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Sendung vom 24.10.2001, 20.15 Uhr

Sena Jurinac Sängerin im Gespräch mit Stephan Mayer

Mayer: Willkommen zu Alpha-Forum, heute mit der Sopranistin Sena Jurinac. Im Munzinger-Archiv steht, Sie seien eine kroatisch-österreichische Sopranistin. Sie haben auf allen großen Bühnen der Welt gesungen, Sie haben weit über 1000 Vorstellungen gegeben. Gebürtig sind Sie aus Jugoslawien und hatten dann Ihre musikalische Heimat in Wien, also in Österreich. Heute leben Sie in Bayerisch-Schwaben, nämlich in Augsburg. Wo ist eigentlich Ihre Heimat? Jurinac: Meine Heimat ist dort, wo der Mensch lebt, mit dem ich leben will und den ich liebe. Mayer: Das wäre also jetzt Bayerisch-Schwaben. Jurinac: Richtig. Mayer: Begonnen hat alles in Jugoslawien. Jurinac: Nein, denn wenn man es genau betrachtet, hat alles eigentlich noch im alten k. u. k. Österreich begonnen. Denn mein Vater war noch k. u. k. Regimentsarzt und heiratete meine Mutter. Es kam dann aber der Erste Weltkrieg, der sie auseinander brachte. Nach vier Jahren in der Gefangenschaft ging er sofort nach Wien, um meine Mutter nach Kroatien, also ins damalige Jugoslawien mitzunehmen. Die Familie war nicht sehr glücklich, denn nach all dem war es damals nicht gerade ratsam gewesen, eine Österreicherin zu heiraten. Also hat man alles versucht, um ihn aus Varazdin wegzubekommen. Varazdin ist dort, "wo die Rosen blühen", wie es im Lied so schön heißt. Das heißt, er ist dann nach Travnik versetzt worden. Travnik ist in Bosnien. Und wenn mich heute jemand fragt, wo Travnik in Bosnien eigentlich ist, dann sage ich immer, dass Travnik in Bosnien auch der Ort ist, in dem Ivo Andric geboren wurde. Und Ivo Andric war der Nobelpreisträger, der die "Brücke über die Drina" und das schöne Buch "Wesire und Konsuln " – wie es im deutschen Titel heißt – geschrieben hat. Dort nun bin ich auch geboren. Mayer: Sie haben diese k. u. k. Monarchie angesprochen: Das war doch insgesamt ein Raum, aus dem sehr viel Kulturelles hervorgegangen ist, wie man sehr wohl sagen kann. Ist Ihnen denn dort in diesem Raum die Kultur sozusagen in die Wiege gelegt worden? Jurinac: Dort sicherlich nicht. Aber meine Mutter, eine Wienerin, war sehr westlich orientiert und hat sehr darunter gelitten, dass mein Vater nach Bosnien versetzt worden war. Man wollte ihn anschließend auch noch nach Montenegro versetzen, davor hat er jedoch abgedankt und ist aus der Armee ausgetreten. Er ging dann nach Lukavac, wo ich meine Volksschulzeit absolviert habe. Dieser Ort ist in der Nähe von Tusla: Nach den jüngsten Ereignissen der Geschichte ist einigen Zusehern und Zuseherinnen dieser Ort vielleicht noch ein Begriff. Als ich mit der Volksschule fertig war, meinte meine Mutter, ich müsste unbedingt nach Zagreb ins Gymnasium gehen. Als ich noch ganz klein war, hat sie mich immer sehr gequält mit dem Klavierspielen: Ich musste immer üben, während die anderen Kinder spielen durften. Als Kind war mir das gar nicht recht gewesen. Mayer: Glauben Sie denn, dass man den Kindern überhaupt das Klavierspielen mit Druck beibringen sollte? Oder soll man sagen, dass sie es lassen sollen, wenn sie keine Lust dazu haben? Gibt es überhaupt begabte und weniger begabte Kinder? Jurinac: Ich wollte nicht Klavierspielen. Denn keines der Kinder, mit denen ich gespielt habe, hat das gemacht: Das waren Arbeiterkinder. Vom Klavierspiel haben die natürlich überhaupt nichts gehalten. Aber meine Mutter hat doch darauf bestanden. Nun, in Zagreb bin ich dann in einer Klosterschule aufs Gymnasium gegangen. Diese Schule war natürlich nicht so frei wie die Schulen und Internate heute: Alles war sehr streng. Beim Turnen mussten wir noch knöchellange Hosen anziehen, beim Baden alle vierzehn Tage saßen wir im Hemdchen in der Badewanne usw. Meine Mutter fand eigentlich auch, dass das nicht ganz das Wahre für mich sei und hat mich dann heimlich nebenbei in eine so genannte rhythmische Tanzschule geschickt. Das war etwas sehr Wichtiges, weil das für mein weiteres Leben eine sehr große Rolle gespielt hat. Denn diese Schule hat den Auftrag bekommen, nach Rotterdam zu fahren, um dort südslawische Tänze aufzuführen. Die Dame, die diese Schule geführt hat, hat mich auf diese Reise unbedingt mitnehmen wollen. Wir traten dort so richtig in Volkstrachten auf. All das musste heimlich geschehen, aber man hat von dieser Sache in der Klosterschule trotzdem Wind bekommen und mich von dieser Schule geworfen. Warum war das für mein Leben so wichtig? Mit uns fuhr nämlich ein Kapellmeister, der unser Orchester in Rotterdam geleitet hat. Wir jungen Leute haben auf der Fahrt ununterbrochen gesungen und geschrien. Wenn es ans Singen ging, hat es immer geheißen, ich soll anfangen: Dann erst ging das allgemeine Gejohle los. Als wir nach Hause zurückkehrten, ging er zu meiner Mutter und sagte