants Einschätzung der Grammatik wegen ihres formalen Cha- rakters eher positiv ausfällt (man soll ja dabei nicht vergessen, daß auch alle „Philosophie der reinen Vernunft […] nicht, als Organon, zur Erweiterung, son-

2 Ein nicht unähnlicher Gedanke findet sich auch bei Potebnja: „Der Sprechende kann sich nicht darüber im Klaren sein, daß es in seiner Sprache Deklination gibt, aber trotzdem existiert in ihr die Deklination als eine engere Assoziation gewisser Formen zueinander als zu anderen For- men. Ohne sich dessen bewußt zu sein, zieht der Sprechende bei der Verwendung eines Wortes bald eine größere, bald eine kleinere Menge der ganzen Reihen von Spracherscheinungen in Betracht“ (POTEBNJA 1874: 47). Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 219 dern, als Disciplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu ent- decken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten“ – KANT 1787: 823), kann das vom Wortschatz einer Sprache nicht behauptet werden. Im § 29 der Anthropologie (der aber in verschieden Ausgaben nicht immer die gleiche Nummer trägt) entwirft Kant eine seltsame Dreiteilung der Zeichen „in w i l l - k ü h r l i c h e (Kunst-), in n a t ü r l i c h e und in W u n d e r z e i c h e n “ (KANT 1798: 108). Erstaunlicherweise sind W ö r t e r als solche in keiner Kategorie explizit erwähnt, obgleich S p r a c h e unter dem ersten Typ behandelt wird. Damit korreliert die im § 59 der Kritik der Urteilskraft vorgenommene Entgegen- setzung von den – der intuitiven Vorstellungsart eigentümlichen – Hypotyposen (Darstellungen, exhibitiones) und den sogenannten „bloßen Charakterismen“. Diese werden beschrieben als […] Bezeichnungen der Begriffe durch begleitende sinnliche Zeichen, die gar nichts zu der Anschauung des Objekts gehöriges enthalten, sondern nur jenen, nach dem Ge- setze der Association der Einbildungskraft, mithin in subjektiver Absicht, zum Mittel der Reproduction dienen; dergleichen sind entweder Worte, oder sichtbare (algebraische, selbst mimische) Zeichen, als bloße Ausdrücke für Begriffe (KANT 1790: 252). Mit Recht werden daher die Charakterismen mit „einfachen Etiketten“, d. i. willkürlichen Zeichen, identifiziert, deren Verbindung zu Begriffen eine rein assoziative Natur hat (vgl. DE MAURO 1982: 47; FORMIGARI 1994: 17). Die These vom willkürlichen Charakter der Wörter als sprachlichen Zeichen einerseits und die Annahme einer ideellen Geister- oder Engelsprache anderer- seits sind die zwei theoretischen Prämissen, denen Kants sprachkritische Ein- stellung – ganz im Sinne eines Locke – logischerweise entspringt. In seiner Besprechung der „objektiven Einheit des Selbstbewußtseins“ (§ 18 in der 2. Aus- gabe der Kritik der reinen Vernunft) bemerkt Kant, daß „die empirische Einheit der Apperception“ nur subjektive Gültigkeit hat, weshalb dieselben sprachlichen Zeichen unterschiedliche Bedeutungen haben: „Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Worts mit einer Sache, der Andere mit einer anderen Sache …“ (KANT 1787: 140). Das Auseinandergehen von Wörtern und Sachen ist nach Kant keine zufällige Abweichung, sonder vielmehr eine nahezu unumgängliche Regel- mäßigkeit; dabei wird nicht nur das Verständnis Anderer, sondern oftmals auch das Verständnis seiner selbst gehindert. In der Anthropologie unterstreicht Kant: […] an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornäm- lich in Sachen der Vernunft, dass Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Be- griffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein Jeder nach den seinigen handelt, offenbar wird (KANT 1798: 109; vgl. auch KANT 1787: 738). Das seit langem – besonders nachdrücklich in der (Spät)scholastik – vorge- schriebene Gegenmittel bestand in einer sorgfältigen Definierung der zu ver- wendenden Begriffe bzw. Termini. Bei Kant erscheinen eben in diesem Zusam- menhang einige Überlegungen, in denen – nach Dascal und Senderowicz – „eine mögliche Rolle für die Sprache angedeutet ist“ (1992: 141):

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Definiren soll, wie es der Ausdruck selbst giebt, eigentlich nur so viel bedeuten, als den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen. Nach einer solchen Forderung kann ein empirischer Begriff gar nicht definirt, sondern nur explicirt werden. Denn, da wir an ihm nur einige Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der Sinne haben, so ist es niemals sicher, ob man unter dem Worte, das denselben Gegenstand bezeichnet, nicht einmal mehr, das anderemal weniger Merkmale desselben denke. So kann der eine im Begriffe vom Golde sich außer dem Gewichte, der Farbe, der Zähigkeit, noch die Eigenschaft, daß es nicht rostet, denken, der andere davon vielleicht nichts wissen. Man bedient sich gewisser Merkmale nur so lange, als sie zum Unterscheiden hinreichend sind; neue Bemerkungen dagegen nehmen welche weg und setzen einige hinzu, der Begriff steht also niemals zwischen sicheren Grenzen. Und wozu sollte es auch dienen, einen solchen Begriff zu definiren, da, wenn z. B. von dem Wasser und dessen Eigenschaften die Rede ist, man sich bey dem nicht aufhalten wird, was man bey dem Worte Wasser denkt, sondern zu Versuchen schreitet, und das Wort, mit den wenigen Merkmalen, die ihm anhängen, nur eine Bezeichnung und nicht einen Begriff der Sache ausmachen soll, mithin die angebliche Definition nichts Anders als Wortbe- stimmung ist (KANT 1787: 755–756). Die Wortbestimmungen, die Kant andernorts (1800: 221) auch Namen- Erklärungen oder Nominal-Definitionen nennt, teilen die willkürliche Natur der Wörter und dienen lediglich zur Unterscheidung eines Gegenstandes