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Karl-Heinz Ludwig Die deutschen Flakraketen im Zweiten Weltkrieg1

In einem 1967 veröffentlichten Sammelband über den Zweiten Weltkrieg wird darauf hingewiesen, daß schätzungsweise rund hunderttausend »beachtenswerte« geschichtswissenschaftliche Beiträge zu diesem, die politische Situation der ganzen Erde umgestaltenden Ereignis veröffentlicht worden sind2. Vergleichsweise wenig ist über die Rüstung geschrieben worden, d. h. über die technisch-wissenschaftliche Entwicklung von Kriegsgerät, seine tedinisch-wirtsdiaftliche Fertigung und die Modalitäten der späteren Anwendung. Aber nicht nur die Probleme der Rüstung und damit der Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg sind unzureichend durchdrungen, noch weniger geklärt ist ihr tatsächlicher Zusammenhang mit denen der Strategie. Bis heute läßt sich nidits Endgültiges darüber aussagen, ob das zunächst so ein- gängige Schema stimmt, wonach zu einer deutschen Blitzkriegsstrategie der ersten Kriegsjahre eine konzipierte Breitenrüstung gehört habe und ab Ende 1941 mit dem sich in die Länge ziehenden Krieg eine Phase der Tiefenrüstung begann8. Die Brauchbarkeit dieses Schemas muß stark angezweifelt werden. Die wechselnden strategischen Zielsetzungen in der Zeit bis 1941 haben naturgemäß nur eine Rüstung der Breite ermöglicht. Eine durchgestaltete Rüstung der Tiefe aber, d. h. geplante Forsdiungs-, Konstruktions- und Entwicklungsarbeiten auf längere Sicht, ein langfristiger Ausbau aller Grundindustrien, eine frühzeitige Abstimmung der Geräteendfertigung beispielsweise mit der Treibstoffversorgung usw., hat sich selbst in der »Ära Speer« ab Februar 1942 nur noch bedingt durchführen lassen. Um zu einem endgültigen, abgesicherten Urteil zu kommen, bedarf es noch vieler Einzelarbeiten über die Gegenstände und die Verfahren der nationalsozialistischen Rüstungspolitik. Bei solchen auch die Technik in die Geschichte einordnenden Dar- stellungen muß der Historiker freilich jene eigenartige Grenze überschreiten, die sich heute zwischen den »zwei Kulturen«, der geisteswissenschaftlichen einerseits und der naturwissenschaftlichen anderseits, abzeichnet4. Der Geschichtsforscher muß bei diesem Schritt - um es kurz zu sagen - nicht nur seine Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragen der Technik beweisen, er muß sich audi um jene technische Grundbildung und um jene technischen Grundeinsichten bemühen, welche die so- genannten allgemeinbildenden Schulen bis heute nicht vermitteln, die aber als Vor- aussetzung für jedes Bestehen des Menschen in der technischen Welt in einigen Jahren auch in Deutschland zum Bildungskanon gehören werden.

1 Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung eines Vortrages, den der Autor am 27. Februar 1968 in der Universität Stuttgart im Rahmen eines von Sr. Magnifizenz, Prof. Dr. Leonhardt, angeregten Colloquiums über »Moderne Fragestellungen aus dem Gebiet der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik« gehalten hat. 2 Vgl. A. Hillgruber (Hrsg.): Probleme des Zweiten Weltkrieges. (Neue Wiss. Bibliothek 20 - Geschichte). Köln u. 1967, S. 11. 3 So A. S. Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939-1945. (Schriftenreihe der Viertel- jahreshefte für Zeitgeschichte Nr. 12). Stuttgart 1966, S. 14 ff. u. 70 ff. Der Begriff »Tiefen- rüstung« oder »Tiefe der Rüstung« entstammt übrigens ebenso wie der Gegensatzbegriff dem deutschen militärwissenschaftlichen Bereich. * Vgl. C. P. Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. (Versuche 10.) Stuttgart 1967. Mit den Raketen, ihren technischen Lenkmitteln sowie Antrieben, die nicht nur in Flugkörper, sondern auch in Torpedos, Starthilfen, Flugzeuge und U-Boote ein- gebaut wurden, wird ein besonderes Kapitel der deutschen Rüstung im Zweiten Weltkrieg angeschnitten. Als »Wunder waffen« gaben diese Geräte ein leicht zu handhabendes Instrument für die Propaganda ab. Angesichts der quantitativen Überlegenheit der Alliierten, die trotz erfolgreicher deutscher Bemühungen zur Rüstungssteigerung immer größer wurde, blieb den Parteirednern audi nichts anderes übrig, als sich wortgewaltig mit den Waffen zu befassen, mit denen viel- leicht eine technische oder qualitative Überlegenheit zu erreichen war. Im End- effekt repräsentierten die deutschen Raketen aber stets eher den technischen Fort- schritt auf dem Gebiet der Antriebsaggregate, als daß sie Wunderwaffen hinsicht- lich ihrer Wirkung auf feindliche Streitkräfte waren. Dennoch werden Spekula- tionen um ein Zuspätkommen dieser Waffen bis in unsere Tage hinein angestellt. Sie betreffen dann weniger die beiden sogenannten V- oder Vergeltungswaffen, die Flug- bombe Fi 103 und das Peenemünder 4, deren letztlich sinn- oder zumin- dest erfolglose Kriegseinsätze seit Juni bzw. September 1944 im deutschen Wehr- machtbericht bald nur am Rande, bei der V 2 erst zwei Monate nach Einsatz- beginn, mehr oder weniger stereotyp als anhaltendes Vergeltungsfeuer gegen Eng- land gemeldet wurden5. Von den Boden-Luft-Raketen hingegen konnte ein Autor noch im Jahre 1964 in der 5. überarbeiteten Auflage seines übersetzt auch in den USA erschienenen Handbuches zur Geschichte der Waffentechnik behaupten, daß sie in der Lage gewesen wären, »das Uberfliegen deutschen Gebietes durdi Feind- flugzeuge mit unbedingter Sicherheit zu unterbinden«®. Wird den deutschen Flakraketen7 des Zweiten Weltkrieges aber eine solche Bedeu- tung zugesprochen und damit ein Stellenwert beigegeben, der sie zu einer kriegs- entscheidenden Größe werden läßt, dann muß sich der Historiker mit ihnen auch unter den erschwerten Bedingungen befassen, die sich bei der Zusammenschau mili- tärisch-politischer und technisch-wirtschaftlicher Faktoren ergeben.

Die geschichtliche Situation

Als Ausgangspunkt der Darstellung mag ein kurzer Überblick über Zusammen- hänge von Strategie und Rüstung im fortgeschrittenen Kriegsstadium dienen. Der Versuch, auch den Feldzug gegen die Sowjetunion nach den Grundsätzen der Blitz- kriegstrategie zu führen, war bis zum Herbst 1941 gescheitert. Zwei Tage vor Angriffsbeginn hatte eine Anordnung Hitlers zwar schon Einschränkungen der Heeresrüstung zugunsten der und ihrer Verwendung im Mittelmeer- raum sowie bei der wieder erwogenen »Belagerung Englands« vorgesehen, doch wurden die dafür eingeleiteten Maßnahmen spätestens im September ebenso frag- lich wie die organisatorisch vorbereitete Auflösung ganzer Heeresdivisionen. Nach dem Fehlschlag des am 2. Oktober begonnenen Vorstoßes auf Moskau waren dann neue Befehle erforderlich, um die tatsächlich schon stark eingeschränkte Fertigung von Heeresmunition wieder drastisch zu erhöhen. Wer damals rüstungswirtschaft-

β Vgl. E. Murawski: Der deutsche Wehrmachtbericht 1939-1945. Ein Beitrag zur Unter- suchung der geistigen Kriegführung. Mit einer Dokumentation der Wehrmachtberichte vom 1. 7.1944 bis zum 9. 5.1945. (Schriften des Bundesarchivs 9.) Boppard 1962, S. 105 u. 177 ff. • R. Lusar: Die deutschen Waffen und GeheimwaSen des 2. Weltkrieges und ihre Weiterent- wicklung. München 51964, S. 246. 7 Die Benennung »Flakraketen« wurde beibehalten, obwohl in der Nachkriegszeit - sprachlich korrekter - von Fla- oder Flabraketen gesprochen wird.

