Das BUCH der VERMUTUNGEN.

Marco Polo – Eine Legende und deren Weltbeschreibung am Prüfstand aktueller Forschungspositionen.

DIPLOMARBEIT

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Markus Robert HAUSMANN

am Institut für Geschichte Begutachter: Ass.-Prof. Mag. Dr. phil. Johannes Giessauf

Graz, Dezember 2013

Für mich. Für meine geduldige Familie. Für die (Nach-)Welt und deren Bücherregale.

„Bei allem immanenten Interesse an Marco Polos Buch mag man doch zweifeln, ob es über Generationen hinweg auf viele Leser solch anhaltende Faszination ausgeübt hätte ohne die schwierigen Fragen, die es stellt. Es ist ein großartiges Werk voller Rätsel, wobei wir im Vertrauen auf das menschliche Wahrheitsstreben glauben, dass es zu jedem Rätsel eine Lösung gibt.“

(HENRY YULE, The Book of Ser Marco Polo)

INHALTSVERZEICHNIS i. | MARCO SEI DANK! 5

I. | PROLOG – EINLEITUNG 6

II. | WER WAREN DIE POLOS? 11

III. | ZWEI SAGENHAFTE REISEN 19

IV. | KONTROVERSIELLE AUTORSCHAFT 37

V. | KOMPLEXITÄTEN DER ÜBERLIEFERUNG 44

V. I. | DIE FAMILIEN DER HANDSCHRIFTEN 44

V. II. | DISKUSSION UND FORSCHUNGSTENDENZEN 49

VI. | KOHÄRENZPROBLEME DES „ITINERARS“ 55

VI. I. | EIN GEO-ETHNOGRAPHISCHES DICKICHT 55

VI. II. | CHINESISCHE NAMEN IM PERSISCHEN KLEID 60

VII. | VERGESSENE ZIVILISATIONS-/KULTURASPEKTE 64

VII. I. | SCHRIFTLOSE DRUCKWERKE 67

VII. II. | VERSCHMÄHTE AUFGÜSSE 71

VII. III. | VON EINGEBUNDENEN FÜßEN UND KORMORANEN 73

VII. IV. | DIE ÜBERSEHENE GROßE MAUER 78

VIII. | EINE BEEINDRUCKENDE FÜLLE AN FAKTEN 83

IX. | VERMEINTLICHE ÄMTER UND AUFGABEN 96

IX. I. | DIE SELBSTERNANNTEN BELAGERUNGS-EXPERTEN 96

IX. II. | RÄTSELHAFTE GOUVERNEURSWÜRDEN 99

IX. III. | EIN JUGENDLICHER EMISSÄR & SEINE DIPLOMATEN 105

X. | DAS SCHWEIGEN DER QUELLEN 112

XI. | EPILOG – ZUSAMMENFASSUNG 117

XII. | LITERATURVERZEICHNIS 121

XII. I. | PRIMÄRLITERATUR 121

XII. II. | SEKUNDÄRLITERATUR 122

i. | MARCO SEI DANK! Zehn Jahre lang studiere ich nun schon, was wohl auf die amorphe Angst vor Verantwortung(en), das Peter Pan-Syndrom eines ewig Jugendlichen und meine unbän- dige Hingabe zu einer (pseudo)hedonistischen Lebensführung zurückzuführen ist. Ich wollte stets das Sandkorn im Getriebe sein und meiner (mich charakterisierenden) bürgerlichen Sozialisierung entfliehen. Zudem erlegte ich meiner Seele den malträtierenden Druck auf, dass eine Diplomarbeit ein revolutionäres Opus Magnum von wissenschaftlicher Bedeutung sein müsse. Diese Zeilen wollen nicht eine Rechtfertigung artikulieren, sondern als Reflexion eines bemühten Gegen-den-Strom- Schwimmers gelesen werden, der als idealistischer Träumer seinen Platz in der Gesell- schaft erst finden muss. Studieren soll nicht wiederkäuen sein, sondern darf auch amüsieren und muss – wie ich meine – einen selbstverantworteten Prozess darstellen, denn ich will ja Lehrer werden und nicht leerer. Zwar ist diese Identitätsfindung nach wie vor nicht abgeschlossen und meine aus vielfachen Interessen resultierende innere Zerrissenheit kaum befriedet, aber das psychosomatische Leiden hervorrufende Damoklesschwert eines nicht abgeschlossenen Studiums scheint nun endlich bezwun- gen worden zu sein. Dass ich mich meinen Dämonen gestellt habe, ist schlussendlich vor allem der faszinierenden Thematik des MARCO POLO zu verdanken, welche mir auf- grund einer im Frühling dieses Jahres konsumierten arte-Dokumentation in Herz, Hirn und Iris flimmerte. Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Vater für dessen Ge- duld, das in mich gesetzte Vertrauen sowie das grundsätzliche Ermöglichen meines magistralen Marathons. Dank gebührt auch meiner Mutter, die den „verlorenen Sohn“ im Rahmen des Schreibprozesses nicht nur in ihre umsorgenden Arme nahm, sondern mich auch immer wieder zur Weiterarbeit anspornte. Bedanken will ich mich auch bei meiner Schwester, deren hocherfreutes Diplomprüfungs-Gesicht ein in mir aufkeimen- des „neidisches“ Sehnsuchtsgefühl zeitigte und mich an den Arbeitstisch regelrecht zwang. Schlussendlich wäre dies alles nicht möglich gewesen, hätte ich in Ass.-Prof.

Mag. Dr. phil. JOHANNES GIESSAUF nicht einen menschlich wie fachlich außerordent- lich herausragenden Diplomarbeits-Betreuer gefunden, der mich im Zuge der sechsmonatigen Werksentstehung tatkräftig unterstützte und meinen diesbezüglichen Zweifeln stets mit balsamierendem Humor begegnete.

5 I. | PROLOG – EINLEITUNG

MARCO POLO ist heute nahezu der einzige Fernostasienreisende des Mittelalters, dem aufgrund seiner uns überlieferten Beschreibung des asiatischen Kontinents ein welt- weiter Bekanntheitsgrad zugeschrieben werden kann. Als eines der wenigen großen Menschheitsbücher wusste (und weiß) dieses seit mehr als 700 Jahren nicht nur von fernöstlichen Naturräumen, Königreichen und Menschen, ihren kulturellen Leistungen und Bräuchen zu berichten, sondern auch das außergewöhnliche Leben eines veneziani- schen Kaufmannssohnes zu skizzieren, der sich laut eigenen Angaben als 17-Jähriger in das von der mongolischen Yuán-Dynastie (1271-1368) beherrschte „Reich der Mitte“ begab, dort zum Berichterstatter sowie Vertrauten des chinesischen Kaisers reifte und den gepflasterten Kai seiner heimatlichen Lagunenstadt erst nach vierundzwanzig- jähriger Abwesenheit wieder betrat.

Bereits zu seinen Lebzeiten bezweifelten einige Zeitgenossen die Wahrhaftigkeit seiner Schilderungen, zumal deren merkwürdig-fremdartigen Inhalte die menschliche Vorstellungskraft des 14. Jahrhunderts überstiegen und jegliche Grundfesten der selbstverständlichen Überzeugungen zumindest zu irritieren vermochten. Auch wenn man dem Venezianer im Laufe der Jahrhunderte zu manchen Zeiten Glauben schenkte, so artikulierte sich besonders seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das wissenschaftliche Misstrauen und wollte vor allem aufgrund der mit Schwierigkeiten verbundenen Identifizierung der von ihm verzeichneten Ortsnamen sowie der unerwähnt gebliebenen Großen Chinesischen Mauer nicht verstummen. Weder konnten die in der Folge entstandenen – und ausufernd kommentierten – Editionen seiner Asien-Beschreibung jene Skepsis befrieden, noch gelang es der zuhauf veröffentlichten Sekundärliteratur1, die undurchsichtige Problematik restlos zu (er)klären. Vielmehr vermuteten einige

POLO-Forscher des 20. Jahrhunderts, allen voran die englische Sinologin FRANCES

WOOD, dass MARCO nie in China gewesen sei und seine Informationen von einer nicht zu eruierenden, wahrscheinlich persischen Quelle stammen müssten. Ihre 1995 erschie-

1 Kein anderes Themenfeld des Mittelalters wurde derart häufig debattiert wie auch kommentiert. Die diesbezüglich 1986 zusammengetragene Bibliographie des japanischen Historikers HIROSHI WATANABE beinhaltet über 2300 Artikel, Monographien und Sammelbände, welche alleine in den europäischen Sprachen veröffentlicht wurden. Siehe WATANABE, HIROSHI (Hg.): Marco Polo Bibliography, 1477-1983. Tokyo: The Toyo Bunko 1986.

6 nene Monographie „Did Marco Polo go to China?“2 sorgte in der akademischen Welt für eine Flut an Publikationen und eine (wiederholte) Intensivierung der mittels verschiedenster Argumentationen und Interpretationen geführten Kontroverse.

Diesem Diskurs widmet sich die in der Folge ausgebreitete Diplomarbeit, welche auf- grund meiner fehlenden sinologischen Expertise keine Neubewertung der Thematik vornehmen kann,3 sondern sich einer Darbietung der aktuellen Forschungspositionen verschreiben will. Das vorrangige Ziel meiner Ausführungen besteht also in einer Art vergleichender Literaturschau, die unter Einbeziehung der mir zugänglichen bzw. verständlichen Veröffentlichungen versuchen soll, den durch die WOOD’schen (Hypo)Thesen gezeitigten Nachhall an Entgegnungen bzw. Debatten festzuhalten und derart den Status Quo der POLO-Forschung abzubilden. Hierbei soll und kann es nicht um die Lösung eines Rätsels gehen, sondern um die Entflechtung und Darstellung des zu Klärenden. Um dieser Ambition annähernd zu genügen und ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, wurde ein beträchtliches Maß an Sekundärliteratur konsul- tiert, welches sich nicht auf die in den letzten zwanzig Jahren erschienenen

Forschungsergebnisse des beispielsweise von STEPHEN G. HAW, HANS-ULRICH VOGEL,

IGOR DE RACHEWILTZ, MARINA MÜNKLER, PHILIPPE MÉNARD, JOHN LARNER und

ALVARO BARBIERI repräsentierten Westens beschränkt, sondern auch die (ins Englische

übersetzten) Schriften einiger chinesischer Wissenschaftler – vor allem PENG HAI,

YANG ZHIJIU, CAI MEIBIAO und GU WEIMIN – zu Wort kommen lässt.

Da die um MARCO POLO sich rankenden Vermutungen zahlreiche Fragen aufwerfen, musste ich notgedrungen eine inhaltliche Auswahl treffen, welche sich dennoch be- müht, die zentralen Inhalte der von unterschiedlichen Standpunkten bzw. Fachwissen- schaften ausgefochtenen Diskussion zu bündeln. So widmet sich die vorliegende

Diplomarbeit anfänglich der umstrittenen Ahnenreihe der Familie POLO und versucht die historische Person des MARCO POLO anhand einiger Lebenszeugnisse in einen größeren Kontext einzubetten. Ferner setzt sich dieser Abschnitt zum Ziel, den beruf-

2 Vgl. WOOD, FRANCES: Marco Polo kam nicht bis China. Aus dem Englischen von BARBARA REITZ und BERNHARD JENDRICKE. München: Piper 1998. 3 Nach meinem Dafürhalten gestaltet sich eine gleichsam kritische wie umfassende Untersuchung der überaus vielschichtigen und detailverliebten Materie als schwieriges und für mich als Nicht- Chinakundler beinahe unmögliches Unterfangen, welches nicht nur die Kenntnis einiger arabisch- asiatischen Sprachen voraussetzt, sondern einem auch Kompetenzen in den mittelalterlichen romanischen Sprachen abverlangt.

7 lichen Wirkungskreis der Familie zu definieren und zu diskutieren, ob die POLOS dem venezianischen Patriziat angehörten oder ihnen eine andere bedeutende (politische) Stellung zugeschrieben werden kann. In einem nächsten Schritt will die Arbeit den der 4 Asien-Beschreibung vorangestellten Prolog (G: I-XIX) untersuchen, welcher in neun- zehn Kapiteln die beiden China-Reisen der POLOS schildert und auch über das Leben des berühmten Protagonisten Wesentliches zu berichten weiß. Die inhaltliche Analyse dieses narrativen Vorworts fasst den Gehalt von letzterem zusammen und soll unter Zuhilfenahme verschiedener Forschungsmeinungen sowohl den (möglichen) chrono- logischen Rahmen der Reiseunternehmungen als auch deren geographische Verortung beleuchten. Des Weiteren werden sämtliche der im Prolog genannten Absichten, Hand- lungen sowie Personen mit erklärenden Anmerkungen versehen und hinsichtlich ihrer (historischen) Plausibilität überprüft.

Mit der Urheberschaft und den Entstehungsumständen des Reisetextes beschäftigt sich das folgende Teilstück meiner universitären Abschlussarbeit. Der von MARCO diesbezüglich formulierte Hinweis, wonach er als Gefangener der Genuesen einem pisanischen Schriftsteller das Buch der Wunder5 diktiert habe, soll einer umfassenden Inspektion unterzogen werden, welche in der Folge sowohl die Frage nach dem „wann“ und „wo“ der Inhaftierung zu beantworten, als auch den Zeitraum der Werkgenese zu begrenzen versucht. Nicht zuletzt gilt es, die in diesem Prozess eingenommene Rolle des Prosaisten RUSTICHELLO DA PISA (13. Jh.) zu hinterfragen und gegebenenfalls des- sen Einfluss auf die uns überlieferten Textvarianten aufzuzeigen. Ein weiteres Kapitel verschreibt sich der Komplexität dieser handschriftlichen Tradierung, welche ein Konglomerat von etwa einhundertfünfzig verschiedenen Manuskripten umfasst und in sechs voneinander zu unterscheidende Gruppen unterteilt werden kann. Um das

4 Die in Klammern gesetzten römischen Zahlen bzw. arabischen Ziffern verweisen auf ein Kapitel bzw. eine spezielle Seite jener deutschsprachigen Übersetzung des POLO’schen Buches, welche ELISE GUIGNARD (G) basierend auf der franko-italienischen Fassung des LUIGI FOSCOLO BENE- DETTO und einigen Passagen des lateinischen Zelada-Manuskripts zusammengestellt hat. Siehe GUIGNARD, ELISE (Hg.): Marco Polo. Die Wunder der Welt. Il Milione. Übersetzung aus altfranzösi- schen und lateinischen Quellen und Nachwort von ELISE GUIGNARD. Frankfurt am Main; Leipzig: Insel 2009. (= insel taschenbuch. 2981.) 5 Aufgrund der leicht zu flektierenden Wörter habe ich mich im Zuge meines Schreibprozesses dazu entschieden, den POLO’schen Text bevorzugt als Buch der Wunder zu bezeichnen. Diese grammati- kalisch einfacher einzuwebende Betitelung geht auf eine in der Pariser Nationalbibliothek aufbe- wahrte Prachthandschrift (Livre des Merveilles) zurück und soll die von anderen Manuskripten über- lieferten Titel weder herabwürdigen noch verschweigen. Über die Familien der Handschriften und deren Aufschriften informiert das Kapitel V.I. der hier dargebotenen Diplomarbeit.

8 Überlieferungs-Geflecht einigermaßen zu überblicken, wird jede dieser Handschriften- familien hinsichtlich ihrer (mannigfaltigen) Charakteristika vorgestellt, deren bedeu- tendste Variante genannt und auf die maßgeblichen Editionen der jeweiligen Manu- skripttradition verwiesen. Anschließend sollen unterschiedliche Forschungspositionen bzw. -thesen präsentiert werden, welche die Handschriften nach ihrer Nähe zum ursprünglichen Originaltext zu hierarchisieren probieren und diverse Wechselbezie- hungen zwischen den einzelnen Gruppen propagieren.

6 Der fünfte Abschnitt setzt sich mit dem standardisierten Aufbau der POLO’schen Weltbeschreibung auseinander und bemüht sich um eine gattungsspezifische Einord- nung des enzyklopädisch anmutenden Berichts. Darüber hinaus soll eruiert werden, ob das geo-ethnographische Dickicht und die ihm innewohnenden Toponyme als exakt einzustufen sind, eine Reiseroute die Struktur der 215 Buchkapitel diktiert und dem/n

Verfasser(n) verschriftlichte Supplementär-Aufzeichnungen (des MARCO) oder eine persische Quelle zur Seite gestanden haben könnten. Da im Buch der Wunder etliche Ortsbezeichnungen bzw. Eigennamen in ihrer persischen Umschreibung dargeboten werden, muss auch die in diesem Kontext nicht unerhebliche Frage nach den sprach- lichen Fähigkeiten des Fernostreisenden verhandelt werden. Anhand eines weiteren Teilstücks setzt sich meine Diplomarbeit mit der unterlassenen Erwähnung von chinesi- schen Zivilisations- und Kulturaspekten auseinander und versucht derart, die diesbezüg- lich seitens der Wissenschaft getroffenen Rückschlüsse bzw. Erklärungsmuster zu präsentieren. Stellvertretend für diese Nichtberücksichtigungen sollen sechs „verges- sene“ Auffälligkeiten – die exotisch anmutende chinesische Schrift, der im damaligen Europa noch unbekannte Buchdruck, das rituelle Trinken von Tee, die eingebundenen Füße chinesischer Frauen, die traditionelle Kormoranfischerei und nicht zuletzt die unübersehbare Große (Chinesische) Mauer – einer multiperspektivischen Betrachtung unterzogen werden, welche sich anschickt, verschiedene Begründungen für das rätsel- hafte (Ver)Schweigen der einzelnen Thematiken zu offerieren. Um die Glaubwürdigkeit des POLO’schen China-Aufenthalts aus einer anderen (inhaltlichen) Perspektive zu hinterfragen, versammelt das nächste Kapitel all jene im Buch der Wunder geschilder- ten Behauptungen, welche sowohl von Quellen unterschiedlichen Ursprungs als auch

6 Wenn ich vom POLO’schen Werk schreibe oder den auf uns gekommenen Reisetext dem Venezianer zuschreibe, so passiert dies aus stilistischer Bequemlichkeit und soll nicht suggerieren, dass ich mir der verschiedenen Manuskript-Stränge nicht bewusst wäre und den als Ghostwriter agierenden RUSTICHELLO ignoriere. Siehe Kapitel IV. der vorliegenden Abschlussarbeit.

9 seitens der modernen Forschung als präzise Fakten bestätigt werden können. Diese Tat- sachen betreffen nicht nur historisch-militärische Ereignisse, Personenbeschreibungen, zahlreiche Aspekte des kaiserlichen Hof-Lebens, das Armee- bzw. Justizwesen sowie die Schifffahrt, sondern referieren auch über verschiedene Religion(sausübung)en, das chinesische Brauchtum, die Produktion bzw. Gewinnung von (Natur-)Gütern und über diverse Zahlungsmittel.

Der nächste Abschnitt verschreibt sich jenen bedeutsamen Aufgaben, welche MARCO im Auftrag des mongolischen Großkhans KHUBILAI (1215-1294) (angeblich) ausgeführt haben soll. Unter anderem behauptet das Buch der Wunder, dass er als Belagerungs- Experte entscheidend zur Kapitulation von Xiāngyáng7 beigetragen sowie für drei Jahre als Gouverneur von Yángzhōu fungiert habe und schließlich als Emissär des Mongolen- herrschers auf etliche Erkundungsreisen entsandt wurde. Nicht zuletzt sollen die POLOS auch als von Papst und Mongolen eingesetzte Diplomaten in politisch-religiöse Botschaftsreisen involviert gewesen sein. Diese von der Wissenschaft hinsichtlich ihres Plausibilitätsgrades unterschiedlich bewerteten Ämter und Missionen wollen in der Folge eine sämtliche Forschungspositionen bzw. -interpretationen umfassende Darstel- lung erfahren und so Licht ins Dunkel jener siebzehn Jahre bringen, während derer

MARCO dem Mongolenoberhaupt in dienender Weise zur Verfügung gestanden haben soll. Da eine derartige Vertrauensstellung auch in der zeitgenössischen Historiographie festgehalten worden sein müsste, widmet sich mein abschließendes Kapitel der wohl entscheidenden Fragestellung, ob die chinesisch-mongolischen Quellen jener Zeit von einem reisenden Berichterstatter namens MARCO POLO zu erzählen wissen und welche Aussagekraft bzw. Interpretation selbst einer vermeintlich ergebnislosen Spurensuche beigemessen werden kann.

7 Chinesische Eigennamen, Begriffe und Ortsbezeichnungen werden zumeist anhand des auf dem lateinischen Alphabet basierenden Pīnyīn-Systems umschrieben, welches als offizielle Romanisie- rung des Hochchinesischen im Jahre 1957 vom Staatsrat der Volksrepublik China beschlossen wurde. Die Transkription der mongolischen Namen und Begriffe orientiert sich an der von KARÉNINA KOLLMAR-PAULENZ dargebotenen uiguro-mongolischen Schreibweise. Im Falle von bekannten Namen und Begriffen (qan) beließ ich es jedoch bei der gängigen Schreibweise (). Vgl. KOLLMAR-PAULENZ, KARÉNINA: Die Mongolen. Von Dschingis Khan bis heute. München: Beck 2011. (= C.H. Beck Wissen. 2730.)

10 II. | WER WAREN DIE POLOS? Durch die vor allem in Zusammenhang mit den Kreuzzügen des 11./12. Jahrhunderts stehende Expansion der Seehandelsrepublik Venedig hatte sich diese nicht nur in der Levante etablieren, sondern auch in mehreren Städten der eroberten Gebiete Palästinas Kaufmannsniederlassungen gründen können. Im Zuge des ursprünglich zur Einnahme Ägyptens ausgerufenen Vierten Kreuzzuges (1202-1204) gelang den Venezianern schließlich die Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen: Unter der Führung des venezianischen Dogen ENRICO DANDOLO (1107-1205) eroberten die Kreuzfahrer das byzantinische Konstantinopel (1204) und installierten nach dessen Plünderung das als Lehnsverband konzipierte Lateinische Kaiserreich (Imperium Romaniae; 1204-1261), welches im Wesentlichen das Gebiet der Bosporus-Metropole sowie Teile Thrakiens, Bithyniens und Nordwest-Kleinasiens umfasste. Die nun geöffnete Durchfahrt zum Schwarzen Meer lockte viele venezianische Kaufleute nach Konstantinopel, wo die Zahl an venezianischen Kaufhäusern in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bald nicht wesentlich geringer als in der Lagunenstadt selbst war. Von dort aus dehnten die Venezianer ihren Handel bis auf das auf der Halbinsel Krim gelegene Soldaia (Sudak) aus, konnten derart den ägyptischen Zwischenhandel für Waren aus dem Osten teil- weise umgehen und ihre Gewinne maßgeblich steigern, zumal die vom Schwarzen Meer ausgehenden (Fern-)Handelsrouten – so etwa auch ein Zweig der berühmten Seiden- straße – durch ganz Zentralasien bis nach China, Indien und zum persischen Golf reich- ten.8

Unter venezianische Herrschaft geriet in der Folge auch die Insel Kreta, welche auf- grund ihrer sicheren Häfen alsbald zum Angelpunkt des entstehenden ägäischen Kolonialreichs wurde und nach Meinung der deutschen Literaturwissenschaftlerin

MARINA MÜNKLER auch den ersten Hinweis auf den venezianischen Hintergrund der

Kaufmannsfamilie POLO bereitstellen könnte: Einem gewissen DOMENICO POLO DE SAN

MARCO wurde 1211 ein Lehen (cavalleria) auf der griechischen Mittelmeerinsel 9 zugesprochen und 1232 ein ebensolches auch einem PIERO POLO. Von einer unklaren

POLO’schen Ahnenreihe spricht hingegen der italienische Historiker GIOVANNI

ORLANDINI, der anhand seines gründlichen Studiums der im venezianischen Staatsar-

8 Vgl. MÜNKLER, MARINA: Marco Polo. Leben und Legende. München: Beck 1998. S. 27-30. (= C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe. 2097.) –– Zur Geschichte Venedigs im 13. Jh. siehe NECKER, KARL-HARTMANN: Dandolo: Venedigs kühnster Doge. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 1999. 9 Vgl. IBIDEM, S. 33.

11 chiv (Archivio di Stato di Venezia) aufzufindenden Urkunden die POLOS als eine im Fernhandel aktive Kaufmannsfamilie beschreibt, welche erst ab der Mitte des 13. Jahrhunderts in Venedig Spuren hinterlassen hat. Seinen Schlussfolgerungen zufolge, kam die Familie ursprünglich von den Häfen des Nahen Ostens und ließ sich erst nach dem Niedergang des Lateinischen Kaiserreichs (1261) dauerhaft in der Dogenstadt nie- 10 der. Der kroatische Historiker ŽIVAN FILIPPI geht hingegen davon aus, dass die

POLO’schen Vorfahren von der damals unter venezianischem Protektorat stehenden Insel Korčula (ital. Curzola) stammten und sich bereits mit dem beginnenden 11. Jahrhundert in Venedig niedergelassen haben.11 Einigermaßen gestützt wird diese These von einer aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammenden Handschrift der British

Library (ms. 12475), welche zwar tatsächlich das südliche Dalmatien als POLO’sche Heimat vermerkt und von einer 1033 erfolgten Übersiedelung in die venezianische Lagunenstadt berichtet, jedoch das südkroatische Šibenik (ital. Sebenico) als Ausgangs- ort der Emigration bestimmt.12 Da aber die in späteren Archiven ausgehobene Erwäh- nung des Familiennamens POLO keine Garantie für eine tatsächliche genealogische

Beziehung darstellt, so der französische Literaturwissenschaftler PHILIPPE MÉNARD, ist von der Konstruktion einer unbelegten Abstammung Abstand zu halten und die Unklar- heit bezüglich der ursprünglichen Heimat zu akzeptieren.13

Die Bestände des venezianischen Staatsarchivs belegen also nur, dass die Familie des berühmten Asienreisenden im 13. Jahrhundert in Venedig ansässig war/wurde und kön- nen folglich keine stichhaltige Auskunft bezüglich ihrer Abstammung formulieren. Die einigermaßen gesicherte Genealogie der Familie beginnt mit MARCOS Großvater, dem im Venedig des frühen 13. Jahrhundert lebenden ANDREA POLO, welcher der Parochie San Felice angehörte und drei Söhne sein Eigen nennen konnte. Dessen erstgeborener

Sohn, der „ältere“ MARCO (DI SAN SEVERO) (gest. 1280), bezeichnete sich in seinem

10 Vgl. ORLANDINI, GIOVANNI: Marco Polo e la sua famiglia. In: Archivio Veneto Tridentino, Vol. 9 (1926), S. 1-68. 11 Vgl. FILIPPI, ŽIVAN: Korcula and the Polo Family. Online im Internet: URL: http://www.korcula.net/mpolo/mpolo2.htm (Stand 2013-12-17). 12 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 156f. –– Von der ursprünglichen Heimat in Šibenik (ital. Sebenico) ist auch der deutsche Geograph DIETMAR HENZE überzeugt. Siehe HENZE, DIETMAR: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. 5 Bände. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1978-2004. Bd. IV, S. 164. 13 Vgl. MÉNARD, PHILIPPE: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise. Aus dem Französischen von BIRGIT LAMERZ-BECKSCHÄFER. Darmstadt: Primus 2009. S. 13.

12 Testament14 vom 27. August 1280 als „ego Marcus condam de Constantinopoli, nunc habitator in confinio sancti Severi“15, war also vermutlich einer jener venezianischen Kaufleute, die sich in Konstantinopel mit einem Handelskontor niedergelassen hatten, aber nach dem Zerfall des Lateinischen Kaiserreichs (1261) und der damit verbundenen Vertreibung der Venezianer, wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Seine letzt- willige Verfügung offenbart aber nicht nur die Aufgabe einer zeitweiligen Nieder- lassung in Konstantinopel, sondern weiß auch von einer fortbestehenden Handelsfiliale in Soldaia (Sudak) zu berichten, welche von seinem ältesten Sohn und Haupterben

NICOLÒ geleitet wurde. Als weitere Erben werden seine Tochter MAROTA (oft auch

MAROCA) und sein (berühmter) Neffe MARCO genannt, während seine beiden Brüder namens NICOLAO (DI SAN GIOVANNI CHRISOSTOMO; gest. vor 1300) und MATTEO

(venezianisch MAFFEO; gest. vor 1318) als Testamentsvollstrecker ausgewiesen werden. Zudem erfährt man von der Existenz eines im Fernhandel operierenden Familienunter- nehmens (fraterna compagnia), welches die drei Gebrüder POLO gemeinsam unterhiel- ten. Dessen Hauptsitz stellte nach Ansicht des israelischen Mediävisten DAVID JACOBY die bereits erwähnte und wohl nicht vor 1260 gegründete Handelsniederlassung in

Soldaia (Sudak) dar, wo der „ältere“ MARCO (DI SAN SEVERO) als (sesshafter) 16 Geschäftsführer agierte, während seine Brüder als reisende Partner fungierten. Wäh- rend MATTEO offenbar sein Leben lang Junggeselle blieb, heiratete NICOLAO zweimal: Aus der ersten Ehe mit einer namenlosen Gattin entsprang der später zu Ruhm reisende

MARCO, der nach dem Tod seiner Mutter und der darauffolgenden erneuten Ehe- schließung seines Vaters – vermutlich mit FIORDELISA TREVISAN – einen Halbbruder namens MAFFEO zur Seite gestellt bekam, welcher nicht nur im Testament des „älteren“

MARCO (DI SAN SEVERO) vermerkt wird, sondern auch seinerseits einen letzten Willen im Jahre 1300 verfasste. Hinzu kommen noch zwei weitere (uneheliche) Halbbrüder, die laut venezianischem Staatsarchiv für das Jahr 1321 bestätigt werden können und die 17 Namen STEFANO und GIOVANNINO trugen.

14 Dieses in lateinischer Sprache abgefasste Testament findet sich abgedruckt in MOULE, ARTHUR CHRISTOPHER; PELLIOT, PAUL (Hgg.): Marco Polo. The Description of the World. 2 Bände. London: George Routledge & Sons Limited 1938. Bd. I, S. 523-525. 15 IBIDEM, Bd. I, S. 523. 16 Vgl. JACOBY, DAVID: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account: Some New Insights. In: Mediterranean Historical Review, Vol. 21, Number 2 (2007), S. 194-197. 17 Vgl. EMERSLEBEN, OTTO: Marco Polo. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002. S. 16f. (= Rowohlts Monographien. 50473.)

13 Ob die Familie POLO eine adelige war, vermag die Wissenschaft bis in die Gegenwart nicht zu klären, wenngleich der Begriff noble (edel, adelig) in einigen Abschriften von

MARCOS Buch durchaus vorkommt. Allerdings betiteln etwa drei frühe französische

Handschriften der B-Familie (B3, B4, B5), welche sich als erste – von MARCO selbst angefertigte – Kopien der Urfassung bezeichnen, den Seefahrer lediglich mit dem realistischen Attribut eines „Bürgers und Einwohners der Stadt Venedig“18. Der im Buch der Wunder für die Familienmitglieder formulierte Ehrentitel Messire (Messer) signalisiert laut PHILIPPE MÉNARD eine respektvolle Ansprache, entspricht aber keinem abendländischen Adelsprädikat. Zudem gehörte keiner der POLOS weder vor noch nach ihrer Rückkehr aus Ostasien dem Großen Rat von Venedig an, der dem uralten Stadt- adel der Patrizier vorbehalten war und von 1297 an ohnehin keine neu(reich)en Rats- 19 herren sowie deren Aufstieg mehr zuließ. Zwar wurde ein gewisser NICOLÒ POLO (DI

SAN GEREMIA) 1381 Mitglied des Maggior Consiglio, jedoch konnte trotz der offensichtlichen Namensgleichheit keine eindeutige Verbindung zwischen dem der Pfarre San Geremia angehörenden Ratsmitglied und der reisenden Kaufmannsfamilie aus San Giovanni Chrisostomo konstruiert werden. 20 Um ein Mitglied der sehr angesehenen POLOS aus San Geremia handelt es sich wohl auch im Falle des in einem venezianischen Ratssitzungsprotokoll des Jahres 1302 verzeichneten MARCO POLO, welcher unter der Betitelung als Edelmann (providis vir) von einer Geldstrafe freige- sprochen wird.21

Wenn die im Asienhandel tätige Familie POLO auch nicht zu den (politisch) wirklich bedeutenden Familien der Lagunenstadt gehörte, so war sie eine jener mittleren Kaufmannsfamilien, welche mit ihren an der Schwarzmeerküste situierten Kontoren von der Öffnung des asiatischen Kontinents für europäische Händler profitierte und damit doch ein beachtliches, wenn auch nicht überwältigendes Vermögen erzielte.

Einzelheiten über die Handelsgeschäfte der POLOS sind nicht zu eruieren, jedoch geht man in der POLO-Forschung aufgrund der charakteristischen Produkte des Schwarz- meerhandels von einer Art Gemischtwarenhandel aus, welcher Hölzer, Stoffe, Salz und vielleicht auch Edelsteine und Gewürze umfasste.22 Auch die wenigen vorhandenen

18 MENARD, PHILIPPE (Hg.): Marco Polo, Le Devisement du Monde. Band 1. Genf: Droz 2001. S. 115. (= Textes littéraires français. 533.) 19 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 16. 20 Vgl. MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. II, S. 17ff. 21 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 157f. 22 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 34-36.

14 POLO’schen Dokumente, welche sich zumeist als Gerichtsakten gescheiterten Trans- aktionen widmen, wissen von unterschiedlichen Handelsgütern zu berichten: Beispiels- weise verklagte MARCO 1311 den Händler PAOLO GIRARDO, da ihm jener über einen 23 von MARCO finanzierten Posten Moschus keine Abrechnung vorgelegt hatte und 1319 erlaubte der Große Rat (Maggior Consiglio) von Venedig einem Halbbruder (STEFANO) des Fernostreisenden die Ausfuhr von Getreide zur Kompensation seiner untergegange- nen Schiffsladung.24

In ähnlicher Weise berichtet das am 6. Februar 1310 aufgesetzte Testament25 von

MARCOS Onkel MATTEO, dass ihnen 1295 Teile ihrer mittransportierten Waren auf der Rückreise in den europäischen Westen bei Trapezunt (Trabzon)26 am Schwarzen Meer geraubt worden waren. Da deren Wert mit der gewaltigen Summe von 4000 byzantini- schen Gold-Hyperpyra angegeben wird und der französische Literaturwissenschaftler

PHILIPPE MÉNARD den Preis zweier benachbarter Häuser im Genuesenviertel Konstantinopels anno 1281 mit neunzig Hyperpyra beziffert, kann man durchaus von 27 einem stattlichen POLO’schen Vermögen ausgehen. Ein solches – wohl verbunden mit einem gewissen Ansehen – suggeriert auch die 1312 ausgestellte Abrechnung über die erhebliche Mitgift von MARCOS zukünftiger Gattin DONATA BADOER (gest. nach 1333), welche dem venezianischen Patriziat angehörte und wohl kaum mit einem nicht betuch- ten Kaufmann unadeliger Herkunft verheiratet worden wäre.28 Gemäß den veneziani- schen Grundbüchern wurden die POLO’schen Geldmittel vor allem in städtische Immobilien investiert: Gegen Ende des 13. Jahrhunderts erwarben die aus China zurückgekehrten POLOS – unter der gleichzeitigen Aufgabe des gemeinschaftlichen Familienbesitzes in San Severo – gemeinsam einige benachbarte Häuser wie auch Grundstücke in der Parochie San Giovanni Chrisostomo.29

23 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 178. 24 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 34. 25 Abgedruckt in MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. I, S. 529-535. 26 Trapezunt ist die deutsch-historische Bezeichnung für das heutige Trabzon im Nordosten der Türkei, welches die östlichste große Hafenstadt am Schwarzen Meer darstellt. 27 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 185. 28 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 34. 29 Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 199. –– Die diesbezüglichen Dokumente finden sich in GALLO, RODOLFO: Nuovi documenti riguardanti Marco Polo e la sua famiglia. In: Atti dell'Istituto Veneto di Scienze, Lettere e Arti, Vol. 116 (1957-1958), S. 309-311; 317-322.

15 Abgesehen von Vermutungen und Spekulationen wissen wir über das Leben und die Person des venezianischen Weltenbummlers nur wenig: Das Wesentliche des ohnehin nur Geringen erfahren wir aus dem Prolog (G: I-XIX) seiner Reisedarstellung, in wel- cher der Knabe in jenem Augenblick eingeführt wird, als sein Vater NICOLAO und des- sen Bruder MATTEO 1269 von ihrer ersten Asienreise zurückkehren und erfahren, dass

NICOLAOS mittlerweile verstorbene Gattin einen fünfzehnjährigen Sohn namens MARCO hinterlassen hat. (G: X) MARCOS genaues Geburtsdatum lässt sich wie auch dessen Geburtsort30 urkundlich nicht fixieren, wird jedoch aufgrund des 1269 vermuteten Ein- treffens der Gebrüder POLO allgemein auf das Jahr 1254 zurückgerechnet und in Vene- 31 dig vermutet. Bezüglich MARCOS Kindheit, dessen Erziehung und der nach seiner vermeintlichen China-Reise (1271-1295) und der darauf folgenden Inhaftierung (ver- mutlich) in Venedig zugebrachten 25 Lebensjahre tappt die Forschung seit jeher im Dunkeln. Die erhaltenen Dokumente des venezianischen Staatsarchivs lassen jedoch vermuten, dass der Asienreisende (auch) nach seinem Fernost-Abenteuer in zahlreiche geschäftliche Unterfangen involviert war und vor allem dem Handel mit Moschus sein vorrangiges Interesse zukommen ließ.32

Präzise Informationen können hingegen bezüglich seines Ablebens formuliert werden, welches aufgrund der in seinem Testament33 vom 9. Januar 1324 geschilderten (körper- lichen) Krankheit und der von seiner Gattin bereits im Folgejahr getroffenen Nachlass-

Verfügungen noch 1324 erfolgt sein muss. MARCOS letzter Wille setzt also seine Frau

DONATA BADOER sowie die drei gemeinsamen Töchter FANTINA, BELLELLA und

MORETA als Testamentsvollstreckerinnen ein und regelt nicht nur die bei Verwandten, kirchlichen Institutionen und Klöstern ausstehende Begleichung von Schulden, sondern verfügt auch über Freilassung und finanzielle Unterstützung seines – im Buch der Wun- der nicht einmal indirekt erwähnten – Sklaven PIETRO TARTARO, welcher nach Ansicht der POLO-Forschung jedoch kein eindeutiges Indiz für MARCOS China-Aufenthalt dar- stellen kann, zumal man tatarische Haussklaven auch auf den zeitgenössischen Märkten 34 der Levante erwerben konnte. In weiterer Folge werden MARCOS Töchter als Univer-

30 Nach Ansicht von OTTO EMERSLEBEN ist es nicht auszuschließen, dass MARCO auf der kroatischen Insel Korčula (ital. Curzola) geboren wurde. Vgl. EMERSLEBEN: Marco Polo, S. 14. 31 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 18. 32 Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 201. 33 Veröffentlicht in MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. I, S. 30. 34 Dessen Testament von 1329 verzeichnet ihn als PETRUS SULIMAN. (Vgl. MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. I, S. 542) Aufgrund dieser christlich-muslimischen Namensverknüpfung muss es sich nach Ansicht der englischen Sinologin jedoch um einen Abkömmling des persischen Il-Khanats bzw. der

16 salerbinnen zu gleichen Teilen genannt und jene Bruderschaften wie auch frommen Gemeinschaften, denen der Kaufmannssohn Zeit seines Lebens angehört hat, mit Geldspenden versehen. Das lediglich die es gültig machenden Unterschriften zweier

Zeugen sowie des Priester-Notars tragende Testament ordnet schlussendlich MARCOs Beisetzung im Kloster San Lorenzo an, welches bereits seinen verstorbenen Vater

NICOLAO beherbergte, jedoch seit einer 1592 erfolgten Totalrenovierung keine 35 POLO’sche Grabstelle(n) zu offerieren weiß. Somit existiert neben der verschwunde- nen letzten Ruhestätte auch kein von MARCO in seiner eigenen Handschrift gesetzter Namenszug und auch das im Stadtviertel San Giovanni Chrisostomo erworbene Wohn- haus der Familie POLO vermag nicht an ihre berühmten Besitzer zu erinnern, da es 1596 einem Brand zum Opfer fiel,36 was zum Verkauf des von den Venezianern noch heute Corte del Milion bzw. Cà Polo genannten Grundstücks/Platzes führte, auf welchem schließlich 1677 das noch gegenwärtig zu besuchende (Opernhaus) Teatro Malibran errichtet wurde.37

Den letzten urkundlichen Rückschluss auf das Leben des Reisenden ermöglicht ein 38 1366 aufgesetztes Dokument , welches jenen Teil von MARCOS Besitztümern anführt, der an seine Tochter FANTINA gegangen war. Diese detaillierte Aufstellung von rund 200 Gegenständen beinhaltet unter anderem 7 kg an weißen Seidenkokons, 12 kg reine Seide sowie dieselbe Menge an Pferdehaar und belegt laut dem israelischen Mediävis- ten DAVID JACOBY die noch zum Zeitpunkt seines Todes gepflegten kommerziellen

Aktivitäten, zumal die Aufbewahrung dieser Mengen wohl kaum für MARCOS persön- lichen (Haushalts-)Gebrauch erfolgt war.39 Das Inventar enthält des weiteren auch einige Objekte, welche ALVARO BARBIERI als Hinweise für MARCOS Asienreise interpretieren will: Neben verschiedenen – womöglich chinesischen – Kleidungsstücken aus Seide und Brokatstoff finden sich auch ein buddhistischer Rosenkranz, ein silberner Gürtel eines mongolischen Ritters, ein mit kostbaren Perlen bzw. Steinen verzierter

an der Wolga residierenden Goldenen Horde handeln, zumal die in China beheimateten Mongolen in erster Linie Buddhisten waren. Möglicherweise, so WOOD, unterlag die Bezeichnung „Tatar“ bei MARCO einer weiten Auslegung, die sich auf alle Menschen östlich von Jerusalem bezog und entsprang der christliche Vorname „PETRUS“ rein praktischen (Aussprache-)Erwägungen. Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 178ff. 35 Vgl. EMERSLEBEN: Marco Polo, S. 113-115. 36 Vgl. MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. II, S. 37. 37 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 177f. 38 Vgl. ORLANDINI: Marco Polo e la sua famiglia, S. 58-61. 39 Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 203. Darüber hinaus vermerkt das Verzeichnis auch zwei mit Geschäftsverträgen gefüllte Taschen.

17 Frauen-Kopfschmuck40 (mongolisch: bokhtakh) aus Gold und eine Kiste Moschus41 sowie eine Tasche mit dem Fell eines Moschushirschen. Nach Meinung des paduani- schen Philologen stellen diese exotischen Fabrikate Souvenirs dar, welche der venezianische Kaufmannssohn zum Andenken an seine Fernost-Reisen auf den Märkten von Venedig, Tana (Asow) oder Konstantinopel erworben oder direkt aus Asien mitge- nommen hatte.42

Eine noch direktere China-Referenz attestiert die POLO-Forschung vor allem jenem inventarisierten Gegenstand („tola I. doro granda di comandamento“43), bei dem es sich um eines der im Buch der Wunder erwähnten sieben Goldtäfelchen handeln könnte, welche die POLOS auf ihren jeweiligen Reisen von KHUBILAI KHAN (1215-1294) bzw. dem persischen Il-Khan GAICHATU (regierte 1291-1295) erhalten hatten. Diese mit ver- schiedenen (Tier-)Motiven ornamentierten garantierten ihren Trägern die Bereit- stellung von Unterkünften, Transportmitteln und Verpflegung entlang des zurückzu- legenden Weges und werden in MARCOS Buch nicht nur hinsichtlich ihrer Inschrift,

Verleihung und Varietät eingehend beschrieben (G: LXXXI), sondern finden auch im 44 Testament seines Onkels MATTEO als „tres tabulae de auro que fuerunt magnifici 45 Khan Tartarorum“ Erwähnung. Nach dem Dafürhalten von DAVID JACOBY muss es sich bei diesen insgesamt vier „Passierscheinen“ um jene Exemplare handeln, welche 46 den POLOS beim Verlassen Persiens durch GAICHATU verliehen wurden. (G: XIX) Eine derartige Identifizierung vermag sich aber nur auf MARCOS Bericht zu stützen, welchem sich die vorliegende Arbeit nun (endlich) widmen will.

40 Der britische Sinologe STEPHEN G. HAW weiß diesbezüglich eine Hypothese zu formulieren, welche den goldenen Kopfschmuck als Abschiedsgeschenk einer (mongolischen) Frau versteht, die MARCO nahe gestanden haben muss. Angesichts des existierenden mongolischen Brauchs, loyale Gefolgs- männer mit mongolischen Frauen zu belohnen, scheint ihm auch eine vom Großkhan vorgeschla- gene Eheschließung nicht ausgeschlossen zu sein. Vgl. HAW, STEPHEN G.: Marco Polo’s China. A Venetian in the Realm of Khubilai Khan. London; New York: Routledge 2006. S. 43. 41 Hinsichtlich der Moschus-Erinnerungsstücke verweist ALVARO BARBIERI auf eine Textstelle der venezianisch-emilianischen Variante (VA) des POLO’schen Reisetextes, in welcher MARCO angibt, sowohl den ausgetrockneten Kopf als auch die Füße eines Moschushirschen nach Venedig mitge- nommen zu haben. („et portai miego qui in Venexia la testa e I piedi de uno de diti animali sechi, et del muschio.“) Vgl. BARBIERI, ALVARO: Un Veneziano nel Catai. Sull’autenticità del viaggio di Marco Polo. In: Critica del testo, Vol. 3, Issue 3 (2000), S. 1003. 42 Vgl. IBIDEM, S. 999-1004. 43 ORLANDINI: Marco Polo e la sua famiglia, S. 59. 44 Vgl. MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. I, S. 529-535. 45 Vgl. VOGEL, HANS-ULRICH: Marco Polo Was in China. New Evidence from Currencies, Salts and Revenues. Boston; Leiden: Brill 2013. S. 85. (= Monies, Markets, and Finance in East Asia, 1600- 1900. Vol. 2.) 46 Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 203.