von ande- ren, ohne die Erkenntnis desselben durch die Darlegung seiner Möglichkeit zu vollziehen (welcher letzteren Aufgabe nur die Sach-Erklärungen oder Real- Definitionen gewachsen sind). Neben der herkömmlichen Unterscheidung von Real- und Nominaldefinitionen findet sich bei Kant eine andere: jene von analy- tischen und synthetischen Definitionen. Die analytischen Definitionen beziehen sich nach Kant auf gegebene, die synthetischen auf gemachte Begriffe (vgl. KANT 1800: 217). Im Falle der Erfahrungsbegriffe, die empirisch (durch Exposition) gemacht werden, hat eine synthetische Definition – welche übrigens nur eine „angebliche“ Definition ist – den Charakter einer Wortbestimmung oder Namen- erklärung (vgl. KANT 1787: 756; 1800: 217–222). Anders verhält sich die Sache bei willkürlich (durch Konstruktion) gemachten Begriffen, d. h. den mathemati- schen „Deklarationen“, die eine richtige synthetische Definition oder Sach-Er- klärung haben können (vgl. KANT 1783: 27–30; 1800: 218–221). Was die dem Menschen (vor)gegebenen reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) und Ver- nunftbegriffe (Ideen) angeht, so ist Kant in bezug auf ihre Definierbarkeit weni- ger explizit. Trotzdem läßt es sich vermuten, daß eine angestrebte analytische Definition solcher Begriffe im Prinzip als eine Sach-Erklärung angesehen werden sollte. Da die Definitionen die der empirischen Erkenntnis eigene Subjektivität nicht beseitigen können, geben sie keine Gewähr für die von Kant angestrebte „wahre Objektivität“, welche die berühmte „Möglichkeit unserer Erkenntnis“ ausmacht (vgl. STERKMAN 1928: 5–6, 239–240). In sprachtheoretischer Hinsicht folgt daraus ein Kommunikationsmodell, in dem keine direkte Übermittlung der Begriffe mit Hilfe von Zeichen stattfindet. Die empirischen Begriffe sind nicht (genau) kommunizierbar, weil sie individuell variabel sind, wobei diese Variabi- lität aber unter der Gleichheit des Zeichens verborgen bleibt. Die reinen Begriffe

Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 221 sind nicht (direkt) kommunizierbar, weil sie intellektuell sind und damit in die allgemeine Scheidung von „mundus intelligibilis“ und „mundus sensibilis“ fal- len, die mit der Polarität „Leib – Seele“ korreliert, welche letztere Kant nie hin- länglich überbrücken vermochte (vgl. FLORSCHÜTZ 1992: 63; BEGENAT 1988: 75). Dementsprechend schreibt Kant im § 40 der Kritik der Urteilskraft: Die Geschicklichkeit der Menschen sich ihre Gedanken mitzutheilen, erfordert auch ein Verhältnis der Einbildungskraft und des Verstandes, um den Begriffen Anschauungen und diesem Begriffe zuzugesellen, die in ein Erkenntnis zusammenfließen; aber alsdenn ist die Zusammenstimmung beyder Gemüthskräfte gesetzlich, unter dem Zwange be- stimmter Begriffe. Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer Freyheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmäßig Spiel setzt, da theilt sich die Vorstellung, nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefühl, eines zweckmäßigen Zustandes des Gemüths, mit (KANT 1790: 158–159). Die Ausdrückbarkeit von Begriffen wird weiterhin zum Gegenstand der Überlegungen Kants im § 59 desselben Werkes, wo es heißt: Die Realität unserer Begriffe darzuthun, werden immer Anschauungen erfordert. Sind es empirische Begriffe, so heißen die letztere Beyspiele. Sind jene reine Verstandes- begriffe, so werden die letztere Schemate genannt. Verlangt man gar, daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d. i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargethan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann (KANT 1790: 251). Mit einiger Ausführlichkeit behandelt Kant auch den Mechanismus der Ent- hüllung der Begriffe. Bezeichnenderweise wird dabei die Rolle der Wörter – die ja bloße Charakterismen sind – ganz heruntergespielt; statt dessen rücken die Hypotyposen in den Vordergrund. Kant teilt sie in zwei Klassen auf: Alle Hypotypose (Darstellung, subiectio sub adspectum) als Versinnlichung, ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die corre- spondirende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen seyn kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urtheilskraft demjenigen, was sie im Schematisiren beobachtet, blos analogisch, d. i. mit ihm blos der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach, übereinkommt (KANT 1790: 251–252). Sowohl Schemata als auch Symbole stellen nach der Doktrin der Kritik der Urteilskraft ausschließlich Begriffe a priori dar, und zwar die ersteren auf eine mittelbare (demonstrative), die letzteren auf eine unmittelbare (analoge) Weise. Im zweiten Falle erfüllt die Urteilskraft eine doppelte Funktion, indem sie zuerst den Begriff mit dem Gegenstand einer sinnlichen Anschauung verbindet und danach „die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung“ (KANT 1790: 253) auf einen ganz anderen Gegenstand anwendet. Dadurch wird der erste Gegen- stand zum Symbol des zweiten, wie beispielsweise ein beseelter Körper einen nach inneren Volksgesetzen regierten oder eine Handmühle einen despotischen monarchischen Staat darstellen kann. Auch wenn es keine Ähnlichkeit zwischen einer Maschine und einem Staat gibt, ist es trotzdem möglich, über die beiden,