Abb. 3: Versuchsgerät der Flakrakete »Rheintochter« (R 1) auf dem Abschußgestell, Juni 1944

Abb. 4: Zweites Versuchsgerät der Flakrakete »« (Ε 1) auf der Startlafette, Juni 1944 lidi zu denken vermochte, erkannte schon vor Hitlers Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941, daß der Krieg für Deutschland verlorengehen würde, da auf längere Sicht unbedingt das materielle Potential der Gegner den Ausschlag geben mußte. Die Vorstellungen freilich, die Fritz Todt als Reichsminister für Bewaffnung und Munition während einer denkwürdigen Besprechung in der Reichskanzlei am 29. November und auch später noch bei Hitler erhob8, damit dieser den Krieg beende, blieben fruchtlos. Im militärischen Bereich hatte General Georg Thomas, der Leiter des Wehrwirtsdiafts- und Rüstungsamtes, sogar schon seit der Jahreswende 1940/41 mit wirtschaftlicher Begründung vor einer bewaff- neten Auseinandersetzung mit der Sowjetunion gewarnt. Auch den von ihm nach Beginn des neuen Ostfeldzuges unternommenen Bemühungen, die Befehlshaber der Heeresgruppen gegen Hitler zu aktivieren, blieb der Erfolg versagt®. Die nunmehr - wenn auch mit Hinweisen auf die Jahreszeit noch zu bemänteln - vom Angriff in die Verteidigung gedrängte deutsche Führung mußte ab 1941/42 versuchen, die Rüstung zunächst und bald auch endgültig auf eine Massenfertigung an Heeresmaterial umzustellen. Die mit Führerbefehlen und ihren Ausführungs- bestimmungen angeordnete kriegswirtschaftliche Umorientierung erwies sich um so nötiger, als auch die von Stalin ab Juli 1941 geforderte zweite Front in nicht erst 1943 in Italien oder 1944 in Frankreich errichtet wurde, sondern faktisch schon 1942. Immer häufiger zeigten sich die britischen und ab Januar 1943 auch die amerikanischen Luftflotten in der Lage, deutsche Stadtgebiete und mit den Angriffen auf die Kugellagerwerke in Schweinfurt sowie das Raketengelände Peenemünde (Ost) im August 1943 auch Rüstungszentren mit großen Erfolgen zu bombardieren. Als sich in dem kritischen Jahr 1943 dann auch noch offenbarte, daß Deutschland den mit Hilfe des Radarnavigationssystems H2S (nach dem Ort der ersten Erbeutung »Rotterdam-Gerät« genannt) geflogenen Nachtangriffen fast schutzlos preisgegeben war, wurden immer mehr Hoffnungen auf die Flakraketen gesetzt. Nicht einmal ein Jahr lang hatte ein Beschluß von Vertretern des Heereswaffen- amtes und der führenden deutschen Raketenbauer über eine vom Generalluftzeug- meister (GL/C) vorgelegte Denkschrift Geltung, mit dem am 6. Dezember 1941 entschieden worden war, den Interceptor, d. h. den Objektschutzjäger, als einziges raketengetriebenes Flugabwehrmittel zu entwickeln. Die damals ausgesprochenen Warnungen, daß die ferngelenkten Flakraketen als defensives Verbrauchsmittel in entsprechender Stückzahl durch die Industrie kaum herzustellen sein würden, daß sich der Aufwand nur bei hundertprozentiger Treffsicherheit lohne und daß schon die Entwicklung einiger weniger Versuchsgeräte mindestens zwei Jahre in An- spruch nehme10, wurden von der Luftwaffe bei ihren Beratungen im Jahre 1942 dann aber in den Wind geschlagen. Der gefährlichen Zersplitterung des Ingenieur- potentials, das nun Boden-Luft-Raketen neben den Interceptoren, Fernwaffen und besonderen Raketenantrieben zu entwickeln hatte, wurde man sich entweder nicht bewußt oder man nahm sie in Kauf. Am 1. September 1942 genehmigte der Ober-

8 Dr.-Ing. Walter Rohland (»Panzer-Rohland«): Gespräch mit dem Verfasser am 9. November 1968 in Wiesbaden. Vgl. auch Gr. Janssen: Das Ministerium Speer. Deutschlands Rüstung im Krieg. Berlin, Frankfurt/M., Wien 1968, S. 33, der die Unterredung v. Brauchitschs, Roh- lands und Todts mit Hitler aber irrtümlich auf den 4. Dezember datiert, auf einen Tag, den Hitler in der Wolfsschanze verbrachte. • Vgl. dazu W. Birkenfeld (Hrsg.) Georg Thomas, Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45). (Schriften des Bundesarchivs 14.) Boppard 1966, S. 17 ff. 10 Besprechung über ferngelenkte Flakrakete am 6. 12. 1941. (Bundesarchiv/Militärarchiv - fortan BA/MA -, FE 368.) befehlshaber der Luftwaffe das ihm schon im April vorgelegte neue Flakpro- gramm, das nunmehr auch Raketen einbezog11. Letztlich waren es dann die seit Herbst 1942 bei den ersten gelungenen Versuchs- flügen der Fernrakete A 4 entstandenen günstigen Eindrücke, die auch einen Masseneinsatz von Boden-Luft-Raketen als realisierbar erscheinen ließen. Sach- kenner der Luftwaffe, aber auch Industrielle wie Prof. Carl Kraudi von der I.-G. Farben, dem als Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeu- gung der Ausbau der Treibstoffversorgung für die Raketenantriebe unterstand, gingen sogleich noch einen Schritt weiter. Mit einiger Logik wiesen sie 1943 darauf hin, daß es sinnvoller wäre, die Abwehrraketen überhaupt den Angriffsraketen vorzuziehen, um den gegnerischen Luftterror »auf einen Schlag« seiner Wirkung zu berauben12. Freilich durfte diesen - in bezug auf den technischen Fortschritt überaus optimistischen - Vorschlägen, die damals wiederholt gemadit wurden, noch niemand folgen. Es ist bekannt und wird beispielsweise durch das Tauziehen um das Strahlflugzeug Me 262 bestätigt, das Hitler noch bis in den Herbst 1944 hinein ausschließlich als Jagdbomber gebaut haben wollte13, daß die von der Vorstellung des Angriffs und der Vergeltung geprägte oberste Führung mit allen Mitteln versuchte, die an den Gegner entglittene Initiative durch eigene offensive Maßnahmen zurückzugewinnen.

