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www.peterlang.com Debatte undgelegentlich diePublikationvon Quellen. sich aberauchForschungen undBeiträge ausderdeutschen für deutschsprachige Leserübersetzt worden. Esfinden französischen, spanischenundchinesischenDiskussion sind entwickelt. WichtigeBeiträge ausderenglischen,russischen, Betrachtung von Geschichte, Sozial-undKulturwissenschaften Die ZWG hatsichzumForum einerneuen,umfassenden Weltgeschichte Zeitschrift für ZWG 16 H.-H. Nolte (Hg.) I 1 Zeitschrift für Weltgeschichte Zeitschrift für Weltgeschichte Interdisziplinäre Perspektiven für Geschichte desWeltsystems von Hans-HeinrichNolte Herausgegeben Für denVerein Frühjahr 2015 Jahrgang 16 Heft 1 www.peterlang.com Debatte undgelegentlich diePublikationvon Quellen. sich aberauchForschungen undBeiträge ausderdeutschen für deutschsprachige Leserübersetzt worden. Esfinden französischen, spanischenundchinesischenDiskussion sind entwickelt. WichtigeBeiträge ausderenglischen,russischen, Betrachtung von Geschichte, Sozial-undKulturwissenschaften Die ZWG hatsichzumForum einerneuen,umfassenden Weltgeschichte Zeitschrift für ZWG 16 H.-H. Nolte (Hg.) I 1 Zeitschrift für Weltgeschichte Zeitschrift für Weltgeschichte Interdisziplinäre Perspektiven für Geschichte desWeltsystems von Hans-HeinrichNolte Herausgegeben Für denVerein Frühjahr 2015 Jahrgang 16 Heft 1 ZWG

ZEITSCHRIFT FÜR WELTGESCHICHTE Zeitschrift für Weltgeschichte

Herausgeberkreis Manfred Asendorf, Hamburg / Manuela Boatcă, / Christian Cwik, Wien / Beate Eschment, Berlin / Claus Füllberg-Stolberg, Hannover / Bernd Hausberger, Mexiko / Peter Kehne, Hannover / Andrea Komlosy, Wien / Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen / Ralf Roth, Frankfurt / Helmut Stubbe da Luz, Hamburg / Asli Vatansever, Istanbul

Geschäftsführend: Hans-Heinrich Nolte

Redaktion Dariusz Adamczyk, Warschau / Michael Bertram, Schellerten / Jens Binner, Buchenwald / Christian Lekon, Lefke / Eva-Maria Stolberg, Bochum

Wissenschaftlicher Beirat Maurice Aymard, Aleksandr Boroznjak, Helmut Bley, Luigi Cajani, Gita Dharampal-Frick, Hartmut Elsenhans, Jürgen Elvert, Stig Förster, Carsten Goehrke, Uwe Halbach, Carl-Hans Hauptmeyer, Klaus Kremb, Gesine Krüger, Rudolf Wolfgang Müller, Christiane Nolte, Pavel Poljan, Joachim Radkau, Dominic Sachsenmaier, Adelheid von Saldern, Karl-Heinz Schneider, Gerd Stricker, Beate Wagner-Hasel

Manuskripte bitte an den Geschäftsführenden Herausgeber Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte, Bullerbachstr. 12, 30890 Barsinghausen

Reviews und Rezensionen bitte an: Prof. Dr. Manuela Boatcă FU Berlin: Lateinamerika-Institut Sociology of Global Inequalities Rüdesheimer Str. 54-56 14197 Berlin

Manuskripte bitte als Disketten (rtf) sowie in zwei Ausdrucken; Manuskripte, die nicht als E-Datei vorgelegt werden, können leider nicht bearbeitet werden. Manuskripte sollen die Länge von 20 Seiten DIN A4, 14pt einzeilig in Times Roman beschrieben nicht überschreiten. Für unverlangt eingereichte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Zeitschrift für Weltgeschichte

Herausgeberkreis Zeitschrift für Manfred Asendorf, Hamburg / Manuela Boatcă, Berlin / Christian Cwik, Wien / Beate Eschment, Berlin / Claus Füllberg-Stolberg, Hannover / Bernd Hausberger, Mexiko / Peter Kehne, Hannover / Andrea Komlosy, Wien / Weltgeschichte Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen / Ralf Roth, Frankfurt / Helmut Stubbe da Luz, Hamburg / Asli Vatansever, Istanbul

Geschäftsführend: Hans-Heinrich Nolte (ZWG)

Redaktion Dariusz Adamczyk, Warschau / Michael Bertram, Schellerten / Jens Binner, Buchenwald / Christian Lekon, Lefke / Interdisziplinäre Perspektiven Eva-Maria Stolberg, Bochum 16. Jg. 2015, Heft 1 Wissenschaftlicher Beirat Maurice Aymard, Aleksandr Boroznjak, Helmut Bley, Luigi Cajani, Gita Dharampal-Frick, Hartmut Elsenhans, Jürgen Elvert, Stig Förster, Carsten Goehrke, Uwe Halbach, Carl-Hans Hauptmeyer, Klaus Kremb, Gesine Krüger, Schwerpunkt Islam und Säkularisierung Rudolf Wolfgang Müller, Christiane Nolte, Pavel Poljan, Joachim Radkau, Dominic Sachsenmaier, Adelheid von Saldern, Karl-Heinz Schneider, Gerd Stricker, Beate Wagner-Hasel Herausgegeben von Christian Lekon

Manuskripte bitte an den und Asl Vatansever Geschäftsführenden Herausgeber Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte, Bullerbachstr. 12, 30890 Barsinghausen Für den Verein für Geschichte des Weltsystems Reviews und Rezensionen bitte an: Prof. Dr. Manuela Boatcă FU Berlin: Lateinamerika-Institut Sociology of Global Inequalities Rüdesheimer Str. 54-56 Zu Qualitätssicherung und Peer Notes on the quality assurance and 14197 Berlin Review der vorliegenden Publikation peer review of this publication

Manuskripte bitte als Disketten (rtf) sowie in zwei Ausdrucken; Die Qualität der in dieser Zeitschrift Prior to publication, the quality of Manuskripte, die nicht als E-Datei vorgelegt werden, können leider erscheinenden Arbeiten wird vor der the work published in this journal is nicht bearbeitet werden. Manuskripte sollen die Länge von 20 Seiten Publikation durch externe, von der double blind reviewed by external DIN A4, 14pt einzeilig in Times Roman beschrieben nicht Herausgeberschaft benannte referees appointed by the überschreiten. Für unverlangt eingereichte Manuskripte wird keine Gutachter im Double Blind Verfahren editorship. The referee is not Gewähr übernommen. geprüft. Dabei ist der Autor der aware of the author’s name Arbeit den Gutachtern während der when performing the review; Prüfung namentlich nicht bekannt; the referees’ names are not die Gutachter bleiben anonym. disclosed. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die Schiffahrtslinien der Welt um 1890 (Übersichtskarte des Weltverkehrs aus Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig u. Wien 1885-1892)

e-ISSN 2199-8086 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2015 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.com Editorial

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe liegt bei dem Thema „Islam und Säkulari- sierung“, über das am 30. November 2013 gemeinsam von dem Verein für die Geschichte des Weltsystems, der Palästina-Initiative und der Heinrich-Böll- Stiftung eine Tagesveranstaltung in Hannover abgehalten wurde. Den Veran- staltern sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt. Die ersten vier Beiträge dieses Bandes der ZWG sind aus den auf diesem Workshop gehaltenen Vorträgen hervorgegangen. Den Anfang macht der Artikel von Hans-Heinrich Nolte, der einen Über- blick über Säkularisation und Säkularisierung im Kontext der geschichtlichen Entwicklung Europas und Nordamerikas gibt. Während sich Säkularisation auf die Einziehung von Kirchengut durch weltliche Gewalten bezieht, unter- scheidet Nolte bei dem Begriff „Säkularisierung“ drei nicht notwendigerweise immer zusammen auftretende Aspekte: das Schwinden religiöser Normen oder Riten im Alltagsleben; den Transfer religiöser Begriffe oder Normen in den weltlichen Diskurs; und die Trennung von Kirche und Staat. Hiervon ausge- hend, zeigt der Autor an den Beispielen England, USA, Frankreich, Russland und Deutschland die sehr unterschiedlichen Formen von Säkularisierung. Die besondere Relevanz dieser Darstellung für das Thema Islam und Säkularisie- rung liegt darin, dass es „die“ Säkularisierung nicht gegeben hat und dass somit eine krasse Dichotomie zwischen einem „säkularisierbaren“ Christentum und einem „säkularisierungsfeindlichen“ Islam zu hinterfragen wäre. Peter Antes legt das Verhältnis von Verwestlichung und Säkularisierung in nicht-westlichen Gesellschaften dar. Von den ersten, durch das Trauma der militä- rischen Niederlagen gekennzeichneten Reformbemühungen im 19. Jahrhundert bis hin zu der Identitätskrise infolge des oberflächlichen Verwestlichungspro- jekts im 20. Jahrhundert, das auf die Vernichtung des authentisch-osmanischen gesellschaftlichen Gewebes abzielte, geht der Autor den Hintergründen der in muslimischen Ländern mit Säkularisierung verbundenen Probleme nach. Dabei betont er, dass das Islamkonzept je nach Land und Kontext Unterschiede auf- weist, wie etwa am Beispiel des Unterschieds zwischen verschiedenen radikalen Islamismen und der türkischen AKP zu erkennen sei, und das Beharren auf einem eurozentrisch geprägten Säkularisierungskonzept dabei nur der dringend benötigten Kooperation mit der islamischen Welt schaden kann. Aslı Vatansever diskutiert die Gründe, warum das Thema Säkularisierung immer noch als langwieriges Problem im Kern der politischen Debatten in 6 Aslı Vatansever, Christian Lekon der Türkei steht. Die Autorin führt dies auf das vorherrschende Säkularisie- rungsverständnis der Türkischen Republik zurück und behauptet, dass dieses spezifische, durch die Gründungskader der Republik eingeführte Säkularisie- rungsverständnis zu einem vagen Verhältnis zwischen dem Staat und der Reli- gion führte, das statt die beiden Sphären voneinander zu trennen, die Letztere dem Ersteren unterwarf. Christian Lekon behandelt die Schriften und Aktivitäten von vier promi- nenten Vertretern des Reformislams im Ägypten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nämlich Jamal ad-Din al-Afghani, Muhammad ‘Abduh, Mu- hammad Rashid Rida und ‘Ali ‘Abd ar-Raziq. Das Augenmerk liegt vor allem darauf, wie diese Denker sowohl die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Re- ligion als auch das Verhältnis von Religion zu Philosophie und Wissenschaft, zur Politik, zum Rechtswesen und zur Wirtschaft behandeln. Mit Bezug auf die Behandlung des Themas Säkularisierung durch Niklas Luhmann stellt Lekon die These auf, dass die eigentliche Trennlinie innerhalb des Reformislams nicht zwischen den „Fundamentalisten“ und den „Säkularisierern“ verläuft, sondern zwischen denen, die noch einem hierarchischen Gesellschaftsmodell folgen, und denen, deren Denken an einer in verschiedene Sphären differenzierten Gesellschaft orientiert ist und die in diesem Kontext die Säkularisierung zu- stimmend oder ablehnend diskutieren. Die folgenden drei Artikel behandeln diverse Paradigma – von der Welt- systemtheorie bis hin zu studies – mit Relevanz für über eine rein na- tionalstaatlich orientierte Geschichtsschreibung hinausgehende Historiker. Sie knüpfen damit an frühere Beiträge in der Zeitschrift für Weltgeschichte zu diesen Themen an. Harald Kleinschmidt versucht in seinem detaillierten Beitrag, die Geschichte der Systemmodelle in die allgemeine Geschichte der Wahrnehmung einzuord- nen, indem er einen Überblick über die Parallelitäten zwischen dem wahrneh- mungsgeschichtlichem Wandel und der Entwicklungsbahn der Systemmodelle vom 17. bis zum 20. Jahrhundert gibt. Er zeigt, dass sich die „definitorischen Elemente“ der allgemeinen Systemtheorie, wie etwa die ­Körper-Analogie, die strukturalistisch-funktionalistische Betrachtungsweise und die Reifizierung der Systeme, als ziemlich beständig erwiesen und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eingang in verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien ­gefunden haben. Dazu zählt Kleinschmidt die Weltsystemanalyse Wallersteins, die Theorie des internationalen Systems, diverse Theorien der Weltgesellschaft sowie die Theorie der Weltgeschichte. Ohne die Dienste der Wallerstein’schen Weltsystemanalyse im Rahmen der Geschichte und Gegenwart des ­Weltsystems Editorial 7 abzustreiten, plädiert der Autor für eine Erweiterung der bestehenden Sys­ temmodelle um wahrnehmungsgeschichtliche Aspekte. In dem von Hans-Heinrich Nolte übersetzten Beitrag Giovanni Arrighis geht es um die Genese der neomarxistischen Abhängigkeitstheorien und der Weltsystemanalyse als historisch-materialistische Erklärungen zur globalen Ungleichheit und somit als Kritik an dem idealistisch orientierten und stark eurozentrischen Modernisierungsparadigma. Arrighi erkennt an, dass das Kon- zept der globalen Ungleichheit den theoretischen sowie historischen Horizont des Entwicklungsdiskurses wesentlich erweitert hat. Andererseits merkt er an, dass das Entwicklungskonzept selbst eurozentrisch definiert ist und warnt vor einer Rückkehr der Modernisierungsansätze. Die Entwicklungskriterien für das Aufholen des Westens und somit für die Verminderung der globalen Ungleich- heiten seien nämlich modernistisch geprägt und hauptsächlich auf Industria- lisierung fixiert, weswegen der zunehmende Industrialisierungsgrad mancher Drittweltländer heute täuschend sein könne. Ebenfalls von Nolte übersetzt wurde der Beitrag von Wolf Schäfer zu den area studies.1 Der Autor argumentiert, dass die area studies ihre Geburt dem Kalten Krieg verdankten. Dessen Ende wie auch die Globalisierung bedeute- ten für die area studies neue Herausforderungen, auf die sie aber bislang nicht adequat reagiert haben. Schäfer kontrastiert dieses Defizit mit der Transforma- tion der von Spengler, Toynbee oder McNeill betriebenen Weltgeschichte in die neue Globalgeschichte. Er diskutiert dann mehrere neuere Ansätze, die Rele- vanz für eine Rekonfiguration der area studies haben: Neben dem aus Schäfers Sicht eher enttäuschenden, dekonstruktivistisch orientierten „Weißbuch“ zu den area studies (Guneratne u.a.) sind dies: „ReOrient“ (Frank), „Vielfältige Modernen“ (Eisenstadt), „Europa provinzialisieren“ (Chakrabarty) und „Die Sozialwissenschaften öffnen“ (Wallerstein u.a.). Besonders die von Wallerstein und seinen Mitautoren empfohlene Überwindung eingefahrener diziplinärer Grenzen stellt für Schäfer eine gute Basis dar, um die Fragmentierung der area studies durch das neues Leitmotiv global/lokal zu ersetzen.

1 Dariusz Adamczyk: Das Polen der Frühen Neuzeit im Weltsystemkonzept, oder die Grenzen eines Modells, in: ZWG 10 (2), 2009, S. 61–78; Carl-Hans Hauptmeyer: Niedersachsen in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Anwendungsaspekte der Ge- schichte des Weltsystems für die Regionalgeschichte, in: ZWG 2 (2), 2001, S. 53–78; Hans-Heinrich Nolte: Weltsystem und Area-Studies. Das Beispiel Russland, in: ZWG 1 (1), 2000, S. 75–98; siehe auch Andrea Komlosy: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien 2011; Birgit Schäbler (Hg.): Area Studies und die Welt, Wien 2007. 8 Aslı Vatansever, Christian Lekon

Rezensiert werden diesmal: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neu- zeit, Bd. 15 und 16; Andrea Komlosy: Globalgeschichte; Michael Gehler, Robert Rollinger (Hg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte; John R. McNeill, Corinna Unger (Hg.): Environmental Histories of the Cold War und Wolfgang Reinhard (Hg.): Geschichte der Welt 1350–1750.

Aslı Vatansever, Christian Lekon Inhalt

Hans-Heinrich Nolte Säkularisationen und Säkularisierungen ������������������������������������������������������� 11

Peter Antes Islam und Säkularisierung ��������������������������������������������������������������������������� 35

Aslı Vatansever Säkularisierung trotz Laizismus ������������������������������������������������������������������� 51

Christian Lekon Ägyptischer Reformislam und Säkularisierung, 1870–1935 ������������������������� 63

Harald Kleinschmidt Repräsentanten des großen Ganzen. Bemerkungen zu Systemmodellen in Theorien des Weltsystems und ähnlichen Theorien ������� 95

Giovanni Arrighi Globale Ungleichheiten und das Erbe der Dependencia-Theorie ��������������� 135

Wolf Schäfer Zur Rekonfiguration von area studies für das globale Zeitalter ������������������ 149

Rezensionen ���������������������������������������������������������������������������������������������� 185

Autorinnen und Autoren der ZWG 16.1 ��������������������������������������������������� 197

Hinweis der Redaktion: Der in ZWG 15.2 erschienene Review „Globalisie- rung und Global Cities“ stammt von Raoul Zühlke und nicht – wie in ZWG 15.2 angegeben – von Michael Zeuske. Die Redaktion bittet für dieses Verse- hen um Entschuldigung.

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Harald Kleinschmidt Repräsentanten des großen Ganzen. Bemerkungen zu Systemmodellen in Theorien des Weltsystems und ähnlichen Theorien I. Grundlagen der allgemeinen Systemtheorie und der Wandel von Systemmodellen Den Gegensatz zwischen Systemmodellen aus verschiedenen Epochen brach- te Arthur Schopenhauer auf den Punkt. In der Vorrede zu seinem zuerst im Jahr 1819 erschienenen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung stellte er den Unterschied zwischen dem Gesamttext eines als Buch gedruckten Werks und einem Gedanken dar als Gegensatz zwischen „architektonischem System“ und einem „organischen Zusammenhang“. Demnach sei das Werk ein „System“, das „allemal einen architektonischen Zusammenhang“ haben müsse, „in welchem immer ein Theil den andern trägt“. Hingegen sei ein „einziger Gedanke“ „der Zusammenhang dieser Theile“ als „ein organischer, das heißt ein solcher, wo jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen erhalten wird.“1 Was Scho- penhauer als eine große und als eine kleine Einheit gegeneinander stellte, wies zwar dieselbe Struktur auf, nämlich den „Zusammenhang“ von „Theilen“, aber er bezeichnete beide Strukturen mit unterschiedlichen Wörtern. Den ersten Typ eines „Zusammenhangs“ beschrieb er additiv mit dem Modell des Hauses, das ihm als Gesamtheit der für seinen Bestand erforderlichen, wohl geordne- ten, in einer Hierarchie geordneten tragenden Teile erschien. Den zweiten Typ eines „Zusammenhangs“ beschrieb er integrativ mit dem Modell des lebenden Körpers, in dem die Gesamtheit jedes „Organs“ durchdringe und somit größer sei als die Summe aller dieser „Organe“. Beide Typen von „Zusammenhängen“, ein ganzes Werk als Gedankengebäude und ein einzelner Gedanke, waren für Schopenhauer ebenso so real wie abstrakt. Das Gedankengebäude kennzeich- nete Schopenhauer als „System“, dem Gedanken verweigerte er dieses Wort, ohne an dessen Stelle ein anderes zu setzen. Als „System“ galt ihm mithin nur ein „Zusammenhang“, der sich seiner Ansicht nach beschreiben ließ als Sum- me seiner Bestandteile; einen „Zusammenhang“ hingegen, der als vermeintlich

1 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1, Nachdruck, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1 (Hg.: Arthur Hübscher), Mannheim 1988, S. VII–VIII [zuerst 1819; 1. Aufl. der Ausg. von Schopenhauers Sämtlichen Werken (Hg.: Julius Frauenstädt, Leipzig 1938]. 96 Harald Kleinschmidt

„organischer“ umfassender sein sollte als die Summe seiner Bestandteile, wollte Schopenhauer nicht als „System“ gelten lassen. Ein spezielles Appellativ für diesen Typ eines „Zusammenhangs“ kannte er nicht. Schopenhauers Wortwahl verwundert nicht. Spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert war im europäischen Theoriegebrauch das System gedacht im Modell der Maschine, von dem Schopenhauers Modell des Hauses eine reduk- tionistische Variante war: ein Ensemble in einem festen Rahmen mit hierarchi- scher Ordnung seiner Bestandteile, die vollständig2 und keinen, für den Bestand des Systems wesentlichen Änderungen in der Zeit unterworfen sein sollten.3 Die Maschine, insbesondere die Uhr als deren Prototyp, gab das Modell ab für die Welt als Ganzes (als systema mundi),4 für belebte Körper, die Hobbes als „Automata“ bezeichnete und Maschinen gleichsetzte,5 Staaten,6 ­sogar das Hei- lige Römische Reich Deutscher Nation, das Jean-Jacques Rousseau, Sohn eines