Studia Slavica Hung. 50, 2005 222 S. Wakulenko samt der ihnen inhärenten Kausalität, nach derselben Regel zu reflektieren. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der sprachlichen Ausdrucksmittel erwähnt: Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirecten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern blos ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), Abhängen (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt folgen), Substanz (wie Locke sich ausdrückt: der Träger der Accidenzen), und unzählige andere nicht schema- tische, sondern symbolische Hypotyposen, und Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer directen Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d. i. der Uebertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begrif, dem vielleicht nie eine Anschauung direct correspondiren kann (KANT 1790: 253–254). Kant räumt sogar dieser Vorstellungsart den Status einer Erkenntnis ein, die, ohne ein Prinzip der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes zu sein, prak- tisch andeutet, „was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll“ (ebd. 254). Dem Subjekt Wörter kommt in diesem Absatz das Prädikat Hypotyposen zu, was ihrer vorherigen Bezeichnung als „bloße Charakterismen“ zu widersprechen scheint. In Wirklichkeit aber handelt es sich hier eher um eine unglückliche grammatische Wendung, da der vorhergehende Satz ganz klar besagt, daß ein Ausdruck ein Schema oder ein Symbol enthält, ohne es zu sein. Dementsprechend könnte man annehmen, daß Wörter Kant zufolge in der Tat lediglich Charakterismen seien und nur metonymisch Hypo- typosen genannt werden könnten, weil die von ihnen bezeichneten Gegenstände der sinnlichen Anschauung als solche fungierten. Lia Formigari (1994: 17) be- merkt dazu überdies treffend, daß alle von Kant angeführten Beispiele eigentlich „tote“ Metaphern sind, wobei die Bedeutungsübertragung ganz automatisch erfolgt, ohne daß sprachliche Mechanismen eingeschaltet werden. Die oben skizzierte Wechselbeziehung zwischen den Darstellungsmitteln, die die Mitteilung der Begriffe ermöglichen, findet in einem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft mit dem Titel Von dem Schematismus der reinen Verstandes- begriffe eine Entsprechung. Hier wird aber nicht die Frage der Kommunizier- barkeit der Begriffe, sondern vielmehr die ihrer Entstehungsmöglichkeit themati- siert. Ganz allgemein behauptet Kant: Nun ist klar: daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Categorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellectuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transcendentale Schema (KANT 1787: 177). Dabei liegen Schemata nicht nur reinen Verstandesbegriffen (wie in der Kritik der Urteilskraft), sondern auch empirischen Begriffen zugrunde, was eine Spaltung des Schematismus in zwei Versionen zur Folge hat, von denen die erste sich auf die Weise bezieht, wie die reinen Begriffe dank der transzendentalen Synthese der Einbildungskraft auf die Erscheinungen angewendet werden, wäh-

Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 223 rend die zweite die Subsumierung der empirischen Begriffe unter die entspre- chenden Kategorien betrifft (vgl. FORMIGARI 1994: 20). In beiden Fällen hat das Schema „die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit“ (KANT 1787: 179) zur Absicht, weil sie „eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung“ ist, „gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe“ (ebd. 180). Der Unterschied zwischen den beiden Schematismen besteht dabei in ihrem Verhältnis zu sinnlichen Bildern (Produkten des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft). Das Schema eines sinnlichen Begriffes ist „ein Product und gleichsam ein Mono- gramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden“ (ebd. 181). Nur vermittelst des Schemas können die Bilder mit dem Begriffe verknüpft werden, mit dem sie jedoch an sich nie völlig kongruieren. Zum Schema stehen sie zugleich nach Kant in einem Bezeichnungs- verhältnis (vgl. ebd.). Dagegen kann das Schema eines reinen Verstandesbegrif- fes „in gar kein Bild gebracht werden“; es ist „nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Categorie ausdrückt“ und „ein transcendentales Product der Einbildungskraft“ (ebd.). Lia Formigari (1994: 20) bemerkt dazu, daß eine semantische Funktion innerhalb dieser Be- trachtungsweise eher (wenn nicht ausschließlich) für die Darstellung der empiri- schen Begriffe überhaupt in Frage kommt. Inwieweit dies der Fall ist, zeigen die von Kant eingeführten – und ziemlich einleuchtenden – konkreten Beispiele. Das Schema des sinnlichen (reinen empirischen) Begriffes einer Figur im Raume wird am Dreieck exemplifiziert: Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welcher macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklichte &c. gilt, sondern immer nur auf einen Theil dieser Sphäre eingeschränkt seyn. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existiren und bedeutet eine Regel der Synthesis der Ein- bildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume (KANT 1787: 180). Auch wenn es ein Bild vom Gegenstande geben kann, erreicht er nach Kant „noch viel weniger“ den empirischen Begriff, welcher sich direkt nur auf das Schema der Einbildungskraft bezieht. Das einschlägige Beispiel lautet wie folgt: Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Thieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu seyn (KANT 1787: 180). Wenn das Wozu des Schematismus Kants Ausführungen ziemlich eindeutig entnommen werden kann (er soll die Einheit in die Bestimmung der Sinnlichkeit einbringen), so gilt dies keinesfalls für sein Wie. Ganz im Gegenteil: Kant gibt unverhohlen zu, daß seine Theorie nicht einmal eine hypothetische Lösung für dieses Problem vorschlagen kann: Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihren bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen, und sie unverdeckt vor Augen legen werden (KANT 1787: 180–181).