Die einzelnen Flakraketen-Entwicklungen

Trotz einer die Angriffswaffen bevorzugenden deutschen Führung gelangten meh- rere Flakraketen in ein Entwicklungsstadium, das militärische und zivile Planungs- behörden veranlaßte, sich mit diesen Flugkörpern zu befassen. Die in amerikani- schen Nachkriegsdarstellungen angenommenen 50 verschiedenen Baumuster, die erst später auf ein Dutzend reduziert worden seien14, lassen sich in den Akten frei- lich nicht nachweisen. Einen zukünftige Fertigungen und Einsätze in den Bereich des Möglichen rückenden technischen Entwicklungsstand erreichten 1943 sogar nur vier Typen, überwiegend Flüssigkeitsraketen, die nach dem Fernkommandoverfahren gelenkt werden sollten. Bei den komplizierten Entwicklungen war es jedoch nicht verwunderlich, daß die Grundtypen im Laufe der Monate zu unterschiedlichen, jeweils verbesserten Versionen weiterentwickelt wurden. Ende 1943, als die Flakraketen und die dazugehörigen Spezialtreibstoffe beim Chef der Technischen Luftrüstung im Oberkommando der Luftwaffe, im Heeres-

11 H.-A. Koch: Flak. Die Geschichte der deutschen Flakartillerie und der Einsatz der Luftwaffen- helfer, Bad Nauheim 21965, S. 252 f. 11 Notiz vom 29. Juni 1943 über eine Besprechung zwischen Prof. Krauch und Staatsrat Walther Schieber, dem Leiter des Rüstungslieferungsamtes. Abgedruckt bei D. Irving: Die Geheim- waffen des Dritten Reiches. Gütersloh 1965, S. 364 f. (Nach Bundesarchiv Koblenz - fortan BA-,R 25/99.) 11 K. Koller: Der letzte Monat. Die Tagebuchaufzeichnung des ehemaligen Chefs des General- stabes der deutschen Luftwaffe vom 14. April bis zum 27. Mai 1945. Mannheim 1949, S. 108. Hitlers Entscheidung muß aber - trotz der vielen Kritiken in der Nachkriegszeit - grundsätz- lich als richtig angesehen werden. Solange ihm leistungsfähige Jagdflugzeuge, beispielsweise die Me 163 und die He 162 sowie Flakraketen zugesagt waren, entsprach es der Lage, die Me 262 als Jagdbomber zu planen. Ihre Wendigkeit im Luftkampf (2 auseinanderliegende Triebwerke!) und ihr Beschleunigungsvermögen waren begrenzt. Erst die zusammen- gefaßte Wirkung der hohen Geschwindigkeit der Me 262 bis nahe Mach 1 und der 1944, als Hitlers Entscheidungen fielen, noch in der Entwicklung befindlichen, 1945 aber voll einsatz· fähigen Bordrakete R 4 M, »Orkan«, ermöglichte die großen Erfolge im Abwehrkampf gegen Bombenflugzeuge. 14 A. G. Haley: Rocketry and Space Exploration. New York 1959, S. 62. waffenamt, im Wehrwirtschaftsstab des OKW und in den Ämtern des Reichsmini- sters für Rüstung und Kriegsproduktion allmählich zu einer eingeplanten Größe wurden, bestanden für die Boden-Luft-Rakete C 2, »« (Abb. 1), die besten Aussichten. Es handelte sich bei diesem Gerät - je nach Ausführung - um einen 6 oder mehr Meter hohen zentralen Geschoßkörper mit einem maximalen Rumpfdurchmesser von 0,70 m und vier längsseits hervorragenden Stummel- flügeln. Die Spitze bildeten Zündkopf und Sprengladung. Darunter befand sich der Drucktank für den zur Treibstofförderung benötigten komprimierten Stick- stoff. Im Mittelteil des Flugkörpers lagen die Tanks für den Brennstoff und den Oxydator. Zwisdien ihnen und der Brennkammer am Heck war die elektrische Ausrüstung angebracht. Die Strahl- und Luftruder befanden sich hinter den Heck- leitflossen. Der Antrieb und das Lenksystem dieser Rakete wurden im Entwick- lungswerk Pennemünde, den ab Juni 1944 privatisierten Elektromedianisdien Wer- ken (EW) Karlshagen, entwickelt. Der Kreis der Konstrukteure rekrutierte sich aus den Wissenschaftlern um das dem Heer zugehörige A 4, denen Ende 1942 zusätzlich ein besonderer Entwicklungsauftrag von seiten der Luftwaffe (RLM) erteilt worden war. In erster Linie sind die Ingenieure Wernher v. Braun, Ernst Steinhoff und zu nennen. Die Rakete arbeitete als Übersdiallgerät und verbrauchte für den Antrieb entweder hochkonzentrierte, bis zu 98%ige Sal- petersäure (Hokosäure) als Sauerstoffträger und Visol als Brennstoff oder aber Flüssigsauerstoff und Alkohol wie das A 4. Als »Pulkzerstörer« sollte sie bis zu 300 kg Sprengstoff in rund 15 000 m Gipfelhöhe schießen, und zwar bei einer errechneten horizontalen Reidiweite von 40 km15. Neben der C 2 gab es Ende 1943 im Bereich der Boden-Luft-Raketen noch drei nennenswerte Entwicklungen: die Hs 117, »Schmetterling«, der Henschel-Flug- zeugwerke in Schönefeld bei Berlin, die R 1, »Rheintochter«, die bei Rheinmetall- Borsig in Berlin-Marienfelde und die »Enzian«, die bei Messersdimitt im Zweig- werk Oberammergau (Oberbayerisdie Forschungsanstalt) und der Holzbau Kis- sing K. G. in Sonthofen in Auftrag gegeben war. Das Gerät »Schmetterling« (Abb. 2) mit annähernd erreichbarer Schallgeschwin- digkeit entstand unter dem Aerodynamiker Prof. Herbert Wagner. Eine Spreng- ladung bis zu 40 kg sollte mit Hilfe zweier Startraketen der Firma Schmidding in Tetschen-Bodenbadi durch einen seit Anfang 1943 entwickelten BMW-Antrieb für Hokosäure und ein Amingemisdi (Tonka 250 oder 500) verschossen werden. Experimentiert wurde auch mit einem Motor der Firma in Kiel, der Salpetersäure als Sauerstoffträger und B-Stoff, ein Hydrazinhydrat, als Brenn- stoff verbrauchte. Als Gipfelhöhe wurden 15 000 m erreicht, als weiteste Entfer- nung bei einer militärischen Nutzlast von 23 kg rund 32 km. Ende 1944 schien das Gerät in der Entwicklung so weit vorangekommen zu sein, daß ein Einsatz unter der Propagandachiffre V 3 (Vergeltungswaffe 3) erwogen wurde16.