2 : Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft [Riga 1786], in: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9 (Hg.: Wilhelm Weischedel), Frankfurt/Main 1968, S. 19. Dazu siehe Gerhard Lehmann: System und Geschichte in Kants Philo- sophie, in: Ders.: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin (West) 1969, S. 152–170. 3 Johann Heinrich Lambert: Logische und Philosophische Abhandlungen. Bd. 2, Berlin 1787, S. 386 [Nachdruck in: Ders.: Philosophische Schriften. Bd. 7 (Hg.: Hans Werner Arndt), Hildesheim 1969]. 4 Johann Georg Walch: Philosophisches Lexikon, Leipzig 21733, s. v. System. Dazu sie- he: Klaus Maurice, Otto Mayr: Die Welt als Uhr, München 1980 [englische Fassung: New York 1980]. Otto Mayr: Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit, München 1986 [englische Fassung: Baltimore u. Lon- don 1986]. 5 Thomas Hobbes: Leviathan [London 1651] (Hg.: Crawford Brough Macpherson), Harmondsworth 1981, S. 81; auch: (Hg.: Richard Tuck), Cambridge 1991, S. 9. So auch: René Descartes: Passions de l’âme, in: Ders.: Œuvres et letters, Paris 1952, S. 775–776. 6 Bartholomaeus Keckermann: Systema disciplinae politicae, in: Ders.: Systema syste- matum, Hanau 1613, S. 890–1075 [zuerst Hanau 1608; Mikrofiche-Ausg., München 1992]; Gaspard Real de Curban: Staatskunst. Bd. 6, Bamberg 1790, S. 582–583. Repräsentanten 97

Uhrmachers, als Maschine beschrieb,7 Armeen,8 komplexe Ordnungssysteme der Natur9 sowie ganze philosophische Ordnungssysteme, für deren Studium die Disziplin der „Systematologie“ zuständig war.10 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts geriet das Maschinenmodell in die Kri- tik von Theoretikern, die bemängelten, dass es weder systeminterne Verän- derungen noch gar Wandlungen von Systemen erfassen zu können schien. Herder etwa bezeichnete bereits im Jahr 1784 die Welt als Laboratorium, das neue Arten hervorbringe,11 und deutete damit an, dass er die Voraussetzung

7 Jean-Jacques Rousseau: Extrait du Projet de paix perpétuelle de M. l’Abbé de ­Saint-Pierre, in: Ders.: The Political Writings of Jean Jacques Rousseau. Bd. 1 (Hg.: Charles Edwyn Vaughan), Nachdruck Oxford 1962, S. 364–396, hier S. 366f. [erste­ Veröffentlichung von Vaughans Ausg.: Cambridge 1915; erste englische Ausg. in: The Works of Jean-Jacques Rousseau. Bd. 10, Edinburgh 1774, S. 182–191; auch: (Hg.: ­Charles ­Edwyn Vaughan), Rousseau. A Lasting Peace Through the Federation of ­Europe, ­London 1917, S. 5–35; auch: (Hg.: E. M. Nuttall), Rousseau. A Project of ­Perpetual Peace, London 1927; auch in: Murray Greensmith Forsyth, Harold M­ aurice Alvan Keens-Soper, Peter Savigear (Hg.): The Theory of International Relations, ­London 1970, S. 127–180; auch in: Stanley Hoffman, David P. Fidler (Hg.): Rousseau on International Relations, Oxford 1991, S. 53–100; auch in: Moorhead Wright (Hg.): The Theory and Practice of the Balance of Power, London u. Totowa 1975, S. 74–80; dt. Fassung in: Kurt von Raumer (Hg.): Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg u. München 1953, S. 343–367]. 8 Friedrich Christoph Jonathan Fischer: Geschichte Friedrichs des Zweyten Königs von Preussen. Theil 1, Halle 1787, S. 27 [Vergleich der preußischen Armee mit einer Uhr]; Friedrich Eckard: Versuch über die Kunst junge Soldaten zu bilden, Prag 1782, S. 19f. [Vergleich einer Armee mit einer Maschine]; Carl Gottfried Wolff: Versuch über die sittlichen Eigenschaften und Pflichten des Soldatenstandes, Leipzig 1776, S. 324 [Ver- gleich eines Soldaten mit einer Maschine]. 9 Carl von Linné: Systema naturae (Erstdruck), Leiden 1735 [Nachdrucke dieser Ausg.: Stockholm 1977; Utrecht 2003]. 10 Etienne Bonnet de Condillac: Traité des systèmes, Paris 1749 [Nachdruck in: Ders: Œuvres complètes. Bd. 2, Genf 1973, S. 1]; Paul Henri Thiry d’Holbach: Système de la nature, London [recte Amsterdam] 1770 [Nachdruck Genf 2011; weitere Ausg., London [recte Amsterdam] 1771; 1780; 1781; Paris 1781; Nachdruck dieser Ausg.: Paris 1990; Neudruck Paris 1821; Nachdrucke dieser Ausg.: Hildesheim 1966; 1994]; Johann Heinrich Lambert: Fragment einer Systematologie [vor 1767], in: Ders.: Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis (Hg.: Geo Sieg- wart), Hamburg 1988, S. 125–144. 11 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Buch I, Kap. 3, in: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 13 (Hg.: Bernhard Suphan), Berlin 1887, S. 21. 98 Harald Kleinschmidt des B­ estehens der Welt als gottgewollte oder von einer „Natur“ vorgegebene Ordnung anzweifelte. Fichte verwarf im Jahr 1793 die Hoffnung auf Fortdau- er des nach dem Maschinenmodell geformten politischen Gleichgewichts als „Chimäre“ und verwies für seine These, dass das Gleichgewicht eine Erfindung machtgieriger Herrscher sei, auf die in Frankreich ablaufende Revolution.12 Der schottische Rechtsanwalt Peter Lord Brougham and Vaux stattete im Jahr 1803 „Nationen“ mit „Leidenschaften“ aus, die er für unkalkulierbar hielt, und stellte der Politik der Regierungen souveräner Staaten die Aufgabe, diese „Leidenschaften“ gegeneinander auszutarieren. Die Rede von der „Staatsrevo- lution“ kam auf, womit nicht mehr wie noch in den 1770er Jahren wichtige politische Entscheidungen von Herrschaftsträgern gemeint waren,13 sondern tiefgreifende Veränderungen des Staatensystems.14 Schon früh im 19. Jahr- hundert begann die politische Theorie, in biologistischen Phrasen zu schwel- gen, die verbal Staaten und Nationen als lebende Körper darstellten und mit Handlungsfähigkeit versahen.15 So kategorisierte im Jahr 1821 selbst der radi- kal konservative Schweizer Diplomat, Berner Patrizier, Staatstheoretiker und

12 Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution [Danzig 1793], in: Ders.: Schriften zur französischen Revolu- tion, Leipzig 1988, S. 37–270, hier S. 90–94 [Mikroficheausgabe des Originaldrucks, München 1990; auch: (Hg.: Reinhard Strecker), Leipzig 1922]. 13 Ferdinand Friedrich von Nicolai: Betrachtungen über die vorzüglichsten Gegenstän- de einer zur Bildung angehender Officiers anzuordnenden Kriegsschule [Hs. Stuttgart, Württembergische Landesibliothek, Cod. Milit. 2º 33 (1770), fol. 235v]‘ (Hg.: Daniel Hohrath), in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41, 1992, S. 115–141, hier S. 123. 14 Johann Friedrich Freiherr von und zu Mansbach: Gedanken eines norwegischen Officiers über die Patriotischen Gedanken eines Dänen über stehende Heere, politi- sches Gleichgewicht und Staatsrevolution, Kopenhagen 1794; Woldemar Friedrich von Schmettow: Erläuternder Commentar zu den Patriotischen Gedanken, Altona 1793. 15 Karl Heinrich Ludwig Pöhlitz: Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit, Leip- zig 21828, Bd. 1, S. 346f., Bd. 3, S. 16f. [zuerst Leipzig 1824]; Carl von Rotteck, Carl Welcker: Gleichgewicht, in: Dies. (Hg.): Staats-Lexikon. Bd. 7, Altona 1839, S. 41–61; Carl Welcker: Die Vervollkommnung der organischen Entwicklung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationaleinheit und deut- scher staatsbürgerlicher Freiheit, Karlsruhe 1831; Heinrich Ahrens: Die Philosophie des Rechts. Die organische Staatslehre auf philosophisch-anthropologischer Grundlage, Wien 1850. Repräsentanten 99

Historiker Carl Ludwig von Haller die Politik als „Makrobiotik der Staaten“.16 Schopenhauer verfasste sein Hauptwerk, bevor Systeme jedweder Art nach dem biologischen Modell des lebenden Körpers beschrieben wurden, wandte aber bereits dieses Modell auf abstrakte Gegenstände wie Gedanken an. Damit ge- brauchte er sehr früh die aus der Biologie entnommene Rede von „Organen“ als Bezeichnung für essentielle Bestandteile lebender Körper. Das Wort „Or- gan“ bildete sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Allerweltswort der Wis- senschaftssprache aus,17 während es ältere, beispielsweise auf die Musikpraxis bezogene Bedeutungen18 jedenfalls in einigen europäischen Sprachen abstieß. Schopenhauer kannte also bereits das biologische Systemmodell, ohne dieses mit dem Wort System zu belegen.

16 Carl Ludwig von Haller: Restauration der Staats-Wissenschaft. Bd. 3: Makrobiotik der Patrimonial-Staaten. Hauptstück 2: Von den unabhängigen Feldherren oder den militairischen Staaten, Winterthur 21821 [zuerst Winterthur 1818; Nachdruck, Aalen 1964]. 17 Francis William Coker: Organismic Theories of the State, New York 1910; Al- bert Theodor van Krieken: Über die sogenannten organischen Staatstheorien, Leipzig 1873. 18 Hans Heinrich Eggebrecht, Frieder Zaminer (Hg.): Ad organum faciendum. Lehr- schriften der Mehrstimmigkeit in nachguidonischer Zeit, Mainz 1970, S. 46f. u.ö. 100 Harald Kleinschmidt

Seit langem ist in der philosophie-,19 literatur-,20 naturwissenschafts-,21 medi- zin-22 und rechtshistorischen23 Forschung der Wandel der Systemmodelle in der Zeit um 1800 als Teil des allgemeinen wahrnehmungsgeschichtlichen Wandels

19 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsge- schichte 6, 1960, S. 7–142; Friedrich Kambartel: „System“ und „Begründung“ als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant, in: Jürgen Blühdorn, Joachim Ritter (Hg.): Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1969, S. 100–112; Ahlrich Mey- er: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13, 1969, S.147–163; Manfred Riedel: System, Struktur, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 285–322; Otto Ritschl: System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Me- thodologie, Bonn 1906, insbesondere S. 58; Bernd Roeck: Reichssystem und Reichs- herkommen, Stuttgart 1984, S. 30f. u. 34; Alois von der Stein: Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Alwin Diemer (Hg.): System und Klassifikati- on in Wissenschaft und Dokumentation, Meisenheim 1968, S. 3–9; Christian Strub: Sys ­tem und Systemkritik in der Neuzeit, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, neue Aufl., Bd. 10, Basel 1998, Sp. 825–856. 20 Meyer Howard Abrams: Coleridge’s Mechanical Fancy and Organic Imagination, in: Ders.: The Mirror and the Lamp, New York 1976, S. 167–177. 21 Karl M. Figlio: The Metaphor of Organization. An Historiographical Perspective on the Bio-Medical of the Early Nineteenth Century, in: History of Science 14, 1976, S. 17–53. 22 Gunter Mann: Medizinisch-biologische Ideen und Modelle in der Gesellschaftsleh- re des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 4 (1), 1969, S. 1–23; Ders. (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973. 23 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Staat als Organismus, in: Ders.: Recht, Staat, Frei- heit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frank- furt/Main 1991, S. 263–272; Helmut Coing: Bemerkungen zur Verwendung des Organismusbegriffs in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Gunter Mann (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 147–157; Thomas Ellwein: Die Fiktion der Staatsperson, in: Ders., Joachim Jens Hesse (Hg.): Staatswissenschaften. Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, Baden-Baden 1990, S. 99–110; Erich Kaufmann: Über den Begriff des Organismus in der Staatsleh- re des 19. Jahrhunderts, in: Ders.: Rechtsidee und Recht, Göttingen, 1960, S. 46–66; Henry John McCloskey: The State as an Organism, as a Person, and as an End in Itself, in: Philosophical Review 72 (3), 1963, S. 306–326; Judith E. Schlanger: Les méta- phores de l’organisme, Paris 1971; Hans Erich Troje: Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Blühdorn, Ritter (Hg.): Philosophie (wie Repräsentanten 101 von dem im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschenden Mechanizismus zu dem das 19. und frühere 20. Jahrhundert dominierenden Biologismus erkannt wor- den. Die Geschichte der Systemmodelle ist folglich in die allgemeine Geschich- te der Wahrnehmung einzuordnen. Auch in die Sozialwissenschaften fand die Rede vom „Organ“ während des 19. Jahrhunderts Eingang und trug dort zur Ausbildung des fachwissenschaftlichen Grundwortschatzes bei.24 Wortbildun- gen wie „Organismus“, „Organisation“ und deren Ableitungen, „Volkskörper“, „Staatsorgan“ sowie „Socialer Körper“, gerannen zu festen Bestandteilen auch der theoretischen Literatur in den Sozialwissenschaften.25 So konnte noch im Jahr 1987 Niklas Luhmann mit uneingeschränktem Anspruch auf Selbstver- ständlichkeit behaupten, es sei „wenig sinnvoll zu sagen, Gesellschaften seien keine Organismen oder im Sinne der Schultradition zwischen organischen Körpern (be- stehend aus zusammenhängenden Teilen) und gesellschaftlichen Körpern (bestehend aus unzusammenhängenden Teilen) zu unterscheiden“.26 Luhmann setzte damit, was er als „soziale Systeme“ bezeichnete, lebenden Körpern gleich und griff wie schon Schopenhauer zur Vokabel „Organ“, um damit die Ganzheit „aus zusam- menhängenden Teilen“ zu benennen. Dabei zog Luhmann nunmehr keine ab- strakten Gedanken, sondern vermeintlich konkrete soziale Systeme aller Art in Betracht, von lokalen, ad hoc zustande kommenden, so genannten „Systemen elementarer Interaktion“ bis zu globalen oder nicht-globalen Weltsystemen als größten denkbaren „Zusammenhängen“, unabhängig von der Zeit und vom Ort ihres jeweiligen Bestehens. Luhmann war, wie schon vor ihm dem Po- litikwissenschaftler Karl Wolfgang Deutsch,27 der Wandel von Modellen für soziale Systeme bekannt,28 aber er tat diesen Wandel als terminologiegeschicht- liche Quisquilie ab: Ältere Theoretiker, die seit der Antike das Wort systema

Anm. 19), S. 63–88; James Weinstein: The Corporate Ideal in the Liberal State 1900– 1918, Boston 1968. 24 Dazu siehe F. Barnard: Metaphors, Laments and the Organic Comments, in: ­Canadian Journal of Economics and Political Science 32 (3), 1966, S. 281–301; Karl Wolfgang Deutsch: Mechanism, Organism and Society. Some Models in Natural and Social Sci- ence, in: of Science 18 (3), 1951, S. 230–252; Martin Landau: On the Use of Metaphor in Political Analysis, in: Social Research 28 (3), 1961, S. 331–353. 25 So beispielsweise: Albert Schäffle: Bau und Leben des socialen Körpers. Bd. 4, ­Tübingen 1881. 26 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1987, S. 17. 27 Deutsch: Mechanism (wie Anm. 24). 28 Luhmann: Systeme (wie Anm. 26), S. 20f. 102 Harald Kleinschmidt gebrauchten, urteilt Luhmann, hätten zwar erkannt, dass „das Ganze die Ge- samtheit der Teile“ sei; aber sie seien nicht in der Lage gewesen zu erklären, wie „das Ganze“ „auf der Ebene der Teile als Einheit zur Geltung gebracht werden könne“. Die Möglichkeit dieser Erklärung habe sich erst „im Übergang zur mo- dernen Gesellschaft“ ergeben,29 das heißt unter den Bedingungen nicht der An- wendung des additiven, mechanischen, sondern des integrativen, biologischen Systemmodells. Den Wandel des Gebrauchs von Systemmodellen unterwarf Luhmann zudem bedenkenlos dem Fortschrittsdenken. Dieses Fortschrittsdenken förderte bereits seit der Wende zum 19. Jahr- hundert die Generierung von Visionen einer angeblichen „Stuffenleiter“ der Menschheit, die als philosophisches Konstrukt in der Zeit um 1800 Mode waren.30 Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts konzipierten Juristen Pro- jektionen einer künftigen „Völkergesellschaft“, auf die die Menschheit durch fortschreitende Vergrößerung ihrer Gesellungen und deren gleichzeitig zuneh- mender Integration zustrebe und die unter den gegebenen technologischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen dieses Jahrhunderts nunmehr realisierbar sei.31 Die angeblich zunehmende globale Vernetzung der Gesellun- gen der Welt erzwinge ein „Recht auf Weltverkehr“, das die Welt umgreife und Normen unterwerfe.32 Die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts rasch zunehmende Zahl der internationalen „Organisationen“ forme in deren Summe eine Art Weltregierung, durch die die rechtliche Regelung des

29 Ebd. 30 Christoph Meiners: Betrachtungen über eine Stuffenleiter der Humanität, in: Ders.: Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen in Asien und den Südländern, in den ostindischen und Südseeinseln nebst einer historischen Verglei- chung. Bd. 3, Stuttgart 1815, S. 110–138; Samuel Thomas Soemmerring: Ueber die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, Frankfurt/Main u. Mainz 21785 [zuerst Mainz 1784; Neudruck in: Ders.: Werke. Bd. 15 (Hg.: Sigrid Oehler-Klein), Stuttgart 1998]. 31 Johann Baptist [Giovanni Battista] Fallati: Die Genesis der Völkergesellschaft. Ein Beitrag zur Revision der Völkerrechtswissenschaft, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 1, 1844, S. 160–189, 260–328 u. 538–608; Herbert Spencer: The Principles of Sociology. Bd. 1, New York u. London 1877, S. 265–287 [zuerst London 1876; weitere Ausg.: London 1882; 1893; New York 1897; 1901; 1906; 1912; Nach- drucke: Osnabrück 1966; (Hg.: Stanislav Andreski), London u. Hamden, CT 1969; Westport, CT 1975; (Hg.: Jonathan H. Turner), New Brunswick 2002]. 32 Georg Jellinek: Die rechtliche Natur der Staatsverträge. Ein Beitrag zur juristischen Konstruktion des Völkerrechts, Wien 1880, S. 42. Repräsentanten 103

Weltverkehrs zur Weltinnenpolitik werde.33 Auch technologische Großprojekte forderten die Zusammenarbeit mehrerer Regierungen souveräner Staaten ein und förderten dadurch die Herausbildung einer Weltregierung.34 Für diesen Be- griff des mit Mitteln des Rechts konstituierten Weltsystems standen verschiede- ne, meist metaphorische Bezeichnungen in Gebrauch wie etwa „Welttheater“,35 „Rechtsgemeinschaft“36 oder „Familie der Nationen“.37 Diesen Bezeichnungen gemeinsam war der Bezug auf handelnde Personen, so als wären Staaten, Na- tionen und Gesellschaften vergrößerte Individuen. Dieses Weltsystem war kon- zipiert als global, ohne dass alle Staaten, Nationen und Gesellschaften in ihm Aufnahme hätten finden sollen. Im Gegenteil, es war gedacht als Klub derje- nigen Staaten, Nationen und Gesellschaften, die keiner kolonialen Herrschaft durch europäische, amerikanische oder Regierungen innerhalb des Britischen Empire unterworfen waren, schloss mithin die Mehrheit der Weltbevölkerung aus. Das so konzipierte Weltsystem schien „Eigenschaften“ zu haben, die fest, schwer veränderbar, scheinbar in den Körper des Systems eingegrabene Merk- male zu sein schienen. Zu diesen „Eigenschaften“ als vermeintliche Strukturen des Systems zählten beispielsweise das Verhältnis zwischen dem System und seinen Bestandteilen, das als hierarchische, die existentielle Abhängigkeit der

33 Walther Max Adrian Schücking: Die Organisation der Welt, in: Staatsrechtliche Ab- handlungen. Festgabe für Paul Laband, Tübingen 1908, S. 533–614, hier S. 594f. [auch als Separatdruck, Tübingen 1908]. 34 Frederick Charles Hicks: The New World Order. International Organization, Interna- tional Law, International Cooperation, New York 1920; David Mitrany: The Progress of International Government, London 1933. 35 Ernst Immanuel Bekker: Das Recht als Menschenwerk und seine Grundlagen, Heidel- berg 1912, S. 3. 36 Jellinek: Natur (wie Anm. 32), S. 48; Heinrich Triepel: Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, S. 76 u. 80f. [Neuausg.: Tübingen 1907; Nachdruck: Aalen 1958; franzö- sische Fassung: Paris 1920], gebrauchte die Variante der „zur Rechtsschöpfung befähigten Personenmehrheit“. 37 Lassa Francis Oppenheim: International Law. Bd. 1, London u. New York 1905, S. 280f. [2. Aufl. London u. New York 1912; 3. Aufl. (Hg.: Ronald F. Roxburgh), London­ u. New York 1920/21; 4. Aufl. (Hg.: Arnold Duncan McNair), London u. New York 1926; 5. Aufl. (Hg.: Hersch Lauterpacht), London u. New York 1935; 6. Aufl. (Hg.: Hersch Lauterpacht), London u. New York 1944; 7. Aufl. (Hg.: Hersch Lauterpacht), London u. New York 1948; 1952/53; 8. Aufl. (Hg.: Hersch ­Lauterpacht), London u. New York 1955; 1957; 1963; 9. Aufl. (Hg.: Robert Yewdall Jennings, ­Andrew ), Harlow 1992; 1996; 2008]. 104 Harald Kleinschmidt