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An diesem Punkt fügen sich die theoretischen Überlegungen Potebnjas am leichtesten in den Kontext Kants ein. Die beiden Probleme, die Kant mit Hilfe des Schematismus zu überwinden versuchte – das der Gedankenmitteilung und das der Kluft zwischen den sinnlichen Wahrnehmungsbildern und den intellek- tuellen Begriffen –, gehören ja eben auch in Potebnjas Sprachtheorie zu den zentralsten. Sie können übrigens im Prinzip auf das allgemeinere Problem der Wechselbeziehung von Subjektivität und Objektivität zurückgeführt werden. In diesem Zusammenhang wurde Potebnjas Stellung mit der von Kant parallelisiert: […] die Frage nach dem Ausgleich von Subjekt und Objekt im Leben des einzelnen Wortes und der ganzen Sprache wird in jenem Teil gelöst, in dem die Grenzen nur durch das Bewußtsein bestimmt werden. Diese Frage löst Potebnja nach Humboldt im Sinne Kants: die Rolle des Vermittlungsmoments wird der inneren Form zugewiesen, während die Entwicklung der Sprache von der sinnlichen Empfindung zu den Kategorien als Formen des Verstandes voranschreitet (ROSENBERG 1926: 74). Eine solche Gleichsetzung von den „Vermittlungsmomenten“ bei Kant (Schema) und bei Humboldt bzw. Potebnja (innere Form) ist eigentlich als sehr gewagt zu beurteilen, auch wenn derselbe Autor nachstehend ebenfalls einige Ein- flüsse von Fichte auf Humboldt (und Potebnja) in dieser Hinsicht annimmt, die eben die Rolle der Sprache betreffen (vgl. ebd. 75), und den psychologischen Hin- tergrund der von Potebnja verwendeten Terminologie hervorhebt (vgl. ebd. 76). Die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Theorien Kants und Potebnjas bestehen erstens in der allgemeinen epistemologischen Ausrichtung. Friedrich Max Müller, ein Autor, der sich selbst für einen Fortsetzer von Kants Philosophie auf dem sprachwissenschaftlichen Gebiet hielt (und dessen Werk Potebnja sehr gut kannte), hat zu Recht betont: In der kürzesten Form ausgedrückt könnte ich sagen, daß das Resultat von Kant’s Analyse der Kategorien des Verstandes genau das Gegentheil von Locke’s Resultat ist, nämlich „nihil est in sensu quod non fuerit in intellectu“. Nur mit Hilfe des Intellects können wir ein Object vorstellen (MÜLLER 1888: 129). Nun billigte Potebnja ganz umgekehrt den von Locke aufgewerteten sensualisti- schen Wahlspruch „nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu“ 3 ohne Vorbehalte, und das nicht nur im jugendlichen theoretischen Werk Denken und Sprache (Potebnja 1862, СХІІІ: 45), sondern auch in seiner reifen Periode, indem er die Wichtigkeit dieser These für die Psychologie überhaupt und für die Sprachwissenschaft insbesondere unterstrich (POTEBNJA 1981: 119). In Anwen- dung auf ein konkretes Beispiel anerkannte Potebnja dementsprechend – im Gegensatz zu Kant – die Möglichkeit, ein wahrheitsgetreues Bild eines Dreiecks zu haben (vgl. POTEBNJA 1862, СХІІІ: 106). Desto krasser sind die Unterschiede zwischen den beiden Autoren bezüglich der sogenannten „reinen“ Begriffe: da

3 Locke kommt diesbezüglich keine Priorität zu: Dieselbe – grundsätzlich aristotelische – Formel findet sich bereits in den Schriften des hl. Thomas von Aquin (vgl. THOMAS AQUINAS 1569: II, 3, arg. 19). Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 225

Potebnja jeglichen Apriorismus ablehnte, gibt es hier gar keinen gemeinsamen Grund, der einen Vergleich der jeweiligen theoretischen Ansichten rechtfertigen würde. Relativ kompatibel sind die zwei Denksysteme also nur im Hinblick auf Kants empirische Begriffe und ihr Verhältnis zu den mit ihnen korrelierenden sinnlichen Bildern. Bezeichnenderweise führt Potebnja in der Besprechung dieses Problems, ohne Kant zu nennen, einige von dessen markanten Beispielen an. Was die allgemeine Verzeichnung eines mannigfach erscheinenden Gegen- standes (eigentlich: einer Klasse von Gegenständen) mit einem Begriff angeht, taucht bei ihm der Hund wieder auf: In den Naturwissenschaften haben die allgemeinen Begriffe, die aus den einzelnen regelmäßig und allmählich geformt werden, für niemanden einen realen Wert; sie scheinen jedermann bloß Mittel zu sein, welche das Denken gebildet hat, um mannig- fache Erscheinungen zu überblicken. Ein Zoologe wird z. B. die Ursachen des So-und-so- Seins eines Hundes nicht in dem abstrakten Begriffe vom Hunde überhaupt suchen (POTEBNJA 1862, СХІІІ: 43). Diese Bemerkung trifft direkt den Kern von Kants Schematismuslehre, die eben von der Abstraktionstheorie Lockes schwerlich zu unterscheiden ist (vgl. FORMIGARI 1994: 20–21), besonders wenn man bedenkt, daß die Begriffe nach Kant durch „logische Verstandes-Actus“ der „Comparation, Reflexion und Ab- straction“ erzeugt werden (KANT 1800: 145). Potebnja beachtete übrigens solche „erfundenen“ (POTEBNJA 1910: 119), „aus mehreren Einzelerscheinungen von gemeinsamen Merkmalen gebildeten Begriffe“ (POTEBNJA 1862, СХІІІ: 43) sehr wenig; sein Interesse galt vielmehr dem „psychologisch betrachteten“ (POTEBNJA 1862, СХІV: 24) Begriff, welchen er als „eine Gesamtheit der Urteile, in die sich das sinnliche Bild zergliedert hat“ (ebd. 19; vgl. POTEBNJA 1874: 10), definierte. Der Erkenntnisprozeß geht also für Potebnja immer vom Bild zum Begriff. Eine solche „Gedankenentwicklung“ wird nur durch das Wort ermöglicht, welches als „ein Mittel zur Umgestaltung des Bildes in den Begriff“ dient (POTEBNJA 1862, СХІV: 25). In diesem Zusammenhang erscheint übrigens bei Potebnja auch der für Kant so zentrale Terminus Schema. Wenn Potebnja von der Abstraktion spricht, erwähnt er als deren erste Etappe die „unbewußte Vereinigung des sinn- lichen Bildes“, welche immer „eine Beseitigung einer Menge von Eindrücken aus dem Bewußtsein“ voraussetzt, die „den Hintergrund eines sinnlichen Bildes“ ausmachen (ebd. 10). Es ist nur durch diese Beseitigung, „den Prototyp des späteren Prozesses der Abstraktion“ (ebd.), möglich, mehrere zu verschiedener Zeit gebildete Bilder in eine gewisse Einheit zu verschmelzen. Dann setzt Potebnja fort: Diese Verschmelzung, die an um desto wenigere Hindernisse stößt, je weniger Besonderheiten der Bilder im Gedächtnis bleiben, ist bereits eine Verallgemeinerung. Die Gesamtheit des von mir Gedachten während und nach einer solchen Verschmelzung steht bereits in Verhältnis … nicht zu Einem Gegenstande, sondern zu mehreren, und wird da- durch zu einem mehr oder weniger unbestimmten Schema der Gegenstände. Solche Sche- mata muß man auch beim Tiere annehmen, dessen manche Handlungen sich nicht durch die bloßen physiologischen Anregungen erklären lassen (POTEBNJA 1862, СХІV: 10).

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Zum Unterschied von dem Tieren und Menschen gemeinsamen Schema ist die spezifisch menschliche Denktätigkeit nach Potebnja mit der Sprache verbun- den, wobei die entscheidende Frage lautet: „ […] was genau fügt das Wort dem sinnlichen Schema hinzu?“ (ebd. 11). Diese neuen Elemente heißen wieder Ein- heit und Allgemeinheit, die sich jedoch von den dem Schema innewohnenden darin unterscheiden, daß es sich diesmal um bewußte psychische Erscheinungen handelt (vgl. ebd. 4, 11, 99, 102). Eine solche Vergegenwärtigung des Psychi- schen wird dadurch ermöglicht, daß das Wort eine innere Form besitzt, eine Eigenschaft also, die – entgegen Kants Ansicht über Wörter als Charakterismen – seine Nicht-Willkürlichkeit fundiert. Für Potebnja ist nämlich immer die Frage angebracht, aus welchem Grund ein gewisses Wort bedeutet, was es bedeutet, und nicht etwas anderes, weil es in der Sprachschöpfung „keine Willkürlichkeit“ gibt (ebd. CXIII: 88). Diese Auffassung kann wieder an Kants Hundebeispiel expliziert werden, wobei Potebnja, seinem psychologisch-genetischen Blickpunkt getreu, eine zur Kindersprache gehörende ukrainische Bezeichnung des Hundes wählt: цюця. Bei einem noch nur lallenden Kind kann dieses Wort sowohl die Empfindungen von demselben Hund in verschiedenen Stellungen als auch von mehreren, nach ihrem Fell, ihrer Größe oder ihrer Form verschiedenen Hunden hervorrufen. Mit dem Lauf der Zeit merkt das Kind, daß es in der Mannig- faltigkeit der in sein Bewußtsein hereinkommenden Empfindungen nur ein ein- ziges unveränderliches Moment gibt, nämlich das Wort samt der mit ihm ver- einigten Vorstellung, welches immer im gleichen Verhältnis zu allen gleicharti- gen Empfindungen steht. Daraus zieht Potebnja eine weitreichende theoretische Schlußfolgerung: Auf diese Weise nimmt die Schöpfung der Kategorie der Substanz bzw. des Dings an sich ihren Anfang, und ein Schritt zur Erkenntnis der Wahrheit wird gemacht. Eine wirkliche Kenntnis ist für den Menschen nur die Kenntnis der Wesenheit; die im Gegenstande bemerkten verschiedenartigen Merkmale a, b, c, d machen dagegen den eigentlichen Gegenstand A nicht aus, weder einzeln genommen (da die Farbe des Hundfells und dergleichen offensichtlich kein Hund sind) noch in ihrer Gesamtheit, – zum ersten, weil diese Gesamtheit eine Summe bzw. Vielheit ist, während ein Gegen- stand für uns immer eine Einheit ist; zum zweiten, weil A, als Gegenstand, für uns nicht nur die Summe der uns bekannten Merkmale a + b + c, sondern auch die Möglichkeit der unbekannten x + y … enthalten soll, sich von ihnen durch etwas unterscheiden, aber zugleich sie vereinigen und ihre Existenz bedingen soll. Im Wort, als Vorstellung der Einheit und der Allgemeinheit des Bildes, als einem durch eine konstante Vorstellung geschaffenen Ersatz für zufällige und veränderliche Kombinationen, die ein Bild aus- machen, […] , erreicht der Mensch erstmals ein Bewußtsein vom Sein eines dunklen Kerns des Gegenstandes, eine Kenntnis vom wirklichen Gegenstand (POTEBNJA 1862, СХІV: 12–13). Das kindersprachliche, typischerweise einzeln vorkommende Wort цюця soll dabei annähernd das ursprachliche Stadium nachbilden, in dem ein Wort eine unzertrennte Einheit von Substanz, Handlung und Eigenschaft bezeichnete: „Цюця!“ bedeutet: Das in mein Bewußtsein neu hereintretende Bild ist für mich eine Wesenheit, welche ich so und so (vermittelst solcher innerer Form) im Worte цюця

Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 227 vorstelle; der Gegenstand in sich ist dabei von seinen Eigenschaften und seinen Hand- lungen noch nicht getrennt, weil diese letzteren sowohl in der neuen Empfindung als auch in der sie apperzipierenden Anschauung enthalten sind (POTEBNJA 1862, СХІV: 13). Diesem primitiven Sprachstadium folgt ein nächstes, in dem statt einzelner Wörter zuerst die einfachsten (Prototypen der) Sätze erscheinen: Anders verhält sich die Sache bereits in einer zusammengesetzten Fügung der Ursprache, die der unseren „Der Hund bellt“ entspricht; hier ist nicht nur die Wesenheit des Hundes im Worte erfaßt, sondern auch ein von den Merkmalen deutlich ausgeson- dert, die diese Wesenheit wie eine dunkle Masse umgeben. Wenn ein in der Rede vor- kommendes einzelnes Wort eine Vorstellung ist, dann könnte man eine Kombination von zwei Wörtern, Steinthal folgend, Vorstellung der Vorstellung nennen (POTEBNJA 1862, СХІV: 13–14). Gleich darauf wiederholt Potebnja Steinthals Behauptung, daß ein als Prä- dikat solcher Sätze funktionierendes Wort im Laufe der Zeit zum Subjekt ver- änderlicher Merkmale wird, welche die Gültigkeit von Prädikaten bekommen. So ist z. B. der Satz Der Hund bellt eine Voraussetzung für die Entdeckung von eigenen Merkmalen im Merkmale des Gebells. Zugleich aber wirft Potebnja Steinthal vor, daß er keine befriedigende Antwort auf die Frage über die Art und Weise einer solchen Umwandlung von einem Prädikat in ein Subjekt gibt (vgl. ebd. 14). Im Rahmen seiner eigenen Lösung dieses Problems greift Potebnja auf eine begriffliche Unterscheidung zurück, die innerhalb von Kants System eine wichtige Rolle spielt, nämlich die von analytischen und synthetischen Urteilen. Diese Unterscheidung korreliert bei Kant naturgemäß mit jener von analytischen und synthetischen Definitionen, da ihm Definitionen und Urteile wesensähnlich sind (vgl. DASCAL – SENDEROWITCZ 1992: 136). Der Unterschied analytischer und synthetischer Urteile wird auf die folgende Weise erläutert: In allen Urtheilen, worinnen das Verhältniß eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird […] Entweder Prädicat B gehöret zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckter Weise) enthalten ist; oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urtheil analytisch, in dem andern synthetisch. Analytische Urtheile (die bejahende) sind also diejenige, in welchen die Verknüpfung des Prädicats mit dem Subjekt durch Identität, diejenige aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, solle synthetische Urtheile heißen. Die erstere könnte man auch Erläuterungs-, die anderen Erweiterungsurtheile heißen, weil jene durch das Prädicat nichts zum Begriff des Subjects hinzuthun, sondern diesen nur durch Zergliederung in seine Theilbegriffe zerfällen, die in selbigen schon, (obgleich verworren) gedacht waren: da hingegen die letztere zu dem Begriffe des Subjects ein Prädicat hinzuthun, welches in jenem gar nicht gedacht war, und durch keine Zergliederung desselben hätte können herausgezogen werden … (KANT 1787: 10–11). Kants Beispiel eines analytischen Urteils ist: Alle Körper sind ausgedehnt. Die Ausdehnung ist nämlich ein Merkmal des Körpers, das mit ihm so innerlich verknüpft ist, daß die beiden ohne einander nicht gedacht werden können. Des- halb ist es nur durch eine Zergliederung des Begriffes „Körper“, daß das Prädikat „ausgedehnt“ in ihm angetroffen und im Bewußtsein vergegenwärtigt ist. Zu den