15 Über diese und weitere technische Daten informieren neben den heute im Deutschen Museum in München lagernden Peenemünder Akten (technischer Teil) Handbücher der Luft- und Raumfahrttechnik. Vgl. u. a. J. Stemmer: Raketenantriebe. Ihre Entwicklung, Anwendung und Zukunft. Zürich 1952. T. Benecke u. A. W. Quick: History of German Guided Missiles Development. (AGARDOgraph 20). Braunschweig 1957. M. Barrdre (Hrsg.): Raketen- antriebe. Amsterdam usw. 1961. Der Schwerpunkt dieser Darstellungen liegt auf der Antriebs- seite. Auf die Lenkseite der Raketen, die in eine andere ingenieurwissenschaftliche Fakultät gehört (Elektrotechnik), wird unten kritisch eingegangen. Selbstverständlich sind auch die Handbücher zur Geschichte der Waffentechnik des Zweiten Weltkrieges heranzuziehen: die schon genannte Arbeit von Lusar sowie die von F. Hahn: Deutsche Geheimwaffen 1939-1945. Flugzeugbewaffnungen. Heidenheim 1963. 14 Die ursprünglich als V 3 vorgesehene Hochdruckpumpe (HDP) und ihre Geschosse erwiesen sich nicht nur bei Probeschießen auf den Übungsplätzen Hillersleben und Misdroy, son- Das Zweistufengerät »Rheintochter« (Abb. 3) für 25 kg Sprengstoff hatte ähnlich wie die Vierstufen-Boden-Boden-Rakete »Rheinbote« und die meisten der bei Rheinmetall-Borsig entwickelten Flugkörper zunächst einen Feststoffantrieb er- halten. Nachdem bis Anfang Juli 1944 bereits 34 Versuchsstarts erfolgt waren, wurde der Typ R 1 als Einsatzgerät verworfen17. Das neue, größere Baumuster R 3 erhielt für seine zweite Stufe einen Flüssigkeitsantrieb, der Salpetersäure und Visol verbrauchte. In der Gipfelhöhe sollte es damit die R 1 utn fast 10 000 m übertreffen und 16 000 m erreichen. Bei der Flakrakete »Enzian« (Abb. 4) schließlich verarbeitete man die Erfahrun- gen, die mit dem Raketenjäger Me 163 gesammelt wurden. Ihre Entwicklung er- folgte 1944 in verschiedenen Ausführungen (Ε 1 bis Ε 5), und zwar zunädist für einen Walter-Antrieb und T-Stoff, C-Stoff und Z-Stoff. Unter der Tarnbezeich- nung T-Stoff verbarg sich ein hochkonzentriertes, bis 85%iges Wasserstoffperoxid, dessen in den Elektrodiemischen Werken München entwickeltes Herstellverfahren den Alliierten bis 1945 unbekannt blieb18. Der C-Stoff genannte Brennstoff bestand aus einem Hydrazinhydrat-Methanol-Wasser-Gemisch, und Z-Stoff war die Abkürzung für einen Zusatz- oder Kontaktstoff, in diesem Falle ein Kalium- Kupfercyanür. Mit der gleichgroßen Sprengladung wie beim Gerät »Wasserfall« sollte die »Enzian« in erster Linie gegen geschlossene Bomberverbände eingesetzt werden. Das Baumuster Ε 4, das auf dem Wege zur Serienreife am weitesten gelangte, sollte eine Gipfelhöhe von 13 500 m erreidien, und zwar bei einem Aktionsradius von rund 40 km. Bis zum Jahresende 1944 tritt zu den genannten vier Flakraketen und ihren Ver- sionen noch die ungelenkte, knapp 2 m lange Kleinrakete »Taifun«, die in ihren Sprengkopf 0,5 kg Pulver aufnehmen konnte. Von diesem Gerät, dessen Entwick- lung in Peenemünde schon im Herbst intern vor die C 2 gesetzt wurde, gab es zwei Versionen, eine als Flüssigkeitsrakete für Salpetersäure und Visol (Taifun F) und eine weitere mit Pulverantrieb (Taifun P). Diese Boden-Luft-Rakete sollte in Sal- ven aus besonderen Abschußgestellen verschossen werden und rund 15 000 m Höhe erreidien. Ehe nun der weitere Entwicklungsgang der genannten fünf Flakraketen und die Bemühungen um ihre Einsatzfähigkeit verfolgt werden, ist noch zu erwähnen, daß sidi 1944/45 die Zeichnungen noch anderer Boden-Luft-Raketen auf den Reiß- brettern deutscher Ingenieure befanden. Obwohl diese Entwicklungen in keiner ernst zu nehmenden Planung mehr berücksichtigt wurden, sollen sie der Vollstän- digkeit halber hier kurz erwähnt werden. Es handelte sich um die »Feuerlilie 55« und die »Hedit« von Rheinmetall-Borsig, die Flak-R-42 sowie die gegen Tiefflie- ger einzusetzende Henschel-Entwicklung »Föhn«. An einer besonderen Flakrakete, die mit Ammoniumnitrat betrieben werden sollte, arbeitete bis zur Einstellung des Vorhabens eine Gruppe von Wissenschaftlern unter Leitung von Prof. Hermann Oberth19. Auch das Projekt »Planet« muß noch genannt werden, bei dem nach einer schon 1934 von Prof. Werner Osenberg konzipierten Idee eine Mutterrakete vor einem Bomberpulk zahlreidie (7-35), bis zu 40 mm Durchmesser erreichende

dem auch beim ersten Vetsuchseinsatz im Rahmen der Ardennenoffensive am 30.12.1944 als technisch unausgereift. 17 Vgl. Deutsches Museum - fortan DM - .Technische Akten Peenemünde (unsigniert). Als Versuchsgerät wurde die R 1 allerdings weiter verwendet. 18 Vgl. den Aufsatz »How the Germans made High-Test HjOa«, in: Chemical Engineering, Aug. 1948, S. 102-107. 19 F. Sykora: Pioniere der Raketentechnik aus Osterreich, in: Blätter für Technikgeschichte, 22. Heft, 1960, S. 191 f. Tochterraketen ausstoßen sollte, die dann auf Spiralbahnen in den gegnerischen Verband eingedrungen wären20. Obwohl Osenberg noch vor Kriegsende die Pro- duktionsvorbereitungen persönlich übernahm, wurde dieses, zum sogenannten Füh- rernotprogramm vom 31. Januar 1945 gerechnete Raketensystem, das entwick- lungsmäßig weit zurücklag, niemals wirklich erprobt.

Die Flakraketen im R-Programm

Die vier wichtigsten deutsdien Boden-Luft-Raketen »Wasserfall«, »Sdimetter- ling«, »Rheintochter« (R 3) und »Enzian« wurden nach und nadi in das sog. R- Programm einbezogen, mit dem seit 1943 untereinander konkurrierende Stellen in den Oberkommandos der einzelnen Wehrmachtteile, im OKW selbst sowie im Speerschen Rüstungsministerium versuchten, einen zukünftigen Geräteeinsatz mit der Treibstofferzeugung abzustimmen21. Das einmal so genannte eherne Gesetz nationalsozialistischer Selbstbehinderung erwies sich gerade bei der in diesem Pro- gramm besonders dringlichen Detailplanung als wirksam. Als sich nämlich zeigte, daß für bestimmte, aber verschiedenartige Raketenantriebe eine Produktion bestimmter, aber weitgehend gleichartiger Treibstoffe aufzubauen war, wurde offenbar, daß die dafür zuständige Stelle das ganze R-Programm, eine der letzten Hoffnungen auf den Endsieg, kontrollieren würde. Aus den daraufhin entstehen- den Kompetenzstreitigkeiten, die hier nicht weiter darzustellen sind, ging schließ- lich im Februar 1944, also noch ehe Speer auch die Luftrüstung übernahm, das Rüstungslieferungsamt als Sieger hervor. Dennoch blieb auch in dieser, damals nodi mächtigen Behörde das deutsche R-Programm nur bis zum September einiger- maßen überschaubar. Danach zerflatterte es, weil sich die Abstimmung von Geräte- fertigung und Treibstoffproduktion als unmöglich erwies. Aus dem die Raketen- entwicklungen aller drei Wehrmachtteile zusammenfassenden R-Programm wurde wieder ein begrenztes Programm um das A 4 des Heeres. Hinzu traten allmählich vom Gefühl der Vergeblichkeit überschattete Bemühungen um die Flakraketen. In den Verlautbarungen der offiziellen Stellen war von einer Resignation zunächst freilich nichts zu spüren. Im Gegenteil stützte sich das sog. Siegesprogramm der RüstungsWirtschaft 1944 weitgehend auf neu entwickelte Waffen, wozu auch die Boden-Luft-Raketen gehören sollten. In Wirklichkeit verschlechterte sich aber die Fertigungssituation für die zukünftigen R-Geräte von Monat zu Monat, auch wenn Deutschlands Rüstung im Juli 1944 ihren absoluten Hödiststand und im September noch einmal einen hohen Ausstoß erreichen konnte22. So hatte man nach den Plänen vom Sommer 1943 monatlich 10 000 Boden-Luft-Raketen »Was- serfall« fertigen wollen. Obwohl diese Zahl schon im November auf die Hälfte herabgesetzt und der Einsatztermin auf »Mitte 1944« verlegt wurde, bestanden für die Peenemünder Ingenieure größte Schwierigkeiten, Ende Juni 1944 erst ein- mal das dritte der insgesamt fünf Geräte der zweiten Versuchsreihe zu erpro- ben23. Einsichtigen Planern dürfte es im Sommer 1944 aber auch offenbar geworden sein,