Bestandteile vom System bedingende Ordnung bestehen sollte; die Art der vorhandenen Bestandteile, die ausschließlich Staaten oder Regierungen von Staaten sein sollten; Modalitäten der Interaktionen der Bestandteile unterein- ander und mit dem System, die als in der Hauptsache militärische, politische und wirtschaftliche Handlungen der Regierungen von Staaten kategorisiert waren. Zu diesen „Eigenschaften“ traten so genannte „Funktionen“, womit hauptsächlich Aufgaben des Systems bezeichnet sein sollten, beispielsweise die Sicherung der Systemgrenze, die Beeinflussung der Interaktionen zwischen den Bestandteilen im Sinn des Systems sowie die Regelung der Interaktionen zwi- schen dem System sowie seinen Bestandteilen und der Umwelt des Systems. Bei dieser Beschreibung des Weltsystems blieb stets die Frage offen, wie die Um- welt des Systems gedacht sein sollte, sofern dem Weltsystem globale Ausdeh- nung zugeschrieben wurde. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts verfestigte sich der Dualismus von Strukturen und Funktionen, der seither die Systemtheorie, insbesondere in den Sozialwissenschaften beherrscht hat. Dabei ergab sich als angeblich hauptsächliche Funktion des Systems die Bewahrung seiner Grenze. So konnte mit Bezug auf den Staat Friedrich Ratzel die Grenze als „Haut des politischen Körpers“ bestimmen,38 und Talcott Parsons konnte für Systeme ge- nerell, einschließlich einer von ihm so genannten „world political community“, behaupten, eine „boundary-maintaining capability“ sei definitorische Vorausset- zung für jede Art von sozialen Systemen für deren „pattern maintenance“.39 Und

38 Friedrich Ratzel: Politische Geographie (Hg.: Eugen Oberhummer), München u. Ber- lin 31923, S. 434 [zuerst 1897]. Ähnliche Bilder finden sich bei Nathaniel Curzon: Frontiers, Oxford 1907, S. 42 und Karl Haushofer: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927. 39 Talcott Parsons: The Social System, New York, London 1951, S. 481f.; Ders.: Or- der and Community in the International Social System, in: James N. Rosenau (Hg.): International Politics and Foreign Policy, New York 1961, S. 120–129, hier S. 123. Zu Parsons’ Begriff der „world political community“ in kritischer Distanz zur These der „Polarisierung“ in der intensiven Phase des Kalten Kriegs siehe Talcott Parsons: Po- larization of the World and International Order, in: Ders.: Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 466–489, hier S. 467 [zuerst in: Berkeley Journal of Sociology 6 (1), 1961, S. 115–134; wieder abgedruckt in: Marcello Truzzi, Philip B. Springer (Hg.): Solving Problems. Essays in Relevant Sociology, Pacific Palisades, CA 1976, S. 329–347; Bryan S. Turner (Hg.): The Talcott Parsons Reader, Oxford u. Malden, MA 1999, S. 237–253]. Repräsentanten 105 noch Luhmann konnte postulieren, „alle Systeme“ konstituierten sich „durch Grenzen, nämlich durch eine Differenz von System und Umwelt“.40 Der in den Sozialwissenschaften gängige, aus der allgemeinen Systemtheorie41 stammende Systembegriff hat sich also seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts als überaus beständig erwiesen.42 Er umfasst als definitorische Elemente die Behauptung, die Merkmale eines Systems seien dessen „Eigenschaften“, so als wäre ein System ein lebender Körper; zudem gilt als feststehende Tatsache, dass jedes System größer sei als die Summe seiner Bestandteile, dass mithin das Ganze des Systems sich nicht nur additiv aus den Bestandteilen ergebe, sondern umgekehrt das System als Ganzes dessen Bestandteile erst als solche konstituiere; weiterhin herrscht die Annahme vor, das System existiere „für sich selbst“, sei mithin eine scheinbar objektiv gegebene Tatsache, unabhängig von den Wahrnehmungen irgendwelcher Beobachter; auch besteht die Erwartung, das System sei erkennbar an Mustern der Interaktionen zwischen seinen Be- standteilen, wobei diese Muster die Grundlage abgeben sollen für Projektionen künftiger Interaktionen zwischen den Bestandteilen und deren als grundsätzlich möglich erachteten Veränderungen; dadurch, dass das System seine Bestandtei- le erst konstituiert, erscheint es überdies als handelnde Person, wie auch dessen Bestandteilen mit Akteurseigenschaft ausgestattet zu sein scheinen; dabei soll sich aus dem vermeintlichen Handeln des Systems eine strukturelle Abhängig- keit der Bestandteile vom System ergeben, so wie die „Organe“ des lebenden Körpers ohne ihren Körper nicht „funktionieren“ können. Diese Vorgaben der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie haben

40 Niklas Luhmann: Einfache Sozialsysteme, in: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 21–38, hier S. 28. 41 Karl Ludwig von Bertalanffy: An Outline of General Systems Theory, in: British Journal for the Philosophy of Science 1 (2), 1950, S. 134–165, hier S. 155–157; Ders.: General Systems Theory, in: General Systems 7, 1962, S. 1–20, hier S. 7; Ders., Gen­ eral System Theory, London 1971 [10. Aufl., New York 1988]; R. C. Buck: On the Logic of General Behavior Systems Theory, in: Minnesota Studies in the Philosophy of 1, 1956, S. 223–237, hier S. 225f. 42 Walter Buckley: Sociology and Modern Systems Theory, Englewood Cliffs 1967; Da- vid Easton: A Systems Analysis of Political Life, New York 1965, insbesondere S. 21; Martin Hollis, Steve Smith: Explaining and Understanding International Relations, Oxford 1991, S. 92–94, 111f. u. 118; Kalevi Jaako Holsti: International Politics, Engle ­wood Cliffs 31977, S. 29f. [übernommen in der 6. Aufl. 1992, S. 15f.]; Robert T. Holt: A Proposed Structural-Functional Framework, in: James C. Charlesworth (Hg.): Contemporary Political Analysis, New York 1974, S. 87–107, hier S. 88f. 106 Harald Kleinschmidt

Eingang gefunden in spezielle Theorien, die seit den 1960er Jahren die Welt als Ganzes zu erfassen suchen. Zu diesen Theorien zählen die Theorie des Welt- systems, die Theorie des internationalen Systems, verschiedene Theorien der Weltgesellschaft sowie die Theorie der Weltgeschichte.

II. Theorien des Weltsystems Die auf der Dependencia-Theorie43 aufbauende, den Begriff der ungleichen Entwicklung verwendende Theorie des Weltsystems ruht auf der Annahme , dass ein System ein fester Rahmen für interdependentes „Handeln“ selbständi- ger, jedoch nach Hierarchien geordneter, gegeneinander selbständiger Bestand- teile sei, das „Welt“ als objektive Gegebenheit erfasse. Dabei ließ die Theorie zwar unterschiedliche, raumzeitspezifische Wahrnehmungen von „Welt“ zu, vermied somit in der Regel die Gleichsetzung von „Welt“ mit dem Globus,44 behauptete dennoch, dass nur ein auf den Globus bezogenes Weltsystem „Welt“ als Ganzes zu erfassen in der Lage sei. Folglich konnte im Rahmen dieser Theo- rie „world historiography“ mit „planetary history“ gleichgesetzt sein.45 Der dieser Theorie zugrunde liegende Systembegriff blieb zumeist undefiniert,46 wurde folglich im Sinn der Vorgaben der struktural-funktionalistischen sozialwissen- schaftlichen Systemtheorie als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Theorie be- anspruchte zunächst, einen Zeitrahmen von ungefähr 5.000 Jahren zu erfassen, für den ihr Systembegriff als anwendbar postuliert wurde. Demnach hätten aufeinander folgende oder auch zeitgleich nebeneinander bestehende „Welt- systeme“ „Eigenschaften“ wie „handelnde“ Personen, besaßen Grenzen und

43 Samir Amin: L’échange inégal et la loi de la valeur, Paris 1973 [2. Aufl. 1988]; Ders.: The Ancient World-Systems versus the Modern Capitalist World-System, in: Review [Binghamton] 14 (3), 1991, S. 349–385, hier S. 360; Andre Gunder Frank: A Theore- tical Introduction to 5000 Years of World System History, in: Review [Binghamton] 13 (2), 1990, S. 155–248, hier S. 157, 164 u. 188. 44 Andre Gunder Frank, Barry K. Gills: The 5000 Year World System, in: Dies. (Hg.): The World System. Five Hundred Years or Five Thousand?, London u. New York 1993, S. 3–55 [Nachdrucke 1996 u. 1999; zuerst in: Humboldt Journal of Social Relations 18 (2), 1992, S. 1–79]; Barry K. Gills: World System Analysis, Historical Sociology and International Relations. The Difference a Hyphen Makes, in: Stephen Hobden, John Hobson (Hg.): Historical Sociology of International Relations, Cambridge 2002, S. 141–161. 45 Ebd., S. 12–17. 46 Ebd., passim. Repräsentanten 107 konstituierten die in ihnen ebenfalls „handelnden“ Bestandteile als solche.47 Die Theorie enthielt gleichwohl weder deskriptive noch analytische Mittel zur Erfassung von Systemwandel. Systeme erschienen, im Rahmen dieser Theorie, folglich wie Monaden, die mit ihrer Umwelt nur die für die eigene Bestandser- haltung notwendigen Beziehungen zu unterhalten schienen. Ebenfalls ausdrücklich auf der Grundlage der Dependencia-Theorie48 formu- liert Immanuel Maurice Wallerstein seine Variante einer Theorie eines Systems, das er als „Welt-System“ (world-system) bezeichnet, spezifiziert jedoch die An- nahmen für seine Theorie genauer als die mit dem Begriff der ungleichen Ent- wicklung arbeitenden Theoretiker. Auch Wallerstein gilt „Welt“ als Kategorie der raumzeitspezifischen Wahrnehmung, mithin als nicht notwendigerweise identisch mit dem Globus. Da Wallerstein aber in der Hauptsache Staaten als Bestandteile seines „Welt-Systems“ ansieht,49 schreibt er diesem objektive Exi- stenz als Sache in der Welt zu. Wallerstein erlaubt eine Zeitspanne von ungefähr 12.000 Jahren bis zur Gegenwart, in dem seiner Ansicht nach ein Wandel ver- schiedener Typen von Weltsystemen stattgefunden habe, deren einer das soge- nannte „Welt-System“ gewesen sei.50 Neben diesem bestimmt er „Weltreiche“, „Welt-Ökonomien“ und „Minisysteme“ als die weiteren Typen von Weltsyste- men.51 Den Weltsystemen misst er nur in der frühen Phase der Zeitspanne von 12.000 Jahren eine Bestandsdauer von ungefähr 5.000 Jahren zu.52 Für die „Welt-Ökonomien“ gibt er vor, dass diese sich bis in das 15. Jahrhunderts stets in Weltreiche verwandelt hätten.53 Das „Welt-System“ hingegen isoliert er als

47 Ebd., S. 3. 48 Unter ausdrücklichem Bezug auf Arghiri Emmanuel: Unequal Exchange. A Study of the Imperialism of Trade, London 1972 [zuerst Paris 1969]. 49 Immanuel Maurice Wallerstein: The Modern World-System. Bd. 1: Capitalist Ag- riculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York u.a. 1974, S. 15; Dt.: Das modern Weltsystem. Bd. 1. Die Anfänge kapitali- stischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert (Aus d. Amerik. v. Angelika Schweikhart), Frankfurt/Main u. Wien 1986. 50 Ders.: World System versus World-Systems. A Critique, in: Andre Frank, Gills (Hg.): World System (wie Anm. 44), S. 292–298, hier S. 294f. [Nachdrucke 1996 u. 1999; zuerst in: Critique of Anthropology 11 (2), 1991, S. 189–194]. 51 Ebd. 52 Ders.: Modern World-System. Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 15; nach Shmuel Noah Ei- senstadt: The Political Systems of Empires, New York 1969, S. 11 [zuerst Glencoe u. London 1963; weitere Ausg. New Brunswick u. London 1993]. 53 Wallerstein: Modern World-System. Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 16. 108 Harald Kleinschmidt singulär, lässt es in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstehen, schreibt ihm eine alle anderen irgendwie rechtlich konstituierten Bestandteile überra- gende Größe zu und besteht, jedenfalls in seinen Stellungnahmen zur System- theorie während der 1970er, 1980er und 1990er Jahre, darauf, dass zwischen den Bestandteilen dieses Systems ausschließlich wirtschaftliche Bindungen als systemrelevante Beziehungen bestehen. Sein „Welt-System“ bestimmt er mit- hin als „Welt-Ökonomie“, die sich nicht in ein Weltreich verwandelt, sondern als Systemtyp sui generis seit mehr als 500 Jahren existiere. Im Verlauf dieser Bestandsdauer habe sich das „Welt-System“ immer wieder verändert, sich „kul- turelle Bindungen“ (cultural links) sowie „politische Institutionen“ (political arrangements), sogar „bündische Strukturen“ (confederated structures) zugelegt.54 Nur diesem scheinbar singulären, angeblich „modernen Welt-System“, nicht jedoch den Weltreichen und „Welt-Ökonomien“, weist Wallerstein „Ei- genschaften“ zu, bestimmt diese aber im Vergleich zu anderen Theoretikern genau und lässt zu, dass diese „Eigenschaften“ sich im Verlauf der Bestands- dauer des Systems gewandelt hätten. So habe sich die geografische Reichweite dieses Systems insbesondere während des 19. Jahrhunderts schnell ausgedehnt bis zu den Grenzen des Globus. Wallerstein übersieht, dass die europäischen kolonialen „Weltreiche“ des 19. und früheren 20. Jahrhunderts sein „moder- nes Welt-System“ nicht nur konstituierten, sondern die globale Ausdehnung der diesem System zugeschriebenen „Strukturen“ überhaupt erst ermöglich- ten.55 Auch hinsichtlich der „Eigenschaft“ seines „modernen Welt-Systems“, Grenzen zu haben, bleibt Wallerstein widersprüchlich. Einerseits behauptet er, das System habe lediglich „Ränder“ (bounds), und es sei schwierig, von die- sen „Rändern“ als „Grenzen“ (boundaries) zu reden, wobei er unter „bounda- ries“ gedachte administrative Trennlinien zu verstehen scheint.56 Andererseits

54 Ebd., S. 15; Ders.: The Rise and Future Demise of the World Capitalist System, in: Comparative Studies in Society and History 16 (4), 1974, S. 387–415; Ders., Terence K. Hopkins (Hg.): World-Systems Analysis. Theory and Methodology, Beverly Hills u.a. 1982; Ders.: World-Systems Analysis, in: Anthony Giddens, Jonathan Turner (Hg.): Social Theory Today, Cambridge u. Stanford 1987, S. 309–324, hier S. 309, 320 u. 322f.; Ders.: World-System (wie Anm. 50). 55 Harald Kleinschmidt: Geschichte der internationalen Beziehungen. Ein systemge- schichtlicher Abriß, Stuttgart 1998, S. 216–249; Ders.: Geschichte des Völkerrechts, Tübingen 2013, S. 274–340; Hans-Heinrich Nolte: Weltgeschichte. Imperien, Reli- gionen und Systeme. 15.–19. Jahrhundert, Wien 2005. 56 Wallerstein: Modern World-System. Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 15. Repräsentanten 109 bestimmt er das „moderne Welt-System“ als „soziales System“ wie jedes andere mit der selbstverständlichen Folge, dass das „Welt-System“ nicht nur „Gren- zen“ (boundaries) besitze, sondern auch „Strukturen, Mitgliedergruppen, Le- gitimationsregeln und Zusammenhalt“ (structures, membership groups, rules of legitimation and coherence).57 Die Liste entspricht den Vorgaben der struktural- funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie. Aber Wallerstein bleibt nicht nur hinsichtlich der Beimessung von „Grenzen“ als „Eigenschaf- ten“ seines Systems widersprüchlich, sondern auch in der Spezifizierung ande- rer „Eigenschaften“. So zählt er an der eben zitierten Stelle Legitimationsregeln als rechtliche „Eigenschaften“ seines Systems, behauptet aber an anderer Stelle kategorisch, sein „modernes Welt-System“ habe in seiner Grundausstattung nur „wirtschaftliche Bindungen“ (economic links) als seine „Eigenschaft“, denn es sei keine „politische Einheit“ (political entity).58 Als diese „wirtschaftlichen Bindungen“ spezifiziert er, hierin Fernand Braudel folgend,59 intrasystemische Arbeitsteilung zwischen den Bestandteilen des Systems in Anbindung an die hierarchische Ordnung dieser Bestandteile mit einem herrschaftsmächtigen Zentrum an der Spitze, Semiperipherien in der Mitte und einer abhängigen Peripherie am unteren Ende der Hierarchie. Die Hierarchie macht er an einer Skala von Handlungsmöglichkeiten fest, die dem Zentrum vorbehalten, der Peripherie jedoch vorenthalten wurde, in der Hauptsache die Entscheidung über die Kriterien der intrasystemischen Arbeitsteilung und, damit einherge- hend, die Bestimmung der systemisch relevanten Handelsgüter zum Vorteil des Zentrums, aber zu Lasten der Peripherie. Im Zentrum herrsche das Streben nach „unaufhörlicher Kapitalakkumulation“ vor.60 Diese „Eigenschaften“ des „modernen Welt-S­ ystems“, das folglich ein kapitalistisches sei, hätten sich zu dessen „Strukturen“ verfestigt. Dass auch Wallersteins Theorie des „modernen Welt-Systems“ ganz in der Tradition der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaftlichen System- theorie ruht, ergibt sich zudem aus seinem Wortgebrauch. So bezeichnete er nicht nur sein „modernes Welt-System“ als „sterblich“ (mortal), da es als

57 Ebd., S. 347. 58 Ebd., S. 15. 59 Fernand Braudel: Civilization and Capitalism. 15th–16th Century. Bd. 3. The Perspec- tive of the World (Aus d. Franz. v. Siân Reynold), New York 1984 [zuerst Paris 1980]; Dt.: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Bd. 3. Aufbruch zur Weltwirtschaft (Aus d. Franz. v. Siglinde Summerer), München 1986. 60 Wallerstein: World System (wie Anm. 50). 110 Harald Kleinschmidt historisch gewordene Einheit vergänglich sei,61 sondern er schreibt ihm auch Attribute des Lebendigen zu: „Its life is made up of the conflicting forces which hold it together by tension, and tear it apart, as each group seeks eternally to re- mold it to its advantage. It has the characteristics of an organism in that it has a life-span over which its characteristics change in some respects and remain stable in others. One can define its structures as being at different times strong or weak in terms of the internal logic of its functioning.“ In seinen strukturellen „Eigen- schaften“ sei das „moderne Welt-System“ jedem anderen sozialen System gle- ich: „what characteristics [sic!] a social system in my view is the fact that life within it is largely self-contained and that the dynamics of its development are largely internal.“62 Die Interaktionen innerhalb dieses Systems seien „organisch“.63 Wallerstein modelliert sein „Welt-System“ mithin als eine Monade wie alle an- deren sozialen Systeme nach dem lebenden Körper, dessen Veränderungen er aus internen Kräften resultieren lässt. Diese Kräfte könnten, Wallerstein zu- folge, von den Bestandteilen des Systems ausgehen, wobei diese Bestandteile ihre Kräfte gegeneinander richten und dadurch Spannungszustände erzeugen könnten. Aus diesen Spannungszuständen wiederum erzeuge das System eine „Dynamik“, die zur „Entwicklung“ des Systems beitragen, ihm aber auch den Garaus bereiten könne. Wallersteins „modernes Welt-System“ als Ganzes wie auch seine Bestandteile erscheinen daher wie handelnde Personen, die Ziele haben und irgendwelche, ihnen angeblich erkennbaren „Vorteile“ zu erreichen versuchen, mithin „Handlungsmuster“ als „Funktionen“ dokumentieren.64 Die „Eigenschaften“ dieses „Welt-Systems“ als „Strukturen“ zusammen mit den „Handlungsmustern“ definieren Wallersteins „modernes Welt-System“. Mit dieser stark metaphorischen Diktion greift Wallerstein tief in die Bildersprache des 19. Jahrhunderts zurück, trotz seiner ausdrücklichen und gut begründeten

61 Immanuel Maurice Wallerstein (Hg.): The Modern World-System in the Longue Durée, Boulder 2004, S. 1–3, hier S. 1; die Grundthese des künftigen Zerfalls des ge- genwärtigen „Welt-Systems“ findet sich schon in: Ders.: Rise (wie Anm. 54), S. 390f. 62 Ders.: Modern World-System. Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 347. 63 Immanuel Maurice Wallerstein: The States in the Institutional Vortex of the Capita- list World Economy, in: International Social Science Journal 32 (4), 1980, S. 743–751, hier S. 744. 64 Ders.: World-Systems Analysis. Theoretical and Interpretative Issues, in: Ders., Hop- kins (Hg.): World-Systems Analysis (wie Anm. 54), S. 91–103, hier S. 93. Repräsentanten 111