18 III. | ZWEI SAGENHAFTE REISEN

Das Buch der Wunder beginnt seinen narrativen Prolog zu MARCOS Asien-Beschrei- bung im Konstantinopel des Jahres 1250, wo von der dortigen Anwesenheit der beiden

POLO Brüder und deren Begehrlichkeiten zu lesen ist (G: II): „Im Gedanken an gewinn- bringenden Handel entschlossen sie sich, das Schwarze Meer zu überqueren.“ (G: 10) Nach dem Erwerb verschiedenster Schmuckstücke, schifften sie sich nach Soldadie ein und ritten von dort in das Herrschaftsgebiet des BARCA KHAN, dem sie alle Kleinodien schenkten, die sie bei sich hatten. (G: III) Laut dem Erzähler wurden die beiden Vene- zianer dafür reichlich entlohnt, denn „(...) als Gegengeschenk gab er ihnen das Dop- pelte an Wert. Er schickte sie hierhin und dorthin in seinem Reich, wo sie überall gut aufgehoben waren.“ (G: 11)

MARINA MÜNKLER betont, dass diese Handelsreise der Gebrüder POLO von kei- nem geschäftlichen oder juristischen Dokument bezeugt und folglich nur durch

MARCOS Bericht belegt wird, da weder NICOLAO noch MATTEO auch nur eine Zeile über ihre erste Reise zu den Mongolen verfasst haben. Zudem misst die

deutsche Literaturwissenschaftlerin der in neun kurzen Kapiteln (G: II-X)

zusammengefassten Schilderung die narrative Funktion zu, MARCOS späteren Weg nach China und in den Dienst des Großkhans zu argumentieren.47 Wie der

deutsche Sinologe HANS-ULRICH VOGEL betont, ist das in mongolische Territo- rien führende Handelsengagement der beiden Venezianer nicht a priori anzu- zweifeln, da europäische Fernhandelskaufleute durch Geschäftsbeziehungen schon in den 1240/50er Jahren mit den Mongolen relativ gut vertraut waren: So

machte etwa der päpstliche Gesandte JOHANNES DE PLANO CARPINI (ca. 1182- 1252) im ukrainischen Kiew des Jahres 1247 die Bekanntschaft mit genuesi- schen, venezianischen und pisanischen Händlern, welche laut eigenen Angaben per tartaria dorthin gereist waren. Abendländische Kaufleute waren es auch, die

den flämischen Missionar WILHELM VON RUBRUK (ca. 1215 - nach 1257) bei den Mongolen ankündigten und über Transportmittel, Routen und die an die Herrscher zu entrichtenden Geschenke informierten.48

47 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 37f. 48 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 87.

19 Der Text liefert uns zwar nur marginale Anhaltspunkte zur zeitlichen Abfolge

der ersten POLO’schen Reiseunternehmung, jedoch geht PHILIPPE MÉNARD da-

von aus, dass die POLOS Venedig bereits 1253 – also noch vor MARCOS Geburt

(1254) – verließen, um das Handelskontor ihres älteren Bruders MARCO (DI SAN

SEVERO) in Konstantinopel anzuvisieren. Nach Ansicht des französischen Literaturwissenschaftlers dürften sie letzteres wohl 1260 verlassen haben, da das Lateinische Kaiserreich (1204-1261) und mit ihm die venezianische Vorherr- schaft am Bosporus kurz vor ihrem Zusammenbruch standen. Nach einer Visite des in Soldadie (Sudak) gelegenen Hauptsitzes ihrer fraterna compagnia, beschlossen die beiden Kaufleute ihre geschäftlichen Aktivitäten weiter nach

Osten zu verlagern, weshalb sie – so MÉNARD – wohl 1261 ihre Weiterreise in das Innere Asiens antraten. Durch das Land der turksprachigen Kiptschak zie- hend, gelangten sie folglich in das am Unterlauf der Wolga gelegene , wo 49 sie sich für ein Jahr aufhielten und BARCA () KHAN (nach 1205 – 1266), dem Regenten des mongolischen Teilreichs der Goldenen Horde50, ihre mitge- brachten Juwelen bzw. Edelsteine überreichten.51

Die in diesem Kontext erzählte Szene des Austauschs von Geschenken stellt

nach Ansicht von MARINA MÜNKLER eine zwischen europäischen Kaufleuten und mongolischen Herrschern nicht unübliche Form des Tauschhandels dar, des- sen Existenz durch mehrere venezianisch-genuesische Urkunden bestätigt wer- den kann. Den Wert der eingetauschten Waren berechneten die Händler erst nach dem erfolgten Warentausch, sodass ihre Profitrate von der Generosität des jeweiligen Herrschers und dem für die eingetauschten Waren in Europa erziel- baren Preis abhing.52 Auch wenn sich das Buch der Wunder bezüglich des im Reich der Goldenen Horde verbrachten Jahres ausschweigt, so hält es der israe-

lische Mediävist DAVID JACOBY dennoch für wahrscheinlich, dass NICOLAO und

49 Dieser Enkel DSCHINGIS KHANS (1162/7-1227) regierte von 1257 bis 1266 als Khan der Goldenen Horde einen riesigen Teilstaat, welcher von den Gebieten der Kiewer Rus bis in die kasachische Steppe bzw. Westsibirien reichte und trat als erster mongolischer Herrscher zum Islam über. Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 56. 50 Der Terminus „Horde“ geht auf die mongolische Bezeichnung „ordo“ (Palastzelt; Heerlager) zurück, welches BERKES Bruder und Dynastiegründer (1207-1255) in der Residenzstadt Sarai aufgeschlagen hatte. Das Attribut „Goldene“ erklärt sich durch das goldfarbene Filzzelt (Yurte) in welchem dieser gelebt haben soll. Vgl. IBIDEM. 51 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 16. 52 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 39f.

20 MATTEO von BARCA (BERKE) KHAN die Erlaubnis zur freien Handelsausübung innerhalb seines Herrschaftsgebietes erhielten und folglich als unter seinem Schutze agierende Handelsvertreter tätig waren.53

Durch innermongolische Kriegswirren zwischen BARCA und ALAU an der Rückkehr nach Konstantinopel gehindert, beschlossen die beiden Kaufleute die umwegige

Ostroute heimwärts zu nehmen. Sie verabschiedeten sich von BARCA, reisten in die Grenzstadt Oucaca, „(...) überquerten den Tigris54 und ritten siebzehn Tage durch die

Wüste.“ (G: 12) Hinter der Wüstenlandschaft erreichten sie die Stadt Bucara, in der sie drei Jahre verweilten, zumal die kriegerischen Auseinandersetzungen weiterhin anhiel- ten und jegliche Weiterreise verhinderten. Während ihres Aufenthaltes begegneten sie einem Abgesandten des osttatarischen ALAU: „Er war auf der Durchreise zu Kublai, dem Obersten Herrscher aller Tataren der weit weg im Nordosten residierte.“ (G: 12) Dieser erzählte ihnen, dass das Tatarenoberhaupt noch nie einen Lateiner gesehen hätte und die Erfüllung dieses sehnlichen Wunsches ihnen einen ehrenvollen Empfang berei- ten würde. (G: IV) Die zwei Brüder willigten ein den Gesandten zu begleiten und erreichten schließlich nach einjähriger Reise Richtung Nordwest den hocherfreuten

Großkhan (G: V), welcher von ihnen allerhand wissen wollte: „erstens bat er um Aus- kunft über die Kaiser, nach welchen Grundsätzen sie regierten, wie sie Krieg führten; er interessierte sich für alles, was ihre Person und ihr Amt betrifft.“ (G: 13) Auch über die Sitten der Lateiner sowie die Institutionen der Römischen Kirche wollte jener genauestens unterrichtet werden und „beide, Messer Nicolao und Messer Maffeo, beantworteten alles wahrheitsgemäß.“ (G: 13)

Bei der erwähnten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen BARCA (BERKE) 55 KHAN und dem persischen Il-Khanat des ALAU (HÜLEGÜ ; ca. 1217-1265) muss

es sich nach Ansicht von MARINA MÜNKLER um eine Episode der innermongoli- schen Kriege handeln, welche sich aus früheren Clan-Streitigkeiten entwickelt hatten. Allerdings dürfte dieser seit dem Winter 1261/2 um die Vorherrschaft im

53 Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 196. 54 Wie ELISE GUIGNARD vermerkt, wird hier die russische Wolga mit dem Namen des biblischen Paradiesflusses Tigris bedacht, um die erzählte Wahrheit bzw. Wirklichkeit in den Rahmen des allgemeinen Schöpfungsplans zu stellen. Vgl. GUIGNARD: Marco Polo, S. 406. 55 Dieser weitere Enkel des DSCHINGIS KHAN bündelte die mongolische Herrschaft über Persien, Mesopotamien, Irak und den Iran in die Gründung des sogenannten Il-Khanats und regierte dieses Nachfolgereich von 1256 bis 1265 als ein dem Großkhan untergeordneter Teilherrscher (Il-Khan). Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 50ff.

21 Kaukasus geführte Kampf wohl kaum den Weg zum Schwarzen Meer versperrt haben, zumal sich dessen Schlachten im eurasischen Hochgebirge ereigneten und die weiter nördlich verlaufende Straße zwischen Sarai und Soldadie (Sudak) davon nur wenig betroffen sein konnte. Vielmehr identifiziert die deutsche

Literaturwissenschaftlerin die durch den (neuen) oströmischen Kaiser MICHAIL

VIII. (1223-1282) am 25. Juli 1261 erfolgte Einnahme Konstan- tinopels sowie die im Zuge der Wiederrichtung des Byzantinischen Reichs vorangetriebene Enteignung bzw. Vertreibung der dort ansässigen veneziani-

schen Kaufleute als Hindernisse des POLO’schen Heimweges. Aufgrund der sich alsbald zwischen der Goldenen Horde und den byzantinischen Regenten anbah- nenden diplomatischen Kontakte, könnten diesbezüglich auch Nachrichten bis an die Wolga gelangt sein. Wenn also der kaukasische Krieg einen Weg ver-

sperrte, so MÜNKLER, dann dürfte dies eher auf den am Westufer des Kaspischen Meeres entlangführenden Handelsweg zwischen Sarai und dem persischen Täb- ris zutreffen, welcher sich unter Meidung von Konstantinopel wohl als alterna- tive Rückreiseroute angeboten hätte, da man von Täbris über die südliche Seidenstraße bis an die kleinarmenische Mittelmeerküste gelangen konnte.56 Ein

weiteres (generelles) Hindernis lokalisiert der britische Historiker PETER JACK-

SON in den von BERKE KHAN in den frühen 1260er Jahren betriebenen Eroberungszügen gegen die byzantinische Provinz Thrakien, durch welche eine 57 POLO’sche Rückreise ihm zufolge führen hätte müssen.

Bezüglich des von den Gebrüdern POLO schlussendlich eingeschlagenen Weges finden sich in der Forschung verschiedene Ansichten: Gemäß den Ausführungen

von MARINA MÜNKLER reisten NICOLAO und MATTEO nördlich des Kaspischen Meeres entlang nach Osten und folgten sodann einer südostwärts verlaufenden Handelsstraße, die sie über Urgentsch58 (ital. Organza) in die an der Seiden- straße gelegene Handelsstadt Bucara (Buchara/Buxoro) führte.59 Dem französi-

schen Literaturwissenschaftler PHILIPPE MÉNARD zufolge, erreichten die Kauf-

56 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 41f. 57 Vgl. JACKSON, PETER: Marco Polo and his Travels. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies, Vol. 61, Issue 1 (1998), S. 95. 58 Die 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannten Ruinen dieser alten Hauptstadt Choresmiens befinden sich im äußersten Norden von Turkmenistan, am Rande der Wüste Karakum. 59 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 42.

22 leute letztere über das nordöstlich gelegene Wolgabulgaren-Zentrum Bolgar,60

während ELISE GUIGNARD das im Text als Grenzstadt und Zwischenstopp ausge- wiesene Oucaca mit dem am rechten Ufer der Wolga situierten Uvek identifi- ziert.61 Den dreijährigen Aufenthalt in Bucara (Buchara/Buxoro62) erklärt sich 63 MÜNKLER anhand der im Khanat Caghatai tobenden Machtkämpfe (1260-

1264) zwischen den Brüdern des verstorbenen Großkhans MÖNGKE (1209-

1259), in deren Folge die POLO’sche Weiter- bzw. Rückreise sowohl nach Osten als auch nach Westen verstellt wurde.64 Unter dem Schutze des persischen Gesandten traten die beiden Venezianer schließlich eine einjährige Reise Rich-

tung Osten an, als deren Endpunkt sowohl PHILIPPE MÉNARD als auch die engli- 65 sche Sinologin FRANCES WOOD das sagenumwobene bestimmen,

wo MATTEO und NICOLAO 1265/66 von KUBLAI (KHUBILAI) KHAN (1215-1294) 66 67 empfangen worden sein sollen. Unter der Annahme, dass sich KHUBILAI zu

60 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 16. – Die im 8. Jahrhundert von den Wolgabulgaren am linken Ufer der Wolga gegründete Stadt Bolgar befindet sich in der (im östlichen Teil des europäischen Russlands gelegenen) Autonomen Republik Tatarstan und fungierte bis ins 15. Jahrhundert als Hauptstadt des Wolgabulgaren-Reichs. 61 Vgl. GUIGNARD: Marco Polo, S. 432. – Die auch als Ukek oder Ukaka verzeichnete Stadt war Anfang des 14. Jahrhunderts eines der wirtschaftlichen und politischen Zentren der Goldenen Horde. Die zum Teil noch heute erhaltenen Ruinen befinden sich etwa 10 Kilometer südlich der westrussischen Stadt Saratow, welche am rechten Ufer der mittleren Wolga situiert ist. 62 In der historischen Landschaft Sogdien situiert, mimt die usbekische Oasenstadt Buxoro nach wie vor eines der bedeutendsten Handels- und Industriezentren Zentralasiens. 63 Das Khanat Caghatai stellte den turko-mongolischen Herrschaftsbereich von DSCHINGIS KHANS zweitältestem Sohn CAGHATAI (ca. 1186-1242) dar, welcher im Südwesten Transoxanien mit den Städten Buchara/Buxoro und Samarkand umfasste, sowie im Nordosten das westchinesische Gebiet von Xīnjiāng. Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 58. 64 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 42f. 65 Das bereits 1220 von DSCHINGIS KHAN (1162/7-1227) begründete Qara Qorum (mongol. „schwarze Berge“) wurde 1235 zur Hauptstadt des Mongolenreiches ausgebaut, 1266 von KHUBILAI KHAN zugunsten von Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) aufgegeben und schließlich 1388 von der chinesischen Míng-Dynastie (1368-1644) vollständig zerstört. Die rund 320 Kilometer südwestlich von Ulaanbaatar gelegene Ruinenstätte befindet sich an der Ostseite des Flusses Orchon, am Fuße des zentralmongolischen Changai-Gebirges. Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 37f. 66 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 163 bzw. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 18. 67 Der von MÖNGKE KHAN als Statthalter von Nordchina installierte KHUBILAI KHAN proklamierte sich nach dem Ableben (1259) des erstgenannten – entgegen der mongolischen Tradition – selbst zum Großkhan aller Mongolen (1260) und setzte sich im darauffolgenden Bruderkrieg (1260-1264) ge- gen den konservativ eingestellten Stammesadel in Karakorum durch, welcher seinen Bruder ARIGH BÖGE (nach 1219-1266) als Großkhan favorisiert und KHUBILAI eine China-freundliche Haltung vorgeworfen hatte. Zum Ausdruck seiner kulturellen Identifizierung mit China versah KHUBILAI 1271 das mongolische Reich mit dem chinesischen Dynastie-Titel Yuán („Uranfang“) und einigte das seit 300 Jahren getrennte Land durch die Eroberung des südchinesischen Reichs der Sòng (1279). Seine Regierungszeit gilt nicht zuletzt aufgrund der Blüte von Literatur, Kunst und

23 diesem Zeitpunkt (1265/66) in Nordchina aufgehalten habe, hält IGOR DE

RACHEWILTZ ein in Karakorum stattgefundenes Aufeinandertreffen hingegen für schlichtweg unmöglich. Stattdessen will der australische Historiker jene Audi-

enz entweder in KHUBILAIS Sommerresidenz Shàngdū oder in dessen entstehen- der Hauptstadt Dà(i)dū (Peking) verortet wissen.68

Um mehr über das Christentum zu erfahren, ließ KUBLAI „(...) ein Schriftstück in türki- scher Sprache aufsetzen“ (G: 14), welches die zu seinen Gesandten auserkorenen Vene- zianer dem Papst mit der Bitte überbringen sollten, dem Großkhan gesalbtes Öl aus der Lampe des Jesusgrabs in Jerusalem und etwa einhundert christliche Gelehrte zu schicken, „(...) die die Sieben Freien Künste69 beherrschen und fähig seien, gut zu disputieren. Sie sollten die Heiden und die Götzenanbeter jeder Richtung über die christliche Lehre aufklären und ihnen beweisen, daß [sic] die Götzenbilder, die sie in ihren Häusern aufstellen und verehren, Werke des Teufels seien.“ (G: 14) Dazu stellte er den POLOS einen ihre Reise begleitenden Baron namens COGATAL zur Verfügung und übergab ihnen bei ihrer Abreise ein Goldtäfelchen, „(...) worauf vermerkt war, dass jedermann überall verpflichtet sei, die drei Abgesandten zu beherbergen und ihnen Pferde und Begleiter zur Verfügung zu stellen für ihre Reise von Provinz zu Provinz.“

(G: 15) Die drei nunmehrigen Botschafter verabschiedeten sich und traten die Rückreise in den Westen an, im Zuge derer der Tatarenbaron jedoch erkrankte und in einer Stadt zurückgelassen werden musste. „Überall wo die beiden durchkamen, wurden sie geehrt und bedient, jeder Wunsch wurde erfüllt.“ (G: 15)

Zwar befindet MARINA MÜNKLER die an europäische Kaufleute erteilten Gesandtschaftsaufträge mongolischer Khane als nichts Ungewöhnliches, da sich insbesondere die persischen Il-Khane des Öfteren genuesischer oder veneziani- scher Fernhandelskaufleute zur Übermittlung von Botschaften wie auch zur Füh- rung diplomatischer Verhandlungen bedienten, jedoch enthielten diese kaum

(Fern)Handel als (ein) kultureller Höhepunkt der mongolischen Geschichte. Vgl. KOLLMAR- PAULENZ: Die Mongolen, S. 46-50. 68 Vgl. DE RACHEWILTZ, IGOR: Marco Polo Went to China. In: Zentralasiatische Studien, Vol. 27 (1997), S. 69f. 69 Die auf hellenistischem Bildungsgut fußenden septem artes liberales bezeichnen eine im 7. bzw. 8. Jahrhundert entstandene abendländische Bildungsordnung, welche sich aus dem Trivium (Dreiweg) der sprachlich und logisch-argumentativ ausgerichteten Fächer (Rhetorik, Logik, Grammatik) sowie dem weiterführenden Quadrivium (Vierweg) der mathematischen Fächer (Arithmetik, Astronomie, Musik, Geometrie) zusammensetzt. Vgl. GUIGNARD: Marco Polo, S. 406.

24 religiöse Aspekte, weshalb die im Dienst der Verbreitung des christlichen Glau-

bens stehende Mission der POLOS von der Forschung bis heute angezweifelt wird.70 Überzeugt von der Ausübung letzterer zeigt sich der deutsche Sinologe

HANS-ULRICH VOGEL, welcher dem (1266) ausgeteilten Goldtäfelchen eine real- historische Existenz beimisst: Diese aus Gold, Silber oder Bronze hergestellten und im Okzident als paizas (chinesisch paizi; mongolisch gerege) bezeichneten (rechteckigen) „Diplomatenpässe“ waren in China seit der Tang-Dynastie (618- 907) bekannt und wurden entweder Würdenträgern oder sich auf offiziellen Missionen befindlichen Gesandten überreicht, fungierten in manchen Fällen aber auch als Zeichen einer (bestimmten) militärischen oder zivilen Amtsinhaber- schaft.71

Schlechtes Wetter, Schnee und Hochwasser erschwerten die Rückreise, sodass die bei- den Kaufleute erst nach drei Jahren die Hafenstadt Laias erreichten und schließlich im

April 1260 in Acri eintrafen. Als sie vom Ableben des Papstes CLEMENS erfuhren, wandten sie sich an den einflussreichen TEDALDO VON PIACENZA, „(...) der Gesandter der Römischen Kirche im ganzen ägyptischen Königreich war.“ (G: 16) Dieser Legat erkannte, „(...) wie vorteilhaft und ehrenvoll die Angelegenheit für die Christenheit wäre“ (G: 16), teilte den Brüdern POLO jedoch mit, dass sie ihren Auftrag erst nach der

Wahl eines neuen Papst erfüllen könnten, worauf MATTEO und NICOLAO beschlossen, die Papstwahlzeit zum Familienbesuch in Venedig zu nutzen. (G: X) Zu Hause ange- kommen, erfuhr NICOLAO vom Tod seiner Frau und der Existenz eines fünfzehnjährigen

Sohnes namens MARCO, „(...) um den es sich in diesem Buch handelt.“ (G: 16)

Laut den Rekonstruktionsversuchen von PHILIPPE MÉNARD müssen die über die 72 süd(ost)türkische Hafenstadt Laias (Ayas/Yumurtalik ) reisenden POLOS das nordisraelische Acri (Akkon) im April 1269 erreicht haben, wo sie in Ermange-

lung eines Papstes – CLEMENS IV. (1265-1268) war im Jahr zuvor verstorben und ein Nachfolger noch nicht gewählt – eine Unterredung mit dem fälschlicher-

70 Vgl. IBIDEM, Marco Polo, S. 44f. –– Die im Auftrag von KHUBILAI ausgeführte Mission der Gebrüder POLO wird in Kapitel IX.III. der vorliegenden Diplomarbeit eingehend diskutiert. 71 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 85. 72 Anstatt des am Golf von İskenderun gelegenen Badeortes existierte in mittelalterlicher Zeit der Mittelmeerhafen Ayas, von welchem heute lediglich eine See- bzw. Landburg sowie ein Turm erhalten geblieben sind.

25 73 weise als päpstlichen Legaten bezeichneten Archidiakon TEDALDO VISCONTI

DA PIACENZA (ca. 1210-1276) führten, um schließlich mit den venezianischen Galeeren im Spätsommer oder frühen Herbst desselben Jahres (1269) heimwärts zu segeln. Angesichts der geschilderten Gesamtreisezeit von neun Jahren (1260- 1269) konkludiert der französische Literaturwissenschaftler zudem, dass

NICOLAO und MATTEO wohl nur einige wenige Wochen bei KHUBILAI KHAN zu 74 Gast gewesen sein können. Jenes Gespräch mit TEDALDO VISCONTI DA

PIACENZA kann nach Meinung von MARINA MÜNKLER jedoch nicht stattgefun- den haben, da sich der aus Piacenza stammende Archidiakon im Jahre 1269 nachweislich nicht in Acri (Akkon) aufhielt, sondern die nordisraelische Hafen-

stadt erst 1271 in Begleitung des englischen Kronprinzen EDUARD PLANTAGE- 75 NET (1239-1307) erreichte.

Nachdem die Brüder POLO zwei Jahre auf die Ernennung eines Papstes gewartet hatten und sie die Rückkehr zum Großkhan nicht mehr länger hinauszögern wollten, verließen sie gemeinsam mit (dem mittlerweile 17-jährigen) MARCO die Lagunenstadt und steuerten erneut die Küstenstadt Acri an. (G: XI) Dort angekommen, wandten sie sich wiederum an den Legaten TEDALDO VON PIACENZA, welcher nicht nur ihre Reiseabsicht billigte, sondern auch die Beschaffung des Öls der Grabeslampe Christi genehmigte und ihnen ob des immer noch vakanten Papststuhls eine entschuldigende Botschaft an den Großkhan ausstellte: „(...) er bezeugt es schriftlich, wie Messer Nicolao und Messer Maffeo ihn über den Auftrag aufgeklärt haben, daß [sic] aber der Tod des Papstes die

Erfüllung der Mission verhindert habe.“ (G: 17)

Samt dem unterdessen in Jerusalem organisierten Öl (G: XI) machten sich die drei

POLOS schließlich auf den Weg nach Osten und erreichten auch alsbald die Hafenstadt Laias, wo sie vernahmen, „(...) der Legat sei zum Papst gewählt worden und nenne sich

Papst Gregor von Piacenza.“ (G: 18) Ein kurz danach eintreffender Bote des Papstes bat sie in der Folge um die Rückkehr nach Acri, welche die drei Venezianer dank einer

73 Päpstlicher Legat war von 1261 bis 1270 vielmehr GUILLAUME D’AGEN, welcher als Lateinischer Patriarch von Jerusalem selbst über mongolische Kontakte verfügte, da er im päpstlichen Auftrag bereits 1265 den persischen Il-Khan ABAQA (1234-1282) aufgesucht hatte, um ihm militärische Unterstützung gegen die Mamluken anzubieten, so er sich zuvor taufen lasse. Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 48. 74 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 18. 75 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 48.

26 vom armenischen König zur Verfügung gestellten Galeere auch sogleich antreten konn- ten. (G: XII) Im Zuge ihres dritten Aufeinandertreffens mit dem nunmehrigen Papst

GREGOR überreichte ihnen dieser ein (für den Großkhan vorgesehenes) Empfehlungs- schreiben, unterrichtete sie über seine Botschaft an das Tatarenoberhaupt und stattete 76 sie mit den zwei Predigermönchen NICOLAO VON VICENZA und WILHELM VON TRIPO-

LIS aus. Das (vom Papst gesegnete) Quintett begab sich unverzüglich auf seine Mission, 77 da aber zu jener Zeit der ägyptische Sultan BONDOCDAIRE mit einer großen Kriegs- schar verwüstend in Armenien eingefallen war, wollten die beiden Ordensbrüder aus Angst um ihr Leben nicht weiter mit der in tödliche Gefahr geratenen Gesandtschaft reisen. (G: XIII) Bereits in Laias strichen sie die Reisesegel, übergaben Empfehlungs- briefe sowie andere päpstliche Schriftstücke den Venezianern, „(...) verabschiedeten sich von ihnen und suchten den Großmeister der Tempelherren auf.“ (G: 19) Die zwei

POLO-Brüder und der junge MARCO setzten ihre Reise hingegen fort: „Schnee, Regen und hochgehende Flüsse behinderten die Reisenden; zur Winterszeit konnten sie nicht reiten wie im Sommer.“ (G: 19) Nach dreieinhalb Jahren erreichten sie die Stadt

Clemeinfu, in welcher sich der Großkhan zur damaligen Zeit aufhielt. (G: XIV)

Nach Ansicht von PHILIPPE MÉNARD vermag man den erneuten Aufbruch Rich- tung Asien anhand der dreijährigen Sedisvakanz (1268-1271) und der wiederhol-

ten Begegnungen der POLO-Familie mit TEDALDO VISCONTI DA PIACENZA (ca.

1210-1276) ziemlich genau zu datieren: Nachdem die POLOS den Archidiakon von Lüttich wohl im (Früh-)Sommer 1271 erneut in Acri (Akkon) aufgesucht

hatten und mit dem Heiligen Öl der Jerusalemer Grabeskirche sowie TEDALDOS Botschaft in den Osten aufgebrochen waren, wurde der sich mit dem englischen 78 Kronprinzen EDUARD PLANTAGENET (1239-1307) auf einem Kreuzzug (1270-

76 Hinsichtlich des in einigen Handschriften auch als NIKLAUS DER LOMBARDE bezeichneten Dominikanermönchs zeitigten meine Recherchen keinerlei Ergebnisse. 77 Sultan I. (1223-1277) gilt als der eigentliche Begründer des ägyptisch-syrischen Mamlukenstaates, welcher bis zur osmanischen Eroberung 1517 Bestand hatte. 1266 ergriff BAIBARS I. die Gelegenheit zu einem Angriff auf das mit dem Il-Khanat verbündete armenische Königreich von Kilikien, fügte dessen Heer in der Schlacht von Mari (24. August) eine vernichtende Niederlage zu und ließ den Südosten Kleinasiens verwüsten wie auch ausplündern. Der im Buch der Wunder geschilderte Einfall könnte aber auch in Zusammenhang mit der im Mai 1268 erfolgten Eroberung der am linken Ufer des Orontes gelegenen Stadt Antiochia (heutiges Antakya) stehen, welche seit der Antike zu den kulturell und wirtschaftlich herausragenden Metropolen im östlichen Mittelmeerraum gehörte und sich als erst-eroberte Stadt der Kreuzfahrer seit 1098 in deren Besitz befunden hatte. 78 Angeführt vom späteren englischen König EDUARD I. (1272-1307), stellte dieser Kreuzzug die letzte „bewaffnete Pilgerfahrt“ der römisch-katholischen Kirche dar und sollte eine Entlastung der ver-

27 1272) in Palästina befindende TEDALDO von einem Boten am 23. Oktober 1271 benachrichtigt, dass ihn das in Viterbo einberufene Konklave am 1. September

1271 zum Papst gewählt hatte. Die mit den zurückbeorderten POLOS beladene

Galeere des kleinarmenischen Königs LEON III. (ca. 1236-1289) muss laut dem französischen Literaturwissenschaftler etwa Mitte November 1271 im nord- israelischen Akkon eingelaufen sein, wo die Venezianer vom nunmehrigen Papst

GREGOR X. (1271-1276) mit einem Gesandtschaftsbrief und zwei Prediger- mönchen ausgestattet wurden. Auch wenn es sich nicht präzisieren lässt, wann die in der zweiten Novemberhälfte gestarteten Reisenden den 300 Kilometer

nordöstlich von Peking liegenden Sommersitz des KHUBILAI KHAN im mongoli-

schen Clemeinfu (Shàngdū) erreichten, so geht MÉNARD von einer zweieinhalb- bis dreijährigen Anreise und einem daraus resultierenden Ankunftsdatum zwi- schen Mai und November 1274 aus, da sich der Großkhan alljährlich während dieses Zeitraums vier Monate lang in seinen Sommerpalast zurückzog.79

Obwohl die kurialen Akten weder die an den Papst gerichtete Botschaft des

KHUBILAI KHAN noch ein Antwortschreiben von GREGOR X. vermerken, erachtet

MARINA MÜNKLER die POLO’sche Audienz beim Papst als dennoch glaubwürdig und erklärt sich die urkundliche Absenz dieser Gesandtschaft80 anhand der

besonderen Umstände des Zusammentreffens mit dem erst im März 1272 in Rom zum Priester geweihten Kirchenoberhaupt. Als stichhaltiges Indiz für die

Authentizität von MARCOS Darstellung will sie die Erwähnung des WILHELM

VON TRIPOLIS (ca. 1220 - ca. 1273) verstanden wissen, zumal der Venezianer

dessen Namen nur durch die Vermittlung von GREGOR X. gekannt haben konnte. Dieser im Konvent von Akkon stationierte Dominikanermönch hatte nicht nur

bliebenen (christlichen) Kreuzfahrerstaaten generieren, welche seit 1263 den unablässigen Angriffen des Mamluken-Sultans BAIBARS I. (1223-1277) ausgesetzt waren. Bis auf einen mit jenem geschlos- senen Waffenstillstandsvertrag (April 1272) konnte EDUARDS Kreuzzug jedoch keine größeren Er- folge erzielen, sondern lediglich den zu Beginn seiner Unternehmungen gegebenen Besitzstand der Kreuzfahrerstaaten halten. Da EDUARD ursprünglich eine Teilnahme am (Siebten) Kreuzzug (1270) des französischen Königs LUDWIG IX. (1214-1270) beabsichtigt hatte und dieser bei der erfolglosen Belagerung von Tunis verstorben war, wird sein Kreuzzug in der deutschsprachigen Geschichtslitera- tur dem Siebten Kreuzzug zugerechnet, von der englisch-französischen Literatur jedoch als separater Neunter Kreuzzug geführt. 79 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 18-20. –– Den Berechnungen des deutschen Sinologen HANS-ULRICH VOGEL zufolge, landeten die POLOS erst im Mai 1275 in Clemeinfu (Shàngdū). Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 72. 80 Über die Glaubwürdigkeit dieser vom Papst abgesegneten Gesandtschaftsreise referiert das Kapitel IX.III. der vorliegenden Diplomarbeit.

28 seit längerem in Palästina gelebt, sondern 1271 auch einen Tractatus de statu Saracenorum („Traktat über die Verhältnisse bei den Sarazenen“) bezüglich

des muslimischen Glaubens verfasst, welchen er TEDALDO noch vor dessen

Ernennung zum Papst gewidmet hatte. Dass GREGOR X. dem Wunsch des

KHUBILAI KHAN nach einhundert Gelehrten der Sieben Freien Künste nicht Folge leistete, verwundert die deutsche Literaturwissenschaftlerin jedoch nicht, da jener gerade erst von seiner Wahl zum Papst erfahren hatte und dazu folglich

kaum in der Lage gewesen wäre. Als unwahrscheinlich bezeichnet MÜNKLER hingegen die im südtürkischen Laias (Ayas/Yumurtalik) aus Todesangst beschlossene Umkehr der beiden Predigermönche sowie die in diesem Kontext erfolgte Aushändigung der päpstlichen Schriftstücke, da deren Privilegien nach Auskunft der franko-italienischen Manuskripttradition (F) unter anderem das (nicht zur Übergabe an Laien vorgesehene) Recht spezifizierten, in Stellvertre- tung des Papstes Priester und Bischöfe zu weihen.81

Endlich beim Mongolenherrscher angekommen, bereitete ihnen dieser einen ehren- vollen Empfang, freute sich über das erhaltene heilige Öl sowie die päpstlichen Briefe und Beglaubigungsschreiben, hieß auch den Jüngling MARCO willkommen und schenkte ihnen höchste Wertschätzung und Zuvorkommenheit: „die drei Polo blieben am Hofe und wurden höher geachtet als die Barone.“ (G: 22) Der wissensdurstige Jugendliche machte sich in der Folge rasch mit den Sitten der Tataren, ihrer Sprache und ihrem Schrifttum vertraut: „er konnte vier Sprachen lesen und schreiben. Er war 82 gescheit und verständig.“ (G: 23) Da dem Großkhan diese Begabung nicht entging und er MARCOS Fähigkeiten schätzte, schickte er diesen als Gesandten in eine sechs 83 Reisemonate entfernte Provinz. (G: XVI) Der venezianische Jugendliche erwies sich in der Folge nicht nur als umsichtiger Botschafter, sondern prägte sich auf seiner Tour jegliche Neuigkeiten und Besonderheiten gut ein, um dem wissbegierigen Regenten

81 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 47-49. –– Das angesprochene Privileg der Priester- bzw. Bischofsweihe findet sich in BENEDETTO, LUIGI FOSCOLO (Hg.): Marco Polo, Il Milione. Florenz: L. S. Olschki 1928. S. 8f. (= Comitato geografico nazionale italiano. 3.) –– Zur Familie der franko- italienischen Handschriften (F) siehe Kapitel V.II. der vorliegenden Diplomarbeit. 82 Um welche Sprachen es sich hierbei handeln könnte und ob eine solche Behauptung den Tatsachen entsprechen könnte, versucht das Kapitel VI.II. der vorliegenden Diplomarbeit zu erörtern. 83 Laut der englischen Sinologin FRANCES WOOD handelt es sich hierbei um die im Südwesten Chinas gelegene Provinz Caragian (Yúnnán) (G: CXIX, CXX). Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 15. –– Derselben Ansicht ist der deutsche Geograph DIETMAR HENZE. Vgl. HENZE: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, S. 165.

29 später ausführlich darüber referieren zu können, denn „er hatte gemerkt, daß [sic] dem Herrscher die Mission wohl wichtig war, ihm aber Nachrichten über Zustände, Ereig- nisse und Lebensgewohnheiten in den bereisten Gebieten noch wichtiger waren.“ (G:

23) Bei seiner Rückkunft berichtete MARCO derart wortgewandt und detailgetreu über 84 alles Gesehene und Erlebte, dass ihn KUBLAI auf viele weitere Gesandtschaftsreisen schickte: „Der Großkhan übertrug ihm alle wichtigen Missionen, auch diejenigen in weit entfernte Länder; denn Messer Marco war nicht nur ein geschickter Botschafter, sondern auch ein aufmerksamer Beobachter und guter Berichterstatter. Jedes Unter- nehmen führte er vernünftig zu Ende. (...) Diese Sonderstellung am Hofe ist der Grund, warum Messer Marco über jenes Land mehr weiß als irgend jemand: er nützte die Gelegenheit, die fremden Gebiete besser auszukundschaften als jeder Sterbliche vor ihm.“ (G: 24)

Über MARCOS Leben während seines siebzehnjährigen Engagements im Dienste des mongolischen Großkhans berichtet der Prolog genau so wenig, wie über den

Verbleib seines Vaters NICOLAO und dessen Bruders MATTEO. Aufgrund dieser

Aussparung von persönlichen Erfahrungen und Lebensumständen will MARINA

MÜNKLER den venezianischen Kaufmannssohn folglich nicht als Reisenden bezeichnet wissen, sondern den im Dienste eines fremden Herrschers stehenden

MARCO vielmehr als kulturellen Grenzgänger begreifen, dessen anzunehmende Ausprägung einer neuen (kulturellen) Identität beiseite gelassen wird, zumal diese für seine (spätere) Beschreibung der Wunder Asiens ohnehin nicht ent- scheidend ist: Als glaubwürdigen Berichterstatter präsentieren ihn nicht seine in Fernost verbrachten siebzehn Lebensjahre, sondern rechtfertigt ihn das angesam- melte Wissen über den Fernen Osten.85 Hinsichtlich des zwischenzeitlichen

Schicksals der beiden älteren POLOS vermag die Forschung ob der inexistenten Quellenlage bzw. Prologinformationen lediglich Hypothetisches zu formulieren:

So vermutet etwa der deutsche Historiker FOLKER REICHERT, dass NICOLAO und

MATTEO entweder als ausländische Berater bzw. Experten zur multi-ethnischen Gesellschaftsschicht der sèmùrén gehörten, oder Mitglieder jener privilegierten

84 Mit MARCOS angeblicher Sonderstellung als Gesandter des KHUBILAI KHAN setzt sich das Kapitel IX.III. der vorliegenden Diplomarbeit auseinander. 85 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 50f.

30 Handelsgesellschaften (mong. ortogh; chin. wotuo) waren, welche im Interesse des mongolischen Hofes lukrative Geschäftsbeziehungen unterhielten.86

Obwohl sich MARCO in den siebzehn Jahren am Hofe des Mongolenherrschers eine

Sonderstellung erarbeitet hatte (G: XVII), entschloss sich die Familie POLO nach etlichen Überlegungen dennoch zur Heimkehr, welche ihnen der Großkhan aber zunächst nicht gewähren wollte, da er sie so gerne in seiner Umgebung hatte. Zu dieser Zeit war die 87 persische Königin BOLGANA verstorben, welche in ihrem Testament verkündet hatte, dass ihr nur eine Frau aus ihrer eigenen Familie als Gattin des osttatarischen Herrschers

ARGON nachfolgen dürfe, woraufhin jener seine Barone OULATAI, APUSCA und COIA als brautwerbende Gesandte zum Großkhan gesandt hatte. Als diese beim Großkhan ankamen und in ARGONS Namen um eine Braut warben, gab ihnen KUBLAI eine sieb- zehnjährige Prinzessin COCACIN aus dem Stamme der Königin BOLGANA. (G: XVIII) Im Zuge dieser Übergabe lernten die drei Brautwerber auch den gerade aus Indien zurück- gekehrten MARCO kennen, dessen Seefahrts-Expertise wie auch Klugheit ihnen in sol- chem Maße imponierte, dass sie sich zum Großkhan begaben „(...) mit der Bitte, er möge sie auf dem Seeweg nach Hause ziehen lassen und ihnen die Venezianer zum Ge- leit geben.“ (G: 26) Nur widerstrebend erlaubte KUBLAI dieses Unterfangen, betraute die POLOS mit Botschaften an den Papst wie auch alle Könige der Christenheit und stellte ihnen vierzehn Viermaster-Schiffe zur Verfügung, deren jedes mit Vorräten für zwei Jahre versorgt war. (G: XIX) Schlussendlich überreichte er ihnen zum Abschied zwei Täfelchen, „(...) worauf geschrieben steht, daß [sic] sie überall in seinem Reich frei passieren können und daß [sic] ihnen und ihrer Gefolgschaft alles für Reise und

Unterkunft zur Verfügung gehalten werden müsse.“ (G: 26)

Dass weder die mongolische Prinzessin COCACIN (KÖKECHIN/KÖKÖTCHIN; gest.

1296) noch die von KHUBILAI autorisierte Brauteskorte zu seinem Großneffen

86 Vgl. REICHERT, FOLKER: Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter. Berlin; Köln; Stuttgart: Kohlhammer 2001. S. 193. –– Zur Erklärung der chinesischen Begriff- lichkeiten sèmùrén und wotuo empfiehlt sich CAI MEIBIAO: Marco Polo in China. In: Social Sciences in China, Vol. 14, Issue 2 (1993), S. 176f. Eine Erläuterung der mongolischen ortogh- Handelsgesellschaften beinhaltet auch das Kapitel X der vorliegenden Diplomarbeit. 87 Die mongolische Prinzessin BULUQHAN (BULUGAN) (gest. 1286) gehörte dem mongolischen Stamm der Baya’du an und war zuvor bereits die Gattin von Vater ABAQA (1234-1282) gewesen. Selbst kinderlos, zog sie als Hauptfrau des Il-Khans (1258-1291) in der Folge dessen Söhne und ÖLJEITÜ (1280-1316) groß, welche später ebenfalls dem persischen Il-Khanat vorstehen sollten.

31 88 ARGON (ARGHUN ; 1258-1291) in der offiziellen Geschichte der Yuán-Dynastie

(Yuánshǐ) verzeichnet wurden, führt der chinesische Historiker YANG ZHIJIU auf den privaten Charakter dieses internen Familienabkommens zurück und verweist stattdessen auf eine im April bzw. Mai 1290 ausgegebene Direktive des

KHUBILAI KHAN, welche der Geschichtswissenschaftler 1941 in der aus dem 15. Jahrhundert stammenden Míng-Enzyklopädie Yǒnglè Dàdiǎn89 entdeckte sowie in der Folge auch veröffentlichte. Diese Weisung besagt, dass drei Gesandte –

OULATAY (chin. WULUDAI), APUSCA (chin. ABISHIHE) und COJA (chin.

HUOZHE) – entlang der südostindischen Koromandelküste zum persischen Il-

Khan ARGON (ARGHUN) reisen sollen und gewisse Vorbereitungen hinsichtlich des Reiseproviants gemacht werden müssen. Wenngleich das Dokument kein

Wort über die Prinzessin, die POLOS oder die eigentliche Reiseabsicht verliert, so sieht der an der Nankai-Universität lehrende Geschichtsprofessor darin den- noch eine Bestätigung der im Buch der Wunder getätigten Behauptungen, zumal

nach seiner Einschätzung sowohl die Venezianer als auch KÖKECHIN

(KÖKÖTCHIN) nichts mit der Verteilung von Verpflegung zu tun hatten und letz- tere als Tochter eines gewöhnlichen Adeligen des mongolischen Baya’ud-Stam- mes keiner speziellen Erwähnung würdig war.90

Eine übereinstimmende Darstellung der von MARCO geschilderten Braut- begleitung findet sich auch in der fragmentarisch erhaltenen Universalgeschichte Jāmi' al-tawārīkh („Sammler der Geschichten“) des persischen Chronisten

88 Der von 1284 bis 1291 herrschende (vierte) Il-Khan förderte wie sein Großvater HÜLEGÜ (ca. 1217- 1265) den tibetischen Buddhismus und betrieb intensive Versuche der Beziehungsaufnahme zum christlichen Westeuropa, welches an einer militärischen Allianz gegen die ägyptischen Mamluken je- doch zunehmend nicht mehr interessiert war. Seine enge Verbundenheit mit dem nestorianischen Christentum bewies er nicht zuletzt durch die christliche Taufe seines Sohnes ÖLJEITÜ (1280-1316), welchen er in Anlehnung an Papst NIKOLAUS IV. (1288-1292) mit dem Namen NICHOLAS versah. Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 52. 89 Von über 3000 Gelehrten zwischen 1403 und 1408 zusammengestellt, gilt dieses Werk als die fach- lich ausgereifteste Enzyklopädie des chinesischen Altertums und umfasst 22.877 Faszikel bzw. 11.095 Bände. Das am Kaiserhof aufbewahrte (handschriftliche) Original-Manuskript ist auf mysteriöse Weise verloren gegangen, sodass nur eine fragmentarische Abschrift erhalten ist, welche sich aufgrund ihrer sechs Jahrhunderte währenden Existenz schwer beschädigt zeigt und nur etwa vier Prozent des Gesamtwerks darstellt. Die chinesische Nationalbibliothek sammelt seit 1912 die weltweit verstreuten Fragmente der Enzyklopädie und versucht diese seit 2002 zu restaurieren. 90 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China. A Reply to Did Marco Polo Go to China? In: Social Sciences in China, Vol. 19, Issue 3 (1998), S. 101. –– Eine detaillierte Diskussion dieses von KHUBILAI ausgestellten Schriftstücks unternimmt CLEAVES, FRANCIS WOODMAN: A Chinese Source Bearing on Marco Polo’s Departure from China and a Persian Source on his Arrival in Persia. In: Harvard Journal of Asiatic Studies, Vol. 36 (1976), S. 181-203.

32 RASHĪD AL-DIN (1247-1318), welche zwischen 1306 und 1307 im Auftrag des Il-

Khans GHAZAN (1271-1304) entstand und nach Ansicht von FRANCES WOOD

zwar die faktische Richtigkeit des Ereignisses belegt, jedoch die POLO’sche

Gesandtschafts-Teilnahme nicht beweisen kann, da jene – wie auch KHUBILAIS

chinesische Direktive – weder den Namen POLO noch irgendeinen anderen euro- päischen Prinzessinnen-Begleiter erwähnt. Da sich also die Rückkehr der vene- zianischen Kaufmannsfamilie urkundlich nicht verifizieren lässt, schlussfolgert

die englische Sinologin, dass MARCO hinsichtlich seiner Stellung als Diener des Großkhans übertrieben, oder die gesamte Episode einer anderen (unbekannten) Quelle entnommen haben muss.91 Diesem Standpunkt widerspricht der deutsche

Sinologe HANS-ULRICH VOGEL, welcher einen (mündlichen) Informationserhalt

aus zweiter Hand als höchst unwahrscheinlich bezeichnet, da gerade MARCOS akkurate Transkription der – noch dazu in die korrekte Reihenfolge gebrachten –

Namen von ARGHUNS Gesandten die Vermutung nahelegt, dass der Venezianer diese kennengelernt haben muss. 92 Da die venezianisch-emilianische Hand- schriftenfamilie (VA) der Reisebeschreibung von lediglich einem (die Seefahrt)

überlebenden Botschafter berichtet und dieser in der Fassung des RAMUSIO (R)

als COJA identifiziert wird, will der paduanische Philologe ALVARO BARBIERI in

der bei RASHĪD AL-DIN geschilderten Ablieferung der mongolischen Prinzessin

KÖKECHIN (KÖKÖTCHIN) einen (weiteren) indirekten Beweis für die Authentizi-

tät der POLO’schen Angaben erkennen, zumal jene Darstellung auch nur den 93 Gesandten XWĀJAH (COJA) erwähnt.