20 Übet die Technik dieser Raketenentwicklung, die in der Literatur völlig unbekannt geblieben ist, vgl. mehrere Aktenbündel im Bestand R 26 III des BA. 21 Der Verfasser arbeitet zur Zeit an einer Studie über die Technik im Dritten Reich, die dieses Programm berücksichtigen wird. Dort dann auch ausführliche Hinweise auf zahlreiche weitere Akten. 12 Vgl. die Indexziffern der Rüstungsendfertigung bei R. Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939-1945. Berlin 21963, S. 178 ff. 13 DM, Techn. Akten Peenemünde (unsigniert). daß eine Treibstoffversorgung für die Flakraketen nicht zu gewährleisten war. Bei dem sich ständig vergrößernden Engpaß für Pulver und Sprengstoffe war es völlig ausgeschlossen, diejenigen Mengen an hochkonzentrierter Salpetersäure bereitzu- stellen, welche die Raketen »Wasserfall«, »Schmetterling«, »Rheintochter« (R 3) und »Enzian« (E 4, Ε 5) sowie schließlich auch die »Taifun« (F) bei einem Massen- einsatz für den Antrieb benötigt hätten. Mit Hilfe der Investitionsprogramme auf dem Chemiesektor war es zwar gelungen, die durchschnittliche Produktion des Sprengstoff-Vorproduktes Salpetersäure vom Jahre 1941 auf mehr als die dop- pelte Menge in der ersten Hälfte des Jahres 1944 zu steigern, doch nennen die Akten des R-Programms zur gleichen Zeit einen permanenten monatlichen Fehl- bedarf von 20 000 t. Ohne Rücksicht auf diesen bestehenden Mangel hätten allein für den geplanten Abschuß von 5 000 Geräten des Typs »Wasserfall« pro Monat 7 500 t Salpetersäure und zusätzlich 325 t des als Treibgas zu verwendenden Stick- stoffs dem Pulver- und Sprengstoffsektor entzogen werden müssen. Außerdem wären für 5 000 »Wasserfall«-Raketen der größten Ausführung 1 500 t Spreng- stoff benötigt worden. Ein solcher Bedarf ließ sich bei der Frontlage 1944/45 überhaupt nicht decken, zumal die tatsächliche Salpetersäureproduktion seit dem Sommer 1944 schnell und ziemlich stetig zurückging und im Januar 1945 nur noch ganze 8 0001 erreichte24. Das Mißlingen des R-Programms, mit dem 1944 die Raketengerätefertigung mit der Raketentreibstoff Produktion hätte abgestimmt werden sollen, bewirkte, daß auch die Flakraketen aus dem Bereich einer echten technisch-wirtschaftlichen Fer- tigungsplanung verschwanden. Diese Kampfmittel, die bis zum Frühherbst des Jahres 1944 keine militärische Größe geworden waren, konnten das auch für den Rest des Krieges nicht mehr werden. Obwohl noch verzweifelte - und angesichts der Treibstofflage sinnlose - Versuche unternommen wurden, die Boden-Luft- Raketen zur Einsatzreife zu bringen, besaßen sie eine echte Bedeutung nur noch im Bereich der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung.

Die Flakraketen im »Endkampf«

Neben den Stadtsiedlungen wurden 1944 die wirtschaftlichen Produktionszentren Deutschlands, welche die Alliierten noch nicht erobern und besetzen konnten, von deren Luftflotten mehr oder weniger systematisch zerschlagen. In zeitlich unter- schiedenen Schwerpunkt-Angriffen zerstörten amerikanische und britische Bomber Flugzeugwerke, U-Boot-Werften, Hydrieranlagen und andere Industriewerke sowie Verkehrswege. Außer den altbewährten Jagdeinsitzern Me 109 und FW 190 konnten den Alliierten nur wenig moderne Maschinen entgegengestellt werden. Der allgemeine Treibstoffmangel verhinderte oftmals auch diese Einsätze. Immer- hin erzielten die deutschen Abfangjäger ebenso wie die Flakartillerie, deren Funk- meßgeräte erst in den letzten Kriegsmonaten auf die schwerer zu störende 9-cm- Wellenlänge gebracht wurden25, noch Erfolge gegen die erdrückende Übermacht. Von den Flakraketen jedoch trat keine einzige in Erscheinung, obwohl sich die

24 Nach Wagenführ: Tabelle, S. 107. Der Verfasser benutzt auch hier Wagenführs Angaben, obwohl er sich durch Vergleiche mit Teilstatistiken anderer Provenienz immer wieder ver- anlaßt sieht, auf Widersprüche in den kriegswirtschaftlichen Statistiken hinzuweisen. Die die Salpetersäure (HNO31) betr. Reihe in Wagenführs Tabelle dürfte nur in der Tendenz richtig, im einzelnen aber fehlerhaft sein. 25 Vgl. die entspr. Aufsätze in dem Sammelband von L. Brandt: Forschen und Gestalten. Köln und Opladen 1962, ferner in VDI-Nachrichten, Jg 22 (1968) Nr. 17-23. deutschen Ingenieure, die im Sommer 1944 Versuchsmuster der vier Haupttypen und im Herbst audi die ersten Geräte der »Taifun« auf den Prüfständen und in der Erprobung hatten, fieberhaft darum bemühten, die Geräte fertigungs- und einsatzreif zu madien. Die Hauptschwierigkeiten für die Konstrukteure lagen darin, daß es in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 nicht mehr möglich war, ohne Verzögerungen alle Zubehörteile für die Versuchsmuster zu erhalten. Manchmal mußte wochenlang auf ein Einzelteil gewartet werden. Und dabei experimentierte man immer noch mit der Zelle und dem Antrieb. Die Probleme der Fernortung, der Fernlenkung und -Steuerung sowie die der Abstands- und Annäherungszünder wurden in ihrer Bedeutung und Tragweite erst nach und nach erkannt. Im Oktober 1944 formulierte der mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauf- tragte Chef des Generalstabes der Luftwaffe, Werner Kreipe, in einer Denkschrift, daß auch die Flakraketen nicht mehr rechtzeitig als wirksames Mittel gegen die feindliche Luftüberlegenheit einzusetzen sein würden. Göring zerriß dieses Papier demonstrativ vor den Augen seines Offiziers26 und zeigte so die nicht erst damals üblich gewordene Reaktion eines Mächtigen, der seine letzten Überlebenshoffnun- gen auf den Einsatz der Technik, auf spektakuläre Erfindungen, gründet. Das Schattenspiel mit den Flakraketen ging freilich weiter, bald noch gesteigert durch die Furcht, daß sich die deutschen Jäger gegenüber neu eingesetzten amerikanischen Langstreckenbombern mit stärkster Bewaffnung, ζ. B. der Boeing Β 29, als gänzlich wirkungslos erweisen würden27. Am 4. November 1944 ordnete ein »Führerbefehl« eine sofortige kurzfristige Stei- gerung des »Flakwaffen- und Munitionsprogramms« an. Die in der Flakversuchs- stelle in Karlshagen angefertigte Abschrift ergänzte den Befehl, dessen Bezug ohnehin eine Schimäre war, mit dem Hinweis, daß die Geräte »Wasserfall«, »Schmetterling« und »Taifun« in den Bereich der erteilten Weisung fallen sollten. Zwei Monate später befahl Speer nach einem Auftrag Hitlers vom 5. Januar 1945 noch einmal »eine Forcierung aller vom Boden aus einzusetzenden neuen Flugzeug- bekämpfungsmittel«, nunmehr mit Schwerpunkt auf den Karlshagener Entwick- lungen. Darunter verstand man jetzt auch die ursprünglich bei Henschel, Rhein- metall-Borsig und Messerschmitt entwickelten Geräte, die alle seit dem Sommer 1944 auf erprobt wurden28. Erst im Februar 1945 glückte die längst fällige »Entwicklungsbereinigung«, indem nun die sinnvolle Arbeit an den Geräten des früheren R-Programms, dessen Über- bleibsel immer mehr zu einer Art von letztem Versuch geworden waren, einmal ohne Rücksicht auf das persönliche Prestige der Beteiligten überprüft wurde. Es war bezeichnenderweise die SS, die durch den SS-Gruppenführer und Generalleut- nant der Waffen-SS Hans Kammler als »Sonderbevollmächtigten 2« und als Kom- mandeur einer Raketendivision z. b. V. nunmehr die Initiative ergriff. Mit einer Reihe von Befehlen Görings, Himmlers und Speers waren Kammler fast unbe- schränkte Vollmachten erteilt worden. Die vielen Entwicklungen bei den »Luft- abwehrwaffen« wurden nun rigoros gedrosselt, um einzelne Schwerpunkte zu er- halten.