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Merkmalen dieser Art gehören beim Begriffe „Körper“ ebenfalls die Undurch- dringlichkeit oder die Gestalt. Ein synthetisches Urteil wird mit dem Satz Alle Körper sind schwer exemplifiziert, in dem das durch das Prädikat ausgedrückte Merkmal nicht im Begriffe „Körper“ mitgedacht wird, sondern etwas Äußerli- ches ist, das man dem Begriffe „Körper“ aufgrund der Erfahrung hinzufügt. Die Kenntnis vom Körper wird dadurch nicht bloß klar(er)gemacht, sondern er- weitert. Für Potebnja ist die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen etwas „Übliches“. Der Name Kants fällt in seiner Besprechung dieses Themas nicht, obgleich die von ihm gewählten Beispiele („Gold“ und „Wasser“) mit jenen identisch sind, die in Kants Überlegungen zu den Definitionen der empirischen Begriffe vorkommen. In Potebnjas Darlegung ist das Prädikat eines analytischen Urteils „nur eine verdeutlichende Wiederholung eines im Subjekt verborgenen Momentes“, weshalb „das ganze Urteil als eine Zerlegung von einer Denkeinheit erscheint“. In einem synthetischen Urteil dagegen verhält sich das Prädikat zum Subjekt als etwas Neues, nicht unmittelbar in ihm Gedachtes, sondern mit ihm durch eine vermittelnde Gedankenreihe Verbundenes. Zu dieser mit Kants Ansichten ganz kompatiblen Erläuterung fügt jedoch Potebnja zwei Berichtigungen hinzu. Die erste Berichtigung lautet: Ohne den Unterschied zwischen den beiden Urteilen ausgleichen zu wollen, kann man immerhin bemerken, daß man sogar in strikt synthetischen Urteilen, in denen die Verbindung der Glieder das Resultat einer Schlußfolgerung ist, die Zergliederung eines Gedankenkreises sehen kann, denn das Subjekt muß einen Grund enthalten, weswegen es genau dieses Prädikat verlangt, und umgekehrt: das Prädikat muß auf die Notwendigkeit seiner Verbindung mit eben diesem und nicht einem anderen Subjekt verweisen (POTEBNJA 1862, СХІV: 15). Sich Steinthal und Theodor Waitz anschließend, sagt Potebnja weiter, daß das synthetische Urteil, welches einen größeren Aufwand der Denkkraft voraus- setzt, später als das analytische entstanden sein sollte, so daß man ein Zeitalter annehmen muß, in dem unmittelbar der sinnlichen Empfindung entsprungene analytische Urteile vollständig herrschten. Noch viel interessanter aber ist die zweite Berichtigung, die Potebnja „vom Standpunkt der Sprache aus“ macht: … es muß hinzugefügt werden, daß eine solche Zerlegung des sinnlichen Bildes nur vermittelst seiner Verbindung mit einer zweiten ähnlichen Einheit geschehen kann, so daß man in einem Urteil, da es mit einer Kombination von mindestens zwei Wörtern ausgedrückt wird, nicht nur die Zerlegung von einer Einheit, sondern zugleich die Entstehung von einer Einheit aus einer Zweiheit sehen kann (ebd. 16). Wenn Potebnjas Beispiel für ein synthetisches Urteil (Die Summe der Winkel in einem Dreieck ist zwei rechten Winkeln gleich) keine direkte Sprach- gebundenheit aufweist, so haben bezeichnenderweise die angeführten analyti- schen Urteile die Eigentümlichkeit, daß in ihnen dasselbe Merkmal ausgesondert ist, welches der jeweiligen inneren Wortform des Subjekts zugrundeliegt: золото желто ‘das Gold ist gelb’, вода б‰житъ ‘das Wasser fließt’. Im ersten Fall

Studia Slavica Hung. 50, 2005 Wäre Alexander Potebnja ein Kantianer in der Sprachphilosophie gewesen? 229 handelt es sich übrigens um einen Begriff, der nicht nur Kant, sondern vor ihm auch Locke zur Exemplifikation der erkenntnistheoretischen Postulate reichlich diente (vgl. VAKULENKO 2003: 327–329). Die ursprüngliche innere Form des slawischen Wortes золото usw. (wie auch des germanischen Gold usw.) trug eine Vorstellung von diesem Metall als einem mit Licht verbundenen, weshalb einem bei der Lautfolge zoloto vor allem die Farbe in den Sinn kommt (vgl. POTEBNJA 1860: 47; 1862, CXIV: 3). Durch die Wortstruktur ausgedrückt, ist dieses Merkmal ein unumgängliches Bedeutungselement, zu dem die persönliche Erkenntnis gewiß andere Merkmale hinzufügen kann, aber erst nachdem die Zerlegung des ursprünglichen einheitlichen Inhalts durch sprachliche Mittel initi- iert worden ist, d. i. durch analytische Konstruktionen wie russ. золото желто oder stete Redewendungen wie serb. жуто злато, in denen der metonymische Charakter der ursprünglichen Bezeichnung zutage tritt (vgl. POTEBNJA 1862, CXIII: 102; CXIV: 15; 1905: 247). Vom empirischen Begriff „Wasser“ behaup- tete Kant, daß man nicht zergliedern soll, was in ihm liegt, sondern durch Er- fahrung kennenlernen, was zu ihm gehört (vgl. KANT 1800: 218). Potebnja bietet eine ganz andere Erklärung an: Nehmen wir an, daß das Wort вода ein gewöhnliches Prädikat für die in das Bewußtsein eintretenden und zu apperzipierenden sinnlichen Empfindungen des Wassers ist, ein Prädikat, das noch nicht ausschließlich den Gegenstand bezeichnet, sondern dem Bewußtsein das ganze sinnliche Bild von Wasser vermittelst des Merkmals des Fließens (vgl. lat. ud-us ‘feucht, naß’, gr. œδ-ωρ und ruth. Flußname Udy) vorstellt (POTEBNJA 1862, СХІV: 16). In dieser Perspektive erscheint das Urteil вода б‰житъ ‘das Wasser fließt’ als ein analytisches, in dem die ursprüngliche begriffliche Einheit von Wasser und Fließen zergliedert wird. Der