Laut IGOR DE RACHEWILTZ ist es gerade dem Buch der Wunder zu verdanken, dass die in den chinesisch-persischen Quellen nur stückchenweise präsentierten Informationen zu einem Gesamtbild zusammengeführt werden können, dessen

grundlegende Fakten wie auch Chronologie einander bestätigen und KÖKECHINS

(KÖKÖTCHINS) Eskorte als wahrheitsgetreue Begebenheit ausweisen. Dass

MARCO zuvor diesbezüglich Auskünfte von einem unbekannten Informanten in

91 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 49. 92 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 81. 93 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 998f. –– Zur venezianisch-emilianischen Manuskript- tradition (VA) sowie der Abschrift (R) des italienischen Historikers und Geographen GIOVANNI BATTISTA RAMUSIO (1485-1557) sei auf das Kapitel V.II. der vorliegenden Diplomarbeit verwiesen. –– Eine Analyse der von RASHĪD AL-DIN geschilderten Brautübergabe findet sich in CLEAVES: A Chinese Source Bearing on Marco Polo’s Departure from China and a Persian Source on his Arrival in Persia, S. 181-203.

33 Konstantinopel oder Soldaia (Sudak) eingeholt und anhand dessen die ganze Episode in Genua bzw. Venedig memoriert oder durch angefertigte Aufzeich- nungen rekonstruiert habe, bezeichnet der australische Historiker nicht nur als unwahrscheinlich, sondern muss nach seinem Dafürhalten dezidiert ausge- schlossen werden.94

Der Schiffsverband segelte drei Monate südwärts bis zur Insel Java95 – wie man später

(G: CLXVIII) erfährt, mussten die Reisenden aufgrund von Schlechtwetter fünf Monate im Königreich Samatra ausharren – und erreichte nach einer achtzehn Monate währen- den Durchquerung des Indischen Meeres das Land der Osttataren. Dieses Unterfangen war nur unter großen Opfern96 geglückt, denn „(...) als sie sich einschifften, waren sie eine Gesellschaft von sechshundert Personen, die Matrosen nicht mitgerechnet; unter- wegs sind fast alle gestorben, nur achtzehn Personen sind heil angekommen.“ (G: 27)

Da ARGON in der Zwischenzeit verstorben war, wandten sich die Polos an dessen Nach- folger und Bruder CHIACATO, welcher seinen Neffen CASAN zum „neuen“ Ehemann der mittransportierten COCACIN bestimmte. (G: XIX) Nachdem die Venezianer diese in die

Obhut des CASAN übergeben und sich somit all ihrer Aufträge erledigt hatten, verab- schiedeten sie sich und wurden für ihre Heimreise von CHIACATO mit vier Goldtäfel- chen ausgestattet: „Auf zweien war ein Falke, auf einem ein Löwe, und das andere war glatt; es war darauf eingraviert, die drei Gesandten müßten [sic] überall in seinem Reich so geehrt und empfangen werden, als käme er in eigener Person. Pferde und jede 97 gewünschte Begleitung seien zu ihrer Verfügung zu stellen.“ (G: 27) Über die Hafen-

94 Vgl. DE RACHEWILTZ, IGOR: Wood’s Did Marco Polo Go to China? A Critical Appraisal. Online im Internet: URL: https://digitalcollections.anu.edu.au/bitstream/1885/41883/1/Marcopolo.html (Stand 2013-12-17) 95 Wie ELISE GUIGNARD vermerkt, sind die auf mittelalterlichen Seekarten zu findenden Bezeich- nungen der Inseln Java und Sumatra austauschbar. Nach ihrem Dafürhalten können die Reisenden nur auf Sumatra an Land gegangen sein, wo sie im nordwestlichen Teil der Insel (MARCOS König- reich Samatra) fünf Monate auf die Weiterreise warten mussten. Vgl. GUIGNARD: Marco Polo, S. 430; 433. 96 Der deutsche Geograph DIETMAR HENZE zeigt sich – wie ich meine zurecht – erstaunt, dass gerade die „nicht mehr frischen“ NICOLAO und MATTEO unter den Überlebenden gewesen sein sollen. Vgl. HENZE: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, S. 166. 97 In der franko-italienischen Version (F) des Texts ist gegen Ende des Prologs auf einmal von zwei an Bord befindlichen Prinzessinnen die Rede: „Zum Lobe der drei Polo möchte ich noch etwas hinzu- fügen; (...) Der Großkhan war so überzeugt von ihrem Ehrgefühl, daß [sic] er ihnen Cocacin und die Tochter des Königs von Mangi anvertraute; sie sollten sie zu Argon, dem Herrscher über das Ostreich, begleiten. (...) die beiden Damen waren in besten Händen; denn die drei Gesandten behüteten und bewachten sie, als wären es ihre eigenen Töchter. (...) Wohlbehalten haben sie ihr Reiseziel erreicht.“ (G: 28) Für dieses unvermittelte Auftauchen einer zweiten Frau, die weder näher

34 stadt Trepesonde gelangten die POLOS schließlich nach Konstantinopel, von wo aus sie via Negreponte ins heimatliche Venedig segelten: „Das war im Jahre 1295 nach Christi

Geburt. Damit ist der Prolog zu Ende, und jetzt beginnt das Buch.“ (G: 28)

Unter Berücksichtigung sowohl der in den maßgeblichen Versionen des Reise- texts enthaltenen Informationen, als auch des Wissens um Geschichte und Tech- nik der traditionellen chinesischen Schifffahrt bzw. Navigation sowie der durch Monsune und Taifune (Juli bis September) verursachten klimatologischen

Bedingungen, offeriert PHILIPPE MÉNARD in einem jüngst erschienenen Aufsatz

folgendes Szenario der POLO’schen Rückreise: Der aus vierzehn großen Dschun- ken bestehende Konvoi verließ den seinerzeit bedeutenden Fernhandelshafen des südostchinesischen Quánzhōu wahrscheinlich im Februar des Jahres 1291 Rich- tung Borneo98, wo der das Südchinesische Meer durchsegelnde Geleitzug – vom Wintermonsun begünstigt – noch im Mai desselben Jahres eintraf und aufgrund des südwestlichen (Sommer-)Monsuns fünf Monate verweilen musste. Unter erneuter Nutzung des nordöstlichen (Winter-)Monsuns setzte die Gesandtschaft ihre Reise im November 1291 fort, passierte die südostasiatische Straße von Malakka und nahm Kurs auf die im Indischen Ozean gelegene Insel Ceylon (Sri Lanka). Nachdem der Schiffsverband dort einen kurzen Zwischenstopp einge- legt hatte, setzte dieser im Januar 1292 erneut die Segel, schiffte sich in Erman- gelung von vorteilhaften Winden entlang der südwestindischen Malabarküste nordwärts und erreichte vermutlich im April 1293 die am Ausgang des Persi- schen Golfes situierte Hafenstadt Hormus. Der französische Literaturwissen-

schaftler nimmt an, dass die POLO’sche Mission in der Folge nicht vor Septem- ber bzw. Oktober 1293 abgeschlossen war, da die mittlerweile vom Ableben

ARGHUNS (10. März 1291) unterrichtete Eskorte einige Monate für den quer durch Persien führenden Weg nach Täbris benötigte und vom dort residierenden 99 Il-Khan CHIACATO (GAICHATU ; gest. 1295) wiederum in die südöstlich gele-

beschrieben noch mit Namen genannt wird, fehlt laut GUIGNARD jegliche (überzeugende) Erklärung. Vgl. GUIGNARD: Marco Polo, S. 412. 98 Interessanterweise war sich MÉNARD in der französischen Originalausgabe seiner ein Jahr zuvor erschienen Monographie (2007) noch sicher, dass die Gesandtschaft – entsprechend den Angaben im Buch der Wunder – für fünf Monate in Sumatra verweilen musste. Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 21. –– Derselben Meinung ist FRANCES WOOD. Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 49. 99 Nach dem Ableben des ARGHUN (1258-1291), riss dessen Bruder GAICHATU die Regentschaft über das Il-Khanat an sich und fiel in seiner vierjährigen Amtszeit (1291-1295) besonders durch sein

35 gene Stadt Abhar geschickt wurde, wo sie die Braut schließlich ihrem zukünfti- 100 gen Gemahl CASAN (GHAZAN ; 1271-1304) übergeben konnte. Aufgrund der nach Westen hin zu überquerenden Bergpässe, dürften die Venezianer Persien wohl 1295 mit dem Einsetzen des Frühlings und noch vor dem – im Buch der

Wunder unerwähnten – Tod des GAICHATU (26. März 1295) verlassen haben.

Nach Schätzung von PHILIPPE MÉNARD gelangten die POLOS über das im Nord- osten der heutigen Türkei gelegene Trepesonde (Trapezunt) im Sommer 1295 nach Konstantinopel, von wo aus sie via Negreponte (Negroponte101) ins heimat- liche Venedig segelten, welches sie nach 24-jähriger Abwesenheit mit Winter- beginn 1295 erreichten.102

Luxusleben (Frauen und Alkohol) auf, welches horrende Summen an Staatsgeld verschlang und sich auch durch die (erfolglose) Einführung des chinesischen Papiergeldes nicht dem Zorn der Bevölkerung entziehen konnte, sodass man ihn kurzerhand mit einer Bogensehne erdrosselte. Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 52f. 100 Dem glücklosen GAICHATU folgte dessen Neffe GHAZAN, welcher ohne offizielle Bestätigung des Großkhans den persischen Thron bestieg (1295) und als siebenter Il-Khan dringend notwendige Reformen durchführte: Er fixierte etwa die Höhe und Zahlungsarten der Steuern, bekämpfte die grassierende Korruption, rekultivierte die persischen Ländereien, reformierte das Münz- bzw. Justiz- system und reorganisierte das Postwesen. GHAZAN war es auch, der durch seinen Übertritt zum Is- lam (1295) den Grundstein für die Assimilation der Mongolen an die persische Bevölkerungsmehr- heit legte und jenen schlussendlich auch zur Staatsreligion erhob. Vgl. KOLLMAR-PAULENZ: Die Mongolen, S. 53f. 101 Bis heute in Italien verwendeter Name der griechischen Insel Euböa und Bezeichnung eines 1205 gegründeten Kreuzfahrerstaates im mittelalterlichen Griechenland. Die Herrschaft von Negroponte stand stets unter dem dominierenden Einfluss der Republik Venedig, bis die Insel schließlich 1470 vom osmanischen Reich annektiert wurde. 102 Vgl. MENARD, PHILIPPE: Marco Polo et la mer. Le retour de Marco Polo en Occident d’apres les diverses versions du texte. In: I viaggi del Milione: Itinerari testuali, vettori di trasmissione e meta- morfosi del Devisement du monde di Marco Polo e Rustichello da Pisa nella pluralità delle attesta- zioni. Convegno Internazionale, Venezia, 6-8 ottobre 2005. Hrsg. von SILVIA CONTE. Roma: Tiellemedia Editore 2008. S. 173-204. –– Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die ebenfalls auf dem Studium der Monsunwinde fußenden Untersuchungen des australischen Historikers JOHN H. PRYOR. Siehe PRYOR, JOHN H.: Marco Polo’s Return Voyage from China. Its Implications for „The Marco Polo Debate“. In: Travel and Travellers from Bede to Dampier. Hrsg. von GERALDINE BARNES und GABRIELLE SINGLETON. London: Cambridge Scholars Press 2005. S. 148-157.

36 IV. | KONTROVERSIELLE AUTORSCHAFT

Als die POLOS nach 24 Jahren wieder in die heimatliche Lagunenstadt gelangten, plante vermutlich keiner der drei eine Beschreibung ihrer fernöstlichen Erfahrungen und

Erlebnisse abzufassen, was den britischen Sinologen STEPHEN G. HAW nicht weiter zu verwundern weiß, zumal kein einziger der damals nach Asien gereisten Kaufleute eine diesbezügliche Darstellung hinterließ und zeitgenössische Fernostasienberichte ledig- lich von Franziskanermönchen überliefert wurden, welche nicht nur einen konkreten Berichtsauftrag hatten, sondern aufgrund ihrer rhetorischen Ausbildung eine ethno- graphische Beschreibung auch verschriftlichen konnten.103 Wie man der – dem Prolog

(G: II-XIX) vorangestellten – Salutatio (G: I) der franko-italienischen Variante (F) ent- nehmen kann, basierte MARCOS Buch der Wunder letztlich auf einem sich drei Jahre nach seiner Rückkehr ereignenden Zufall104: „Später, im Jahre 1298 nach Christi Geburt, als er zusammen mit Messer Rusticiaus von Pisa im selben Gefängnis zu Genua saß, bat er diesen, alles aufzuschreiben, was er ihm erzähle.“ (G: 10)

Dieser (singuläre) Hinweis auf die Entstehungsumstände des Textes impliziert die Frage nach dem „wann“ und „wo“ der Ergreifung sowie Inhaftierung des berühmten Venezia- ners und wird innerhalb der POLO-Forschung bis zum gegenwärtigen Tage heftig disku- tiert: Unter Bezugnahme auf die im 13. bzw. 14. Jahrhundert von Venedig und Genua um die Vorherrschaft im Levantehandel geführten Kriege, vermutet man allgemein, dass MARCO im Zuge eines genuesisch-venezianischen Seegefechtes gefangen wurde.

Nach Ansicht von DAVID JACOBY liefern aber weder die in der Imago Mundi („Welt- bild“) des JACOPO D’ACQUI (gest. nach 1334) vermerkte Auseinandersetzung vor Ayas 105 (ital. Lajazzo; 28. Mai 1294) , noch die von GIOVANNI BATTISTA RAMUSIO (1485-

103 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 45. 104 Wie STEPHEN G. HAW vermutet, sprach der von Nostalgie für sein früheres (chinesisches) Leben ergriffene MARCO des Öfteren über seine fernöstlichen Erfahrungen und wurde folglich von seinen (sicherlich vorhandenen) Zuhörern zu einer Buchverfassung motiviert bzw. angeregt. Die unvermu- tete Begegnung mit dem pisanischen Schriftsteller RUSTICHELLO DA PISA (13. Jh.) stellte in Verbin- dung mit der durch ihre Inhaftierung gegebenen Beschäftigungslosigkeit schließlich eine ideale Möglichkeit dar, MARCOS Geschichten zu Papier zu bringen. Vgl. IBIDEM. 105 Laut den Aufzeichnungen dieses Dominikaners fand dieses Gefecht 1296 statt, zur Zeit des Papstes BONIFATIUS VIII. (1294-1303). Historisch belegbar ist jedoch lediglich eine 1294 ausgefochtene Schlacht, im Zuge derer die Genuesen eine venezianische Flotte besiegten, nahezu alle Schiffe samt mitgeführter Waren erbeuteten und zahlreiche Venezianer gefangen nahmen. Vgl. BENEDETTO: Marco Polo, Il Milione. S. 110-113.

37 1557) veranschlagte (große) Seeschlacht bei Korčula (7./8. September 1298)106 eine

überzeugende Erklärung. Während sich erstere ein Jahr vor der POLO’schen Rückkehr im armenischen Königreich Kilikien und somit fernab der im Buch der Wunder angegebenen Heimreiseroute (Trapezunt-Konstantinopel-Negroponte-Venedig) (G:

XIX) ereignete, würde eine 1298 vor der dalmatinischen Küste erfolgte Festnahme den Entstehungszeitraum des Werkes auf lediglich acht Monate reduzieren, zumal die bei Korčula Inhaftierten bereits aufgrund eines von den beiden Seerepubliken am 25. Mai 1299 unterzeichneten Friedensvertrages (Friede von Mailand) wieder freigelassen wur- den. Stattdessen hält es der israelische Mediävist für wahrscheinlicher, dass MARCO bereits 1296, also wenige Monate nach seiner Rückkehr, von genuesischen Kaperschif- fen während einer im östlichen Mittelmeer erfolgten Geschäftsreise gefangen genom- men wurde und damit drei (Kerker-)Jahre zur Abfassung seines Berichts gehabt hätte.107

Eine ähnliche Option offeriert der französische Mediävist JACQUES MONFRIN, der die

Ergreifung MARCOS als mögliches Produkt eines 1296 ebenfalls vor Ayas (Yumurtalik) stattgefundenen und nicht in die Geschichte der venezianisch-genuesischen Auseinan- dersetzung eingegangenen Scharmützels bzw. Piratenüberfalls interpretieren will.108

Auch der deutsche Geograph DIETMAR HENZE bezweifelt die in dalmatinischen Gewäs- sern erfolgte Arretierung des venezianischen Kaufmannssohns, zumal eine zeitgenössi- sche Ballade das Eintreffen der vor Korčula verschleppten Venezianer erst für Mitte Oktober 1298 bezeugt und ihm der daraus resultierende Zeitraum für die Vollendung eines umfangreichen Buches als zu kurz erscheint.109

106 Der italienische Historiker und Geograph RAMUSIO sammelte alte Reiseberichte und ging allem nach, was die Erinnerung an die Familie POLO wachhielt. Seinen 1559 veröffentlichten Navigazioni e Viaggi („Navigationen und Reisen“) zufolge, nahm MARCO als Kommandant einer Kriegsgaleere an der im Adriatischen Meer ausgetragenen Schlacht teil, im Zuge derer sich die von ANDREA DANDOLO (gest. 1298) angeführte Armada Venedigs der genuesischen Flotte unter Admiral LAMBA DORIA (1245-1323) geschlagen geben musste. Tausende Venezianer wurden als Gefangene nach Genua gebracht, so auch der – wie RAMUSIO schildert – verwundete MARCO. Siehe I viaggi di Marco Polo, gentiluomo veneziano. In: Giovanni Battista Ramusio, Navigazioni e Viaggi. Hrsg. von MARICA MILANESI. 3 Bände. Turin: Giulio Einaudi 1980. Bd. III. S. 31. 107 Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 200f. 108 Vgl. MONFRIN, JACQUES: La tradition du texte de Marco Polo. In: Études de philologie romane. Hrsg. von JACQUES MONFRIN. Genève: Droz 2001. S. 514. (= Publications romanes et françaises. 230.) –– Von einer im Jahre 1296 stattgefundenen und nicht weiter dokumentierten venezianisch- genuesischen Auseinandersetzung bewaffneter Kaufleuten berichten auch MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. II, S. 34f. –– Der australische Historiker JOHN H. PRYOR hält dies für ein konstruiertes Argument zur Erweiterung der für die Verschriftlichung des POLO’schen Textes notwendigen Zeit- spanne und bemerkt, dass sich ein solches Gefecht der von den venezianisch-genuesischen Chroni- ken akribisch betriebenen Dokumentation nicht entziehen hätte können. Vgl. PRYOR: Marco Polo’s Return Voyage from China, S. 141. 109 Vgl. HENZE: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, S. 166f.

38 Diese Bedenken werden von MARINA MÜNKLER mit dem Verweis auf den unvermittel- ten Abbruch der POLO’schen Weltbeschreibung zurückgewiesen, welcher die deutsche Literaturwissenschaftlerin in ihrer Annahme bestärkt, dass das Buch der Wunder inner- halb einer relativ kurzen Zeitspanne entstanden sein und folglich ohne den im Mittel- 110 alter üblichen Epilog auskommen musste. PHILIPPE MÉNARD erachtet den Zeitfaktor schließlich als nicht ausschlaggebend, da der Venezianer nach seinem Dafürhalten wohl kaum in einem unterirdischen Verlies darben musste, da die Masse an Kriegsgefange- nen nicht gänzlich in den genuesischen Gefängnissen untergebracht worden sein konnte. Stattdessen geht der französische Literaturwissenschaftler davon aus, dass

MARCO vielmehr in einem Patrizierhaus unter Hausarrest stand und folglich eine rela- tive Freizügigkeit genoss, welche es ihm ohne Weiteres ermöglicht haben könnte, das Buch der Wunder in konzentrierter Zusammenarbeit mit seinem Mithäftling 111 RUSTICHELLO DA PISA (13. Jh.) zu verfassen. Während die Frage nach der exakten

Dauer des POLO’schen Inhaftierungsintermezzo aufgrund der verloren gegangenen Genueser Haftregister nicht geklärt werden kann, ist sich der an der Pariser Sorbonne lehrende Literaturprofessor ohnehin sicher, dass der venezianische Weltenbummler keineswegs mit einem fertigen Buch aus Genua abgereist sein kann, da sich die gegen

Schluss des Werkes geschilderte Schlacht (G: CCXXX-CCXXXIV) zwischen den Mongo- lenfürsten (gest. 1299) und TOKHTA KHAN (gest. 1312) erst 1299 ereig- nete und somit eine Fertigstellung des Werkes nach 1300 suggeriert.112

Unklar präsentiert sich auch die im Entstehungsprozess des POLO’schen Buches einge- nommene Rolle des Schriftstellers RUSTICHELLO DA PISA (13. Jh.), welcher vermutlich im Rahmen einer zwischen Pisanern und Genuesen ausgetragenen Seeschlacht nahe der toskanischen Insel Meloria (6. August 1284) in Kriegsgefangenschaft geraten war.113

110 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 57f. 111 Eine derartige Vermutung bestätigt der französische Mediävist JACQUES HEERS, welcher diese Form der Arretierung als damals gängige Praxis bezeichnet, zumal Genueser Familien mit in veneziani- scher Haft befindlichen Angehörigen auf einen möglichen Gefangenenaustausch hofften und folglich durchaus Interesse zeigten, Sträflinge in ihren Gemächern aufzunehmen. Vgl. HEERS, JACQUES: Marco Polo. Paris: Fayard 1983. S. 277f. 112 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 25f. –– Dieselbe Meinung ver- tritt der britische Sinologe STEPHEN G. HAW. Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 41. 113 Diese von der POLO-Forschung unisono geteilte Hypothese vermag jedoch nicht zu klären, warum RUSTICHELLO nicht im Zuge des am 15. April 1288 geschlossenen Friedensvertrages zwischen Ge- nua und Pisa entlassen worden war. Unter Berufung auf das erhaltene Siegel des Verbandes der in Genua inhaftierten Pisaner, welches den bezüglich einer Freigabe formulierten Petitionen beigefügt wurde, glaubt PHILIPPE MÉNARD, dass der Podestà von Genua die Begnadigung der Häftlinge längst

39 Im Auftrag des englischen Kronprinzen EDUARD PLANTAGENET (1239-1307) hatte die- ser bereits zwei in (alt)französische Sprache gekleidete Artusromane verfasst und folg- lich einige Bekanntheit erlangt. Laut der englischen Sinologin FRANCES WOOD dürfte

RUSTICHELLO nicht nur der Lieblingsautor des späteren englischen Königs (EDUARD I.; 1272-1307) gewesen sein, sondern jenen auch auf dessen Kreuzzug (1270-1272) nach 114 Palästina begleitet haben. Da sich die Familie POLO zu jener Zeit in Akkon befand

(1271/2), hält es PHILIPPE MÉNARD für möglich, dass der pisanische Schriftsteller den 115 jungen MARCO bereits im Heiligen Land kennengelernt haben könnte.

Unabhängig von einem im Rahmen ihres geteilten Arrests (etwaig) erfolgten Wieder- sehen, vermag die Forschung nicht festzustellen, ob MARCO seinem angeblichen Schrei- ber unmittelbar in die Feder diktierte und RUSTICHELLO diese Erzählungen Wort für Wort verschriftlichte oder aber lediglich jene Inhalte festhielt, welche nach seinem Dafürhalten einer Berichterstattung würdig waren. Auch wenn folglich nicht zu eruieren ist, welche Teile des Buches MARCO selbst beigesteuert hat und welche die Beifügun- gen von RUSTICHELLO – oder späteren Herausgebern – darstellen, so sollte die Kom- plexität der Verfasserfrage bis zu einem gewissen Grad dennoch erklärbar sein und nicht irrtümlich für – eine zugegebenermaßen im Rahmen dieser Diplomarbeit vorge- kommene – Verwirrung gehalten werden. Die Urheberschaft des Textes ist von vielen Mediävisten und Literaturhistorikern ausufernd untersucht und argumentiert worden, sodass gewisse Hypothesen bezüglich der Beiträge von MARCO POLO und/oder 116 RUSTICHELLO wohl wahrscheinlicher sind, als andere Vermutungen.

In seiner Marco Polo-Monographie bezeichnet JOHN CRITCHLEY den Einfluss des Pisaners auf die franko-italienische Fassung (F) als geringfügig, jedoch attestiert er dem Incipit des Buches eine ähnliche Eröffnungsrede, wie sie auch am Anfang von

RUSTICHELLOS Artusroman Meliadus de Leonnoys zu finden ist. Sowohl die Publikums- adressierung („Kaiser, Könige und Fürsten, Ritter und Bürger“; G: 9) als auch die

möglich hinausgezögert haben muss. Vgl. IBIDEM. –– Nach Ansicht von FRANCES WOOD dürfte die Freilassung des Schriftstellers im Zuge eines Gefangenenaustauschs frühestens 1299 erfolgt sein. Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 58. 114 Vgl. IBIDEM, S. 59. 115 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 27f. 116 Als Einführung zu jüngst durchgeführten Studien über RUSTICHELLO empfiehlt sich BERTOLUCCI- PIZZORUSSO, VALERIA: Nuovi studi su Marco Polo e Rustichello da Pisa. In: La cultura dell’Italia padana e la presenza francese nei secoli XII-XV. Hrsg. von LUIGINA MORINI. Alessandria: Edizioni dell’Orso 2001. S. 95-110.

40 Aufforderung zum Vorlesen des Buches stimmen wörtlich überein, was nach Ansicht des britischen Historikers insofern bemerkenswert ist, als dass MARCOS Bericht damit an die für höfische Epen bzw. Romane übliche Vermittlungsform des mündlichen Vor- trags gebunden wurde. In gleicher Weise ähnelt der ehrenvolle Empfang der zum

Großkhan zurückkehrenden POLOS – „(...) schickte er ihnen vierzig Tage vorher seine

Boten entgegen“ (G: 19) – der durch König ARTHUR veranlassten Entsendung von Män- nern zum Empfang des TRISTAN und entsprechen die an den jungen MARCO gerichteten

Begrüßungsworte KHUBILAIS (G: XV) jenen Begrüßungsbekundungen, mit welchen der sagenumwobene ARTHUR den jungen TRISTAN empfängt. Dem mongolischen Großkhan wird hiermit, so JOHN CRITCHLEY, die literarisch idealisierte Sprache des westeuropäi- schen Rittertums in den Mund gelegt, mittels derer KHUBILAI zugleich auf die Ebene der europäischen Courtoisie transponiert wird. Eine ebensolche Färbung ortet er in der von zeitgenössischen Romanen beeinflussten Beschreibung von Kampfszenen, während der französische Mediävist JACQUES MONFRIN in der Beschreibung des Ritters

CARADOC Parallelitäten zur franko-italienischen (F) Darstellung von KHUBILAIS 117 martialischer Nichte AIGIARUC (KHUTULUN ; ca. 1260 - ca. 1306) (G: CCII) lesen 118 will. Auf Basis einer Computeranalyse des berühmten Reisetexts konkludiert JOHN

CRITCHLEY, dass das Buch der Wunder ein homogenes Werk darstelle, da sich im Ver- gleich der Passagen keine Schwankungen hinsichtlich der Anzahl verschiedener Lemmata feststellen ließen. Solange nichts Gegenteiliges bewiesen werden kann, ver- tritt er schlussendlich die seiner Meinung nach solide Arbeitshypothese, dass die franko-italienische Textvariante (F) die Stimme, Meinung und Persönlichkeit des 119 MARCO POLO repräsentiert.

Der deutsche Historiker FOLKER REICHERT betont in diesem Zusammenhang die Arbeitsteilung zwischen dem seine Darstellungen diktierenden Autor und einem das Zusammengehörende edierenden Schreiber, welche er allen wichtigen mittelalterlichen

Berichten über Asien beimisst: so arbeitete der (rund fünfzig Jahre nach MARCOS

Asienaufenthalt) durch China reisende Franziskanermönch ODORICO DA PORDENONE

117 Die auch als AIYURUG/AIJARUC oder KHOTOL TSAGAAN bekannte Tochter des innerasiatischen Fürsten QAIDU KHAN (1235/36-1303) nahm als Kriegerin an den vor allem gegen KHUBILAI geführ- ten Kriegszügen ihres Vaters teil und soll darauf bestanden haben, nur denjenigen Mann zu heiraten, der sie in einem Ringkampf besiegen konnte. 118 Vgl. MONFRIN: La tradition du texte de Marco Polo, S. 525. 119 Vgl. CRITCHLEY, JOHN: Marco Polo’s Book. Aldershot, Hampshire and Brookfield, Vermont: Variorum 1992. S. 1-29.

41 (1286-1331) mit seinem Ordensbruder GUGLIELMO DI SOLAGNA im Rahmen der Erstel- lung seines Reiseberichts De mirabilibus mundi („Von den Wundern der Welt“) zusam- men und auch der venezianische Entdeckungsreisende NICOLÒ DE CONTI (ca. 1395-

1469) kooperierte mit dem päpstlichen Sekretär und Humanisten POGGIO BRACCIOLINI

(1380-1459), welcher NICOLÒS Schilderungen im vierten Buch seines 1448 erschiene- nen Dialogs De varietate fortunae („Über die Vergänglichkeit des Glückes“) veröffent- lichte.120

Beim Versuch einer Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse verweist der italienische Philologe CESARE SEGRE auf ein anderes häufig auftretendes Merkmal der franko-italienischen Version (F) des Reisetexts: MARCO POLO wird als Erzähler mesire Mar Pol genannt und in der dritten Person umschrieben bzw. zitiert, während sich RUSTICHELLO als le mestre bezeichnet und sich in der ersten Person Singular wie Plural zu erkennen gibt. An bestimmten Belegstellen scheint letzteres jedoch auch auf

MARCO POLO zuzutreffen und lässt laut SEGRE folglich auf die explizite Beanspruchung der Autorschaft von Seiten des Venezianers schließen, oder aber im Sinne eines inklusi- ven „wir“ Zeichen einer Gemeinschaft von Erzähler und an der Hand genommenem Leser sein.121 Solche Fälle ortet er nicht nur in der angesprochenen franko-italienischen Fassung (F), sondern auch in den toskanischen Varianten (TA) und dem lateinischen

Zelada-Manuskript (Z), welches im Übrigen RUSTICHELLO mit keinem Wort erwähnt. Der italienische Philologe finalisiert seine Ausführungen mittels der Conclusio, dass

MARCO POLO im Laufe seines genuesischen Gefängnisaufenthaltes RUSTICHELLO mit Notizen deskriptiven Charakters versorgt haben soll, während jener die narrativen Teile in einer literarischen Form verschriftlichte.122 Diese möglicherweise fieberhaft ausge- führte Arbeit wird ihm zufolge nicht nur im unvollständigen Charakter des Werkes sichtbar, sondern zeigt sich vor allem anhand der in den Erzählfluss eingewobenen

120 Vgl. REICHERT, FOLKER: Chinas Beitrag zum Weltbild der Europäer: Zur Rezeption der Fernost- kenntnisse im 13. und 14. Jahrhundert. In: Das geographische Weltbild um 1300 = Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 6 (1989), S. 41. 121 Dem widerspricht der deutsche Literaturwissenschaftler DIETMAR RIEGER, der die Verwendung des Majestätsplurals als Ausdruck des Duos MARCO POLO und RUSTICHELLO interpretieren will. Vgl. RIEGER, DIETMAR: Marco Polo und Rustichello da Pisa: Der Reisende und sein Erzähler. In: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von XENJA VON ERTZDORFF und DIETER NEUKIRCH. Amsterdam; Atlanta: Rodopi 1992. S. 303. (= Chloe. Beihefte zum Daphnis. 13.) 122 So liest sich beispielsweise in Kapitel CLVII folgendes: „Um euch noch besser über das fremde Land ins Bild zu setzen, will ich berichten, was Messer Marco erzählt hat.“ (G: 237)

42 Rückblenden, Ankündigungen, Korrekturen und plötzlichen Ansprüchen auf die Urhe- berschaft, die allesamt vom Venezianer selbst stammen müssen.123

Mit der Zeichnung eines – meiner Meinung nach – passiven Bildes des venezianischen

Globetrotters, nimmt MARINA MÜNKLER eine vollständig konträre Interpretationshal- tung innerhalb dieser Debatte ein. Demnach vermutet die deutsche Literaturwissen- schaftlerin, dass RUSTICHELLO die sachlichen Beschreibungen MARCO POLO’S nicht wörtlich ausgelegt, sondern jenen vielmehr überhaupt erst zum Berichten und Äußern bewegt haben soll. Diese Hypothese stützt sie auf RUSTICHELLO’S Beifügungen im Stile einer Aventüre-Dichtung und ihre prinzipielle Schlussfolgerung, dass Kaufleute des 13./14. Jahrhunderts lediglich instrumentelles (Geheim)Wissen für ihre Handelstätig- keiten im Osten generierten und somit das Gegenteil zum kategorischen Wissen der Mönche und dessen Verschriftlichung wie Verbreitung markierten. Hinsichtlich der

Texterstellung und als Mitglied des Kaufmannsstandes musste MARCO POLO folglich von jemandem anderen abhängig gewesen sein.124 Diese Folgerungen – so ich sie rich- tig verstehe – bedingen, dass dem Asienreisenden eine solche typische Händlerseele innewohnte, was MARINA MÜNKLER an anderer Stelle ihrer Dissertation indirekt bestreitet, wenn sie dem Venezianer Forschungsmissionen sowie diplomatische Auf- träge zuschreibt und so ihre Vorstellung eines zeitgenössischen Kaufmann-Stereotyps 125 transzendiert. Anderer Ansicht ist diesbezüglich GABRIELLA AIRALDI, welche MARCO

POLO’S Bericht als ein Fest der mercatura und eines Händlers lesen will, der sich wäh- rend der Betrachtung des Orients im Gewande eines okzidentalen Mannes selbst feiert. Der genuesischen Mediävistin zufolge besteht die Botschaft des berühmten Textes in der Auffassung, dass nur ein Kaufmann die Schlüssel zur Welterkenntnis besitzen und deren Wunder durchdringen wie auch erobern kann.126

123 Vgl. SEGRE, CESARE: Chi ha scritto il Milione. In: I viaggi del Milione: Itinerari testuali, vettori di trasmissione e metamorfosi del Devisement du monde di Marco Polo e Rustichello da Pisa nella pluralità delle attestazioni. Convegno Internazionale, Venezia, 6-8 ottobre 2005. Hrsg. von SILVIA CONTE. Roma: Tiellemedia Editore 2008. S. 5-16. 124 Vgl. MÜNKLER, MARINA: Erfahrung des Fremden: Die Beschreibung Ostasiens in den Augen- zeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin: Akademie-Verlag 2000. S. 60-66. 125 Vgl. IBIDEM, S. 106-110. 126 Vgl. AIRALDI, GABRIELLA: Autobiografia di Marco. In: Marco Polo 750 Anni: Il viaggio. Il libro. Il diritto. Hrsg. von FREDERICO MASINI, FRANCO SALVATORI und SANDRO SCHIPANI. Roma: Tiellemedia Editore 2006. S. 219.

43 V. | KOMPLEXITÄTEN DER ÜBERLIEFERUNG

Nicht zuletzt durch die Vielfalt seiner Beschreibungsmuster konnte der POLO’sche Reisetext bereits nach seiner ersten Niederschrift unterschiedlichste (Asien-)Interessen befriedigen und wurde folglich durch verschiedene Abschriften verbreitet sowie in meh- rere europäische Sprachen übersetzt. Im Zuge dieser (noch zu MARCOS Lebzeiten begonnenen) handschriftlichen Überlieferung veränderten zahlreiche Redaktoren, Über- setzer und Schreiber das in seiner deskriptiven Struktur durchaus heterogene Werk, passten es den Interessen der jeweiligen Auftraggeber bzw. Publika an und sorgten durch ihre Hinzufügungen wie auch Streichungen für eine derartige (textliche) Instabili- tät, dass das komplexe Konglomerat von etwa einhundertfünfzig verschiedenen Manu- skripten nahezu unmöglich nach seiner Nähe zum ursprünglichen Originaltext hierar- chisiert werden kann. Da über die Entstehung dieser Handschriften praktisch keine Informationen vorliegen, lässt sich letztlich auch nicht rekonstruieren, welche Manipu- lationen auf den vielleicht (nochmals) in die Verbreitung seines Textes eingreifenden Venezianer zurückgehen und welche von anderer Hand bewerkstelligt wurden. Zumin- dest einen gewissen Halt verleiht die von der POLO-Forschung getroffene Unterteilung der Handschriften in sechs relativ eindeutig voneinander zu unterscheidende Gruppen, innerhalb derer aber wiederum nicht unerhebliche Varianten des Textes existieren.127

V. I. | DIE FAMILIEN DER HANDSCHRIFTEN Die erste Gruppe bildet die aus etwa 20 Handschriften bestehende Familie der franko- italienischen Manuskripte (F), als deren „besterhaltenes“ das vom italienischen Histo- riker LUIGI FOSCOLO BENEDETTO (1886-1966) editierte Manuskript BN fr. 116 der Pari- ser Bibliothèque Nationale gilt,128 welches sowohl aufgrund seiner inhaltlichen Voll- ständigkeit als auch der um 1310 vermuteten Entstehungszeit wohl recht nahe an die verschollene Urfassung reicht. Die mit Italianismen durchsetzte altfranzösische Grund- sprache dieser Gruppe bringt den Tonfall des RUSTICHELLO DA PISA (13. Jh.) zum Aus- druck, imaginiert folglich die Gegenwart des Erzählers in dem als Devisement dou

127 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 82-86. 128 Siehe BENEDETTO: Marco Polo, Il Milione. In der jüngeren Vergangenheit auch editiert, aktualisiert und korrigiert von RONCHI, GABRIELLA (Hg.): Marco Polo, Milione. Le Divisament dou Monde. Mailand: Mondadori 1992.

44 Monde („Einteilung der Welt“)129 überlieferten Bericht und bildet die Grundlage der meisten Übersetzungen.130

Vermutlich auf einer Translation des franko-italienischen Textes basiert die rund 18 Handschriften umfassende Gruppe der französischen Manuskripte (FG)131, zu der auch etliche illustrierte Prachthandschriften gehören, die als Lese- bzw. Anschauungsbücher für den französisch-burgundischen Hochadel angefertigt wurden und wohl dessen Welt- kenntnis repräsentieren sollten. Deren berühmtesten Vertreter mimt der ebenfalls in der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrte Livre des Merveilles („Buch der Wunder“ –

BN, ms. fr. 2810), in welchem MARCOS Bericht gemeinsam mit anderen Asienberichten zu einem für Herzog JEAN DE VALOIS (1340-1416) bestimmten (Geschenks-)Buch zusammengefügt wurde. Einige Vertreter der französischen Manuskriptfamilie behaup- ten zudem, eine von MARCO POLO erstellte Abschrift des Originals darzustellen, wohl um sich mit der (speziell für die europäischen Hofkreise relevanten) Dignität der beson- deren Autornähe auszustatten. Verfasst in einem eleganten höfischen Französisch, das von italienischen Restbegriffen eines unbekannten Zeugenbergs durchzogen wird, ver- zichten jene auf die vermuteten groben Ungereimtheiten wie auch Fehler der franko- italienischen Variante und nähren dadurch die von einigen Forschern postulierte Annahme einer bis dato nicht gefundenen anderen Quelle.132

Auch die aus dem frühen 14. Jahrhundert stammende Familie der (alt)toskanischen Übersetzungen (TA)133 beruht auf der italienischen Übersetzung einer franko-italieni-

129 In der Sekundärliteratur wird der Buchtitel Devisement dou Monde allgemein als „Beschreibung der Welt“ übersetzt, jedoch finde ich, dass dies nicht den adäquaten Sinn des altfranzösischen Begriffes „deviser“ transportiert, welchem vielmehr ein (an)ordnendes, katalogisierendes sowie aufzählendes Bedeutungselement zuzuschreiben ist, weshalb ich mich schlussendlich für die von mir gewählte Betitelung „Einteilung der Welt“ entschieden habe. 130 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 9. 131 Es empfiehlt sich: MENARD, PHILIPPE (Hg.): Marco Polo, Le Devisement du Monde. 6 Bände. Genf: Droz 2001-2009. (= Textes littéraires français. 533; 552; 568; 575; 586; 597.) –– Diese maßgebliche kritische Ausgabe stützt sich auf ein frühes französisches Manuskript (B1), berücksichtigt jedoch auch die restlichen französischen Varianten (FG) sowie die wichtigsten Versionen der anderen Handschriftengruppen (F, TA, VA, P, Z) und ist darüber hinaus mit einem umfangreichen Variantenapparat samt Kommentar ausgestattet. 132 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 86f. 133 Besonders empfehlenswert ist die diesbezüglich fundamentale Ausgabe der in der Florentinischen 2 Bibliotheca Nazionale aufbewahrten toskanischen Handschrift TA . Siehe BERTOLUCCI- PIZZORUSSO, VALERIA (Hg.): Marco Polo, Milione. Versione toscana del Trecento. Neuauflage. Mailand: Adelphi 1994. –– Eine Transkription der toskanischen Darstellung findet sich auch unter http://it.wikisource.org/wiki/Milione (Stand 2013-11-03).

45 schen Textversion, jedoch neigen die fünf (unillustrierten) Handschriften dieser Gruppe nicht nur zur Kürze, sondern präsentieren sich auch hinsichtlich des Sprachstils von einer anderen Seite: Sowohl die rhetorischen Fragen an den Leser als auch die direkte

Rede fallen weitgehend weg, sodass der Asienbeschreibung das für RUSTICHELLO charakteristische, höfisch-statuarische Gepräge vollends entzogen wird. Ferner präsen- tieren diese toskanischen Varianten ihren Text unter dem (neuen) Titel Il Milione134 („Die Million“), welcher in Italien bis in die Gegenwart für das Buch, wie auch die Per- son MARCO POLOS die übliche Bezeichnung darstellt und sich einst wohl auf die Unglaubwürdigkeit seiner zahllosen Asien-Geschichten bezog.135

Noch stärker ausgedünnt präsentiert sich die Linie der venezianisch-emilianischen Manuskripttradition136 (VA), deren sechs Repräsentanten aus den ersten 30 Jahren des 14. Jahrhunderts stammen und sich wohl aus verschiedenen Handschriftenvarianten entwickelt haben. Obwohl noch teilweise zu Lebzeiten MARCOS in dessen Heimatstadt

134 Während die lateinischen, französischen und anderen Übersetzungen mit wechselnden Titeln be- zeichnet werden, tragen alle toskanischen Handschriften und späteren italienische Drucke diese Be- titelung, welche in der Forschung – so MARINA MÜNKLER – ursprünglich zumeist als eine Art Spott- name interpretiert wurde, mit dem man sich über den Erzähler unglaublicher Inhalte lustig gemacht und dessen Bericht folglich als eine Ansammlung maßloser Übertreibungen gelesen habe. Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 94. –– In Hinblick auf die Herkunft des Namens verweist VALERIA BER- TOLUCCI-PIZZORUSSO auf die Forschungsergebnisse des LUIGI FOSCOLO BENEDETTO (1886-1966), der den Terminus milione als üblichen Familien-Beinamen der POLOS interpretierte, anhand dessen die aus dem venezianischen Stadtviertel Emilione stammende Kaufmannsfamilie von anderen POLOS unterschieden wurde. Zwar stimmt die pisanische Romanistin BENEDETTO diesbezüglich zu, geht je- doch in weiterer Folge davon aus, dass diese Bedeutung bei der Überlieferung des Textes verloren ging und der Beiname Milione zunehmend als ein Zahlwort gelesen wurde, welches als Kennzeichen für die von MARCO beschriebenen Reichtümer des Ostens fungierte. Dass die Schilderung dieser Reichtümer von den Zeitgenossen des Fernostreisenden als unglaubwürdig eingestuft wurde, hält BERTOLUCCI-PIZZORUSSO hingegen für unwahrscheinlich, zumal deren Existenz ein damals unbe- strittenes Allgemeinwissen darstellte. Vgl. BERTOLUCCI-PIZZORUSSO: Marco Polo, S. 11. –– Einen ähnlichen Standpunkt nahm bereits der italienische Historiker und Geograph GIOVANNI BATTISTA RAMUSIO (1485-1557) ein, welcher das Attribut Milione als Ausdruck von MARCOS Zahlenbesessen- heit interpretierte, mit welcher jener die Vielfalt des Ostens verzeichnete. Siehe I viaggi di Marco Polo, gentiluomo veneziano, S. 30f. –– Eine gänzlich andere Auffassung vertritt IGOR DE RACHE- WILTZ, welcher die Beifügung Milion(e) als „Spitzname“ versteht und lediglich der Familienlinie des „älteren“ MARCO (DI SAN SEVERO) (gest. 1280) zuschreibt. Nach Ansicht des australischen Historikers verwechselte der Dominikaner JACOPO D’ACQUI (gest. nach 1334) dessen Enkel MARCO(LINO) mit dem berühmten Asienreisenden und begründete derart die fälschliche Zuordnung des in der Folge von Forschung und Öffentlichkeit (bis in die Gegenwart) rezipierten Kosenamens. Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 68f. 135 Vgl. EMERSLEBEN: Marco Polo, S. 122. 136 Diesbezüglich sei auf die moderne Edition der einzigen ganzheitlich erhaltenen Handschrift aus der venezianisch-emilianischen Manuskriptfamilie (VA) verwiesen: ANDREOSE, ALVISE; BARBIERI, ALVARO (Hgg.): Marco Polo, „Il Milione“ Veneto: ms. CM 211 della Biblioteca Civica di Padova. Venedig: Marsilio 1999.

46 entstanden, weist keine dieser Handschriften den zu erwartenden engen POLO’SCHEN Textgestaltungs-Bezug auf. Stattdessen verändern die im (alt)venezianischen Dialekt formulierten Fassungen den angenommen Ausgangstext durch Unterschlagung von Handlungssträngen wie auch ganzer Kapitel, ordnen letztere teilweise um und streichen

Redundanzen sowie die auf RUSTICHELLO zurückgehenden Anredefloskeln. Nach An- sicht der Wissenschaft sind diese dialektalen Adaptionen dennoch bedeutsam, denn aus ihnen scheinen eine lateinische, eine weitere toskanische, eine mittelhochdeutsche, eine spanische sowie eine portugiesische Übersetzung und schließlich auch die lateinische 137 PIPINO-Translation (P) hervorgegangen zu sein.