28 Koch: a.a.O., S. 354. 27 Vgl. H. Heiber (Hrsg.): Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner mili- tärischen Konferenzen 1942-1945. Stuttgart 1962, S. 809 fl. (Lagebesprechung am 10. Jan. 1945). 28 Zu diesem Abschnitt vgl. außer den Peenemünder Akten, deren technischer Teil sich wie er- wähnt im Deutschen Museum in München befindet, während der militärische Teil im Bundes- archiv/Militärarchiv in Freiburg i. Br. lagert, auch E. Klee und O. Merk: Damals in Peene- münde. An der Geburtsstätte der Weltraumfahrt. Oldenburg und Hamburg 1963. Der neue Sonderbevollmächtigte ließ mit Befehl vom 6. Februar 194529 die Arbei- ten an den Geräten »Rheintochter« und »Enzian« sofort einstellen. Um die Ent- scheidung beurteilen zu können, genügt es, einen Blick in die zwei Tage früher er- schienenen »Arbeitsberichte der Amtsgruppe für Flakentwicklung und Rüstung« zu werfen: von der »Rheintoditer« (R 3) waren bis zu diesem Zeitpunkt 7 und von der »Enzian« 24 Versuchskörper verschossen worden. Alle jedodi nur zur Erpro- bung des Antriebes und ohne Fernlenkung30. »Mit Schwerpunkt in Entwicklung und Fertigungsanlauf« sollte nach den Kamm- ler-Bestimmungen allein die »Taifun« weitergeführt werden. Vorbereitungen für eine Fertigung erfolgten im Peenemünder Komplex auf Usedom und in den Ben- teler-Werken in Bielefeld. Allerdings war es Mitte Januar bei einem Versuchs- schießen zu einem »Gestellzerleger« gekommen, und die daraufhin geforderte induktive Abfeuerung der Salven hatte Entwicklungsarbeiten an den Abschuß- gestellen zur Folge, die im März noch andauerten31. Versuchsmuster der »Taifun« wurden dann fast bis Kriegsende verschossen, und noch im April 1945 fand in Bad Sachsa eine Besprechung über Meßergebnisse statt32. »Entwicklungsmäßig zum Abschluß« gebracht werden sollten nach den Anord- nungen Kammlers vom 6. Februar 1945 die Flakraketen »Schmetterling« und »Wasserfall«. Zum gleichen Zeitpunkt waren von der »Schmetterling« bereits 80 Versuchskörper gestartet worden, darunter freilich 21 durch Abwurf aus einem Flugzeug. Von den 59 vom Boden abgeschossenen Geräten dieses Typs mit Fern- lenkung hatten 28 befriedigt, während bei 31 »irgendein Teil versagte«33. Vom Gerät »Wasserfall« waren 28 Versuchskörper aufgestiegen, darunter 27 mit Fern- lenkung. Anfängliche Triebwerksschwierigkeiten galten als überwunden, die Ent- wicklung der Steuerung aber als nicht abgeschlossen34. Im nächsten Monat konnte die Amtsgruppe für Flakentwicklung und Rüstung, die in ihrem Heft 3 vom 18. Februar 1945 nichts über die Kammler-Bestimmungen berichtete, dann nur noch darauf hinweisen, daß infolge von Verlagerungen der beteiligten Industrien über die Geräte »Schmetterling« und »Wasserfall« keine Versuchsberichte vor- lägen35. Im unmittelbaren Zusammenhang mit den Ermächtigungen Kammlers und denver- zweifelten Bemühungen, der totalen feindlichen Luftüberlegenheit zu entrinnen, stand das letzte gewaltige Unternehmen der deutschen Raketentechnik im Zweiten Weltkrieg. So wie man in der Barockzeit Alchimisten zur erhofften Leistungssteige- rung in sogenannten Goldhäusern festsetzte, wurden bis in den April 1945 hinein verschiedene Entwicklungsgruppen, darunter die mit den in der Entwicklung ver- bliebenen Flakraketen »Wasserfall«, »Schmetterling« und »Taifun« befaßten, in einem »Sperrgebiet Mittelbau« zusammengezogen. Im unterirdischen bei Niedersachswerfen im Kreise Nordhausen sowie in den umliegenden Ort- schaften hatten die Wissenschaftler ihre Arbeit an Triebwerken, Steuerungen, Ab- standsmessern für die Zündung, an Fernlenk- und Zielsuchgeräten fortzusetzen. Beinahe wie 250 Jahre zuvor ging es darum, für die Herrschenden zur Erhaltung oder nochmaligen Steigerung ihrer Macht einen letztlich unbestimmbaren lapis

»· Der Reichsführer SS, Sonderbevollmächtigter 2. DH - 3 b 184/45 g.Kdos. vom 6. 2. 1945. Betr. Fernkampfwafien und Brechung des Luftterrors. (BA, R 26111/78, fol. 193 f.). 80 Arbeitsberichte. Amtsgruppe für Flakentwicklung und Rüstung. Nr. 2 (1945), S. 16 f. 31 Ebd. Nr. 4 (1945), S. 10. 32 DM, Techn. Akten Peenemünde (unsigniert). 33 Arbeitsberichte. Amtsgruppe für Flakentwicklung und Rüstung. Nr. 2 (1945), S. 15. 34 Ebd. S. 16. 38 Ebd. Nr. 4 (1945), S. 8. philosophorum zu finden - nunmehr »zur Brechung des feindlichen Luftterrors«. Vor allem die nicht mehr zu vermindernden Transportschwierigkeiten bewirkten, daß auch dieses Unternehmen, mit dem bis Mitte März 1945 genau 7 442 »Köpfe« im »Schwerpunktraum « zusammengeführt wurden36, von Anfang an höchst zweifelhaft blieb. Die Schritte von der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung bis zur Serie wären im Harz kaum möglich gewesen, obwohl auch für die Flak- rakete »Schmetterling« eine Fertigung im Mittelwerk (und in Brieg) noch vorge- sehen wurde. Abgesehen von der aussichtslosen Deckung des Treibstoff- und im Frühjahr 1945 auch des Sprengstoffbedarfs für eine größere Anzahl von Flak- raketen, verdienten auch die elektrischen Zubehörteile noch nicht das Prädikat serienreif. Eine aus dem sogenannten Rheinland-Programm der Firma Telefunken hervorgegangene Versuchsbatterie »Grüne Wiese« mit der Bodenanlage »Elsaß« oder »Burgund« und der Bordanlage »Söhnlein A-S« in der Flakrakete »Schmet- terling«, mit der Schießversuche bei Nordhausen geplant waren37, wäre in ihrem Effekt damals kaum mehr als eine technische Spielerei geworden. Aber selbst die Hoffnung, mit Hilfe der »Grünen Wiese« noch im Zweiten Weltkrieg wenigstens die militärische Einsatzmöglichkett von Flakraketen nachzuweisen, wurde zu- nichte. Somit standen die Verantwortlichen auch nicht mehr vor dem schwierigen Problem, die Versuchsbatterie mit ihren Antennen und dem 7-m-Spiegel des Ziel- ortungs-Funkmeßgeräts gegen überraschende Tieffliegerangriffe schützen zu müssen.