zu ihr: "Sie müssen das Mädchen unbedingt singen lernen lassen!" Mayer: Das war also sozusagen eine Musikkarriere, die aus der Volksmusik heraus geboren wurde. Jurinac: Ja, aus der Volksmusik heraus und aus dem Bedürfnis heraus, zu singen, zu johlen, fröhlich zu sein und Spaß am Singen zu haben. Das war es. Als der das zu meiner Mutter sagte, war das natürlich eine Katastrophe, denn Sängerin war doch kein Beruf! Mein Vater wollte, dass ich Medizin studiere, meine Mutter wollte, dass ich Dolmetscherin werde, weil ich doch zweisprachig aufgewachsen war. Ich wollte beide Richtungen nicht. Mayer: Weiter ging es dann in musikalischer Hinsicht ebenfalls in Zagreb. Jurinac: Ja, in Zagreb habe ich mir ein paar kleine Lieder einstudiert, z. B. "Wohin" von Schubert. Damit ging ich zu einer Gesangslehrerin, die mich dann auch als Schülerin genommen und an die Musikschule gebracht hat. Es hat dann nicht lange gedauert, das waren nur zwei, drei Jahre, bis man mich aus dieser Schule herausgeholt hat, weil ich am Theater das erste Blumenmädchen spielen und im Chor singen sollte. Damit fing es an. Das war im April 1942, und schon Ende Mai 1942 hatte ich mein offizielles Debüt. Mayer: Ihr Debüt war als Mimi in "La Bohème". Jurinac: Ja, das war mein offizielles Debüt: in kroatischer Sprache. Mayer: Dieses Stück kennt in der Zwischenzeit ja eigentlich jeder, weil das eine sehr oft gespielte Oper von Giacomo Puccini ist, wahrscheinlich ist sie sogar die populärste Oper überhaupt von ihm. Ist es eigentlich eine übliche Angelegenheit, dass man als erste Rolle gerade diese Partie singt? Oder war das schon eine ganz besondere Herausforderung? Jurinac: Für mich war das sicherlich eine Herausforderung, aber es ist schon recht oft so, dass man diese Mimi in den ersten Jahren, in denen man singt, bekommt. Ich weiß aber nicht, ob das ein Zeichen dafür ist, dass diese Rolle sehr leicht ist. Denn sie ist in der Tat nicht sehr leicht. Ich hatte jedenfalls ein Engagement und dann ging es auch schon los: mit der "Verkauften Braut", mit der Margarete in "Faust", mit der Gräfin im "Figaro" usw. Wohlgemerkt, das haben wir dort damals alles in kroatischer Sprache gesungen. Mayer: Wie war denn damals der Musikbetrieb dort? Kann man sagen, dass auch dort in diesem Opernhaus aus dieser Freude heraus, die Sie schon angesprochen haben, musiziert worden ist? Oder hat da eher die berufliche Komponente eine Rolle gespielt, war da eher dieser Musikbetrieb ganz aufrecht zu erhalten? War die Spielfreude groß? Jurinac: In Zagreb hat man damals sehr, sehr viel mit Musik zu tun gehabt. "Parsifal" war z. B. jedes Jahr an Ostern mit diesen wunderbaren Kollegen ein absolutes Muss: Das musste man einfach gehört haben in Zagreb. Es hat dort jedenfalls immer sehr schöne Aufführungen gegeben. Der damalige Direktor an der Oper oder die Dirigenten waren alles Leute, die sehr eng mit dem Kulturleben in Zagreb verbunden waren. Mayer: Man kann also sagen, dass Ihr damaliger Beginn einigermaßen normal gewesen ist, so, wie das in einem Sängerleben einfach läuft. Man bekommt ein erstes Engagement und macht dann weiter. Eine Wunderkind-Karriere haben Sie jedenfalls nicht gemacht. Jurinac: Nein, ich war kein Wunderkind. Es ging dann aber alles doch sehr, sehr schnell: Es ging fast zu schnell. Ich bekam dann nämlich auch eine Einladung, bei Clemens Krauss hier in München vorzusingen: Damals herrschte natürlich noch Krieg. Ich kam nach München, in der Nacht vor dem Vorsingen hat es Fliegeralarm gegeben, sodass man die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Am nächsten Tag um zehn Uhr am Morgen musste ich nichtsdestotrotz vorsingen. Ich habe es schon oft gesagt: Für heutige Begriffe wäre das unmöglich. Ich habe jedenfalls vorgesungen und Clemens Krauss schickte mich nach Hause mit den Worten: "Sie sind noch etwas jung, Fräulein. Lernen's noch was! Vielleicht treffen wir uns ja wieder." Wir haben uns dann in der Tat in Wien wiedergetroffen. Mayer: Das hat nicht mehr so lange gedauert. Denn Karl Böhm hat sie schon recht bald nach Wien geholt. Jurinac: Ja, ich bekam dann die Einladung, nach Wien zu kommen. Ich sollte eigentlich an die Volksoper gehen, weil eine Kollegin an die Staatsoper engagiert worden war. Es war so, dass ich zunächst einmal vielen anderen Kapellmeistern vorsingen musste. Eines Tages hieß es dann, ich soll auf der großen Bühne dem Dr. Böhm vorsingen. Ich habe dabei meine üblichen Arien vorgesungen: die g-Moll Arie der Pamina, die Agathe aus dem "Freischütz" und "Elsas Traum". Diese drei Sachen habe ich also vorgesungen und Dr. Böhm meinte dann aber: "Freilein, ham's noch was zum Vorsingen?" - "Nein, eigentlich nicht." - "No, aber Sie werden doch noch was g'sungen ham bis jetzt." Ich antwortete ihm dann: "Ja, schon, die Butterfly-Arie. Aber die kann ich nur auf Kroatisch." Es herrschte eine Weile