Diese (vermutlich) um 1310 entstandene lateinische Übersetzung (P) des italienischen

Dominikaner-Archivars FRANCESCO PIPINO DA BOLOGNA (ca. 1270 - nach 1328) erzielte nicht nur die größte Wirkung, sondern ist mit über 50 Handschriften auch die am breitesten überlieferte Fassung des POLO’schen Abenteuers und wurde folglich auch mehrfach übersetzt, unter anderem ins Französische, Irische, Böhmische, Venezianische und Frühneuhochdeutsche.138 Wahrscheinlich zum Zwecke der besonderen Legitima- tion vermerkt PIPINO in seinem Chronicon der Geschichte Westeuropas, dass er den

Text in lombardischer Fassung von MARCO POLO selbst erhalten habe, um ihn im Auf- trag seiner Ordensoberen ins Lateinische zu übersetzen. Um als ein zur Erbauung wie auch Ermahnung dienendes Beispiel der opera dei zu fungieren und die Notwendigkeit der missionarischen Arbeit zu belegen sowie speziell Mönche des (bereits in Asien missionierenden) Dominikanerordens zur Verbreitung des christlichen Glaubens anzu- spornen, wurde der ursprüngliche Text von jenem in einen völlig anderen Lesezu- sammenhang gestellt: Im Zuge seiner „klerikalen“ Systematisierung strich PIPINO etli- che (nicht ins Konzept passende) Kapitel(inhalte), beispielsweise die Werksentstehung in genuesischer Gefangenschaft sowie die Erwähnung des RUSTICHELLO, gab den mirabilia des Ausgangstexts eine theologische Ausrichtung und versah die Beschrei- bung mit dem gelehrter klingenden Titel De condicionibus et consuetudinibus orientalium regionum („Lebensweisen und Gebräuche der östlichen Länder“). Schließ-

137 Vgl. MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 10. 138 Siehe PRÁŠEK, JUSTIN V. (Hg.): Marka Pavlova z Benátek Milion: Dle jediného rukopisu spolu s přislušným základem latinským. Prag: Nákladem České Akademie Císaře Františka Josefa pro Vědy Slovesnost a Umění 1902. –– Dass es keine neuere Edition gibt, beruht auf der enormen Vielzahl erhaltener Handschriften, die in den unterschiedlichsten Bibliotheken weltweit oder in den Händen privater Sammler liegen. Die digitalisierte Version einer auf PIPINO basierenden Handschrift (Cod. Guelf. Weissenb. 40, fol. 7ff.) findet sich in der Herzog August-Bibliothek zu Wolfenbüttel: http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=mss/40-weiss (Stand 2013-11-03).

47 lich versieht die in drei gleich lange Bücher eingeteilte Übersetzung die dem Werk inne- wohnenden Aussagen über andere Religionen mit abwertenden Bemerkungen und bean- standet die in RUSTICHELLOS Version neutral dargestellten Sitten fremder Völker als abscheuliche Freveltaten.139

Eine andere, höchst bemerkenswerte lateinische Fassung, die nur in einer Handschrift sowie einer Abschrift des ausgehenden 18. Jahrhunderts überliefert ist, stellt das erst spät aufgefundene Zelada-Manuskript (Z) dar.140 Seinen Namen erhielt es durch den spanischen Kardinal FRANCESCO SAVERIO DE ZELADA (1717-1801), den früheren Besit- zer einer Manuskriptkopie, deren Vorlage erst 1932 in der Kathedralbibliothek zu

Toledo wieder entdeckt wurde. Diese vermutlich noch vor der PIPINO-Übersetzung (P) entstandene Übertragung hat vermutlich einen RUSTICHELLO-Text zur Vorlage, ist ins- besondere im ersten Abschnitt stark gekürzt und entfachte in der POLO-Forschung tur- bulente Diskussionen, da sie anhand einiger in keiner anderen Variante enthaltenen Ab- schnitte rund 200 neue Aussagen bezüglich der bereisten Länder hinzufügt. Auch wenn das Zelada-Manuskript (Z) die Muslime immer wieder verurteilt, so schildern ihre inhaltlichen Additionen die heidnischen Glaubensrichtungen wie auch deren ethische Tugenden mit bemerkenswerter Neutralität und offerieren detaillierte Beschreibungen etlicher Sachverhalte, welche in der franko-italienischen Version (F) nicht kommentiert oder von PIPINO scharf verurteilt werden. Auffallend ist auch, dass die Person des 141 MARCO POLO häufiger als in anderen Handschriften (als Gewährsmann) auftaucht.

Dem dadurch erweckten Forschungsinteresse steht die Tatsache entgegen, dass das Zelada-Manuskript (Z) ob der nur in ihm zu konstatierenden Inhaltszuwächse keine wichtige Rolle in der Überlieferung des POLO’schen Berichts gespielt haben kann. Eingegangen sind diese Hinzufügungen nämlich lediglich in die 1559 veröffentlichte

Abschrift (R) des italienischen Historikers und Geographen GIOVANNI BATTISTA

139 Vgl. KNEFELKAMP, ULRICH: Marco Polo. Reiseliteratur zwischen Realität und Fiktion. Überlegun- gen eines Historikers. In: Semiotische Weltmodelle. Mediendiskurse in den Kulturwissenschaften. Festschrift für Eckhard Höfner zum 65. Geburtstag. Hrsg. von URSULA BOCK und HARTMUT SCHRÖDER. Münster: LIT Verlag 2010. S. 335f. (= Semiotik der Kultur. 8.) 140 Siehe BARBIERI, ALVARO (Hg.): Marco Polo, Milione. Redazione latina del manoscritto Z. Versione italiana a fronte. Parma: Fondazione Pietro Bembo / Ugo Guanda 1998. –– Diese Edition beinhaltet eine moderne Transkription einer in der mailändischen Biblioteca Ambrosiana aufbewahrten Kopie (ms. Y160) des toledischen Zelada-Manuskripts (Z) sowie einen Appendix zu den in ihr nicht enthaltenen Passagen. 141 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 91f.

48 142 RAMUSIO (1485-1557), welcher – ganz den humanistischen Bestrebungen seiner Zeit folgend – anhand des Vergleiches verschiedener Handschriften einen möglichst voll- ständigen Text herzustellen versuchte. Schenkt man der ersten Ausgabe seiner unter dem Titel Navigazioni e Viaggi („Navigationen und Reisen“) überlieferten dreibändi- gen Sammlung von Berichten berühmter Reisender Glauben, so hat RAMUSIO eine latei- nische Abschrift des Buches Di maravigliosa antichità („Von fabelhafter Altertümlich- keit“) eingesehen, welche er als erste Kopie von MARCOS eigenem Originalexemplar vermutete, diese mit seiner PIPINO-Vorlage (P) verglichen und schließlich durch das ihm zugängliche Zelada-Manuskript (Z) sowie eine Reihe (unausgewiesener) anderer Handschriften ergänzt.143

V. II. | DISKUSSION UND FORSCHUNGSTENDENZEN

Das Fehlen eines grundlegenden MARCO POLO Texts behandelt FRANCES WOOD aus- führlich anhand zweier Aufsätze. Darin identifiziert die englische Sinologin die Text- version des FRANCESCO PIPINO (P) als die brauchbarste und ursprünglichste Variante der berühmten Reisebeschreibung und kritisiert zugleich die Zusammenstellung von kombinierten Fassungen, welche ihr zufolge die Kompliziertheit der Handschriften- Überlieferung verschleiert. Andere dem Originaltext nahestehende Exspektanten ortet sie in der um 1400 abgeschriebenen französischen Handschrift ms. Bodley 264 (B2) (58 Blätter inklusive 38 Illustrationen) sowie in einer venezianischen Handschrift des Jahres 1437 (39 Blätter), die im Department of Manuscript der British Library aufbewahrt wird.144 Generell scheint die Britin längere Texte als Ergebnis späterer Ergänzungen zu verstehen, da sie diesbezüglich besonders auf jene 200 zusätzlichen Stellen verweist, die im Zelada-Manuskript (Z) und in RAMUSIOS Übersetzung (R) enthalten sind, nicht jedoch in den franko-italienischen (F) und frühen französischen Versionen (FG): „Without a base text, such insertions could be the work of a mid-fifteenth century (or later) copyist, rather than a phenomenon ‚observed’ by Marco Polo in the late thirteenth century.“145 Des Weiteren schenkt sie ihre Aufmerksamkeit vor allem der

142 Diese Abschrift findet sich als I viaggi di Marco Polo, gentiluomo veneziano. In: Giovanni Battista Ramusio, Navigazioni e Viaggi. Hrsg. von MARICA MILANESI. 3 Bände. Turin: Giulio Einaudi 1980. Bd. III. S. 9-297. 143 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 92f. 144 Vgl. WOOD, FRANCES: Did Marco Polo Go To China? In: Asian Affairs. Journal of the Royal Society for Asian Affairs, Vol. 28, Issue 3 (1996), S. 302. 145 WOOD, FRANCES: Marco Polo’s Readers: The Problem of Manuscript Complexity. In: Asian Research Trends. A Humanities and Social Science Review, Vol. 10 (2000), S. 70.

49 1496 gedruckten Sessa-Version und feiert diese als eine von Einfügungen verschonte Niederschrift, der sie – verglichen mit den franko-italienischen (F) und französischen Varianten (FG) – einen höheren Grad an Authentizität beimisst.146

In ihrer Argumentation stützt sich FRANCES WOOD auf die Forschungsergebnisse der deutschen Sprachwissenschaftlerin BARBARA WEHR, die den genuesischen Gefängnisaufenthalt des Venezianers ausgehend von dessen Nichtberücksichtigung in zeitgenössischen Chroniken abstreitet und die frühe franko-italienische Handschrift (F) als eine Übersetzung RUSTICHELLOS rezipiert. Diese soll auf einem von MARCO POLO einst selbst geschriebenen und mittlerweile verlorenen Urtext basieren, der höchstwahrscheinlich in einem urbanen Venezianisch verfasst war und dem ihr zufolge die lateinische Version des PIPINO (P) am nächsten kommt. Um seine Aufzeichnungen glaubwürdig erscheinen zu lassen, soll RUSTICHELLO behauptet haben, dass der

Venezianer ihm das Buch der Wunder diktiert habe. Ferner sieht WEHR ihre Vermutungen durch die angenommene Hinzufügung der letzten Buchkapitel bestätigt, welche von den mongolischen Kriegen (G: CCXXII – CCXXXIV) zu berichten wissen und nicht anmuten, mit dem restlichen Werk zu korrespondieren.147

Eine ausführliche Kritik dieser vorgenannten Hypothese formuliert der schottische

Historiker JOHN LARNER, der die erste Fassung der Reisebeschreibung sehr wohl als venezianisch-pisanische Literaturkooperation der beiden Häftlinge versteht und hierfür folgende Begründungen offeriert:148

a) Die Version des PIPINO (P) repräsentiert einen Text, der von einem gelehrten Dominikaner zu einem Buch modifiziert wurde, welches das adressierte geistlich-gebildete Publikum ohne jegliche Missachtung lesen konnte.

b) MARCO POLO hatte keinerlei Ausbildung oder Erfahrung in den Freien Küns-

ten und wäre daher nicht in der Lage gewesen, einen der PIPINO-Übersetzung (P) ähnlichen Text zu verfassen.

146 Vgl. IBIDEM, S. 72. –– Die Hervorhebung jener ‚späten’ Sessa-Version wird vom deutschen Sinolo- gen HANS-ULRICH VOGEL als merkwürdig eingestuft, da es sich hierbei zweifellos um einen drama- tisch verkürzten Text handelt, dessen Diskussion im Rahmen der POLO’schen Textgenese sinnlos er- scheint. Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 22. 147 Vgl. WEHR, BARBARA: A propos de la genèse du „Devisement dou Monde“ de Marco Polo. In: Le passage à l’écrit des langues romanes. Hrsg. von BARBARA FRANK, JÖRG HARTMANN und MARIA SELIG. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1993. S. 299-326. (= Scriptoralia. 46.) 148 Vgl. LARNER, JOHN: Marco Polo and the Discovery of the World. London; New Haven: Yale University Press 1999. S. 52-56.

50 c) Da der Venezianer 24 Jahre in Fernost verbrachte und folglich über keine westliche Literaturtradition unterrichtet hätte sein können, musste er wohl

die Dienste eines versierten Autors à la RUSTICHELLO annehmen, um seine Beobachtungen in eine Reiseschrift zu kleiden. Die dennoch zahlreich ent- haltenen Elemente eines mündlich-epischen Stils bezeugen diese Kollabora- tion der beiden. d) Der von den Geschichtsschreibern der damaligen Zeit unerwähnte Gefäng- nisaufenthalt zu Genua repräsentiert ein äußerst strittiges argumentum ex silentio, da mittelalterliche Chronisten unzählige Geschehnisse von kontem- porärem Interesse unbeachtet ließen.149

e) Die verschwiegenen Ursachen der MARCO POLO’schen Arretierung erklären sich durch die unpersönliche Darstellung seines Lebenslaufs und die ohnehin distanzierte Schilderung der gesammelten Reiseerfahrungen. f) Angesichts der zur Rückreise wahrgenommenen Begleitung der mongoli-

schen Prinzessin COCACIN (KÖKECHIN/KÖKÖTCHIN; gest. 1296) und des im lateinischen Zelada-Manuskript (Z) angegebenen Todesjahres (1299) des

mongolischen Prinzen NOGAI KHAN (gest. 1299), kann man durchaus anneh-

men, dass MARCO POLO aufgrund seines fortbestandenen Interesses an poli- tisch-militärischen Entwicklungen des Mongolenreichs die Hintanstellung der divergierenden Schlusskapitel forcierte. g) Der Fernostreisende ging mit der Niederschrift des Pisaners sehr wohl kon-

form, wie die von MARCO POLO dem THIBAUT DE CHEPOY als Geschenk für

KARL I. VON VALOIS (1270-1325) mitgegebene Kopie des RUSTICHELLO- Texts und die darin enthaltene Darstellung der Häftlings-Zusammenarbeit bezeugen.150

149 Dies ist nicht vollständig richtig, da der Dominikaner JACOPO D’ACQUI (gest. nach 1334) – ein Zeit- genosse des Asienreisenden und erster „Biograph“ desselben – in seiner Imago Mundi („Weltbild“) sehr wohl von MARCOS Gefangennahme und Inhaftierung berichtet, jedoch werden seine wider- sprüchlichen Informationen von Seiten der Forschung als allgemein unzuverlässig eingestuft. Vgl. MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. I, S. 26ff. 150 Die im August 1307 erfolgte Übergabe des für den französischen Prinzen bestimmten Geschenks an dessen Repräsentanten THIBAUT DE CHEPOY wird im Vorwort dreier früher französischer Hand- schriften der B-Familie (B3, B4, B5) geschildert. Diese wissen auch zu berichten, dass es sich hierbei um die erste, von MARCO POLO selbst angefertigte Kopie seiner Reisebeschreibung gehandelt haben soll. Ob diese Behauptung eine Übertreibung oder die freundliche Geste eines Kopisten gegenüber seinem erhabenen Adressaten darstellt, ist laut dem französischen Literaturwissenschaftler PHILIPPE MÉNARD nicht zu klären und bietet vielmehr einen weiten Spielraum für Interpretationen und Frage- stellungen. Vgl. MÉNARD: Marco Polo, Bd. I, S. 24-28. –– Der britische Historiker PETER JACKSON

51 h) Aufgrund der räumlichen Begrenztheit der damaligen italienischen Stadt- staaten sowie der ihnen innewohnenden potenziellen ZeugInnen, hätte die Kreation einer (produktionsspezifischen) Lüge einem sicheren Verlust ihrer Glaubwürdigkeit entsprochen.

In einem weiteren Forschungsartikel will BARBARA WEHR das im altvenezianischen 1 Dialekt der terra ferma verfasste Fragment VA als Fundament RUSTICHELLOS – und somit der franko-italienischen Handschrift (F) – erkennen, da sie in letzterer die Über- nahme von Elementen aus VA1 konstatiert und das Fragment ihr zufolge keine Gallizis- men beinhalte. Hinsichtlich der Frage, ob VA1 (auch) auf dem vermutet-verlorenen Urtext beruht, vermag die deutsche Sprachwissenschaftlerin keine Antwort zu geben, 1 jedoch schließt sie Wechselbeziehungen zwischen VA und PIPINOS Darstellung (P) dezidiert aus.151

Auch wenn JOHN CRITCHLEY mit den WEHR’schen Präsumtionen sympathisiert, so näh- ren seine in der Diskussion um die Zusammenhänge zwischen franko-italienischer (F), venezianisch-emilianischer (VA) und jener Darstellung des PIPINO (P) vorgebrachten Argumente letztendlich doch jene Theorie, die in der franko-italienischen Variante (F) den grundlegenden Text der Reisebeschreibung erkennen will:

„If there was indeed a (now lost) Venetian text behind F, Pipino does not on this evidence appear to be a translation of it, or at any rate a translation of all of it. In this case F remains the best basic text of Polo’s book; it is not the best possi- ble, but it is the best we have.“152

Der britische Historiker untermauert seine Schlussfolgerungen, indem er darauf hin- weist, dass FRANCESCO PIPINO zweifellos Inhalte weggelassen hat und kaum mehr Aus- kunft als die franko-italienische Version (F) zu geben vermag. Zudem mögen die Beifü- gungen des Dominikaners tatsächlich einem nunmehr verschollenen venezianischen Text entstammen, jedoch findet sich dieser nicht unter jenen des erhaltenen VA-

verweist auf die Unmöglichkeit des genannten Schenkungsdatums, da THIBAUT Venedig bereits im Mai 1307 Richtung Brindisi verlassen hatte. Vgl. JACKSON: Marco Polo and his Travels, S. 86. 151 1 Vgl. WEHR, BARBARA: Zum altvenezianischen Fragment VA des Reiseberichts von Marco Polo. In: La cultura dell’Italia padana e la presenza francese nei secoli XII-XV. Hrsg. von LUIGINA MORINI. Alessandria: Edizioni dell’Orso 2001. S. 111-142. 152 CRITCHLEY: Marco Polo’s Book, S. 139f.

52 Strangs. Die für einen ausgebildeten Kleriker so charakteristische, missbilligende Aus- schmückung von Sozial- und Religionspraktiken, wie beispielsweise der Muslime, modifiziert das Buch der Wunder zu einem Konvertierungsinstrumentarium, dessen eigentümliche Dreiteilung laut CRITCHLEY auf der franko-italienischen Handschrift (F) fußt, jedoch keine Anknüpfungspunkte zur VA-Überlieferung zu spinnen vermag.153

Einen kritischen Standpunkt hinsichtlich der Anordnung von integralen und kombinier- ten (Text)Versionen nimmt neben FRANCES WOOD auch der französische Literatur- professor PHILIPPE MÉNARD ein, der im Rahmen seiner textkritischen Forschungsarbeit von sich stetig in Bewegung befindlichen Texten spricht und nicht einen, sondern zwei klar differenzierbare Grundtexte der POLO’schen Reiseschrift erkennen will: zum einen ist das die relativ vollständige franko-italienische (F) und französische Überlieferung (FG), zum anderen die mit zahlreichen Beifügungen und Tilgungen versehene Tradie- 154 rung des Zelada-Manuskripts (Z). Infolgedessen negiert er die von WEHR und WOOD postulierte Nähe des gedachten Originaltextes zur Fassung des FRANCESCO PIPINO (P), da er diese als eine deutlich gekürzte und verwandelte Edition demaskiert.155

Der paduanische Philologe ALVARO BARBIERI – ein angesehener MARCO POLO-For- scher – bezeichnet die von WEHR lokalisierten Inkohärenzen und Irrtümer der franko- italienischen Handschrift (F) als bedeutungslos, da sich diese als Kopie bereits fernab der Vollständigkeit und Integrität des verlorenen Originals präsentiert. Ferner weiß er unter Berufung auf die textkritischen Arbeiten des LUIGI FOSCOLO BENEDETTO von einwandfreien Beweisen zu berichten, die belegen, dass sich PIPINOS Werk (P) aus der venezianisch-emilianischen Manuskript-Familie (VA) speist. Abschließend wirft

BARBIERI der deutschen Linguistin vor, die für jeglichen Rekonstruktionsversuch der

153 Vgl. CRITCHLEY: Marco Polo’s Book, S. 137-148. 154 Basierend auf der franko-italienischen Handschrift (F) versuchte sich jüngst ein Forschungskollektiv dennoch am Anreiz der Zusammenstellung einer neuen ganzheitlichen Version. Siehe BURGIO, EUGENIO; EUSEBI, MARIO: Per una nuova edizione del Milione. In: I viaggi del Milione: Itinerari testuali, vettori di trasmissione e metamorfosi del Devisement du monde di Marco Polo e Rustichello da Pisa nella pluralità delle attestazioni. Convegno Internazionale, Venezia, 6-8 ottobre 2005. Hrsg. von SILVIA CONTE. Roma: Tiellemedia Editore 2008. S. 17-48. 155 Vgl. MÉNARD: Marco Polo, Bd. I, S. 13-17.

53 MARCO POLO’schen Textgeschichte unverzichtbare Textüberlieferung des Zelada- Manuskripts (Z) in deren Gesamtheit nicht berücksichtigt zu haben.156

Im Rahmen dieser Diskussion unterbreitet der britische Geschichtswissenschaftler

PETER JACKSON den Vorschlag, dass sowohl die Zusätze des toledischen Zelada-

Manuskripts (Z) als auch jene der Abschrift (R) des GIOVANNI BATTISTA RAMUSIO auf eine supplementäre mündliche Auskunft des MARCO POLO zurückgehen könnten. Diese seine These meint er mithilfe des Verweises auf die Lieferung ähnlicher (Text)Zuwächse seitens früherer Besucher des Mongolenreichs bestätigt zu wissen:

Demnach entlockte der italienische Chronist SALIMBENE DE ADAM (1221-nach 1281) dem franziskanischen Mönch JOHANNES DE PLANO CARPINI (ca. 1182-1252), der als päpstlicher Gesandter 1247 aus dem Osten zurückgekehrt und folglich ein gefragter Tischgast des lateinischen Westens war, ergänzende Informationen, die dessen Historia Mongalorum („Geschichte der Mongolen“) nicht enthielt. In ähnlicher Weise kontak- tierte der englische Franziskaner ROGER BACON (ca. 1214-1294) den von den Mongolen zurückgekehrten Flamen WILHELM VON RUBRUK (ca. 1215 - nach 1257) in Paris, um für sein Werk Einzelheiten dessen Itinerarium ad partes orientales („Reise in den Osten“) 157 nachzuprüfen. ALVARO BARBIERI erteilt diesen Überlegungen jedoch eine strenge Absage, da er die Problematiken des Zelada-Manuskripts (Z) und auch jene bei

RAMUSIO auf das franko-italienische Modell (F) zurückführt. Darüber hinaus erscheint es dem paduanischen Philologen überaus unwahrscheinlich, dass MARCO POLO einen bereits an offenkundigen Mangelerscheinungen leidenden Text mit Ergänzungen ver- sah.158

156 Vgl. BARBIERI, ALVARO: Quale Milione? La questione testuale e le principali edizioni moderne del libro di Marco Polo. In: Dal viaggio al libro. Studi sul Milione. Hrsg. von ALVARO BARBIERI. Verona: Grafiche Fiorini 2004. S. 62-67. (= Medioevi. 6.) 157 Vgl. JACKSON: Marco Polo and his Travels, S. 85. 158 Vgl. BARBIERI: Quale Milione, S. 63-67.

54 VI. | KOHÄRENZPROBLEME DES „ITINERARS“

In der Salutatio (G: I) des franko-italienischen Textes (F) kündigt RUSTICHELLO DA PISA die auf den Prolog (G: I-XIX) folgenden 215 Buchkapitel (G: XX-CCXXXIV) als eine Schilderung von gleichsam Ungewöhnlichem wie auch Erstaunlichem an, anhand dessen die Leserschaft erfahren möge, „(...) wie sich Groß-Armenien, Persien, die Tatarei, Indien und viele andere Reiche voneinander unterscheiden.“ Ferner versichert der pisanische Schriftsteller, dass MARCO von jenen Dingen erzählen werde, welche

„(...) er mit eigenen Augen gesehen hat“ (G: 9), jedoch das Buch auch einzelnes beinhalte, was der Venezianer von integren Zeugen gehört habe. RUSTICHELLO leitet damit also ein enzyklopädisch anmutendes Werk ein, welches sich unter Berufung auf

MARCOS beinahe ausschließlich erfolgte Augenzeugenschaft zum Ziel gesetzt hatte, den asiatischen Kontinent von der kleinasiatischen Mittelmeerküste über Persien, Zentralasien sowie (das mongolische beherrschte) China bis hin zu Indien und der (süd)ostasiatischen Inselwelt zu skizzieren.

VI. I. | EIN GEO-ETHNOGRAPHISCHES DICKICHT

Die gelegentlich disziplinlose Art des von MARCO POLO präsentierten Berichts führt der australische Historiker und Philologe IGOR DE RACHEWILTZ auf den Umstand zurück, dass dem venezianischen Kaufmannssohn die Zwänge eines Tagebuchschreibers, Chro- nisten oder Kompilators von Reise-/Handelshandbüchern fehlten. Da MARCO die Lagu- nenstadt als Heranwachsender verlassen und den Großteil seines Erwachsenenlebens in fremden Ländern verbracht hatte, attestiert ihm DE RACHEWILTZ zudem eine limitierte Kenntnis der geschriebenen Sprache, welche sich folglich auf Basisvokabular und ste- reotype Formeln der mercatura beschränkt haben könnte. Der beharrlichen Kritik am Fehlen einer persönlichen Komponente in den Textzeilen des (angeblich) eifrigen

Beobachters begegnet der Australier mit dem Verweis auf den Prolog (G: I–XIX) des Werkes und dessen „(...) title of which is The Description of the World, not My Life & Travels. The description of places and peoples is what matters, and Marco's involve- ment in them is purely incidental.“159

Zudem betont REINHOLD JANDESEK, dass der POLO’sche Text kein Itinerar im engeren Sinne darstellt, sondern vielmehr einen Orientierungspunkt für die Beschreibung einer

159 DE RACHEWILTZ, IGOR: Wood’s Did Marco Polo Go to China? A Critical Appraisal.

55 von MARCO gewählten geographisch-politischen Region markiert und somit jene Weg- strecken aufzeigt, derer es bedarf, um an verschiedene Landesgrenzen zu gelangen. Anlässlich der Weiterreise in eine andere Region sieht der deutsche Historiker diese geographischen Anhaltspunkte erneut aufgegriffen, sodass im Buch der Wunder nicht eine Reiseroute die Struktur des Hauptteils diktiert, sondern die systematische Heran- 160 gehensweise in MARCOS Schilderung einer unbekannten Welt. Die im Buch der Wun- der offerierte Beschreibung des asiatischen Kontinents folgt, so MARINA MÜNKLER, in ihren Grundzügen zwar sowohl der im Zuge von MARCOS Hin- bzw. Rückreise einge- schlagenen Route als auch dem Verlauf der im Auftrag des Großkhans in China (angeb- lich) unternommenen Gesandtschaftsreisen, tut dies aber lediglich zum Zwecke eines formalen Gliederungsschemas, welches die geographische Darstellung mit dem An- spruch verknüpft, aus eigener Anschauung zu schildern. Da sich die Angaben des Bu- ches nach ihrem Dafürhalten folglich nicht (wirklich) zu einer durchgängigen Weg- strecke verknüpfen lassen und die im Zuge des Verzeichnens von Städten wie auch Provinzen getätigten Angaben von Ortswechseln und ihrer Zeitdauer im Präsens der ethnographischen Beschreibung formuliert sind, will die deutsche Literaturwissen- schaftlerin das POLO’sche Werk nicht als einen die exakten Wegstrecken aneinander- reihenden Reisebericht verstanden wissen, sondern als eine mit historiographisch-ethno- graphischen Elementen versehene Raumbeschreibung lesen, deren Deskription anhand eingeflochtener Kurzerzählungen narrativ verdichtet wird.161

160 Vgl. JANDESEK, REINHOLD: Das fremde China. Berichte europäischer Reisender des späten Mit- telalters und der frühen Neuzeit. Pfaffenweiler: Centaurus 1992. S. 33. (= Weltbild und Kultur- begegnung. 3.) Als Orientierungspunkte bezeichnet er beispielsweise die südostiranische Stadt Cherman (Kerman) (G: XXXV) für Persien, das nordwest-chinesische Canpiciou (Zhāngyè bzw. Gànzhōu) (G: LXII) für das Reich der Tangut und das nordost-chinesische Giongiu (Zhuōzhōu) (G: CVII) für (Nord-)China. 161 Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 66-74. –– Bis zum gegenwärtigen Tage versuch(t)en zahlreiche Wissenschaftler und POLO-Enthusiasten die Reiseroute MARCOS (anhand moderner Karten) zu rekonstruieren oder gar nachzureisen. Da deren Ergebnisse aufgrund ihrer oftmals enthaltenen Detailverliebtheit wie auch Komplexität den Rahmen der vorliegenden Diplomarbeit sprengen wür- den, kann an dieser Stelle lediglich auf das Studium weiterführender Literatur verwiesen werden. Prägnante Überlegungen zu den beiden POLO’schen Reisen finden sich in HAW: Marco Polo’s China, S. 48-51. Detaillierte Analysen bezüglich des vom Venezianer eingeschlagenen Weges offe- rieren MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 33-179 sowie HENZE: Enzyklo- pädie der Entdecker und Erforscher der Erde, S. 185-311. In die Fußstapfen des venezianischen Kaufmannssohns traten der amerikanische National Geographic-Fotograf MICHAEL S. YAMASHITA, der amerikanische Weltenbummler HARRY RUTSTEIN sowie die beiden New Yorker Reisefotografen DENNIS BELLIVEAU und FRANCIS O’DONNELL. Siehe YAMASHITA, MICHAEL S.: Marco Polo. A Photographer's Journey. Vercelli: White Star Publishers 2011. – RUTSTEIN, HARRY: The Marco Polo Odyssey. In the Footsteps of a Merchant Who Changed the World. Seattle: Bennett & Hastings

56 HANS ULRICH VOGEL betont, dass sowohl die von MARCO POLO erwähnten Namen als auch die wichtigsten Ereignisse weitgehend korrekt sind, und dies nicht nur hinsichtlich politischer wie militärischer Angelegenheiten der Fall ist, sondern auch für die über- lieferten Toponyme gilt, deren Großteil ohne erhebliche Schwierigkeiten identifiziert werden kann.162 Allerdings besteht für den deutschen Sinologen kein Zweifel, dass

MARCO POLO auch zeitweise irrte und sich in Detailangelegenheiten durchaus Fehler erlaubte.163

Ein jüngst erschienener Beitrag von JEAN-CLAUDE FAUCON weist die Ansammlung einer derart großen Datenmenge als einen der innovativen Faktoren aus, welcher ent- scheidend zu Verbreitung und Erfolg des Berichts beitrug. Die diesbezüglich durchge- führte Untersuchung der in den frühen französischen Fassungen (FG) enthaltenen 193 (Buch)Kapitel bescherten dem französischen Mediävisten 1.100 quantitative Angaben, deren Mehrzahl sich Menschen (ca. 260; zumeist Soldaten, aber auch Königen, Khanen, deren Verwandten und Dienern, sowie Generationen, Einwohnern, Reisenden und Bo- ten) und Entfernungen zu Wasser wie Land (ca. 245) widmete, gefolgt von zeitlichen Angaben (ca. 120; Dauer, Alter, Datum), Maßen (ca. 100), Werten (ca. 55), Tieren (ca. 40), Schiffen, Städten (Bauwerken und Residenzen), Erdkundlichem, Kleidungen, Rüs-

Publishing 2008. – BELLIVEAU, DENNIS; O’DONNELL, FRANCIS: In the Footsteps of Marco Polo. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield 2008. 162 Die gründlichste Untersuchung der von MARCO POLO offerierten Ortsbezeichnungen hat der französische Sinologe und Zentralasienforscher PAUL PELLIOT unternommen. Siehe PELLIOT, PAUL: Notes on Marco Polo. 3 Bände. Paris: Imprimerie Nationale, Librairie Adrien-Maisonneuve 1959- 1973. Als Orientierungshilfe empfiehlt sich der britische Sinologe STEPHEN G. HAW, der einen (teilweise) aktualisierten Überblick unterbreitet. Siehe HAW: Marco Polo’s China, S. 82-123. 163 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 36f. –– Beispielsweise korrigiert der ägyptisch-ameri- kanische Historiker MORRIS ROSSABI anhand der (chinesischen) Annalen der Yuán-Dynastie (Yuánshǐ) die von MARCO POLO geschilderte Anzahl der anlässlich der mongolischen Invasion des Königreichs Mien (Burma bzw. Myanmar) erbeuteten Elefanten: der Provinzgouverneur NESCRADIN (NASR AL-DIN) soll demnach 1279 nicht 200 Dickhäuter an den Hof des KHUBILAI KHAN gesendet haben (G: CXXIV), sondern lediglich 12 Exemplare. Gleichfalls bemerkt ROSSABI die mit 1256 fälschlich datierte Inthronisierung KHUBILAIS (G: LXXVII), sowie dessen 1287 gegen seinen Großnef- fen NAYAN ins Feld geführte, maßlos übertriebene Truppenstärke. (G: LXXIX) Vgl. ROSSABI, MORRIS: Khubilai Khan. His Life and Times. Berkeley; Los Angeles: University of California Press 1988. S. 215; 223; 244. –– Ebenso werden die illusorischen 12.000 Brücken (G: CLIII) der ost- chinesischen Stadt Quinsai (Hángzhōu) von FOLKER REICHERT auf ca. 117 innerhalb und ca. 230 außerhalb der Stadtmauern gelegene Brücken revidiert. Vgl. REICHERT, FOLKER: Die Städte Chinas in europäischer Sicht. In: Europas Städte zwischen Zwang und Freiheit. Die europäische Stadt um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von WILFRIED HARTMANN. Regensburg: Universitätsverlag 1995. S. 344f. –– Der chinesische Historiker PENG HAI verweist zusätzlich sowohl auf die irrende Bezifferung der den Jangtsekiang (Chángjiāng) befahrenden Schiffe, als auch auf die unmögliche Anzahl der in Poststationen verwendeten Pferde. Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China. Peking: Zhongguo shehui kexue chubanshe 2010. S. 209.

57 tungen und anderen Gegenständen. Abseits ihrer Erzählfunktionen und des Gebrauchs als literarische Mittel, analysiert FAUCON diese quantitativen Elemente hinsichtlich ihres Plausibilitätsgrades und konkludiert in der Folge, dass sich darunter gleichsam falsche wie übertriebene Daten finden, jedoch ein substantieller Anteil der POLO’schen Angaben als glaubwürdig oder exakt einzustufen ist. Während Kopisten-Fehler und Irrtümer in der kalendarischen Umwandlung für Entstellungen und Verfehlungen ver- antwortlich zeichnen, betreffen die realistischen Fakten vor allem geographische Distanzen, urbane Dimensionen – beispielsweise die mit Ausgrabungen korrespondie- rende Ausdehnung von Caracoron (Karakorum) (G: LXIV) –, Personal und Organi- sationsstruktur der mongolischen Heere (G: LXX), das Verhältnis zwischen Gold und

Silber in der südwest-chinesischen Provinz Caragian (Yúnnán) (G: CXIX, CXX), sowie 164 die Nennung der von KHUBILAI KHAN in Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) und seiner Som- mer- wie Jagdresidenz (Shàngdū)165 verbrachten Monate. Angesichts dieser Fülle an

Daten, schließt FAUCON seine Ausführungen mit der Vermutung, dass dem veneziani- schen Reisenden verschriftlichte Notizen zur Seite gestanden haben müssen.166

Bereits anno 1962 proklamierte der italienische Wirtschaftshistoriker FRANCO

BORLANDI in ähnlicher Weise die vormalige Existenz eines von MARCO POLO bereit- gestellten (Ergänzungs-)Textes im mercatura-Stil und dessen Verwendung seitens

RUSTICHELLOS. Als Beweis fungiert ihm die Tatsache, dass die älteste verfügbare Hand- schrift – die franko-italienische Version (F) – korrekte Namensbezeichnungen und

164 Die 1215 von den Mongolen niedergebrannte Hauptstadt (Zhōngdū) der Jìn-Dynastie (1115-1234) wurde unter KHUBILAI KHAN nicht wieder aufgebaut, sondern letzterer ließ nordöstlich der zerstör- ten Siedlung eine neue „Stadt des Khans“ (MARCOS Canbaluc/Khan-baliq) errichten, welche er nach der Übernahme des chinesischen Dynastie-Titels Yuán (1271) zur offiziellen Hauptstadt seines Rei- ches ernannte und ihr den mongolisch(-chinesischen) Namen Dà(i)dū verlieh. Auch wenn in der Folge eine Armee des ersten Kaisers (ZHŪ YUÁNZHĀNG als HÓNGWǓ) der chinesischen Míng- Dynastie (1368-1644) die Mongolen samt ihrem letzten Kaiser (TOGHON TEMÜR; 1320-1370) aus der Stadt vertrieb, deren Palastanlagen niederriss und die Umbenennung in Běipíng exerzierte (1368), so folgte der in späteren Jahrhunderten voran getriebene Ausbau des künftigen Pekings im wesentlichen der von den Mongolen angelegten Stadtplanung. 165 Die wörtlich „Oberste Stadt“ wurde 1256 von KHUBILAI KHAN angelegt und nach seiner 1260 dort stattgefundenen Großkhan-Ernennung zur Sommerresidenz (ab 1263) der mongolischen Yuán- Dynastie ausgerufen. Nach der Eroberung durch Míng-Truppen wurde die Stadt vollständig zerstört (1369) und befindet sich als heutige Ruinenstätte wie auch Weltkulturerbe im Südosten der Inneren Mongolei (bei Zhenglan Qi), am Ufer des nordostchinesischen Flusses Luán Hé) (mongolisch: Shandian He). 166 Vgl. FAUCON, JEAN-CLAUDE: Examen des données numériques dans le Devisement du Monde. In: I viaggi del Milione: Itinerari testuali, vettori di trasmissione e metamorfosi del Devisement du monde di Marco Polo e Rustichello da Pisa nella pluralità delle attestazioni. Convegno Internazionale, Venezia, 6-8 ottobre 2005. Hrsg. von SILVIA CONTE. Roma: Tiellemedia Editore 2008. S. 103-111.

58 Toponyme nicht in der (handschrifts)üblichen französischen Schreibweise, sondern an- hand der italienischen Aussprache formuliert.167 Basierend auf seiner Analyse von Venetianismen in der franko-italienischen Variante (F) hält auch der Schweizer Roma- nist CARL THEODOR GOSSEN eine Einarbeitung von venezianischen bzw. franko-vene- 168 zianischen Supplementär-Aufzeichnungen für äußerst wahrscheinlich. Während GIO-

VANNI BATTISTA RAMUSIO das Bestehen von Notizen affirmiert, indem er von der Bitte des inhaftierten MARCO berichtet, sein Vater möge ihm seine schriftlichen Aufzeichnun- 169 gen zukommen lassen, weist der deutsche Historiker FOLKER REICHERT die Gegeben- heit letzterer entschieden zurück und hält an einem ausschließlich mündlichen Vortrag des Venezianers fest.170

Die angesprochenen gelegentlichen Fehler bei Detailinformationen führt DE

RACHEWILTZ auf eine – aus welchen Gründen auch immer – nicht erfolgte Daten-Über- prüfung seitens des heimgekehrten Venezianers zurück. Aufgrund der Verjährung von Erlebtem und Gesehenem, müssen auch etwaige Gedächtnislücken und verschwom- mene Erinnerungen als entscheidende Verfälschungs-Faktoren in Betracht gezogen wer- 171 den. In der Tat bestätigt MARCO POLO, „(...) daß [sic] er sich ganz auf sein Gedächt- nis verlassen mußte [sic]“ (G: 10) und gesteht ferner, dass „(...) es allerdings einzelnes

167 Vgl. BORLANDI, FRANCO: Alle origini del libro di Marco Polo. In: Studi in onore di Amintore Fanfani. Hrsg. von GINO BARBIERI, MARIA RAFFAELLA CAROSELLI und AMINTORE FANFANI. 6 Volumes. Milano: Giuffrè 1962. Vol. I, S. 108-110. 168 Vgl. GOSSEN, CARL THEODOR: Marco Polo und Rustichello da Pisa. In: Philologica Romanica. Festschrift Erhard Lommatzsch. Hrsg. von MANFRED BAMBECK und HANS HELMUT CHRISTMANN. München: Wilhelm Fink Verlag 1975. S. 142. 169 Vgl. CRITCHLEY: Marco Polo’s Book, S. 21: „(...) scritto qui à Venetia à suo padre, che dovesse mandargli le sue scritture e memoriali che havea portati seco (...)“. –– Da RAMUSIO das Datum der Gefangennahme MARCOS mit dem 7./8. September 1298 (Seeschlacht vor Korčula) angibt und die inhaftierten Venezianer bereits im Frühling des Folgejahres per genuesisch-venezianischem Friedensvertrag (25. Mai 1299) entlassen wurden, erscheint dem australischen Historiker JOHN H. PRYOR die innerhalb dieser 8 Monate stattgefundene Übermittlung des Wunsches sowie die im An- schluss zu erfolgende Transportation seiner angeblichen Notizen als durchaus unwahrscheinlich, zu- mal die winterlich entschleunigten Seefahrts-Bedingungen und das zu verfassende POLO’sche Buch die nur begrenzt zur Verfügung stehende Zeitspanne in jeder Hinsicht sprengen müssten. Vgl. PRYOR: Marco Polo’s Return Voyage from China, S. 142. 170 Vgl. REICHERT, FOLKER: Marco Polos Buch. Lesarten des Fremden. In: Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Hrsg. von DIETRICH HART. Frankfurt a. Main: Fischer 1994. S. 182. –– Dass MARCO POLO während seines gesamten Auslandsaufenthaltes keinerlei Hilfsunterlagen kreiert hat, erscheint mir als nicht wahrscheinlich, zumal es im ersten Buchkapitel heißt: „Er selbst hatte nämlich nur wenig aufgeschrieben, (...)“ (G: 10) 171 Vgl. DE RACHEWILTZ: Wood’s Did Marco Polo Go to China? A Critical Appraisal. –– Als gutes Beispiel (s)einer beeinträchtigten Gedächtniskraft mag die berühmte Pekinger „Marco Polo Brücke“ (Brücke Pulisanghin bei MARCO; heutige Lúgōu Qiáo Brücke) dienen, welcher der Asienreisende 24 Brückenbögen anstatt der tatsächlichen 13 zuschreibt. (G: CVI)

59 gibt, das er nicht gesehen hat, jedoch von vertrauenswürdigen Leuten vernommen hat.“

(G: 9) Gerade durch diese POLO’sche Berichterstattung von Gehörtem sieht der padua- nische Philologe ALVARO BARBIERI eine weitere Beeinflussung der Angaben vorliegen, da angenommen werden muss, dass diese Inhalte nicht immer fehlerfrei waren und überdies mirakulös-mythische Elemente beinhalteten. 172 Abschließend fordert der deutsche Sinologe HANS-WILM SCHÜTTE von jenen Forschern, welche die Annahme einer POLO’schen Durchreise Chinas verwerfen und sämtliche Fehler, Ungenauigkeiten, schematische Wiederholungen und Auslassungen nicht den bekannten Faktoren – verlorenes Originalmanuskript, Erinnerungslücken und das Zutun von RUSTICHELLO, Kopisten und Übersetzern – zuschreiben wollen, die Erbringung eines plausiblen Nachweises, woher alle zutreffenden Detailauskünfte stammen könnten und warum dieses angebliche Hörensagen ausschließlich dem Venezianer zuteil wurde. Genau diese 173 Erklärung fehle aber, wie SCHÜTTE anmerkt.

VI. II. | CHINESISCHE NAMEN IM PERSISCHEN KLEID

Die Verwendung von persischen Toponymen und Eigennamen etikettiert FRANCES

WOOD als eines der größten Rätsel des POLO’schen Buches, zumal man laut ihr erwar- ten könne, dass der Venezianer aufgrund seines 17 Jahre währenden China-Aufenthalts den Gebrauch der entsprechenden mongolischen oder chinesischen Bezeichnungen bevorzugen hätte müssen.174 Dieses Versäumnis interpretiert die englische Sinologin als

Bestätigung einer Theorie des angesehenen Münchner Sinologen HERBERT FRANKE, welcher bereits 1966 die Vermutung äußerte, dass MARCO POLO die Buchkapitel über das mongolische China einer persischen Quelle entnommen haben könnte.175

Im Zuge eines Erklärungsversuchs betont HANS ULRICH VOGEL die Tatsache, dass sich der durch Asien ziehende Kaufmannssohn inmitten zahlreicher ausländischer Gemein-

172 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1013. 173 Vgl. SCHÜTTE, HANS-WILM: Wie weit kam Marco Polo? Gossenberg: Ostasienverlag 2008. S. 61. (= Reihe Gelbe Erde. 1.) –– In einem kürzlich erschienen Aufsatz weist der schottische Historiker JOHN LARNER darauf hin, dass ein durch Hörensagen entstandener (Phantasie-)Bericht über den Osten dem Buch eines JEHAN DE MANDEVILLE ähneln und folglich alle westlichen (Wunder)Vorstellungen vom Fernen Osten enthalten müsse. Vgl. LARNER, JOHN: Plucking Hairs from the Great Cham’s Beard. Marco Polo, Jan de Langhe, and Sir John Mandeville. In: Marco Polo and the Encounter of East and West. Hrsg. von SUZANNE CONKLIN AKBARI, AMILCARE IANNUCCI und JOHN TULK. Buffalo; Toronto; London: University of Toronto Press 2008. S. 145. 174 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 74. 175 Vgl. FRANKE, HERBERT: Sino-Western Contacts Under the . In: Journal of the Hong Kong Branch of the Royal Asiatic Society, Vol. 6 (1966), S. 53f.

60 schaften bewegt haben muss. Diese hatten sich bereits vor der mongolischen Macht- übernahme etabliert und waren aufgrund der multi-ethnischen Regierungspolitik des Nomadenvolkes stark angewachsen. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzten sich diese Gruppen aus einer Vielzahl an persischen bzw. türksprachigen Zentral- und Westasiaten, Arabern und kaukasischen Alanen176 zusammen und beinhalteten zudem europäische Händler, Kleriker und Abenteurer, deren Großteil den italienischen Handelszentren Venedig, Genua und Pisa entstammte. Als zeitgenössische lingua franca dieser (West)Europäer fungierte die persische Sprache, welche auch die offi- zielle Fremdsprache der mongolischen Yuán-Dynastie (1271-1368) darstellte.177 Chine- sisch galt als Ausdrucksform der am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala befind- lichen Untertanen, während das mongolische – und in geringerem Maße das türkische – Idiom die Zunge der fremdländischen Herrscher markierte.178 In der Mitte einer daraus resultierenden sozio-kulturellen Kluft lokalisiert IGOR DE RACHEWILTZ die zuvor genannten Ausländer verschiedener Provenienz, die als eine Art „intermediate class“ nicht nur enge Verbindungen zur mongolischen Regierungsspitze pflegten, sondern auch in merkantilen und/oder administrativen Beziehungen zu den Chinesen standen.