Kritik an der Begrenztheit von „Paradigmata“ eben des 19. Jahrhunderts.65 So findet sich die Erwartung, das Austragen von Spannungen trage zur Förderung von Entwicklung bei, nicht nur in Hegels Dialektik, sondern auch in der allge- meinen Theorie des Kriegs von Carl von Clausewitz.66 Sehr viel knapper fällt die Definition aus, die Christopher Chase-Dunn in ausdrücklichem Gegensatz zu Wallerstein, wenn auch unter Benutzung von dessen Wortwahl, für „Welt-Systeme“ vorschlägt. Demnach sind diese „Welt- Systeme“ „zwischengesellschaftliche Netzwerke“ (intersocietal networks), in denen Interaktionen, z. B. Handel, Krieg, Heirat, Information, wichtig sind für die „Reproduktion der internen Strukturen“ (reproduction of the internal structures) der Bestandteile des Systems und in wesentlicher Weise die Wand- lungen bewirken, die in diesen „lokalen Strukturen“ (local structures) statt- finden.67 Soll heißen: „Welt-Systeme“ sind, Chase-Dunn zufolge, Einheiten, die zwar die Vernetzung ihrer Bestandteile generieren, dann aber, wenn diese „Welt-Systeme“ einmal entstanden sind, auf die als „Strukturen“ konzipier- ten wesentlichen „Eigenschaften“ verändernd wirken können, und zwar nicht kontingentiell, sondern mit Relevanz für jedes „Welt-System“ als Ganzes. Jedes „Welt-System“ als Ganzes gilt Chase-Dunn als zwischengesellschaftlich, also nicht ausschließlich ökonomisch, auch wenn Chase-Dunn Handel neben an- deren systemischen Interaktionsweisen wie Heiratsbeziehungen zulässt. Jedes „Welt-System“ wie auch dessen Bestandteile handeln nach Chase-Dunn und stellen durch ihr Handeln systemische Beziehungen her. Da die Bestandteile der „Welt-Systeme“ diese systemischen Beziehungen aus dem alleinigen Grund herstellen, dass sie sich reproduzieren müssen, sind sie in der Wahrnehmung von Chase-Dunn dem Gesetz des Lebens und des Sterbens unterworfen, mit- hin nach dem lebenden Körper modelliert. Auch Chase-Dunns Systemmodell erweist sich somit, trotz der von ihm hervorgehobenen Unterschiede zwischen

65 Ders.: Unthinking Social Science. The Limits of Nineteenth-Century Paradigms, Cam- bridge 1991; Dt.: Die Sozialwissenschaft „kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts (Aus d. Engl. v. Nicole Jeschke u. Britta Krüger), Weinheim 1996. 66 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Teil I. Buch IV. Kap. 9, Frankfurt/Main u.a. 1980, S. 229–234 [4. Aufl. dieser Ausg., Berlin 2003; zuerst (Hg.: Marie von Clausewitz) Berlin 1832; 16. Aufl. (Hg.: Werner Hahlweg), Bonn 1952; 19. Aufl., Bonn 1980; Nachdruck dieser Aufl., Bonn 1991]. 67 Christopher Chase-Dunn: Rise and Demise. Comparing World-Systems, Boulder 1997, S. 8. 112 Harald Kleinschmidt seiner und der Systemdefinition Wallersteins, als gebunden an die struktural- funktionalistische sozialwissenschaftliche Systemtheorie. Chase-Dunn geht zudem mit Wallerstein darin konform, dass er die Zeit- spanne für das Bestehen von „Welt-Systemen“ mit ungefähr 12.000 Jahren bemisst68 und eine Vielzahl von „Welt-Systemen“ in Betracht zieht. Lediglich nicht-sesshaften Gruppen billigt Chase-Dunn keine Fähigkeit zur Generierung systembildender Interaktionen zu. Gleichwohl führt Chase-Dunns Bestim- mung der „Welt-Systeme“ als „zwischengesellschaftliche Netzwerke“, anders als für Wallerstein, zu der Behauptung, „Welt-Systeme“ könnten auf verschiedene Typen von Gruppen als ihre Bestandteile gegründet sein. Dazu zieht Chase- Dunn Verwandtengruppensysteme, tributäre Systeme sowie das „moderne Welt-System“ in Betracht. Letzteres lässt er für die Zeit seit dem 17. Jahrhun- dert als das einzige gelten. Da diejenigen „Welt-Systeme“, die auf Verwandt- schaftsgruppen beruhten oder tributär waren, alle der ferneren Vergangenheit zugehören, ist Chase-Dunns Liste der Beispiele für systemrelevante Interak- tionen (Handel, Krieg, Heirat, Information) wohl so zu verstehen, dass in ihr jeweils zeitspezifische Interaktionstypen aneinander gereiht sind, die nicht immer alle zur Geltung zu kommen brauchen. Denn schwerlich wären Hei- ratsbeziehungen für das „moderne Welt-System“ seit dem 17. Jahrhundert als systemrelevante Interaktionen anzusehen. Hingegen postuliert Chase-Dunn, dass im Verlauf der letzten ungefähr 12.000 Jahre der gesamten Menschheits- geschichte die räumliche Ausdehnung systemischer „zwischengesellschaftlicher Netzwerke“ bei gleichzeitigem Anstieg der Intensität der Integration der inter- agierenden Gruppen stetig zugenommen habe.69 Allen diesen Weltsystemtheorien gemeinsam ist der Versuch, Weltsysteme mit hauptsächlichem Rekurs auf Wirtschaft, nicht mehr als subsidiärem Rekurs auf Politik und ohne Rekurs auf Recht zu bestimmen.70 Zwar lässt Wallerstein die sekundäre Erwerbung politischer „Eigenschaften“ durch sein „modernes Welt-System“ im Verlauf von dessen „Entwicklung“ zu; auch führt er in späte- ren Arbeiten „Kultur“, aufgefasst als „Idee-System“ (idea-system), als Faktor der

68 Ebd, S. 99. 69 Ders., E. N. Anderson: The Historical Evolution of World-Systems, Basingstoke u. New York 2005, S. X. 70 Die Nicht-Berücksichtigung insbesondere von Rechtsnormen für die Beschreibung von Systemen bei Wallerstein fällt auf angesichts der Tatsache, dass andere, zeitgleich tätige Autoren Normen zu den definitorischen „Eigenschaften“ sozialer Systeme rechneten; vgl. Rolf Sprandel: Mentalitäten und Systeme, Stuttgart 1972, S. 113–115. Repräsentanten 113

Änderung seines „modernen Welt-Systems“ ein,71 und reiht in dem 2011 er- schienen vierten Band seiner chronologischen Darstellung dieses System nicht nur Kultur, sondern, auf der Grundlage von der Thesen anderer Soziologen,72 sogar die Sozialwissenschaften als systemrelevante Akteure in sein Sortiment deskriptiver Kategorien ein.73 Aber er streitet sowohl der Politik als auch der Kultur den Rang einer originären „Eigenschaft“ seines „Welt-Systems“ ab und grenzt immer noch das Recht völlig aus. Die übrigen Theoretiker dieser Gruppe nehmen zu den Wirkungen von Politik und Recht auf Weltsysteme im Kontext ihrer Systemdefinitionen und Theoriebildung nicht Stellung. Die Wirkungen der Weltsystemtheorie jenseits der Disziplingrenzen der Soziologie, in der diese Theorien entstanden, blieb daher zunächst gering. So konnte der Politikwis- senschaftler Andrew Little noch im Jahr 2000 behaupten, Wallersteins Theorie des „Welt-Systems“ habe in die politikwissenschaftlichen Disziplin der Inter- nationalen Beziehungen keinen Eingang gefunden.74 Diese Aussage mag nicht in Gänze auf die gesamte Disziplin bezogen formuliert worden sein, sondern nur auf die sogenannte Englische Schule, aber Tatsache ist, dass Wallersteins Theorie in Handbüchern zur Theorie der internationalen Beziehungen zumal britischer Provenienz üblicherweise nicht berücksichtigt ist.75 Dies ist nicht zu-

71 Immanuel Maurice Wallerstein: Culture as the Ideological Battleground of the Mo- dern World-System, in: Ders.: Geopolitics and Geoculture. Essays on the Changing World-System, Cambridge 1991, S. 158–183, hier S. 166 [zuerst in: Hitotsubashi Jour- nal of Social Studies 21 (1), 1989, S. 5–22; wieder abgedruckt in: Mark Featherstone (Hg.): Global Culture, London 1990]. 72 John W. Meyer: Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat, in: Ders.: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen (Aus d. Amerik. v. Barbara Kuchler), Frankfurt/Main 2005, S. 85–132, hier S. 85 [zuerst in: American Journal of Sociology 103 (1), 1997, S. 144–181]. 73 Immanuel Maurice Wallerstein: Liberalism as Social Science, in: Ders.: The Mo- dern World-System. Bd. 4: Centrist Liberalism Triumphant. 1789–1914, Berkeley u.a. 2011, S. 219–273; Dt.: Das moderne Weltsystem. Bd. 4. Der Siegeszug des Liberalis- mus (1789–1914) (Aus d. Amerik. v. Gregor Kneussel), Wien 2012. 74 Andrew Little: Systems, History, Theory and the Study of International Relations, in: Ders., Barry Gordon Buzan: International Systems in World History, Oxford 2000, S. 31f. 75 Keine Berücksichtigung als eigenständige Theorie zum Beispiel in Tim Dunne, Milja Kurki, Steve Smith (Hg.): International Relations Theories, Oxford 2007; Christian Reus-Smit, Duncan Snidal (Hg.): The Oxford Handbook of International Relations, Oxford 2008. 114 Harald Kleinschmidt letzt deswegen überraschend, da Begriff und Modell des Weltsystems den in der Disziplin der Internationalen Beziehungen bevorzugten Begriffen und Model- len des internationalen Systems sehr ähnlich sind.

III. Theorien des internationalen Systems Grund für die bis in die 1990er Jahre zögerliche Rezeption der Weltsystem- theorie in den Internationalen Beziehungen dürften weder Wörter und Begrif- fe gewesen sein, die die Dependencia-Theoretiker wie auch Wallerstein dem klassischen Marxismus entnahmen, insbesondere Marx‘ Begriff der kapitalisti- schen Produktionsweise, noch die explizite gesellschaftskritische Ausrichtung aller Weltsystemtheorien. Denn auch in der Disziplin der Internationalen Be- ziehungen waren und sind gesellschaftskritische Theoretiker tätig.76 Vielmehr dürfte die Tatsache als Hemmnis gegen die Rezeption gewirkt haben, dass in der Disziplin der Internationalen Beziehungen Systemtheorien bereits späte- stens seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bestanden und auf einen Gegenstand bezogen waren, der zunächst als internationales System globalen Umfangs begriffen, später auch als solches bezeichnet wurde.77 Die Theoretiker blickten dafür insbesondere auf Handlungen in Krieg und Frieden und stellten insbesondere während der 1920er Jahre den Völkerbund ins Zentrum ihrer

76 Barry Gordon Buzan: People, States and Fear, Brighton 1983 [2. Aufl., New York 1991; Nachdruck, New York 2007]; Ders., Ole Wæver: Identity, Migration and the New Security Agenda, London 1993; Barry Buzan.: The Evolution of International Se- curity Studies, Cambridge 2009; Robert Cox: Social Forces, States and World Orders. Beyond International Relations Theory, in: Ders.: Approaches to World Order, Cam- bridge 1996, S. 85–123 [zuerst in: Millennium 10 (2), 1981, S. 126–155; wieder abge- druckt in: Robert Owen Keohane (Hg.): Neorealism and Its Critics, New York 1986]; Ders.: Production, the State and Change in World Order, in: Ernst-Otto Czempiel, James N. Rosenau (Hg.): Global Changes and Theoretical Challenges, Lexington, MA u. Toronto 1989, S. 37–50, hier S. 41f.; Ekkehard Krippendorff: Die Entstehung des internationalen Systems, in: Neue Politische Literatur 22, 1977, S. 36–48, hier S. 36; Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt/ Main 2004. 77 Arthur James Grant u.a.: An Introduction to the Study of International Relations, London 1916; David Jayne Hill: World Organization as Affected by the Nature of the Modern State, New York 1911; Edmund Aloysius Walsh (Hg.): The History and Nature of International Relations, New York 1922. Dazu siehe Harald Kleinschmidt: The Nemesis of Power, London 2000, S. 186f. Repräsentanten 115

Theoriebildung.78 Schon Toynbees seit den 1920er Jahren im Royal Institute of International Affairs in London erarbeitete Theorie der „Civilizations“ gab vor, eine Analyse des Aufkommens und Verfalls großer Einheiten zu leisten, die nach dem lebenden Körper modelliert waren und in einem sich über angeblich 6.000 Jahre erstreckenden globalen System zu kommen und zu gehen schienen. Der so genannten „Western Civilization“ gestand Toynbee zu, sie habe als einzi- ge in seiner Liste der „Civilizations“ globale Ausdehnung erreicht. Diese leitete er aus europäischer Kolonialherrschaft ab.79 Spätere Theoretiker wie Edward Hallett Carr und Hans-Joachim Morgenthau skizzierten, was sie als internatio- nales System begriffen, als Epochen übergreifenden Rahmen für Beziehungen zwischen Staaten, die sie als Bestandteile des internationalen Systems bestimm- ten, als quasi-personale „Akteure“ ausgaben und mit Attributen des Lebens versahen.80 Eine explizite Theorie des nunmehr ausdrücklich so genannten in- ternationalen Systems kam in den 1950er Jahren auf.81 Die Theoretiker des internationalen Systems gingen den Weltsystemtheore- tikern darin voran, dass sie die Bestandteile des Systems als selbständige, keiner übergeordneten Herrschaftseinrichtung unterworfene, gleichwohl durch sy- stemische Beziehungen miteinander vernetzte Einheiten kategorisierten. Bei- de Gruppen von Theoretikern bestimmen folglich das internationale oder das Weltsystem als einen Typ sozialer Systeme und schreiben diesem Typ „Eigen- schaften“ zu. Für die Theoretiker des internationalen Systems jedoch bestehen diese „Eigenschaften“ nicht in Hierarchien in der Form von wirtschaftlichen

78 Hicks: World Order (wie Anm. 34); Veit Valentin: Geschichte des Völkerbundsgedan- kens in Deutschland, Berlin 1920; Hans Wehberg: Grundprobleme des Völkerbundes, Berlin 1926; Elizabeth York [= Lottie Elizabeth Bracher]: Leagues of Nations, London 1919; Alfred Eckhard Zimmern: The League of Nations and the Rule of Law, London 1936. 79 Arnold Joseph Toynbee: A Study of History. Bd. 9, Oxford 1954, S. 413f. 80 Hans-Joachim Morgenthau: Politics among Nations, New York 51973, S. 114–129 [zuerst 1948; 2. Aufl. 1954; 3. Aufl. 1960; 4. Aufl. 1967]; Dt.: Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik (Aus d. Amerik. v. Gottfried- Karl Kindermann), Gütersloh 1963; Barry Gordon Buzan: The Theoretical Toolkit of This Book, in: Ders., Little: International Systems (wie Anm. 74), S. 68–110, hier S. 69. 81 Morton A. Kaplan: The International System, in: Ders.: System and Process in Inter- national Politics, New York 1957, S. 22–36; Kenneth Neal Waltz: Theory of Interna- tional Relations, in: Fred I. Greenstein, Nelson W. Polsby (Hg.): International Politics (Handbook of Political Science 8), Menlo Park 1959, S. 1–85. 116 Harald Kleinschmidt

Zentrum-Peripherie-Abhängigkeiten, sondern in Möglichkeiten zur Ausübung militärisch-politischer Macht. So erwarten Theoretiker des internationalen Sys­ tems, dass sich die Staaten, die sie als Bestandteile ihres Systems anzuerkennen bereit sind, um einige sogenannte „Pole“ agglomerieren werden, wie Motten das Licht umfliegen.82 Der in den 1980er und frühen 1990er Jahren einflussreichs­ te Theoretiker des internationalen Systems, Kenneth Neal Waltz, äußerte sich zwar nicht ausdrücklich zu den theoretischen Grundlagen seines Gebrauchs des Begriffs des internationalen Systems, erläuterte aber die Bedingungen, unter denen seiner Ansicht nach dieser Begriff für die Theorie des internationalen Systems sinnvoll angewendet werden könne. Dieses System erschien ihm als integriertes, seine Bestandteile umfassendes und formendes Ganzes. Den Ge- brauch dieses Begriffs unterschied er von dem, was er „analytische Methode“ (analytical approach) nannte und an der Newtonschen Physik festmachte. Die- se analytische Methode sei sinnvoll, wenn die Bestandteile eines Gegenstands problemlos separiert und somit einer Analyse im Wortsinn zugeführt werden könnten. Sei dieses Verfahren nicht möglich, weil die Bestandteile eines Gegen- stands durch dessen „Organisation“ in ihrem „Verhalten“ (behavior) beeinflusst würden und folglich nicht zerlegbar seien, sei der Gebrauch des Systembegriffs geboten.83 Waltz differenzierte also wie schon Schopenhauer zwischen additiv- mechanischem und integrativ-biologischem Systemmodell, reservierte aber, im genauen Gegensatz zu Schopenhauer, für letzteres das Wort System. Waltz modellierte somit sein internationales System wiederum nach den Vorgaben der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie, als wäre das internationale System ein lebender Körper und mit der Fähigkeit zum Handeln ausgestattet. Dementsprechend forderte Waltz, der Gebrauch seines Systembegriffs sei geboten, wenn das System und seine Bestandteile sich wech- selseitig durch Handeln beeinflussten und dadurch zu einem vermeintlich un- auflöslichen Ganzen integrierten.84 Das Systemmodell der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaft- lichen Systemtheorie stand somit, disziplinübergreifend, Pate sowohl für die politikwissenschaftlichen Theorien des internationalen Systems wie für die soziologischen Theorien des Weltsystems. Einige historisch orientierte,

82 Kenneth Neal Waltz: The Stability of a Bipolar World, in: Daedalus 93 (3), 1964, S. 881–909, hier S. 882–887. 83 Ders.: Theory of International Politics, Reading, MA 1979, S. 39. 84 Ebd., S. 58. Repräsentanten 117 politikwissenschaftliche Theoretiker des internationalen Systems in kritischer Distanz zur herrschenden Lehre in den Internationalen Beziehungen haben sogar dem ihrer Ansicht nach heute bestehenden internationalen System eine Zeitspanne von ungefähr 500 Jahren zugemessen und es wie Theoretiker des Weltsystems mit dem Beginn der europäischen Unterwerfung und Kolonisie- rung Amerikas entstehen lassen.85 Die zwischen den Theorien des internatio- nalen Systems und Theorien des Weltsystems bestehenden Parallelen, zu denen sich weitere hinzufügen ließen, verweisen darauf, dass das Weltsystem und das internationalen System nach Maßgabe der jeweils über sie reflektierenden Theoretiker nicht nur nach demselben Modell konstruiert, sondern auch nach demselben Begriff geprägt sind. Beide sind nicht gebunden an die Wahrneh- mung der globalen Reichweite des Systems, sondern anwendbar auf Systeme, die als nicht-global wahrgenommen wurden, gründen aber zugleich in dem Postulat, dass das gegenwärtige „Welt-System“86 und das internationale System globale Reichweite besitzen: „International systems, meaning the largest conglome- rates of interacting and interdependent units that have no system level above them. Currently this encompasses the whole planet, but in earlier times there were several more or less disconnected international systems existing simultaneously.“87

IV. Theorien der Weltgesellschaft und der Weltgeschichte Teils in kritischer Auseinandersetzung mit der Theorie des internationalen Sys­ tems, teils unbeeinflusst von Theorien sowohl des internationalen wie des Welt- systems fand seit den 1970er Jahren insbesondere in der Soziologie, aber auch in der Politikwissenschaft, die These Zuspruch, dass eine Weltgesellschaft als „die Angelegenheit“ bestehe, in der alle „Menschen irgendwie zusammenhängen“.88

85 George Modelski: Long Cycles in World Politics, Basingstoke 1987; William A. Thompson: On Global War, Columbia, SC 1988, S. 14, 34 u. 40–44; Friedrich Kra- tochwil: Of Systems and Boundaries. An Inquiry into the Formation of the State System, in: World Politics 39 (1), 1986, S. 27–52. Dazu siehe Harald Kleinschmidt: Historical Method and the History of International Relations, in: Martin Kintzinger, Wolfgang Stürner, Johannes Zahlten (Hg.): Das Andere wahrnehmen. August Nitschke zum 65. Geburtstag, Köln u.a. 1991, S. 653–670. 86 Wallerstein: Modern World-System (wie Anm. 61), S. 1f. 87 Buzan: Toolkit (wie Anm. 80), S. 69. So auch Little: Systems (wie Anm. 74), S. ­18–22; Kleinschmidt: Geschichte (wie Anm. 55), S. 230–273; Robert G. Wesson: State ­Systems. International Pluralism, Politics and Culture, New York 1978, S. 28–35. 88 Niklas Luhmann: Die Weltgesellschaft, in: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 51–71, hier S. 51 [2. Aufl. 118 Harald Kleinschmidt

Diese in der Regel als soziales System konzipierte Weltgesellschaft wurde als „historisch neuartiges Phänomen“ ausgegeben und auf die sich angeblich erst

