Die Deutschen Flakraketen Im Zweiten Weltkrieg1
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Karl-Heinz Ludwig Die deutschen Flakraketen im Zweiten Weltkrieg1 In einem 1967 veröffentlichten Sammelband über den Zweiten Weltkrieg wird darauf hingewiesen, daß schätzungsweise rund hunderttausend »beachtenswerte« geschichtswissenschaftliche Beiträge zu diesem, die politische Situation der ganzen Erde umgestaltenden Ereignis veröffentlicht worden sind2. Vergleichsweise wenig ist über die Rüstung geschrieben worden, d. h. über die technisch-wissenschaftliche Entwicklung von Kriegsgerät, seine tedinisch-wirtsdiaftliche Fertigung und die Modalitäten der späteren Anwendung. Aber nicht nur die Probleme der Rüstung und damit der Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg sind unzureichend durchdrungen, noch weniger geklärt ist ihr tatsächlicher Zusammenhang mit denen der Strategie. Bis heute läßt sich nidits Endgültiges darüber aussagen, ob das zunächst so ein- gängige Schema stimmt, wonach zu einer deutschen Blitzkriegsstrategie der ersten Kriegsjahre eine konzipierte Breitenrüstung gehört habe und ab Ende 1941 mit dem sich in die Länge ziehenden Krieg eine Phase der Tiefenrüstung begann8. Die Brauchbarkeit dieses Schemas muß stark angezweifelt werden. Die wechselnden strategischen Zielsetzungen in der Zeit bis 1941 haben naturgemäß nur eine Rüstung der Breite ermöglicht. Eine durchgestaltete Rüstung der Tiefe aber, d. h. geplante Forsdiungs-, Konstruktions- und Entwicklungsarbeiten auf längere Sicht, ein langfristiger Ausbau aller Grundindustrien, eine frühzeitige Abstimmung der Geräteendfertigung beispielsweise mit der Treibstoffversorgung usw., hat sich selbst in der »Ära Speer« ab Februar 1942 nur noch bedingt durchführen lassen. Um zu einem endgültigen, abgesicherten Urteil zu kommen, bedarf es noch vieler Einzelarbeiten über die Gegenstände und die Verfahren der nationalsozialistischen Rüstungspolitik. Bei solchen auch die Technik in die Geschichte einordnenden Dar- stellungen muß der Historiker freilich jene eigenartige Grenze überschreiten, die sich heute zwischen den »zwei Kulturen«, der geisteswissenschaftlichen einerseits und der naturwissenschaftlichen anderseits, abzeichnet4. Der Geschichtsforscher muß bei diesem Schritt - um es kurz zu sagen - nicht nur seine Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragen der Technik beweisen, er muß sich audi um jene technische Grundbildung und um jene technischen Grundeinsichten bemühen, welche die so- genannten allgemeinbildenden Schulen bis heute nicht vermitteln, die aber als Vor- aussetzung für jedes Bestehen des Menschen in der technischen Welt in einigen Jahren auch in Deutschland zum Bildungskanon gehören werden. 1 Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung eines Vortrages, den der Autor am 27. Februar 1968 in der Universität Stuttgart im Rahmen eines von Sr. Magnifizenz, Prof. Dr. Leonhardt, angeregten Colloquiums über »Moderne Fragestellungen aus dem Gebiet der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik« gehalten hat. 2 Vgl. A. Hillgruber (Hrsg.): Probleme des Zweiten Weltkrieges. (Neue Wiss. Bibliothek 20 - Geschichte). Köln u. Berlin 1967, S. 11. 3 So A. S. Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939-1945. (Schriftenreihe der Viertel- jahreshefte für Zeitgeschichte Nr. 12). Stuttgart 1966, S. 14 ff. u. 70 ff. Der Begriff »Tiefen- rüstung« oder »Tiefe der Rüstung« entstammt übrigens ebenso wie der Gegensatzbegriff dem deutschen militärwissenschaftlichen Bereich. * Vgl. C. P. Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. (Versuche 10.) Stuttgart 1967. Mit den Raketen, ihren technischen Lenkmitteln sowie Antrieben, die nicht nur in Flugkörper, sondern auch in Torpedos, Starthilfen, Flugzeuge und U-Boote ein- gebaut wurden, wird ein besonderes Kapitel der deutschen Rüstung im Zweiten Weltkrieg angeschnitten. Als »Wunder waffen« gaben diese Geräte ein leicht zu handhabendes Instrument für die Propaganda ab. Angesichts der quantitativen Überlegenheit der Alliierten, die trotz erfolgreicher deutscher Bemühungen zur Rüstungssteigerung immer größer wurde, blieb den Parteirednern audi nichts anderes übrig, als sich wortgewaltig mit den Waffen zu befassen, mit denen viel- leicht eine technische oder qualitative Überlegenheit zu erreichen war. Im End- effekt repräsentierten die deutschen Raketen aber stets eher den technischen Fort- schritt auf dem Gebiet der Antriebsaggregate, als daß sie Wunderwaffen hinsicht- lich ihrer Wirkung auf feindliche Streitkräfte waren. Dennoch werden Spekula- tionen um ein Zuspätkommen dieser Waffen bis in unsere Tage hinein angestellt. Sie betreffen dann weniger die beiden sogenannten V- oder Vergeltungswaffen, die Flug- bombe Fi 103 und das Peenemünder Aggregat 4, deren letztlich sinn- oder zumin- dest erfolglose Kriegseinsätze seit Juni