Da die Familie POLO Teil dieser multikulturellen Zwischenklasse gewesen sein muss und folglich ihre Geschäfte mit Angehörigen anderer Ethnien mittels der persischen Sprache verhandelte, stellt die persisch-türkische Bezeichnung von Eigennamen, Objektbegriffen und Titeln keine Überraschung für den australischen Historiker dar.179

Die in diesem Kontext nicht unerhebliche Frage nach den sprachlichen Fähigkeiten des

MARCO POLO beantwortet der Prolog des Berichts folgendermaßen: „(...) erst kurze Zeit war verflossen, seit Marco, Messer Nicolaos Sohn, sich am Hofe des Großkhans auf- hielt, da war er schon vertraut mit den Sitten der Tartaren, mit ihrer Sprache und ihrem

Schrifttum; er konnte vier Sprachen lesen und schreiben.“ (G: 23) ALVARO BARBIERI vermutet, dass es sich bei diesen erworbenen Schriftsprachen um Arabisch-Persisch, Griechisch, Uigurisch (für die uigurische und mongolische Sprache) sowie die vom

176 Der Begriff Alanen bezeichnet einen östlichen Teilstamm der Sarmaten (6. Jh. vor Chr. – 4. Jh. nach Chr.), die ihrerseits eine Stammeskonföderation iranischer Reitervölker waren. Die heutigen Osseten im Nordkaukasus sind sprachlich, ethnisch und kulturell die direkten Nachfahren der Alanen. 177 Bezüglich des Einsatzes der persischen Sprache als gleichermaßen lingua franca wie auch Amtssprache siehe HUANG SHIJIAN: The Persian Language in China during the . In: Papers on Far Eastern History, Vol. 34 (1986), S. 83-95. 178 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 40. 179 Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 55-57.

61 Oberhaupt des buddhistischen Reichsklerus entworfene Phagpa-Schrift180 handelt, je- doch könnten auch die verschriftlichte Sprache des tungusischen Volkes der Jürchen oder jene der protomongolischen Kitan gemeint sein.181 Hinsichtlich der gesprochenen

Sprachen konstatiert der britische Sinologe STEPHEN G. HAW, dass der Venezianer sich höchstwahrscheinlich in Persisch, Mongolisch und Uigurisch-Türkisch artikulieren konnte und über zumindest rudimentäre Kenntnisse des mündlichen Chinesischen ver- fügt haben könnte, zumal sich viele seiner Ortsbezeichnungen nicht aus deren persi- schen Übertragung ergeben, sondern einer chinesischen Aussprache entspringen.182 Ein

Großteil der POLO-Forscher attestiert dem Asienreisenden jedoch kein Verständnis der chinesischen Sprache und einige Wissenschaftler, wie etwa der chinesische Historiker

CAI MEIBIAO, negieren auch jeglichen Erwerb mongolischer Wörter sowie eine Aneig- nung der bereits erwähnten Phagpa-Schrift.183 Im Rahmen einer unlängst durchgeführ- ten Untersuchung der wichtigsten Handschriften des Buchs der Wunder, lokalisiert der französische Literaturwissenschaftlers PHILIPPE MÉNARD etwa 45 Wörter arabisch- persischen Ursprungs, ungefähr ein Dutzend turko-mongolischer Herkunft und lediglich rund 6 Begriffe chinesisch-indischer Abstammung. Laut ihm weist dies nicht nur auf die Bedeutung der persisch-arabischen Sprache für den internationalen Handel jener

Tage hin, sondern belegt auch den POLO’schen Einfluss auf die Entwicklung der abend- ländischen Sprachen und die daraus resultierende Erneuerung bzw. Erweiterung ihres 184 exotischen Vokabulars. Bis zu welchem Grad MARCO POLO die genannten Einzel- sprachen nun aber wirklich beherrschte, ist bis heute ungeklärt und bleibt folglich Gegenstand intensiver Debatten.

180 Diese war auf Geheiß KHUBILAI KHANS von dessen bevorzugtem tibetischen Mönch PHAGPA als eine alle Sprachen des mongolischen Weltreiches darstellende Buchstabenschrift entworfen worden, scheiterte jedoch als Gebrauchsschrift und geriet mit dem Ende der Yuán-Dynastie in Vergessenheit. In veränderter Form wird sie heute noch in Tibet als Siegel- und Münzschrift sowie für Aufschriften an Klosterwänden verwendet. 181 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1020f. 182 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 60-63. 183 Vgl. CAI MEIBIAO: Marco Polo in China, S. 171f. –– Einen klaren Hinweis für die POLO’sche Unwissenheit bezüglich der chinesischen Sprache sieht HANS-ULRICH VOGEL in dessen falschen Übersetzungen der Städtenamen Sugiu (ostchinesische Kanalstadt Sūzhōu) und Quinsai (ostchinesi- sches Hángzhōu): ersterer stellt eine nicht näher erklärbare Wort-Kontraktion dar, die sicherlich nicht den überlieferten Sinngehalt „Erde“ transportiert und letzterer ist nicht mit „Himmel“ zu über- setzen, sondern trägt die Bedeutungen „Hauptstadt“, „groß“ und „herrlich“. Siehe VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 41. 184 Vgl. MENARD, PHILIPPE: Les mots orientaux dans le texte de Marco Polo. In: Romance Philology, Vol. 63 (2009), S. 130-132.

62 Ungeachtet der Frage, ob der Venezianer möglicherweise ein paar Brocken Chinesisch sprechen und/oder verstehen konnte, wäre er zumindest nicht der einzige gewesen, der sich im mongolischen China der damaligen Zeit mit einem ernsthaften Sprachproblem konfrontiert sah: Unter Bezugnahme auf die Annalen der Yuán-Dynastie (Yuánshǐ) bestätigt der an der renommierten Nankai-Universität lehrende YANG ZHIJIU, dass es nach der mongolischen Eroberung des südchinesischen Sòng-Reiches (1279) nicht einen einzigen mit der chinesischen Schrift vertrauten Bürokraten – mongolischer oder zentralasiatischer Herkunft – in den von Jangtsekiang (Chángjiāng) und Huái Hé durchflossenen Provinzen gegeben habe. Der chinesische Historiker weiß zudem von einem generellen Analphabetismus der nördlichen Bewohner (beirén) des Yuán-Reiches und deren trotzdem erfolgter Einsetzung als hohe Beamte zu berichten, während Nord- (huarén) und Südchinesen (nanrén) kaum in Spitzenämter installiert wurden. Da die erstgenannten „Nordmänner“ in der Verschriftlichung von Instruktionen und bei der Unterzeichnung von Dokumenten zu haarsträubenden Fehlern neigten, wurden den Regierungsämtern auf verschiedenen Ebenen Übersetzer und Dolmetscher zugeteilt.185

Während spätere Yuán-Kaiser die chinesische Sprache in einem teilweise bedeutsamen

Ausmaß erwarben, attestiert HERBERT FRANKE den Chinesisch-Kenntnissen des

KHUBILAI KHAN ein schlechtes Zeugnis: Auch wenn der Großkhan immerhin die uigurische Schrift lesen konnte, so mussten ihm mündlich vorgetragene Berichte in das 186 mongolische Idiom übersetzt werden. Der paduanische Philologe ALVARO BARBIERI kommt folglich zum Schluss, dass die (kritisierte) sprachliche Kompetenz des MARCO

POLO dem erforderlichen Standard für nicht-chinesische Beamte des Mongolenreiches durchaus genügte und mit Sicherheit jene der franziskanischen Missionare übertraf, welche – mit Ausnahme von GIOVANNI DA MONTECORVINOS (1247-1328) Wissen um die türkische Schrift wie auch Sprache – aufgrund ihrer scheinbaren Unkenntnis nicht- westlicher Zungen auf doppelte Übersetzungen angewiesen waren.187

185 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 107f. 186 Vgl. FRANKE, HERBERT: Could the Mongol Emperors Read and Write Chinese? In: Asia Major, Neue Serie 3 (1953), S. 28-30. 187 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1020f.

63 VII.| VERGESSENE ZIVILISATIONS-/KULTURASPEKTE

Die umstrittenen Ausführungen von FRANCES WOOD richten ihr Augenmerk vor allem auf die im Buch der Wunder unterlassene Erwähnung vieler bedeutsamer Aspekte, Gegenstände und Relikte der chinesischen Lebens- wie auch Sachkultur. Aufgrund dieses Übersehens von Auffälligkeiten, wie etwa der chinesischen Schrift, des im dama- ligen Europa noch unbekannten Buchdrucks, des Tee(ritual)s, der eingebundenen Füße chinesischer Frauen, der Fischerei mit Kormoranen und nicht zuletzt der Großen

Mauer, kann MARCO POLO – nach Ansicht der englischen Sinologin – nicht bis China 188 gereist sein. Dieser Beweisführung widerspricht HANS-WILM SCHÜTTE bereits im Ansatz, zumal er jegliche Argumente des Verschweigens als wertlos erachtet und im Vorenthalten von Standardwissen vielmehr ein Indiz für die Authentizität des

POLO’schen Berichtes identifiziert. Was nun aber unter den Seidenstraßen-Kaufleuten des 13. Jahrhunderts zum besagten Allgemeinwissen über China gehörte, weiß er nicht überzeugend zu beantworten, da es sich hierbei lediglich um Spekulationen handelt. Des Weiteren betont der deutsche Sinologe, dass der Venezianer angesichts des zeit- lichen Abstandes zwischen Reise und Werksgenese manches vergessen haben könnte und einige Inhalte aufgrund der zahlreichen Textvarianten wie auch Kopisten(fehler) abhanden gekommen seien. Auch mögen die von SCHÜTTE als Erscheinungen des chinesischen Alltags titulierten Nichtberücksichtigungen deshalb keinen Platz gefunden haben, da sie aus dem durch einzelne Ortsschilderungen charakterisierten Darstellungs- 189 schema der POLO’schen Weltbeschreibung fallen.

In eine ähnliche Kerbe schlägt der italienische Philologe ALVARO BARBIERI, der Nach- weisen ex silentio lediglich einen präsumtiven Wert beimisst und ihnen demnach eine Bedeutung als eindeutiges Beweismittel abspricht. Ferner betont der paduanische Wissenschaftler die explizite Tendenz des Venezianers, die Schilderung jener Produkte und Waren auszusparen, welche nicht in den Westen transportiert wurden, oder diesem 190 unbekannt waren. MARCO POLO bestätigt diese Neigung anlässlich der Beschreibung

188 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 91-106 sowie S. 135-142. –– Die Auflistung der Auslassungen könnte beliebig erweitert werden (bspw. um Akupunktur, Webstuhl, Kompass, Daois- mus, Konfuzianismus, Streichhölzer etc.), ist jedoch im Falle der vorliegenden Arbeit auf jene Ver- säumnisse reduziert, welche intensiv diskutiert wurden wie werden und mir bemerkenswert erschei- nen. 189 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 32 sowie 45f. 190 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1007-1011.

64 der südwest-chinesischen Provinz Gaindu (Sìchuān191): „Ingwer und Zimt wachsen überall und noch viele andere Gewürze, die unsere Länder nie erreichen und deshalb erwähne ich sie nicht.“ (G: 171) Auch der umbrische Wirtschaftshistoriker UGO TUCCI unterstreicht die individuell-eklektizistische Einfärbung der POLO’schen Themenaus- wahl und plädiert diesbezüglich für eine notwendige Berücksichtigung von Gestalt, Persönlichkeit und geistigem Gepäck des Reisenden, welche in ihrer Gesamtheit die Wahrnehmungen und Entscheidungen des Kaufmannssohnes geformt haben.192

Eine weitere Erklärung für die Versäumnisse des Reisetexts formuliert der deutsche

Sinologe HANS-ULRICH VOGEL mittels der Annahme, dass die POLOS als Verbündete und Dienstnehmer der mongolischen Eroberer nur selten mit den chinesischen Unterta- nen interagierten, sodass sich ihr Interesse sowohl auf die mongolische Gesellschaft und deren Kultur (Bräuche), als auch auf die politische, militärische und ökonomische Organisation des Yuán-Reiches fokussierte. Infolgedessen entgingen viele (kulturelle) Merkmale der chinesischen Zivilisation dem Augenmerk des jungen Venezianers, oder wurden unter der Zielsetzung einer für KHUBILAI KHAN interessanten Berichterstattung von ihm als nicht vorrangig zu beschreibende Aspekte erachtet.193 Diese Bemerkungen erfahren Zustimmung durch den schottischen Historiker JOHN LARNER, der – wie ich meine – richtigerweise folgende Frage in die Debatte wirft: „How many British officials in Hong Kong during the colonial era knew any Chinese or had much interest in the peoples over whom they ruled.“194 Des Weiteren verweist der Geschichtswissenschaft- ler auf den durch China reisenden Franziskanermönch – und ab 1307 amtierenden Erz- bischof von Peking – GIOVANNI DA MONTECORVINO (1247-1328), der die indigene Bevölkerung offenbar ebenso wenig anvisierte, da er in einem mit Februar 1306 datier- ten Brief an Papst CLEMENS V. (1305-1314) folgendes aus Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) zu berichten weiß: „I have had six pictures made of the Old and New Testament for the instruction of the unlearned; and they are written upon in Latin, Tursic [Mongol], and Persian letters so that all tongues may read.“195

191 Die als „Land des Überflusses“ bezeichnete Provinz Sìchuān liegt östlich des tibetischen Hochplateaus am Oberlauf des Jangtsekiang (Chángjiāng). 192 Vgl. TUCCI, UGO: Marco Polo andò veramente in Cina? In: Studi veneziani, Vol. 33 (1997), S. 55. 193 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 43f. 194 LARNER: Marco Polo and the Discovery of the World, S. 65. 195 LARNER: Marco Polo and the Discovery of the World, S. 120f. unter Berufung auf MOULE, ARTHUR CHRISTOPHER: Christians in China before 1500. New York; Toronto: The Macmillan Co. (Society for Promoting Christian Knowledge) 1930. S. 178.

65 Vielleicht ließ MARCO POLO aber auch bewusst einzelne Gesichtspunkte außen vor, um seine Zeitgenossen nicht mit weiteren Informationen, Angaben und Neuheiten zu über- schwemmen, welche die bereits ohnehin überspannte Kapazität an Glaubwürdigkeit noch weiter belastet hätten. Anlass für eine derartige Perspektive liefert der Dominika- ner JACOPO D’ACQUI (gest. nach 1334), der als erster „Biograph“ des Asienreisenden folgende Begebenheit schildert:

„Because there are many great and strange things in his book, which are reckoned past all credence, Marco was asked by his friends on his deathbed to correct it by removing everything that went beyond the facts. To which his reply was that he had not told one half of what he had actually seen!“196

Wenngleich der britische Sinologe STEPHEN G. HAW die POLO’sche Nichtberücksichti- gung einiger nebensächlicher wie auch wesentlicher Facetten der chinesischen Kultur und Gesellschaft bestätigt, so unterstreicht er dennoch die zeitgenössischen Bezeugun- gen bezüglich MARCOS Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit: Im Vorwort der noch zu Lebzeiten des Venezianers – etwa um 1310 – entstandenen lateinischen Übersetzung (P) des Texts bezeichnet FRANCESCO PIPINO (ca. 1270 - nach 1328) den Asienreisenden als eine äußerst seriöse Person von hoher Integrität und weiß seinen Lesern auch von

MARCOS Onkel MAFFEO zu erzählen, der dem Tode ins Auge blickend, seinem Beicht- vater die Wahrhaftigkeit des Buchinhalts versichert haben soll.197 Von einer solchen 198 schien auch der paduanische Universitätsprofessor PIETRO D’ABANO (1250/57-1316) überzeugt gewesen zu sein, zumal er den zurückgekehrten Kaufmannssohn um seine Experten-Meinung bezüglich der Bewohnbarkeit von äquatorialen Regionen konsul- tierte und in seinem 1303 finalisierten Conciliator differentiarum quae inter philosophos et medicos versantur („Vermittler der Unterschiede bei Philosophen und Ärzten“) folgendes vermerkt: „I have been told of this and other matters by Marco the

196 YULE, HENRY (Hg.): The Travels of Marco Polo. The Complete Yule-Cordier Edition. 3., von HENRY CORDIER durchgesehene Auflage. London: J. Murray 1903. Reprint: New York: Dover Publications 1993. Bd. I, S. 54. –– Der deutsche Historiker FOLKER REICHERT kann diesem Geständ- nis nur wenig abgewinnen und artikuliert seine Skepsis, indem er das Erzählte dem Topos des „schö- nen Sterbens“ zuordnet. Vgl. REICHERT: Chinas Beitrag zum Weltbild der Europäer, S. 51. 197 Vgl. PRÁŠEK: Marka Pavlova z Benátek Milion, S. 2: „(...) in mortis articulo constitutus, confessori suo in familiari colloquio constanti firmitate asseruit librum hunc veritatem per omnia continere.“ 198 Der einen Lehrstuhl für Medizin innehabende, aber auch Philosophie und Astrologie lehrende PIETRO D’ABANO lenkte aufgrund seiner neuplatonischen Werke bereits früh den Verdacht der Inquisition auf sich und verstarb noch vor Beendigung seines wegen Häresie einberufenen Gerichts- verfahrens in der römischen Engelsburg.

66 Venetian, the most extensive traveller and the most diligent inquirer whom I have ever known.“199 Angesichts dieser Fürsprachen und in der Annahme, dass ein erfundenes Buch der Wunder weitaus schwerwiegendere wie auch offensichtliche Fehler bzw. Aus- lassungen beinhalten müsste, bezeichnet STEPHEN G. HAW das ernsthafte Zweifeln an 200 der POLO’schen Ehrlichkeit schlussendlich als schlichtweg unangemessen.

VII. I. | SCHRIFTLOSE DRUCKWERKE In seiner Beschreibung der südostchinesischen Stadt Tiungiu (Líshuǐ) verliert der Rei- sende lediglich flüchtige Bemerkungen zur chinesischen Sprache, deren für Europäer (bis heute) exotisch anmutendes Schriftsystem und den gegenseitig verständlichen Dia- lekten des südlichen Chinas, welches MARCO POLO abwechselnd als Mangi bzw. Manzi bezeichnet:

„Die Einwohner von Tiungiu haben ihre eigene Sprache. Allerdings ist zu beachten: in ganz Mangi wird eine einzige Sprache gesprochen und ist eine ein- zige Schrift gebräuchlich. Daneben gibt es in den einzelnen Gebieten je eine bestimmte Mundart; genau wie es sich bei den Lateinern verhält, wo sich Lom- barden, Provenzalen und Franken und noch andere voneinander unterscheiden. In Mangi ist es aber so, daß [sic] die Menschen jeder Herkunft sich verstehen.“

(G: 241f.)

Der britische Sinologe STEPHEN G. HAW wundert sich nicht, dass der POLO’sche Bericht in der Folge keine weiterführenden Äußerungen über die chinesische Schrift beinhaltet, da er dieselben inhaltlichen Mängel sowohl der Darstellung des muslimischen For- schungsreisenden IBN BATTUTA (1304-1368/69) attestiert, als auch jener des durch

China reisenden Franziskanermönchs ODORICO DA PORDENONE (1286-1331). Aus- kunftsfreudiger zeigt sich allein das Itinerarium ad partes orientales („Reise in den

Osten“) des flämischen Missionars WILHELM VON RUBRUK (ca. 1215 - nach 1257), wel- ches anhand einer knappen Einführung in das chinesische Schriftsystem feststellt, dass die Chinesen mit einem (Maler-)Pinsel schreiben und durch ein einziges Schriftzeichen mehrere Buchstaben darstellen, welche schlussendlich in ihrer Gesamtheit ein Wort

199 Vgl. YULE: The Travels of Marco Polo, Bd. I, S. 120. 200 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 51.

67 201 formen. Für den chinesischen Historiker YANG ZHIJIU lässt sich letzterer jedoch nicht mit MARCO POLO vergleichen, da RUBRUK als gelehrter Franziskanermönch auch die Schriften der Tibeter, Tanguten und Uiguren kommentierte, während sich der Vene- zianer aufgrund seines durch einen fehlenden spirituell-literarischen Impuls charakte- risierten Bildungsstandes und seiner bevorzugt kaufmännischen Wissbegier nicht auf die komplexe Auseinandersetzung mit fremden Schrift(system)en stürzen wollte und wohl auch konnte.202

Obgleich die POLO-Forschung bezüglich etwaiger (rudimentärer) Chinesisch-Kennt- nisse seitens des jungen Venezianers keine definitiven Antworten offerieren kann, so zeigt sich FRANCES WOOD über das Desinteresse des angeblich im (Beamten-)Dienste von KHUBILAI KHAN stehenden MARCO dennoch verwundert, zumal sich selbst die Mongolen der chinesischen Schriftsprache unterwarfen, indem sie die zur Regentschaft über China benötigten Verwaltungsdokumente ins Chinesische übersetzten und sich auch der übernommenen Aufzeichnung auf Papier bedienten. Nach Ansicht der engli- schen Sinologin mussten einem (damaligen) Besucher Chinas zumindest die in Fels- wände gemeißelten Inschriften wie auch die über Pavillons und Tempelhallen ange- brachten Tafeln ins Auge gesprungen sein, welche von Kaisern und berühmten Kalligraphen zum Lobpreis der Landschaft bzw. Gebäude-Szenerie in Auftrag gegeben 203 worden waren. Ihr Unverständnis fasst WOOD in durchaus treffender Weise folgen- dermaßen zusammen:

„Es läßt [sic] sich kaum vorstellen, daß [sic] in dem Land, in dem das Papier erfunden und dem geschriebenen Wort mehr Ehrerbietung erwiesen wurde als je irgendwo sonst, eine Person – und sei es auch ein Ausländer – behaupten konnte, zwar in der Staatsverwaltung gewirkt zu haben, aber das mongolische und chinesische Schriftsystem nicht bemerkt oder als wenig interessant erachtet zu haben.“204

201 Vgl. IBIDEM, S. 59. – FRANCES WOOD erachtet diese Bemerkungen als treffende Beschreibung der aus Pikto- wie Ideogrammen entwickelten und zu einem komplizierten System phonetischer Anlei- hen zusammengesetzten Schriftzeichen, deren Anzahl sich auf rund 40.000 Stück beläuft, welche im einzelnen aus bis zu 20 Einzelstrichen bestehen. Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 98. 202 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 108. 203 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 98f. 204 Vgl. IBIDEM, S. 99.

68 Nach Ansicht von STEPHEN G. HAW könnte aber auch gerade das Gegenteil eingetreten sein: Aufgrund seines mehrjährigen China-Aufenthalts wurde dem Venezianer nicht nur die chinesische Schrift, sondern auch die letzterer in deren Schriftzeichen ähnlichen Schriftsysteme der Kitan, Jürchen und Tangut derart vertraut, dass er die Außerge- wöhnlichkeit der chinesischen Schrift vergaß oder nicht mehr für sich (und andere) 205 erkannte. IGOR DE RACHEWILTZ erklärt sich die POLO’sche Nichtberücksichtigung der chinesischen Schrift anhand der durch die Augen des mongolischen Herrschers erfolg- ten Wahrnehmung Chinas, welche kein Interesse an der Kultur der Untertanen ermög- lichte. Darüber hinaus vergleicht der australische Historiker das gegenüber den chinesi- schen Ideogrammen (scheinbar) vorherrschende Desinteresse mit der grundsätzlich fehlenden Neugierde der alten Römer für die Schrift ihrer ägyptischen Untergebenen: Ungeachtet der vier Jahrhunderte währenden engen Verbindung zwischen Italien und Ägypten und obwohl Roms zahlreiche Obelisken und Monumente mit Hieroglyphen beschrieben waren, beinhaltet die lateinische Literatur nicht einmal eine kürzeste Beschreibung der ägyptischen Schrift.206

Während MARCO POLO – in ähnlicher Weise wie ODORICO, IBN BATTUTA und WIL-

HELM VON RUBRUK – ausführlich von Austauschbarkeit und relativem Wert des Papier- gelds (G: XCVII) berichtet, so offeriert das Buch der Wunder hinsichtlich der im damali- gen Europa noch unbekannten chinesischen Technik des Blockdrucks nur indirekt Infor- mationen. Zwar verzichtet der Venezianer auf die Schilderung dieses in der Herstellung von Papiergeld involvierten Druckverfahrens, bei dem die aus Holztafeln spiegelver- kehrt herausgeschnittenen Texte bzw. Bilder auf feuchtes Papier gepresst werden, je- doch begegnet man dem im Wesentlichen auch für den Buchdruck verwendeten

Stempeldruck nach Ansicht von HANS-WILM SCHÜTTE dennoch: „Alle Geldscheine werden mit dem Siegel des Großkhans versehen.“ (G: 141) Diese nur in den Ausführun- gen des Kaufmannssohns zu findende Andeutung des Druckverfahrens, sprich das bei- läufig erwähnte Aufdrücken eines Siegels, interpretiert der deutsche Sinologe als klares

Indiz für die POLO’sche Kenntnis des „stempelartigen“ Blockdrucks, den italienische Kaufleute überdies bereits auf ihren Fahrten nach Ägypten kennengelernt haben muss- ten, wo jener bereits seit dem 10. Jahrhundert zur Vervielfältigung von Gebetstexten in Verwendung stand.207

205 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 59f. 206 Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 59. 207 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 39-41.

69 Auch DE RACHEWILTZ erachtet die Annahme eines bereits existierenden (Vor-)Wissens als gerechtfertigt, allerdings erklärt er sich die ausgelassene Beschreibung des Druck- verfahrens anhand andersartiger Überlegungen: In der Vorstellung MARCOS wurden die aus demselben Papier hergestellten und dieselbe Schrift beinhaltenden Bücher durch ein auf jeder Seite angewandtes Siegel bedruckt und bedurften folglich ob ihres identen Herstellungsprozesses keiner gesonderten Beschreibung. Auch wenn sein zur Papier- geldherstellung analog gedachter Gedankengang den (ein)gravierten Druckstock (≙ Siegel) außer Acht lässt, so bezeichnet der australische Historiker die (vermutete) 208 Schlussfolgerung MARCOS als durchaus berechtigt und vor allem nicht falsch. Zudem betont DE RACHEWILTZ an anderer Stelle, dass der Venezianer der detaillierten Beschrei- bung chinesischer Bücher und des fernöstlich bereits praktizierten Buchdrucks nicht nachgehen konnte, da dies im 13. Jahrhundert nur jenen Zeitgenossen vorbehalten blieb, die literaturwissenschaftlich gesonnen waren oder entgegen des mehrheitlich vorherr- schenden Analphabetismus eine höhere Bildung erworben hatten.209

Eine weitere druckspezifische Referenz sieht der amerikanische Mongolenforscher

THOMAS T. ALLSEN in den astrologischen Almanachen der am Hofe des Großkhans 210 engagierten Sterndeuter, von denen MARCO POLO folgendes berichtet: „Für jedes Jahr schreiben sie die monatlichen Voraussagen in besondere Büchlein, man nennt sie Tacuini. Jeder Bürger, der den Lauf des Jahres kennen möchte, kauft sich für einen

Groschen ein solches Tacuin.“ (G: 151) In diesem Kontext bemängelt FRANCES WOOD sowohl die vom Venezianer unterlassene Charakterisierung der als Buchproduktions-

Zentrum bekannten südöstlichen Küstenprovinz Fugiu (Fújiàn) (G: CLVI/II), als auch die in der POLO’schen Marktbeschreibung Quinsais (Hángzhōu) (G: CLIII/IV) vermisste Erwähnung des rund um den Orangengarten-Pavillon situierten Büchermarkts.211

208 Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 59f. 209 Vgl. DE RACHEWILTZ: Wood’s Did Marco Polo Go to China? A Critical Appraisal. 210 Vgl. ALLSEN, THOMAS T.: The Cultural Worlds of Marco Polo. In: Journal of Interdisciplinary History, Vol. 31, Issue 3 (2001), S. 380. 211 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 100.

70 VII. II. | VERSCHMÄHTE AUFGÜSSE

Im Zuge dieser Thematik vermerkt der deutsche Sinologe HANS-ULRICH VOGEL, dass weder IBN BATTUTA noch ODORICO DA PORDENONE die Teekultur in ihren Darstellun- gen erwähnen und der Genuss des heißen Aufgussgetränks eine hauptsächlich unter Chinesen verbreitete Sitte darstellte. Als solche kann sie seit der Hàn-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) vorwiegend für die östliche Küstenprovinz Jiāngsū 212 und das zentralchinesische Húguǎng 213 belegt werden und fand nach Auskunft des von der chinesischen Tee-Koryphäe LÙ YǓ (733–804) verfassten Chájīng („Das klassische Buch zum Tee“)214 ab dem späten 8. Jahrhundert auch in Nordchina weite Verbreitung.

In seinen Ausführungen betont VOGEL die POLO’sche Identifizierung mit den verbünde- ten Mongolen und deren (geteilte) Vorliebe für Met (Honigwein), Traubenwein, leicht alkoholische Stutenmilch (kumys)215 und den speziell favorisierten Reiswein.216 Letztere scheinen auch dem venezianischen Asienreisenden gemundet zu haben, wie die folgen- den Lobesworte illustrieren:

„Ihr müßt [sic] wissen: sie trinken Stutenmilch, aber ich sage euch, sie behan- deln sie derart, daß [sic] sie aussieht wie Weißwein und sehr schmackhaft ist;

sie nennen sie Chemis.“ (G: 94) –– „Vernehmt, was für eine Sorte Wein die meisten Leute in Catai trinken. Sie bereiten ein Getränk zu aus Reis, fügen aus- erlesene Gewürze bei und behandeln es derart, daß [sic] es köstlicher schmeckt als jeder Wein. Das Getränk ist schön klar, man trinkt es warm, man wird des-

halb eher berauscht als vom üblichen Wein.“ (G: 148/CII)

Auch der chinesische Linguist und Historiker HUANG SHIJIAN schließt eine seitens der Mongolen erfolgte Übernahme des Teekonsums aus, zumal es nach der mongolischen Eroberung der nordchinesischen Jìn-Dynastie (1115-1234) für eine derartige kulturelle Angleichung keine Belege gibt und eine solche auch in den 1360er Jahren noch keine

212 Die auch heute noch bestehende Küstenprovinz Jiāngsū ist dem Gelben Meer (Huánghǎi) vorgela- gert und befindet sich folglich im Mündungsbereich des berühmten Jangtsekiang (Chángjiāng). 213 Während der Yuán-Dynastie (1271-1368) und der darauffolgenden Míng-Dynastie (1368-1644) stellte Húguǎng eine zentralchinesische Provinz dar, die in der späten Qīng-Dynastie (1644-1912) in die bis heute bestehenden Provinzen Húběi und Húnán unterteilt wurde. 214 Dieses zu Zeiten der chinesischen Tang-Dynastie (618-907) entstandene Werk, gilt als weltweit erste Monographie bezüglich Anbau, Zubereitung und Trinkkultur von Tee. 215 Die zur Alltagsnahrung zentralasiatischer Völker gehörende vergorene Stutenmilch wird in der mongolischen Küche auch Airag genannt und gilt als mongolisches Nationalgetränk. 216 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 45.

71 größere Verbreitung fand. Das 1330 dem letzten mongolischen Kaiser (TOGHON

TEMÜR; 1320-1370) überreichte Speisekompendium Yinshan Zhengyao („Angemessene

Grundlagen von Trank und Speise“) des uigurischen Ernährungsberaters HU SIHUI listet zwar neunzehn verschiedene Teesorten auf,217 getrunken wurden diese aber lediglich von der mongolisch-muslimischen Oberschicht des Yuán-Reichs. 1265 monopolisierte

KHUBILAI KHAN den von der südwestchinesischen Provinz Sìchuān ausgehenden Tee- handel und erweiterte ab 1275 dessen fiskalische Regelung auf verschiedene Regionen des südlichen China. Zudem weist HUANG SHIJIAN auf die 1285 etablierte Abschaffung der für alkoholische Getränke eingehobenen Abgaben und den daraus resultierenden bevorzugten Vertrieb derselben hin, was dem nach wie vor besteuerten Tee nicht zum Vorteil gereichte.218

In Europa verbreitete sich das Wissen um den chinesischen Tee erst im späten 16. Jahr- hundert und ist der ca. 1545 getätigten (Erst-)Erwähnung des italienischen Historikers 219 und Geographen GIOVANNI BATTISTA RAMUSIO zu verdanken. Diese Erkenntnis lässt sich mit den bereits zuvor präsentierten Vermutungen des italienischen Philologen

ALVARO BARBIERI äußerst treffend vereinen: MARCO POLO mag das Trinken von Tee nicht erwähnt haben, da dieser seinen europäischen Zeitgenossen schlichtweg unbe- kannt war. Auch der bei MARCO, ODORICO und IBN BATTUTA nicht erwähnte Gebrauch von Essstäbchen lässt sich nach Ansicht des paduanischen Philologen derart erklären.220

Der australische Historiker IGOR DE RACHEWILTZ will stattdessen die von den Mongo- len gegenüber nichtalkoholischen Getränken vermutete Gleichgültigkeit auch beim venezianischen Kaufmannssohn verorten, welchem – in Hinblick auf das europäische Publikum – die Beschreibung eines Kräuteraufgusses zu trivial erschienen haben 221 mag. Diese vermutete Banalität erklärt der deutsche Sinologe HANS-WILM SCHÜTTE

217 Vgl. ANDERSON, EUGENE N.; BUELL, PAUL D. (Hgg.): A Soup for the Qan. Chinese Dietary Medicine of the Mongol Era as Seen in Hu Szu-hui’s Yin-Shan Cheng-Yao. Introduction, Translation, Commentary, and Chinese Text. Boston; Leiden: Brill 2010. S. 393f. (= The Sir Henry Wellcome Asian Series. 9.) Diese als Klassiker der chinesischen Medizin bzw. Küche geltende (kulinarische) Enzyklopädie liefert wichtige Aufschlüsse über die mongolisch-chinesische Ernährung und Diätetik der Yuán-Zeit (1271-1368) und wird als erste empirische Beschreibung von nahrungsbezogenen Mangelkrankheiten angesehen. 218 Vgl. HUANG SHIJIAN: The Early Dissemination of Tea in Northern Asia and the Western Region. Why Marco Polo Never Mentioned Tea. Translated by LU YUNZHONG. Revised by YANG ZHI and BRUCE DOAR. In: Social Sciences in China, Vol. 15, Issue 4 (1994), S. 171-174. 219 Vgl. BURNELL, ARTHUR COKE; YULE, HENRY: Hobson-Jobson. The Anglo-Indian Dictionary. Hertfordshire: Wordsworth Editions Ltd. 1996. S. 906. 220 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1011. 221 Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 60.

72 mit dem Verweis auf die seit der Verwendung von feuerfesten Gefäßen bestehende 222 (jahrtausendealte) Aufguss-Kenntnis der Menschheit. Wie FRANCES WOOD bemerkt, enträtseln diese Erklärungsversuche aber nicht die Problematik der so gar nicht europä- isch anmutenden Teehäuser, welche samt ihrer lackierten Teetabletts und Porzellan- tassen keinen Eintrag in das Buch der Wunder fanden.223

VII. III. | VON EINGEBUNDENEN FÜßEN UND KORMORANEN

FOLKER REICHERT hält bezüglich der eingebundenen Füße chinesischer Mädchen fest, 224 dass mit Ausnahme von ODORICO DA PORDENONE kein westlicher wie auch arabisch- persischer Besucher Yuán-Chinas jenen fremdartig anmutenden Brauch erwähnte. So auch nicht MARCO POLO, wenngleich der deutsche Historiker zu MARCOS Zeit keine weitverbreitete Üblichkeit dieser Praxis feststellen kann und eine erneute (westliche) Thematisierung dessen erst 1575 im Reisebericht des spanischen Augustinermönchs 225 226 MARTÍN DE RADA (1533-1578) zu finden ist. In der Tat weist der chinesische

Historiker YANG ZHIJIU darauf hin, dass weder die protomongolischen Kitan-Frauen der nordchinesischen Liao-Dynastie (907-1125), die Jürchen-Frauen der Jìn-Dynastie (1115-1234), die mongolischen Frauen der Yuán-Dynastie (1271-1368), noch die mand- schurischen Frauen der Qīng-Dynastie (1644-1911) diese Hàn-chinesische227 Gepflo- genheit jemals übernommen hatten. Auch lässt sich keine Förderung letzterer seitens

222 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 44. 223 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 101. 224 Vgl. REICHERT, F. (Hg.): Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China (1314/18-1330). Übersetzt, eingeleitet und erläutert von FOLKER REICHERT. Heidelberg: Manutius 1987. S. 117: „Die Schönheit der Frauen aber besteht darin, kleine Füße zu haben; daher haben die Mütter die Gewohnheit, ihren Töchtern nach der Geburt die Füße einzubinden, die sie ihnen dann nicht mehr wachsen lassen.“ 225 Der seit 1565 auf den Philippinen missionarisch tätige MARTÍN DE RADA führte 1575 eine spanische Gesandtschaft nach China und verschriftlichte in seiner „Relacion de las cosas de China que propriamente se llama Taybin“ detaillierte Beobachtungen der chinesischen Bevölkerung sowie deren Lebensgestaltung. 226 Vgl. REICHERT, FOLKER: Pulchritudo mulierum est parvos habere pedes. Ein Beitrag zur Begegnung Europas mit der chinesischen Welt. In: Archiv für Kulturgeschichte, Vol. 71 (1989), S. 297-307. 227 Im Chinesischen findet sich eine klare Unterscheidung zwischen dem „Chinesen“ als Staatsbürger (Zhōngguórén) und dem „ethnischen Chinesen“ (Hànzúrén oder Hànrén), dessen Eigenbezeichnung auf die Hàn-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) zurückgeht, deren Begründer (LIÚ BĀNG) seinen Machtbereich im Bereich des namensstiftenden Flusses Hàn Jiāng aufbaute. Auch die Selbstbe- zeichnung der Chinesen als Hàn-Volk (Hànzú), sowie jene der chinesischen Sprache als Hàn-Spra- che (Hànyǔ) gehen letztlich auf den Namen dieses Wasserweges zurück. Basierend auf der durch den Qín-Kaiser QÍN SHĬHUÁNGDÌ (221 v. Chr. – 210 v. Chr.) erzielten erstmaligen Einigung Chinas, konnte die Ethnogenese der Hàn im Laufe der Hàn-Dynastie einen vorzeitigen Abschluss erreichen und zur Entstehung einer gemeinsamen ethnischen Identität führen.

73 der Herrscher jener Dynastien belegen. Die nach seinem Dafürhalten selten zu beobach- tende Sitte, verortet der Geschichtswissenschaftler hauptsächlich in die chinesischen

Oberschichts-Haushalte der großen Städte Südchinas, in welchen sich ODORICO für längere Zeit aufhielt und so – im Gegensatz zum vornehmlich in Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) und Nordchina aktiven Venezianer – auf das Phänomen aufmerksam geworden sein muss.228

Dazu addiert IGOR DE RACHEWILTZ die limitierte Wechselbeziehung zwischen dem Kaufmannssohn und der ihm fremden chinesischen Gesellschaft, sowie sein daraus resultierendes oberflächliches Brauchtums-Interesse, welches die Untersuchung des privat praktizierten Füße-Bindens ungleich schwieriger gestaltete. Nach Meinung des australischen Historikers konnte MARCO POLO darüber hinaus ohnehin nur in Ausnahmefällen eine chinesische Frau der oberen Gesellschaftsschicht gesehen haben, zumal letztere sich nur in den Höfen bzw. Gärten des Familienanwesens aufhalten durf- 229 ten und so den Blicken männlicher Besucher entzogen wurden. Auch HANS-WILM

SCHÜTTE unterstreicht den Ausschluss der Öffentlichkeit im Kontext der Einschnü- rungs-Prozedur, in deren Verlauf die Zehen gebrochen und unter die Fußsohle gebun- den werden, um das ästhetische Ideal möglichst zierlich erscheinender Lotusfüße (chánzú)230 zu erzielen.

Schenkt man den Schlussfolgerungen des deutschen Sinologen Glauben, so hat MARCO 231 POLO jene sehr wohl bemerkt, jedoch nicht erkannt:

228 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 108-112. 229 Vgl. DE RACHEWILTZ: Wood’s Did Marco Polo Go to China? A Critical Appraisal. 230 Die Tradition der eingebundenen Füße geht vermutlich auf eine Geliebte (YAO NIANG) des letzten Königs (LǏ HÒUZHǓ) der südlichen Tang-Dynastie (618-907) zurück, welche sich ihre Füße banda- gierte, um auf einer in der Form einer Lotusblüte errichteten Bühne besondere tänzerische Leistun- gen vollbringen zu können. Mit dem Beginn der Sòng-Dynastie (960-1279) fand dieses anfangs lockere Einschnüren der weiblichen Kindesfüße in den gehobenen gesellschaftlichen Schichten weite Verbreitung und erfasste in der Folge bis zum beginnenden 20. Jahrhundert alle Bevölkerungs- schichten mit Ausnahme der ärmsten Bauern, welche für die Feldarbeit intakte Frauenfüße benötig- ten. Die zunächst in einer Kräuterflüssigkeit eingeweichten Füße einer 5-8 Jährigen wurde mittels enger Bandagen und unter Brechung der Zehen am Wachstum gehindert, sodass die in der Folge ent- standenen, hufähnlichen Spitzfüße keine größeren Strecken mehr zurücklegen konnten. Im Laufe der Zeit verband sich dieses Schönheitsideal mit der als schicklich gewerteten Tugend, das Haus nicht zu verlassen und wurde zum allgemein üblichen Zeichen von Wohlstand. Heutzutage ist dieser Brauch sowohl verboten als auch unüblich, da sich mittlerweile viele ChinesInnen an der westlichen Vorstellung von Schönheit orientieren. 231 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 42.

74 „Ihr müßt [sic] noch wissen: zur Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit haben sich die Mädchen einen sehr zierlichen Gang angewöhnt. Sie setzen einen Fuß nie mehr als einen Fingerbreit vor den andern; denn das Jungfernhäutchen kann

durch eine mutwillige Bewegung verletzt werden.“ (G: 197)

Die Schilderung dieses eleganten Trippelns erweckt den Eindruck, als ob hier eine von

MARCO persönlich getätigte Beobachtung zu Wort kommt, die laut dem paduanischen

Philologen ALVARO BARBIERI tatsächlich als das Resultat bandagierter Füße interpre- tiert werden kann, wenngleich sich dem Venezianer die tieferen Gründe für eine derar- tige Fortbewegung anscheinend nicht erschlossen haben.232 Bestätigt wird dies von

HANS-WILM SCHÜTTE, der sich ob der vermissten „Entschlüsselung“ nicht verwundert zeigt, zumal MARCO im Jungfräulichkeitswahn bereits eine Erklärung gefunden zu ha- ben glaubte und die zur sexuellen Stimulation vorgesehenen Spitzfüße als etwas höchst Intimes galten. Nicht einmal ein Ehemann bekam letztere zu Gesicht, da die in der Re- gel parfümierten Bandagen samt der entsprechenden Spezialschuhe zumeist auch im 233 Bett anbehalten wurden. STEPHEN G. HAW zeigt sich schlussendlich verwundert, dass ausgerechnet der nicht in der Oberschicht verkehrende Franziskanermönch ODORICO von den Einzelheiten der Lotusfüße zu berichten weiß und nicht etwa der sexuell freizü- gige(re) IBN BATTUTA, „(...) who seems to have copulated his way around the world with a succession of temporary wives and slave-girls, many of whom he made 234 pregnant.“ Dass MARCO – rund fünfzig Jahre vor ODORICO – keine eingeschnürten Füße zu Gesicht bekam, mag nach Ansicht des britischen Sinologen tatsächlich einer Auslassung seitens des Venezianers geschuldet sein, kann aber auch auf die damals (noch) regional beschränkte Verbreitung jener Praxis und deren (noch) nicht auffällig eng gebundene Bandagen zurückgeführt werden.235

Im Falle der Kormoranfischerei, bei welcher zahme Kormorane durch am Hals befes- tigte Ringe oder Schnüre am Verschlucken der für die Besitzer vorgesehenen Fische gehindert werden, lässt sich keine – auch nicht dahingehend interpretierbare – Beobach- tung seitens MARCO POLO feststellen. Die europäische Kenntnis dieser traditionellen

Fischfangmethode ist nach FRANCES WOOD wiederum alleinig der Reisebeschreibung

232 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1010. 233 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 43. 234 HAW: Marco Polo’s China, S. 55. 235 Vgl. IBIDEM, S. 55f.

75 236 des Franziskanermönchs ODORICO zu verdanken, welcher über die Tauchkünste die- ser in Kolonien brütenden und zur Familie der Ruderfüßer (Pelecaniformes) gehörenden Wasservögel folgendes zu referieren weiß:

„Ich machte Halt bei einer Stadt, bei der eine Brücke über den Fluß [sic] führt. Unmittelbar an der Brücke wohnte ich in einem Gasthaus. Der Wirt wollte mir einen Gefallen tun und sprach: „Wenn du sehen willst, wie man gut Fische fangen kann, dann komm mit mir.“ Dann führte er mich auf die Brücke, und von dort sah ich auf den Booten Tauchvögel an Stangen angebunden; jener Mann band ihnen einen Strick um den Hals, damit sie nicht, wenn sie ins Wasser tauchen und Fische fangen, diese verschlingen können. Darauf setzte er in ein Boot drei große Kisten, die erste an ein Ende des Schiffes, die zweite an das andere Ende, die dritte in die Mitte. Nachdem er dies getan hatte, ließ der sie Vögel los, die sich daraufhin ins Wasser stürzten und so viele Fische fingen, wie es ging; er aber legte sie in jene Kisten. In kurzer Zeit waren alle Kisten angefüllt mit Fischen. Als sie aber randvoll waren, nahm er die Schnur von den Hälsen der Vögel und ließ sie ins Wasser tauchen, damit sie sich von Fischen ernähren können. Wenn sie aber gefüttert sind, kehren sie an ihren Platz zurück, und er bindet sie an wie zuvor.“237

Während der deutsche Sinologe HANS-WILM SCHÜTTE im Kontext der POLO’schen Nichtberücksichtigung diese Spielart der Fischerei – überraschenderweise und ohne Angabe von Quellen – als eine im zeitgenössischen Europa bereits praktizierte und da- 238 her für den Venezianer uninteressante Sitte bezeichnet und IGOR DE RACHEWILTZ das Buch der Wunder nicht als allumfassende Enzyklopädie verstanden wissen will,239 so stellt sich für STEPHEN G. HAW die Frage nach der zu Zeiten MARCOS gegebenen Ver- breitung dieser Praxis. Dass ODORICO die Kormoranfischerei nicht im Verlauf seiner Reise gesehen hat, sondern zu einer Beobachtung derselben eingeladen wurde, interpre- tiert HAW als Zeichen der damals noch vorherrschenden Ungewöhnlichkeit jener Methode. Dies erfährt Bestätigung durch seine in der Folge präsentierten Forschungs- ergebnisse, die bezüglich jener traditionellen Art des Fischfangs lediglich zwei chinesi- sche Referenzen für die Zeit vor der Míng-Dynastie (1368-1644) ausheben konnten:

236 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 105. 237 REICHERT: Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China, S. 85. 238 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 32. 239 Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 61.