1982; 3. Aufl. 1986; zuerst in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57 (1971)]. Diese Debatte löste die ältere Diskussion über die Möglichkeit eines Weltstaats ab und ordnete diesen als Sammelbegriff für Institutionen und Verfahren der global governance der Weltgesellschaft unter. So schon am Ende des 19. Jahrhunderts Hiroyuki Katō: Der Kampf ums Recht des Stärkeren und seine Entwicklung, Tokyo 1893, S. 186–188 [weitere Ausg. Berlin 1894], der prognostizierte, die größeren Staaten der Welt, die untereinander und über internationale Organisationen friedlichen Verkehr pflegten, seien auf dem Weg aus dem Naturzustand zur Entwicklung eines einheitlichen Gesell- schaftsorganismus, aus dem ein Weltstaat entstehen könne. Nach dem ersten Weltkrieg diente der Völkerbund als Institution, an die die Weltstaatskonzeption knüpfbar zu sein schien. So Albert Pfaul: Weltstaat und Weltverfassung, Düsseldorf 1929. Nach dem zweiten Weltkrieg schien der Weltstaat geboten nicht aus Bedürfnissen des Weltver- kehrs, sondern als Träger der „Weltsouveränität“ zur Verhinderung von Kriegen. Die „Weltsouveränität“ solle an die Stelle der Staatensouveränität treten und werde sich aus der Charta der UN entwickeln. Der Weltstaat galt als notwendig zur Rettung der Menschheit und der so genannten „Zivilisation“. So Kisaburō Yokota: Sekai kokka ron, in: Sekai 9, September 1946, S. 17–29; Ders.: Sekai kokka no mondai, Tokyo 1948, S. 5, 16–20 u. 127–189. Yokota war stark beeinflusst von der Rechtsphilosophie Hans Kelsens, der die Notwendigkeit eines Weltstaats aus der als unteilbar wahrge- nommenen und daher nur global zur Geltung zu bringenden Gerechtigkeit ableitete. Dazu siehe Ulrich Thiele: Kelsens Weltstaatspostulat als Interpretation des zweiten Definitivartikels der Kantischen Friedensschrift, in: Hauke Brunkhorst, Rüdiger Voigt (Hg.): Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kel- sen, Baden-Baden 2008, S. 347–363. Ähnlich wie Yokota argumentierten: Robert M. Hutchins, G. A. Borgese (Hg.): Preliminary Draft of a World Constitution, Chicago 1948; Dt.: Weltverfassung. Ein amerikanischer Entwurf. Vorgelegt vom “Ausschuss zur Schaffung einer Weltregierung”, bestehend aus Gelehrten der amerikanischen und ka- nadischen Universitäten (Aus d. Amerik. v. Rudolf Juchhoff), Köln u. Opladen 1948; Rosika Schwimmer: Der Weltstaat. Mitteilungsblatt der Weltstaat-Liga 6, München 1948, S. 76, sowie später Otfried Höffe: Eine Weltrepublik als Minimalstaat. Zur Theorie internationaler politischer Gerechtigkeit, in: Reinhard Merkel, Roland Witt- mann (Hg.): „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt/Main 1996, S. 154–171. In der Sicht sozialistischer Theoretiker des Völkerrechts waren diese Weltstaatsvisionen nichts anderes als Versu- che zur Aufhebung der Souveränität der sozialistischen Staaten. So Herbert Kröger (Hg.): Völkerrecht. Lehrbuch. Bd. 1, Berlin [Ost] 1973, S.150–152 u. 330f.; Roland Meister: Ideen vom Weltstaat und der Weltgemeinschaft im Wandel imperialistischer Herrschaftsstrategien, Berlin [Ost] 1973, S. 35, 38, 40–44 u. 46–48 [weitere Ausg. Repräsentanten 119 seit dem 19. Jahrhundert ergebende Möglichkeit globaler Interaktion zurück- geführt.89 Diese „Weltgesellschaft“ sei ein soziales System wie alle anderen und beruhe „auf einer funktionalen Einheitskonzeption“, deren „Bezugspunkt“ „nur in der Umwelt des Systems gefunden“ werden könne.90 Weltgesellschaft als System umfasst alle „kommunikativ erreichbaren menschlichen Erlebnisse und Handlun- gen“ und „existiert in der Erfüllung seiner Funktion, den Teilsystemen eine geordne- te Umwelt bereitzustellen“. Soll heißen: Weltgesellschaft ist wie Weltsystem oder internationales System nicht bloße Summe ihrer Bestandteile, sondern ein die Integration ihrer „Teilsysteme“ als ihrer Bestandteile ermöglichendes oder gar erzwingendes, übergeordnetes Ganzes, das „da draußen“ „operiert“.91 Weltge- sellschaft ist demnach Akteur, der so etwas wie internationale öffentliche Güter bereitstellt, und gleicht darin der „Völkergesellschaft“ der Theoretiker des 19. Jahr- hunderts.92 Sie hat alle Eigenschaften eines Systems im Sinn der struktural-funk-

Frankfurt/Main 1973]; Grigorij Iwanowitsch Tunkin: Das Völkerrecht der Gegenwart. Theorie und Praxis (Aus d. Russ. v. Klaus Wolf), Berlin [Ost] 1963, S. 151–159 [zuerst Moskau 1962]; dazu siehe Theodor Schweisfurth: Die Völkerrechtswissenschaft der Sowjetunion, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 34 (1), 1973, S. 1–51, hier S. 45–47. 89 Luhmann: Weltgesellschaft (wie Anm. 88), S. 53. 90 Ebd., S. 59. 91 Ders.: Weltzeit und Systemgeschichte, in: Peter Christian Ludz (Hg.): Soziologie und Sozialgeschichte, Opladen 1972, S. 81–115, hier S. 85f.; Ders.: ­Weltgesellschaft (wie Anm. 88), S. 59; Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, S. 35; Ders.: The Autopoiesis of Social Systems, in: Felix Geyer, Johannes van der ­Touwen (Hg.): Paradoxes. Observation, Control and Evolution of Self-Steering S­ ystems, ­London 1986, S. 172–192, hier S. 179; Peter Heintz: A Macrosociological Theory of Social ­Sys ­tems. Teil III, Bern 1972; Ders.: Der heutige Strukturwandel der ­Weltgesellschaft, in: Universitas 29 (5), 1974, S. 449–556. Zur Behauptung der Akteur-„Eigenschaft“­ ­siehe auch Mathias Albert: On the Modern Systems Theory of Society and IR. ­Contacts and Disjunctures between Different Kinds of Theorizing, in: Ders., Lena Hilkermeier (Hg.): Observing International Relations. Niklas Luhmann and World Politics, London 2004, S. 13–29, hier S. 15f.; Stefan Rossbach: „Corpus mysticum“. Niklas Luhmann’s Evolution of World Society, in: ebd.: S. 44–56, hier S. 49; Rudolf Stichweh: Zur Genese der Weltgesellschaft [1998], in: Ders.: Die ­Weltgesellschaft. Soziologische Analysen,­ Frankfurt/Main 2000, S. 245–267, hier S. 249f. [zuerst in Manfred Bauschulte, Volkhard Krech, Hilge Landweer (Hg.): Wege – Bilder – Spiele. Festschrift zum 60. Geburtstag von Jürgen Frese, Bielefeld 1999, S. 289–302]. 92 Fallati: Genesis (wie Anm. 31). Gleichwohl hat ein neuerer Theoretiker den Begriff der Weltgesellschaft auf das 18. Jahrhundert zurückgeführt und neben anderen mit Kant 120 Harald Kleinschmidt tionalistischen sozialwissenschaftlichen ­Systemtheorie des 19. ­Jahrhunderts, ist in der Wahrnehmung ihrer ­Theoretiker ein ­historisch einmaliger Akteur, der angeblich sukzessiv alle neben­ ihm ­bestehenden ­Gesellschaftssysteme in sich „inkorporierte“. Worin die „U­ mwelt“ der ­Weltgesellschaft bestehen mag, wenn diese globale ­Reichweite hat, bleibt wie beim globalen Weltsystem und beim globalen internationalen System unklar. Im Rahmen der Theorie der sozi- alen Systeme bleibt zwar offen, wie sich die Weltgesellschaft als soziales System vom Weltsystem und vom ­internationalen System unterscheiden soll, aber die Theorie der Weltgesellschaft begreift ­diese nicht in erster Linie als Staatenklub, sondern als einen sozusagen ­sozialen Container­ der Staaten, in dem global go- vernance stattfindet, als in ­globaler Kommunikation manifeste Gesellungsform oder „soziales System höchster Ordnung“.93

verknüpft (obwohl dieser das Wort Gesellschaft in diesem Zusammenhang nicht ge- brauchte und Bezeichnungen wie „Völkerstaat“ und „Weltrepublik“ ausdrücklich ab- lehnte, sondern ausschließlich einen „Föderalism freier Staaten“ zulassen wollte); vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Zweiter Definitivartikel [zuerst Königsberg 1795], in: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Bd. 11 (Hg.: Wilhelm Weischedel), Frankfurt/ Main 1968, S. 193–251, hier S. 208–213; Rudolf Stichweh: Zur Theorie der Welt- gesellschaft [1993], in: Ders.: Weltgesellschaft (wie Anm. 91), S. 7–30, hier S. 7 [zu- erst in: Soziale Systeme 1, 1995, S. 29–45]. Das Wort Gesellschaft verwandte hingegen Emer[ich] de Vattel: Le droit des gens. Ou Principes de la loi naturelle appliquées à la conduite et aux affairs des Nations et des Souverains Préliminaires, § 12, London [recte Neuchâtel] 1758, S. 8 [Nachdruck (Hg.: Albert de Lapradelle), Washington 1916; Nach- druck des Nachdrucks, Genf 1983], als Bezeichnung für die Gemeinschaft aller Staaten, die er als von der Natur gegeben betrachtete („la grande Société établie par la Nature entre toutes les Nations“). Dieser großen Gesellschaft schrieb Vattel die Aufgabe zu, für die wechselseitige Unterstützung der Staaten in deren Selbstperfektionierung zu sorgen. 93 Stichweh: Theorie (wie Anm. 92), S. 11f., hier mit Bezug auf Parsons: Social ­System (wie Anm. 39), den Stichweh als Theoretiker der Weltgesellschaft avant la lettre ­vereinnahmt. An anderer Stelle erhebt Stichweh, jedenfalls für das 20. J­ahrhundert, und gegen Luhmann, Weltgesellschaft zur allumfassenden Gesellungsform schlechthin­ und bekennt sich zu der Vermutung, „daß alle Gesellschaften Weltgesellschaften sind, daß sie sich alle durch die projektive Konstitution eines Welthorizontes auszeichnen, der alles ­umschließt, was andererseits durch System/Umwelt-Unterscheidungen als ­Gesellschaftssysteme ausgeschlossen wird“; vgl. Rudolf Stichweh: Konstruktivismus und Theorie der ­Weltgesellschaft, in: Ders.: Weltgesellschaft (wie Anm. 91), S. 232–244, hier S. 237 ­[zuerst in: Kunst, Literatur­ , Theorie 4 (6), 1997, S. 91–97; wieder abgedruckt in ­Andreas Reckwitz, ­Holger (Hg.): Interpretation, Konstruktion, Kultur, Opladen 1999, S. 208–218]; vgl. Stichweh: Genese (wie Anm. 91), S. 237, zur Behauptung der Repräsentanten 121

Eine Forschergruppe um John Meyer an der Stanford University hat seit den 1980er Jahren die zunächst als „World-State System“ und als „World Poli- ty“ bezeichnete Weltgesellschaft einer empirischen Analyse unterzogen und in Abweichung von der Theorie der sozialen Systeme Staaten als Bestandteile der Weltgesellschaft untersucht. Damit erhob sie den Begriff der Weltgesellschaft zu einem Oberbegriff, der auch das internationale System sowie die souverä- nen Staaten als dessen Bestandteile umschließen sollte.94 Die Forschergruppe vertritt die optimistische Meinung, dass die von ihr konzipierte Weltgesell- schaft zwar nicht Staaten legitimiere, dass aber „Nationalstaaten sich unter sehr wenig Zwang und Kontrollen von außen standardisierte Identitäten und Struk- turen zu Eigen machen“.95 In der Tradition der struktural-funktionalistischen

Einmaligkeit der Weltgesellschaft. Die globale Kommunikation als wichtigste systemi- sche „Eigenschaft“ der Weltgesellschaft heben hervor: Mathias Albert: Weltgesellschaft und Weltstaat, in: Ders., Bernhard Moltmann, Bruno Schoch (Hg.): Die Entgrenzung der Politik, Frankfurt/Main 2004, S. 223–240, hier S. 223 u. 234–237; Stichweh: Konstruktivismus (wie oben), S. 239 und Peter Heintz: Die Weltgesellschaft im Spie- gel von Ereignissen, Diessenhofen 1982, insbesondere S. 12. 94 George M. Thomas, John W. Meyer: Regime Changes and State Power in an Inten- sifying World-State-System, in: Albert Bergesen (Hg.): Studies in the Modern World System, New York 1980, S. 139–158, hier S. 140 u. 142; John W. Meyer: The World Polity and the Authority of the Nation State, in: Ders. u.a. (Hg.): Institutional Struc- ture. Constituting State, Society and the Individual, Newbury Park 1987, S. 41–70; George M. Thomas: Differentiation, Rationalization and Actorhood in New Systems and World Culture Theories, in: Mathias Albert, Lars-Erik Cederman, Alexander Wendt (Hg.): New Systems Theories of World Politics, Basingstoke u. New York 2010, S. 220– 248, hier S. 232–238; Rudolf Stichweh: Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie. Parsons und Luhmann und die Hypothese der Weltgesellschaft, in: Bettina Heintz, Richard Mönch, Hartmann Tyrell (Hg.): Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, S. 174–185, hier S. 176–178, hier mit Bezug auf Parsons; Jens Greve, Bettina Heintz: Die „Entdeckung“ der Weltgesellschaft. Ent- stehung und Grenzen der Weltgesellschaftstheorie, in: Ebd., S. 89–119, hier S. 91–111, die neben anderen auch Kaplan und Wallerstein als Theoretiker der Weltgesellschaft betrachten. 95 Meyer: Weltgesellschaft (wie Anm. 72), S. 131; ebenso Stichweh: Theorie (wie Anm. 92), S. 23–26; dazu siehe Chris Brown: World Society and the English School. An „International Society“ Perspective on World Society, in: European Journal of Interna- tional Relations 7 (4), 2001, S. 423–441, hier S. 426f.; Ders.: The „English School“ and World Society, in: Albert, Hilkermeier (Hg.): Observing (wie Anm. 91), S. 59–71, hier S. 66–68 u. 90. 122 Harald Kleinschmidt sozialwissenschaftlichen Systemtheorie betrachtet die Forschergruppe sowohl die Weltgesellschaft als auch Staaten, die sie generalisierend und ohne die Zu- lassung von Unterschieden als „Nationalstaaten“ bezeichnet, als handelnde Akteure, die hier sogar wie Personen mit „Identitäten“ ausgestattet sein sollen (die Spezifizierung dieser Identitäten als auf Kollektive bezogene Merkmale fehlt), modelliert Weltgesellschaft mithin nach dem lebenden Körper.96 In der Formulierung ihrer optimistischen Meinung über die angeblich zwangarme identitätsbildende Rolle der Weltgesellschaft übersieht sie den von der postkolo- nialistischen Theorie97 aufgedeckten, beträchtlichen und äußerst schmerzhaften politischen Zwang, der mit dem Oktroi der erst während der Kolonialherrschaft entstandenen, nicht-traditionalen kollektiven Identitäten für die betroffenen

96 Eine in Frankfurt und Darmstadt tätige World Society Research Group betrachtet Welt- gesellschaft nicht ausdrücklich im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie, sondern bringt Argumente für ihre These vor, dass Weltgesellschaft eigentlich keine Gesellschaft im Sinn von Ferdinand Tönnies sei, sondern eine Gemeinschaft, da sie nicht auf rationalen Übereinkünften, sondern in Tradition gründe; vgl. World Socie- ty Research Group Darmstadt – Frankfurt: In Search of World Society, in: Ma- thias Albert, Lothar Brock, Klaus-Dieter Wolf (Hg.): Civilizing World Politics. Society and Community beyond the State, Lanham, MD 1995, S. 1–17, hier S. 6f. u. 12. Zu dieser Diskussion auch Barry Gordon Buzan: From International to World Society. English School Theory and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004; Ders., Richard Little: International Systems in World History. Remaking the Study of International Relations, in: Hobden, Hobson (Hg.): Historical Sociology (wie Anm. 44), S. 200–221. Diese Forschergruppe betrachtet Weltgesellschaft mithin als Gesel- lungsform ohne Rekurs auf den Systembegriff. Ebenso, mitunter mit Verwendung des Worts Gemeinschaft statt des Worts Gesellschaft, siehe Jens Bartelson: Making Sense of a Global Civil Society, in: European Journal of International Relations 12 (3), 2006, S. 371–395; Ders.: Visions of World Community, Cambridge 2009, S. 1–18; Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 7–11; Oliver Kessler: World Society, Social Differentiation and Time, in: International Political So- ciology 6 (1), 2012, S. 77–94; Martin Shaw: Theory of the Global State. Globality as an Unfinished Revolution, Cambridge 2000; Rudolf Stichweh: Das Konzept der Welt- gesellschaft. Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems, Luzern 2009. 97 Gayatri Chakravorty Spivak: The Post-Colonial Critic, in: Dies.: The Post-Colonial Critic (Hg. Sarah Harasym), London u. New York 1990, S. 67–74, hier S. 72f.; Dies.: A Critique of Postcolonial Reasoning, Cambridge u. London 1999. Repräsentanten 123

Bevölkerungsgruppen verbunden war.98 Die Forschergruppe und die Anhänger ihrer Meinung verkennen zwar nicht, dass diese Identitäten von europäischen Werten geprägt sind, bestimmen Kultur als Medium der Transmission dieser Werte und benennen Intellektuelle und andere Kommunikateure als Transpor- teure dieser Werte. Aber sie präsentieren den globalen Oktroi der Wahrnehmun- gen von Weltgesellschaft europäischen Ursprungs als einen selbstverständlichen einseitigen, vermeintlich rationalen und sogar wertfreien Vorgang, der schein- bar weder rechtlicher noch moralischer Rechtfertigung aus der Sicht derjenigen bedürfe, die Opfer dieses Vorgangs wurden.99 Eine etwas abweichende, aber nicht grundverschiedene Bedeutung maßen einige im Vereinigten Königreich tätige politikwissenschaftliche Theoretiker dem Begriff Weltgesellschaft bei, den sie als globalen Ordnungsrahmen nicht nur für Staaten als quasi-personale Akteure, sondern auch für andere Typen von Akteuren wie etwa transnationale zivilgesellschaftliche Organisationen be- zeichneten.100 Diese Weltgesellschaft,101 mitunter auch „World Political System“

98 Dazu unter vielen, aber mit ungewöhnlicher Eindringlichkeit, Adiele Eberechukwu Afigbo: The Background to the Southern Nigeria Education Code of 1903, in: Jour- nal of the Historical Society of Nigeria 4 (2), 1968, S. 197–225 [wieder abgedruckt in: Ders.: Nigerian History, Politics and Affairs (Hg.: Toyin Falola), Trenton u. Asma- ra 2005, S. 611–640]; Ders.: Oral Tradition and the Political Process in Pre-Colonial Nigeria, in: Nigerian Heritage 11, 2002, S. 11–25; Ders.: Anthropology and Coloni- al Administration in South-Eastern Nigeria, 1891–1939, in: Ders.: Nigerian History (wie oben), S. 343–360; Ders.: The Diplomacy of Small-Scale States. A Case Study from Southeastern Nigeria, in: Ders.: Nigerian History (wie oben), S. 145–156. 99 Meyer: Weltgesellschaft (wie Anm. 72); Stichweh: Konstruktivismus (wie Anm. 93), S. 249; Wallerstein: Modern World-System. Bd. 4 (wie Anm. 73), ist auf die- se Interpretation eingeschwenkt und hat Intellektuelle als Promotoren seines „Welt- Systems“ für das 19. Jahrhundert identifiziert. 100 Hedley Bull: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London 1977 [2. Aufl. (Hg.: Stanley Hoffmann), Basingstoke u. New York 1995; 3. Aufl. (Hg.: Andrew Hurrell 2002], S. 276–281; Ders.: The Third World and International Society, in: Yearbook of World Affairs, 1979, S. 15–31, hier S. 26. 101 Diese Theoretiker trennen die Weltgesellschaft scharf von der „International Society“ ab, die als Staatenklub bezeichnet wird, dessen Angehörige sich auf die Anerkennung gemeinsamer politischer Werte, die Zusammenarbeit in internationalen Organisa- tionen und die Achtung von Normen des internationalen Rechts verpflichtet haben sollen; so Bull: Society (wie Anm. 100), S. 16; Brown: “English School” (wie Anm. 95), S. 69. 124 Harald Kleinschmidt genannt,102 soll die Legitimierung von Staaten als souveräne Subjekte des in- ternationalen Rechts ermöglichen.103 Nach diesen Theoretikern hat Weltge- sellschaft „Funktionen“ wahrzunehmen, die Theoretiker des 19. Jahrhunderts bereits der von ihnen konstruierten „Rechtsgemeinschaft“ zugewiesen hat- ten.104 Unabhängig von diesen Theoretikern, jedoch unter Berücksichtigung der einschlägigen Veröffentlichungen der Stanford-Gruppe ist zudem auf der Grundlage Luhmann’scher Theoriebildung ein über Legitimierungsverfahren hinausgehender Begriff der Weltgesellschaft geprägt worden, die sich aus glo- baler Kommunikation in Form von sprechsprachlichen und rituellen Inter- aktionen sowie durch Mobilität im Raum konstituieren und in so genannte „Funktionssysteme“ wie Politik, Wirtschaft und Recht gegliedert sein soll. Die- se Weltgesellschaft soll nirgends verortet sein und keine eigenen institutionellen Komponenten haben, gleichwohl als Akteur sich selbstreferentiell gegen ihre Umwelt aus nicht-menschlichen organischen sowie anorganischen Systemen differenzieren können und sogar müssen. Sie soll zwar Staaten umgreifen, aber die Wahrnehmung der globalen Beziehungen als Beziehungen zwischen den Staaten soll kein genuines Merkmal der Weltgesellschaft sein, sondern lediglich eine sogenannte „semantische Form“, die sich das politische System innerhalb der Weltgesellschaft selbst zuschreiben soll. Dennoch soll ein Prozess der „Welt- staatsbildung“ als „eine Form der Strukturbildung innerhalb der Weltgesellschaft“ stattfinden und in einer angeblich bestehenden „globalen Sozialpolitik“ bereits manifest sein.105 Dabei ist nach Maßgabe der struktural-funktionalistischen