Urteile über die deutschen Flakraketen

Mit den Anordnungen Kammlers hätte die vorliegende Arbeit über die deutschen Flakraketen des Zweiten Weltkrieges mit einem Schlußpunkt versehen werden können, denn es wurde erwähnt, daß auch die an die Spitze aller Bemühungen gestellte Kleinrakete »Taifun« nicht aus dem technisch-wissenschaftlichen Ent- wicklungsbereich hinaustrat und nur in Versuchsmustern erprobt wurde. Wenn im folgenden der technische Stand der deutschen Flakraketen unter Berücksichtigung zeitgenössischer Urteile noch näher untersucht wird, so geschieht das auch deshalb, weil der von Kammler am 6. Februar 1945 befohlene Entwicklungsstopp bei man- chem Betroffenen auf Kritik stieß, obwohl er mit dem zuständigen und mit der technischen Materie bestens vertrauten General abgestimmt worden war38. Zur Beurteilung der deutschen Flakraketen im Zweiten Weltkrieg steht der For- schung ein Gutachten zur Verfügung, das am 26. Februar 1945 zu den Akten gelegt wurde39. Angefertigt hat es ein Wissenschaftler aus dem Bereich des Pla- nungsamtes im Reichsforschungsrat, dessen Mitarbeiter sich in den letzten Mona- ten des Krieges darum bemühten, wissenschaftliche Forschungs- und Entwick- lungsaufgaben zentral zu steuern. Die Expertise ist sehr kritisch gehalten, dürfte

38 Zusammenfassung der Entwicklungsgruppen in der Entwicklungsgemeinschaft Mittelbau Aktenvermerk vom 19. 3.1945. (BA/MA, FE 333). Es ist schwer zu entscheiden, ob die Be- zeichnung »Köpfe«, die in dem SS-Dokument auftaucht, als Hochachtung vor dem versam- melten wissenschaftlichen Potential aufzufassen ist - etwa im Sinne der amerikanischen egg- heads - oder ob sie - unbewußt oder bewußt - abschätzig gemeint war. 37 F. Müller: Leitfaden der Fernlenkung. Eine systematische Zusammenstellung der Verfahren und Anlagen der Fernlenkung. (Lehrbücherei der Funkortung. Bd. 2.) Garmisch-Parten- kirchen 1955, S. 178 fi. 38 W. Dornberger: V 2 - Der Schuß ins Weltall. Esslingen 1952 (2. Aufl. 1953), S. 282 ff. 39 Vergleich der Erfolgsaussichten der verschiedenen Möglichkeiten zur Brechung des Luft- terrors. (BA, R 26 ΠΙ/78, fol. 205 ff.). den technischen Stand der Flakraketen aber objektiv beurteilen. Für den erfolg- reichen Einsatz, so heißt es, der »nachgesteuerten Raketen«, d. h. der Raketen, deren Bordanlage von einer Bodenanlage Kommandos zur Bahnkorrektur emp- fangen konnte, seien vier Bedingungen zu erfüllen: die erste sei ein Triebwerk, das der Rakete eine Geschwindigkeit nahe der Schallgeschwindigkeit erteilt, die zweite eine hochfrequenz- oder drahtübertragene Nachsteuerung zur Richtungsänderung während des Fluges, die dritte ein Abstandszünder, der die Detonation des Ge- feditskopfes in der Nähe des Flugzeuges einleitet, und die vierte ein Gefechtskopf mit möglichst großer Raumgefährdung. Bei den zur Erfüllung dieser Bedingungen aufgenommenen Entwicklungen »Schmetterling«, »Wasserfall«, »Rheintochter« und »Enzian« habe nur der erste Punkt »einige Aussicht auf Erfolg«. Die Hochfrequenzsteuerung sei in ihrer Ent- wicklung noch keineswegs abgeschlossen. Noch immer überdecke die Ionisierung der Verbrennungsgase die Senderwelle und erschwere die Steuerung. Selbst bei einer günstigen Lösung sei mit einem erfolgreichen Einsatz der drahtlosen Steuerung nicht zu rechnen, da die hochfrequenztechnische Überlegenheit des Geg- ners ihm die Möglichkeit gebe, die Raketen durch Störsender entscheidend zu behindern. Auch die sehr komplizierten automatischen Abstands- und Annähe- rungszünder und die Gefechtsköpfe entsprachen nach Ansicht des sachverständigen Gutachters nicht den an sie zu stellenden technischen Anforderungen. Sein abschlie- ßendes Urteil lautete demzufolge: »Von den nachgesteuerten Raketen wird keines der 4 Projekte im nächsten halben Jahr eine Erfolgschance besitzen.« Die »selbstzielsuchenden Raketen«, zu denen die vier Flugkörper weiterentwickelt werden sollten, da als nächster Schritt nach einer voll beherrschten Fernlenkung vorgesehen war, auf den letzten zwei bis drei Kilometern je nach der Auffaßreich- weite ein selbsttätiges Zielsuchgerät einzusetzen, wurden noch kritischer beurteilt. Ihr Entwicklungsstand sei am besten charakterisiert durch den wörtlichen Aus- spruch des Bevollmächtigten für Fernsteuerungstechnik40: »Das selbstzielsuchende Geschoß bleibt dem nächsten Kriege vorbehalten.« Zwar bemühten sich um die beschleunigte Entwicklung von Zielsuchgeräten in den letzten Kriegsmonaten noch die Vertreter nahezu aller Sparten der Physik und der Elektrotechnik, doch waren zum Zeitpunkt der Kapitulation weder die akustischen, optischen und auf Ultra- rotstrahlen reagierenden Geräte noch die Hochfrequenzgeräte oder die Fernseh- köpfe bis zur Einsatzreife gediehen41. Allein um ein brauchbares Zielsuchgerät für die Flakrakete »Schmetterling« zu finden, arbeiten im Frühjahr 1945 mindestens sechs Entwicklungsgruppen an ebensovielen verschiedenen Konstruktionen. Bei der Planung der Bordausrüstung dieses Flugkörpers im Rahmen des erwähnten, nicht mehr vollendeten Rheinland-Programms konnte der Einbau einer zielweisen- den Anlage bis zuletzt nur als zukünftige Möglichkeit berücksichtigt werden42. Die bis zum Kriegsende weitergeführte technisch-wissenschaftliche Breitenarbeit beweist jedoch, wie verbissen um den technischen Fortschritt gerungen werden mußte und wie selbst das befriedigende wissenschaftliche Ergebnis vor aller wirt- schaftlichen Fertigung noch ausstand. Von allen Raketen, die zur Brechung der gegnerischen Luftüberlegenheit bestimmt waren, bestanden - nach Ansicht des anonymen Verfassers des Gutachtens für das Planungsamt des Reichsforschungsrates - neben der bereits mit guten Ergeb- nissen eingesetzten Luft-Luft-Rakete R 4 M, »Orkan«, Erfolgsaussichten nur für