76 240 Der eine Verweis findet sich in einem Poem des Dichters DÙ FǓ (712-770), die andere Bezugnahme entstammt der 30-bändigen Essaysammlung Mèngxī Bǐtán

(„Pinselunterhaltungen am Traumbach“) des berühmten Universalgelehrten SHĚN 241 KUÒ (1033-1097), welche die Kormoranfischerei für die Provinz Sìchuān und die sich entlang des Jangtsekiang (Chángjiāng) erstreckende Drei-Schluchten-Region242

(Sānxiá) belegt, von wo sie sich – laut HAW – in den westlichen Teil der zentralchinesischen Provinz Húběi ausgedehnt haben könnte. Auch das 1249 entstandene, offizielle Arzneibuch der Sòng-Dynastie (960-1279) beinhaltet einen den Kormoranen gewidmeten Eintrag, erwähnt aber mit keinem Wort deren Gebrauch zum Fischfang, sondern konzentriert sich auf die medizinischen Verwendung ihrer auf Kalkstein verwitterten Exkremente (Guano243). Eine bedeutsam(er)e Nebenbemerkung entnimmt STEPHEN G. HAW der Pharmakopöe dennoch: Aufgrund des beobachteten Hochwürgens von Fischen glaubte die zeitgenössische Pharmazie irrtümlicherweise an einen dem Schnabel entwachsenden Kormorannachwuchs, was nach Ansicht des britischen Sinologen als Indiz für eine (noch) nicht erfolgte Domestizierung jener Tiere gelesen werden muss.244

Unter der zuzüglichen Berücksichtigung der von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägten Dekaden der mongolischen Eroberung Chinas sowie der daraus resultieren- den Unterbrechung vieler chinesischer Alltags-Aktivitäten, vermutet er folglich, dass diese eigentümliche Gepflogenheit zum Zeitpunkt von MARCOS China-Besuch noch nicht weit verbreitet war und wohl erst im späten 16. Jahrhundert eine weitreichende Popularität erlangte. Angesichts der – wie dargelegt – raren Erwähnung in chinesischen

240 Das Werk des zu den wichtigsten Poeten der chinesischen Tang-Dynastie (618-907) zählenden DÙ FǓ wird innerhalb Chinas als Höhepunkt der klassischen chinesischen Dichtung bezeichnet. 241 Der chinesische Staatsmann, Naturwissenschaftler, Mathematiker, Geologe und Erfinder des Navi- gations-Kompasses gilt als der bedeutendste Wissenschaftler der nördlichen Sòng-Dynastie (960- 1126). Als hoher Beamter im engsten Umfeld des Kaisers war SHĚN KUÒ mit der Lösung der unter- schiedlichsten wissenschaftlichen, militärischen und ökonomischen Probleme seiner Zeit befasst. Nachdem er durch Intrigen in Ungnade gefallen war, vollendete er 1088 seine enzyklopädischen Memoiren Mèngxī Bǐtán. Siehe SHEN KUO: Pinsel-Unterhaltungen am Traumbach. Das Gesamte Wissen des Alten China. Übersetzt und herausgegeben von KONRAD HERMANN. München: Diede- richs Verlag 1997. (= Gelbe Reihe Magnum. 1.) 242 Bezeichnet eine 193 Kilometer lange Anreihung von Durchbruchstälern entlang des Jangtsekiang (Chángjiāng), welche für ihre malerische Landschaft und die ihr innewohnenden historischen Aus- grabungsstätten weltweit bekannt sind. 243 Dieses feinkörnige Gemenge verschiedener Phosphate wird bis zum heutigen Tage als Dünger in der (Bio-)Landwirtschaft verwendet und kam im 19. Jahrhundert neben Natursalpeter auch in der Sprengstoffherstellung zur Verwendung. 244 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 56f.

77 Quellen und der anzunehmenden regionalen Beschränkung, bezeichnet HAW die

POLO’sche Nichterwähnung der Kormoranfischerei schlussendlich als gleichsam ver- ständlich wie auch erwartbar.245

VII. IV. | DIE ÜBERSEHENE GROßE MAUER Die Nichterwähnung der (chinesischen) Großen Mauer bezeichnet der schottische

Historiker JOHN LARNER als eine bereits althergebrachte Kritik, deren Premiere er in den 1747 zu London erschienenen – und nach ihrem Herausgeber THOMAS ASTLEY benannten – Astley’s Voyages lokalisiert.246 Schon damals wunderte man sich über das

POLO’sche Verschweigen jener außergewöhnlichen Grenzbefestigungsanlage, die als größtes Bauwerk der Welt dem durch China reisenden Europäer unmöglich entgangen sein konnte. Dass dies schlussendlich doch geschah, erklärt HANS-ULRICH VOGEL anhand einiger weniger Worte, welche eine „simple“ Lösung des Rätsels mit sich tragen: „The Great Wall as it is seen today with its many watch towers and its brick coating did not exist in Marco’s time, but is a fortification built or re-built by the Ming government in the sixteenth and seventeenth centuries.“247 Für die der Míng-Dynastie (1368-1644) vorangegangene Zeit lässt sich anstelle der Mauer lediglich eine Reihe von Erdwällen belegen, die zu verschiedenen Zeitabschnitten aus zerstampfter Erde errichtet und durch hölzerne Pfähle oder zusammengebundene Zweige verstärkt wurden. Des Weiteren gab es nach Dafürhalten des deutschen Sinologen zu keiner Zeit eine durchge- hende (Grenz-)Linie, sondern bloß unterbrochene Mauern, die unterschiedlich platziert wurden und sich angesichts der wechselnden Herrscherhäuser verschoben. Über die

Jahrhunderte unverändert zeigen sich laut VOGEL einzig die literarische Fiktion sowie Mythifizierung der „Langen Mauer“, welche gegen Ende des 3. Jh. v. Chr. von Kaiser 248 QÍN SHĬHUÁNGDÌ aus geschichteten Natursteinplatten sowie Stampferde erbaut wurde

245 Vgl. IBIDEM, S. 59. 246 Vgl. ASTLEY, THOMAS (Hg.): Astley’s Voyages. (The New Collection of Voyages and Travels.) 4 Bände. London: Frank Cass and Co Limited 1968. Bd. IV, S. 582f. Zitiert nach LARNER: Marco Polo and the Discovery of the World, S. 173f. 247 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 48. 248 In die Zeit der Streitenden Reiche (475 v. Chr. – 221 v. Chr.) hineingeboren, konnte sich der Qín- König YÍNG ZHÈNG (* 259 v. Chr.) im Kampf um die chinesische Vorherrschaft gegen sechs weitere Staaten schlussendlich durchsetzen und führte so die erstmalige Einigung Chinas herbei. Als „erster erhabener Gottkaiser von Qín“ (QÍN SHĬHUÁNGDÌ; 221 v. Chr. – 210 v. Chr.) begründete er den Be- ginn des chinesischen Kaiserreichs sowie seiner hauseigenen Qín-Dynastie (221 v. Chr. - 207 v. Chr.). Die seinem Mausoleum zur Seite gestellten Grabbeigaben beinhalten auch rund 8.000 lebens- große Terrakotta-Soldaten, die den Kaiser als schützende Armee in das Leben nach dem Tod beglei-

78 und gegen die marodierenden Völker des Nordens – vor allem den Reiternomaden- Stamm der Xiōngnú – Schutz bieten sollte. Als Vorläuferin der heutigen Großen Mauer verband diese an der Nordgrenze des nunmehrigen Reiches zahlreiche kleinere Festungsbauten, die aus der „Zeit der Streitenden Reiche“ (475 v. Chr. – 221 v. Chr.)

übrig geblieben oder von QÍN SHĬHUÁNGDÌ verschont worden waren. Da sich jedoch keine historischen Aufzeichnungen über die „Lange Mauer“ der Qín-Dynastie (221 v. Chr. - 207 v. Chr.) belegen lassen und beinahe alle Abschnitte im Laufe der Jahrhun- derte der Erosion anheim gefallen sind, kann nach VOGELS Ansicht weder die exakte Mauerlänge, noch deren genauer Verlauf bestimmt werden.249

Zur Zeit des MARCO POLO – also rund 1400 Jahre später – mag diese (Erd-)Mauer folg- lich kaum mehr als eine solche erkennbar und dementsprechend unauffällig gewesen sein. Diese Annahme teilt auch YANG ZHIJIU, dem das diesbezügliche Desinteresse des Venezianers verständlich erscheint, zumal keine chinesische Quelle des 13. Jahrhun- derts eine Große Mauer als materielle Realität erwähnt und erst das 1579 in einem kartographischen Werk erfolgte Aufscheinen derselben, die bis zu jenem Zeitpunkt vernachlässigte Aufmerksamkeit der chinesischen Geographen erobern konnte. Wäh- rend der Regentschaft des DSCHINGIS KHAN (1206-1227) und seiner Nachfahren weiß der chinesische Historiker von hauptsächlich drei Gelehrten zu berichten, welche die von der Jìn-Dynastie (1115-1234) zur Grenzverteidigung gegen die Mongolen errichte- ten und bereits längst verlassenen Wachtürme und Grenzgräben besuchten. Aber im

250 Gegensatz zu QIŪ CHÙJĪ (auch CHANGCHUN; 1148-1227), dem konfuzianischen

Mongolenberater ZHANG DEHUI (1195-1275) und dem dichtenden Yuán-Beamten

WANG YUN (1227-1304), die sich als Wissenschaftler der historischen Bedeutung dieser Grenz-Befestigungsanlagen bewusst waren und letztere auch vermerkten, attestiert

ten sollten und letzteren – nebst der mannigfaltigen Verwendung seiner Figur in Literatur, Film und Theater – zu einem der bekanntesten fernöstlichen Herrscher in westlichen Kulturkreisen machten. 249 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 48. 250 Der berühmte fünfte Patriarch des Quánzhēn -Daoismus fungierte nicht nur als Begründer der daoistischen Drachentor-Schule, sondern reiste auch auf Geheiß des DSCHINGIS KHAN (1162/7- 1227) an dessen Hofe, um ihn über daoistische Philosophie und die von letzterem so begehrte Unsterblichkeit aufzuklären. Der von seinem Schüler (LI ZHICHANG) diesbezüglich verfasste Reisebericht Changchun zhenren xiyou ji („Aufzeichnungen über die Reise des daoistischen Alchemisten Changchun in den Westen“) schildert QIŪ CHÙJĪ Weg durch Zentralasien und gilt als bedeutsames Werk für die Erforschung der zentralasiatisch-mongolisch-daoistischen Geschichte des frühen 13. Jahrhunderts. Für eine kommentierte englische Übersetzung siehe WALEY, ARTHUR (Hg.): The Travels of an Alchemist. The Journey of the Taoist Ch'ang-ch'un from China to the Hindukush at the Summons of Chingiz Khan. London: Routledge & Kegan Paul 1963.

79 YANG ZHIJIU dem Kaufmannssohn und anderen westlichen Reisenden keinen Anlass, sich für jene unscheinbaren (Mauer-)Ruinen zu interessieren.251

Die chinesischen Historiker HUANG SHIJIAN und GONG YINGYAN bekräftigen in einem detaillierten Forschungsartikel ein mögliches POLO’sches Auffinden von Mauerresten sowohl der Qín-Dynastie als auch der darauffolgenden Hàn-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.): ihren Berechnungen zufolge kann diese Sichtung der – wie sie betonen – ent- weder stark verfallenen oder von Flugsand bedeckten Überbleibsel lediglich in der Ge- gend der nordwestchinesischen Oasenstadt Dūnhuáng 252 und/oder auf dem Weg von Clemeinfu/Ciandu (Shàngdū) nach Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) erfolgt sein. Die gründli- che Durchforstung von literarischen, geographischen und historischen Werken der Yuán-Zeit zeitigt den beiden Geschichtswissenschaftlern nur einige wenige Bemerkun- gen bezüglich der Qín-Han Mauern und führt sie schlussendlich zu folgendem Ergeb- nis: Die in völlig verschiedenen Epochen erbauten Mauern/Wälle wurden des Öfteren verwechselt und von Gelehrten wie auch Beamten in ähnlicher Weise wie antik-verwit- terte Tempel oder andere Denkmäler als historische Stätten bzw. Altertümer wahr- genommen. Deren zeitgenössische Berichte betonen einerseits das – vor allem in Anbe- tracht der oftmals erfahrenen Nutzlosigkeit gegen Invasionen – erlittene Elend der am Mauerbau beteiligten Arbeiter und beinhalten andererseits das ins Herz des Verfassers wirkende Kontrastgemisch aus verlassenen Mauern und friedlich-regierten Grenz- regionen, welches jenen und seinesgleichen zu Lobgesängen über das vereinte Yuán- Reich veranlasste. Zudem musste den Autoren immer wieder erzählt werden, dass es sich im Falle der Mauerreste um Relikte der antiken „Großen Mauer(n)“ handle, was erstere wiederum zum Sinnieren über die entlegene Vergangenheit anspornte.253

251 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 112-114. 252 Inmitten von Wüstengebieten liegt am Westende des Héxī -Korridors das zur chinesischen Provinz Gānsù gehörende Dūnhuáng. Zur Umgehung der Sandwüste Taklamakan teilt sich unweit der Stadt die sagenumwobene Seidenstraße in ihren nördlichen und südlichen Zweig. 253 Vgl. HUANG SHIJIAN; GONG YINGYAN: Marco Polo and the Great Wall – Also on „Did Marco Polo Go to China?“ Translated by DENG YING und LIU XIANGNAN. In: Social Sciences in China, Vol. 20, Issue 3 (1999), S. 120-123. Als Beispielsfund wird ein von HUANG JIN in den 1330/40er Jahren verfasstes Gedicht angeführt, welches sich (in der Übersetzung) wie folgend liest: „The high mounds of earth beside the road are said to be ruins of the ancient Great Wall. The water in the caves of the pools along the wall is good for my horse to drink. I am very lucky to live at a time of an honest and enlightened government. Peace reigns in this border area where the flames of war raged in the past. The crops are growing luxuriantly and cattle and sheep are all over the fields. It is a pity that I cannot sing the full praises of our wise sovereign.“

80 Auch der amerikanische Sinologe und Historiker ARTHUR WALDRON unterstreicht die zu Yuán-Zeiten (1271-1368) artikulierte (relative) Bedeutungslosigkeit der besagten (inexistenten) „Großen Mauer(n)“, welche ihre bis zum heutigen Tage geltende Symbolhaftigkeit erst im Zuge des Aus- bzw. Neubaues der Míng-Dynastie (1368- 1644) erlangte. Die jenen Anstrengungen entwachsene Grenzbefestigung schlängelt(e) sich vom Shānhǎi-Pass nahe der nordostchinesischen Stadt Qínhuángdǎo rund 7300 Kilometer durch China, um nahe der westchinesischen Stadt Jiāyùguān in ihrem äußers- ten Westende (Jiāyù-Pass) zu münden. Laut WALDRON wurde diese massivste wie auch stabilste Mauer der chinesischen Geschichte in Europa frühestens um die Mitte des 16. Jahrhunderts wahrgenommen und erstmals von Portugiesen beschrieben: Einem 1549 verfassten Bericht eines namenlosen portugiesischen Missionars, folgte 1561 die dem

König SEBASTIAN I. von Portugal gewidmete Carta General do Orbe („Allgemeine

Weltkarte“) des Karto- wie Kosmographen BARTHOLEMEU VELHO (gest. 1568). Zwei Jahre später erschien der dritte Band der Décadas da Ásia („Dekaden von Asien“) des 254 berühmten Historikers JOÃO DE BARROS (1496-1570) und 1569 erblickte mit der Tratado das coisas da China („Abhandlung über chinesische Dinge“) des Dominika- 255 ner-Missionars GASPAR DE CRUZ (ca. 1520-1570) das erste in Europa gedruckte China-Buch das Licht der Welt.256

Selbst wenn also Ruinen vergangener Perioden zu MARCO POLOS Zeit zu beobachten gewesen wären, so betont der britische Sinologe STEPHEN G. HAW, dass jene vermutlich nicht sehr eindrucksvoll gewesen sein können, zumal auch JOHANNES DE PLANO

CARPINI (ca. 1182-1252), WILHELM VON RUBRUK (ca. 1215 - nach 1257), der italieni- 257 sche Franziskaner und Asien-Missionar GIOVANNI DE MARIGNOLLI (ca. 1290 - nach

254 Der auch als „portugiesischer LIVIUS“ bezeichnete JOÃO DE BARROS gilt als einer der ersten großen portugiesischen Historiker und schuldet seinen Ruhm vor allem den Décadas da Ásia („Dekaden von Asien“), in welchen er die frühe Geschichte der Portugiesen in Indien und Asien aufzeichnet. 255 „Die Abhandlung über chinesische Dinge“ des 1548 nach Asien ausgewanderten Missionars und Klostergründers (Goa bzw. Malakka) galt bzw. gilt als erste seriöse europäische Veröffentlichung über China seit jener des MARCO POLO. 256 Vgl. WALDRON, ARTHUR: The Great Wall of China. From History to Myth. Cambridge: Cambridge University Press 1990. S. 203-215. 257 Von Papst BENEDIKT XII. (1334-1342) zum päpstlichen Legaten ernannt und 1338 auf Geheiß des Heiligen Stuhls an den Hof des (mongolischen) Kaisers von China gesandt, wurde GIOVANNI DE MARIGNOLLI anno 1341 von TOGHON TEMÜR (1320-1370) unter großen Ehren empfangen. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Peking begab er sich an die südwestindische Malabarküste, wo er anderthalb Jahre eine lateinische Christengemeinde betreute, bevor er nach Ceylon (Sri Lanka), Java bzw. Sumatra weiterreiste und 1353 wieder in das heimatliche Florenz gelangte. Der Weihe zum (kalabrischen) Bischof folgte die von Kaiser KARL IV. (* 1316; 1355-1378) getätigte Erwählung

81 1357) und ODORICO DA PORDENONE (1286-1331) kein Wort über ein etwaiges Mauer- werk verloren. Lediglich die Reiseaufzeichnungen („Rihla“) des IBN BATTUTA (1304- 1368/69) erwähnen die mythische „Mauer von Gog und Magog“258, welche angeblich von ALEXANDER DEM GROßEN (356 v. Chr. – 323 v. Chr.) aus mit Kupfer übergossenem Eisen errichtet worden sein soll. Da der marokkanische Reisende unter seinen muslimi- schen Händlergefährten, die das Yuán-Reich ohne Zweifel intensiv durchreist hatten, niemanden finden konnte, der ein solches Monument gesehen hatte oder einen entspre- chenden Augenzeugen kannte, konkludiert HAW, dass es zu jenem Zeitabschnitt keine auffällige (Große) Mauer gegeben haben kann und MARCOS Versäumnis einer diesbe- züglichen Erwähnung somit kaum zu verwundern weiß.259

zum hofeigenen Kanzler und Geschichtsschreiber: als solcher verfasste er 1360 unter Einflechtung zahlreicher Erinnerungen seiner Asienmission die kultur- wie auch kirchengeschichtlich wertvolle Chronicon Bohemiae („Geschichte Böhmens“). 258 Die Bezeichnungen Gog und Magog finden sich sowohl im Alten und Neuen Testament, als auch im Koran und beschreiben Individuen, Völker wie auch geographische Regionen in einem genealogischen oder eschatologisch-apokalyptischen Kontext. In der das Neue Testament beschließenden Offenbarung des Johannes (Off 20,8-9) werden unter Gog und Magog zwei Völker verstanden, die am Jüngsten Tage von Satan befreit und mit ihm in den Kampf gegen Christus ziehen werden, dem sie in der Folge aber unterliegen. Die im Mittelalter weit verbreitete Sage einer eisernen Mauer findet sich in der achtzehnten Sure (Vers 83-98) des Korans, die von der auf den griechischen Alexanderroman zurückgehenden – und zumeist als ALEXANDER DER GROßE identifizierten – Figur des DHŪ L-QARNAIN („Der mit den zwei Hörnern“) berichtet, welcher nach seinem Sieg über Gog und Magog diese beiden hinter unzerstörbare Mauern sperrt, die jene jedoch am Jüngsten Tage wiederum durchbrechen und von allen Hügeln über die Erde herfallen würden. 259 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 53f.

82 VIII. | EINE BEEINDRUCKENDE FÜLLE AN FAKTEN

Um die Glaubwürdigkeit des POLO’schen China-Aufenthalts aus einer anderen (inhalt- lichen) Perspektive zu hinterfragen, soll das Augenmerk folglich auf Erwähntes gerich- tet werden, ohne diesbezüglich einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Schließ- lich vermag das Buch der Wunder nicht nur durch die im vorangegangenen Kapitel erläuterten Nichtberücksichtigungen aufzufallen, sondern weiß auch in präziser Weise von Fakten zu berichten, die sowohl von Quellen unterschiedlicher Provenienz als auch seitens der modernen Forschung bestätigt werden.

Bezüglich der zahlreichen historischen, politischen wie auch militärischen Ereignisse, die MARCO POLO in seinen Reiseaufzeichnungen erwähnt und welche durch chinesische

Quellen bezeugt werden können, verweist der Schweizer Sinologe JEAN-PIERRE VOIRET auf die treffende Beschreibung der Schlachten (G: LXV-LXVIII) zwischen DSCHINGIS

KHAN (1162/7-1227) und dem christlichen Keraiten-Khan TOGHRUL (TOGHRIL bzw.

ONG KHAN; gest. 1203), welchen MARCO POLO zwar historisch nicht zutreffend, doch durchaus in Übereinstimmung mit anderen zeitgenössischen Autoren, mit dem legendä- 260 ren Priester(könig) JOHANNES identifiziert. Der französische Sinologe und Zentral- asienforscher PAUL PELLIOT hebt in diesem Kontext die akkurate POLO’sche Darstel- lung der Eroberung des südchinesischen Reichs der Sòng-Dynastie (1126–1279) hervor 261 (G: CXL), während der chinesische Historiker YANG ZHIJIU sowohl die Schilderung der Rebellion des chinesischen Generals LIITAM SANGON (LI TAN; gest. 1262) (G:

CXXXV), als auch jene der (nur in der Version des RAMUSIO vorzufindenden) Ermor- dung von KHUBILAIS Finanzminister AHMAD FANAKATI (1220-1282) als bemerkens- werte Korrektheiten anführt.262 Eine derartige Zuverlässigkeit attestiert der britische

Sinologe STEPHEN G. HAW auch der Beschreibung des mongolischen Einfalls in Cianba 263 (Champa ) (G: CLXIII), sowie der Skizzierung des zweiten Kriegszuges gegen die erst in der europäischen Literatur des 16. Jahrhunderts wieder auftauchende Insel Cipangu

260 Vgl. VOIRET, JEAN-PIERRE: China ‚objektiv’ gesehen. Marco Polo als Berichterstatter. In: Asiatische Studien, Vol. 51, Issue 3 (1997), S. 813. 261 Vgl. PELLIOT: Notes on Marco Polo, Vol. 2, S. 652-661. 262 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 101-103. 263 Mit dem Sammelbegriff Champa (vietnam. Chăm Pa) bezeichnet man die politisch-kulturellen Herrschaftsgebiete der im heutigen Südvietnam lebenden austronesisch-sprechenden Bevölkerung, welche im 9./10 Jahrhundert ihre Blütezeit durchlebten und von den Vietnamesen in der Neuzeit fast vollständig assimiliert wurden.

83 264 (Japan) (G: CLX, CLXI). Zudem weisen nach Ansicht des ägyptisch-amerikanischen

Historikers MORRIS ROSSABI sowohl MARCOS Wiedergabe der Unterwerfung des

Königreichs Mien (Burma bzw. Myanmar) (G: CXXII-CXXIV), als auch sein Bericht über die 1287 ausgefochtene Schlacht KHUBILAIS gegen seinen aufbegehrenden Großneffen 265 NAYAN (G: LXXVII-LXXX) einen hohen Grad an Exaktheit auf.

Auch etliche Personenbeschreibungen wussten und wissen die POLO-Forschung nach- haltig zu überzeugen: So etwa hebt der australische Historiker IGOR DE RACHEWILTZ die 266 Porträtierung des christlichen Öngüt-Königs GEORG (KORGIZ) hervor (G: LXXIV) und zeigt sich MORRIS ROSSABI von der detaillierten Charakterisierung der kriegerischen 267 AIGIARUC (KHUTULUN) beeindruckt (G: CCII). Ähnlich schlüssig präsentieren sich laut PAUL PELLIOT die von MARCO POLO vorgelegten Informationen zu einigen Mitglie- dern des mongolischen Königshauses, wie beispielsweise die Darstellung von

KHUBILAIS Lieblingssohn und designierten Thronfolger CINGHIS (ZHENJIN bzw. 268 CHINGKIM; 1243-1286) (G: LXXXIII). Ebenso offeriert das Buch der Wunder stichhal- 269 tige Auskünfte über die Regentschaften des Prinzen COGACIN (HÜGECHI; gest. 1271) 270 sowie seines Sohnes ESENTEMUR (ESEN TIMUR; gest. 1332) , die als (KHUBILAIS)

Statthalter der südwestchinesischen Provinz Caragian (Yúnnán) fungierten (G: CXIX,

CXX). Als nachweislich richtig beurteilt der chinesische Historiker GU WEIMIN auch jene Zeilen des Venezianers, welche sich dem Prinzen MANGALAI (MANGQALA; gest. 271 1280) und dessen Herrschaft über Quengianfu (Xī’ān) widmen (G: CXII).

In seinen Ausführungen bestätigt STEPHEN G. HAW schließlich auch die den chinesi- schen Quellen entsprechende, einwandfreie Erwähnung wichtiger militärischer Perso- nen der Yuán-Dynastie: dies betrifft den in der Eroberung von Burma bzw. Myanmar federführenden muslimischen Feldherren NESCRADIN (NASR AL-DIN; gest. 1291) (G:

264 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 161-164. 265 Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 214f. bzw. 222-224. 266 Vgl. DE RACHEWILTZ, IGOR: Papal Envoys to the Great Khans. London: Faber & Faber 1971. S. 164-167. –– Nach Ansicht von PAUL PELLIOT heiratete nicht GEORG – wie von MARCO angegeben – eine Tochter des KHUBILAI KHAN, sondern dessen Vater AÏ-BUKHA, aus dessen Ehe mit YUREK der gemeinsame Sohn GEORG entstammte. Vgl. PELLIOT: Notes on Marco Polo, Vol. 2, S. 737. 267 Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 104. 268 Vgl. PELLIOT: Notes on Marco Polo, Vol. 1, S. 278-280. 269 Vgl. IBIDEM, S. 394f. 270 Vgl. PELLIOT: Notes on Marco Polo, Vol. 2, S. 14f. 271 Vgl. GU WEIMIN: Le ricerche su Marco Polo in China, dal 1874 al 1995. In: Marco Polo 750 Anni. Il viaggio. Il libro. Il diritto. Hrsg. von FREDERICO MASINI, FRANCO SALVATORI und SANDRO SCHIPANI. Roma: Tiellemedia Editore 2006. S. 335-339.

84 CXXIII), den zur Einnahme Südchinas entsandten General BAIAN CINCSAN (BAYAN

CHINGSANG) (G: CXL), die in die Niederschlagung des rebellierenden LI TAN involvier- ten Barone AGUIL (AGUL bzw. AJUL; 1227-1280) und MONGATAI (NANGIADAI) (G:

CXXXV), den mit der (gescheiterten) Militärexpedition nach Japan beauftragten

Kommandanten VONSANICIN (FAN WENHU) (G: CLX) und den in südvietnamesische 272 Gebiete (Champa) einmarschierenden Heerführer SOGATU (gest. 1285) (G: CLXIII).

Die ebenfalls dem Buch der Wunder innewohnende Beschreibung der Persönlichkeit des KHUBILAI KHAN (bspw. G: LXXXII) bezeichnet der kanadische Historiker RICHARD

C. FOLTZ als gleichermaßen einzigartiges wie auch gesichertes Porträt, welches an zahl- reichen Stellen dessen nachgewiesene eklektisch-funktionalistische Toleranz273 gegen-

über verschiedenen Religionen akzentuiert (bspw. G: VIII; CLVII), aber auch MARCOS Loyalität gegenüber dem von ihm bewunderten274 Herrscher klar erkennen lässt.275 Der deutsche Sinologe HANS-ULRICH VOGEL hebt des Weiteren die gründlichen Berichte über das seit 1266 als Hauptstadt des Yuán-Reichs fungierende Canbaluc/Dà(i)dū

(Peking) (G: XCVI) und das von KHUBILAI seit 1263 als Sommerresidenz in Anspruch genommene Clemeinfu/Ciandu (Shàngdū) (G: LXXV) hervor. In akkurater Weise wer- den nicht nur die Stadtzentren, Paläste (G: LXXXIV, LXXXV), Gebäude und Parkanla- gen276 der beiden Städte beschrieben, sondern auch zahlreiche Aspekte des kaiserlichen

272 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 159-164. 273 In der Version des lateinischen Zelada-Manuskripts (Z) findet MARCO diesbezüglich äußerst klare Worte: „These Tartars do not care what god is worshipped in their lands. If only all are faithful to the Lord Khan and quite obedient and give therefore the appointed tribute, and justice is well kept, thou mayest do what pleaseth thee with thy soul. (...) And thou may do what thou wilt with God and thy soul whether thou art Jew or Pagan or Saracen or Christian who dwellest among the Tartars.“ Siehe MOULE; PELLIOT: Marco Polo, Bd. I, S. 96 bzw. Bd. II, S. 21. 274 Beispielsweise unterrichtet der venezianische Kaufmannssohn sein Publikum folgendermaßen: „(...) wer wüßte [sic] es nicht, daß [sic] er der mächtigste Herr der Welt ist, seit Adams Zeiten bis in unsere Tage hat es nie einen größeren und reicheren gegeben.“ (G: 110) 275 Vgl. FOLTZ, RICHARD C.: Religions of the Silk Road. Overland Trade and Cultural Exchange from Antiquity to the Fifteenth Century. New York: St. Martins Press 1999. S. 121ff. –– In die POLO’sche Darstellung des Großkhans vertieft sich vor allem MÉNARD, PHILIPPE: La représentation de l’empereur de Chine Khoubilai Khan dans le Devisement du Monde de Marco Polo. In: Gouverne- ment des hommes, gouvernement des âmes. Mélanges offerts à Charles Brucker. Hrsg. von VENCES- LAS BUBENICEK und ROCHER MARCHAL. Nancy: Presses Universitaires de Nancy 2007. S. 229-244. 276 Bezüglich des von KHUBILAI gegenüber Grünflächen geäußerten Enthusiasmus, der von ihm angeordneten Be-bäumung von Hauptstraßen (G: CI) und der generellen Identifikation der Mongolen mit Bäumen, sei der lohnende Artikel des japanischen Kulturwissenschaftlers SHIGEMI SASAKI empfohlen: SASAKI, SHIGEMI: Faune et flore dans Le Devisement du Monde. ‚Mont Vert’ du Grand Kaan et ‚Vergier’ de Deduit. In: Guerres, voyages et quêtes au Moyen Âge. Mélanges offerts à Jean- Claude Faucon. Hrsg. von ALAIN LABBE, DANIEL W. LACROIX und DANIELLE QUEREL. Paris: Champion 2000. S. 381-388. (= Colloques, congrès et conférences sur le Moyen Age. 2.)

85 Hof-Lebens trefflich dargeboten: so weiß MARCO sowohl von der Darbietung des 277 Kotaus (G: LXXXIX), den luxuriösen Herrscherzelten (G: XCIV), KHUBILAIS Geburts- tagsfest (G: LXXXVII, LXXXVIII) als auch von der Neujahrs-Zeremonie (G: LXXXIX) zu berichten und erzählt gleichsam von KHUBILAIS Elefanten-Ausritten (G: XCIV), dessen

Besuchen der Sommerresidenz zu Clemeinfu/Ciandu (Shàngdū) (G: XCV), der für den

Großkhan praktizierten Konkubinen-Auswahl (G: LXXXII) und von der intensiven Jagd- 278 kultur des Mongolenoberhauptes (G: XCI-XCIV). Den realhistorischen Gegebenheiten entspricht – so MORRIS ROSSABI – auch MARCOS Beschreibung der sozialen Haltung des Mongolenoberhauptes: Während KHUBILAI mit Steuersenkungen (G: C) und der

Einrichtung von Getreidespeichern (G: CIV) eventuelle Naturkatastrophen wie auch Hungersnöte zu mildern versuchte, widmeten sich Waisenhäuser und Ämter der staat- 279 lichen Fürsorge den Mittellosen der kontemporären Gesellschaft (G: CXL).

Nach Ansicht von THOMAS T. ALLSEN beobachtet der Asienreisende ebenso präzise sowohl die bei Festivitäten vorgegebenen Kleidervorschriften, als auch die seitens

KHUBILAI erfolgte Schenkung verschiedenster Gewänder, welche den Mitgliedern der kaiserlichen Garde (keshig) regelmäßig als Belohnung für geleistete Dienste überreicht wurden: so etwa die begehrten einfarbigen Zeremonialroben (Jisün) und/oder aus Gold- brokat (nasij) gewobene und mit Perlen und Edelsteinen reichhaltig verzierte Kleider

(G: LXXXVII; LXXXIX, XC). Auch die bei Hof-Zeremonien von hochrangigen Beamten oder Feldherren getragenen und von Gold- wie Silberfäden durchwirkten Purpur-Gürtel

(G: LXXXVII; XC) werden laut dem amerikanischen Mongolenforscher zuverlässig beschrieben. Deren in Yuán-China – und im Il-Khanat – an der Tagesordnung stehende Verleihung nötigte die Yuán-Dynastie 1289 zur Gründung eines Kaiserlichen Gürtel- Amtes (yudai ku), das den Gebrauch wie auch die Dedikations-Vorbereitung dieser äußerst kostbaren Gurte regelte. Selbst jene goldenen Baldachine, welche hochrangige

277 Der Kotau (kòutóu bzw. kētóu) bezeichnet das im Kaiserreich China zum Ausdruck der Ehrerbietung dargebotene Grußzeremoniell, im Zuge dessen sich der Grüßende in gebührendem Abstand zum Kaiser niederwarf und mit der Stirn mehrfach den Boden berührte. 278 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 53. 279 Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 119 bzw. 185f. –– Die gesetzlichen Regelungen der für Witwer/-n, Waisen, kinderlose Personen, Senioren, Jugendliche und Gehandikapte vorgesehenen Sozialhilfe finden sich in RATCHNEVSKY, PAUL (Hg.): Un code des Yuan. Paris: Presses Universitaires de France 1972. Vol. 2, S. 83f. (= Bibliothèque de l’Institut des Hautes Études Chinoises. 4.)

86 Militäroffiziere als Zeichen ihrer Autorität und Macht über ihrem Haupt tragen mussten 280 (G: LXXXI), fanden ihren Eintrag in MARCOS Reisebeschreibung.

281 In der Fassung (R) des RAMUSIO registrieren die berühmten Aufzeichnungen des Venezianers eine unter den Beschenkten wahrzunehmende Absenz chinesischer Beam- ter, die auch der ägyptisch-amerikanische Historiker MORRIS ROSSABI bestätigen kann:

Aufgrund seiner fragwürdigen Herrschafts-Legitimität, besaß KHUBILAI kein großes Vertrauen gegenüber der chinesischen Bevölkerung und verließ sich folglich in einem beträchtlichem Ausmaße auf die Dienste von Mongolen, Christen oder Sarazenen.282 Die Amtszeit dieser Staatsdiener beschränkt das Buch der Wunder auf drei Jahre (G:

LX; CXLV) und tätigt somit eine weitere korrekte Aussage, zumal der chinesische Histo- riker PENG HAI die Institutionalisierung einer derartigen Handhabung seit 1282 als 283 nachweislich gegeben sieht. Ebenso richtig lesen sich die von MARCO POLO offe- rierten Angaben bezüglich der (bereits erwähnten) persönlichen Leibwache (keshig) des Großkhans, welche in vier gleich große Teile unterteilt war und jeweils eine dreitägige

Dienstschicht zu verrichten hatte (G: LXXXVI). Belegt wird dies von der wahrscheinlich zwischen 1228 und 1251 zusammengestellten „Geheimen Geschichte der Mongolen“, die als episch-genealogische Dichtung die Konstituierung des mongolischen Welt- reiches behandelt.284 Zudem schätzt die Dissertation des taiwanesischen Historikers

HSIAO CH’I-CH’ING die POLO’sche Erwähnung von 12.000 keshigten (G: 124) als durch-

280 Vgl. ALLSEN, THOMAS T.: Commodity and Exchange in the Mongol Empire. A Cultural History of Islamic Textiles. Cambridge: Cambridge University Press 1997. S. 18-26. (= Cambridge Series in Islamic Civilization.) 281 Vgl. YULE: The Travels of Marco Polo, Bd. I, S. 418. 282 Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 66. –– Über die zahlreichen Ausländer, die bei den mongolischen Herrschern eine Anstellung fanden, informiert die voluminöse Sammlung an Biographien in CHAN HOK-LAM; CH’I-CH’ING, HSIAO; DE RACHEWILTZ, IGOR; GEIER, PETER W. (Hgg.): In the Service of the Khan. Eminent personalities of the Early Mongol-Yüan Period (1200- 1300). Wiesbaden: Harrassowitz 1993. (= Asiatische Forschungen. 121.) 283 Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 133; 178; 253. 284 Vgl. DE RACHEWILTZ, IGOR (Hg.): The Secret History of the Mongols. A Mongolian Epic Chronicle of the Thirteenth Century. 2 Volumes. Boston; Leiden: Brill 2004. Vol. 1, S. 155f. bzw. Vol. 2, S. 825-827. (= Brill’s Inner Asian Library. 7/1-2.) –– Die von einem unbekannten Verfasser verschriftlichte Geheime Geschichte der Mongolen gilt nicht nur als erstes literarisches Werk der Mongolei, sondern stellt in ihrer Darstellung der Konstituierung des mongolischen Weltreiches – bis zur Regierungszeit von DSCHINGIS KHANS Sohn ÖGEDEI (1229-1241) – zugleich die bedeutendste historische Quelle für die mongolische Frühgeschichte dar. Deren in uigurischer Schrift abgefasste Urversion ist nicht erhalten, da alle Text-Varianten nach der Vertreibung der mongolischen Yuán- Dynastie von der chinesischen Míng-Dynastie (1368-1644) zerstört wurden.

87 aus realistisch ein285 und attestiert auch anderen militärisch relevanten Bemerkungen einen tatsächlichen Wahrheitsgehalt: nicht nur der Bericht über die nach dem Dezimal- system organisierte mongolischen Armee (G: LXX) weiß zu überzeugen, sondern auch die treffenden Informationen bezüglich größerer Truppenstationierungen in Taianfu

(Tàiyuán; G: CVIII), Yangiu (Yángzhōu; G: CXLV), Quinsai (Hángzhōu; G: CLIII) sowie 286 in Fugiu (Fúzhōu; G: CLVII).

In ebenso exakter Weise erzählt das Buch der Wunder vom Justizwesen der Yuán- Dynastie (1271-1368), welches beispielsweise je nach Schwere des Verbrechens 7, 17,

27, 37, 47, ... oder gar 107 Hiebe für Diebe vorsah (G: LXX). Der chinesische Historiker

YANG ZHIJIU versichert die zeitgenössische Gültigkeit dieses seit dem Jahre 1264 einge- führten numerischen Systems, das laut ihm ein Unikum in der chinesischen Rechtsge- schichte markierte und in keiner anderen westlichen Reisebeschreibung Erwähnung 287 fand. Die POLO’schen Reisenotizen informieren auch über die Sanktionierung eines etwaigen Viehdiebstahls, der für das mongolische Nomadenvolk eine ernsthafte Straftat darstellt(e) und mit der Auferlegung einer neunfachen Geldstrafe bedacht wurde (G:

LXX). Diese scharfsinnige Beobachtung erfährt Zustimmung durch den chinesischen

Rechtswissenschaftler PAUL HENGCHAO CH’EN, welcher jenes Gesetz nicht nur als Innovation innerhalb des (formalen) chinesischen Strafsystems verstanden wissen will, sondern dessen Anwendung sowohl in den späteren Gesetzbüchern der westmongo- lischen Oiraten wie auch der an das Nordufer des Kaspischen Meeres abgewanderten Kalmücken, als auch in der Kodifikation des Brauchtumsrechts (Khalkha Djirom) der nordmongolischen Khalkha fortgesetzt sieht.288

Der chinesische Historiker GU WEIMIN bestätigt anhand seiner Forschungsresultate, dass der venezianische Kaufmannssohn an verschiedenen Stellen seines Reisetexts auch hinsichtlich der in China ausgeübten Religionen zuverlässige Aussagen tätigt und sich dabei nicht nur auf Islam, Judentum, Nestorianismus, Katholizismus und Buddhismus

285 Vgl. HSIAO CH’I-CH’ING: The Military Establishment of the Yuan Dynasty. Cambridge (Mass.); London: Harvard University Press 1978. S. 40. 286 Vgl. IBIDEM, S. 53-56. 287 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 120. 288 Vgl. CH’EN, PAUL HENGCHAO: Chinese Legal Tradition under the Mongols. The Code of 1291 as Reconstructed. Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1979. S. 58f.

88 beschränkt,289 sondern (in geringerem Ausmaße) auch von Konfuzianismus und Daois- 290 mus zu berichten weiß. Obwohl MARCO in seiner praktischen Herangehensweise äußerst begrenzt und einseitig wirken mag, so lokalisiert der Geschichtswissenschaftler dennoch ein erstaunliches Detailwissen, welches sich beispielsweise dem daoistischen

Asketismus (G: XLIX; LXII; LXXV; CLXXVIII), den im lamaistischen Buddhismus dar- 291 gebrachten Tieropfern (G: LXXV) oder der mit (christlichen) Privilegien ausgestatte- 292 ten manichäischen Gemeinde in Fugiu (Fúzhōu) (G: CLVII) widmet. Zudem unter- streicht YANG ZHIJIU diesbezüglich vor allem die akkurate POLO’sche Darstellung der

Tätigkeiten des syrischen Nestorianers MAR SARGHIS (MA XUELIJISI) (G: CL), den ein in den frühen 1330er Jahren entstandenes geographisches Lexikon (Zhishun Zhenjiang zhi) tatsächlich als Erbauer zweier christlicher Kirchen ausweist und dessen 1278

(durch KHUBILAI) erfolgte Ernennung zum Regenten über Cinghianfu (Zhènjiāng) 293 bestätigen kann. Wie PAUL PELLIOT betont, berücksichtigt der berühmte Asienrei- sende auch einige religiöse Praktiken der Mongolen, so etwa die Verehrung der

(ursprünglich weiblichen) Erdgottheit NACYGAI (NATIGAI) oder die aus Holz, Stoff wie auch Filz hergestellten Ongghod-Figuren, welche als Verkörperungen von Ahnengeis- 294 tern gesehen und in jedem Zelt (Yurte) platziert wurden (G: LXX).

Eine substantielle Stichhaltigkeit bescheinigt die Wissenschaft auch den von MARCO geschilderten Bräuchen, Sitten und zeremoniellen Ritualen: Während der chinesische

Historiker CHAN HOK-LAM den mongolischen Usus der anhand von Bogenschüssen

289 Für eine Zusammenfassung der POLO’schen Aussagen zur buddhistischen Religion und den Glaubensbekenntnissen wie auch Aktivitäten der Mongolen bzw. Chinesen, empfiehlt sich das noch immer unverzichtbare wie auch lesenswerte Werk von WITTE, JOHANNES: Das Buch des Marco Polo als Quelle für Religionsgeschichte. Berlin: Hutten-Verlag 1916. –– Einen Überblick über jene Passa- gen des Reisetextes, welche sich mit dem Christentum in China auseinandersetzen, ermöglicht ZHANG XIPING: Il Milione e le ricerche sulla storia del Christianesimo in Cina. In: Marco Polo 750 Anni. Il viaggio. Il libro. Il diritto. Hrsg. von FREDERICO MASINI, FRANCO SALVATORI und SANDRO SCHIPANI. Roma: Tiellemedia Editore 2006. S. 305-316. 290 Nach Ansicht von MORRIS ROSSABI erwähnt MARCO POLO den Daoismus nicht. Die womöglich absichtliche Nichtberücksichtigung erklärt sich der ägyptisch-amerikanische Historiker mit dem Verweis auf die seitens des Venezianers erfolgte Widerspiegelung der dem tibetischen Buddhismus entgegengebrachten (religiösen) Vorliebe des von ihm bewunderten KHUBILAI. Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 39. 291 Das Buch der Wunder beschäftigt sich ebenso mit dem gegensätzlichen buddhistischen Verbot des Tötens einer lebenden Kreatur (G: CLXXV; CLXXVIII). 292 Vgl. GU WEIMIN: Le ricerche su Marco Polo in China, dal 1874 al 1995, S. 338-340. 293 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 120. 294 Vgl. PELLIOT: Notes on Marco Polo, Vol. 2, S. 791f.