Stille und dann hieß es von unten: "Na singens es halt Kroatisch!" Ich habe das gesungen und danach wurde ich sogar gefragt, ob ich denn Interesse daran hätte, an der Wiener Staatsoper engagiert zu werden. Ich meinte dann, dass ich schon ein Interesse hätte. Es wäre aber jetzt eine ganz lange Geschichte zu erzählen, wie das alles weitergegangen ist. Mayer: Hatte denn die Wiener Staatsoper damals schon diese Bedeutung, die sie heute hat? Jurinac: Na, sicher doch! Mayer: Das war also schon ein Angebot von einem der führenden Häuser in der Welt? Jurinac: Ja, man hat dort schon auch noch ein bisschen Theater gespielt zu der Zeit. Das Haus ist dann jedoch unmittelbar danach geschlossen worden. Noch bevor ich nach Wien fuhr, habe ich einen anonymen Anruf erhalten, dass ich nicht fahren soll, weil die Oper in drei Tagen geschlossen werden wird. Ich bin aber trotzdem gefahren. Mayer: Wissen Sie heute, wer Sie da angerufen hat? Jurinac: Ich weiß bis heute nicht, wer das war. Es war aber so, dass ich für eine Dame, die ich damals in Zagreb recht gut kannte, einen Brief mitnehmen musste. Nachher hat sich dann herausgestellt, dass das die Tilla Durieux war, die in Zagreb versteckt gelebt hat. Ich kam also nach Wien und die Oper wurde tatsächlich drei Tage später geschlossen. Alle Sänger und Sängerinnen wollte man in die Fabrik zum Arbeiten schicken. Ich hatte ja zunächst einmal noch überhaupt keinen Vertrag erhalten. Die Zustände waren so, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Mayer: Sie gingen von zu Hause weg, hatten kein Geld und saßen dann in Wien: Das war eine Zeit, in der eigentlich gar nichts mehr ging. Jurinac: Es ging nichts mehr. Man hat mir zuerst einmal keinen Vertrag geben können und dann hat man mir aber doch mit Mühe und Not einen Vertrag unterbreitet. Durch diesen Vertrag habe ich 300 Mark im Monat bekommen, sodass ich mich mit meiner Mutter, die gleich danach nachgekommen war, durch diese Zeit irgendwie „durchfretten“ konnte. Es war jeden Tag Fliegeralarm, aber wir haben uns trotzdem immer an der Oper getroffen. Im März 1945 ging man bei einem dieser Fliegerangriffe wie üblich über die Treppen drei Stockwerke tief in den Keller der Oper unter die Bühne. Als das Ganze dann vorbei war, ging man natürlich wieder hinauf. Kurz bevor wir aber oben angekommen sind, hieß es plötzlich: "Vierter Anflug der Flugzeuge !" Und schon hat es gekracht. Ich bin wirklich nur per Zufall am Leben geblieben, denn einen Schritt weiter hätte mich diese eiserne Tür, die durch den Druck durch die Luft geflogen ist, ganz sicher erwischt – und weg wäre ich gewesen. So ging das jeden Tag weiter, aber man hat dabei trotzdem den Mut nicht verloren. Man hat dann eines Tages zu mir gesagt: "Wir machen in acht Tagen die 'Martha' von Flotow. Dafür haben wir aber keine Nancy. Sie müssen bis dahin die Nancy lernen." So kam es, dass ich in vier, fünf Tagen diese Nancy gelernt habe. Es hat dann aber wieder geheißen, wir würden nach Triest fahren. Es kamen dann aber davor doch die Russen nach Wien. Und aus war's. Bald darauf kam dann ein Russe zu unserem technischen Direktor und sagte auf Deutsch: "Erste Mai Vorstellung muss sein!" Der Direktor sagte ihm: "Das geht nicht, das Haus ist kaputt. Alles ist kaputt." - "Erste Mai Vorstellung muss sein!", hat der Russe erneut gesagt. "Das geht aber nicht!" Da zog der Russe eine Pistole und sagte: "Geht!" Und es ging tatsächlich. Ich lernte in zehn Tagen den Cherubino. Mayer: Das war also der "Figaro", der gespielt wurde. Jurinac: Ja, das war "Figaros Hochzeit". In der Zeit fing dann eben auch so langsam dieses Mozart-Ensemble an: mit Krips und Paulig. Mayer: Sprechen wir doch ein wenig über dieses Mozart-Ensemble. Es liegt ja der Schluss nahe, dass einen dieser Drang zu spielen unmittelbar nach dem Krieg – und vielleicht auch schon während des Kriegs, wenn man an die Zeit danach gedacht hat – ganz besonders zusammengeschweißt hat. Das ist doch bestimmt eines dieser Geheimnisse dieses berühmten Mozart- Ensembles gewesen. Jurinac: Es war zunächst einmal so, dass nicht viele Leute in Wien geblieben waren, denn viele waren gegangen, als die Situation kritisch wurde. Krips war jedenfalls noch da, Seefried war da, Pernerstorfer war da usw. Ein paar Leute waren also schon noch da. Diese paar Leute hat man dann auch gleich eingespannt und wir machten diesen "Figaro". Anschließend musste aber auch jeden Tag gespielt werden: Es mussten sofort "Bohème", "Verkaufte Braut", "Fledermaus" usw. einstudiert werden. Man hat also gearbeitet. Und man hat nicht danach gefragt, was man bezahlt bekommt! Man war einfach selig, dass man überhaupt arbeiten durfte und konnte. Was sind wir damals zu Fuß durch die ganze Stadt gelaufen! Denn es hat damals ja noch nicht wieder eine Straßenbahn gegeben. Als die Vorstellungen dann anfingen, war es so, dass wir am Vormittag