bzw. September 1944 im deutschen Wehr- machtbericht bald nur am Rande, bei der V 2 erst zwei Monate nach Einsatz- beginn, mehr oder weniger stereotyp als anhaltendes Vergeltungsfeuer gegen Eng- land gemeldet wurden5. Von den Boden-Luft-Raketen hingegen konnte ein Autor noch im Jahre 1964 in der 5. überarbeiteten Auflage seines übersetzt auch in den USA erschienenen Handbuches zur Geschichte der Waffentechnik behaupten, daß sie in der Lage gewesen wären, »das Uberfliegen deutschen Gebietes durdi Feind- flugzeuge mit unbedingter Sicherheit zu unterbinden«®. Wird den deutschen Flakraketen7 des Zweiten Weltkrieges aber eine solche Bedeu- tung zugesprochen und damit ein Stellenwert beigegeben, der sie zu einer kriegs- entscheidenden Größe werden läßt, dann muß sich der Historiker mit ihnen auch unter den erschwerten Bedingungen befassen, die sich bei der Zusammenschau mili- tärisch-politischer und technisch-wirtschaftlicher Faktoren ergeben. Die geschichtliche Situation Als Ausgangspunkt der Darstellung mag ein kurzer Überblick über Zusammen- hänge von Strategie und Rüstung im fortgeschrittenen Kriegsstadium dienen. Der Versuch, auch den Feldzug gegen die Sowjetunion nach den Grundsätzen der Blitz- kriegstrategie zu führen, war bis zum Herbst 1941 gescheitert. Zwei Tage vor Angriffsbeginn hatte eine Anordnung Hitlers zwar schon Einschränkungen der Heeresrüstung zugunsten der Luftwaffe und ihrer Verwendung im Mittelmeer- raum sowie bei der wieder erwogenen »Belagerung Englands« vorgesehen, doch wurden die dafür eingeleiteten Maßnahmen spätestens im September ebenso frag- lich wie die organisatorisch vorbereitete Auflösung ganzer Heeresdivisionen. Nach dem Fehlschlag des am 2. Oktober begonnenen Vorstoßes auf Moskau waren dann neue Befehle erforderlich, um die tatsächlich schon stark eingeschränkte Fertigung von Heeresmunition wieder drastisch zu erhöhen. Wer damals rüstungswirtschaft- β Vgl. E. Murawski: Der deutsche Wehrmachtbericht 1939-1945. Ein Beitrag zur Unter- suchung der geistigen Kriegführung. Mit einer Dokumentation der Wehrmachtberichte vom 1. 7.1944 bis zum 9. 5.1945. (Schriften des Bundesarchivs 9.) Boppard 1962, S. 105 u. 177 ff. • R. Lusar: Die deutschen Waffen und GeheimwaSen des 2. Weltkrieges und ihre Weiterent- wicklung. München 51964, S. 246. 7 Die Benennung »Flakraketen« wurde beibehalten, obwohl in der Nachkriegszeit - sprachlich korrekter - von Fla- oder Flabraketen gesprochen wird. Abb. 3: Versuchsgerät der Flakrakete »Rheintochter« (R 1) auf dem Abschußgestell, Juni 1944 Abb. 4: Zweites Versuchsgerät der Flakrakete »Enzian« (Ε 1) auf der Startlafette, Juni 1944 lidi zu denken vermochte, erkannte schon vor Hitlers Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941, daß der Krieg für Deutschland verlorengehen würde, da auf längere Sicht unbedingt das materielle Potential der Gegner den Ausschlag geben mußte. Die Vorstellungen freilich, die Fritz Todt als Reichsminister für Bewaffnung und Munition während einer denkwürdigen Besprechung in der Reichskanzlei am 29. November und auch später noch bei Hitler erhob8, damit dieser den Krieg beende, blieben fruchtlos. Im militärischen Bereich hatte General Georg Thomas, der Leiter des Wehrwirtsdiafts- und Rüstungsamtes, sogar schon seit der Jahreswende 1940/41 mit wirtschaftlicher Begründung vor einer bewaff- neten Auseinandersetzung mit der Sowjetunion gewarnt. Auch den von ihm nach Beginn des neuen Ostfeldzuges unternommenen Bemühungen, die Befehlshaber der Heeresgruppen gegen Hitler zu aktivieren, blieb der Erfolg versagt®. Die nunmehr - wenn auch mit Hinweisen auf die Jahreszeit noch zu bemänteln - vom Angriff in die Verteidigung gedrängte deutsche Führung mußte ab 1941/42 versuchen, die Rüstung zunächst und bald auch endgültig auf eine Massenfertigung an Heeresmaterial umzustellen. Die mit Führerbefehlen und ihren Ausführungs- bestimmungen angeordnete kriegswirtschaftliche Umorientierung erwies sich um so nötiger, als auch die von Stalin ab Juli 1941 geforderte zweite Front in Europa nicht erst 1943 in Italien oder 1944 in Frankreich errichtet wurde, sondern faktisch schon 1942. Immer häufiger zeigten sich die britischen und ab Januar 1943 auch die amerikanischen Luftflotten in der Lage, deutsche Stadtgebiete und mit den Angriffen auf die Kugellagerwerke in Schweinfurt sowie das Raketengelände Peenemünde (Ost) im August 1943 auch Rüstungszentren mit großen Erfolgen zu bombardieren. Als sich in dem kritischen Jahr 1943 dann auch noch offenbarte, daß Deutschland den mit Hilfe des Radarnavigationssystems H2S (nach dem Ort der ersten Erbeutung »Rotterdam-Gerät« genannt) geflogenen Nachtangriffen fast schutzlos preisgegeben war, wurden immer mehr Hoffnungen auf die Flakraketen gesetzt. Nicht einmal ein Jahr lang hatte ein Beschluß von Vertretern des Heereswaffen- amtes und der führenden deutschen Raketenbauer über eine vom