89 295 praktizierten Vermessung von Entfernungen bekräftigt (G: LXXXIV; CXL), bestätigt der paduanische Philologe ALVARO BARBIERI die im südlichen China (einst) existie- 296 rende Sühnung von Ehrverletzungen durch Selbstmord (G: CLIII). Ferner beteuert die vom australischen Historiker IGOR DE RACHEWILTZ herausgegebene – und gründlichst kommentierte – „Geheime Geschichte der Mongolen“ den hohen Stellenwert der Farbe 297 Weiß (G: LXXV; LXXXIX) und berichtet in der Folge auch über die Tabuisierung des 298 Vergießens von kaiserlichem Blut (G: LXXX) . Ebenso zu belegen weiß die australi- sche Sinologin JENNIFER HOLMGREN die lockere mongolische Einstellung gegenüber der Jungfräulichkeit (G: LXXXII; CXXXV), die angesichts dessen merkwürdig anmutende

Verachtung des Ehebruchs (G: LXIX) sowie die unter dem Nomadenvolk vorzufindende altorientalische Rechtssitte der Schwagerehe (Levirat) (G: LXIX), in deren Rahmen der Bruder eines kinderlos Verstorbenen dessen Witwe heiratete.299 Des Weiteren bestätigt die amerikanische Sinologin JACQUELINE ARMIJO-HUSSEIN das Essen von rohem

Fleisch (G: CXIX), die unter dem Dai-Volk weitverbreitete Sitte der goldenen Verzie- rung von Zähnen (G: CXXI) und die im westlichen Yúnnán vorherrschende Sitte des vierzig Tage währenden Männerkindbetts (Couvade), bei der sich der Kindesvater zur

Täuschung missgünstiger Geister das Bett mit dem Neugeborenen teilt (G: CXXI). Ihrer Dissertation zufolge, gelten auch die im südwestlichen China unter Zuhilfenahme von

Magiern bzw. Schamanen praktizierten – und von MARCO lebendig beschriebenen –

Wunderheilungen (G: CXXI) als historisch gesichert. Als nicht dem Reiche der

POLO’schen Phantasie entsprungen, bezeichnet ARMIJO-HUSSEIN zudem zwei eher be- fremdliche Gepflogenheiten: Sowohl die in Yúnnán zur Festhaltung einer positiven

Seelensubstanz durchgeführte Ermordung von (Edel-)Menschen (G: CXX), als auch die in Gaindu (Sìchuān) und der uigurischen Provinz Camul (östl. Xīnjiāng) beobachtete

Gepflogenheit der Gastprostitution (G: LIX; CXVIII), entsprechen den überlieferten Tatsachen.300

295 Vgl. CHAN HOK-LAM: The Distance of a Bowshot. Some Remarks on Measurement in the Altaic World. In: Journal of Song-Yuan Studies, Vol. 25 (1995), S. 42. 296 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 996. 297 Vgl. DE RACHEWILTZ: The Secret History of the Mongols, Vol. 2, S. 1311. 298 Vgl. IBIDEM, Vol. 1, S. 368. 299 Vgl. HOLMGREN, JENNIFER: Observations on Marriage and Inheritance Practices in Early Mongol and Yüan Society, with Particular Reference to the Levirate. In: Journal of Asian History, Vol. 20 (1986), S. 145f.; 155-157; 174-177. 300 Vgl. ARMIJO-HUSSEIN, JACQUELINE: Sayyid Ajall Shams al-Din. A Muslim from Central Asia, Serving the Mongols in China, and Bringing Civilization to Yunnan. Cambridge (Mass.), Harvard University, PhD Diss. 1996. S. 137-144. –– Hinsichtlich der Darstellung von Gastprostitution bei MARCO POLO empfiehlt sich REICHERT, FOLKER: Fremde Frauen. Die Wahrnehmung von

90 Laut HANS-ULRICH VOGEL präsentiert sich das Buch der Wunder auch hinsichtlich der chinesischen Begräbnis-Methoden in einer bemerkenswert korrekten Weise: Abseits der in vielen Regions- bzw. Ortsbeschreibungen enthaltenen Einäscherung, liest man von der post mortem erfolgten Verheiratung von Kleinkindern (G: LXX), dem Versprengen von Stutenmilch zur Ehrung der Götter (G: LXX; LXXV), von Sterndeutern, die Leichname aus unerfindlichen Gründen durch Mauerlöcher abtransportieren lassen (G:

LVIII), sowie dem Verbrennen verschiedenster Papierobjekte (Münzen, Pferde, Rüstung, Sklaven), welche dem/r Verstorbenen im Jenseits zur Verfügung stehen sollten (G: 301 LVIII; LXX; CLIII). Nach Ansicht des ägyptisch-amerikanischen Historikers MORRIS

ROSSABI lässt sich zudem die Wichtigkeit der – nicht nur in diesem Kontext – sowohl von Mongolen wie auch Chinesen gerne konsultierten Sterndeuter, Astronomen,

Geomantiker und Wahrsager (G: LVIII; CV; CLII-CLIII) belegen, sowie auch der 302 tatsächlich enorme Absatz von billigen astrologischen Almanachen (G: CV). Hinzu kommt die für den chinesischen Historiker PENG HAI bemerkenswerte POLO’sche Erwähnung der die zwölf Erdzweige repräsentierenden Tierzeichen, wenngleich sich 303 der Venezianer in deren Reihenfolge sichtlich verwirrt zeigt (G: CV).

Genauigkeit attestiert der deutsche Sinologe HANS-WILM SCHÜTTE auch den Beschrei- bungen der megalithischen Brücken-Konstruktionen in Quenlifu (Jiànníng Xiàn) (G: 304 CLVI) und Çaiton (Quánzhōu) (G: CLVIII). Dessen britischer (Fach-) Kollege STE-

PHEN G. HAW ortet eine ebensolche Zuverlässigkeit in der Darstellung des 1800 Kilo- meter langen Kaiserkanals/Großen Kanals, der wichtigsten (Handels-) Verkehrsader des Yuán-Reichs, welche MARCO als einziger nicht-chinesischer Berichterstatter seiner

Zeit detailreich zu skizzieren weiß (G: CXXXVI; CXLIX). Auch über die Ursprungsstätte

Geschlechterrollen in den spätmittelalterlichen Orientberichten. In: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongressakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlass des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu. Hrsg. von ODILO ENGELS und PETER SCHREINER. Sigmaringen: Jan Thorbecke 1993. S. 167-184. 301 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 59f. 302 Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 125f.; 147; 223. –– Bezüglich der sowohl unter den Mongolen wie auch Chinesen gegebenen, engen Verbindung von Astronomie, Astrologie und Wahrsagerei, der mongolischen Rekrutierung von maßgeblichen Experten aus ganz Eurasien, sowie der Institutionalisierung des Jahreszeiten generierenden Kalendersystems von 1280, sei auf die gründlich durchgeführte Untersuchung des amerikanischen Kulturwissenschaftlers NATHAN SIVIN verwiesen. Siehe SIVIN, NATHAN (Hg.): Granting the Seasons. The Chinese Atsronomical Reform of 1280, with a Study of its Many Dimensions and an Annotated Translation of its Records. New York: Springer 2009. (= Sources in the History of Mathematics and Physical Sciences.) 303 Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 199f. 304 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 70-72.

91 dieser weltweit längsten Wasserstraße, die ostchinesische Handelsstadt Quinsay

(Hángzhōu), verliert das POLO’sche Buch – so HAW – verblüffend zutreffende Worte:

MARCOS reichhaltige Beobachtung des städtischen Lebens widmet sich beispielsweise sowohl Kanälen, Brücken, Feuerwachen, mehrstöckigen Gebäuden, Krankenhäusern und Bädern, als auch Handwerkszünften, Prostituierten, Märkten, Gaststätten, Ausflugs- 305 booten und der innerstädtischen Sperrstunde (G: CLIII). Persönliche Erlebnisse müs- sen laut der amerikanischen Sinologin SALLY K. CHURCH auch für das präzise Wissen über chinesische Schiffe und deren Instandhaltung verantwortlich sein: Nicht nur finden sich wahrheitsgetreue Aussagen über Größe, Frachtgut, Besatzung, Beiboote, (Steuer- )Ruder, Kabinen, Segel und im Schiffsrumpf befindliche Schotten, sondern wird auch der für die Imprägnierung notwendige Gebrauch von Tungöl bzw. Kalk, sowie das 306 Abdichten der Plankengänge geschildert (G: CLIX). Der französische Literaturwissen- schaftler PHILIPPE MÉNARD untermauert ferner das in diesem Zusammenhang stehende

POLO’sche Durchsegeln des Indischen Ozeans, zumal das Buch der Wunder sowohl die

(nordwestlichen) Winter- bzw. (südwestlichen) Sommermonsune registriert (G: CLXII), als auch das Verschwinden des Polarsterns mit exakten (geographischen) Angaben ver- 307 sieht (G: CLXVII, CLXVIII).

In akkurater Weise äußert sich der venezianische Kaufmannssohn auch hinsichtlich der

Produktion verschiedenster Güter: So schildert MARCO etwa die Gewinnung bzw. Erzeugung von Asbest und entlarvt die europäische Legende vom Asbest fabrizierenden

(Feuer-)Salamander als eine solche (G: LX). Nach eigenen Angaben stammen seine

Informationen von einem türkischen Reisegefährten namens ÇURFICAR (ZURFICAR bzw.

ZULFIQAR), der im Auftrag des KHUBILAI KHAN drei Jahre lang in der Provinz Ghinghintalas (Ostturkestan) den Abbau jenes Minerals zu organisieren hatte. Der briti- sche Historiker PETER JACKSON vermag sowohl die Präsenz als auch die Behauptungen dieses aus dem russischen Turkestan stammenden Verwalters zu bestätigen und ver- weist zudem auf die bereits im Jahre 1267 angeordnete Ausbeutung der Asbestminen des zentralasiatischen Tiān Shān-Gebirges. 308 Des Weiteren vermeldet der Asien- reisende, in der südostchinesischen Provinz Fugiu (Fújiàn) Zeuge der groß angelegten

Anfertigung von Porzellan(schalen) gewesen zu sein (G: CLVIII). Der chinesische

305 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 73-81. 306 Vgl. CHURCH, SALLY K.: Zheng He. An Investigation into the Plausibility of 450-ft Treasureships. In: Monumenta Serica, Vol. 53 (2005), S. 7-12. 307 Vgl. MÉNARD: Marco Polo et la mer, S. 183-189. 308 Vgl. JACKSON: Marco Polo and his Travels, S. 93.

92 Historiker YANG ZHIJIU affirmiert die Historizität dieses Berichts und will in der von

MARCO hervorgehobenen Stadt Tiungiu das in der östlichen Küstenprovinz Zhèjiāng gelegene Porzellanzentrum Lóngquán erkennen.309

Auch über die Produktion des aus Seide und Gold gewobenem nasij-Tuchs (Goldbro- kat) – von chinesischen Quellen als nashishi bzw. jinjin bezeichnet und den europäi- schen Quellen als panna tartarica („tatarisches Tuch“) bekannt – weiß das POLO’sche

Buch der Wunder ausführlich zu referieren: So werden Georgien (G: XXIII), Tibet (G:

CXVII), das 1258 von den Mongolen eroberte Baudac (Bagdad) (G: XXV), das nordwest- iranische Toris (Täbris) (G: XXX), sowie die ostchinesischen Städte Sugiu (Sūzhōu) (G:

CLII) und Cinghianfu (Zhènjiāng) (G: CL) als Stätten der nasij-Fabrikation ausgewiesen.

Während THOMAS T. ALLSEN deren realhistorische Existenz anhand chinesischer Beleg- stellen beglaubigen kann, interpretiert er die ebenfalls getätigte Erwähnung der rund um das Nordostknie des Gelben Flusses (Huáng Hé) situierten Provinz Tenduc (G: LXXIV) als indirekte Anspielung auf die in den 1270/80er Jahren extrem aktiven Goldbrokat- Zentren von Xunmalin und Hongzhou, welche neben einer zivilen „Kunsthandwerks- Oberaufsicht“ (renjiang tijusi) auch ein separates „Goldbrokat-Amt“ (nashishi ju) ihr Eigen nennen konnten.310 Die Ausführungen des amerikanischen Mongolenforschers wissen auch die von MARCO in Calacian (Yínchuān) wahrgenommene Herstellung des aus Kamel-/Ziegenhaar gewobenen Kamelotts (Camlet) (G: LXXIII) zu bekräftigen und vermerken darüber hinaus die glaubwürdige POLO’sche Identifizierung weiterer Texti- lien: Neben dem auch als Steifleinen bekannten Buckram (G: XXII; CLXXVI; CXCIV) begegnet man dem aus Baumwolle gewobenen Musselin (G: XXIV), dem aus kett- und schusssichtigen Partien bestehenden Damast (G: XXV), sowie dem (auch) als Faser- 311 pflanze verwendeten Hanf (G: LIV; CXLVIII).

Das Buch der Wunder verschreibt sich in den Darstellungen von Quinsay (Hángzhōu)

(G: CLIV), Fugiu (Fújiàn) (G: CLVI) und Çaiton (Quánzhōu) (G: CLVIII) aber auch der für Südchina wesentlichen Gewinnung von Zucker sowie dessen ertragreicher Besteue-

309 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo Did Come to China, S. 106f. –– Die zu Zeiten der Sòng- (960-1279) bzw. Yuán-Dynastie (1271-1368) enorm ausgeweitete Produktion von Porzellan, sowie dessen Ex- port nach Übersee behandelt HO CHUIMEI: The Ceramic Boom in Minnan during Song and Yuan Times. In: The Emporium of the World. Maritime Quanzhou, 1000-1400. Hrsg. von ANGELA SCHOTTENHAMMER. Leiden: E. J. Brill 2001. S. 237-308. (= Sinica Leidensia. 49.) 310 Vgl. ALLSEN: Commodity and Exchange in the Mongol Empire, S. 34-45. 311 Vgl. IBIDEM, S. 71f.

93 rung. Der britische Sinologe CHRISTIAN DANIELS bekräftigt diese Angaben anhand des 1273 erschienenen agrarwirtschaftlichen Traktats Nongsang jiyao („Grundsätze der Landwirtschaft und Seidenraupenzucht“), welches den Anbau wie auch die Verar- beitungstechniken von Zuckerrohr eingehend dokumentiert. Als weiteres Indiz für die

Glaubwürdigkeit von MARCOS Notizen muss – so DANIELS – die 1276 erfolgte Grün- dung eines für das Gebiet südlich des Jangtsekiang-Unterlaufes zuständigen „Zucker- Amtes“ (shatang ju) gelesen werden.312 Nach Ansicht der israelischen Historikerin

LEIGH CHIPMAN vergegenwärtigt auch der medizinische Abschnitt des – andernorts bereits erwähnten – Speisekompendiums Yinshan Zhengyao („Angemessene Grund- lagen von Trank und Speise“) die Bedeutung dieses Naturproduktes, zumal dessen zur medikamentösen Verabreichung vorgesehene Rezepte – etwa für Sirups, Konfitüren, Konfekte und kandierte Früchte – große Mengen an raffiniertem Zucker benötigten.313

Ferner versucht der britische Sinologe STEPHEN G. HAW die Authentizität der

POLO’schen Ausführungen anhand einer – sowohl von der Forschung, als auch den zeit- genössischen mittelalterlichen Autoren vernachlässigten – Untersuchung der im Buch der Wunder enthaltenen Naturprodukte und Tiere zu belegen. Seine lesenswerten Aus- führungen bestätigen beispielsweise MARCOS Angaben bezüglich Vorkommen und

Beschaffenheit von Steinkohle (G: CIII), Aloe, Ingwer, Zimt, Pfeffer, Hirse, Weizen,

Gerste (alle G: XXXIII), Rhabarber (G: LXI; CLII), Birnen sowie Pfirsichen (G: CLIII) und versichern die Exaktheit der wohl auf persönlicher Beobachtung fußenden Informatio- nen über den auch als Rindergemse bekannten Takin (G: CXVII), Krokodile (G: CXX),

Moschushirsche (G: LXXII; CXVI), Fasane (G: LXXII; LXXIV), Rehe (G: CXIII; CXVIII;

CXXVI), Kraniche (G: LXXIV), Löwen, Luchse, Bären (alle G: CXIII; CXVIII) und Zobel 314 (G: CCXVIII).

312 Vgl. DANIELS, CHRISTIAN: Agro-Industries. Sugarcane Technology. In: Biology and Biological Technology. Hrsg. von CHRISTIAN DANIELS, NICHOLAS K. MENZIES und JOSEPH NEEDHAM. Cambridge: Cambridge University Press 1996. S. 91f. bzw. 185. (= Science and Civilisation in China. 6.) 313 Vgl. CHIPMAN, LEIGH: Islamic Pharmacy in the Mamluk and Mongol Realms. Theory and Practice. In: Asian Medicine. Tradition and Modernity, Vol. 3, Issue 2 (2007), S. 270 unter Bezugnahme auf ANDERSON; BUELL (Hgg.): A Soup for the Qan, S. 119. 314 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 124-145. –– Zu MARCOS vielfältigen Tier-Darstellungen, jenseits des typischen christlichen Bestiariums und dessen moralischem Symbolismus, siehe auch FAUCON, JEAN-CLAUDE: La représentation de l’animal par Marco Polo. In: Médiévales, Vol. 32 (1997), S. 97-117.

94 Mithilfe etlicher historiographischer Aufzeichnungen wie auch – erst lange nach

MARCO POLO zur Verfügung stehender – chinesischer Quellen bezeugt HANS-ULRICH

VOGEL schlussendlich nicht nur die im Buch der Wunder enthaltenen Beschreibungen bezüglich der Produktion, Verteilung und Funktion des zu Yuán-Zeiten gedruckten 315 Papiergeldes (G: XCVII), sondern bezeichnet die POLO’schen Notizen über die im südwestlichen China als (alternatives) Währungsmittel verwendeten Kaurischnecken 316 (G: CXIX; CXXI; CXXX) als ebenso gehaltvoll. Nach Meinung des deutschen Sinolo- gen präsentiert sich auch die Darstellung der vornehmlich in Yúnnán situierten Salz- industrie (G: CXIX) in einer präzisen Weise und entspricht MARCOS Auskunft über das in der Provinz Gaindu (Sìchuān) (G: CXVIII) bzw. Tibet (G: CXVI) verwendete Salz- Geld den historischen Fakten.317 Die Conclusio der voluminösen – und in diesem Rah- men nur ansatzweise vorstellbaren – Beweisführung vermerkt schließlich, dass sowohl der venezianische Kaufmannssohn als auch die den chinesischen Quellen entnommenen Informationen in absoluter Übereinstimmung mit den monetären Gegebenheiten und Entwicklungen des mongolischen China stehen.318

315 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 106-109 bzw. 118-226. 316 Vgl. IBIDEM, S. 230-270. 317 Vgl. IBIDEM, S. 271-330. 318 Vgl. IBIDEM, S. 419-425.

95 IX. | VERMEINTLICHE ÄMTER UND AUFGABEN

Die Schilderungen des POLO’schen „Reiseberichts“ wissen jedoch nicht nur von den zuvor erläuterten Orten, Gütern, Personen, Kulturen, Traditionen und Religionen zu erzählen, sondern attestieren ihrem berühmten Reisenden auch die Übernahme bedeut- samer Aufgaben innerhalb des Verwaltungsapparates der Yuán-Dynastie (1271-1368) und dokumentieren die in unmittelbarer Nähe des Großkhans erfolgten (Ver)Dienste des Venezianers. Diese von der Wissenschaft hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit auf unter- schiedliche Weise bewerteten Ämter bzw. Missionen sollen in der Folge eine sämtliche

Positionen umfassende Darstellung erfahren und die Diskussion über MARCOS (angeb- liches) China-Abenteuer um die Komponente des aktuellen Forschungs-Überblicks bereichern.

IX. I. | DIE SELBSTERNANNTEN BELAGERUNGS-EXPERTEN

Laut dem Buch der Wunder nahmen die drei POLOS an der mongolischen Belagerung des in der (heutigen) Provinz Húběi gelegenen Saianfu (Xiāngyáng) (G: CXLVII) teil und trugen insofern entscheidend zur Kapitulation jener zentralchinesischen Stadt bei, als dass sie KHUBILAI KHAN gleichsam die Anfertigung sowie den Einsatz von Katapultmaschinen empfahlen bzw. vermittelten:

„Die Bevölkerung hätte sich nie ergeben, wenn sich nicht ereignet hätte, was ich jetzt berichte. Drei Jahre dauerte die Belagerung schon, und die Truppen des Großkhans wurden ungeduldig und unzufrieden. Da sagten Messer Nicolao, Messer Maffeo und Messer Marco: „Wir werden euch Mittel und Wege finden, die Übergabe zu erreichen.“ (...) Die Worte wurden in Gegenwart des Kaisers gesprochen; (...) Die zwei Polo und der Sohn Messer Marco sagten: „Großer Herrscher, wir haben Männer in unserem Gefolge, die fähig sind, Wurfmaschi- nen zu bauen, womit man große Steine in die Stadt schleudern kann. Die Ein- wohner sind den Geschossen ausgeliefert, sie werden sich ergeben. (...) Der Kai- ser war mit dem Vorschlag einverstanden und beauftragte die Venezianer, die Maschinen so rasch als möglich zu bauen. Messer Nicolao, sein Bruder und sein Sohn Marco hatten einen Deutschen und einen Nestorianer bei sich; diese zwei waren Meister im Wurfmaschinenbau. Die Polo baten die beiden, zwei oder drei Katapulte herzustellen, die dreihundert Pfund schwere Steine zu schleudern vermögen. Sie bauten drei treffliche Maschinen. (...) Die Katapulte wurden zum

96 Abschuß [sic] bereitgestellt, die Sehnen gespannt, und von allen dreien wurde ein Stein in die Stadt geschleudert. Häuser wurden getroffen und zerstört. Die Geschosse verwüsteten alles, machten einen Mordskrach. Wie die Einwohner einer solchen, noch nie erlebten Verheerung gewahr wurden, (...) beschlossen

sie die Übergabe der Stadt.“ (G: 211f.)

Beinahe alle Forschungsmeinungen bezeichnen diese POLO’sche Beteiligung als eine offensichtlich unwahre Behauptung, da die im Zuge der Eroberung des südchinesischen Reichs der Sòng-Dynastie (1126–1279) erfolgte Belagerung von Saianfu (Xiāngyáng) im Frühling 1273 erfolgreich endete, die venezianische Kaufmannsfamilie aber erst gegen Ende des Jahres 1274 bzw. Anfang 1275 in Nordchina eingetroffen sein 319 konnte. Zwar bestätigt FRANCES WOOD anhand der Annalen der Yuán-Dynastie (Yuánshǐ) den im Rahmen der fünfjährigen Belagerung (1268-1273) stattgefundenen Einsatz von Artilleriemaschinen320, jedoch werden als deren Konstrukteure nicht die 321 von MARCO erwähnten Gefolgsmänner genannt, sondern zwei persische Militär- ingenieure namens ISMAIL und ALA-UD-DIN (ALA AL-DIN). Des Weiteren verweist die englische Sinologin auf den persischen Chronisten RASHĪD AL-DĪN (1247-1318), der in seiner Universalgeschichte Jāmi' al-tawārīkh („Sammler der Geschichten“) jene Bela- gerung ebenfalls beschreibt und diesbezüglich vermerkt, dass es vor den persischen Entwürfen solcher Apparate keine „fränkischen“ – also europäischen – Wurfmaschinen in China gegeben habe.322

319 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 67. –– Eine Ausnahme stellt der chinesische Historiker PENG HAI dar, der die Ankunft der POLOS bereits für das Jahr 1272 veranschlagt. Basierend auf sei- ner Interpretation der Abschrift (R) des RAMUSIO, welche in seinen Augen von MARCO höchst- persönlich angeordnete Korrekturen beinhaltet, vermutet er zudem, dass es sich im Falle der Wurf- maschinen-Geschichte nicht um die Belagerung von Xiāngyáng handelt, sondern um die mongoli- sche Eroberung des nordostchinesischen Xīnzhōu (September 1274). Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 228-244. 320 Nach Meinung des deutschen Sinologen HANS-ULRICH VOGEL muss es sich bei jenen um Exemplare der wie ein einarmiges Torsionsgeschütz funktionierenden Mangonel handeln, während sein briti- scher Fachkollege STEPHEN G. HAW die Verwendung der nach dem Hebelprinzip agierenden Bliden als wahrscheinlicher erachtet. Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 67 bzw. HAW: Marco Polo’s China, S. 116. 321 Der deutsche Sinologe HANS-WILM SCHÜTTE hält den in den französischen Fassungen (FG) zu fin- denden Ausdruck „alamainz“ für einen Kopistenirrtum, welcher nicht einen Deutschen bezeichnen, sondern sich auf einen Angehörigen des persischen Stammes der Alanen („alain“) beziehen sollte, zumal christliche Alanen iranischer Sprache der kaiserlichen Kerntruppe angehörten. Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 56f. 322 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 150-152.

97 In den Augen des britischen Historikers DAVID O. MORGAN handelt es sich bei dieser „absurden“ Anekdote entweder um eine Prahlerei des Venezianers, eine verherrlichende

Erfindung des RUSTICHELLO oder aber um den Versuch späterer Herausgeber, die

Geschichte durch das Einweben des POLO’schen Familiennamens interessanter zu machen. Gemäß seinen Ausführungen geht dies zweifellos Hand in Hand mit der für den mittelalterlichen Menschen so typischen Neigung, etwaige Wissenslücken mit wunderlichen Geschichten zu füllen und die Bedeutung seiner Rolle wie auch Funktion 323 zu übertreiben. Der paduanische Philologe ALVARO BARBIERI bezeichnet letzteres als eine Art „militärische Selbstgefälligkeit“, welche sich als eine besondere Charakter- eigenschaft des MARCO POLO nicht nur im Kontext der Belagerung von Saianfu (Xiāngyáng) zu offenbaren weiß, sondern seiner Meinung nach auch in anderen Teilen des Werkes zu erkennen ist.324 Von einem editorialen Eingriff ist auch der britische

Historiker PETER JACKSON überzeugt, da sowohl die venezianisch-emilianische Hand- schriften-Familie (VA) als auch das lateinische Zelada-Manuskript (Z) die POLO’sche Belagerungsexpertise gar nicht erst beinhalten und er folglich annimmt, dass auch die verlorene Originalfassung diese „Heldengeschichte“ nicht zum Inhalt hatte.325

Auch wenn die Wissenschaft eine POLO’sche Belagerungs-Involvierung durchgehend ablehnt, so weist der chinesische Historiker GU WEIMIN dennoch darauf hin, dass mehr oder minder alle Einzelheiten dieses entscheidenden Militärereignisses mit unserem aus chinesisch-persischen Quellen stammenden Wissen übereinstimmen und dies als weite- res Zeugnis von MARCOS China-Aufenthalt gelesen werden kann, zumal er die Geschichten über jene berühmte Belagerung dort gehört haben könnte.326 Auch der britische Sinologe STEPHEN G. HAW will diese von MARCO geschilderte Episode nicht als totale Erfindung verstanden wissen und vermutet, dass NICOLAO und MATTEO im Zuge ihrer ersten Asienreise in Begleitung von Katapultentwicklern unterwegs waren 327 und RUSTICHELLO dies zur Ausschmückung der Geschichte verwendet haben könnte. Dass die Glaubwürdigkeit des übrigen Textes durch dieses Belagerungsabenteuer nicht leidet, konstatiert HANS-WILM SCHÜTTE, für den das Erzählte aufgrund der Ver- wendung einer (an einem anderen Handlungsort stattfindenden) wörtlichen Rede ohne-

323 Vgl. MORGAN, DAVID O.: Marco Polo in China – or not. In: Journal of the Royal Asiatic Society, Series 3, Vol. 6, Issue 2 (1996), S. 224. 324 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1016-1019. 325 Vgl. JACKSON: Marco Polo and his Travels, S. 99f. 326 Vgl. GU WEIMIN: Le ricerche su Marco Polo in China, dal 1874 al 1995, S. 332. 327 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 116.

98 hin völlig aus dem stilistischen Rahmen des Werkes fällt: Die zwischen den POLOS und den Mongolen bzw. KHUBILAI in Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) oder Clemeinfu/Ciandu (Shàngdū) erfolgten Dialoge unterbrechen den ansonsten so sachbezogenen Text und können nach Ansicht des deutschen Sinologen nur nachträglich hinzuerfunden worden sein.328

IX. II. | RÄTSELHAFTE GOUVERNEURSWÜRDEN

Eine bis in die Gegenwart andauernde Forschungs-Debatte begleitet die POLO’sche Beschreibung der am Kaiserkanal/Großen Kanal gelegenen, ostchinesischen Handels- stadt Yangiu (Yángzhōu) (G: CXLV), welcher MARCO drei Jahre lang als Gouverneur vorgestanden haben will:

„(...) das ist eine wichtige Kapitale, unter ihrer Oberhoheit stehen siebenundzwanzig bedeutende Handelsplätze. Einer der zwölf obersten Beamten des Großkhans residiert hier. Yangiu ist eine kaiserliche Präfektur. Die Bewoh- ner sind alle Heiden, sie sind dem Khan untertan und gebrauchen das Papier- geld. Messer Marco Polo, von dem dieses Buch handelt, war hier drei Jahre lang Gouverneur. Handel und Gewerbe blühen. In Yangiu werden hauptsächlich

Ausrüstungen für Ritter und Soldaten hergestellt.“ (G: 210)

FRANCES WOOD beschäftigt sich eingehend mit dieser Behauptung einer statthalter- ischen Amtsführung, die sich nach Ansicht der Forschung aber auch auf einen Posten in der Salzverwaltung beziehen könnte, zumal das Buch der Wunder zahlreiche (akkurate) Informationen bezüglich der Produktion und Besteuerung von Salz beinhaltet und das mittelalterliche Yangiu (Yángzhōu) als wichtiger Knotenpunkt des chinesischen Salz- handels fungierte. Diese Vermutungen gehen laut der englischen Sinologin auf eine

Entdeckung des französischen Orientalisten GUILLAUME PAUTHIER (1801-1873) zurück, der 1865 einen Hinweis auf MARCO POLO in der offiziellen Geschichte der Yuán-

Dynastie (Yuánshǐ) gefunden zu haben glaubte: Eine als BOLUO bzw. – nach der gebräuchlichen Pinyin-Latinisierung – POLUO bezeichnete Person wird als Vizepräsi- dent des Geheimen Rates sowie als Gouverneur der südwestchinesischen Provinz Yúnnán genannt und soll im Jahre 1284 als Inspektor der Salzverwaltung in Yángzhōu tätig gewesen sein. Rund 50 Jahre später widerlegte der französische Sinologe und

328 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 54f.

99 Zentralasienforscher PAUL PELLIOT diese Identifizierung, indem er nachzuweisen wusste, dass es sich bei der fraglichen Persönlichkeit eindeutig um den bei RASHĪD AL- 329 DĪN (1247-1318) als POULAD verzeichneten AQA (gest. 1313) handelte, wel- cher als enger Vertrauter KHUBILAIS wichtige Leitungspositionen im Verwaltungsappa- rat der Yuán innehatte und in den dynastischen Gründungsjahren aufgrund seiner aus- gezeichneten Kenntnis der mongolisch-chinesischen Traditionen bzw. Institutionen eine wichtige Rolle spielte. Auch die von FRANCES WOOD gegen Ende des 20. Jahrhunderts neu aufgerollte Durchforstung der zur Verfügung stehenden offiziellen Dokumente, einschließlich der lokalen Annalen (difangzhi) von Yángzhōu, konnten keine – auch nicht auf phantasievolle Weise interpretierbare – Erwähnung des Venezianers doku- mentieren, weshalb die Sinologin jegliche Verbindung zwischen MARCO und einer administrativen Funktion in Abrede stellt und selbst dessen Aufenthalt in der ostchinesi- schen Provinzhauptstadt mit einem großen Fragezeichen versieht.330

In ausgiebiger Weise setzte sich im 19. Jahrhundert auch der schottische Orientalist

HENRY YULE mit der umstrittenen Thematik des angeblichen Gouverneursamtes aus- einander: Dass KHUBILAI KHAN dem venezianischen Kaufmannssohn die äußerst bedeutsame Position des kaiserlichen Generalstatthalters der in Yángzhōu situierten Provinzregierung bzw. ein höheres Verwaltungsamt auf städtischer Ebene anvertraut haben könnte, bezeichnet YULE als eine unrealistische Annahme, zumal es das Mongo- lenoberhaupt zu diesem Zeitpunkt mit einem erst 23-jährigen MARCO zu tun hatte, wel- cher sich zudem erst seit zwei Jahren in (Nord-)China aufgehalten haben konnte.331 Darüber hinaus weiß der angesehene Orientwissenschaftler auf das Zelada-Manuskript (Z) und einige weitere Handschriften zu verweisen, welche zwar eine vom Großkhan zugeteilte offizielle Anstellung andeuten, nicht aber die konkrete Erwähnung eines

Gouverneursamtes beinhalten, sondern lediglich einen dreijährigen POLO’schen Aufent- halt in der ostchinesischen Salzstadt notieren.332 Diese Nichtberücksichtigung erklärt

329 Eine ausgewogene biographische Darstellung dieses mongolischen Kosmopoliten findet sich in ALLSEN, THOMAS T.: Culture and Conquest in Mongol Eurasia. Cambridge: Cambridge University Press 2001. S. 59-80. 330 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 184-190. Als ebenso erfolglos erwies sich die Suche unter der Annahme von MARCOS christlichem Taufnamen MOJUCI (latinisiert: MO-CHU-TZU). 331 Vgl. YULE: The Travels of Marco Polo, Bd. 2, S. 153. 332 Vgl. IBIDEM, The Travels of Marco Polo, Bd. 2, S. 157. –– So heißt es beispielsweise in der frühen französischen Variante B1: „(...) Et si vous di que le dit messire Marc Pol, celui meismes de qui nostre livre parle, sejourna en ceste cité de Ianguy .III. ans acomplis par le commandement du Grant Kaan. (...)“ Siehe DELCLOS, JEAN-CLAUDE; ROUSSEL, CLAUDE: A travers la Chine du Sud. In: Marco

100 sich HANS-WILM SCHÜTTE anhand eines in den späteren Varianten des Reisetexts erfolgten Abschreibfehlers: So wurde im Kontext jener Textstelle, die von MARCOS dreijährigem Aufenthalt in Yangiu (Yángzhōu) berichtet, die Verbform „séjourna“ („hielt sich auf“) als „seigneura“ („verwaltete; regierte“) gelesen und folglich auch

übernommen. Da nämlich die Formulierung des POLO’schen Gouverneursamtes nicht auf die zwei Sätze zuvor angeführte Nennung des in Yángzhōu residierenden obersten Beamten eingeht und auch aufgrund der dazwischen geschobenen Passagen keine inhaltliche Korrelation dieser beiden Informationen festzustellen ist, muss man laut

SCHÜTTE davon ausgehen, dass es bereits in der verschollenen Urversion keine Statt- halterschaft MARCOS zu vermelden gab und letzterer sich einer solchen auch niemals rühmte. Dass RAMUSIO diese auf einem Kopisten-Irrtum beruhende Aussage mit der

Erwähnung der obersten Beamten verband und MARCO in seinem (einflussreichen) Rekonstruktionsversuch der Originalschrift folglich zu einem der zwölf kaiserlichen Präfekten machte,333 bezeichnet der deutsche Sinologe als eine zusätzliche Torpedie- rung der ohnehin existierenden Verwirrung. Schließlich verweist SCHÜTTE auf die im Buch der Wunder geschilderten Obliegenheiten wie auch Kompetenzen dieser höchsten

Beamten (G: XCVIII), im Zuge derer Darstellung die (in keiner Handschrift aufzufin- dende) Erwähnung des „Gouverneurs“ POLO – eines ihrer Mitglieder und zugleich des Buchautors (!) – wohl angebracht bzw. unvermeidlich gewesen wäre.334

Die Überlegungen des anerkannten Yuán-Wissenschaftlers IGOR DE RACHEWILTZ gehen hingegen davon aus, dass der venezianische Kaufmannssohn sehr wohl selbst behauptet habe, mit der Regentschaft über Yángzhōu ausgestattet worden zu sein. Nach Ansicht des australischen Historikers muss diese Äußerung zumindest als eine Übertreibung angesehen werden, jedoch hält er es sehr wohl für möglich, dass MARCO eine längere Zeit in der ostchinesischen Provinzhauptstadt gewohnt haben könnte, zumal chinesische Quellen von einigen wohlhabenden italienischen Kaufleuten zu berichten wissen, wel- che sich während des 13. bzw. 14. Jahrhunderts in jener florierenden Handelsstadt etablieren hatten können. Obwohl DE RACHEWILTZ sowohl die POLO’sche Gouverneurs- position als auch eine von MARCO eingenommene Spitzenfunktion in der Beamten-

Polo, Le Devisement du Monde. Hrsg. von PHILIPPE MENARD. Band 5. Genf: Droz 2006. S. 102. (= Textes littéraires français. 586.) 333 Diese Fusionierung des RAMUSIO liest sich folgendermaßen: „(...) M. Marco Polo di commissione del Gran Can n’ ebbe il governo tre anni continui in luogo di un die detti Baroni.“ Zitiert nach VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 350. 334 Vgl. SCHÜTTE: Wie weit kam Marco Polo?, S. 48-50.

101 schaft jener Stadt bzw. Region entschieden ablehnt, so könnte laut ihm der Venezianer dort dennoch eine temporäre Verantwortung als niedriger Beamter, Kontrolleur oder vom Gericht eingesetzter Kommissar bzw. Beauftragter übernommen haben. Deren

Bedeutung mag – so der australische Forscher – in der Folge von RUSTICHELLO oder dem Asienreisenden selbst, zu einem Regierungsamt magnifiziert worden sein.335

Auch der amerikanische Sinologe JONATHAN D. SPENCE kann sich einen mehrjährigen Aufenthalt des venezianischen Weltenbummlers in Yángzhōu vorstellen und begründet seine Ansicht anhand der – bereits von DE RACHEWILTZ vermerkten – prosperierenden italienischen Community, welche sich wahrscheinlich aufgrund des gewinnbringenden Seidenhandels in jener Handelsstadt konstituieren konnte. Als Beispiel führt er die genuesische Kaufmannsfamilie VILIONI an, deren Existenz durch einen inmitten der Befestigungsmauern von Yángzhōu gefundenen Grabstein für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts belegt werden kann: Die von der chinesischen Volksbefreiungsarmee anno

1951 entdeckte Marmortafel ist der im Juni 1342 verstorbenen KATARINA VILIONI gewidmet und weist sie als Tochter eines gewissen DOMENICO VILIONI aus. Diesen konnte der italienische Mediävist ROBERT SABATINO LOPEZ als DOMINICO ILIONI identi- fizieren, welcher in einer aus dem Jahre 1348 stammenden Gerichtsakte der Stadt Ge- nua als Testamentsvollstrecker des Händlers JACOPO DE OLIVERIO verzeichnet ist. Nach

Auskunft jenes Dokumentes hatte DE OLIVERIO in China gelebt („in partibus Catagii“), wo er sein mitgebrachtes Vermögen verfünffachen konnte. Zudem konnte in den 1950er Jahren eine weitere (kleinere) Gedenktafel in Yángzhōu sicher gestellt werden, deren kurze lateinische Inschrift einen im November 1344 verstorbenen ANTONIO als den 336 Sohn des DOMENICO VILIONI bezeichnet. Nach Ansicht von JONATHAN D. SPENCE nähren diese Fundstücke die Vermutung, dass MARCO zu einer Art Vorsteher bzw. Ver- walter der italienischen Händler ernannt worden sein könnte, um im Auftrag von 337 KHUBILAI über die ertragreichen Geschäfte seiner Landsleute zu wachen. Die für eine

335 Vgl. DE RACHEWILTZ: Wood’s Did Marco Polo Go to China? A Critical Appraisal. 336 Die deutsche Literaturwissenschaftlerin MARINA MÜNKLER mutmaßt, dass es sich im Falle von KATARINA und ANTONIO auch um die Nachfahren des venezianischen Kaufmanns PIETRO DE VILIONI handeln könnte, welcher 1264 in Täbris sein Testament abfasste. Wenn dem so wäre, dann muss die Kaufmannsfamilie VILIONI über sehr lange Zeit im Asienhandel tätig gewesen sein und sich teilweise in China niedergelassen haben. Vgl. MÜNKLER: Marco Polo, S. 32. –– Auch der australische Historiker IGOR DE RACHEWILTZ geht von einer venezianischen Abstammung der Familie VILIONI aus. Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 40. 337 Vgl. SPENCE, JONATHAN D.: The Chan’s Great Continent. China in Western Minds. London; New York: W. W. Norton & Company 1998. S. 10f.

102 solche (mittelalterliche) Gemeinschaft charakteristische Unterstützung seitens eines religiösen Systems, sieht der amerikanische Sinologe durch den Bericht des Franzis- kanermönchs ODORICO DA PORDENONE (1286-1331) gegeben, der 1322 auch die Stadt Jamçai (Yángzhōu) besuchte und folgendes protokollierte: „Dort gibt es eine Nieder- lassung der Franziskaner sowie drei Nestorianerkirchen. (...) In dieser Stadt gibt es 338 alles, wovon Christenmenschen leben, und von allem große Mengen.“ SPENCE weist diesbezüglich auch auf die VILIONI-Grabsteine hin, deren Inschriften christliche Illustra- tionen beigefügt wurden, wie etwa die auf der Marmorplatte von KATARINA VILIONI 339 abgebildete Darstellung des Märtyrertodes der Heiligen KATHARINA.

In seiner kürzlich erschienenen Monographie wirft STEPHEN G. HAW eine weitere

Hypothese in die akademische Debatte: Sollte sich MARCO wirklich zwei oder drei Jahre in Yángzhōu aufgehalten haben, so könnte dies mit einem Verwaltungsposten der in jener Stadt ansässigen – und vom Buch der Wunder auch explizit erwähnten – Rüstungsindustrie zusammenhängen, welcher in der Folge die Abwesenheit des

POLO’schen Namens in der Liste der städtischen Beamten erklären würde. Eine solche Mutmaßung erscheint dem britischen Sinologen als durchaus wahrscheinlich, da

MARCO ein großes Interesse für militärische Angelegenheiten zeigte und dessen vorran- gige Aktivitäten an kriegerische Ereignisse der Yuán-Dynastie geknüpft waren.340

PENG HAI bestätigt Yángzhōu zwar als zeitgenössischen Regierungssitz der Provinz Yúnnán (1276-1291) und folglich als eine der zwölf kaiserlichen Kapitale (xingsheng), jedoch schließt er MARCOS dort angeblich eingenommene Gouverneursposition dezi- diert aus, da die in den historischen Aufzeichnungen überlieferten Namen der in der Provinzregierung tätigen Beamten in keinerlei Weise mit dem venezianischen Kauf- mannssohn in Verbindung gebracht werden können. Nach Ansicht des chinesischen

Historikers entspricht der Asienreisende auch nicht dem Schema der tatsächlichen Amtsinhaber, welche von den erhaltenen Dokumenten als mongolische Generäle, ehe- malige Sòng-Heerführer oder Oberbeamte der Zentralregierung ausgewiesen werden.

Zudem erscheint PENG HAI die Herrschaft über die Provinz Yúnnán als strategisch wie

338 REICHERT: Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China, S. 93. 339 Vgl. SPENCE: The Chan’s Great Continent, S. 10. –– Das gemeißelte Bildnis der von klingenbe- stückten Rädern in Stücke geschnittenen KATHARINA könnte nach Meinung von FRANCES WOOD aber auch von einheimischen (chinesischen) Kunsthandwerkern angefertigt worden sein. Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 24. 340 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 165.

103 auch wirtschaftlich zu bedeutsam, als dass sie dem zu jenem Zeitpunkt noch sehr jungen

MARCO überantwortet worden wäre. Auch die in der Folge vorgenommene (systemati- sche) Untersuchung der auf verschiedenen Unterebenen der Provinzregierung angestell- ten Beamten, zeitigte dem chinesischen Wissenschaftler keine Hinweise auf den berühmten Venezianer. Stattdessen präsentiert PENG HAI einen den offiziellen Annalen der Yuán-Dynastie (Yuánshǐ) entnommenen Absatz, welcher von der 1284 erfolgten Abschaffung der für Yángzhōu zuständigen Buchhaltung zu berichten weiß und nach seinem Dafürhalten als indirekte Anspielung auf MARCOS Tätigkeit in Yángzhōu gele- sen werden kann: So könnte letzterer bis 1284 mit dem Posten eines städtischen Rech- nungsbeamten versorgt gewesen sein, zumal dieses Amt nicht nur die Exaktheit seiner steuerlichen Angaben erklären würde, sondern auch der zeitlichen Rekonstruktion des

POLO’schen Reiseabenteuers entspräche. Schließlich betont PENG HAI, dass MARCO aufgrund der im Buch der Wunder in Tagen angegebenen Distanzen zumindest ein (Rechnungs-)Beamter dritten Ranges gewesen sein muss, da es lediglich höheren Beamten (ersten bis dritten Grades) vorbehalten war, die offizielle Postroute des Yuán- Reichs auf dem Rücken eines Pferdes zu bereisen.341

Dass MARCO POLO ein städtisches Verwaltungs-Amt bekleidete, vermutet auch der chinesische Historiker YANG ZHIJIU, der den lokalen Einsatz von Beamten verschiede- ner Nationalität (Muslime, Uiguren, Chinesen, Jürchen, Tanguten etc.) nicht zuletzt durch das Beispiel des auch im Buch der Wunder erwähnten Nestorianers MAR SARGHIS

(MA XUELIJISI) (G: CL) gestützt wissen will. Laut einer – ausnahmsweise erhaltenen – Ortschronik (Zhishun Zhenjiang zhi) wurde dieser aus Samarkand stammende Syrer

1278 von KHUBILAI zum (stellvertretenden) Aufseher (darughachi) über Cinghianfu (Zhènjiāng) ernannt und fand als solcher auch einen Eintrag in die Reiseschrift des Venezianers. Nach Ansicht des an der renommierten Nankai-Universität lehrenden

Professors, könnte MARCO zur selben Zeit eine ähnliche Stellung in Yángzhōu inne ge- habt haben und den Amtskollegen aufgrund der (geographisch) benachbarten

Zuständigkeitsbereiche auch gekannt haben, was die POLO’sche Erwähnung von letzte- rem überhaupt erst erklären würde.342

341 Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 154-159; 259-266. 342 Vgl. YANG ZHIJIU: Marco Polo was in China. Tianjin: Nankai daxue chubanshe 1999. S. 83.

104 Schlussendlich verweist HANS-ULRICH VOGEL auf die Komplexität der in verschiedene Unterabteilungen gegliederten Yuán-Administration, welche auf allen Ebenen eine Viel- zahl an assistierenden Funktionären und Sekretären beinhaltet und somit mannigfaltige

Möglichkeiten einer POLO’schen Involvierung offeriert. Als Sitz etlicher Verwaltungs- einheiten besaß gerade die ostchinesische Provinzhauptstadt Yángzhōu zahlreiche zivile bzw. militärische Ämter, bezüglich deren Amtsinhaber sich die chinesischen Quellen besonders im Falle der unteren Verwaltungs-Ebenen ausschweigen. So zeigt sich der deutsche Sinologe ob der in der Primärliteratur zu konstatierenden Nichtberücksichti- gung des Venezianers auch nicht verwundert, zumal er diesem (lediglich) eine Stellung innerhalb einer regional-lokalen Behörde zuschreibt und dessen Aufenthalt in Yángzhōu auf einen zweijährigen Zeitraum (1282-1284) reduziert.343

IX. III. | EIN JUGENDLICHER EMISSÄR & SEINE DIPLOMATEN

Während die englische Sinologin FRANCES WOOD die von der Familie POLO sowohl für den Papst als auch das Mongolenoberhaupt unternommenen Auslandsvertretungen bezweifelt und den auf KHUBILAIS Geheiß bestrittenen China-Rundfahrten des vene- 344 zianischen Kaufmannssohnes jegliche Glaubwürdigkeit abspricht, will STEPHEN G.

HAW die diesbezüglich im Buch der Wunder getätigten Behauptungen nicht als Über- treibung verstanden wissen: Nach Ansicht des britischen Sinologen wurde der jugend- liche MARCO von KHUBILAI zumindest auf zwei Erkundungsreisen geschickt, welche ihn in das südwestliche China – Caragian (Yúnnán) (G: CXIX, CXX) bzw. Gaindu

(Sìchuān) (G: CXVIII) – und weiter nach Mien (Burma bzw. Myanmar) (G: CXXII-

CXXVI) sowie Cianba (Vietnam) (G: CLXIII) geführt haben müssen. Im Rahmen weite- rer Auftragsexpeditionen könnte der Venezianer auch die ostchinesischen Städte Yangiu

(Yángzhōu) (G: CXLV) und Quinsai (Hángzhōu) (G: CLIII/IV) sowie Indien (G: CLIX;

CLXXV-CLXXVIII; CLXXX-CLXXXVIII) und Südostasien (G: CLXIV-CLXXIII) bereist und schlussendlich via Çaiton (Quánzhōu) (G: CLVIII) die anlässlich der zu eskortierenden

Braut KÖKECHIN (KÖKÖTCHIN; gest. 1296) aufgetragene Gesandtschaft (1291-1293) in die persischen Ländereien des Il-Khanats angeführt haben.345

343 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 363f. 344 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 184-186. 345 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 94 bzw. 108.