40 Prof. A. Esau, Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin. 41 Müller: S. 125. 42 Ebd. die ungelenkte Boden-Luft-Rakete »Taifun«. Bei brauchbarem Antrieb werde aber immer noch eine Streuung festgestellt, wonach rund 1 000 Schuß erforderlich seien, um einen einzigen Treffer zu erzielen43. Ein abschließendes Urteil, das den Zeitpunkt der möglichen Einsatzreife deutscher Flakraketen noch weiter hinausschiebt, hat audi der für die Raketenentwicklungen entscheidende, aus dem Heereswaffenamt (Wa Prüf 11) hervorgegangene, spätere B. z. b. V. Heer, General Dornberger, gesprochen. Noch Mitte Januar 1945 hatte Speer ihm einen besonderen Arbeitsstab zur »Brechung des feindlichen Luft- terrors« beigegeben, der bis in die letzten Tage vor Kriegsende tätig und über den technischen Stand aller Raketenwaffen auf dem laufenden war. Wiederum ohne Berücksichtigung der Roh- und Treibstoffsituation, die ja in allen Prognosen außer adit gelassen wurde, kam Dornberger zu dem Schluß, daß vor dem Frühjahr 1946 kein wirkungsvoller Einsatz der gesteuerten Flakraketen möglich gewesen wäre44. Ende 1944 hatte Speer in einer Rede freilich noch davon gesprochen, »die Flak- rakete, die sich selbst auf das Flugzeug steuert«, im Frühjahr 1945 einsetzen zu können45. Offenbar war es also audi führenden Männern kaum möglich, Informa- tionen über den tatsächlichen Stand der Technik zu erhalten. Welche Entwicklungs- gruppe hätte unter den Bedingungen eines totalitären Staates aber auch freiweg er- klären mögen, daß ein zufriedenstellendes Ergebnis ihrer wissenschaftlichen Arbeit völlig ungewiß war? Wäre aber durch eine den Fernraketen vorgezogene Entwicklung der Flugabwehr- raketen bei rechtzeitiger und ausreichender Bereitstellung von Treibstoffen die rapide Verschlechterung der deutschen Rüstungssituation 1944/45 aufgehalten oder wenigstens verlangsamt worden? Entscheidende Voraussetzung für die Be- hinderung gegnerischer Luftangriffe durch Flakraketen mußte ein beschleunigter Fortschritt und möglidist ein Uberholen der Alliierten auf dem Gebiet der Hodi- frequenztedinik sein. Nur so hätte sich die für die Wirksamkeit der Boden-Luft- Raketen ausschlaggebende Fernlenkung und selbsttätige Steuerung entwickeln und beherrschen lassen. Die deutschen Naturwissenschaftler und Ingenieure befanden sich, wissenschaftlich gesehen, auch auf dem richtigen Weg, doch läßt sich eben nicht vermeiden, daß eine von technischen Laien, von Politikern und Militärs geforderte außergewöhnliche Beschleunigung des technischen Fortschritts in der Regel an tech- nikimmanenten Gegebenheiten scheitert. Auch die zeitweilige Fehlbeurteilung der Zentimeterwellentechnik durch deutsche Wissenschaftler war insofern nichts Unge- wöhnliches, als jeder technische Fortschritt mit Irrtümern und Fehlschlägen erkauft werden muß. Wichtige und heute unerläßliche Bestandteile jeder Raketentechnik wie Transistor und Mikrominiaturisierung wurden gar erst 1948 bzw. in den 60er Jahren erfunden und entwickelt. Für jede technische Lösung, die einen Fortschritt der Wissenschaft zur Voraussetzung hat, ist also der Zeitfaktor zu beachten. Je komplizierter und komplexer die Kampfmittel sind, desto größer wird auch der Zeitaufwand, der von den verschiedenen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen für die Grundlagen- und Zweckforschung sowie die Entwicklung bis hin zur Erprobung und Serienfertigung anzusetzen ist. Die Frage nach Möglich- keiten eines wirkungsvollen Einsatzes deutscher Flakraketen noch im Zweiten Weltkrieg kann nur verneinend beantwortet werden, und zwar auch dann, wenn man unterstellt, daß die Entwicklungsaufträge schon ein Jahr früher als 1942 erteilt worden wären.

43 Wie Anm. 39. 44 Dornberger: S. 285. 45 Rede Speers am 1.12.1944 in Rechlin (BA, R 3/1556). Am Rande soll hier noch auf eine Tatsache hingewiesen werden, die erst in unserer Zeit stärker beachtet wird. Gemeint sind die Erfahrungen, die eine mit moderner Technik ausgerüstete Armee bei der Verwendung komplizierter Waffensysteme macht. Der Betrieb solcher Geräte erfordert Spezialisten im Mannschaftsdienst- grad, die mit ihrem Fachkönnen die traditionelle Führungsstruktur gefährden, da es sie audi zu Aussagen über den taktischen Einsatz der Geräte befähigt. Im Zwei- ten Weltkrieg war man auf die daraus entstehenden Schwierigkeiten noch weniger vorbereitet als heute, wo immerhin die Möglichkeit besteht, die technischen Grund- einsichten, von denen bereits die Rede war, jedwedem Militär zu vermitteln. So muß auch bezweifelt werden, ob die deutsche Wehrmacht in der Lage gewesen wäre, den auf sie zukommenden personellen Schwierigkeiten beim Einsatz zahl- reicher Raketenbatterien zu begegnen. Erforderlich werdende neue Leitsätze der Kriegskunst lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen aufstellen. Abschließend bleibt noch der kritische Rückblick auf den literarischen Ausgangs- punkt dieser Arbeit. Er fand sich als Satz mit folgendem Wortlaut in einem weit- verbreiteten Handbuch über die deutsche Waffentechnik im Zweiten Weltkrieg: »Die deutschen Flabraketen wären in der Lage gewesen, das Überfliegen deutschen Gebietes durch Feindflugzeuge mit unbedingter Sicherheit zu unterbinden .. .«4e. Der Verfasser dieses Satzes verkennt den Sinn und die Bedeutung des Historischen und auch des Technikhistorischen. Seiner These im Konjunktiv kann schon deshalb keine geschichtliche Aussagekraft zukommen, weil rüstungstechnische und taktische Gegenmaßnahmen der anderen Seite unberücksichtigt bleiben. Als Geräte, deren technisch optimale Lösung sich im Frühjahr 1945 nur erahnen ließ, blieben die deutschen Flakraketen des Zweiten Weltkrieges eine Episode in der Geschichte der Raketentechnik. Nach dem Kriege wurden mit alliierten Weiterentwicklungen all- mählich zwar militärisch befriedigende Ergebnisse erzielt, doch besitzt selbst in der Gegenwart, also nach einem Vierteljahrhundert technischen Fortschritts, noch kein Staat der Erde ein Flugabwehrmittel, auf das die zitierte Aussage zutreffen könnte. Kampfmittel von allgemeingeschichtlicher Bedeutung wären die deutschen Flak- raketen im Zweiten Weltkrieg nur dann geworden, wenn ihr tatsächlicher Einsatz im Kriegsgeschehen direkt oder indirekt meßbare Auswirkungen hinterlassen hätte. Somit bleibt allein die verstandesbeeinflussende Wirkung beachtenswert, die von ihnen im Bannkreis eines Wunderwaffen-Mythos auszugehen vermochte.

4e Lusar: S. 246. Vgl. oben S. 88. Die besonderen Verdienste Lusars, der in seinem Buch mit Akribie wertvolle Einzelheiten über die deutschen WaSenentwicklungen zusammengetragen hat, sollten mit den vorstehenden Ausführungen übrigens in keiner Weise geschmälert werden. IOO Hier ging es nur um eine historisch unhaltbare Schlußfolgerung.