102 Buzan: International to World Society (wie Anm. 96), S. 27; Ders.: The English School as a New Systems Theory of World Politics, in: Mathias Albert, Lars-Erik Ce- derman, Alexander Wendt (Hg.): New Systems Theories of World Politics, Basingsto- ke u. New York 2010, S. 195–219, hier S. 213f., verweist auf die Parallelen zwischen den Systemtheorien dieser so genannten Englischen Schule und der Stanford-Schule, behauptet aber, das von der Stanford-Schule vertretene Konzept der Weltkultur als Legitimator für die Souveränität der Staaten passe eher auf den Staatenklub der von der Englischen Schule so genannten „International Society“. 103 Ian Clark: International Legitimacy and World Society, Oxford 2007. 104 Jellinek: Natur (wie Anm. 32); Triepel: Völkerrecht (wie Anm. 36). 105 Albert: Weltgesellschaft (wie Anm. 93), S. 223–240; Ders.: Politik der Weltgesell- schaft und Politik der Globalisierung. Überlegungen zur Emergenz von Weltstaat- lichkeit, in: Zeitschrift für Soziologie. Sonderheft 34, 2005, S. 223–238; Ders.: Einleitung. Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Neubestimmung des Politischen in der Weltgesellschaft, in: Ders., Rudolf Stichweh (Hg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007, S. 9–24, hier Repräsentanten 125 sozialwissenschaftlichen Systemtheorie Weltgesellschaft als umfassendes Ganzes konstruiert, in der dieser angebliche Prozess der „Weltstaatsbildung“ stattfinde; denn nur die „Einbettung in eine [sic!] Weltgesellschaft“ erlaube die Unterschei- dung zwischen „Weltstaatlichkeit“ und einem vermeintlichen „Zusammenfügen nationaler und regionaler Staatlichkeit“,106 das heißt nur eine nach dem Mo- dell des lebenden Körpers modellierte Weltgesellschaft könnte den Prozess der „Weltstaatsbildung“ hervorbringen. Auf die Fragen, wie die Weltgesellschaft für diese Aufgabe legitimiert sein könnte, gibt die Theorie, die zudem ausschließ- lich auf westlichen Systemwahrnehmungen basiert und diesen Wahrnehmun- gen globale Gültigkeit unterstellt, keine Antworten. Diese Theorien der Weltgesellschaft insgesamt operieren auf der ­Annahme der „Welthaftigkeit“ derjenigen Aktivitäten, die auf globaler Ebene ­stattfinden oder stattgefunden haben sollen. Dabei bleibt stets unspezifiziert, nach ­welchen Kriterien­ wer kulturübergreifend über die „Welthaftigkeit“ ­welcher ­Aktivitäten befinden soll. Angesichts der Debatten über Glokalisierung107 ­bleiben ­Antworten auf diese Fragen für die Gegenwart, für das 20. und das 19. ­Jahrhundert bestenfalls kontrovers. Im Hinblick auf die fernere ­Vergangen- heit gerät die Kategorie der „Welthaftigkeit“ als Kriterium der ­Bestimmung dessen, was Weltgeschichte als Teil der Menschheitsgeschichte konstituieren soll, zur Aporie. Für die Weltgeschichte wird schlicht der ­Beginn der so genann- ten Hochkulturen mit dem Beginn der „Welthaftigkeit“ ­vergangener Aktivitä- ten gleichgesetzt, ohne dass scheinbar auch nur ein Wort darauf verwendet zu werden bräuchte, zu erklären, was eine Hochkultur denn sei und was an ihr

S. 21; Ders., Oliver Kessler, Stephan Stetter: The Communicative Turn in IR Theory, in: Review of International Studies 34 (Special Issue), 2008, S. 43–67; Ders.: Modern Systems Theory and World Politics, in: Ders., Cederman, Wendt (Hg.): Sys­ tems Theories (wie Anm. 102), S. 43–68, hier S. 52f. u. 55; Andreas Fischer-Lesca- no, Kolja Möller: Der Kampf um globale soziale Rechte. Zart wäre das Gröbste, Berlin 2012, S. 47–63. 106 Albert: Weltstaat (wie Anm. 105), S. 10. 107 Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung (Aus d. Engl. v. Thomas Atzert), Frankfurt/Main 2002, S. 13 [zuerst Cambridge, MA 2000]; Philip Pomper, Richard H. Elphick, Richard T. Vann (Hg.): Theorizing Empire (History and Theory 44/4), Middleton, MA 2005; Roland Robertson: Social Theory, Cul- tural Relativity and the Problem of Globality, in: Anthony B. King (Hg.): Culture, Globalization and the World-System, London 1991, S. 69–90, hier S. 77; Ders.: Globalization. Social Theory and Global Culture, London u. Thousand Oaks 1992, insbesondere S. 61–84 [Nachdrucke, 1993, 1994, 1996, 1996 u. 2000]. 126 Harald Kleinschmidt als „welthaft“ zu gelten­ habe.108 Weltgeschichte als die scheinbare historische Dimension der Weltgesellschaft ist folglich nichts anderes als eine Sammlung von Vor-Urteilen.109

V. Systemtheorie, Systemmodelle und Geschichte des Weltsystems Wie immer Weltgesellschaft definiert oder aufgefasst wird, ihr Begriff ist wie diejenigen des Weltsystems und des internationalen Systems auf der Grund- lage der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie

108 Alfred Heuss: Zur Theorie der Weltgeschichte, Berlin 1968; Ders.: Über die Schwierigkeit, Weltgeschichte zu schreiben, in: Saeculum 27 (1), 1976, S. 1–35, hier S. 3 u. 20–28. 109 So schon die Kritik an Heuß von Franz Hampl: Universalhistorische Betrachtungs- weise als Problem und Aufgabe, ihre Bedeutung in Theorie und Praxis der moder- nen Geschichtswissenschaft, in: Ders.: Geschichte als kritische Wissenschaft. Bd 1: Theorie der Geschichtswissenschaft und Universalgeschichte (Hg.: Ingomar Weiler), Innsbruck 1974, S. 132–181, hier S. 152. Jüngere Studien zur Methodologie der Weltgeschichte gehen auf die Problematik nur insoweit ein, als sie die Überwin- dung von Eurozentrismus in der Weltgeschichtsschreibung fordern. Dazu siehe Peter Gran: Beyond Eurocentrism. A New View of Modern World History, New York 1996. Die Anhänger der Global History umgehen diese Fragen, indem sie sich auf Interaktions- und Beziehungsgeschichte konzentrieren. Siehe Jeremy Martin Black: Introduction to Global Military History. 1775 to the Present Day, Abingdon u. New York 2005; Sebastian Conrad, Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Dies., Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Thesen, Ansätze, Themen, Frankfurt/Main 2007, S. 7–51; Sebastian Conrad: Globalgeschichte, München 2013; Michael Geyer: Ent- wicklungen in der Geschichtswissenschaft. Teil 2: Universal, Welt- und Globalge- schichte, Wien 1998; Theodor H. von Laue: World History, Cultural Relativism and the Global Future, in: Philip Pomper, Richard H. Elphick, Richard T. Vann (Hg.): World History, Oxford u. Malden, MA 1998, S. 217–233; Matthias Middell: World Orders in World Histories before and after World War I, in: Sebastian Conrad, Do- minic Sachsenmaier (Hg.): Competing Visions of World Order, New York 2007, S. 97–119, hier S. 103–107; Ders., Katja Naumann: Global History and the Spatial Turn. From Impacts of Area Studies to the Study of Critical Junctures of Globaliza- tion, in: Journal of Global History 5 (1), 2010, S. 149–170; Jürgen Osterhammel: Globalgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Rein- bek 32007, S. 592–610, hier S. 596 [zuerst Reinbek 1998]; Dietmar Rothermund: Globalgeschichte als Interaktionsgeschichte. Von der Außereuropäischen Geschichte zur Globalgeschichte, in: Ders.: Aneignung und Selbstbehauptung. Antworten auf die europäische Expansion, München 1999, S. 194–216. Repräsentanten 127 geformt. Diese Theorie erweist sich somit als folgenschwer für die Wahl der- jenigen Modelle, nach denen überstaatliche regionale, interregionale, kon- tinentale und globale systemische Ordnungsrahmen theoretisiert werden. Sie erlaubt nur das Modell, das der Biologie entnommen und vom lebenden Körper abstrahiert worden ist. Diese Einschränkung ist misslich, da derjenige Ordnungsrahmen, den dieses Modell begreiflich machen soll, in Europa erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert sowie andernorts in der Welt erst seit dem 20. Jahrhundert überhaupt bestanden hat. Ältere Ordnungsrahmen wa- ren hingegen mit Modellen wahrgenommen, die nicht der Biologie entnom- men worden waren. So entsteht mindestens für alle Systeme vor der Wende zum 19. Jahrhundert ein Widerspruch zwischen zeitgenössischen System- wahrnehmungen und retrospektiven Theorien, die diese vergangenen Systeme erfassen sollen. Dieser Widerspruch beeinträchtigt die Aussagekraft der retro- spektiven Systemtheorien. Er gilt bedauerlicherweise auch für Wallersteins Theorie des „Welt-Systems“, obwohl diese Theorie unter allen sozialwissen- schaftlichen Systemtheorien der am weitesten gehenden methodologischen und metatheoretischen Kritik unterzogen wurde.110 Da das auch Wallersteins

110 Unter vielen siehe: Janet Lippman Abu-Lughod: The World-System Perspective in the Construction of Economic History, in: Pomper, Elphick, Vann (Hg.): World His­ tory (wie Anm. 109), S. 69–80; Stanley Aronowitz: A Metatheoretical Critique of Wallerstein’s The Modern World System, in: Theory and Society 10 (4), 1981, S. 503–520, hier S. 504f. u. 511f.; Robert A. Dodgshon: The Early Modern World- System, in: Hans-Jürgen Nitz (Hg.): The Early Modern World-System in Geographic Perspective, Stuttgart 1993, S. 26–41, hier S. 27f.; Kajsa Ekholm: On the Limitati- ons of Civilization. The Structure and Dynamics of Global Systems, in: Dialectical Anthropology 5, 1980, S. 155–166, hier S. 155, 158 u. 161; Barry K. Gills: Inter- national Relations Theory and the Processes of World History, in: Hugh C. Dyer, Leon Mangasarian (Hg.): The Study of International Relations, New York 1989, S. 103–154, hier S. 127f. u. 140; W. L. Goldfrank: Wallerstein’s World-System. Roots and Contributions, in: Salvatore Babones, Christopher Chase-Dunn (Hg.): The Routledge Handbook of World-Systems Analysis, Abingdon u.a. 2012, S. 97–103; Stephen Hobden: International Relations and Historical Sociology, London 1998, S. 142–165; Anthony D. King: Spaces of Culture, Spaces of Knowledge, in: Ders. (Hg.): Culture, Globalization and the World-System, London 1991, S. 1–18, hier S. 4f. u. 10 [Nachdrucke: Basingstoke 1993; 1995; 1997; 1998; 2002; Minneapo- lis 2000; 2005; 2007]; Hans-Heinrich Nolte: Das Weltsystem-Konzept. Debatte und Forschung, in: Margarete Grandner, Dietmar Rothermund, Wolfgang Schwent- ker (Hg.): Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005, S. 115–138; Theda 128 Harald Kleinschmidt

Theorie des „Welt-Systems“ zugrunde liegende Systemmodell vor dem 19. Jahrhundert nicht existierte, muss Wallerstein es im Rahmen seiner Theo- rie älteren Systeme oktroyieren. Dieser Vorgang hat mit Notwendigkeit zur Folge, dass Wallerstein Systemwahrnehmungen nicht in Betracht ziehen kann, die zu älteren Systemen sowie zu der frühen Epochen seines „modernen Welt-Systems“ zeitgenössisch waren. Wallersteins und andere Systemtheorien sind sich daher auf die Wahrnehmungsgeschichte nicht anwendbar, sondern gründen in dem Postulat, dass vergangene Weltsysteme scheinbar objektiv belegte Tatsachen und an vorgeblich empirischen Daten erkennbar seien. An- gesichts des Umstands, dass in Wallersteins wie auch alle anderen Weltsystem- theorien nahezu ausschließlich aggregierte Daten Eingang fanden, ist dieses Postulat als allgemeine Theorievorgabe mindestens riskant. Denn es erlaubt keine Theoretisierungen von Systemen,­ die nach einem anderen als dem le- benden Körper modelliert wurden. Aber in Europa gab bis zwischen dem beginnenden 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts der Mechanizismus den Kontext für Systemtheorien ab,111 in China bis an das Ende des 19. Jahrhun- derts die Ethik.112 Zumal die ethische Kontextualisierung von Systemen hat zur Folge, dass der Verfolg ökonomischer Interessen als Letztgrund menschli- chen Handelns nicht, wie Theoretiker des Welt- und des internationalen Sys­ tems fordern,113 als apriorische Kategorie angenommen werden kann. Damit geraten Systemtheorien und Kategorien der Wahrnehmung des Handelns in Konflikt zueinander. Der Oktroi von Begriff und Modell des Welt- oder internationalen Systems auf vergangene Systeme ist zwar selbstverständlich legitim, aber nur nützlich, wenn er zur Erweiterung von Erkenntnismöglichkeiten führt. Die E­ rfüllbarkeit dieser Bedingung ist aber im Allgemeinen unsicher und im speziellen Fall des chinesischen Weltsystems von vornherein nicht gegeben, da die diesem

Skocpol: Wallerstein’s World Capitalist System. A Theoretical and Historical Critique, in: American Journal of Sociology 82 (5), 1977, S. 1075–1090, hier S. 1076–1078. 111 Siehe oben, Abschnitt I. 112 Ju-Jia Ou: Zhì xīn bào 38, 1897, S. 444f. [Teilübersetzung in: Rune Svarverud: Inter- national Law and World Order in Late Imperial China. Translations, Reception and Discourse, 1840–1911, Leiden 2007, S. 202]. 113 Wallerstein: Modern World-System. Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 347 u. ö.; ähnlich: Frank, Gills: World System (wie Anm. 44), S. 3. Repräsentanten 129

­System inhärenten Hierarchien nicht in Kategorien der Wirtschaft,114 sondern des durch das normative herrschaftliche Zeremoniell geprägten politischen Handelns ruhten, und zwar noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.115 Mit Bezug auf Europa führt der Oktroi zu Annahmen vermeintlicher „Eigenschaf- ten“ von Systemen, die weder im Rahmen der allgemeinen Systemtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts noch an detaillierten Beschreibungen derselben Zeit- spanne belegbar sind. So schreibt Wallerstein seinem „modernen Welt-System“ bereits für das 16., 17. und 18. Jahrhundert das Streben nach „unaufhörlicher Kapitalakkumulati- on“ durch die systemrelevanten Akteure zu.116 Gleichwohl akkumulierten die Fernhandelsgesellschaften, nach Wallerstein während des 17. und 18. Jahr- hunderts systemische Akteure, kein Kapital über den eigenen Bedarf hinaus, sondern zahlten ihre Anteilseigner aus. Die Anteilseigner der Niederländischen Ostindischen Kompanie (VOC) wiederum nutzten das ihnen zufließende Ka- pital, die zeittypischen Handlungswiesen adliger Herrschaftsträger imitierend, in erster Linie für die Repräsentation. Die Anteilseigner der englischen Ostin- dischen Kompanie (EIC) verfolgten spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhun- derts mit dem Einsatz ihres Kapitals Ziele der Errichtung politischer Herrschaft in Südasien und zeigten sich bereit, in Kooperation mit der britischen Regie- rung den Verfolg kommerzieller Ziele, beispielsweise durch den Opiumhandel, in den Dienst der Erwerbung von Herrschaftstiteln zu stellen. Wallersteins wei- tere Behauptung, dass der Handel mit Gütern des täglichen Gebrauchs system- relevant habe gewesen sein müssen, gilt nur für Beziehungen zwischen Afrika und Amerika (Sklavenhandel) sowie zwischen Amerika und Europa (Koloni- alwarenhandel), nicht aber für Wallersteins „Welt-System“ als Ganzes. Denn die Handelsbeziehungen zwischen Asien und Europa waren, wie Wallerstein sehr gut weiß, auf den Import von Luxusgütern und Edelmetallen nach Eur- opa gegründet. Dieser Handel erbrachte, im Gegensatz zum transatlantischen Handel, hohe Gewinne, war aber nach Wallersteins Kriterien nicht systemrele- vant. Schließlich berücksichtigt Wallerstein nicht, dass die VOC und die EIC

114 Wallerstein: States (wie Anm. 63), hier S. 747f.; Ders.: World-Systems Analysis (wie Anm. 64), S. 101. 115 Yen-Ping Hao, Erh-Min Wang: Changing Chinese Views of Western Relations. 1840–95, in: Denis Twitchett, John King Fairbank (Hg.): The Cambridge History of China. Bd. 11: Late Ch’ing. 1800–1911. Teil 2, Cambridge 1980, S. 142–201, hier S. 154; Kleinschmidt: Geschichte (wie Anm. 55), S. 306–311. 116 Wallerstein: World System (wie Anm. 50), S. 294f. 130 Harald Kleinschmidt als die einflussreichsten Fernhandelsgesellschaften von den Regierungen ihrer beiden Heimatstaaten Privilegien erhalten hatten, die sie in Gebieten außerhalb Europas als Akteure im Sinn des damals gültigen Rechts zwischen den Staaten konstituierten. Beide Fernhandelsgesellschaften erkannten mit diesen Privilegi- en den Grundsatz des herrschaftlich geregelten Handels an und untermauerten diese Anerkennung durch den Abschluss zahlreicher zwischenstaatlicher Ver- träge mit Herrschern und Regierungen derjenigen Staaten außerhalb Europas, in denen sie Handel trieben.117 Damit unterwarfen sie sich dem Primat der Politik und des Rechts. Wallerstein jedoch zieht Normen als Bedingungen des systemischen Handelns überhaupt nicht in Betracht, obwohl Anhänger seiner Theorie des „modernen Welt-Systems“ Max Webers Begriff des sozialen Han- delns übernehmen.118 Wallersteins Theorie bleibt hingegen anwendbar auf den Manchester-Kapitalismus, den Finanzkapitalismus und was aus beiden bis heu- te gefolgt ist, selbst wenn unklar bleibt, welche Aussage die Marx’sche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise für Wallersteins Theorie des „modernen Welt-Systems“ liefern soll. Denn anders als Marx es forderte, sollen bei Wal- lerstein die aus dieser Produktionsweise resultierenden Spannungen nicht zur Überwindung der Produktionsweise führen, sondern erforderlich sein zur Er- haltung des „modernen Welt-Systems“ und der darin angeblich enthaltenen Bestandteile. Hinzu kommt, dass Wallerstein wie auch die meisten übrigen Theoretiker des Weltsystems, des internationalen Systems und der Weltgesellschaft sich zwar in das in den 1970er Jahren vielerorts betriebene Großprojekt der Erfor- schung des sozialen Wandels119 einklinken, aber keine theorierelevanten Erklä- rungen zum Systemwandel anbieten.120 So bleibt die oft im Hintergrund dieser

117 Belege in Kleinschmidt: Geschichte (wie Anm. 55), S. 156–158. 118 Terence K. Hopkins: World-Systems Analysis. Methodological Issues, in: Ders., Wal- lerstein (Hg.): World-Systems Analysis (wie Anm. 54), S. 145–158, hier S. 148. 119 Dazu stellvertretend für viele Wolfgang Zapf: Theorien des sozialer Wandels, Köln 1969 [2. Aufl. 1970; 3. Aufl. 1971; 4. Aufl. Königstein 1979]. 120 Dazu siehe: Barry Gordon Buzan, R. J. Barry Jones (Hg.): Change and the S­ tudy of International Relations. The Evaded Dimension, New York 1981; Jonathan ­Friedman, Michael J. Rowlands (Hg.): The Evolution of Social Systems, London 1977; Richard L. Haines: A Century of Systems Change, in: LeRoy Graymer (Hg.): Systems and Actors in International Politics, Scranton 1971, S. 31–64, hier S. 33, 43, 56f. u. 62f.; Ole Rudolph Holsti, Randolph M. Siverson, Alexander L. George (Hg.): Change in the International System, Boulder 1980; Fred T. Plog: The Study Repräsentanten 131