zu Fuß zur Probe gelaufen sind für die nächste Vorstellung, die schon in Vorbereitung war. Dann ging man in die Kantine, etwas Wurmiges essen: wurmige Erbsen usw. Um zwei Uhr war dann Garderobe und um drei Uhr ging die Vorstellung los. Um sechs Uhr musste die Vorstellung zu Ende sein, denn um sieben Uhr musste jeder zu Hause sein, weil er sonst, wenn er auf der Straße aufgegriffen worden wäre, erschossen worden wäre. Mayer: Hatte man denn aufgrund dieser ganzen Umstände überhaupt Zeit, über die Musik an sich nachzudenken? Sicherlich, die Rollen mussten ja einstudiert werden, aber heute ist es doch so, dass sich alles nur noch auf die Schönheit der Musik konzentriert. Wie war das damals bei diesen Rahmenbedingungen? Jurinac: Ich rate ja jedem Menschen, sich mit Musik zu beschäftigen. Denn das ist etwas, was einem wirklich durch das Leben hilft. Wir haben damals darüber nicht viel nachgedacht: Wir waren so selig, dass wir musizieren konnten und durften. Das hatte damit zu tun, dass wir innerlich diesen Existenzkampf aufgenommen haben, der uns getrieben hat weiterzumachen. Man denkt dann nicht an solche Sachen, dass man vielleicht nicht singen könnte, weil man nicht genug gegessen hat, ob man verkühlt ist oder nicht: Man hat bis 1948/49 immer und unter allen Umständen gesungen. Im Herbst konnten wir dann ins "Theater an der Wien" übersiedeln. Denn davor hatten wir ja immer nur oben in der "Volksoper" gespielt. Ab Herbst wurden dann die "Volksoper" und das "Theater an der Wien" bespielt. Das waren alles Selbstverständlichkeiten: Da hat man nicht groß gefragt. Mayer: Aus all diesen Umständen heraus entstand dann jedenfalls dieses berühmte Wiener Mozart-Ensemble, zunächst unter Josef Krips und dann auch unter Karl Böhm. Sprechen wir an dieser Stelle doch mal kurz über Mozart. Sie haben viele der wichtigen Mozart-Rollen gesungen: Was haben Sie eigentlich für ein Verhältnis zu Mozarts Musik? Jurinac: Ich habe ein unbeschreibliches Verhältnis zu Mozarts Musik. Ich habe wohl auch fast alles von ihm, war für meine Stimme geeignet war, gesungen. Ich habe zuerst den Cherubino und dann die Gräfin gesungen, danach dann die Donna Elvira und die Donna Anna. Später habe ich Ilia und Elektra gesungen. Mayer: Aus "" Jurinac: Auch die Dorabella aus "Così fan tutte" und "Fiordiligi", das war die erste Oper, die ich in Glyndeborne gesungen habe. In Glyndeborne war ich seit 1949. Die Dorabella durfte ich zuerst 1947 in Salzburg singen. Mayer: Kommen wir noch einmal kurz zu Mozart. Was ist denn das Besondere an Mozarts Musik? Wenn man sich so viel wie Sie damit beschäftigt hat, hat man zu dieser Musik natürlich einen anderen Zugang, als wenn man sie nur hört. Jurinac: Das ist die Phrasierung, die Tonlage usw. Man braucht sich doch nur die Noten anzusehen. Auch die Rezitative sind wichtig: Man findet da Recitativo Accompagnato oder Secco, also mit Orchester oder nur mit Cembalo oder Klavier. Das sind alles Dinge, die man bei ihm lernt. Ich muss sagen, dass uns in dieser Hinsicht Josef Krips unwahrscheinlich viel gegeben hat. Denn er hat sich wirklich mit jedem von uns einzeln beschäftigt. Danach erst hat er die Dinge mit zwei und drei Sängern einstudiert. Wir konnten daher in all diesen Stücken nicht nur unsere eigene Rolle, sondern fast jede andere Rolle auch, die darin vorkamen. Mayer: Ist etwas dran an dieser Einfachheit, die man zumindest heraushört bei Mozart? Jurinac: Nun, man muss da auch sauber singen. Man hört es jedes Mal ganz genau, wenn etwas nicht ganz sauber gesungen wird. Bei Mozart geht das überhaupt nicht: So etwas kann man vielleicht ein ganz klein wenig in einer romantischen Oper machen, weil man sich da möglicherweise ein bisschen durchschwindeln kann. Aber bei Mozart muss es immer klare Musik sein. Mayer: Was war denn Ihre liebste Mozart-Rolle? Jurinac: Ich werde oft gefragt, was meine liebste Rolle war. Ich habe aber überhaupt nur liebste Rollen: Wenn ich eine Rolle nicht gerne gesungen habe, dann habe ich sie lieber gar nicht gesungen. Mayer: Über diese Hosenrolle des Cherubino ist in den Artikeln und Biographien über Sie viel zu lesen. Diese Hosenrolle ist Ihnen ja mehr oder weniger aus Zufall zugefallen, denn es wusste ja niemand, dass an diesem 1. Mai gerade "Figaros Hochzeit" gemacht werden und Sie daher in Wien mit dem Cherubino anfangen würden. Diese Hosenrollen sind Ihnen dann aber regelrecht zugewachsen: Haben Sie denn gegenüber diesen Rollen im Laufe der Zeit ein besonderes Verhältnis entwickelt? Jurinac: Ich habe z. B. 1942 zum ersten Mal den "Rosenkavalier" gesehen: Das war, als die Dresdner Oper unter der Leitung von Dr. Karl Böhm in Zagreb gastierte. Als ich diese Oper sah, sagte ich mir: "Nein, diese Musik ist unmöglich. Dieses Stück muss ich nie mehr sehen und werde ich auch auf gar keinen Fall eines Tages singen!" So etwas sollte man im Leben nie