105 Um seine (chinesischen) Untertanen zu beeindrucken, seine Legitimität als Regent über China bzw. rechtmäßiger Großkhan aller Mongolen zu steigern und seine Akzeptanz als uneingeschränkter Welt-Beherrscher zu demonstrieren, so der ägyptisch-amerikanische

Historiker MORRIS ROSSABI, agierte KHUBILAI als eifriger Gastgeber der aus verschie- denen Ländern angereisten Besucher, welche ihm ihre diplomatische Ehrerweisung und/oder (geschuldete) Tributzahlungen entgegen brachten. Darüber hinaus betonen die Ausführungen des Geschichtswissenschaftlers, dass sich jener bezüglich der administra- tiven Handhabung seiner chinesischen Herrschaftsgebiete durchaus auf gleichsam fach- kundige wie auch talentierte Ausländer verließ und darauf wohl auch angewiesen war, zumal er die in die Verwaltung seines Reiches eingebundenen Chinesen als einen seine Regierungsgewalt gefährdenden Faktor wahrnahm, dessen Potenzial sich bereits 1262 anhand der Rebellion des chinesischen Generals LI TAN (gest. 1262) gezeigt hatte. Zwar konnte diese innerhalb weniger Monate niedergeschlagen und der als Statthalter der südchinesischen Stadt Yízhōu eingesetzt gewesene Dissident exekutiert werden, jedoch zeitigte jener Zwischenfall ein auf Seiten KHUBILAIS gegenüber den Einheimischen (Hànzúrén oder Hànrén) fortan gehegtes Misstrauen, infolgedessen er – ungeachtet des in der chinesischen Bevölkerung dadurch provozierten Unmuts – zunehmend auswär- tige Berater (Muslime, Kitan, Uiguren oder Europäer) rekrutierte, um den chinesischen Einfluss innerhalb des Reichsapparates zurückzudrängen.346 Nicht zuletzt aufgrund dieser Maßnahme hält es der amerikanische Mongolenforscher THOMAS T. ALLSEN für durchaus glaubhaft, dass MARCO der multi-ethnischen Gesellschaftsschicht der sèmùrén angehört haben könnte, deren zumeist aus West- bzw. Zentralasien stammenden Mit- gliedern nicht nur bedeutsame Dienstleistungen seitens der Mongolen überantwortet wurden, sondern im Gegensatz zur indigenen Bevölkerung auch ein höheres (gesell- schaftliches) Ansehen zuteil wurde.347

Wenngleich einige POLO-Forscher immer wieder den – auch im Rahmen dieser Arbeit

(andernorts) bereits vorgestellten – Einwand formulieren, dass MARCO zum Zeitpunkt seines (spätestens gegen Ende) 1274 in KHUBILAIS Sommerresidenz (Shàngdū) erfolg- ten Eintreffens lediglich 20 Lebensjahre vorzuweisen hatte und aufgrund dieser Jugend- lichkeit nicht mit einer vom Großkhan angeordneten Erkundungsreise betraut worden sein konnte, vermag CHRISTOPHER P. ATWOOD dennoch zu belegen, dass KHUBILAI

346 Vgl. ROSSABI: Khubilai Khan. His Life and Times, S. 66-71 bzw. 149-152. 347 Vgl. ALLSEN: The Cultural Worlds of Marco Polo, S. 378.

106 tatsächlich Jugendliche in wichtige Vertrauenspositionen hievte: So verweist der ameri- kanische Historiker auf das Beispiel des aus der Jalayir-Familie stammenden ANTONG

(HANTUM; 1245-1293), welcher 1257 als Dreizehnjähriger in die persönliche Leibwa- che (keshig) des Mongolenoberhaupts berufen wurde und deswegen ausgewählt worden war, weil er dem damals (noch) als Statthalter von Nordchina regierenden KHUBILAI durch seine ehrfürchtig-respektvolle Haltung gegenüber Erwachsenen aufgefallen war.

Als der Mongolenherrscher 1262 den sechzehnjährigen ÖCHICHER (1247-1311) zum keshig-Anführer ernannte, war erneut das selbstsichere Auftreten des Jünglings und dessen rechtschaffener Charakter entscheidend, nicht aber das politische Gewicht seiner Familienzugehörigkeit (Hü’üshin). Aufgrund dieser beiden Beispiele und unter Einbe- ziehung der Tatsache, dass MARCO als Ausländer zum rühmenden Weltruf des Groß- khans sowie dessen Imperiums beigetragen hätte, kann man laut CHRISTOPHER P.

ATWOOD durchaus von einer Beförderung bzw. Einstellung des venezianischen Teena- gers ausgehen, zumal das Buch der Wunder berichtet (G: XVI, XVII), dass KHUBILAI nicht nur MARCOS schlauer Geist sowie seine im Sprachenerwerb dargebotene Geschicklichkeit faszinierte, sondern jener auch die dem Jugendlichen innewohnende Aufgeschlossenheit gegenüber den tatarischen Gepflogenheiten und dessen höflich- intelligentes Verhalten lobte. 348

Der britische Historiker JOHN CRITCHLEY vermerkt, dass die stereotypisierte Darstel- lung des POLO’schen Werkes einer Sammlung von bürokratischen Aufzeichnungen ähnelt, welche jedoch nicht bezeichnend für China sind, sondern nach Einschätzung des Geschichtswissenschaftlers auch gleichsam als „venezianisch“ charakterisiert werden könnten, da gerade die (zeitgenössischen) Botschafter der Dogenstadt zur Zusammen- stellung derartiger Berichte (Relazioni) instruiert wurden. Folglich misst CRITCHLEY den von MARCO innerhalb Chinas ausgeführten Erkundungsreisen einen hohen Grad an Authentizität bei, da deren Schilderung geo-ethnographische Informationen verschie- denster Art beinhaltet und auf diese Weise mit den (typisch) „venezianischen“ Gesandtschaftsberichten des 14. Jahrhunderts korrespondiert, welche nicht nur akribisch über die Städte und Dörfer, Häfen und Festungen, deren Klima, Flüsse und Mineralien

348 Vgl. ATWOOD, CHRISTOPHER P.: Ulus Emirs, Keshig Elders, Signatures, and Marriage Partners. The Evolution of a Classic Mongol Institution. In: Imperial Statecraft. Political Forms and Techniques of Governance in Inner Asia, Sixth-Twentieth Centuries. Hrsg. von DAVID SNEATH. Bellingham, Washington: Center for East Asian Studies 2006. S. 148f. (= Studies on East Asia. 26.) –– Von weiteren Heranwachsenden, welche KHUBILAI auserkoren und mit bedeutenden Ämtern versehen hatte, berichtet PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 74-76.

107 berichteten, sondern sich ebenso den Bräuchen wie auch Glaubensvorstellungen der jeweiligen Einwohner widmeten und ihr Augenmerk auch auf Politik, Kriegskunst so- 349 wie die Beschreibung des (lokalen) Machthabers legten. Dass KHUBILAI den „exilier- ten“ Venezianer MARCO in verschiedene (chinesische) Reichsteile geschickt haben könnte, will auch CHEN DEZHI nicht bezweifeln. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1995 macht der chinesische Historiker auf einen aus der Yuán-Periode (1271-1368) stammen- den Text des Gelehrten YU JI (1272-1384) aufmerksam, der an die auf MARCOS Missio- nen bezogenen Behauptungen seiner Asienbeschreibung erinnert (G: XVI-XVII), sowie dessen unpersönlichen Schilderungsstil der wissbegierigen Erwartungshaltung des

Großkhans zuschreiben lässt. Als ein für die Söhne eines hochrangigen Beamten (DONG

SHIXUAN) zuständiger Privatlehrer, hatte YU YI einem im Hause seines Arbeitgebers stattfindenden Treffen der Hofbediensteten beigewohnt und folgendes vernommen:

„When each (...) commissioner that had been sent out had returned and had finished his report to the throne, the Emperor for certain inquired with him (...) about the prosperity and bitterness and the dangers (...) of the regions he had passed, as well as about the people’s conditions and their habits and customs, and whether there were talents and meritorious deeds. (...) Therefore each and everybody told him all what he had seen and heard, and the emperor by this method got hold of the right men by examining them. For this reason whenever one was sent on a mission, he would not have dared not to carry out thorough examinations.“350

Den Forschungsergebnissen des chinesischen Historikers PENG HAI zufolge, markieren diese Zeilen nur eines von vielen historischen Beispielen, welche den gegenüber Beam- ten sowie Gesandten geäußerten Wissensdurst des mongolischen Regenten belegen und folglich die Glaubwürdigkeit eines als kaiserlicher Auskundschafter durch China reisen- den MARCO erhöhen, zumal man den Inhalt der POLO’schen Weltbeschreibung als spä- ter memorierte Verschriftlichung der einst dem Mongolenoberhaupt (mündlich) vorgetragenen Reisebeobachtungen interpretieren könnte. 351

349 Vgl. CRITCHLEY: Marco Polo’s Book, S. 78f. 350 CHEN DEZHI: Some Additional Notes on Marco Polo. In: Marco Polo, a Pioneer in the Cultural Exchange between East and West. Commemorating the 700th Year of Marco Polo’s Departure from China and Return to his Country (1291-1299). Hrsg. von SUN CHENGMU, LU GUOJUN und CHIN MINGWEI. Peking: Shangwu yinshuguan 1995. S. 38f. 351 Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 173f.

108 Dass die Neugierde des Großkhans zur Entsendung zahlreicher Expeditionen führte, vermag der deutsche Sinologe HANS-ULRICH VOGEL ausführlich zu dokumentieren: So beauftragte KHUBILAI beispielsweise 1281 eine Gesandtschaft mit der Erkundung der Quellen des Gelben Flusses (Huáng Hé) und besuchten dessen Botschafter nicht nur die Insel Ceylon (Sri Lanka) (1281; 1282; 1287), sondern auch die südostindische Koromandelküste (1280; 1281; 1285; 1287; 1290) sowie die an der südwestindischen

Malabarküste gelegene Hafenstadt Quilon (Kollam) (1281; 1283). Laut VOGEL demonstrieren diese offiziellen Missions-Reisen zweifelsohne das (seit 1278) zuneh- mend gehegte Anliegen der mongolischen Regierung, den Handel mit dem indischen Subkontinent sowie der südostasiatischen Inselwelt zu forcieren, jedoch will der deut- sche Sinologe deren Zielsetzung nicht auf den bloßen Austausch von Waren reduzieren, da hierbei auch religiöse und politisch-ideologische Motive eine wichtige Rolle einnah- men. Während die 1290 an die Koromandelküste beorderte Gesandtschaft mit der Anwerbung von Gelehrten und Übersetzern für den mongolischen Hof beauftragt wurde, sollten jene Boten, welche 1282 von KHUBILAI nach Ceylon delegiert worden waren, sowohl die Almosenschüssel als auch die sterblichen Überreste des BUDDHA inspizieren und wenn möglich sicherstellen. Nach Ansicht des Chinakundlers weiß auch das Buch der Wunder von letzterem zu berichten, denn die Schilderungen des Venezia- ners erwähnen eine in den Handschriften abwechselnd mit 1281 bzw. 1284 datierte

Gesandtschaft (G: CLXXIV), die sich den Reliquien des von MARCO mit dem biblischen

ADAM verwechselten SIDDHARTHA GAUTAMA (563 v. Chr. - 483 v. Chr.) verschrieben 352 hatte. Des Weiteren verweist CAI MEIBIAO auf die Annalen der Yuán-Dynastie

(Yuánshǐ), welche protokollieren, dass die beiden Emissäre MASUHU und ALI im Jahre 1285 mit eintausend Garn-Spindeln nach Südostindien gereist waren, um im Auftrag

KHUBILAIS seltene Edelsteine zu erwerben. Nachdem sie ihre Geschäfte abgewickelt hatten, konnten sie als Quittung zwei goldene Kerbhölzer entgegen nehmen. Auch wenn

MARCO vom unermesslichen Wert der in der Provinz Maabar (Koromandelküste) vor- handenen Edelsteine wie auch der dort praktizierten Perlenfischerei berichtet (G:

CLXXV), so ist sich der chinesische Historiker aufgrund der im Buch der Wunder uner- wähnt gebliebenen Kerbhölzer sicher, dass der Venezianer die (besagten) südostindi- schen Gestade nicht als Leiter einer offiziellen Botschaft erreicht haben konnte, sondern seine Reise wohl zu einem späteren Zeitpunkt unternahm. Jedoch hält es CAI MEIBIAO auch für möglich, dass der Asienreisende als (kaufmännisches) Mitglied dem Gefolge

352 Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 71f.

109 der offiziellen Gesandten – wie etwa jenem von MASUHU und ALI – angehört haben könnte und daher als zu unbedeutend erachtet wurde, als dass ihn die selektive chinesi- sche Historiographie verzeichnet hätte.353

Hinsichtlich der im Prolog des POLO’schen Werkes erwähnten Missionen, im Zuge derer die Familie POLO den Papst mit KHUBILAIS Wunsch nach einhundert christlichen

Gelehrten konfrontiert (G: VIII) und im Gegenzug ein an den mongolischen Großkhan adressiertes (Antwort-)Schreiben des GREGOR X. (1271-1276) nach China gebracht haben soll (G: XIII; XV), macht MARINA MÜNKLER auf die historisch belegbaren Bei- spiele italienischer Kaufleute354 aufmerksam, welche während ihres – temporären bzw. dauerhaften – China-Aufenthaltes nachweislich nicht nur kommerziellen Aktivitäten nachgingen, sondern auch als von Papst und/oder Mongolen eingesetzte Diplomaten in politisch-religiöse Botschaftsreisen involviert waren: Beispielsweise begleitete der venezianische Fernhändler PIETRO DE LUCALONGO 1291 den von Papst NIKOLAUS IV. (1288-1292) nach Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) entsandten Franziskanermissionar

GIOVANNI DA MONTECORVINO (1247-1328) und finanzierte in der Folge den vor Ort betriebenen Bau einer katholischen Kirche. Ungenannte venezianische Kaufleute waren es auch, die 1305 das an den Papst adressierte Schreiben des Franziskaners – und späte- ren (ab 1307) Erzbischofs von Peking – an die Kurie transportierten. Zudem wurde der genuesische Kaufmann BUSCARELLO DE GHISOLFI (gest. nach 1304) als Gesandter der persischen Il-Khane wiederholt (1289; 1295; 1304) sowohl bei den Päpsten NIKOLAUS

IV. bzw. BENEDIKT XI. (1303/04), als auch beim englischen König EDUARD I. (1272-

1307) und dessen französischem Amtskollegen PHILIPP IV. (1285-1314) vorstellig, um diesen (vergeblich) eine politisch-militärische Allianz gegen die Sarazenen schmackhaft zu machen. Schließlich vermerkt die Dissertation der deutschen Literaturwissenschaft- lerin auch den gut dokumentierten Fall des genuesischen Geschäftsmannes ANDALÒ DA

SAVIGNONE, welcher 1336 vom letzten Yuán-Kaiser (TOGHON TEMÜR; 1320-1370) zu

353 Vgl. CAI MEIBIAO: Marco Polo in China, S. 174. 354 Nach Ansicht des amerikanischen Historikers GREGORY G. GUZMAN setzten die in China bzw. Per- sien wahrgenommenen Aktivitäten italienischer Händler erst mit der durch die Mongolen erfolgten Befriedung des (muslimischen) Nahen Ostens sowie des konfuzianischen Chinas – also ab 1260 – ein. Dies bestätigen nicht zuletzt die Berichte der zwischen 1231 und 1255 in den mongolischen Os- ten entsandten Ordensbrüder, welche handelsrelevante Informationen beinahe vollständig ausspar- ten. Vgl. GUZMAN, GREGORY G.: European Clerical Envoys to the Mongols. Reports of Western Merchants in Eastern Europe and Central Asia, 1231-1255. In: Journal of Medieval History, Vol. 12 (1996), S. 53-67.

110 Papst BENEDIKT XII. (1334-1342) entsandt wurde und letzteren um die Nachfolgerege- 355 lung des 1328 verstorbenen Erzbischofs GIOVANNI DA MONTECORVINO bitten sollte.

Auch wenn diese historischen Beispiele die POLO’schen Behauptungen zu bekräftigen vermögen, so will PETER JACKSON dennoch nicht ausschließen, dass deren (angeblich) ausgeübten Diplomatendienste auch als Ausdruck einer dem Buch der Wunder (gene- rell) innewohnenden Übertreibung gelesen werden könnten. Wie der britische Histori- ker bemerkt, würde eine – von RUSTICHELLO und/oder MARCO ausgegangene – Magnifizierung keine Ausnahme darstellen, da sich das Europa des 13. Jahrhunderts durchaus mit fingierten Botschafte(r)n auseinandersetzen musste. So verfassten etwa

1276 zwei Repräsentanten des persischen Il-Khanats einen Brief an EDUARD I. (1272- 1307), anhand dessen sie den englischen König vor zwei katalanischen Händlern und einem nestorianischen Christen warnten, welche vom Il-Khan ABAQA (1234-1282) zum

Erwerb von Jagdfalken nach Norwegen geschickt worden waren, sich aber unterdessen an den (südlicher gelegenen) Höfen des katholischen Europas als Gesandte ABAQAS ausgaben, um jene Vögel als Geschenk zu erhalten und das ihnen mitgegebene Geld einzukassieren. Als einen besonders dreisten Hochstapler bezeichnet PETER JACKSON den pisanischen Kaufmann ISOLO, der seine Stellung scheinbar an zwei verschiedenen Höfen aufzubauschen wusste: Während er sich dem als Wesir und Chronist der Il-

Khane agierenden RASHĪD AL-DIN (1247-1318) als Herrscher über Pisa zu erkennen gab und als solcher auch einen Eintrag in dessen Universalgeschichte Jāmi' al-tawārīkh („Sammler der Geschichten“) fand, behauptete er 1301 gegenüber der päpstlichen

Kurie, der von GHAZAN (1271-1304) ernannte Vikar für Syrien sowie das (kurzzeitig eroberte) Heilige Land zu sein, obwohl er in dieser Gegend lediglich die Aufsicht über die Neuansiedlung von westlichen Kolonialisten innehatte.356

355 Vgl. MÜNKLER: Erfahrung des Fremden, S. 61f. 356 Vgl. JACKSON: Marco Polo and his Travels, S. 95-101.

111 X. | DAS SCHWEIGEN DER QUELLEN

Verwirrt zeigt sich FRANCES WOOD bezüglich der Tatsache, dass das Buch der Wunder sowohl ein enges Verhältnis zwischen MARCO und dem Mongolenoberhaupt vermerkt als auch den Venezianer als einen im Auftrag KHUBILAIS reisenden Berichterstatter inszeniert, die chinesisch-mongolischen Quellen jedoch kein Wort über eine derartige Vertrauensstellung verlieren. Die von der englischen Sinologin angestellten Durchforstungen der zeitgenössischen Dokumente erbrachten keinerlei Hinweise auf

MARCO oder dessen Vater bzw. Onkel, weswegen WOOD dem venezianischen Kauf- mannssohn keine bedeutende Funktion am mongolischen Hofe attestiert und sich folg- lich auch schwer vorstellen kann, dass MARCO während seines siebzehn Jahre währen- den Aufenthalts (andauernd) mit der Durchführung (spezieller) Erkundungs-Missionen 357 betraut wurde. Wie IGOR DE RACHEWILTZ feststellt, gestaltet sich die Spurensuche auch unter der Annahme von alternativen Transkriptionen der POLO’schen Vor- bzw. Nachnamen, welche verschiedene Silbenkombinationen und homophone Buchstaben umfassen, als erfolgloses Unterfangen. Der Ergebnislosigkeit solcher Recherchen will der australische Historiker aber nur eine geringe Bedeutung beimessen, zumal die Mon- golen die von ihnen beschäftigten Personen häufig mit Spitznamen versahen, welche in der Folge phonetisch ins Chinesische transliteriert worden wären und (zum gegenwärti- gen Zeitpunkt) nicht zu rekonstruieren sind.358

Der paduanische Philologe ALVARO BARBIERI erklärt sich die Nichtberücksichtigung des venezianischen Weltenbummlers anhand des persönlichen Charakters der ihm aufgetragenen Missionen, welche aufgrund ihrer anzunehmenden Geheimaufträge von der offiziellen Geschichtsschreibung nicht dokumentiert werden konnten. Nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers wäre MARCOS bürokratisches Ansehen – losgelöst von der Authentizität seiner Erkundungsreisen und dem von ihm am kaiserlichen Hof einge- nommen Ehrenplatz – ohnehin nicht ausreichend für einen historiographischen Eintrag

357 Vgl. WOOD: Marco Polo kam nicht bis China, S. 184-186. 358 Vgl. DE RACHEWILTZ: Marco Polo Went to China, S. 81-83. –– Zwar betont MARCO in seiner Asienbeschreibung, dass er am mongolischen Hofe als „Messer Marco Polo“ bezeichnet wurde (G: 24), jedoch wissen wir nicht, welcher Namen ihm in der chinesischen bzw. mongolischen Sprache verliehen wurde. Der italienische Romanist LEONARDO OLSCHKI schlug als erster vor, die Suche nach den POLOS nicht anhand einer Variante ihres pinyinisierten Familiennamens (BOLUO; BAOLU), sondern mit Hilfe deren christlichen Taufnamen (MARCO als MOJUCI, NICOLAO als NIEGULA und MATTEO als MINGTAI) zu betreiben, doch auch diese – im mittelalterlichen Sinn korrekten – Namensformen ließen sich den chinesischen Quellen nicht entnehmen. Vgl. OLSCHKI, LEONARDO: Poh-lo. Une question d’onomatologie chinoise. In: Oriens, Vol. 3 (1950), S. 183-189.

112 gewesen, da dieser gewöhnlich hochrangigeren bzw. einflussreicheren Personen vorbe- 359 halten war. Darüber hinaus betont JOHAN VAN MECHELEN, dass jene (wenigen) Euro- päer, welche sich vor allem zu MARCOS Zeiten in China angesiedelt hatten, in den Au- gen der Einheimischen nicht bedeutsam genug waren, um eine Aufnahme in die offi- ziellen Chroniken rechtzufertigen: Weder GIOVANNI DA MONTECORVINO (1247-1328), der erste katholische Erzbischof von Canbaluc/Dà(i)dū (Peking) und ein Zeitgenosse des Venezianers, noch der rund fünfzig Jahre nach MARCOS Asienaufenthalt durch

China reisende Franziskanermönch ODORICO DA PORDENONE (1286-1331) finden sich in chinesischen Quellen erwähnt und auch der Name des GIOVANNI DE MARIGNOLLI (ca. 1290 - nach 1357), welcher eine diplomatisch-missionarische Delegation des Papstes anführte und 1341 mit etlichen Gastgeschenken sowie einem Gefolge von 32 Personen am Hofe des TOGHON TEMÜR (1320-1370) eintraf, taucht in keinem chinesischen Doku- ment auf. Nicht zuletzt verweist der belgische Historiker auf die in China rund zweihun- dert Jahre später einsetzende Jesuitische Mission, bezüglich derer Aktivitäten und Protagonisten die chinesischen Annalen des 16. (bis 18. Jahrhunderts) lediglich spär- liche Hinweise offerieren.360

Nach Ansicht des chinesischen Historikers CAI MEIBIAO könnten die drei POLOS Mit- glieder der berühmten ortogh-Handelsgesellschaften gewesen sein, welche den Mongo- len in finanziellen sowie kommerziellen Angelegenheiten dienten und deren General- verwaltung bereits 1268 eingerichtet wurde. Ortogh-Kaufleute genossen einen semi- behördlichen Status und konnten auf Geheiß der mongolischen Fürsten mit der Aufgabe betraut werden, Güter in bzw. aus verschiedenen Reichsregionen zu erwerben, derart Gewinne zu erwirtschaften und auch Darlehen bereitzustellen.361 Den Ausführungen von ELIZABETH ENDICOTT-WEST zufolge, nutzten diese privilegierten Kaufmanns-Ver- bände nicht nur die unter der Kontrolle der Regierung stehenden Einrichtungen des Postwesens (jam), sondern wurden ihnen auch offizielle Dokumente und/oder spezielle Befugnis-Täfelchen (hufu) ausgehändigt, die ihre Handelsaktivitäten begünstigten und ihnen Schutz(vorkehrungen) ermöglichten. Dass der venezianische Kaufmannssohn

359 Vgl. BARBIERI: Un Veneziano nel Catai, S. 1015. 360 Vgl. VAN MECHELEN, JOHAN: Yuan. In: Handbook of Christianity in China. Volume One: 635-1800. Hrsg. von NICOLAS STANDAERT. Brill: Leiden 2001. S. 90. (= Handbook of Oriental Studies. 15.) –– Die chinesischen Annalen verzeichneten anlässlich der unter GIOVANNI DE MARIGNOLLI erfolgten Gesandtschaft auch nicht den Namen des Papstes (BENEDIKT XII.) oder eines Delegationsmitgliedes, sondern lediglich ein als Gastgeschenk mitgebrachtes Pferd (tianma), welches als gutes Vorzeichen bzw. Omen für die regierende (Yuán)-Dynastie erachtet wurde. 361 Vgl. CAI MEIBIAO: Marco Polo in China, S. 175f.

113 jenen ortogh-Vereinigungen angehört haben könnte, bezeichnet die amerikanische Mongolenforscherin als durchaus plausibel, zumal deren Vertreter im Rahmen ihrer – teilweise angeordneten – kaufmännischen Tätigkeit nachweislich zum Sammeln von Geheimdienstinformationen eingesetzt wurden und diese Doppelfunktion nicht nur die zahlreichen handelsspezifischen Informationen des POLO’schen Buches, sondern auch dessen detaillierte Aussagen bezüglich der in China vorzufindenden Glaubensvor- stellungen bzw. Religionspraktiken erklären würde.362 Unter der Berücksichtigung die- ser einander nicht ausschließendenden Aktivitäten, konkludiert CAI MEIBIAO, dass der für KHUBILAI spionierende MARCO von den zeitgenössischen Chroniken ob seines Agentenstatus bewusst vernachlässigt worden sein könnte und sich die im Zuge seiner Erkundungsreisen vollzogenen Handelsgeschäfte363 anhand des nicht unbedeutenden

Wohlstands vermuten lassen, mit welchem die Familie POLO nach Venedig zurückge- kehrt war.364

Eine andere Hypothese formuliert STEPHEN G. HAW, nach dessen Dafürhalten der vene- zianische Kaufmannssohn auch der kaiserlichen Leibwache (keshig) des mongolischen

Großkhans angehört haben könnte, da die von MARCO vermerkten 12.000 keshigten (G:

LXXXVI) nicht nur den diesbezüglich überlieferten Angaben recht nahe kommen, son- dern dieser Dienst dem zu KHUBILAI (angeblich) unterhaltenen Naheverhältnis ent- sprechen würde und folglich die von MARCO im Buch der Wunder gegenüber seinem Förderer (immer wieder) artikulierte Bewunderung sowie Loyalität begründen könnte. Laut dem britischen Sinologen würde eine solche Annahme auch mit den vom Mongo- lenoberhaupt angeordneten Erkundungsreisen des Asienreisenden korrespondieren, zumal Mitglieder der keshig häufig zu derartigen Aufgaben herangezogen wurden und

362 Vgl. ENDICOTT-WEST, ELIZABETH: Merchant Associations in Yüan China. The Ortogh. In: Asia Major, Vol. 3, Issue 2 (1989), S. 134-148. 363 Der britische Historiker PETER JACKSON verweist auf eine der Beschreibung des nordwestchinesi- schen Canpiciou (Zhāngyè bzw. Gànzhōu) innewohnende und lediglich in der franko-italienischen Handschrift (F) enthaltene Passage, welche explizit von Handelsgeschäften der Familie POLO zu berichten weiß: „Et si vos dis que mesier Nicolau et mesier Mafeu et mesier Marc demorent un an en ceste cité por lor fait que ne fa a mentovoir (...)“. Vgl. JACKSON: Marco Polo and his Travels, S. 91 und RONCHI: Marco Polo, Milione, S. 379. 364 Vgl. CAI MEIBIAO: Marco Polo in China, S. 175f. –– Basierend auf dem Buch der Wunder, einigen erhaltenen Gerichtsakten und einem Dokument aus dem Jahre 1366, welches jenen Teil von MAR- COS Besitztümern anführt, der an seine Tochter FANTINA gegangen war und unter anderem rund 37 Kilogramm Moschus verzeichnet, vermutet der israelische Mediävist DAVID JACOBY, dass das Inte- resse des Venezianers sowohl während als auch nach Beendigung seines China-Aufenthalts vor al- lem dem lukrativen Moschus-Handel gegolten haben muss. Vgl. JACOBY: Marco Polo, his Close Relatives, and his Travel Account, S. 198; 201-206.

114 besonders militärische Missionen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Reiches durchzuführen hatten. Des Weiteren verweist STEPHEN G. HAW auf die im Jahre 1366 verschriftlichte Inventarisierung der zum Zeitpunkt von MARCOS Ableben (1324) in dessen Besitz befindlichen Gegenstände, welche unter anderem den silberner Gürtel eines mongolischen Ritters auflistet und infolgedessen die Vermutung zu nähren ver- mag, dass jener vom Asienreisenden einst selbst getragen worden sein könnte. Wie der Chinakundler zudem betont, wissen chinesische Quellen nur in Ausnahmefällen von einzelnen Leibwächtern sowie dem Hofpersonal zu berichten, weswegen die offizielle chinesische Historiographie in ihrer Berichterstattung auch nicht überschätzt werden darf, da sie sich in erster Linie auf die Äußerungen und Taten des Kaisers konzentriert und erst dann ihr Augenmerk auf die bedeutendsten städtischen bzw. militärischen Beamten richtet. Angesichts dieser elitären Ausrichtung und in Anbetracht des Umstan- des, dass keine Urkundensammlung der Yuán-Periode überliefert werden konnte, darf man STEPHEN G. HAW zufolge vermuten, dass es wohl nur dem Zufall und nicht einer bestimmten Absicht zu verdanken gewesen wäre, hätten die chinesischen Annalen von 365 allen keshigten bzw. niederen Beamten gerade MARCO namentlich erwähnt.

Schenkt man den Ausführungen des chinesischen Historikers PENG HAI Glauben, so hinterließ der von der POLO-Forschung allgemein als unauffindbar bezeichnete MARCO gerade in der offiziellen Geschichte der Yuán-Dynastie (Yuánshǐ) seine Spuren. In sei- ner jüngst erschienenen Monographie verweist der Geschichtswissenschaftler auf den

Anhang des Kapitels 119 der Yuán-Annalen, welcher die Biographie des unter TOGHON

TEMÜR (1320-1370) zeitweise amtierenden Justizministers TOGHTŌ (TUOTUO) beinhal- tet und im Zuge dessen folgendes zu berichten weiß: Ein Nachfahre von DSCHINGIS

KHANS (1162/7-1227) berühmt-getreuen Feldherren MUKHALI (MUHUALI; 1170-1223), genannt SAMAN, ließ einen Höfling bzw. Hofbeamten (jinchen) namens BOLUO inhaftie- ren, da dieser eine von KHUBILAI angewiesene Vorschrift missachtet hatte, derzufolge Männer und Frauen innerhalb des Palastes auf unterschiedlichen Seiten gehen mussten.

Als sich KHUBILAI nach dem abwesenden BOLUO erkundigte und den Grund seines Fernbleibens erfuhr, entschuldigte er jenen Verstoß mit dessen Freilassung, musste sich aber folglich von SAMAN den Vorwurf gefallen lassen, dass er entgegen seinen eigenen

Anordnungen handle. Da das Buch der Wunder ein zwischen MARCO und KHUBILAI eng geführtes Vertrauensverhältnis bezeugt und vom daraus resultierenden Neid einiger

365 Vgl. HAW: Marco Polo’s China, S. 165-168.

115 Barone erzählt (G: XVII), steht es laut PENG HAI folglich außer Zweifel, dass es sich im

Falle des inhaftierten BOLUO um den venezianischen Kaufmannssohn handelt, dessen Konflikt mit dem Mukhali-Stamm auch nach dem – einer Krankheit geschuldeten – Tod des (erst siebzehnjährigen) SAMAN fortbestanden und den Großkhan insofern in eine Zwickmühle manövriert haben muss.366 Um sich der Treue des Mukhali-Klans sicher zu sein, gleichzeitig den seinerseits geschätzten MARCO zu beschützen und weitere Span- nungen zu vermeiden, sandte KHUBILAI den Beamten (bishechi) BOLUO im zweiten Mo- nat des zwölften Zhiyuan-Jahres (März bzw. April 1275) in das nordchinesische Gebiet von Níngxià. Diese Entsendung – nicht aber deren von PENG HAI vermuteter Hinter- grund – ist wiederum den Yuánshǐ zu entnehmen und wird vom chinesischen Historiker als zweiter (expliziter) Hinweis auf den Asienreisenden interpretiert,367 zumal dieser – seinem Buch der Wunder zufolge – von KHUBILAI in eine sechs Reisemonate entfernte

Provinz geschickt wurde. (G: XVI) Nach Ansicht des Geschichtswissenschaftlers begeg- net man dem venezianischen Globetrotter auch in einem weiteren Eintrag der offiziellen

Yuán-Geschichte: Am 21. Januar 1281 übertrug KHUBILAI einem BOLUO Papiergeld (chao), Gold und Silber, welches jener notleidenden Leuten zukommen lassen sollte. Da der von der Forschung diesbezüglich stets in Betracht gezogene BOLAD AQA (gest. 1313) anno 1281 bereits eine hohe Leitungsposition im Verwaltungsapparat der Yuán eingenommen hatte und folglich mit einer derartigen Wohltätigkeitsarbeit kaum betraut worden sein konnte, so PENG HAI, und weil das POLO’sche Werk in einem Extra-Kapitel

(G: CV) Auskünfte über die staatliche Wohlfahrt zu geben vermag, kann es sich im vor- liegenden Falle wohl nur um den von KHUBILAI abermals mit einer Aufgabe betrauten 368 MARCO handeln.

366 Vgl. PENG HAI: The Historical Truth of Marco Polo’s Stay in China, S. 71-83. 367 PENG HAI verschweigt nicht die Tatsache, dass eine derartige Interpretation die nicht unumstrittene Annahme voraussetzt, dass die POLOS den in Shàngdū gelegenen Sommerpalast des KHUBILAI (be- reits) im Sommer bzw. Herbst des Jahres 1274 erreicht haben müssen. Vgl. IBIDEM, S. 64f. 368 Vgl. IBIDEM, S. 87-96. –– In einer ersten Stellungnahme bezeichnet der deutsche Sinologe HANS- ULRICH VOGEL die von PENG HAI dargebrachten Interpretationen als in vielerlei Hinsicht spekulativ und verspricht sich mit den Ausführungen des chinesischen Historikers im Rahmen eines gesonder- ten Aufsatzes auseinanderzusetzen. Vgl. VOGEL: Marco Polo Was in China, S. 80. –– Aufgrund der Aktualität von PENG HAIS Monographie ist es mir an dieser Stelle nicht möglich, auf andere Ent- gegnungen der POLO-Forschung hinzuweisen, da solche schlichtweg (noch) nicht existieren oder in der mir nicht zugänglichen chinesischen Sprache verfasst sein mögen.

116 XI. | EPILOG – ZUSAMMENFASSUNG

Versucht man ein Fazit zu ziehen, so muss die POLO’sche Kontroverse als ein komplex- spekulatives Ratespiel bezeichnet werden, dessen zufriedenstellende Entwirrung bis zum heutigen Tage auf sich warten lässt. Weder kann man seitens der Forschung die Ahnenreihe der wahrscheinlich aus Venedig stammenden Kaufmannsfamilie ausrei- chend rekonstruieren, noch hinterließ die historische Person des MARCO urkundliche Spuren, welche die Authentizität seiner Schilderungen versichern bzw. widerlegen könnten. Zwar vermag man das Bestehen eines im Fernhandel operierenden Familien- unternehmens anhand des Testaments des „älteren“ MARCO (DI SAN SEVERO) bestäti- gen, jedoch sind diesem keine Einzelheiten über die Handelsgeschäfte der POLOS zu entnehmen. Ebenso lässt sich MARCOS (genaues) Geburtsdatum urkundlich nicht fixie- ren, einzig sein im Jahre 1324 erfolgtes Ableben kann als historisch gesichert gelten.369 Auch wenn das venezianische Staatsarchiv einige (wenige) Gerichtsakten beinhaltet, welche sich den von MARCO nach seiner (vermeintlichen) Rückkehr aus Fernost getä- tigten (Moschus-)Handelsgeschäften widmen und das 1366 aufgesetzte Inventar eines Teils seiner Besitztümer von asiatisch-exotischen Objekten zu berichten weiß, so lässt sich seine Chinareise dadurch nicht belegen. Dass es sich etwa im Falle der unter diesen Gegenständen befindlichen Goldtafel um einen der ihm ausgehändigten mongolischen „Diplomatenpässe“ () handeln könnte, kann nur unter Bezugnahme auf das eben- falls von zahlreichen Vermutungen begleitete Buch der Wunder angenommen werden.

Bezüglich der Entstehung des gattungsspezifisch letztlich nicht einzuordnenden Werkes müssen wir den Ausführungen des Prologs Glauben schenken und uns in der Folge mit etlichen Fragen auseinandersetzen, zu deren mannigfaltigen Antworten nicht minder wenige Fragen gestellt werden können. Das exakte „Wann“ und „Wo“ der Zusammen- arbeit von MARCO und RUSTICHELLO, ist genauso wenig zu festzulegen, wie die kon- krete Arbeitsteilung und jeweilige Einflussnahme des (ungewöhnlichen) Gespanns. Hat der Venezianer seinem pisanischen Kollegen unmittelbar in die Feder diktiert, jener dessen Schilderungen aussortiert bzw. ediert oder letztere gar mit eigenen Beifügungen versehen? Wir wissen es (gegenwärtig) nicht und müssen uns mit den sich um die Urhe- berschaft rankenden Hypothesen zufrieden geben. Mit ähnlichen Mutmaßungen sieht

369 Über das im Prolog skizzierte Leben des venezianischen Weltenbummlers weiß die deutsche Literaturwissenschaftlerin MARINA MÜNKLER folgendes trefflich zu formulieren: „Marco Polos Bio- graphie erschöpft sich darin, den Auftakt zu einem Buch zu bilden, in dessen Mittelpunkt nicht er selbst steht, sondern das, was er gesehen und gehört hat.“ MÜNKLER: Marco Polo, S. 53.

117 sich die Wissenschaft hinsichtlich der handschriftlichen Überlieferung konfrontiert, im Zuge derer zahlreiche Redaktoren, Übersetzer und Kopisten Inhalte hinzufügten sowie eliminierten und den Text derart den Interessen der jeweiligen Auftraggeber bzw.

Publika anpassten. Nach wie vor stellt sich die POLO-Forschung der bis dato zu keinem allgemein anerkannten Ergebnis gekommenen Herausforderung, die rund einhundert- fünfzig erhaltenen Manuskript-Varianten nach ihrer Nähe zum verlorenen Urtext zu bewerten und verliert sich hierbei in teilweise höchst komplizierten Präsumtionen.

Diese undurchsichtige Problematik der Tradierung des POLO’schen Textes birgt – wie ich meine – jene Grundproblematik in sich, dass jegliche Diskussion dessen Inhalts eine Kombination sämtlicher Überlieferungsstränge bedingt und selbst dann eigentlich kein Urteil über die Echtheit des Berichts fällen kann, da der Forschungsgegenstand in jedem Falle lediglich eine manipulierte Version des Originals darstellt. Der französische

Literaturwissenschaftler PHILIPPE MÉNARD bringt diese Crux mittels eines metaphori- schen Vergleiches präzise zum Ausdruck: „Dem Text geht es ähnlich wie dem vene- zianischen Reisenden. Er ist unermüdlich in Bewegung.“370

Das Interpretieren von „entstellten“ Inhalten erscheint mir besonders hinsichtlich der bis ins Detail geführten Debatte um die im Buch der Wunder erwähnten Toponyme als pre- kär. Die zweifellos an manchen Stellen fehlerhaften Ortsangaben mögen in der Ur- schrift des Autoren-Duos nicht vorgekommen sein und/oder auf die zur Verteidigung von Irrtümern und Verschwiegenem immer wieder strapazierte Verjährung von Erleb- tem und Gesehenem zurückgeführt werden. Die daraus resultierenden Gedächtnislücken können zwar einen entscheidenden Verfälschungs-Faktor darstellen, dürfen aber in

Anbetracht der von sämtlichen Forschern vermuteten Existenz eines von MARCO ange- fertigten Notizentexts, nicht als reflexartige Erklärung in den Diskurs geworfen werden.

Darüber hinaus betont die Mehrheit der POLO-Wissenschaftler, dass das Buch der Wun- der keinen persönlichen Reisebericht darstellt, sondern vielmehr ein chorographisches Verzeichnis des asiatischen Kontinents beinhaltet und folglich keine durchgängige Reiseroute zu offerieren vermag. In den Augen anderer Gelehrter fungieren aber gerade diese geographischen Ungenauigkeiten, die allgemein stereotypisierte Darstellung des

POLO’schen Textes, dessen Verwendung von persischen Orts- bzw. Eigennamen und vor allem die Nichtberücksichtigung einiger bedeutender chinesischer Kulturaspekte als

Hinweise für MARCOS erdichtete Asienreise, welche nach Ansicht des deutschen

370 MÉNARD: Marco Polo – Geschichte einer legendären Reise, S. 11.

118 Geographen DIETMAR HENZE geradezu den „kolossalsten Schwindel der globalen Ent- deckungsgeschichte“371 markiert. Dem stehen die Annahme einer seitens des Venezia- ners nicht erfolgten Assimilation, zahlreiche andere – teilweise stark voneinander abweichende – Erklärungen und eine nicht zu übersehende Fülle an korrektem Detail- wissen aus verschiedensten Sachgebieten entgegen, welche in imponierender Weise mit den historischen Fakten chinesischer Quellen korrespondieren. Da letztere entweder nicht öffentlich zugänglich waren oder erst nach dem Untergang der mongolischen Yuán-Dynastie (1271-1368) zusammengestellt wurden, nährt dies die Vermutung, dass

MARCO jene exakten Informationen im Zuge seiner Ausübung eines nicht näher bekannten regionalen bzw. lokalen Verwaltungsamtes erhalten haben könnte. Aufgrund der historischen Tatsache, dass die in verschiedene Unterabteilungen gegliederte Yuán- Administration auf allen Ebenen eine Vielzahl an assistierenden Funktionären und

Sekretären beinhaltete, kann sich das Gros der POLO-Experten eine vom Venezianer temporär übernommene Verantwortung (als niedriger Beamter) sehr gut vorstellen.

Im Gegenzug erklären sich einige Forscher die Korrektheit der im Buch der Wunder getätigten Angaben unter der Zuhilfenahme des Verweises auf eine persisch-arabische

Quelle, welcher sich MARCO und/oder RUSTICHELLO bedient haben könnten, müssen diese Vermutung wohl aber als solche stehen lassen, da man auf einen derartigen (mittelalterlichen) Reiseführer bis in die Gegenwart nicht zu verweisen weiß. Dass

MARCO hinsichtlich seiner in Yángzhōu ausgeübten Statthalterschaft übertrieben haben und es sich bei der im Zuge der Belagerung von Xiāngyáng geschilderten „Heldenge- schichte“ um einen editorialen Eingriff handeln muss, wird zwar von keinem Wissen- schaftler bestritten, die daraus gezogenen Rückschlüsse differieren dennoch beträcht- lich. Ob der jugendliche MARCO von KHUBILAI KHAN tatsächlich auf Erkundungsreisen geschickt wurde und letzteren als Mitglied der ortogh-Handelsgesellschaften mit Geheimdienstinformationen versorgte, verbleibt Gegenstand der Kontroverse, ist aber aufgrund der in chinesischen Quellen verzeichneten Teenager-Leibwächter, des wissbe- gierigen Mongolenherrschers und der von ihm tatsächlich entsandten Expeditionen bzw. Gesandtschaften durchaus möglich. Ebenso belegbar sind die im Auftrag von Papst sowie Mongolen erfolgten Botschaftsreisen italienischer Kaufleute, wenngleich sich das Europa des 13. Jahrhunderts mit so manchen fingierten Diplomaten auseinanderzu-

371 HENZE: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, S. 377.

119 setzen hatte und eine diesbezügliche Magnifizierung folglich nicht ausgeschlossen wer- den kann.

Wenngleich die Majorität der in dieser Diplomarbeit vorgestellten Argumentationen die

(zum Teil berechtigten) Zweifel an der Historizität der POLO’schen Fernostreise durch- aus glaubhaft zu widerlegen vermag, so begegnen sich die Positionen der gegenwär- tigen Forschung schlussendlich dennoch in einer Art Pattsituation. Einerseits lässt es sich trotz der inhaltlichen Ungereimtheiten bzw. Versäumnisse und des in zeitgenössi- schen chinesischen Dokumenten (praktisch) unauffindbaren POLO’schen Familien- namens nicht beweisen, dass MARCO sich seinen China-Aufenthalt lediglich ausgedacht hat, denn dazu bräuchte es beispielsweise (als) Zeugen (fungierende Kaufleute), die dessen fernöstliche Abwesenheit durch eine in Persien, Konstantinopel oder auf der Halbinsel Krim stattgefundene Begegnung widerlegen könnten. Andererseits vermag man auch trotz der zahlreichen, auf historischen Realitäten beruhenden Angaben des Textes und unter der Betonung des Umstandes, dass ein als gewöhnlicher Beamter,

Leibwächter oder kaufmännischer Spion agierender MARCO wohl nur per Zufall von der elitär ausgerichteten chinesischen Historiographie berücksichtigt worden wäre, dessen Anwesenheit im Yuán-Reich nicht zu bestätigen, denn dazu bedürfte es seiner vor Ort erfolgten namentlichen Erwähnung.

Man könnte schlussendlich beinahe von einem weit zurückliegenden Kriminalfall spre- chen, dessen bis in die Gegenwart betriebener Klärungsversuch in Ermangelung von Informanten lediglich anhand von Indizien versucht werden kann und folglich der Erklärung eines in Vergessenheit geratenen Brettspiels ähnelt. Zwar lassen sich mit- unter die Spielregeln wieder herstellen, nicht jedoch aber die einzelnen Züge der konkreten Partie. Fasst man also den aktuellen Forschungsstand der MARCO POLO- Debatte zusammen und bemüht man sich um die Einnahme verschiedenster Perspekti- ven, so darf ein solcher Versuch getrost als „Buch der Vermutungen“ betitelt werden, welches sich – und das sei mir (als Nicht-Sinologe) nach sechsmonatigem Studium der Materie gestattet – im Zweifelsfall für den Angeklagten entscheidet.

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