Theorien aufscheinende Aussage, die Theorien sollten der Erklärung sozialen Wandels dienen, selbst untertheoretisiert. Hingegen lässt Wallerstein sein „mo- dernes Welt-System“ beginnen mit dem, was gelegentlich als Anfang der „euro- päischen Expansion“ gesetzt wird.121 Dass die mit dieser Vokabel bezeichneten Vorgänge im Wandel vom 15. zum 16. Jahrhunderts weder systemisch waren noch sein konnten, da das „moderne Welt-System“ eben gerade erst entstan- den sein soll, weiß Wallerstein. Aber er zieht aus diesem Wissen keine Konse- quenzen für die Theoriebildung. Denn wenn sein „modernes Welt-System“ aus außersystemischen Faktoren resultierte, müssen Verbindungsstränge zwischen diesem und älteren Systemen bestanden haben. Diese Verbindungsstränge blei- ben aber bei Wallerstein unerwähnt. So übersieht er zunächst, dass, abgese- hen vom transatlantischen Handel, alle systemisch relevanten „Eigenschaften“ seines „modernen Welt-Systems“ des 16. bis 18. Jahrhunderts bereits in der arabischen Kultur spätestens während des 13. Jahrhunderts vorhanden waren und von dort aus große Teile der trikontinentalen Landmasse von Afrika, Asien und Europa erfassten.122 Diese Landmasse war, wie zeitgenössischen Karten er- weisen, als „Welt“ wahrgenommen.123 Zudem war der Indische Ozean zwischen dem 11. und dem frühen 16. Jahrhundert das am häufigsten genutzte maritime Handelsnetzwerk überhaupt.124

of Prehistoric Change, New York u. London 1974; Colin Renfrew: The Explanation of Culture Change, Gloucester 1973; Ders., Michael J. Rowlands, Barbara Abbott Segraves (Hg.): Theory and Explanation in Archaeology, New York u. London 1982; Michael Shanks, Christopher Tilley: Social Theory and Archaeology, Cambridge 1987, S. 32–34. 121 Beispielsweise Wolfgang Reinhard: Geschichte der europäischen Expansion. 4 Bde., Stuttgart 1983–1990; Eberhard Schmitt: Forschungsstelle Geschichte der europä- ischen Expansion in der Frühen Neuzeit, Bamberg 2002. 122 Janet Lippman Abu-Lughod: Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350, New York u. Oxford 1989. Wallerstein hat diese Kritik anerkannt und einschlägige frühere Formulierungen zurückgenommen; vgl. Immanuel Maurice Wallerstein: The West, Capitalism and the Modern Welt-System, in: Review [Bing- hamton] 15 (4), 1992, S. 561–619; Ders., Modern World-System. Bd. 4 (wie Anm. 73), S. XIII. 123 Die Weltinsel in der Darstellung des Muhammad al-‘Adlūni al-Idrīsī, 12. Jahrhun- dert, Oxford, Bodleian Library, Ms Pococke 375, fol. 3v-4r. 124 Hubert Neville Chittick: Kilwa. A Preliminary Report, in: Azania 1, 1966, S. 1–36; Ders.: Discoveries in Lamu Archipelago, in: Azania 2, 1967, S. 37–67; Ders.: Kilwa. An Islamic Trading City on the East African Coast, 2 Bde., Nairobi 1974; Ders.: East 132 Harald Kleinschmidt

Wallersteins Verzicht auf Theoretisierung des Wandels bei gleichzeitiger Erkenntnis des Gewordenseins und der Vergänglichkeit des „modernen Welt- Systems“ ist nur erklärbar aus der Übernahme des Systembegriffs der struktural- funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie, die Systemen die angeblich diesen inhärente Fähigkeit zur Bewahrung des eigenen Bestands zu- schrieb125 und folglich Systemwandel außer Betracht ließ. Gleichwohl ist ohne Einbezug von Wandel in die Systemtheorie die Unterscheidung zwischen in- trasystemischem und Systemwandel nicht theoretisierbar, sondern Genese und Ende eines Systems können nur intuitiv beobachtet, nicht aber erklärt werden. Denn es bleibt im Rahmen der Theorie offen, welche empirisch belegbaren Ver- änderungen, beispielsweise in der Produktionsweise im Sinn Wallersteins oder eben auch der von ihm nicht berücksichtigten Wahrnehmungsweisen, welche „Strukturen“ eines Systems in welcher Weise angreifen und gegebenenfalls zum Kollaps des Systems führen. Der Gesamtkomplex der, Marxisch gesprochen, Produktionsweisen, die dem Kapitalismus vorangehen, wie auch die von der marxistischen Forschung getroffene Unterscheidung zwischen frühbürgerlicher und bürgerlicher Revolution126 hätten in Wallersteins Theorie des „modernen Welt-Systems“ einfließen müssen. Wallerstein versucht, sich aus dieser Klemme zu befreien, indem er in die Sprachtheorie flüchtet. In seiner Gegenkritik gegen Einwände von Seiten der Dependencia-Theoretiker trägt er die halsbrecherische semantische These vor, dass der Bindestrich einen einheitlichen Begriff konstituiere.127 Dabei geht er aus von der ohne Bindestrich nur im Englischen möglichen Verwendung ei- nes Nomens als Attribut eines anderen Nomens, ohne Zusammenfügung der beiden Nomina in ein Kompositum und ohne dass das erste Nomen morpho- logischen Veränderungen unterworfen wird. In dieser attributiven Verbindung bedeute die Phrase „world system“, dass „world is attribute to system“, mithin wäre

Africa and the Orient. Cultural Synthesis in Pre-Colonial Times, New York 1975; Michael Naylor Pearson: The Indian Ocean, London u. New York 2003; Roderich Ptak: China and the Asian Seas. Trade, Travel and Visions of the Other (1400–1750), Aldershot 1998. 125 Parsons: Social System (wie Anm. 39), S. 481f. 126 Gerhard Brendler (Hg.): Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin (West) 1961; Max Steinmetz (Hg.): Die Frühbürgerliche Revolution in Deutsch- land, Berlin (Ost) 1985; Rainer Wohlfeil (Hg.): Reformation oder frühbürgerliche Revolution, München 1972. 127 Wallerstein: World System (wie Anm. 50), S. 294f. Repräsentanten 133

„world system“ als „System der Welt“ zu übersetzen. Demgegenüber verbinde die von Wallerstein ausschließlich gebrauchte, von Chase-Dunn übernomme- ne, Bindestrichphrase „world-system“ zwei Wörter in einen Zusammenhang. In dieser Phrase sei ein System bezeichnet „that is a world“, und diese Aussage sei allein angemessen.128 Diese Bindestrich-These ist nur für das Englische nach- vollziehbar, da andere Sprachen die Zusammenfügung zweier Nomen in einen syntaktischen Zusammenhang ohne Bindestrich und ohne Kompositumbil- dung nicht ermöglichen. Wallersteins These entbehrt aber auch für das Engli- sche jeder Logik. Denn der Bindestrich verkürzt im Englischen wie in anderen Sprachen, die ihn erlauben, lediglich die syntaktisch etwas längere Verbindung eines Nomens mit einem Genitivattribut, da zwei durch Bindestrich verbun- dene Wörter gerade kein Kompositum bilden. Auch „world-system“ kann folg- lich mit „System der Welt“ wiedergegeben werden, das heißt, beide Phrasen können ein auf die Welt bezogenes oder ein als Welt wahrgenommenes System bezeichnen. Wo Sprache Beziehungen oder Wahrnehmungen thematisiert, be- hauptet Wallerstein mithin Identität. Dass ein System Welt „sei“, nicht aber nur repräsentiere, kann indes nur behaupten, wer sich konsequent in den Vor- gaben der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheo- rie bewegt. Im Rahmen der Geschichte des Weltsystems leistet Wallersteins Theorie also wertvolle Dienste für Beschreibungen und Erklärungen zum 19. und 20. Jahr- hundert sowie zur Gegenwartsanalyse. Für ältere Systeme sollte Wallersteins Theorie erweitert werden um Aspekte der Wahrnehmungsgeschichte. Dass dies möglich ist, hat nach einigen früheren Studien129 insbesondere Hans-Heinrich Noltes Übersicht über Imperien, Religionen und Systeme zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert130 eindrucksvoll belegt.

128 Ebd. 129 Richard B. Elrod: The Concert of Europe. A Fresh Look at an International System, in: World Politics 28 (2), 1972, S. 159–174, hier S. 170f.; Peter Krüger (Hg.): Kon- tinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit, Marburg 1991. 130 Nolte: Weltgeschichte (wie Anm. 55). Dazu siehe auch Ders. (Hg.): Weltsystem und Geschichte, Göttingen 1985; Ders.: Weltsystemkonzept, in: Michael Geyer (Hg.): Neue Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft. Teil 2: Universal-, Welt- und Globalgeschichte, Wien 1998, S. 11–20; Ders.: Weltsystem-Konzept (wie Anm. 110), S. 115–138. Rezensionen

Friedrich Jaeger (Hg. im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 15. Wissen – Zyklizität. Nachträge, Stuttgart: J. B. Metzler, 2012, XXII S., 1228 Sp.; Bd. 16. Register, Stuttgart: J. B. Metzler, 2012, XI S., 1220 Sp., ISBN der Gesamtausgabe 978-3-476-01935-6 2007 habe ich in dieser Zeitschrift (Jg. 8, H. 1., S. 200–203) die ersten vier Bände der Enzyklopädie der Neuzeit (EdN) vorgestellt. Die Enzyklopädie liegt inzwischen in 16 Bänden vor (einschließlich des Registers) und ist zum zentra- len Nachschlagewerk für westeuropäische Geschichte in der Periode zwischen 1450 und 1850 geworden. Sie geht von diesem Standort aus, berücksichtigt aber Interaktionen mit außereuropäischen Weltregionen und ist für Weltgeschichte weiter deshalb einschlägig, weil jeweils größere Lemmata auch außer- oder osteu- ropäische Geschichte vorstellen. Dieses Fachgebiet „Globale Interaktion“ wurde von Helmut Bley, Hans-Joachim König, Stefan Rinke und Kirsten Rüther her- ausgegeben, also mit besonderer Fachkompetenz für Afrika und Lateinamerika. Das Fachgebiet „Globale Interaktion“ ist eines unter zehn – die anderen neun: „Staat, politische Herrschaft und internationales Staatensystem“; „Recht und Verfassung“; „Lebensformen und sozialer Wandel“; „Wirtschaft“; „Na- turwissenschaften und Medizin“; „Bildung, Kultur und Kommunikation“; „Kirchen und religiöse Kultur“; „Literatur, Kunst und Musik“; „Umwelt und technischer Wandel“. 2010 habe ich ebenfalls in dieser Zeitschrift (Jg. 11, H. 1, S. 173–204, hier S. 179f.) im Kontext meines Reviews zur Geschichte Russlands vom 16. Jahr- hundert bis 1917 auf den von Karl-Christian Felmy herausgegebenen Teil „Orthodoxe Kirchen“ verwiesen sowie auf das von mir betreute Teilfachgebiet „Osteuropäische Welt“, besonders auf das Lemma „Osteuropäische ­Wirtschaft“ von Dariusz Adamczyk und den von ihm verwendeten Begriff der Rückstän- digkeit. Hier ist der Abschluss der EdN anzukündigen. Aufbau und Vielfalt der Informationen werden an dem Lemma „Wissen“ noch einmal deutlich. Der Komplex „Wissen“ ist in dreizehn Lemmata unterteilt, von „globaler Wissens- austausch“ bis zu „Wissensvisualisierung“, von „Wissenschaftliche Revolution“ bis zu „außereuropäische Wissenssysteme“. Der Komplex zieht sich über 182 Spalten hin. An den Texten sind 17 Autorinnen und Autoren beteiligt (eini- ge mehrfach), 18 Skizzen und Bilder visualisieren die Aussagen. Das Lemma „außereuropäische Wissenssysteme“ (Spalten 131–167) z.B. hat Abteilungen 186 Rezensionen für Islam, Südasien, China und Japan, die von Hans-Joachim König, Stefan Reichmuth, Dhruv Raina, Achim Mittag und Regine Matthias stammen; die Abbildung einer arabischen Darstellung des kopernikanischen Sonnensystems aus dem Jahr 1810 macht das Thema anschaulich. In seiner Einleitung schreibt König (Spalte 131), dass der „Blick auf die Leistungen von außereuropäischen Zivilisationen“ durch das europäische Überlegenheitsgefühl lange verstellt wa- ren; die folgenden Beiträge tragen in der Tat dazu bei, die „Eigenwertigkeit von außereuropäischen Entwicklungen“ (Spalte 132) in jeweils sehr genauen, durch Quellen belegten und in der Sekundärliteratur diskutierten Texten deutlich zu machen. Für Forschung und Lehre ist mit der Enzyklopädie ein umfangreiches und verlässliches Nachschlage- und Lesewerk entstanden. Man kann sich über die Weltregion Westeuropa bis ins Einzelne informieren, was für Forschungen so- wohl zu Vergleichen als auch zu Interaktionen von zentraler Bedeutung ist. Es ist bekanntlich sehr zeitaufwändig, für zwei Weltregionen kompetent zu wer- den (von mehreren zu schweigen). Aus der EdN kann man einen zuverlässi- gen Eindruck gewinnen, welches Bild des Gegenstands und welcher Stand der Forschung zu Westeuropa verbreitet sind. Im Lemma „Zauberei“ z.B. schreibt Thomas Kuhn über die Entwicklung des „abendländischen Zauberei-Begriffs“ (Spalte 315) und Michael Ströhmer über Zauberei als Straftat; will man die Stellung z. B. von Schamanismus und magischen Praktiken in Sibirien für ei- nen Leser in Westeuropa deutlich machen, ist man gut beraten, sich in der EdN und über die dort angegebene Literatur knapp darüber zu informieren, was Zauberei in Westeuropa war. Die Eignung für Studien zu Vergleich und Interaktion mit außereuropäischen Weltregionen hat im Verlauf des Erscheinens der Bände deutlich zugenommen. Der Gesamtherausgeber hat diese Änderung der wissenschaftlichen Aufmerk- samkeit gefördert und die Herausgeber des Fachgebiets „Globale Interaktion“ haben dazu in Konferenzen und Gesprächen beigetragen. Die Herausgeber für das Fachgebiet „Staat, politische Herrschaft und Internationales System“, Horst Carl und Christoph Kampmann, nennen das „einen ‚nichtnormativen‘ europä- ischen Fokus“ (Spalte 922). Auch wenn nicht in allen einschlägigen Lemmata die über Europa hinausweisenden Bezüge aufgenommen sind – die Tendenz macht die im letzten Jahrzehnt gewachsene Bedeutung der Welt- und Global- Geschichte deutlich. So ist ein für die Forschung zur Frühen Neuzeit unum- gängliches Nachschlagewerk entstanden. Hans-Heinrich Nolte Rezensionen 187

Andrea Komlosy: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien u.a.: Böhlau UTB, 2011, 276 S. (davon 10 Seiten Literatur), ISBN 978-3-8252-3564-2 Der Band ist als Einführung in die Globalgeschichte konzipiert, die, wie der Titel ankündigt, sowohl Theorien als auch Methoden des Faches abdecken soll. Die zentrale Fragestellung, die dem Buch als Leitfaden dient, lautet: „Was macht eine Frage zu einer globalgeschichtlich relevanten, und worin besteht der spezifisch globalhistorische Zugang?“ (S. 15). Dabei entscheidet sich Andrea Komlosy für eine „problemorientierte Gliederung“, die eher einen systematischen Problem- aufriss als einen erschöpfenden Theorieüberblick geben soll. Eine kurze Ein- führung zu Globalgeschichte als Methode samt der Problematisierung von Eurozentrismus und Universalismus werden gefolgt von einer Diskussion der globalgeschichtlichen Aufgabe der Grundkategorien von Raum und Zeit bei der Einordnung und Analyse ungleicher Entwicklung (Teil 2), einer Analyse globaler Interdependenzen am Beispiel von Güterproduktion, Arbeitsverhält- nissen und kultureller Orientierung (Teil 3) und schließlich der Frage nach der adäquaten räumlichen Einheit für die Untersuchung globaler interaktiver Prozesse (Teil 4). Der Aufbau des Buches entspricht damit bereits seinem di- daktischen Sinn, indem er im Ganzen als Beispiel für eine globalgeschichtliche Herangehensweise dient. Hilfreiche Begriffsklärungen und -differenzierungen – von der scheinbar ba- nalen, aber für Lehrzwecke ungeheuer dienlichen Unterscheidung von „staa- tenübergreifend (transnational)“ und „staatenverbindend (international)“ bis hin zu den komplexen Machtverhältnissen, die regionale Ungleichheiten als Rückständigkeit, Peripherisierung oder nachholende Entwicklung erscheinen lassen – ziehen sich durch die theoretische und methodische Diskussion. Die zahlreichen Tabellen und selbst gezeichneten Abbildungen veranschaulichen zusätzlich die vorgenommenen Kategorisierungen, Begriffsneuschöpfungen und Abgrenzungen von älteren oder konkurrierenden Ansätzen. Eine Stärke des Buches ist die konsequente Differenzierung zwischen histo- rischen Erfahrungen und Entwicklungswegen innerhalb Europas und die da- mit zusammenhängende, systematische Berücksichtigung Osteuropas bei der Analyse globalgeschichtlicher Zusammenhänge. Dies ist für die Arbeiten An- drea Komlosys seit langem charakteristisch. Im Kontext einer an Studierende gerichteten Einführung in die Globalgeschichte ist die regelmäßige Einbezie- hung osteuropäischer Zusammenhänge aber aus mindestens zwei Gründen be- sonders wichtig: Zum einen ermöglicht sie eine differenzierte Sichtweise auf 188 Rezensionen die Eurozentrismus-Kritik, die damit nicht lediglich auf die Provinzialisierung Europas, die postkoloniale Ansätze eingefordert hatten, reduziert wird, sondern gleich als Regionalisierung Westeuropas theoretisch und methodisch verankert wird. In besonderer Weise gelingt dies in dem vorliegenden Buch anhand der Periodisierung der Entwicklungen in der Textilindustrie aus einer „­multifokalen Perspektive“, die den unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen in ­verschiedenen Weltregionen und deren Verschränkungen Rechnung trägt und die das ­bisher üb- liche Epochenschema, das aus einer eurozentrischen Perspektive heraus um den Industriebegriff herum gebildet wurde, ersetzen soll. Aus „vor-industriell“ wird dadurch „handwerklich“ und aus „industriell“ wird „(fabrik)industriell“ (S. 141); Begriffe wie „wissensbasiert“ anstatt „post-industriell“ bringen wieder­ um die Nach- teile weiterer Hierarchisierungen mit sich, sind aber hilfr­ eiche ­Erweiterungen. Zum anderen trägt der Lehrbuchcharakter dazu bei, diese Differenzierung als eine notwendige festzuschreiben und damit nicht mehr als originellen Zugang einer Autorin zu behandeln, sondern als eine unabdingbare globalgeschichtliche Perspektivierung Europas samt seiner „inneren Peripherien“ umzusetzen. Das Buch macht jedoch auch Spannungen zwischen globalgeschichtlichen und postkolonialen Perspektiven deutlich – etwa dann, wenn die postkoloniale These der Erfindung der Alterität Osteuropas unter Verweis auf politische und wirtschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse entschieden zurückgewiesen wird (S. 153). Eine diesbezüglich konstruktive Debatte würde sicherlich für beide Ansätze einen Gewinn darstellen. Wenn jedoch im Hinblick auf die kon- struierte Differenz zwischen west- und außereuropäischen Regionen konstatiert wird, dass der im 19. Jahrhundert vorherrschende Rassismus nach der Entko- lonisierung durch das Entwicklungsdenken ersetzt worden wäre (S. 151), wird deutlich, dass globalgeschichtliche Zugänge weiterhin ein starkes Defizit in der Auseinandersetzung mit Prozessen der Rassisierung und Ethnisierung außerhalb wie innerhalb Europas aufweisen – obwohl diese Phänomene nicht nur von postkolonialen, sondern seit geraumer Zeit auch von weltsystemanalytischen und kulturanthropologischen Ansätzen aufgegriffen und ausgearbeitet werden. Insgesamt ist das verständlich und anschaulich geschriebene Lehrbuch nicht nur eine gelungene Einführung. Dank dem Aufbrechen mancher konzeptionel- ler und methodischer Selbstverständlichkeiten der im deutschsprachigen Raum noch stark national orientierten Geschichts- und Sozialwissenschaften ist es ein Muss für Studierende und Lehrende von Globalgeschichte, historisch-verglei- chender Soziologie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Weltsystemanalyse. Manuela Boatcă Rezensionen 189