sagen. Denn schon 1947 habe ich als Rosenkavalier auf der Bühne gestanden. Auch an den Cherubino hatte ich davor nie gedacht: Das betreffende Stück hatte ich ebenfalls mit der Dresdner Oper in Zagreb gesehen. Martha Rose sang damals den Cherubino. Schon 1945 habe ich in den gleichen Kostümen am 1. Mai auf der Bühne gestanden. Mayer: Sehen Sie es selbst eigentlich genauso, wie das in den vielen Artikeln über Sie geschrieben worden ist, dass letztlich doch Ihre Hauptrolle geworden ist, auch wenn Sie sagen, dass Sie alle Ihre Rollen gerne gesungen haben? Denn allein schon der Blick auf die Vorstellungshäufigkeit lässt diesen Schluss zu. Jurinac: Man hat mich ja oft gefragt, wie das bei mir mit dem Rosenkavalier war, wie man als Frau eine solche Rolle überhaupt so überzeugend spielen kann. Ich muss sagen, ich habe darauf keine rechte Antwort: Ich weiß das alles gar nicht so genau. Wenn ich eine Rolle mache, dann fühle ich mich auch ein in sie: Ich überlegte mir da z. B., wie sich denn ein junger Mann benimmt. Wir hatten damals noch dazu Regisseure wie Witt und Jager, die uns z. B. das Gehen beigebracht haben. Denn es gibt auf der Bühne ja sozusagen auch ein Handwerk. Man muss da in so einer Rolle anders gehen und auch eine andere Haltung einnehmen. Die Vorstellung, dass ich dabei keine Frau bin und daher auch keine fraulichen Bewegungen machen darf, macht das einfach anders. Mayer: Warum strecken die Sänger beim Singen eigentlich immer die Hand so aus? Jurinac: Man nennt das "Tablett tragen": Das ist eine schlechte Angewohnheit mancher Sänger. Das hilft vielleicht nur ein klein wenig, um die Stimme zu stützen. Es ist jedenfalls nicht richtig, das zu machen. Außer man trägt ein Schwert, wie ich in der "Iphigenie": Das muss man schon immer so ein bisschen schräg tragen. Aber ansonsten sollte man das nicht machen. Mayer: Richard Strauss hat neben Mozart sicherlich eine große Rolle gespielt in Ihrem Leben. Es gibt da z. B. auch diese Oper "" von Strauss und darin die Rolle des Komponisten. Jurinac: Ja, das war für mich eine der schönsten Rollen. Mayer: Was ist denn das Besondere an dieser Rolle? Jurinac: Das ist dieses himmelhoch Jauchzende und das zu Tode Betrübte – und dann noch die Liebe: Was will man mehr? Er ist ein Idealist, der die Welt ganz einfach nicht versteht. Diese Welt versteht man ja manchmal in der Tat nicht. Er lebt jedenfalls in seiner eigenen Welt mit seinen Noten, mit seiner Musik, mit seiner eigenen Ausdruckskraft. Das ist etwas, das im normalen Leben ja auch schwierig zu ertragen ist. Mayer: Im Hinblick auf die Chronologie sind wir damit in Salzburg und bei der Eröffnung der "Salzburger Festspiele" angekommen. Dort haben Sie damals ja auch den "Rosenkavalier" gesungen. Jurinac: Ja, das war der "Rosenkavalier" im Jahr 1960, mit Karajan und und , die die Eröffnung gemacht hat. Das war damals natürlich alles sehr aufregend, denn die Bühne und die Kulissen waren noch nicht ganz fertig, bis endlich doch dieser große Festtag stattgefunden hat. Im Hinblick auf den Vergleich mit heute muss ich jetzt an der Stelle etwas sagen: Die Bühne dort ist ja enorm lang. Ich weiß gar nicht, wie groß sie ist, aber sie ist jedenfalls sehr lang und groß. Man musste lernen, die eigenen Gänge darauf abzustimmen usw. Ich sagte daher immer, dass das ein "Cinerama-Rosenkavalier" sei. Viele Jahre später war ich einmal in einer Vorstellung, in der der "Rosenkavalier" auf einer ganz kleinen Bühne mit einer kleinen Orchesterfassung gespielt wurde. Das war wirklich unglaublich entzückend. Man konnte bei dieser Bühne jedes Wort verstehen. Und das ist wichtig, denn der Text beim "Rosenkavalier" ist unbeschreiblich schön. Busch sagte: "Mit den Texten aus 'Meistersinger' und 'Rosenkavalier' kann man durchs Leben gehen!" Mayer: Das liegt daran, dass der "Rosenkavalier" sicherlich eine ganz bestimmte kammermusikalische Note hat. Auch auf die Handlung trifft das zu. Der Gegensatz dazu wäre die "Aida", die ja geradezu danach drängt, auf einer "Cinerama-Opernbühne" aufgeführt zu werden. Jurinac: Die Arena in Verona ist z. B. so eine Bühne. Beim "Rosenkavalier" geht auf einer ganz großen Bühne jedenfalls sehr viel verloren, denn es ist unglaublich schade, wenn man den Text nicht wirklich verstehen kann. Angeblich versteht man ja in der Oper den Text sowieso überhaupt nie. Denn der Text ist ja nicht so wichtig im Vergleich zur Musik. Heute projiziert man z. B. an den Rand der Bühne oder oben auf die Bühne den Text in allen Sprachen, sodass man mehr auf diese Schriftzeichen schauen muss als auf die Handlung auf der Bühne. Das ist aber nicht richtig, wie ich finde. Mayer: Weil Sie gerade die Sprache nennen: Die großen Opernhäuser lehnen das zwar ab, aber was spricht eigentlich dagegen, die Opern in der jeweiligen Landessprache zu singen, dass man also z. B. die italienischen Opern auch auf