Übergang zu einem synthetischen Urteil wird dann von Potebnja auf die folgende Weise dargestellt: Konsequentermaßen wird man annehmen, daß unsere Wörter св‰тить, св‰тлый, von den formalen Partikeln gereinigt und zur Urform zurückgeführt, vermittelst des Merkmals des Hellseins ein gewisses Bild bedeuteten, als eine undifferenzierte Gesamt- heit von Substanz und Attributen. Im Prototyp des Satzes Вод(a) св‰т(ла) ‘Das Wasser ist hell’ verlieren die Bestandteile noch nicht die Eigenschaften, die sie hatten, als sie nur getrennt gebraucht wurden. Wenn das Auge bei einer neuen Empfindung des Wassers durch seine Klarheit oder durch den Widerschein des Sonnenlichtes betroffen ist, wird diese Empfindung jedoch zuerst durch das Wort вода apperzipiert (wobei ein Urteil stattfindet, das dem unseren [Das ist] Wasser! entspricht); darauf aber wird sie ein ganz anderes Bild im Bewußtsein hervorrufen und sekundär durch das mit demselben verbun- dene Wort св‰т(ла) apperzipiert werden. […] Der Sinn des Satzes wird sein: Das von mir im Wort вода Vorgestellte wirkt auf mich so bzw. ist für mich dasselbe wie das von mir im Worte св‰т(ла) Vorgestellte (POTEBNJA 1862, СХІV: 16). Auf dieselbe Weise treten allmählich auch andere Attribute des Subjekts hinzu, bis die Zerlegung des sinnlichen Bildes in einzelne Merkmale seine Trans- formation in einen Begriff vollbringt.

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Der zweite entscheidende Unterschied zwischen den erkenntnistheoretischen Ansichten Kants und Potebnjas besteht also darin, daß für den ersten die „un- sprachlichen und vorsprachlichen“ (vgl. VILLERS 1997: 323) Schemata zwischen dem Sinnlichen und dem rein Begrifflichen vermittelten, was auf der Grundlage einer Sprachauffassung, die lediglich eine willkürliche Verbindung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten voraussetzte, bestenfalls eine von der Spra- che unabhängige kombinatorische Semantik Lockescher Art fundieren konnte (vgl. FORMIGARI 1994: 19, 28–29), während der zweite – wie auch der vermeint- liche Kantianer Humboldt – ganz im Gegenteil die Rolle der Sprache im Prozeß der Begriffsbildung hervorhob (vgl. KEYS 1996: 193–194). Von Kants Ansichten über die Beziehung der Sprache zum Denken kann man nur feststellen, daß sie „schwer mit Bestimmtheit zu ermitteln“ sind (Müller 1888: 39), und das Wenige, was er diesbezüglich sagt, liegt jedenfalls außerhalb seines Systems der trans- zendentalen Philosophie (vgl. FORMIGARI 1994: 24), weil für ihn die Sprache dem Prozeß der Erkenntnis prinzipiell nachgeordnet ist (vgl. VILLERS 1997: 14, 303). Übrigens steht auch das von Potebnja gerne wiederholte Motto Humboldts über die Sprache als „das bildende Organ des Gedankens“ (HUMBOLDT 1836: 50; vgl. POTEBNJA 1862, CXIII: 25) im krassen Widerspruch zu Kants Auffassung von der Grammatik – geschweige denn vom Wortschatz – als einem Kanon (und keinem Organon). Eine der markantesten Stellen über die sprachliche Vermittlung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven lautet bei Potebnja: Das Wort ist insofern ein Mittel zum Verständnis von einem Anderen, als es ein Mittel zum Verständnis von sich selbst ist. Es dient als ein Vermittler zwischen Men- schen und stellt zwischen ihnen eine intellektuelle Verbindung her, weil es in der Einzelperson zur Vermittlung zwischen einer neuen Empfindung (und insgesamt dem, was sich augenblicklich im Bewußtsein vorfindet) und dem außerhalb des Bewußtseins bleibenden vorigen Denkvorrat bestimmt ist (POTEBNJA 1862, СХІII: 118). In diesem Fragment gibt es keinen Bestandteil, der mit der Konzeption Kants (mit ihrem Apriorismus, Betrachtung der Sprache als eines rein äußeren Kommunikationsmittels, These von der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens, Auffassung des Wortschatzes als bloßer Materie der Sprache, Sprachkritik usw.) vereinbar wäre. Nicht zufällig begegnen mit der Zeit bei Potebnja auch die äußer- lichen Ähnlichkeiten zu Kants Ausdrucksweise immer seltener. Bezeichnender- weise hat Potebnja in seiner späten Periode gar nicht auf den Anspruch Max Müllers reagiert, eine Sprachtheorie auf der Grundlage der Philosophie Kants aufzubauen (vgl. MÜLLER 1888: 114, 436–437), obgleich er insgesamt das Werk dieses Autors aufmerksam verfolgte und sich von ihm oftmals zu neuen eigen- ständigen Überlegungen inspirieren ließ. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er bis dahin jegliches Interesse für die betreffenden Ansichten Kants verloren. Es ist also kaum angebracht – nicht einmal mit Einschränkungen – Potebnja als einen Kantianer im Bereich der Sprachphilosophie zu betrachten.

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