Michael Gehler, Robert Rollinger (Hg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte – Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Teil 1 und 2, Wiesbaden: Harrassowitz, 2014, 1762 S., ISBN 978-3-447-06567-2 Was ist ein Imperium und welche Rolle spielen und spielten Imperien in der Weltgeschichte? Das Thema ist nicht nur im universitären Bereich hochaktuell – Hintergrund sind die vielfach unerwarteten Machtverschiebungen der jüngeren Vergangenheit wie etwa das Ende des Kalten Krieges, die wirtschaftlichen Auf- stiege Chinas und Indiens, die zunehmende Bedeutung der EU oder Russlands neuere Großmachtambitionen. Hinterfragt wird vor allem die Rolle der USA: einzig verbliebener Hegemon oder gescheitertes – bzw. werdendes – Imperium? Die Herausgeber organisierten 2010 in Hildesheim zu dieser Thematik die Konferenz „Großreiche und Imperien der Weltgeschichte“, und die Beiträge der 60 teilnehmenden Historiker, Politologen und Soziologen (darunter auch fünf Frauen) bilden die Grundlage des Buches. Auf 1762 (!) Seiten gelingt es den Herausgebern, die komplexe Themen- stellung umfassend anzugehen, ohne den roten Faden zu verlieren. Untersucht werden „Reiche und Imperien“ vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis heute auf allen Kontinenten (außer Australien). Gleichzeitig wird das begriffliche Handwerks- zeug unter die Lupe genommen: Es gilt, Imperien von Groß-, Super-, Welt- und Hegemonialmächten, Reichen und Weltreichen abzugrenzen. Einleitung und Ausgangspunkt ist die Vorstellung der aktuellen, vor allem von Münkler initiierten Terminologiedebatte zum Kernbegriff „Imperium“. Detailliert werden vor allem die Kriterien von Osterhammel, Münkler, Doyle, Nolte, Hardt und Negri sowie Menzel vorgestellt. Es geht um Definitionen (von Nolte auch als „Universalien“ bezeichnet, d.h. historisch verortete, aber epochenübergreifende Bedingungen wie monarchische Spitze oder Staats- religion), um Abgrenzungen (Münkler z.B. gegen Hegemonialmächte oder Nationalstaaten) und um die Legitimation (Frieden, Wohlfahrt). Schlüssel- begriffe sind die augusteische Wende (Doyle), d.h. eine postulierte Konso- lidierungs- und Friedensphase nach einer Phase der Eroberungen sowie der imperial overstretch (Paul Kennedy), die Überforderung der Ressourcen des Systems, die letztendlich zu Niedergang oder sogar Zusammenbruch führt. Ein hermeneutisches Problem sehen die Herausgeber zu Recht in dem mög- lichen Zirkelschluss, Analysekriterien aus solchen Staatsformen gewinnen zu können, die bereits im Vorfeld in die Kategorie „Imperium“ einsortiert wur- den. Die vergleichende Arbeit mit einem breiten Spektrum an Beispielen sollte die Analysekategorien stärker objektivieren. Hierzu galt es, die Beiträge der 190 Rezensionen

Tagung auf der Basis einheitlicher Untersuchungskriterien zu verfassen, um anschließend die Ergebnisse vergleichen zu können. Ausgehend von der „Re- algeschichte“ – vornehmlich die res gestae der Herrscher – sollten Struktur (etwa Verwaltungsinstitutionen, Handel, Außenpolitik) sowie Rezeption und Nachleben analysiert werden. Dass sich die die meisten Autor(inn)en an die Vorgaben gehalten haben, zeigt das große Interesse an der Fragestellung; vielfach wird der Begriff „­Imperium“ bereits im Titel mit Frage- oder Anführungszeichen versehen. Band 1 bietet Beiträge für das Altertum sowie das Mittelalter und die frühe Neuzeit, in Band 2 geht es um neuzeitliche Imperien, aber auch noch einmal um Aspekte der Theorie und um die Darstellung in Kunst und Architektur. Alle Beiträge zu würdigen, ist unmöglich. Einige seien jedoch vorgestellt, wenngleich zugegebenermaßen subjektiv ausgewählt. Dass ein Imperium bereits avant la lettre (wie Rollinger es formuliert) den heutigen Kriterien entsprechen kann, zeigt u.a. Radners Beitrag zum Neuassy- rischen Imperium (9. bis 7. Jh. v. Chr.). Von einer Regional-, später Hegional- macht expandierte Neuassyrien zu einem territorialen Imperium, das im 7. Jh. einen großen Teil Vorderasiens, zeitweise einschließlich Ägyptens beherrschte. Gleichzeitig war es die Wirtschaftsmacht seiner Zeit. Ob es sich dabei um ein Kriegsimperium handelte, bleibt umstritten. Tatsache ist, dass die Herrscher flexibel und geschickt mit den eroberten Provinzen umgingen – sie wurden je nach Bedarf geteilt oder vereinigt, lokale Dynastien zumeist ausgeschaltet. Fer- ner gab es eine effektive Administration auf der Basis einer alten Schriftkultur sowie dank guter Infrastruktur eine „high-speed communication“ (S. 105) zwi- schen König und Gouverneuren. Das Nachleben betreffend weist die Autorin u.a. auf die Niederlage Sanheribs vor Jerusalem in der biblischen Darstellung hin. Ruffing zeigt in seinem Beitrag zu Rom, dem paradigmatischen Imperium schlechthin, die Begriffsproblematik in aller Schärfe. Entsprechend der ur- sprünglichen Wortbedeutung von imperium = „militärische Kommandogewalt“ (S. 406), basiere die Herrschaft der Imperatoren auf dem Militär. Die Bezeich- nung „Kaiser“ sei falsch und habe ihren Grund in der Rom-Rezeption des Mit- telalters und der frühen Neuzeit, die das Imperium Romanum in die christliche Vier-Reiche-Lehre einbinden wollte. So konnten sich die unterschiedlichsten staatlichen Gebilde an Rom „bedienen“ (S. 402). Der Beitrag von Hinz besticht vor allem durch seinen Abschnitt über „­imaginierte Rezeptionen“ (S. 793–806). Er illustriert sie mit dem Ursprungs- mythos der Azteken, einer Sage, in welcher der Gott Huitzilopochtli ihnen als Rezensionen 191

Ziel einer langen Wanderschaft einen Ort versprochen hatte, an dem auf einem Kaktus ein Adler eine Schlage frisst. Dies erinnere an die Wanderung der Israe- liten ins gelobte Land – und tatsächlich nimmt man an, dass der Mythos erst nach der Evangelisierung der Azteken entstand. Hinz nennt weitere Beispiele, die auch Cortés als reconstructing history entlarven. Auf Gehlers Beitrag zur EU sei verwiesen, da hier, wie er selbst sagt, wissen- schaftlich „Neuland“ (S. 1266) betreten wird. Es handelt sich bei der Europä- ischen Union um ein noch existierendes Gebilde (wobei das allerdings auch für die USA und Russland gilt), und es liegen noch kaum entsprechende For- schungen vor. Relevant für seine Analyse ist Poseners Hinweis, dass es keinen demos auf europäischer Ebene gebe, hier also ein „Imperium ohne Volk“ vorliege (S. 1272).1 Last but not least (durchaus wörtlich gemeint) beleben die Theoriebei- träge des 5. Kapitels neuerlich die Diskussion: Leitner erinnert daran, dass Geschichts- und Politik- bzw. Sozialwissenschaftler(innen) einen unterschiedli- chen Zugang zur Thematik haben: Für die Geschichte sind Imperien Fallstudi- en, politische Körper, für die Politologen theoretische Generalisierungen, d.h. politische Organismen. Leitners Ziel ist es, imperiale Strukturen und Prozesse als imperialen Gesamtorganismus (vergleichbar einem Hefeteig) zu analysieren. Pittl überprüft kritisch (und mutig) die Kriterienkataloge Münklers und Osterhammels zum Imperium Romanum; sie kommt durchaus nachvollzieh- bar zu dem Schluss, dass einige Kriterien, so z.B. die oft zitierte augusteische Schwelle, zu streichen sind. Menzel erarbeitet eine klar strukturierte Unterscheidung der Idealtypen von Imperium und Hegemonie, wobei der Subtext der Typologie am Ende eindeu- tig eine positivere Einschätzung der Hegemonien ist. Einen weiteren anregenden Beitrag bietet Lekon, der von Luhmanns und Giddens Systemtheorien zur Beschreibung der Imperien vormoderner Gesell- schaften ausgeht. Während es sich hier um eine class-divided society (binärer Code Zentrum / Adel / Wohlstand vs. Umland / Restbevölkerung / Unterpri- vilegierung) handele, veränderten Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit die Codierung. Jetzt gehe es um Zentrum vs. Peripherie und Adelsbildung vs. ge- wöhnliches Volk. In der Spannung zwischen den beiden Codes sieht Lekon die Ursache für einen Teil der Probleme moderner Politik.

1 Vgl. Alan Posener: Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss, München 2007. 192 Rezensionen

Bemerkenswert ist die Sorgfalt der Lektorierung – orthographische Flüchtig- keiten muss man suchen (allerdings hätte der Beitrag von Chrysos eine zweite Durchsicht verdient gehabt und bei Jansen-Winkeln stimmt die Zählung der Abbildungen nicht). Der anvisierte Leser bzw. die Leserin sind neben den Wissenschaftler(inn)en zweifellos auch der interessierte Laie und die Laiin, welche in Teil 1 (alte Ge- schichte und Antike) sicher auf weniger Basiskenntnisse zurückgreifen können als in Teil 2 (Neuzeit). Ihnen werden mit Kartenmaterial und Literaturhinwei- sen Hilfestellung und die Möglichkeit zur Vertiefung geboten. Insgesamt liegt, wie im Klappentext versprochen, „eine in ihrer Breite und Tiefe bisher unerreichte Zusammenschau von Großreichen“ vor, die vielfältigen Anlass zu Diskussionen und weiterer Forschung gibt. Damit ist die Antwort auf die Frage, ob das Projekt vielleicht ein wissenschaftlicher overstretch war, ein klares Nein – zumal die Thematik im letzten Kapitel reduziert auf Post- kartengröße satirisch illustriert wird; der Leser schließt das Buch mit einem Schmunzeln. Christiane Nolte

John R. McNeill, Corinna Unger (Hg.): Einvironmental Histories of the Cold War, Washington D.C.: Cambridge University Press, 2010, 362 S., ISBN 978-0-521-76244-1 Die Zeit des Kalten Kriegs schien langsam eine Angelegenheit vor allem für His­toriker zu werden, bevor pünktlich zum 25jährigen Jubiläum im letzten Jahr die internationalen Spannungen wieder dramatisch zunahmen. Es ist deshalb nicht schlecht, sich zu erinnern, was Kalter Krieg bedeutete und wie tiefgreifend er Politik und Wirtschaft, aber auch Alltagsleben, Kultur und eben auch den Umgang mit der Natur bestimmte. In der jüngst erschiene- nen Geschichte der Welt – Die Globalisierte Welt (1945 bis heute) führen John R. McNeill und Peter Engelke in ihrem Beitrag zu „Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropozän“ aus, dass die Sowjetunion von 1945 bis 1973 nicht weniger als 40 Prozent ihrer wirtschaftlichen Ressourcen allein für ihren gewal- tigen militärisch-industriellen Komplex vereinnahmte.2 Beide Mächte legten damals gewaltige Infrastrukturprojekte auf, die ganze Teile von Kontinenten

2 John R. McNeill, Peter Engelke: Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropo- zäns, in: Akira Iriye, Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt. Die globalisierte Welt (1945 bis heute). München 2013, S. 357–534, hier S. 491f. Rezensionen 193 veränderten wie etwa die größten Straßen- und Eisenbahnbauprogramme der Geschichte, die Umleitung gewaltiger Ströme oder das Trockenlegen von Bin- nenmeeren. In den paradiesischen Gefilden Ozeaniens oder in der weniger pa- radiesischen Polarregion Nordsibiriens und der Sahara explodierten mehrere hundert Atombomben allein zur Demonstration der Macht. Die Grundlagen für die Ausführungen in diesem Abschnitt hat John R. McNeill zusammen mit Corinna Unger in dem bereits früher erschienen hier zu besprechenden Band zusammengetragen und 2010 veröffentlicht. Ihre damalige Intention bestand darin, politische Geschichtsschreibung und Umweltgeschichte zusammenzu- bringen und das sich überlappende Potential beider Forschungsfelder auszulo- ten. Das ist ihnen in beeindruckender Weise gelungen. Der Sammelband enthält 13 Beiträge, die in vier Unterabteilungen – Wis- senschaft und Planung, Geopolitik und Umwelt, Umweltbewegung und ein zusammenfassender Ausblick – gegliedert sind. Im Einzelnen geht es um den Raubbau an Mensch und Natur in der Sowjetunion in der Zeit der Hochrü- stung (Paul Josephson), um Klimaforschung als militärische Ressource (Ma- thew Farish) sowie um die Kontaminierung im Zuge der nuklearen Rüstung und zwar real wie auch als strategisches Potential (Jacob Darwin Hamblin). Es schließen sich Artikel an, die von der Möglichkeit, das Wetter zu beeinflus- sen handeln, um es als potentielle Waffe zu nutzen (Kristine C. Harper und Ronald E. Doel), die Großprojekte zur Sicherung der strategischen Ressource Wasser (Richard P. Tucker) vorstellen und die Umfunktionierung Ozeaniens als große Schaubühne der nuklearen Vernichtungsmöglichkeiten und ihre Folgen (Mark D. Merlin und Ricardo M. Gonzalez) beschreiben. Weitere Beiträge lie- fern Einblicke in die Vernichtung von naturbelassener Natur (Dschungel) oder kultivierter Natur (Landwirtschaft) als militärische Ressource in so genannten konventionellen Kriegen (Greg Bankoff), in die Gründe für den bemerkens- werten Ausschluss der Chemiewaffen bei den Abrüstungsverhandlungen in den späten 1960er und 1970er Jahren (David Zierler) und in den Aufstieg der Umweltbewegung (Kai Hünemörder). Weiterhin geht es um das langsame Umdenken in Sachen Umwelt, um die new ecology als soft power, also die Rolle von Vordenkern wie Rachel Carson (Silent Spring) sowie globaler Insti- tutionen wie die UN und den Einfluss der Huxley-Brüder in diesem Kontext (R. S. Deese), um den langsamen Lernprozess im Umgang mit dem nuklearen Risiko (Toshihiro Higuchi) und um das erwachende Umweltbewusstsein in China (Bao Maohong). Am Ende resümiert Frank Uekötter über den interna- tionalen Aufschwung der Achtsamkeit gegenüber Umweltfragen und verknüpft dies mit dem Ende des Kalten Kriegs, das eben Ressourcen freimachte, sich um 194 Rezensionen die wichtigeren Dinge in der Welt zu kümmern, als die Machtkomplexe zweier sich über den Rest der Welt stellender Mächte. In einer Rezension des Buches wies Sandra Chaney vom Erskine College darauf hin, dass der Kalte Krieg unbeabsichtigt zahlreiche Umweltprobleme erzeugte.3 Das hätte auch die Friedensbewegung geprägt, die sich in den 1970er Jahren in vielen Regionen der Welt mit der Umweltbewegung überlappte. Auf der anderen Seite lieferten Satellitenaufnahmen nicht nur Bilder von den Waf- fenarsenalen, sondern auch von der ganzen Erde, dem blauen Planeten, ein nicht zu unterschätzendes Signal, Verantwortung zu übernehmen, wie Carl Friedrich von Weizsäcker dies im Kontext der Aufgabenstellung des Max- Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich- technischen Welt einmal bemerkte. Die Beiträge sind von Kennern ihres Themas geschrieben, ordnen die je- weiligen Fragen in den globalen Kontext ein und liefern außerordentlich tiefe Einblicke in den Hintergrund und zahlreiche Seiteneinstiege in komplexe Zu- sammenhänge. Indem die Geschichte des Kalten Kriegs mit der Umweltge- schichte in Verbindung gebracht wird, gelingt es den Herausgebern wie den Autoren an vielen Stellen, neue Forschungsfelder aufzudecken. Weiterhin wer- den in den Beiträgen Hinweise auf weiterführende Literatur und Archivquellen gegeben, die in dieser Konzentration selten zu finden sind. Die Lektüre ist außerordentlich spannend. Auch wenn das Buch schon vor einiger Zeit er- schienen ist, hat es nichts von seiner Aktualität für die Weltgeschichte verloren Ralf Roth

Wolfgang Reinhard (Hg.): Geschichte der Welt. 1350–1750. Weltreiche und Weltmeere (Geschichte der Welt. Bd. 3, Hg. der Gesamtreihe: Akira Iriye, Jürgen Osterhammel), München: C.H. Beck, 2014, 1008 S., ISBN 978-3-40664-103-9 Seit Ende Oktober 2014 ist die siebenbändige (Beck´sche Buch-) Geschichte der Welt abgeschlossen: Weltreiche und Weltmeere ist der dritte 1350–1750 um- spannende Band. Er ist mit 1.672 Gramm nicht nur gewichtig. Sondern auch das respektable Ergebnis geistiger Arbeit und publizistischen Engagements von, den Hg. eingeschlossen, sechs akademischen Autor(inn)en. Er schließt an die

3 Sandra Chaney: Rezension zu: J. R. McNeill, Corinna R. Unger (Hg.): Environmen- tal Histories of the Cold War, New York 2010, in: H-Soz-u-Kult, 27.05.2011, http:// geschichte-transnational.clio-online.net/rezensionen/2011-2-165 (Stand 12.01.2015). Rezensionen 195 bereits erschienenen Agrarische und nomadische Herausforderungen 600–1350 und Wege zur modernen Welt 1750–1870 an. Das Buch ist formal gelungen und auch benutzerfreundlich mit seinen ­hilfreichen Anhängen wie Anmerkungen, Bibliographie, Abbildungsnach- weis und Personen-, Orts- und Sachregistern sowie den beiden Lesezei- chen für Text und Anmerkungen. Der etwa 40seitigen problemorientierten ­Hg.- ­Einleitung „Weltreiche, Weltmeere – und der Rest der Welt“ folgen ausgreifende, wenn auch nicht unbedingt aufeinander abgestimmte und auf Vor- und ­Folgegeschichte bezogene Beiträge zu den geschichtlichen Weltre- gionen „­Kontinentaleurasien“, zum „Osmanischen Reich“ und zur „islami- schen Welt“, zu „Südostasien und der indische Ozean“, „Südostasien und Ozeanien“ und als Schlusskapitel „E­ uropa und die atlantische Welt“, in dem der Hg. atlantisches Afrika, ­lateinisches Europa und neue atlantische Wel- ten mit dem Atlantik als „eine Art Binnenmeer zwischen dem alten Europa und ‚den neuen Europas‘ sowie dem gemeinsamen Handelspartner Westafrika“ beschreibend aufreiht. Hier liegt die Kardinalstärke des Sammelbandes: feh- lende Eurozentrik. Die zweite Besonderheit des Bandes ist die generalglobalistische Sicht, grad so als sei (Welt-)Geschichte zielgerichtet finalisiert auf die One World Mitte der Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts. Diesem Eindruck entspricht die (post) moderne Begrifflichkeit. So gibt es beispielsweise weder global verstandene Geschichte von Produktivkräften noch – zugegeben: hierarchisierende – auf Weltreiche bezogene Zentrum-Peripherie-Beziehungen; dafür (in der Hg.- Einleitung) sozialpsychologische Konzepte wie Kommunikation, Interaktion, Kontaktzonen und Kontaktgruppen als ex-post-Anwendungen auf Weltge- schichte 1350–1750. Dem postmodern(istisch)en Verständnis von historischer Weltentwicklung dieser vergangenen vier Jahrhunderte vor ihren Wegen in die Modernität nach 1750 entspricht das knapp 150 Seiten lange Kapitel zum Osmanischen Reich und zum Islam. Hier ließen sich bis auf die mikrostrukturelle Ebene der Einzel- heiten, etwa am Beispiel des mittelmeerig-insularen Malta mit seinem „betont katholischen Johanniterorden“ und der doppelten Erwähnung der gescheiterten reichsosmanischen Eroberung der Insel 1665 (der konzeptionellen Anlage ge- schuldete) Selektivitäten problematisieren. Es wäre unzulässig, sowohl die allgemeine Begrifflichkeit als auch das pars pro toto-Beispiel zu verallgemeinern. Aber ‘n G‘schmäckle, das sich so ausdrüc- ken lässt, bleibt: Diese Form von Weltgeschichtschreibung oder Universalhisto- riographie konnte mich, bei allem Respekt vor wissenschaftlicher Mühe, Arbeit 196 Rezensionen und Leistung, begriffsanalytisch nicht überzeugen; wobei der Leitansatz nicht per se ideologisch ist – sich jedoch hervorragend einpassen lässt in die Zeit- geistigkeit dieses Jahrhunderts mit der, politisch vorgegebenen, dominanten neuen Eine-Welt-Ideologie. Richard Albrecht Autorinnen und Autoren der ZWG 16.1

Richard Albrecht ist historisch arbeitender Sozialwissenschaftler und Bürger- rechtler E-mail: [email protected]

Peter Antes ist emeritierter Professor für Religionswissenschaft am Institut für Theologie und Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover Email: [email protected]

Giovanni Arrighi, 1937–2009, italienischer Soziologe, zuletzt Direktor des Instituts für Global Studies in Culture an der Johns Hopkins Universität in Baltimore/Maryland

Manuela Boatcă ist Professorin für Soziologie globaler Ungleichheiten am La- teinamerika-Institut der Freien Universität Berlin E-mail: [email protected]

Harald Kleinschmidt ist Professor der Geschichte der internationalen Beziehun- gen an der University of Tsukuba in Tsukuba (Japan) Email: [email protected]

Christian Lekon ist Leiter des Department of International Relations an der European University of Lefke, Zypern E-mail: [email protected]

Christiane Nolte war Fachberaterin für Französisch und Spanisch und arbeitet jetzt an Problemen westasiatischer Imperien v. u. Z. Mail: [email protected]

Hans-Heinrich Nolte war Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover und arbeitet als „retired scholar“ Mail: [email protected]

Ralf Roth ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Goethe-Universität in Frankfurt am Main E-mail: [email protected]

Wolf Schäfer ist Dean of Fellows in American Academy in Berlin und Director von SBU Institute for Global Studies NY. Er arbeitet als Professor of History in Stony Brook University NY 198 Autorinnen und Autoren

Aslı Vatansever ist Assistant Professor an der Abteilung für Geistes- und Sozial- wissenschaften der Doğuş Universität, Istanbul E-Mail: [email protected]