Deutsch singt? Jurinac: Nach dem Krieg haben wir alles auf Deutsch gesungen. Mayer: Das war doch eigentlich diese berühmte Zeit. Jurinac: Ja, das Publikum hat sich köstlich unterhalten: Wir hatten eine tolle Aussprache, man konnte alles verstehen. Aber auch damals war es so: In dem Moment, in dem wir 1955 wieder ins große Haus gezogen sind, hat es geheißen, dass von nun an alles in der Originalsprache gesungen werden muss. Ausnahmen waren z. B. nur die "Jenufa" von Janacek, die nicht in Tschechisch gesungen wurde. Mayer: Wie ist denn Ihre Meinung dazu? Ist es in Ordnung, eine italienische Oper auf Deutsch zu singen? Jurinac: Warum nicht? Mayer: Man findet doch ein breiteres Publikum in dem Fall. Jurinac: Ja, auch das. Aber geschrieben ist es nun mal in Italienisch. Wichtig wäre halt, dass man es versteht. Wenn man mir heute sagt, dass man das alles viel leichter in Italienisch singen könne, weil es in dieser Sprache doch viel mehr Vokale gibt, dann sage ich immer: Bitte, hat Deutsch keine Vokale? Wir sprechen sie nur nicht aus. Wir singen sie nicht, wir wollen nur Konsonanten singen. Das geht aber nicht! Das klingt nicht. So viele Vokale wie im Deutschen gibt es doch in keiner anderen Sprache. Im Italienischen gibt es kein ü, kein ö usw. Ein Sänger muss also in vielen Sprachen singen können. Das wäre ideal. Mayer: Kommen wir noch einmal auf Salzburg, weil dort für Sie eine erhebliche Repertoireerweiterung zu verzeichnen war durch Herrn von Karajan, denn Sie sangen von da an auch Verdi. Sie haben nämlich in "" und in "Othello" gesungen. Jurinac: Ich war davor von 1949 bis 1956 immer in Glyndeborne gewesen. Dann holte man mich wieder für die Marzelline in "", weil mich Karajan für diese Vorstellung haben wollte. Anschließend kam "Orpheus" von Gluck, wo ich zuerst den Amor und später die Eurydike gesungen habe. Danach kam "Don Carlos" mit Gründgens und Karajan. Mayer: Das würde mich ja auch mal interessieren. Ich habe z. B. erst vor kurzem mal wieder Gründgens im "Faust" gehört: Für uns Jüngere ist das alles ja Geschichte, aber Sie haben ihn erleben dürfen, wie man wohl sagen kann. Jurinac: Ja, das kann man so sagen. Mayer: Können Sie denn etwas über die Stimmung bei so einer Arbeit sagen, wenn ein Gustav Gründgens die Regie führt, Karajan die musikalische Leitung inne hat, ein so glänzendes Ensemble vorhanden ist und dann noch Verdis Musik gespielt wird? Jurinac: Ja, und Siepi als Philipp und Bastianini als Posa usw. Das waren sicherlich Glücksmomente in meinem Leben. Gründgens war ein hypersensibler Mensch. Ich habe mich mit ihm sehr gut verstanden. Er war wohl auch sehr glücklich darüber, dass er in mir jemanden gefunden hat, der ihn wirklich verstanden hat. Er hat in der ganzen "Don Carlos"-Inszenierung nicht auf Pose oder italienische Gestik Wert gelegt. Stattdessen wollte er ein Stück machen, das wirklich in Spanien spielt und das von einem fürchterlichen Zeremoniell erzählt. Diese Verhaltenheit, die ich dabei an den Tag legen musste, war für mich sehr schwierig zu spielen. Ich musste nämlich immer sehr verhalten sein. Er sagte z. B.: "Wenn Sie Ihren Partner anschauen, dann muss es schon passiert sein." Von Berührung war da überhaupt keine Rede mehr. In der ganzen Inszenierung herrschte daher eine unglaubliche Spannung. Ich bin sehr glücklich, dass ich das mitmachen durfte. Mayer: Es gab in dieser Zeit – Sie haben "Orpheus" und "Eurydike" soeben schon angesprochen – ja auch die etwas populäreren Opern und die im Hinblick auf die Musik vielleicht auch etwas leichteren Opern wie z. B. die von Gluck oder Johann Strauss. Sie sind bei einer dieser Inszenierungen wohl auch mal Hans Moser begegnet. Jurinac: Ach ja, natürlich. Ich habe damals in der Volksoper die "Eurydike" aus "Orpheus in der Unterwelt" singen dürfen. Auch das war wirklich einmalig. Man muss sich vorstellen, dass wir nach dem Krieg eigentlich überhaupt nichts hatten: keine Kulissen, nichts. Die Inszenierung hatte jedenfalls Willi Forst übernommen. Ich muss sagen, dass er wirklich unglaublich viele neue Dinge mit uns gemacht hat. Der Olymp bestand z. B. aus vielen Stiegen, die nach oben hin immer kleiner wurden. Oben dran war dann so eine ganz kleine Wolke. Wer glauben Sie, hat den Zeus auf dieser Wolke gespielt? Hans Moser! Die Hera war eine große Dame vom Burgtheater, eine Dame, die wirklich sehr, sehr groß war. Mayer: In dieser Rolle sagt der Zeus doch eigentlich gar nichts. Jurinac: An sich nicht, aber schon sein Auftritt war phantastisch. Es war wirklich unbeschreiblich, denn der Vorhang ging auf und man sah nur diese fast leere Bühne. Dazu hörte man nur die Stimme vom Hans Moser: "Hera, Hera, geh, was hast ma da für a Wolkn gebn? Es ziagt so, es ziagt so!" Das ging fünf Minuten lang so weiter und die Leute haben gebrüllt vor Lachen. Vorne auf der Bühne war noch eine Demarkationsstange angebracht: Dort ging es in die Unterwelt hinunter. Das war natürlich symbolisch gedacht, denn an der Enns hat es damals ja noch diese Demarkationslinie zwischen dem russischen und dem westlichen Teil Österreichs mit den Amerikanern gegeben. Ich hatte mit Hans Moser als Zeus noch insofern zu tun, als ich doch im Hades gefangen war und sich Zeus in eine Fliege verwandelte, um durchs Schlüsselloch zu mir hereinzukommen und mich beim Schlafen zu sekkieren. Es gibt da ja dieses bekannte Duett "Verfluchte Fliege, wenn ich dich kriege..." Ich muss dabei herumlaufen und versuchen, die Fliege zu fangen. Er macht dazu hinter der Bühne immerzu dieses Fliegengeräusch "tse, tse, tse". Es gibt dann eine Explosion und plötzlich steht er als Zeus vor mir. Es war schon ein bisschen schwierig, in so einem Moment ernst zu bleiben. Mayer: Ja, das muss man sich mal vorstellen: Hans Moser als Zeus. Es gibt wohl leider keine Aufnahmen von dieser Inszenierung. Jurinac: Nein, da gibt es leider, leider nichts. Es war jedenfalls unbeschreiblich schön. Man muss sich das mal überlegen: alleine diese Vorstellung vom Forst, den Zeus mit Hans Moser zu besetzen. Das war wirklich neu. Er hat das wirklich ganz einfach und ohne Textänderung so gemacht. Mayer: 1982 haben Sie sich von der Bühne verabschiedet, wie es immer so schön heißt. Danach sind Sie dann aber – mindestens so rege wie vorher – in pädagogischer Hinsicht sehr aktiv geworden. In dem Zusammenhang würde ich gerne Folgendes wissen. Worin besteht denn bei Ihnen der Impetus, jungen Nachwuchssängern etwas mitzugeben? Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht und wie wichtig ist Ihnen das? Jurinac: Man macht ja selbst sehr viele Fehler im Leben. Man hat entweder großes Glück und es geht weiter - oder man hat eben Pech. Vielleicht liegt es bei mir auch daran, dass ich auf diese Weise mit Musik und Gesang auch weiterhin ein bisschen zu tun habe – obwohl wir ja zu Hause schon sehr viel Musik hören. Ich bin ja, wie gesagt, der Meinung, dass man nur mit Musik vieles im Leben ertragen kann. Es wäre freilich schwierig bis unmöglich, all das den jungen Leuten nun genau Eins zu Eins beibringen zu wollen. Es ist jedenfalls so, dass ich selbst wohl mehr gelernt habe dabei. Am Anfang meiner Karriere war ich ja eine Naturbegabung gewesen. Bis auf diese drei Jahre, von denen ich erzählt habe, hatte ich ja im Grunde genommen keinen Gesangslehrer. Ich habe mich später immer nur an den Bedürfnissen der jeweiligen Rolle orientiert und darauf gehört, was die Kollegen sagen und wie sie es machen. So habe ich mir im Laufe der Zeit doch ein bisschen was beigebracht. Ich war also, wie man sagen kann, eine reine Naturstimme. Als ich dann aber mit dem Unterrichten anfing, wurde bei mir das Ganze viel bewusster. Aus diesem Grund denke ich mir, dass es den jungen Leuten vielleicht hilft, wenn ich ihnen dieses oder jenes erkläre. Mir hat z. B. nie jemand erklären können, was die Stütze eigentlich ist oder dass die Stimme vorne sitzen und dass sie Kopfklang haben muss. Was heißt das alles? Im Grunde ist es eben so, dass sich letztlich jeder selbst finden muss. Man kann Kurse besuchen, so viel wie man will, wenn man sich nicht selbst hilft, nützt das alles nichts. Man muss eben sein eigenes Klanggefühl bekommen. Mayer: Halten Sie denn eine Karriere, wie Sie sie gemacht haben, auch heute noch für möglich? Wenn alle Sänger und Sängerinnen nur als Naturtalente an die Bühne gingen, würde der Unterricht ja gar keinen Sinn haben, wenn man also sagen würde, dass die Stars eh alle nur Naturtalente sind. Jurinac: So lange sie alles machen können, was von ihnen in schauspielerischer und gesanglicher Hinsicht im Theater und in der Oper verlangt wird, ist alles gut. Denn dann werden sie genommen. Wenn sie aber vorsingen gehen und sich hinterher anhören müssen, "Danke, Sie hören von uns!", dann war es meistens nichts. Wenn man jedoch von einer Naturbegabung beeindruckt ist, dann geht das auch weiter. Es gibt da aber noch etwas anderes, das sehr interessant ist. Ich war schon mit 23 Jahren in Wien engagiert. Siepi hat mit 22 Jahren schon an der Scala gesungen, Berry war mit 19 Jahren bereits an der Wiener Staatsoper. Heute sind die jungen Leute hingegen alle schon 26, 27 oder 28 Jahre alt, wenn sie an die Bühne kommen, und haben dort trotzdem noch überhaupt keine Erfahrung. Das ist etwas, bei dem ich mich schon frage, warum das so ist. Mayer: Verstehe ich Sie also richtig, dass Sie mit der Nachwuchsförderung nicht so einverstanden sind? Da scheint irgendetwas schief zu gehen. Jurinac: Ja, da ist irgend etwas nicht ganz in Ordnung. Es genügt ja auch nicht, wenn man eine gute Stimme hat. Wenn man nur Stimme hat, genügt das nicht, weil man dazu noch Musikalität und Ausdruckskraft und Sprache und Persönlichkeit braucht. All das muss auch vorhanden sein. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es gibt natürlich auch heute sehr viele Sänger, die wirklich etwas geschafft haben und auch weitergekommen sind. Wenn das nicht so wäre, ginge ja ansonsten die ganze Theater- und Opernwelt nicht weiter. Wenn man aber heute mit dem Nachwuchs zu tun hat, dann ist es im Vergleich zu früher schon schwierig zu begreifen, dass die jungen Leute heute so lange brauchen, um weiterzukommen. Mayer: Haben Sie eigentlich auch mal mit Pavarotti oder Domingo gesungen? Jurinac: Pavarotti habe ich in Wien aus der Taufe gehoben. Mayer: Wie das? Jurinac: Nun, die Tenöre müssen alle irgendwann am Anfang die "Boheme" singen. Bei Pavarotti und einigen anderen war ich es, die dabei die Mimi singen musste, weil das anscheinend beruhigend auf die jungen Tenöre gewirkt hat, wenn ich das gemacht habe. Mit Domingo habe ich später auch mal die "Tosca" zusammen gesungen. Mayer: Wie lief das denn mit Pavarotti? Wann war das vor allem? Jurinac: Wann hat er denn angefangen? Das muss in den fünfziger Jahren gewesen sein. Mayer: Der Rodolfo ist dann ja auch seine große Rolle geworden. Jurinac: Ich habe ja die "Boheme" auch noch mit dem Helge Rosvaenge gesungen. Bevor er dabei sein hohes c singen musste, hat er sich immer mit einem Blick quasi von mir verabschiedet. Er wollte damit andeuten: "Entschuldige, ich muss jetzt einen Moment schnell etwas anderes machen." Er ging dann vor an die Rampe und schmetterte sein hohes c in Richtung Publikum nach dem Motto: "Da habt Ihr das hohe c, auf das Ihr eigentlich die ganze Zeit wartet!" Danach kam er dann wieder zurück und plauderte mit seiner Mimi. Mayer: Wie ist das denn mit so einer Einführung auf der Bühne? Hängen sich solche Leute da an einen dran? Inzwischen ist Pavarotti natürlich auch ein Weltstar geworden: Wie äußert sich das, wenn man da beim Debüt eine Kollegin hat, die schon ein wenig mehr Erfahrung besitzt? Jurinac: Ich weiß es nicht, denn ich habe ihn nie wieder wirklich gesprochen nach diesen Vorstellungen. Ich habe allerdings gehört, dass er sich immer gerne daran erinnert hat, dass er mit mir in Wien die "Bohème" gesungen hat. So hat man es mir zumindest erzählt. Mayer: Sie feiern demnächst einen runden Geburtstag: Was gibt es für Sie noch an Plänen? Wie ich höre, geben Sie ja nach wie vor Unterricht? Jurinac: Ich mache heute doch etwas weniger Unterricht als früher. Aber ich mache doch immer noch ein wenig auf diesem Gebiet. Ich fahre demnächst in der Angelegenheit auch nach Urach und ich war vor kurzem dafür auch in der Nähe von Wien. Mayer: Sie leben heute in Augsburg: Welches Verhältnis haben Sie denn zu Bayerisch-Schwaben und zu Augsburg? Jurinac: Angefangen hat es so, dass ich in München in der "Musica Nova" zusammen mit Istvan Kertesz ein Konzert hatte: Dabei habe ich zwei Arien aus der Irischen Legende gesungen. Wir haben uns dabei musikalisch sehr gut verstanden, sodass alles sehr gut gelaufen ist. Er war damals Generalmusikdirektor in Augsburg und daher fragte er mich, ob ich nicht im nächsten Jahr auch in Augsburg ein Konzert machen könnte. Ich habe gesagt, dass ich das gerne machen würde. So wurde also dieses Konzert verabredet. Ich kam dann auch nach Augsburg und er holte mich am Bahnhof ab. Da wir bis zur Probe noch ein wenig Zeit hatten, zeigte er mir den Dom in Augsburg. Wir kamen dort in die Kirche und die Orgel fing an zu spielen: Alles war wirklich wunderbar. Anschließend machten wir dann die Probe, damals noch im so genannten "Ludwigsbau". Nach dem Konzert hat es geheißen, man ginge noch zum Dr. Lederle, weil alle Künstler immer dort hingehen würden. So wurde eben auch ich dorthin geführt. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Nun ja, so bin ich halt in Augsburg "picken geblieben". Mayer: Ja, "picken geblieben", wie es im Österreichischen so schön heißt. Dieser Ausdruck hätte auch von Hans Moser sein können. Jurinac: Wenn ich heute gefragt werde, warum ich denn in Augsburg lebe und was mich dort hin verschlagen hätte, dann erzähle ich immer diese Geschichte und füge hinzu: "Wenn der Mensch, dem ich fürs Leben begegnet bin, am Nordpol gelebt hätte, dann wäre ich wahrscheinlich an den Nordpol gezogen und dort zu Hause." Wenn man sehr viel herumkommt und viel reist und sonst keine Familie hat, ist es gut, wenn man eine Heimat hat. Mayer: Ich sehe, die Zeit läuft uns davon. Gibt es irgendwo in der Opernwelt eigentlich ein gutes Zitat zum Thema "Zeit"? Jurinac: Die Marschallin hat da einen wunderbaren Satz zu sagen. Mayer: Das war die letzte Rolle, die Sie auf der Bühne gesungen haben. Jurinac: Ja. Sie sagt: "Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie." Mayer: Vielen Dank, dass Sie bei uns waren. Das war Alpha-Forum mit der Sopranistin Sena Jurinac. Vielen Dank fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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